Michael Stolleis – zum Gedenken [1. ed.] 9783465046257

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Michael Stolleis – zum Gedenken [1. ed.]
 9783465046257

Table of contents :
Grußwort des Präsidenten der Goethe-Universität
Grußwort des Dekans des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Goethe-Universität
Grußwort der Geschäftsführenden Direktorin am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie
Rechtsgeschichte und Rechtsgeschichten | B. Schlink
Michael Stolleis – eine französische Hommage | A. Gaillet
»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte | M. Vec
Zur Geschichte des Kolonialrechts – ein Gespräch | P. Cancik
Schlusswort | M. Kunze
»Rechtshistoriker sind Historiker«. Ein Gespräch mit Michael Stolleis über Väter, Bildungswege und Zeitgenossenschaft

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Michael Stolleis – zum Gedenken Herausgegeben von Marietta Auer, Thomas Duve, Stefan Vogenauer

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Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie Frankfurt am Main Band 342

Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2023

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Michael Stolleis – zum Gedenken Herausgegeben von Marietta Auer, Thomas Duve, Stefan Vogenauer

Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2023

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Umschlagbild und Frontispiz: Michael Stolleis, 2010 Fotografie: Sandra Hauer

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann GmbH Frankfurt am Main 2023 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Typographie: Elmar Lixenfeld, Frankfurt am Main Gedruckt auf Eos Werkdruck. Alterungsbeständig und PEFC-zertifiziert

Printed in Germany ISSN 1610-6040 ISBN 978-3-465-04625-7

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Vorwort

Am 18. März 2021 ist Michael Stolleis verstorben. Für seinen 80. Geburtstag am 20. Juli 2021 hatte er sich eine bloß kleine Veranstaltung gewünscht, eine Tagung, der wir den Namen »recht erzählen« geben wollten. Als deutlich wurde, dass wir seinen Geburtstag nicht mehr mit ihm feiern können würden, vergab er diesen Titel an sein letztes Buch. Dessen Drucklegung konnte er noch begleiten. Die Publikation erlebte er nicht mehr. Aus dem Kolloquium aus Anlass seines Geburtstags wurde nun eine Gedenkfeier. Sie fand auf Einladung der Goethe-Universität und des Max-PlanckInstituts – wegen der Einschränkungen aufgrund der Pandemie in kleinerem Umfang und erst im Jahr 2022 – in den Räumen der Goethe-Universität statt. Die Vertreter des Fachbereichs, des universitären Instituts für Rechtsgeschichte und des Max-Planck-Instituts waren sich schnell einig, dass die Beiträge aus dem Kreis derjenigen stammen sollten, die auf dem Kolloquium aus Anlass seines Geburtstages hätten sprechen sollen. Der Umstände halber musste das Programm gestrafft werden, nicht alle konnten zu Wort kommen. Der vorliegende Band versammelt die für die akademische Gedenkfeier verfassten Vorträge. Sie würdigen die vielfältigen Facetten des Juristen und Historikers, des Wissenschaftlers wie des Hochschullehrers. Einige Aufsätze beleuchten im Anschluss an sein Werk die Wissenschaftsgeschichte des »deutschen Völkerrechts« oder die Geschichte des Kolonialrechts; andere stellen seine große Bedeutung für europäische Kolleginnen und Kollegen heraus. Doch alle Beiträge durchzieht ein Grundgedanke: dass Rechtsgeschichte und Rechtsgeschichten untrennbar zusammengehören. So halten persönliche Erinnerungen von Freunden und Wegbegleitern das Andenken an den einzigartigen Erzähler vom Recht fest. Auch Michael Stolleis selbst kommt noch einmal in einem wieder abgedruckten Gespräch über Väter, Bildungswege und Zeitgenossenschaft zu Wort. Wir danken den Kolleginnen und Kollegen der Goethe-Universität und des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie für die Mitwirkung bei der Ausrichtung der Veranstaltung. Frankfurt am Main, im Mai 2023 Marietta Auer Thomas Duve Stefan Vogenauer

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Inhalt

Grußworte Enrico Schleiff

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Thomas Vesting ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

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Marietta Auer ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

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Vorträge Bernhard Schlink

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Aurore Gaillet ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

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Miloš Vec ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

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Pascale Cancik

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Interview mit Michael Stolleis ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

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Schlusswort Michael Kunze

Inhalt

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IX

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Grußwort des Präsidenten der Goethe-Universität

Sehr geehrte, liebe Frau Stolleis, sehr geehrte, liebe Familie von Michael Stolleis, sehr geehrte, liebe Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler, liebe Weggefährten von Michael Stolleis! Ich freue mich, dass wir heute in dieser akademischen Gedenkfeier Michael Stolleis zu Ehren zusammenkommen, um unsere Wissensgrenzen zu erweitern: Welch schöneres Abschiedsgeschenk könnte man einem solchen Hochschullehrer machen? Michael Stolleis war von 1974 bis 2006 Professor an der Goethe-Universität und stand damit 32 Jahre – und weit über seine Emeritierung hinaus – im Dienst der Wissenschaft und der Frankfurter Universität. Er engagierte sich bei den Freunden und Förderern der Universität, aber ich werde wohl sagen dürfen, dass er weit darüber hinaus ein großer Freund der Goethe-Universität war! Er war ein Professor aus Profession, ein Wissenschaftler und Hochschullehrer, dem auf Grund seiner Leistungen und seiner Haltung höchste Meriten zukamen und der Weltruhm genoss. Der Erfolg seiner wissenschaftlichen Leistung ist absolut unbestritten und wirkt weiterhin fort: Lassen Sie mich daher drei Aspekte dessen ins Bewusstsein rufen, was wir ihm als Universität verdanken. Michael Stolleis lebte und lehrte den Geist der Vernetzung zwischen Disziplinen und Institutionen: Und gerade wegen seiner interdisziplinären Denkweise war Michael Stolleis ein herausragender Begleiter des Forschungskollegs Humanwissenschaften, da dieses als Institute for Advanced Studies for Humanities der Goethe-Universität die Aufgabe hat, die einzelnen Forschungsdisziplinen wie in einem Brennglas zu bündeln. Der Direktoriumsvorsitzende des FKH, Matthias Lutz-Bachmann, charakterisiert Stolleis so: »Mit seiner stets neuen Fragen zugewandten unermüdlichen Gesprächsbereitschaft beförderte Michael Stolleis wie sonst nur wenige Personen an unserer Universität die interdisziplinäre Kooperation.« Michael Stolleis trug dazu bei, dass das nun umbenannte Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie im Jahr 2013 seinen Neubau unmittel-

Grußwort

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bar am Campus Westend bezog, auch weil ihm die enge Zusammenarbeit mit uns wichtig war. Diese räumliche Veränderung war ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung der Idee des Wissenschaftscampus und wirkt damit weit über die Grenzen der Universität hinaus. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass man allein schon an diesen Ausführungen sehen kann, wie wichtig Michael Stolleis für den Weg Frankfurts zu einem exzellenten Wissenschaftsstandort war und ist, denn gerade mit dem kontinuierlichen Ausbau des Wissenscampus, heute unter dem Namen Frankfurt Alliance, führen wir diesen von Stolleis eingeschlagenen Weg weiter fort. Als zweiten Aspekt möchte ich an seine Rolle als Ratgeber der GoetheUniversität erinnern: Die Rechtsgeschichte war für Stolleis das Fundament der heutigen Entwicklungen, und so beriet er die Universität in wichtigen, unsere »historische« Dimension betreffenden Fragen. Insbesondere unterstützte Michael Stolleis mit seinem Wissen die Pläne zur Umwandlung der GoetheUniversität in eine Stiftungsuniversität. Die Interessen von Michael Stolleis waren schon immer breit gefächert, auch wenn er sich vornehmlich als Rechtshistoriker verstand – und die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus war und blieb für Stolleis stets wichtig. Er selbst begründete sein Engagement retrospektiv: »Meine Generation, die in Frieden, Freiheit und Wohlstand groß geworden ist, war die Generation der Kinder des Nationalsozialismus. Wir haben uns verpflichtet gefühlt, uns damit zu beschäftigen.« 1 Aus diesem Selbstverständnis heraus war er auch stets eng verbunden mit der jüdischen Gemeinde. Auch diese Facette von Michael Stolleis prägte und prägt das Bild der Goethe-Universität. Beispielsweise hat er meinen Amtsvorgänger Rudolf Steinberg, der mit Herrn Stolleis gut befreundet war, bei der sehr kontroversen Diskussion über den Text der Gedenktafel am Eingang des IG-Farben-Gebäudes beraten. Da der Goethe-Universität mit diesem Gebäude eine besondere Verantwortung zugefallen ist, darf man hierbei vielleicht herausstreichen, dass uns keinerlei Kritik an diesem Text bekannt wurde – also der rechte Ton getroffen, die zu erzählende Geschichte recht erzählt wurde! Meine Damen und Herren, diese Prägung und diese Grundhaltung von Stolleis prägen auch die heutigen Entwicklungen. In diesem Geiste haben wir als erste deutsche Universität ein gemeinsames Center for Study of Religious and Interreligious Dynamics mit der Tel Aviv University gegründet, welches nicht nur

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Zitiert nach Patrick Bahners, Kalendergeschichten nach dem Nationalsozialismus, in: FAZ, Zum Tod von Michael Stolleis: Die Verdichtung seiner Generationserfahrung (faz.net), https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-tod-vonmichael-stolleis-die-verdichtung-seiner-generationserfahrung-17253987.html (Zugriff: 29.06.2022).

Enrico Schleiff

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der Forschung, sondern auch der gemeinsamen Lehre gewidmet ist. Gerade mit diesem deutsch-israelischen wissenschaftlichen Zentrum betreten wir Neuland, vernetzen uns und gewinnen das Wissen für die nachhaltige und gerechte Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Und das führt mich zu einer dritten herausragenden Eigenschaft von Michael Stolleis: Seinem hohen Verantwortungsbewusstsein für seine Um- und Mitwelt: Ganzen Generationen von Studierenden, Doktoranden, Habilitanden aus aller Welt war er Lehrer und Doktorvater, und auch als MPI-Direktor nahm er sein Lehrdeputat an der Goethe-Universität wahr – was sein hohes Arbeitsethos zeigt! Stolleis – das werden Sie natürlich wissen – hatte eine Ausbildung zum Winzergehilfen absolviert: Da lernt man nachhaltig, Weinstöcke zu pflanzen und zu pflegen… Dass so viele, die in seiner geistigen Obhut wissenschaftlich wachsen durften, heute hier sind, auch Freunde und Kollegen, die von seiner Geistesschärfe Anregungen verdanken, spricht für sich. Michael Stolleis war ein Hochschullehrer, wie er im Buche steht, der seine Werte praktizierte und vorlebte. Aus Kollegenperspektive – ich zitiere hier Albrecht Cordes vom Fachbereich Rechtswissenschaft – stellt es sich so dar: »Michael Stolleis hat sich mit Leib und Seele der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verschrieben. Er war begeisterter Lehrer und passionierter Betreuer rechtshistorischer und verwaltungsrechtlicher Qualifikationsschriften. Er war jahrzehntelang eine der treibenden Kräfte der verschiedenen Frankfurter rechtshistorischen Doktorandenschulen, aus denen Hunderte von Doktorinnen und Doktoren und Dutzende von nachmaligen Professorinnen und Professoren hervorgegangen sind.« Und David von Mayenburg beschreibt die von Stolleis ausgehende besondere Wirkung als die »produktive Mischung von wissenschaftlicher Distanz und persönlicher Nahbarkeit«. Meine Damen und Herren, Michael Stolleis prägte die Goethe-Universität auf vielfache Weise. Der von ihm aufgezeigte und von uns einzuschlagende Weg ist einer in Richtung Europäisierung und Globalisierung – und wir schaffen Zukunftsfähigkeit, indem wir diesen Weg nun konsequent weitergehen: interdisziplinär und transdisziplinär, kooperativ und bewusst die Chancen in der Vielfalt suchen und gestalten, um Gemeinschaft zu stiften. Diese Prägung der Goethe-Universität durch Michael Stolleis wirkt lebendig weiter, und, meine Damen und Herren, ein größeres Vermächtnis kann es für einen Wissenschaftler und Menschen nicht geben. Enrico Schleiff

Grußwort

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Grußwort des Dekans des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Goethe-Universität

Liebe Familie Stolleis, sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich darf Sie im Namen des Fachbereichs Rechtswissenschaft (der Goethe-Universität) herzlich auf der Gedenkveranstaltung für Michael Stolleis begrüßen. Michael Stolleis wurde zum Wintersemester 1974 Mitglied unseres Fachbereichs als Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht. Er hatte zuvor in Heidelberg und Würzburg Rechtswissenschaft studiert. Nach erstem und zweitem Staatsexamen und Promotion in München wurde Michael Stolleis 1973 – ebenfalls in München – für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht, neuere Rechtsgeschichte und Kirchenrecht habilitiert. In München hatte Stolleis seit 1967 als Assistent bei Axel Freiherr von Campenhausen gearbeitet. Campenhausen dürfte nicht nur das Interesse am Kirchenrecht und am Sozialrecht (mit-)inspiriert haben, das Michael Stolleis ein Leben lang pflegte. Er war auch als auswärtiger Gutachter für das Frankfurter Berufungsverfahren folgenreich – war er doch voll des Lobes über seinen gelehrigen Assistenten. In seiner Stellungnahme vom 22. Februar 1974 heißt es, dass er, von Campenhausen, keinen vergleichbaren Assistenten gehabt habe und keinen Privatdozenten wüsste, den er mit mehr Wärme und Überzeugung empfehlen könne. Dabei hebt Campenhausen zwei Eigenschaften hervor, die sich in der akademischen Laufbahn von Michael Stolleis vollauf bestätigen sollten: eine enorme Breite des Œuvres und eine außerordentlich hohe Produktionsgeschwindigkeit. Ich zitiere wörtlich aus der Stellungnahme: »Historische, philosophische, staatskirchenrechtliche, verwaltungsrechtliche, positive und prinzipielle Beiträge, alle in rascher Reihenfolge geschrieben.« Michael Stolleis war Vertreter einer allürenfreien Bürgerlichkeit, die sich mit einer starken Präsenz im öffentlichen Leben der Stadt Frankfurt verband. Allürenfrei und von einer starken Präsenz geprägt war auch sein Leben in unserer Fakultät. Auch nachdem Michael Stolleis 1991 zum wissenschaftlichen

Grußwort

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Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und zum Direktor am MPI für europäische Rechtsgeschichte hier in Frankfurt ernannt worden war, blieb er unserer Fakultät in vielfacher Weise verbunden. Er hielt weiterhin Vorlesungen am Fachbereich, veranstaltete Seminare und trug kontinuierlich zum Graduiertenkolleg Rechtsgeschichte und zu vielem anderen bei. Auch nach seiner Emeritierung blieb er dem Fachbereich und der Universität eng verbunden. Diese allseitige Präsenz war gepaart mit der Übernahme einer Verantwortung für Dinge, die weit über rein persönliche Interessen hinausging. In seiner Personalakte finden sich nicht wenige Nachweise, die dokumentieren, wie Michael Stolleis seine eigenen Forschungsinteressen immer wieder mit den Interessen der Fakultät verband. Rufe an andere Fakultäten, wie den Ruf nach Düsseldorf im Jahr 1980, wurden dazu genutzt, um den Ausbau der Bibliothek im Juridicum voranzubringen. In minutiöser Detailliertheit forderte Stolleis die Anschaffung fehlender Literatur, das Abonnement von eigens aufgelisteten sozialrechtlichen und älteren rechtsgeschichtlichen Zeitschriften, das Schließen von Lücken im Literaturbestand der Verfassungsgeschichte und der Geschichte des öffentlichen Rechts sowie den Ankauf einer Reihe von – nur antiquarisch zu erwerbenden – älteren Lehrbüchern des öffentlichen Rechts. Gerber, Stahl, Lorenz v. Stein sind nur drei der zahlreichen Namen, die hier aufgelistet wurden. Über diese Seite der Persönlichkeit von Michael Stolleis lässt sich vielleicht am besten erschließen, warum er eine Ausnahmeerscheinung war. Es ist außergewöhnlich, dass jemand in so vielen Kontexten gleichzeitig präsent sein kann: in den öffentlichen Dingen der Stadt und der Universität, im MPI und im Fachbereich; eine Präsenz, zu der im Übrigen auch lange Emails an Studenten, Seminarteilnehmer oder Kollegen gehörten, die etwas nicht richtig verstanden hatten oder nach Stolleis’ Empfinden mit ihren Texten und Gedanken auf einem falschen Weg waren. Es ist ferner außergewöhnlich, dass sich jemand in so viele intellektuelle Zusammenhänge gleichzeitig einbringen kann, vielfältigste literarische Interessen pflegt (Goethe, Johan Peter Hebel, Schiller usw.), Mitglied zahlreicher Institutionen wird, und all dies seiner Publikationskraft und Publikationsgeschwindigkeit keinen Abbruch tut. Mehr als 550 Publikationen zählt sein Schriftenverzeichnis, das von 1969 bis in Jahr 2021 reicht. Dabei werden die zahlreichen Rezensionen, die nahezu jedes Jahr erscheinen, nicht mitgezählt. Im Schriftenverzeichnis von Michael Stolleis gibt es allerdings nicht nur die Besonderheit des »R« für die nicht numerisch gezählten Rezensionen. Es gibt vielmehr auch die Hervorhebung der selbstständigen Schriften in Fettdruck. Dazu zählen etwa die Monographie über Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts (1972), die Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht (1974), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (1977), die Arcana Imperii und Ratio Status (1980), und dann

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Thomas Vesting

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das Werk, das seit den 1980er Jahren einen Großteil seiner Schaffenskraft in Anspruch nahm: die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zunächst als zweibändiges Werk geplant, erschien 1988 Bd. I (1600–1800) bei C. H. Beck in München. Der Fettdruck für die selbständigen Schriften scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass die wissenschaftliche Monographie, das gedruckte Buch, für Stolleis eine Sonderstellung als Medium der Forschung einnimmt. Diese Sonderstellung teilt er mit seinem Gegenstand: Denn obwohl auf dem Buchdeckel von der Geschichte des öffentlichen Rechts die Rede ist, heißt es doch schon auf der ersten Seite der Einleitung, dass diese Geschichte »primär als Literaturgeschichte der wissenschaftlichen Erfassung, der dogmatischen Durchdringung und Systematisierung des öffentlichen Rechts, also als Wissenschaftsgeschichte« (43) zu verstehen sei (Kursivdruck im Original). Es geht um eine »Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts« (Vorwort), und als solche tritt sie bei Stolleis als Geschichte einflussreicher Gelehrter auf, die an mehr oder weniger bedeutenden Universitäten »das ius publicum als Sonderrecht der öffentlichen Herrschaft« (44) entwickelten, lehrten und dabei jene sprachlich-schriftlichen Dokumente hinterließen, über die die denkerische Arbeit am öffentlichen Recht ausschließlich überliefert und durch die sie allein »wieder rekonstruierbar ist.« (44). Die Stolleissche Wissenschaftsgeschichte ist nicht einfach »Ideengeschichte«, vor allem keine in der Tradition eines »idealistischen Historismus nationalistischer Spielart« (45). Deren Reste seien in Form »populär idealistischer Denkgewohnheiten« (45), so der Autor 1988, immer noch nicht aus rechtshistorischen Zusammenhängen verschwunden. Dem setzt Stolleis eine Konzeption von Wissenschaftsgeschichte entgegen, die sich auf die wissenschaftliche Aufbereitung der normativen Ordnung in Theoriebildung und pädagogischer Vermittlung konzentriert, eine »Geschichte der geistigen Produktion, des intellektuellen Klimas seiner Zeit, der pädagogischen und schriftstellerischen Anstrengung im Bereich der ›Staatswissenschaft‹.« (44). Dies ist eine konstruktive Arbeit. Wissen wird in der Rechtsgeschichte nicht gefunden, sondern gewonnen. Die Rechtsgeschichte muss notwendigerweise zur Darstellung gebracht werden, und diese Darstellung ist auf die Form der Geschichtsschreibung angewiesen. Die Verfahren, in denen die Arbeit der Darstellung verrichtet wird, sind wiederum nur als integraler Bestandteil der Geschichte der modernen Kultur und dem konstruktiven Charakter ihrer Wissensformen denkbar. Das heißt, sie sind – wie Ian Hacking, ein Wissenschaftsphilosoph, es einmal ausgedrückt hat – dem »Abenteuer der Verzahnung von Darstellen und Eingreifen« verpflichtet. 1 1

Ian Hacking, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart: Reclam 1996, S. 246.

Grußwort

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So sieht es auch Michael Stolleis. Die Analogisierung, die Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen der Semantik der Vergangenheit und der Gegenwart beschreibt er als das »Problem der Übersetzung« einer in der Vergangenheit codierten Information auf unsere heutigen »Wortverwendungs- und Verstehensgewohnheiten«. Dies bezeichnet Stolleis sogar als den »schwierigsten Punkt« (54) der Geschichtsschreibung. Doch genau an dieser Stelle, der »Entzifferung der Grammatiken der Wortverwendungen« (46), kehren wir von der Wissenschaftsgeschichte als objektiviertem sprachlichen Phänomen zurück zu Michael Stolleis als dem Subjekt, das die Rechtsgeschichte schreibt: Die Fragen, die die Wissenschaftsgeschichte lösen will, »verleugnen nicht ihre Beeinflussung durch Zeit, Ort und Autor. Sie sind geprägt von den Erfahrungen des Juristen im Interventions- und Leistungsstaat der Gegenwart« (54). Die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts, wie Michael Stolleis sie versteht, ist also nicht zuletzt eine Geschichte des Wissenschaftlers Michael Stolleis. Deshalb darf sie aber nicht einfach subjektivistisch, standortverliebt und, wie man gegenwärtig besonders betonen muss: identitätspolitisch sein. Ganz im Gegenteil verlangt sie vom Autor nicht nur ein Ethos der Strenge gegenüber sich selbst, sondern auch der Distanz zum Gegenstand: »Mißtrauen gegenüber den eigenen Denkgewohnheiten, Vorsicht bei der Verwendung anachronistischer Begriffe […], Offenheit gegenüber dem Phänomen […]« (46). Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung schließen. Ich hatte Ende Februar 2021 erfahren, dass Michael Stolleis erkrankt sei. Ich habe ihm daraufhin sofort geschrieben, und, wie es bei ihm üblich war, binnen nur weniger Stunden eine Antwort erhalten. Darin war von Resten magischen Denkens, die ihm in seiner Situation allein noch helfen könnten, die Rede. Wer den Wertekanon von Michael Stolleis kannte, weiß, dass »magisches Denken« darin keinen allzu hohen Stellenwert einnahm. Als ich nur wenige Wochen später von seinem Tod erfuhr, war ich trotz dieser deutlichen Vorwarnung schockiert. Ich hatte Michael Stolleis immer mit Vitalität, der Seite des Lebens, in Verbindung gebracht. Bis zuletzt strahlte Michael ja eine Jugendlichkeit und Lebensenergie aus, wie sie nur selten anzutreffen ist. Und doch war er auf einmal nicht mehr da. Der Tod hatte die Grenze des Autors Michel Stolleis eingezeichnet. Dennoch bin ich sicher, dass sein Werk und die Auseinandersetzung mit ihm dazu beitragen werden, dieser Grenze ihre Absolutheit zu nehmen und sie immer wieder durchlässig zu machen. Denn wir werden Michael Stolleis und sein Werk nicht vergessen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Thomas Vesting

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Thomas Vesting

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Grußwort der Geschäftsführenden Direktorin am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Liebe Familie Stolleis, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Dekan, liebe Gäste, ich beschließe die Reihe der Grußworte und möchte Sie auch im Namen des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, des früheren MaxPlanck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, sehr herzlich zur heutigen Gedenkveranstaltung für Michael Stolleis begrüßen. Ohne den Namen Michael Stolleis ließe sich die Geschichte unseres Instituts gar nicht »recht erzählen«. »Recht erzählen«, das Motto unserer heutigen Veranstaltung, war, im ganzen vielschichtigen Sinne, Michael Stolleis’ Lebensthema und nicht zufällig zugleich der Titel seines letzten, noch wenige Wochen vor seinem Tode fertiggestellten Buches in unserer lange Jahre von ihm verantworteten Schriftenreihe. 1 In dem Band geht es – auch dies sehr passend – um historische Miniaturen aus dem Frankfurter Rechtsleben, in denen, so Thomas Duve in seinem ausführlichen Nachruf auf Michael Stolleis, »sich das Wachstum des Leviathan spiegelt, dessen Macht und Größe ihn sein Leben lang umtrieben.« 2 Das Kleinste, in dem sich das Größte spiegelt, recht erzählen – so lässt sich auch Michael Stolleis’ einzigartiges Lebenswerk charakterisieren. Es wäre zu kurz gegriffen, ihn schlicht als großen Rechtslehrer und einen der bedeutendsten und produktivsten Forscher der zeitgenössischen Rechtsgeschichte des öffentlichen Rechts zu bezeichnen, auch wenn all dies natürlich zutrifft. Michael 1

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Michael Stolleis, »recht erzählen«. Regionale Studien 1650–1850 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 341), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2021. Thomas Duve, Michael Stolleis (1941–2021), in: Rechtsgeschichte – Legal History 29 (2021), S. 22–24, 24, http://dx.doi.org/10.12946/rg29/022–024 (Zugriff: 01.12.2022).

Grußwort

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Stolleis aber war mehr: Sein ganzes Werk hatte eine Richtung, und diese Richtung – recht erzählt – hieß Verantwortung. Früher als viele andere verstand er, dass man nicht über den Staat in Deutschland forschen kann, ohne sein Abgleiten in die Diktatur als integralen Teil der Geschichte dieses Landes zu begreifen. Wo einige noch nicht einmal bereit waren, sich der Rechtsgeschichte der ersten deutschen Diktatur zu stellen, investierte er die Mittel des ihm 1991 verliehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises, kaum war die Mauer gefallen, schon in die Erforschung der zweiten. Auch das ist deutsche Rechtsgeschichte, recht erzählt: Die Geschichte ist nicht von der Person zu trennen. Das galt nicht nur für Michael Stolleis persönlich, für seinen Umgang mit seiner eigenen Herkunft, sondern, wie immer wieder und nicht zuletzt in vielen Nachrufen hervorgehoben wurde, für das Vorbild, das er seinen zahlreichen Schülern in persönlicher wie fachlicher Weise stets vermittelt hat – und nicht zuletzt für die Max-Planck-Gesellschaft, als deren Repräsentantin ich heute zu Ihnen sprechen darf. Das Frankfurter Max-Planck-Institut verdankt ihm mehr, als ich an dieser Stelle auch nur andeuten kann.Vielleicht das sichtbarste Zeichen seines Wirkens ist unser heutiges Institutsgebäude auf dem Campus Westend, das er von der Planung bis zur Fertigstellung verantwortet und begleitet hat. Das Gebäude ist sein begehbares Vermächtnis, das uns täglich an sein Wirken erinnert: Es atmet, in seiner meisterlichen Architektur der Form eines mittelalterlichen Klosters nachempfunden, schon seiner ganzen Baulichkeit nach Rechtsgeschichte. Wie sehr sich Michael Stolleis in diesem Gebäude verwirklicht hat, sei nur anhand der kleinen Anekdote veranschaulicht, dass er ursprünglich den Plan hatte, den von Johann David Voelcker um 1794 im klassizistischen Stil geschaffenen Weiße-Lilie-Brunnen, der sich zur Zeit der Errichtung des Institutsneubaus in einem Depot der Stadt Frankfurt befand und erst seit 2017 wieder auf dem Friedrich-Stoltze-Platz in der Innenstadt steht, im Innenhof des Instituts aufstellen zu lassen – leider ist dieser Plan recht bald an den Realien der Baustatik gescheitert, aber man kann sich genau vorstellen, wo der Brunnen heute stünde und was er dort jedem Betrachter über gelebte Frankfurter Stadtgeschichte zu erzählen hätte. 3 Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr Michael Stolleis das Institut seit seinem Eintritt in die Max-Planck-Gesellschaft im Jahre 1991 geprägt hat. Über viele Jahre hat er es alleine geführt und war auch nach seiner Emeritierung stets bereit, sich für dessen Angelegenheiten in die Pflicht nehmen zu lassen. Unbedingtes Verantwortungsbewusstsein drückte sich bei Michael

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Details des Vorhabens ergeben sich aus einer der Autorin vorliegenden E-MailKorrespondenz zwischen der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft und dem ausführenden Architekturbüro vom November 2011.

Marietta Auer

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Stolleis auch und gerade in den Angelegenheiten der Max-Planck-Gesellschaft stets in persönlicher Zugewandtheit aus. Ich selbst habe von dieser Zugewandtheit in den wenigen Wochen zwischen meinem Eintritt in das Institut im September 2020 und seinem Abschied im Winter desselben Jahres noch bei wenigen kurzen Begegnungen für immer unvergesslich profitiert. Kurz, allzu kurz war die Zeit, und so mögen es wohl auch viele der heute hier anwesenden Schülerinnen und Schüler, Mitarbeiter und Freunde empfinden, die jahrelang und teils jahrzehntelang in seiner Nähe gelebt und mit ihm zusammengearbeitet haben. Doch – recht erzählt – muss man auch hier sagen: Er hat uns allen über die vergängliche Zeit hinaus mehr als genug Zeitloses und Unvergängliches hinterlassen. An uns liegt es, diese Erbschaft anzunehmen und weiterzuführen, und nicht zuletzt dazu sind wir am heutigen Tage zusammengekommen. Mit diesen Worten möchte ich nun schließen und den Referentinnen und Referenten das Wort lassen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Kommen und freue mich über alles, was wir heute über Michael Stolleis austauschen, erinnern und recht erzählen werden. Marietta Auer

Grußwort

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Rechtsgeschichte und Rechtsgeschichten

I Geschichte fängt mit Geschichten an. Bevor Geschichte geschrieben wurde, wurden Geschichten erzählt. Bevor Kinder sich für Geschichte interessieren, freuen sie sich an wirklichen und erfundenen Geschichten aus nahen und fernen Vergangenheiten. Geschichte und Geschichten wohnen auch hinreichend nahe beieinander. Geschichte ist die Gestalt, die die Gegenwart der Vergangenheit gibt, und Gestalten gibt die Gegenwart der Vergangenheit auch mit Geschichten. Die Freiheit, die sich die Gegenwart dabei nimmt, ist unterschiedlich. Die Gestalt, die die Geschichte der Vergangenheit gibt, wird aus Quellen gewonnen und an Quellen überprüft; sie wandelt sich mit der Erschließung neuer und der neuen Interpretation alter Quellen; alte Gestalten erweisen sich als falsch, und neue können hinter diese Erkenntnis nicht mehr zurück. Bei Geschichten aus der Vergangenheit lässt sich die Gegenwart von der Phantasie beflügeln und nimmt sich die Freiheit, das, was die Quellen hergeben, zu ändern, zu ergänzen, zu vernachlässigen. Auch die Gestalten, die Geschichten der Vergangenheit geben, wandeln sich; aber dieser Wandel ist weniger den Quellen als vielmehr dem Zeitgeist geschuldet; in Zeiten des Feminismus wird Katharina die Große als frühe Feministin und in Zeiten der Martial Arts werden die Wikinger als fröhliche Streitaxtkünstler entdeckt. Nicht dass dieser und jener Wandel nichts miteinander zu tun hätten. Auch die Geschichten aus der Vergangenheit können sich dem Erkenntnisstand der Geschichte nicht völlig verweigern; an der Seite Katharinas der Großen wird Potemkin in Romanen und Filmen heute nicht mehr als der bloße Blender gezeigt, als den die Geschichte ihn früher fälschlich gesehen hat. Umgekehrt kann sich auch die Geschichte dem Zeitgeist nicht völlig entziehen; die Geschichte der kolonialen Vergangenheit kann heute nur im Einklang mit heutigen moralischen Sensibilitäten geschrieben werden. Miteinander verwandt sind auch die Bedürfnisse, die Geschichte und Geschichten befriedigen. Das kindliche Interesse an Geschichten aus der Vergangenheit, das bei den einen später zum Interesse an der Geschichte wird, bleibt bei anderen auch später Freude an Romanen und Filmen, in denen die

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Vergangenheiten Katharinas der Großen oder der Wikinger als Geschichten präsentiert werden. Zu wissen, wie es wirklich war, und zu phantasieren, wie es gewesen sein könnte, befriedigt ähnliche Bedürfnisse. Es ist auch nicht so, dass sich nur in der Freude an Geschichten die Anteilnahme an menschlichen Schicksalen oder der Wunsch nach Spannung und Aufregung erfüllten; wer sich für Geschichte interessiert, findet diese nicht weniger spannend und aufregend und begegnet menschlichen Schicksalen in Biographien. Die Bedürfnisse, die Geschichte und Geschichten befriedigen, sind Erscheinungsformen ein und desselben Bedürfnisses nach Vergewisserung, wer wir sind und was unser Ort in der Welt ist. Ob wir uns für Astronomie und unseren Ort im Weltall, für Ökologie und unseren Ort in der Natur, für Medizin und die Orte unseres Körpers oder für Technik und dafür interessieren, wie wir unseren Ort in der Welt optimieren – immer suchen wir zugleich Welt- und Selbstvergewisserung, wie auch dann, wenn wir uns anhand von Geschichte oder Geschichten für unseren wirklichen oder phantasierten Ort in der Welt interessieren. Der Unterschied liegt darin, dass wir das eine Mal die Vergewisserung in Fragen an die Gegenwart suchen, das andere Mal in Fragen an die Vergangenheit. Wo kommen wir her? Wie nahe und wie fern sind uns die, die vor uns gelebt haben? Wo stehen wir auf ihren Schultern und wo in ihrem Schatten? Was ist das Vermächtnis der Vergangenheit? Verurteilt die Vergangenheit uns zu unserem Schicksal? Ob Vergewisserung besser in Fragen an die Vergangenheit oder besser in Fragen an die Gegenwart zu finden ist, lohnt keinen Gedanken. Dem einen liegen die einen, dem anderen die anderen Fragen näher, und manche brauchen keine Vergewisserung und haben keine Fragen und leben unbedacht und unbefangen im Hier und Jetzt. Aber Gesellschaften brauchen die Vergewisserung und die Fragen in beide Richtungen. Auch dass Gesellschaften Geschichte und Geschichten brauchen, liegt auf der Hand. Sie hätten nicht beide Gestalten, die die Gegenwart der Vergangenheit gibt, wenn sie nicht beide bräuchten. Was genau leisten beide für das Bedürfnis nach Vergewisserung? Das gleiche, verschiedenes, gegensätzliches? Wovon hängt ab, was sie leisten? Gibt es gesellschaftliche, politische, moralische Anforderungen, was und wie sie zu leisten haben? II Greifen wir auf der Suche nach Antworten zu Nietzsches »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, können wir feststellen, dass der Essay ebenso vom Nutzen und Nachteil der Geschichten wie vom Nutzen und Nachteil der Geschichte handelt und sich jedenfalls als von beidem gleichermaßen handelnd lesen lässt. Wie eine monumentalische, eine antiquarische und

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eine kritische Geschichtsschreibung gibt es monumentalische, antiquarische und kritische Geschichten, Geschichten von wirklicher oder phantasierter vergangener Größe, vom Liebens- und Bewahrenswerten vergangenen Lebens und von der Vergangenheit als Last, die es zu zerbrechen und abzuwerfen gilt. Es gab sie schon immer als Literatur, heute gibt es sie auch als Serien. Die monumentalischen erheben und ermutigen, die antiquarischen vermitteln ein Gefühl des Zuhauseseins, und die kritischen helfen, von den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Geschichten haben damit ihren Nutzen für das Leben – wie die Geschichte. Und sie haben ihren Nachteil. Die monumentalische Geschichtsbetrachtung verführt zu falschen Vergleichen, heute nicht mehr zum Vergleich mit monumentalen Leistungen, sondern mit dem monumentalen Verbrechen des Holocaust, die kritische maßt sich ein gerechtes Urteil über die Vergangenheit an und wähnt sich höher, wo sie doch nur später ist, und die Nachteile der antiquarischen sind heute nur deshalb zu vernachlässigen, weil die antiquarische Geschichtsbetrachtung selbst neben der kritischen heute zu vernachlässigen ist. Mit den Geschichten steht es nicht anders; sie greifen auf die Vergangenheit bei monumentalischenVergleichen und kritischen Urteilen ebenso rabiat zu wie die Geschichtsschreibung, und wenn sie antiquarisch sind, bleibt ihre Trauer um die Vergangenheit kraft- und folgenlos. Insgesamt würde Nietzsche unsere Zeit nicht weniger geschichtsübersättigt sehen als seine; sie lebt in der »Einbildung, dass sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in höherem Grade besitze als jede andere Zeit, [und in der] gefährliche[n] Stimmung der Ironie [und der] noch gefährlichere[n] des Zynismus […] einer klugen egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden«. Nicht dass Nietzsches drei Arten der Geschichts- und Geschichtenschreibung und sein Urteil über das richtige und falsche Maß geschichtlicher Sättigung verbindliche Vorgaben wären. Unter ihnen zeigt sich lediglich, aber immerhin, dass der gesellschaftliche Ertrag von Geschichte und der von Geschichten einander ähnlich sind. Wenn über Nietzsche hinaus an die politische Indienstnahme der Vergangenheit gedacht wird, die unter autoritären und totalitären Regimen üblich geworden ist, bestätigt sich der Befund; von Wissenschaftlern und Schriftstellern wird gleichermaßen eine propagandistische Geschichts- wie Geschichtenschreibung verlangt, die heroisierend, bewahrend und kritisierend den Regimen dient. Für Wissenschaftler und Schriftsteller gelten auch ähnliche moralische Gebote. Michael Stolleis stimmt Samson Carrasco im »Don Quijote« zu, dem es »eines ist, wenn ein Dichter, und etwas ganz anderes, wenn ein Historiograph zur Feder greift. Der Dichter kann Dinge berichten und besingen, nicht wie sie waren, sondern wie sie sein sollten; der Historiograph darf sie nicht beschreiben, wie sie sein sollten, sondern wie sie waren, ohne dass er der Wahrheit etwas

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beimischt oder fortnimmt«. Aber so frei ist der Dichter nicht. Wenn er die Dinge beschreibt und besingt, wie sie sein sollten, ist ihm eine doppelte Grenze gesetzt: entweder er belässt sie, wie sie waren, und schmückt sie nur aus, oder er wendet sie so, wie sie zwar nicht waren, aber hätten sein können. Wenn er sich nicht daran hält, wenn er verdreht und verfälscht, wenn Johannes R. Becher aus Josef Stalin einen Ausbund von Milde und Güte oder Veit Harlan aus Joseph Süß Oppenheimer den verschlagenen, verbrecherischen Jud Süß macht, handelt er so unmoralisch wie der Historiograph, der der Wahrheit etwas beimischt oder fortnimmt. Die Ergebnisse sind Werke der Propaganda, und sie mögen sich gut lesen, die verdrehende und verfälschende Geschichtenschreibung wie die Geschichtsschreibung, die beimischt und fortnimmt. Aber das ändert nichts am moralischen Urteil über ihre Verfasser. III Allerdings kann die Geschichte selbst ihren vergebenden Mantel über den unmoralischen Verfasser breiten. Wer hat die Anekdote vom Müller von Sanssouci, der dem König mit dem Kammergericht droht und dafür des Königs Beifall findet, erfunden? Ein Nachfahre des Müllers, ein Verehrer Friedrichs des Großen, ein Propagandist avant la lettre? Ihm ist längst vergeben wie den anderen Erfindern von Anekdoten, die in volkstümlichen Geschichtsbüchern, Schulbüchern oder im »Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes« von Johann Peter Hebel Aufnahme fanden. Nicht weil die Verdrehung und Verfälschung der Wahrheit nicht so schlimm wäre; die Anekdote macht aus Friedrich, der über Richter selbstherrlich verfügte, einen König, der die Unabhängigkeit der Justiz respektierte. Aber Anekdoten können exemplarische Bedeutung haben, und die vom Müller von Sanssouci hat sie gewiss: Das ist aufgeklärtes Königtum, das ist, was die Zeit verlangte, das ist, was das Bürgertum erhoffte. Indem die Legende in der Anekdote gefasst, geglaubt und überliefert wurde, wurde die Hoffnung wie eine Münze geprägt, die auf den Tisch gelegt und deren Wert gefordert werden konnte: Hinter die Legende gibt es kein Zurück. Geschichte und Geschichten stehen unter ähnlichen moralischen Anforderungen, leiden, wenn es um die Wahrheit geht, unter ähnlichen Versuchungen und leisten ähnliche Beiträge für die Selbstvergewisserung der Gesellschaft. Da kommen wir her, so waren die, die vor uns gelebt haben, das haben sie geleistet und da haben sie gefehlt – dessen vergewissern wir uns anhand der Geschichte und anhand von Geschichten. Auf die Fragen, wie nahe oder wie fern die waren, die vor uns gelebt haben, ob wir auf ihren Schultern stehen oder in ihrem Schatten, ob es ein Vermächtnis der Vergangenheit gibt und wozu uns die Vergangenheit vielleicht sogar verurteilt, antwortet nicht allein der Blick

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zurück, weder der der Geschichts- noch der der Geschichtenschreibung. Es braucht zusätzlich den Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft. Ihn können die Geschichten, anders als die Geschichte, unbefangen mit dem Blick zurück verbinden. Sie können es unausgesprochen tun, wie die Anekdote vom Müller von Sanssouci, die als Geschichte aus der Vergangenheit für die auf die Gegenwart und Zukunft gerichteten Hoffnungen des Bürgertums erfunden wurde, und wie die historischen Dramen und Romane, die mit Geschichten aus der Vergangenheit die Gegenwart belehren, kritisieren oder inspirieren wollen. Dann hört das Publikum Marquis von Posa »Geben Sie Gedankenfreiheit« fordern und steht auf und klatscht und fordert sie mit ihm. Geschichten können die beiden Blickrichtungen auch ausdrücklich miteinander verbinden, zumal wenn sie als Zeitromane oder Familienepen die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart schlagen. So oder so – mit der doppelten Blickrichtung versuchen sie, die Nähe oder Ferne der Gegenwart zur Vergangenheit zu fassen, die Schultern, die die Vergangenheit uns bietet, und den Schatten, den sie auf uns wirft, ihr Vermächtnis und wozu sie uns vielleicht sogar verurteilt. Dasselbe anders formuliert: das eine ist Geschichtswissenschaft, das andere sind Geschichten, die in Nachbarschaft nicht nur zur Geschichtswissenschaft stehen, sondern auch zu anderen Sozial- und Kulturwissenschaften und von diesen wie jener lernen. Und wie sowohl die vergangenheits- als auch die gegenwartsbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften der Selbstvergewisserung der Gesellschaft dienen, tun es auch die Geschichten mit ihren beiden Blickrichtungen. IV Das gilt auch für die Rechtsgeschichten neben der Rechtsgeschichte. Dabei sind mit Rechtsgeschichten nicht Erzählungen gemeint, wie Stolleis sie in seinem Buch »recht erzählen« versammelt hat; sie sind, wie der Untertitel lautet, »Regionale Studien«, Rechtsgeschichte im, wie er es genannt hat, mikrohistorischen Stil. Das gilt auch für die Geschichten, die er in »Brotlose Kunst« und »Margarete und der Mönch« vorgestellt hat; auch sie erzählen Rechtsgeschichte im mikrohistorischen Stil. Gemeint sind mit Rechtsgeschichten im Unterschied zur Rechtsgeschichte – wie mit Geschichten im Unterschied zur Geschichte – die Gestalten, die die Gegenwart der Vergangenheit des Rechts mit der Freiheit der Phantasie gibt, im Unterschied zu der Gestalt, die sie ihr in Verpflichtung auf die Quellen gibt. In diesem Sinn spricht Richard Weisberg in seinem Buch mit dem Titel »Rechtsgeschichten« von den Romanen, Erzählungen und Dramen, mit denen sich das in den USA entstandene, in Deutschland zurückhaltend aufgenommene Law and Literature Movement beschäftigt.

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Wie Geschichten dies auch sonst tun, verbinden Rechtsgeschichten den Blick in die Vergangenheit mit dem Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft. Oft genug richten sie den Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu belehren, zu kritisieren oder zu inspirieren; in den Kanon von Rechtsgeschichten, die in Veranstaltungen zu Recht und Literatur immer wieder besprochen werden, gehören zum Beispiel Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig«, Kleists »Michael Kohlhaas«, Dostojewskijs »Der Großinquisitor«, Malamuds »Ein Mann wie Hiob«. Es sind Rechtsgeschichten, in denen es um Fragen der Gerechtigkeit und um Recht und Unrecht, Recht und Moral, den Einzelnem und die Gemeinschaft geht, alte Fragen, auf die die Philosophie seit alters Antworten gibt. Die Antworten, die die Fragen in den Rechtsgeschichten finden, sind unmethodischer, unsystematischer und subjektiver als in der Philosophie. Aber gerade darum sind sie für viele auch zugänglicher als die philosophischen, und Veranstaltungen zu Recht und Literatur können auch die Studenten und Studentinnen zur Vergewisserung über Grundfragen des Rechts führen, die rechts- und staatsphilosophische Veranstaltungen meiden. Schon vor und unabhängig vom Law and Literature Movement haben deutsche Juristen über das Recht in der Literatur geschrieben, von Ihering über Radbruch und Carl Schmitt und Lüderssen bis zu Pieroth, und schon vor und unabhängig von der Ankunft des Law and Literature Movement im deutschen akademischen Unterricht wurden Rechtsgeschichten zur Vergewisserung über Fragen des Rechts gelesen. Zur Vergewisserung durch Veranschaulichung – Rechtsgeschichten machen aus dem Buch der alten und immer neuen rechts- und staatsphilosophischen Fragen ein großes Bilderbuch. V Neben der mikrohistorischen Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte hat Stolleis sich auch mit Rechtsgeschichten beschäftigt, den utopischen Phantasien von Carlos Gesell und Cervantes, den Rechts- und Staatssatiren von Jean Paul und dem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« von Andersen. Besonders oft und gerne hat er in dem Bilderbuch geblättert, das Johann Peter Hebel mit dem »Rheinischen Hausfreund« in unsere Hände gelegt hat. 2003 hat er in »Der menschenfreundliche Ton« zwei Dutzend Geschichten von Johann Peter Hebel kommentiert. Die Geschichten handeln von Mächtigen, die aus Scham über ein erstes Unrecht ein zweites begehen, von der Furchtbarkeit und Alltäglichkeit des Kriegs, von junger und alter Liebe, vom Verhältnis des individuellen Schicksals zur Weltgeschichte, von Missverständnissen, Täuschung und Wahrheit, von unergiebigen Glaubens- und Rechtsstreitigkeiten, von Advokaten und Mandanten, vom Richten und Strafen. Die Geschich-

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ten belehren, manchmal direkt und manchmal indirekt, aber allemal so fasslich, dass sie mühelos zu verstehen sind und keines interpretatorischen Aufwands bedürfen. Stolleis’ Kommentare dringen denn auch nicht in die Geschichten ein, um aus deren Tiefe philosophische Einsichten zutage zu fördern. Sie beschränken sich darauf, die Geschichten zu umspielen, ihre besonders schönen Passagen zu paraphrasieren, ihre Lehren zu wiederholen und zu bestätigen. Warum überhaupt die Kommentare, warum überhaupt das Buch, möchte der oberflächliche Leser fragen. Er hat es nicht verstanden. Es ist kein Buch in der Tradition des Law and Literature Movement oder auch des deutschen juristischen Schreibens über das Recht in der Literatur. Es ist kein Buch der wissenschaftlichen Neugier, sondern ein Buch der Freude und der Liebe. Stolleis freut sich am Altertümlichen der Geschichten Hebels und an der Frische, die sie dank der Vermeidung alles Überflüssigen und der Offenheit für das Mitsingen unserer Phantasie haben, er spricht von kunstvoll zeitloser »Minimal-Art-Prosa«. Stolleis’ Liebe gilt Hebel, der in seinen Geschichten vernünftig mit seinen Lesern redet, der weiß, dass es alle Arten von Menschen gibt, und die Guten gut und die Bösen böse nennt, aber nicht eifert und sich keine moralische und pädagogische Überlegenheit anmaßt, der uns ernst nimmt, der für uns den Zeigefinger hebt, ohne mit erhobenem Zeigefinger zu uns zu sprechen. »Was unser Herz bewegt, ist der menschenfreundliche Ton«, schreibt Stolleis im Epilog, und das ist keine Phrase, sondern der menschenfreundliche Ton hat Stolleis’ Herz wirklich bewegt, wie er auch unsere Herzen bewegt und Sehnsucht und Hoffnung in ihnen weckt, wenn wir uns auf die Geschichten einlassen. Aber das ist noch nicht das letzte Wort von Stolleis zu Hebel. Als hätten Hebels Geschichten ihn persönlicher werden lassen, als er als Wissenschaftler werden wollte, und als gälte es, das gewissermaßen auszugleichen, hat er sich ein paar Jahre später erneut mit Hebel beschäftigt. 2006 und 2013 geht es wissenschaftlich zu; Stolleis erforscht bei einigen Geschichten die Quellen und die Wirkungen und richtet den mikrohistorischen Blick auf einen Konflikt, den Hebel, den Gedanken der Aufklärung verbunden, irenisch, konfessionelle Streitigkeiten verachtend, wegen einer Geschichte mit Staat und Kirche hatte. Das ist informativer, als was er 2003 geschrieben hat – informativer, was Hebel und den »Rheinischen Hausfreund« als Momente in der Rechtsgeschichte angeht. Aber das Herz bewegt der menschenfreundliche Ton, in dem Hebels Geschichten und Stolleis’ Kommentare zum Leser sprechen. Stolleis’ besonders liebevolle Kommentare gelten den Geschichten, die vom »Rauschen der Zeit« handeln. In der Geschichte »Unverhofftes Wiedersehen« rafft Hebel die Spanne eines Lebens in wenigen Sätzen: »Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria

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Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.«

So vergeht die Zeit, die Zeit der Welt, die, wie Stolleis sie nennt, »dahinstürzende Weltzeit«, und die Zeit des Menschen im Wechsel von Arbeit und Ruhe und im Wechsel der Jahreszeiten. Im Neben- und Ineinander beider Zeiten hat das Leben seine Spanne und wächst seine Summe. Bernhard Schlink

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Bernhard Schlink

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Michael Stolleis – eine französische Hommage Es überrascht nicht, dass Michael Stolleis eine besondere Beziehung zu Frankreich und der französischen Rechtswissenschaft hatte. Denn es gab bei Themen, Perspektiven und Methoden viele Berührungspunkte, und seine Forschungsarbeiten wurden gerade auch in Frankreich aufmerksam gelesen, rezipiert und weitergedacht. Entsprechend lebhaft war der Tenor der französischen Nachrufe, als sich die Nachricht von seinem Tod verbreitete: »Ein großer Meister, der Generationen geprägt hat«, der sich sowohl durch seine wissenschaftlichen Qualitäten als auch durch seine »Herzensgüte« auszeichnete: Dies sind einige der Worte, die meine französischen Freunde und Kollegen mir seit dem 18. März 2021 im Gedenken an Michael Stolleis übermittelt haben. Sie erinnern uns auch an die Bedeutung unserer internationalen Gemeinschaft, die wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bilden. Es ist folglich eine Ehre und eine umso größere Verantwortung für mich, ihm hier eine »französische Hommage« widmen zu dürfen. Erlauben Sie mir zunächst, besonders Marietta Auer, Thomas Duve und Stefan Vogenauer zu danken, die mich zu dieser schönen Gedenkfeier nach Frankfurt eingeladen haben. Frankfurt: die Stadt, wo ich das Glück hatte, Michael Stolleis 2007 zu treffen. Dank der Unterstützung meines Doktorvaters Olivier Jouanjan konnte ich nämlich damals ein Jahr am Max-Planck-Institut verbringen. Dies war ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben als Forscherin: Gibt es einen besseren Übergang von den einsamen ersten Jahren der Doktorarbeit zu einem intensiven Jahr, das von zwei wöchentlichen Seminaren geprägt war – und zwar dem »Stolleis-Seminar« am Dienstagabend und dem Mittwochsseminar der damaligen International Max Planck Research School for Comparative Legal History (IMPRS)? Das wird bei einigen von Ihnen, Seminarteilnehmern und fellows, sicherlich schöne Erinnerungen wecken. Blicke ich dann auf die folgenden vierzehn Jahre bis März 2021 zurück, so fällt es mir schwer, die richtigen Worte für das zu finden, was ich Michael Stolleis verdanke: Unser Briefwechsel hat nie mehr aufgehört; ich habe in ihm eine unglaubliche Unterstützung und einen (echten) Freund gefunden; er war der zweite Berichterstatter für meine Dissertation; er hat mir dann vorgeschlagen, eines seiner Bücher zu übersetzen; wir wurden mehrmals gemeinsam nach Frankreich eingeladen. Und noch im Juli 2020 hat er mein jüngstes Buch über

Michael Stolleis – eine französische Hommage

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das Bundesverfassungsgericht vollständig gelesen, es durch viele wichtige Hinweise bereichert und schließlich eines der beiden Vorworte verfasst – vielleicht sein letzter Text, im Februar 2021. Wenn ich mir erlaube, Ihnen hier von mir zu erzählen, dann auch deshalb, weil ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die tief in ihrem Herzen ein Licht aus wissenschaftlicher Leidenschaft und menschlicher Wärme trägt, das sich Michael Stolleis verdankt. Es gibt natürlich genügend Stoff für eine spezifisch französische Würdigung, die weit über mich hinausgeht. Ohne hier einzelne Personen zu nennen, kann ich betonen, dass dieVerbindungen zwischen Michael Stolleis und Frankreich in viele unterschiedliche Richtungen verliefen. Ich denke beispielsweise an französische Juristen und Historiker, an seine Übersetzerinnen und Übersetzer; ich denke auch an die verschiedenen Institutionen und Universitäten, die ihn eingeladen haben, bis hin zu unserem berühmten Collège de France. Es gibt in der Tat mehrere Gründe, warum Michael Stolleis in Frankreich ein so großes Echo gefunden hat. Ich kann und will diese Gründe nicht vollständig aufzählen, möchte aber meine Hommage nutzen, um wenigstens drei davon anzusprechen. I

Eine »monumentale« Geschichte des öffentlichen Rechts, die in Frankreich ihresgleichen sucht

Zunächst möchte ich über seine Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland reden, dessen Darstellung in Frankreich oft mit dem Adjektiv »monumental« verbunden wird, und von der die Franzosen übereinstimmend sagen, dass sie in Frankreich ihresgleichen sucht. Wie wir alle hier wissen, liegt die Leistung der Geschichte, die uns Stolleis erzählt, sowohl in dem zeitlichen Rahmen als auch in dem materiellen Umfang der vier Bände des Werks. 1 Sein Interesse an den grundlegenden Fragen und Begriffen des Rechts und der Rechtsgeschichte schien unbegrenzt. Gerade für Franzosen, die in einer anderen Rechtskultur ausgebildet werden und die es gewohnt sind, vom Staat und von der Souveränität her zu denken, ist das Nachdenken über das alte deutsche öffentliche Recht faszinierend. Ebenso lesen die Franzosen Stolleis mit Gewinn, wenn sie Begriffe wie »Rechtsstaat« und »subjektives Recht« besser verstehen wollen: Begriffe, die zwar im heutigen Diskurs, auch in Frankreich, omnipräsent sind, in der frühen französischen Rechtskultur aber weniger häufig vorkommen.

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Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München: C. H. Beck 1988–2012.

Aurore Gaillet

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»Die Franzosen haben die Bastille gestürmt, die Deutschen haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit [...] erfunden«: 2 Es war Michael Stolleis, der mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht hatte, das ich später meiner Dissertation voranstellte. 3 Ein Franzose, der Michael Stolleis’ Geschichte des öffentlichen Rechts liest, versteht auch besser die spannende rechtskulturelle Distanz, die uns von den Deutschen trennt. Insgesamt muss aber in Frankreich eine umfassende, integrative Geschichte des französischen öffentlichen Rechts und der Rechtswissenschaft, wie sie von Stolleis vorgelegt wurde, erst noch geschrieben werden. Zwei Gründe dafür möchte ich diesbezüglich kurz erwähnen. Einer der Gründe, warum es in Frankreich kein Pendant zum Stolleis’schen Werk gibt, liegt in der frühen Spezialisierung und Autonomisierung der Rechtsgebiete. Das Verwaltungsrecht hat sich z. B. schon sehr früh an einer zentralisierten Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit orientiert – und die Rechtswissenschaft war eng mit dem Conseil d’Etat verbunden –, während das Verfassungsrecht immer politisiert blieb: folglich wurden große, aus deutscher Sicht staatstheoretische Konzepte dabei enger von der Politikwissenschaft behandelt. Entsprechend gibt es in Frankreich zwar viele wichtige einschlägige Werke, wie z. B. die Geschichte der französischen Verwaltung seit Pierre Legendre, 4 oder große Autoren des öffentlichen Rechts wie Maurice Hauriou oder Léon Duguit; aber eben keine einheitliche Histoire du droit public in Stolleis’scher Manier. 5 Ein anderer wichtiger Grund liegt in der Sonderstellung der Rechtswissenschaft in Deutschland bzw. in den spezifischen institutionellen und rechtskulturellen Bedingungen der Entwicklung des Rechts. Jenseits von Normen und Rechtsprechung ist Michael Stolleis’ Geschichte bekanntlich vor allem eine Geschichte der Wissenschaft des öffentlichen Rechts. Das ist zwar bisweilen, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich, kritisiert worden. 6 Ein Pendant 2 3 4

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Bodo Pieroth, Bernhard Schlink, Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, 5. Aufl. München: C. H. Beck 2008, § 1, Rn. 13. Aurore Gaillet, L’individu contre l’État. Essai sur l’évolution des recours de droit public dans l’Allemagne du xixe siècle, Paris: Dalloz 2012. Pierre Legendre, Trésor historique de l’État en France. L’Administration classique (1968), 2. Aufl. Paris: Fayard 1992; die wichtigen Arbeiten von François Burdeau und Grégoire Bigot reihen sich dann in diese Tradition ein. So sind in der Bibliographie des Concours d’agrégation in »Histoire du droit public» von 2017–2018 die einzigen Werke, die unter diesem Titel referenziert werden, Staats- und Institutionengeschichten sowie die vier Bände von Michael Stolleis! Diese Bemerkungen erklären auch eine der wenigen Kritiken, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zu finden sind: Olivier Beaud, Quelques remarques de lecture autour du livre de Michael Stolleis: Histoire du droit public en Allemagne (1800–1914), in: Jus Politicum 12 (2014), http://juspoliticum.

Michael Stolleis – eine französische Hommage

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ist aber in Frankreich schwerlich vorhanden. Denn der Träger eines gewissen französischen Einheitsbewusstseins ist in der Tat nicht in der Rolle des Rechts zu finden, sondern eher in der Entwicklung des früh zentralisierten Nationalstaates. Heutzutage gibt es bekanntlich immer noch keine einheitliche Juristenausbildung; die Stellung der Universitäten im allgemeinen Bewusstsein ist weiterhin gering; 7 eine gemeinsame Vereinigung wie diejenige der deutschen Staatsrechtslehrer existiert gar nicht; und ebensowenig existiert eine besonders enge Verflechtung von akademischer Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Der niedrige oder gar abwesende Professorenanteil bei der Besetzung unseres »Verfassungsrats« (Conseil constitutionnel) bringt die Kluft zwischen Frankreich und Deutschland mit den jeweils eigenständigen wissenschaftlichen Traditionslinien zum Vorschein, deren Geschichte Stolleis so eindrucksvoll entwickelt hat. So gibt es also – auch in Frankreich – genügend Anlässe, sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen und sein Erbe zu vertiefen, um weiter an der komplexen Beziehung zwischen der Geschichte der Wissenschaft des öffentlichen Rechts und der Geschichte der Rechtspraxis durch Rechtsetzung, Verwaltung und Gerichte zu arbeiten. Wir müssen aber zugeben: Es dürfte sehr schwierig sein, eine Person zu finden, die in die Fußstapfen von Stolleis treten könnte, denn seine Kunst der Gelehrtheit, des Schreibens und der Methode bleibt unerreicht. II

Methode und Geschichte

Die zweite Anmerkung, die ich hier entwickeln möchte, ist gerade auf die methodologischen, interdisziplinären Ansätze von Michael Stolleis ausgerichtet. »Rechtsgeschichte schreiben«; »Interventionsstaat« – mit einer methodologischen Einführung; »Recht und Nazismus«: das waren drei Themen seiner Vorlesungen am Collège de France im Jahr 2016. Und ich kann an dieser Stelle berichten, dass die Besonderheiten der Methode von Stolleis ein zunehmendes Interesse in Frankreich hervorrufen. Bei der Arbeit an dem Buch zu seinen Ehren, das mein Kollege Xavier Godin aus Nantes und ich gerade vorbereiten, 8

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com/numero/histoire-du-droit-public-allemand-58.html (Zugriff: 20.12.2022); Christoph Schönberger, Wissenschaftsgeschichte als Schlüssel zur Geschichte des öffentlichen Rechts? Bemerkungen zu einem schwierigen Verhältnis, in: Rechtsgeschichte Rg 19 (2011), S. 285–293, http://dx.doi.org/10.12946/rg19/285293 (Zugriff: 20.12.2022). An der Spitze des Bildungssystems stehen nicht die Universitäten, sondern die »grandes écoles«. Aurore Gaillet, Xavier Godin (dir.), Pousser les frontières franco-allemandes. Hommage à Michael Stolleis (1941–2021), in: Revue d’histoire des facultés de droit et de la culture juridique, Numéro Hors-Série, 2023.

Aurore Gaillet

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konnten wir feststellen, wie wichtig ihm die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rechtsgeschichte und Sprache war, und wie relevant diese Frage auch für die französischen Juristen ist. In der Tat hilft uns Stolleis einerseits dabei, die Rechtsgeschichte als Kunstprodukt und die Juristen als »Akteure des Rechts« zu denken; und andererseits, den fiktiven Charakter der Rekonstruktion und der Interpretation der Vergangenheit zu verstehen. Darüber hinaus möchte ich kurz eine andere Facette von Stolleis’ Methode erwähnen, und zwar seine Art und Weise der Zusammenführung von Vergangenheit und Gegenwart. Seit der Veröffentlichung der französischen Übersetzung seines Werks Recht im Unrecht (Le droit à l’ombre de la croix gammée 9) im Jahr 2016 ist das Interesse der Franzosen an Michael Stolleis’ Historisierung des Rechts, und insbesondere des Nazi-Unrechts, und dessen heutiges Verständnis noch stärker geworden. Als Kind des Jahres 1941 10 erinnerte er oft daran, selbst mit der »Erblast« 11 des Nationalsozialismus konfrontiert gewesen zu sein; und sein Werk zeigt, dass er sich keineswegs davon abwandte. Methodologisch stellt sich die Frage, wie es in einem solchen Fall möglich ist, eine objektive Distanz zum Gegenstand der eigenen Forschung zu wahren. Michael Stolleis ist dieser Frage nie ausgewichen, sondern hat sie in seine Arbeiten über die juristische Methode integriert. Das liefert auch in Frankreich Diskussionsstoff. So hat z. B. eine 2018 in Paris organisierte Podiumsdiskussion Anlass zu spannenden Debatten über sein Buch »Recht und Unrecht« und über Olivier Jouanjans Buch zum »juristischen Diskurs der Nationalsozialisten« ( Justifier l’injustifiable) gegeben. 12 In diesen

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Michael Stolleis, Le droit à l’ombre de la croix gammée. Études sur l’histoire du droit du national-socialisme, übersetzt von Christian E. Roques und MarieAnge Roy, Lyon: ENS 2016; deutsches Original: ders., Recht im Unrecht: Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 2. Aufl. 2006. Siehe hierzu die Rede anlässlich der Verleihung des Balzan-Preises: https://www.balzan.org/de/preistrager/michael-stolleis/rom-15-11-2000-franzoe sisch-stolleis Michael Stolleis, »Rechtshistoriker sind Historiker«. Ein Gespräch über Väter, Bildungswege und Zeitgenossenschaft (mit Philipp Heß, Annette Weinke und Norbert Frei), in: ders., Nahes Unrecht, fernes Recht. Zur Juristischen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts: Vorträge und Kolloquien, Bd. 16), Göttingen: Wallstein 2014, S. 135–164, 135–136; in diesem Band S. 71–90, 71–72. Aurore Gaillet, Quand le droit est pris dans d’intenables oxymores. Réflexions théoriques et historiques. Lectures croisées de Michael Stolleis, Le droit à l’ombre de la croix gammée, études sur l’histoire du droit du national-socialisme (2016) et d’Olivier Jouanjan, Justifier l’injustifiable: l’ordre du discours juridique nazi (2017), Lectures de … N° 5, Journée d’étude organisée par Pierre Bonin et Nader Hakim, Paris 2018.

Michael Stolleis – eine französische Hommage

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Zusammenhang gehört auch der Satz, mit dem Michael Stolleis 1996 in einem bemerkenswerten Artikel in der FAZ feststellte, dass »der geschichtsblinde Jurist gefährlich ist«. 13 Noch kürzlich war es ihm zu verdanken, dass ich an den Aufnahmen für einen ARTE-Dokumentarfilm über Recht und Nationalsozialismus beteiligt war. Der deutsch-französische Film soll Anfang 2023 ausgestrahlt werden. Und er wird auch eine Hommage an Michael Stolleis sein, die uns erneut daran erinnert, wie sehr wir auch heute noch die Geschichte kennen müssen, um über die Zukunft nachzudenken. So wichtig seine wissenschaftlichen Errungenschaften auch sind – sie reichen bei Weitem nicht aus, um die Aura zu ermessen, die den Namen Michael Stolleis umgibt. Damit komme ich zu meinem dritten Punkt, der Michael Stolleis in seiner Eigenschaft als Intellektueller betrachtet. III

Der Intellektuelle

Hier möchte ich nicht auf seine Eigenschaften als Gelehrter eingehen, der auch die Poesie und Literatur liebte, was seine Leidenschaft für Sprache noch beeindruckender machte. In dieser französischen Würdigung ziehe ich es vielmehr vor, auf das hinzuweisen, was mir als die eigentliche Art des europäischen intellektuellen Engagements erscheint und für mich ein großes Vorbild ist. Bekanntlich nahm er seine Rolle als Intellektueller, der Brücken zwischen Wissenschaft und Gesellschaft baute und überquerte, sehr ernst. Auch wenn er von seiner Persönlichkeit her nicht als kämpferischer Intellektueller auftrat, so engagierte sich Michael Stolleis doch mit Nachdruck für die Anliegen, die ihm am Herzen lagen. So setzte er sich insbesondere für die Belange von Forschung und Wissenschaft sowie für die Vermittlung einer globalen Weltanschauung ein. In vielen seiner Schriften reflektiert er über die Rolle und die Situation der Universitäten; und er setzte sich mit der Frage auseinander, welches Wissen eine Gesellschaft braucht, und wie es vermittelt werden kann. Dabei betonte er stets die Bedeutung des historischen und sozialen Wissens – im Gegensatz zur Hyperspezialisierung und zur Technisierung der Rechtswissenschaften, die sich doch allzu oft durchsetzen. Auch bei diesen Fragen sollte man Michael Stolleis’ Worte auch in Zukunft nicht vergessen. Darüber hinaus sah er in dem Aufbau einer breiten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Waffe zur Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaates, und zwar durch die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und 13

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Michael Stolleis, Der geschichtsblinde Jurist ist gefährlich. Warum es nicht genügt, das geltende Recht zu kennen. Forderungen an das Studium, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1996, S. 29.

Aurore Gaillet

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Wissenschaft für unsere Gesellschaften: Herausforderungen, die heute aktueller sind denn je. Wer einen der zahlreichen Texte von Michael Stolleis liest, findet also Denkanstöße zu den Grundlagen einer solchen europäischen Rechtskultur und Rechtsgeschichte, die wir uns weiterhin zu Herzen nehmen sollten. So schloss er seine Dankesrede zur Verleihung des Balzan-Preises im Jahr 2000 mit den Worten: »Die Kultur des juristischen Denkens in Europa ist alles andere als schwach, aber sie ist ständig bedroht. Sie braucht Pflege und Aufmerksamkeit. [...] Der BalzanPreis ermutigt mich, diesen Weg weiterzugehen und vor allem die Begeisterung und Freude an der wissenschaftlichen Forschung an neue Generationen weiterzugeben.« 14

Gerade diese eben zitierten Worte spiegeln Michael Stolleis’ Hingabe für die Tradierung und Vermittlung von Wissen wider, zu deren Zweck er jeden denkbaren Weg beschritt: Konferenzen, Vorträge, akademische Lehre und Seminare (von denen ich bereits einige erwähnt habe), Bücher, Artikel, Essays, Rezensionen, auch Übersetzungen, denen er große Bedeutung beimaß. 15 Nicht zuletzt förderte und ermutigte er ständig junge Forscherinnen und Forscher. Sein Interesse für die Anderen und seine Zuwendung ihnen gegenüber waren immer gleichzeitig wohlwollend und fordernd. Und gerade dies machte sein Engagement besonders außergewöhnlich und schön. IV

Schlussbemerkung: der Wegbegleiter

»Die Bundesrepublik hat eine moralische Institution, die globale Gelehrtenrepublik einen ihrer Leuchttürme verloren«. 16 Dies sind die Worte meines lieben Kollegen Miloš Vec, den ich vor fast 15 Jahren ebenfalls in Frankfurt kennenlernen durfte. Er ist heute Professor in Österreich, ich selbst bin es in Frankreich, und wir beide sind heute mit Ihnen in Deutschland versammelt. Wenn wir alle in der Lage sind, die von Michael Stolleis geforderte europäische Wissenschaftsgemeinschaft fortzuführen und lebendig zu gestalten, dann wird sein leuchtendes Vorbild nicht verblassen. Was mich betrifft, hatte ich wie gesagt das große Glück, dass sich unsere Wege im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt kreuzten. 14 15

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Ebd.; siehe außerdem die Rede anlässlich der Verleihung des Meyer-Struckmann Preises für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung 2019. Aurore Gaillet, Michael Stolleis, Dialogue entre le traduit et la traductrice, in: Marie Bassano, Wanda Mastor (dir.), Justement traduire. Les enjeux de la traduction juridique (histoire du droit, droit comparé), Actes de colloques de l’IFR, Toulouse: Presses de l’Université Toulouse 1 Capitole 2020, S. 177–190. Miloš Vec, Der menschenfreundliche Ton. Zum Tod des Frankfurter Rechtshistorikers Michael Stolleis, in: Frankfurter Rundschau, 21.03.2021, S. 27.

Michael Stolleis – eine französische Hommage

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Seitdem war er für mich Vorbild, Mentor und Kompass zugleich. Es war nicht einfach, seiner scheinbar einfachen Maxime zu folgen: »Schreibe täglich [...]; ich weiß selbst, wie viel Selbstdisziplin das erfordert, [...] aber es geht nicht anders.« Er behauptete, es sei ein Geschenk für ihn, als ich mich bereit erklärte, sein von ihm so genanntes »kleines Buch« 17 zu übersetzen. Dabei war doch eindeutig, dass vor allem ich diejenige war, die ihm zu unendlicher Dankbarkeit verpflichtet ist. Der schönste Weg bleibt jedoch derjenige der Freundschaft. Die Quelle der Inspiration und der Menschlichkeit wird jedenfalls nicht versiegen. Ich glaube, das bin ich ihm schuldig. Aurore Gaillet

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Michael Stolleis, Introduction à l’histoire du droit public en Allemagne: XVIe–XXIe siècle (coll. Histoire du droit), Übersetzung und Vorwort von Aurore Gaillet, Paris: Les Classiques de Garnier 2018; deutsches Original: ders., Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte (16.–21. Jahrhundert), München: C. H. Beck 2014.

Aurore Gaillet

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»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte* Michael Stolleis war ein Mann mit vielen Facetten. Gesegnet mit großen intellektuellen Kräften und wissenschaftlicher Neugier, aber auch von einer fast unheimlichen Arbeitsamkeit getrieben. Sie hätte einen das Fürchten lehren können, wenn er nicht selbst so bescheiden und charmant aufgetreten wäre. Kennengelernt habe ich ihn als Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt. 34 Jahre ist das her, Sommersemester 1988: Er war mein Lehrer in der Vorlesung »Verfassungsgeschichte der Neuzeit«. Das war etwas für Fortgeschrittene, und in der Rechtsgeschichte gab es oft wenige Hörerinnen und Hörer. Im darauffolgenden Sommer 1989 saß ich bei Bernhard Diestelkamps mittelalterlicher Verfassungsgeschichte teilweise alleine auf der Couch. Er hatte die Lehrveranstaltung mangels allgemeinen Interesses gleich nach der ersten Stunde vom Hörsaal in sein Dienstzimmer verlegt. Nach genau 45 Minuten machten wir beide eine Viertelstunde gemeinsame Pause, und dann fuhr er mit seinem lupenrein hörsaalmäßigen Vortrag fort. Das alles spielte sich auf dem alten Campus in Bockenheim ab, und seither ist so viel geschehen. Michael Stolleis wurde über die Jahre mein akademischer Betreuer, Mentor und schließlich Freund. Wie bei so vielen Menschen hat er bei mir Interessen angeregt, zum Forschen ermutigt und damit Wege ins Neue gewiesen. Ein solches Forschungsfeld möchte ich Ihnen heute vor Augen führen. Es geht um das Völkerrecht des 17. bis 19. Jahrhunderts und seine spezifisch deutsche Geschichte. Sie werden über einen vormodernen Rechtspluralismus hören, der sich über politische Systemumbrüche zugleich modifiziert und seltsamerweise fortgetragen hat. Es geht um Machtfragen, um die Trennung von innen und außen in Imperien und schließlich um Fragen des Postkolonialismus. Dabei verknüpfe ich die Biografie von Michael Stolleis einschließlich seiner damaligen und späteren Forschungsinteressen mit den Entwicklungen, die das

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Überarbeitete und um Belege erweiterte Fassung des Vortrags vom 24. Juni 2022.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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Fach der Völkerrechtsgeschichte seither und bis heute genommen hat. Viele Menschen, Institutionen und biografische Stationen kommen darin vor. Viele mehr könnten es sein, je nachdem welchen Ausschnitt aus seinen reichen Interessen man wählte. Denn Michael Stolleis war – auch wenn er die technokratische Wissenschaftsrhetorik der »Vernetzung« nicht schätzte – ein ausgesprochen vernetzter Mensch. Sie alle, die heute in diesen Festsaal gekommen sind, ob aus Gimmeldingen, Japan oder Offenbach, legen davon Zeugnis ab. Sie haben ihn in vielen verschiedenen Rollen und Kontexten erlebt: von einer Rechtsgeschichte Frankfurter Prägung, der er auch international nachhaltige Impulse gab, bis zu einer Stadtgesellschaft, in die er in vielfältiger Weise hineinwirkte. 1988 erschien der erste Band seiner monumentalen Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Kein anderes Land weltweit hat meines Wissens eine vergleichbare juristische Wissenschaftsgeschichte hervorgebracht. 1 Und die Gründe darin liegen in gewisser Weise in der Sache selbst. Denn eine solche deutsche Wissenschaft vom öffentlichen Recht, entstanden um 1600, ist mit all ihren Verzweigungen eine sehr spezielle akademische Disziplin. Diese Teilfächer sind geprägt durch spezifische historisch-politische und soziale Umstände. Diese Prägungen greift auch mein Titel »Deutsches Völkerrecht« auf. Der Titel wird sich am Ende meinesVortrags als mehrdeutig erweisen, Sie ahnen es vermutlich schon. Ein solches Buch, das die Genese des öffentlichen Rechts synthetisiert und analysiert, schreibt man nicht aus dem Stand. Michael Stolleis sondierte das Thema jahrelang durch Aufsätze, verbrachte Forschungsaufenthalte – etwa in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel – und fasste den Plan einer Gesamtdarstellung. 2 Der Anfang der Geschichte des öffentlichen Rechts führt in fremde Welten. Michael Stolleis erkundete im ersten Band, der mich bis heute besonders fasziniert, einen »barocken Eisberg« von Gelehrsamkeit. Denn das öffentliche Recht war in Deutschland in einer Zeit entstanden, die sich schon intensiv des Mediums des Buchdrucks bediente, in der die benachbarten Disziplinen und Literaturgattungen aber noch ganz anders als heute aussahen. In Fürstenspiegeln, Amtshandbüchern und Hausväterliteratur wurde eine vielfach moralische gehaltene Ansprache an Herrschaftsträger gepflegt, und die

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Siehe ferner: Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1990), 3. Aufl., 2 Bde., München: C. H. Beck 2021. Rückblickend zur Genese: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, in: Dietmar Willoweit (Hg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen zur Entwicklung des Verlages C. H. Beck, München: C. H. Beck 2007, S. 1165–1169.

Miloš Vec

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»gute Policey« implementierte Ordnungsvorstellungen 3 – theologisch legitimiert – durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung an Amtsträger wie Untertanen. »Löwe und Fuchs« standen emblematisch für die Herrschertugenden, die notwendig waren, und Michael Stolleis, der als studierter Kunsthistoriker oft in Bildern dachte, widmete sich diesem Doppelsymbol in einem 1981 erschienenen Aufsatz. 4 Staatliche oder jedenfalls obrigkeitliche Macht musste erzeugt, erhalten und veranschaulicht werden: 5 Auf dem Umschlag des ersten Bandes der Geschichte des öffentlichen Rechts ist ein gefaltetes Kupfer reproduziert: Jacob Bernhard Multz, Repraesentatio Majestatis Imperatoriae (1690). Die Maiestas ist eine Sonne in der Mitte. Sie sendet helle Strahlen in den Kosmos der Dinge. Am Firmament leuchten die Sterne. Und jeder dieser Sterne ist akkurat und in feiner Schrift bezeichnet. Sie verkörpern einzelne Hoheitsrechte, und in der Summe machen sie die fürstliche Souveränität aus.

Jacob Bernhard Multz, Repraesentatio Majestatis Imperatoriae (1690), Ausschnitt.

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Thomas Simon, »Gute Policey«. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2004; Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2000. Nachgedruckt in: Michael Stolleis, Löwe und Fuchs, in: ders., Margarete und der Mönch. Rechtsgeschichte in Geschichten, München: C. H. Beck 2015, S. 30–42. Der Nachruf von Thomas Duve auf Michael Stolleis (Rg 29 [2021], 22–27) beginnt passenderweise deswegen auch mit einem Machtbild des frühneuzeitlichen Staats, Hobbes’ Leviathan, und erkundet von dort aus Stolleis’ kritisches Interesse an der Macht des Staates über Recht und Unrecht.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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Wie hier das Bild der Sonne bereits verdeutlicht, ist Souveränität aber nicht bloß etwas, das nach innen wärmt, sondern nach außen strahlt. Sie ist der Anknüpfungspunkt jener Rechte, die das Verhalten zwischen Staaten zu normieren suchen. Schaut man genau hin, kann man dort auf der rechten Seite des Bildes unter anderem Pax, Foedera und Bellum lesen: die Rechte des Monarchen, Frieden zu schließen, Bündnisse einzugehen und Krieg zu führen. Dieses vormoderne Völkerrecht begegnet dem Leser des ersten Bandes unter einer programmatischen Überschrift: »Die neue Thematik«. 6 Denn neu sind die Lehrbücher der Politik, auch sie behandeln »Krieg und Frieden, Gesandtschaftsrecht und Bündnisse« und werden später zu einer der »Hauptwurzeln des ius publicum«. 7 Noch bevor es zum eigentlichen Völkerrecht kommt, liest man im ersten Drittel des Buches über zwei Leitmotive, die Michael Stolleis sein Leben lang beschäftigt haben: »Verwissenschaftlichung des Rechtswesens« und »Verrechtlichung der Politik«. 8 Bis in die Zeitgeschichte der Bonner und die Gegenwart der Berliner Republik hat Michael Stolleis darauf zurückgegriffen und »die Kultur des Verfassungsstaats« 9 in Deutschland in ihrer langen historischen Genese gewürdigt. Das vormoderne Natur- und Völkerrecht beinhaltete Beides. Es konnte als Begrenzungs- und Korrekturmöglichkeit gegenüber Machtansprüchen dienen, 10 diese aber auch rechtfertigen und steigern. Das Natur- und Völkerrecht in der Darstellungsweise von Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf, Christian Wolff und Emer de Vattel war ein Denkrahmen voller Prinzipien, Abstraktionen und Deduktionen. Zwischen Dreißigjährigem Krieg und dem Ende des Alten Reiches war viel Bedarf für solche Argumente, denn sie waren gegenüber verschiedenen politischen Verhältnissen und gegensätzlichen Interessen durchaus schmiegsam. Mit »vernünftigen Prinzipien« konnte man hier zu erstaunlichen und vor allem praktisch gewünschten Ergebnissen kommen. Spezifisch deutsch wurde es in einer im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker werdenden Nebenlinie. Denn es gab keineswegs nur dieses Völkerrecht mit seiner philosophisch-naturrechtlich-universellen Prägung. Johann Jacob Moser, umtriebiger Reichspublizist, Autor von hunderten Büchern, war es, der eine zunehmend erfolgreiche literarische Gattung begründete. 1732 publi6

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Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft, 1600–1800, München: C. H. Beck 1988, S. 154. Ebd., S. 49. – Hervorhebung im Original. Ebd., S. 138. Michael Stolleis (Hg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München: C. H. Beck 2011, Vorwort, S. 8. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (Anm. 6), S. 181.

Miloš Vec

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ziert er ein Buch mit dem bemerkenswerten Titel: »Anfangs = Gründe Der Wissenschafft von der heutigen Staats = Verfassung Von Europa Und dem unter denen europäischen Potenzien üblichen Völcker = oder allgemeinen Staats = Recht«. 11 Was ist da alles enthalten! Die Staatsverfassung von Europa; ihre Wissenschafft; die Gleichsetzung von Völkerrecht und allgemeinem Staatsrecht; der Verweis auf die Üblichkeit als normativer Anknüpfungspunkt. Im Werk selbst wird eine explizite Identifizierung vorgenommen: Die Staats = Verfassung von Europa ist das europäische Völkerrecht. 12 Moser wird sich später in Teilen von diesem Zugang distanzieren und schreiben, dass er seinerzeit das Völkerrecht mit dem allgemeinen Staatsrecht »vermischt« habe. 13 Gleichwohl bleibt es der Auftakt zu einer Wahrnehmungsverschiebung auf das sogenannte »positive europäische Völkerrecht«, und seine normative Grundlage liegt in der Staatspraxis: in Verträgen, Herkommen, diplomatischen Schriften. In den 1770er Jahren wird Johann Jacob Moser an seinem Lebensabend einen Versuch des neuesten Europäischen Völker-Rechts in Friedens- und Kriegszeiten in 22 Büchern publizieren, der die Darstellung eines positiven Völkerrechts in der gesamten Breite des Stoffes entfaltet. 14 Aber der Regierungsrat und spätere, streitbare Berater der württembergischen Stände Moser und seine deutschen Zeitgenossen wurzelten juristisch nicht nur in Europa, sondern zunächst primär in dem komplizierten politischen Geflecht des Alten Reichs. Auch hier wollten die Territorien Souveränität mit all ihren diplomatischen und völkerrechtlichen Insignien. Lange bevor die Geschichtswissenschaft ihren performative turn nahm, verwies Michael Stolleis hier auf die in der Selbstwahrnehmung der Wissenschaft des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts zentralen Fragen von Präzedenz, diplomatischen Ritualen und Zeremoniell. All das wurde fein ausziseliert, Juristen schrieben im 18. Jahr-

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Johann Jacob Moser, Anfangs = Gründe Der Wissenschafft von der heutigen Staats = Verfassung Von Europa Und dem unter denen Europäischen Potenzien üblichen Völcker = oder allgemeinen Staats = Recht. Erster Theil [mehr nicht erschienen], Tübingen: Georg Friedrich Pflicken 1732. Ebd., Vorrede, § 4. Johann Jacob Moser, Teutsches Staats = Recht. Zweyter Theil, Frankfurt und Leipzig: Johann Stein 1738, Erstes Buch, 29. Kapitel, § 4 (S. 196). Johann Jacob Moser, Versuch des neuesten Europäischen Völker = Rechts in Friedens = und Kriegs = Zeiten; vornehmlich aus denen Staatshandlungen derer Europäischen Mächten, auch anderen Begebenheiten, so sich seit dem Tode Kaiser Carls VI. im Jahr 1740. zugetragen haben; Erster Theil, Frankfurt am Main bei Varrentrapp Sohn und Wenner 1777; Zweiter Theil 1778; Dritter Theil 1778; Vierter Theil, 1778; Fünfter Theil, 1778; Sechster Theil 1778; Siebenter Theil 1779; Achter Theil, 1779; Neunten Theils Erster Bd. 1779; Neunten Theils Zweiter Bd. 1779; Zehnten Theils Erster Bd., 1780 Zehnten Theils Zweiter Bd. 1780.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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hundert Abhandlungen über das Recht, eine Kutsche mit sechs (und nicht nur vier!) Pferden zu fahren. 15 Entsprechend identifizierte Stolleis für Deutschland eine »Konzentration auf verfassungsrechtliche Binnenprobleme, [bedingt] durch seine Kleinstaaterei und durch sein Fehlen im Kreis der Kolonialmächte«. Und er fügte hinzu: Deutschland wurde »nicht zu den Nationen mit einer spezifischen Völkerrechtskultur«. 16 Das muss er schon alles geschrieben haben, dachte ich mir später, als ich seine Vorlesung »Verfassungsgeschichte der Neuzeit« bei ihm im Frühjahr 1988 hörte. Mit wie vielen anderen Lehrverpflichtungen, Mitarbeit in Kommissionen und anderen Professorentätigkeiten hatte er das koordiniert! Mit wie vielen anderen, gründlich verfolgten wissenschaftlichen Interessen und erfolgreich abgeschlossenen Publikationsprojekten lief es bei ihm, einem jugendlich wirkenden Mittvierziger, parallel! Wie fern aber, wie komplex und wie schwer zu beurteilen waren solche wissenschaftsgeschichtlichen Sätze für einen Jurastudenten des sechsten Semesters! Und es ist überflüssig hinzuzufügen, dass der Erwerb der großen Scheine in den rechtsdogmatischen Fächern für das sachliche Verständnis dieser Fragen vergleichsweise wenig hilfreich gewesen war. Wie gerne hätte ich mich später genauer an seinen Vortrag in diesem Semester erinnert – an Erzähllinien, Thesen, Didaktik. Die Unfähigkeit dazu mag auch damit zu tun haben, dass sich spätere, viel intensivere Begegnungen und Eindrücke darübergelegt haben. Umso lieber hätte ich ihn nach Jahrzehnten eigener Lektüre von Völkerrechtsbüchern des 18. Jahrhunderts gefragt, ob er diesen Satz auch noch heute so aufschreiben würde: Deutschland, wirklich ein Land ohne spezifische Völkerrechtskultur?

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Johann Jacob Moser, Von dem Recht und der Gewohnheit, mit sechs Pferden zu fahren, in: ders., Abhandlung verschiedener besonderer Rechts = Materien I, Frankfurt und Leipzig [ohne Verlag] 1772, S. 126–138. Obrigkeiten erließen in verschiedenen Metropolen Europas entsprechende Normen: Nachweise bei A[lexander] Miruss, Das Europäische Gesandschaftsrecht. Nebst einem Anhange von dem Gesandschaftsrechte des Deutschen Bundes, einer Bücherkunde des Gesandschaftsrechts und erläuternden Beilagen, 1. Abtheilung, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1847, § 327: Vom Recht mit sechs Pferden zu fahren (S. 400–401). Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (Anm. 6), S. 279; ähnlich ders., Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870–1939, in: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München: Oldenbourg 2006, S. 161–171 (164 f.): »[…], dass Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert keine wirklich bedeutende Rolle im Völkerrecht spielt. Zwar wird seine Rechtswissenschaft, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie bis 1933 international beachtet. Das Völkerrecht spielt dabei aber eher eine Nebenrolle.«

Miloš Vec

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Gab es nicht doch einzigartige Prägungen bereits in der Vormoderne? Sie liegen womöglich in einer Verbindung von einer reichen Wissenschaftskultur, zahllosen Universitäten und anderen Institutionen der Gelehrsamkeit und der praktischen Herausforderung im komplexen Ineinander dieser Innen- und Außenbeziehungen des Alten Reichs. Ich möchte Ihnen einige Belege für diese spezifisch deutsche Völkerrechtswissenschaftskultur in Form zeitgenössischer Stimmen geben. Johann Stephan Pütter notiert in seinem Entwurf einer juristischen Encyclopädie von 1757: »selbst das Völkerrecht findet in Teutschland nicht nur in Absicht auf auswärtige seine Anwendung, sondern selbst gewissermaßen innerhalb den eigenen Grenzen des Teutschen Reichs, so fern dessen besondere Staaten manche freyen Völkern ähnliche Gerechtsame nicht nur gegen auswärtige Staaten, sondern zum Theil auch unter sich erlangt haben.« 17

Völkerrecht – so Pütter – gab es nicht nur in den Beziehungen jenseits der Außengrenzen des Reichs, sondern auch zwischen seinen Gliedern. Der juristische Enzyklopädist Pütter hat zehn Jahre später seine Aussagen gründlich umgearbeitet. Er schreibt nun: »Beynahe liesse sich ein eigenes Teutsches Völker = Recht daraus bilden; soviele unregelmässige Abweichungen hat Teutschland, nur in sich betrachtet, vor anderen Europaeischen Staaten voraus.« 18 Der Aufruf oder die Bemerkung verhallte nicht ungehört. Ausgerechnet 1789 publiziert Carl Heinrich von Römer ein Buch mit dem Titel »Das Völkerrecht der Teutschen«. Er definiert dort: »Das positive Völkerrecht der Teutschen ist eine Wissenschaft von den wechselseitigen vollkommenen Rechten des teutschen Reichs sowohl überhaupt, als seiner einzelnen Landesherren gegen alle auswärtige Staaten und unter sich selbst, in so weit sie wechselseitig als Regenten freyer Völker zu betrachten sind, so wie solche durch Verträge festgestellet sind.« 19

»Deutsches Völkerrecht« meinte also erstens und in einer vormodernen Semantik nicht nur internationale Rechtsverhältnisse, die das Reich mit auswärtigen, 17

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Johann Stephan Pütter, Entwurf einer Juristischen Encyclopädie nebst etlichen Zugaben 1. von der Politick, 2. von Land = und Stadtgesetzen, 3. von brauchbaren juristischen Büchern, Göttingen: Witwe Vandenhoeck 1757, § 16 (S. 11). Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie. Nebst etlichen Zugaben 1. von Land = and Stadtgesetzen; 2. von Schriftstellern, die solche erläutert; 3. von Vergleichung besonderer Ordnungen, insonderheit fürstlicher und gräflicher Verzichte; 4. von brauchbaren juristischen Büchern; 5. von des Verfassers eignen Schriften, Göttingen: Witwe Vandenhoeck 1767, § 54 (S. 30). Carl Heinrich von Römer, Das Völkerrecht der Teutschen. Ein Lehrbuch, Halle: Johann Gottfried Heller 1789, Tabellarischer Entwurf des Völkerrechts der Teutschen, S. IX; – Hervorhebung im Original; ähnlich S. 6.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

https://doi.org/10.5771/9783465146254 Generiert durch Universität Leipzig, am 06.03.2024, 23:25:26. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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europäischen Mächten hatte. Sondern auch jene Rechtsverhältnisse der Einzelstaaten des Reichs mit europäischen Mächten sowie die innerhalb der Rechtsverhältnisse des Reiches bestehenden Außenbeziehungen der Territorien. Dieses und vergleichbare Werke sollte man sich eines Tages gründlich vor der Folie der wechselnden Kategorien des Völkerrechts ansehen. Es blieben relativ wenige Schriften, und auch die Kürze der verbleibenden Zeit des Reichs trug dazu bei. Mein Wiener Kollege Stephan Wendehorst hat vor einigen Jahren in einem Aufsatz einen Aufschlag zu einer Analyse geliefert. 20 Er weist dort darauf hin, dass Mosers Völkerrechts-Verständnis in mehrfacher Weise vom heutigen abwich (und ich skizziere hier nur die Ansatzpunkte): Moser kannte fünf Kategorien von Völkerrechtssubjekten. Als juristische Disziplin wies es eine eigenwillige Verschränkung mit anderen Rechtsgebieten auf. Die Grenzziehung zwischen innen und außen wurde in der Frühen Neuzeit noch ganz anders als heute vorgenommen. Anders als im 19. Jahrhundert räumte Johann Jakob Moser auch dem europäischen Völkerrecht keine privilegierte Stellung gegenüber den normativen Ordnungen anderer Weltteile ein. Insgesamt macht er ähnlich wie Michael Stolleis, 21 Karl Härter 22 und Peter Oestmann 23 einen spezifisch imperialen Rechtspluralismus aus. Die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen des positiven Rechts durch die Rechtswissenschaft und besonders die Reichspublizistik trieb die Professionalisierung und Verrechtlichung auf allen Ebenen im Reich voran. 24 Das Völkerrecht war davon nicht ausgenommen. Diesem System waren freilich nur noch wenige Jahre beschieden. 20

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Stephan Wendehorst, Johann Jacob Moser: Der Reichspublizist als Völkerrechtler, in: ders. (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation: Institutionen, Personal und Techniken (bibliothek altes reich 5), Berlin und München: De Gruyter Oldenbourg 2015, S. 303–324; im Folgenden vgl. insbes. S. 316–319. Siehe ferner Michael Stolleis, Staatsverträge in der Neueren Staats- und Völkerrechtsgeschichte, in: Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 19 (2013), S. 1–11. Karl Härter, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als mehrschichtiges Rechtssystem, 1495–1806, in: Wendehorst (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien (Anm. 20), S. 327–347; ders., Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich: Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648–1806, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 413–431. Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Rechtsprechung 18), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2002. Karl Härter, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als mehrschichtiges Rechtssystem, in: Wendehorst (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien (Anm. 20), S. 327–347 (341).

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Denn das Publikationsjahr des Völkerrechts der Teutschen 1789 war auch das Jahr der Französischen Revolution. Die Wissenschaft des Völkerrechts verarbeitete dessen Herausforderungen auf ihre Weise. 25 Sie diskutierte (kritisch) die Ordnungsvorstellungen, die sich aus dem neuen politischen Modell westlich des Rheins ergeben hatten: Volksouveränität statt Fürstensouveränität und monarchischer Legitimität. Auch zwischenstaatlich beschritt das Revolutionsdenken neue Wege und forderte tradierte Prinzipien heraus. Wie weit reichte nun die Idee vom »Selbstbestimmungsrecht« und der völkerrechtliche Grundsatz der Nicht-Einmischung? Durfte man neuerdings anderen Völkern bei ihrer nationalen Selbstbefreiung helfen? Galt das Prinzip der völkerrechtlichen Gleichheit und Selbstregierung auch für ehemalige Kolonien, die nun von früheren Sklaven und damit Menschen nicht-weißer Hautfarbe regiert wurden, die sich auf universell-naturrechtliche Freiheits- und Gleichheitsversprechen stützten, etwa Haiti? 26 Anders und aus aktueller Sicht gefragt: Wie viel Rassismus und wie viel Machtpolitik war dieser Völkerrechtswissenschaft eingeschrieben, die man auch schon mit den Prinzipien von 1776 und 1789 kritisieren konnte? Die alteuropäisch-vormoderne Völkerrechtswissenschaft jedenfalls war in ihrer Daseinsgewissheit erschüttert. Georg Friedrich von Martens hatte ebenfalls ausgerechnet 1789 die erste Auflage eines neuen Völkerrechtslehrbuchs auf den Markt gebracht. Sein Titel unterstrich dieVerschiebung der Rechtsquellen vom Naturrecht weg, denn auch sein modernes Völkerrecht von Europa gründete auf »les traités et l’usage«. Dem folgten später englische und deutsche Übersetzungen mit Vorworten, die Bezug auf die Zeitläufte seit 1789 nahmen. Als Stolperstein diente ein kleines, 1795 erschienenes Büchlein. Die Schrift war nicht als Beitrag zum europäisch-praktischen Völkerrecht gedacht, sondern im Gegenteil eine kritische völkerrechtsphilosophische Miniatur – ihr Titel: »Zum ewigen Frieden«. 27

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Edward James Kolla, Sovereignty, International Law, and the French Revolution (Studies in Legal History), Cambridge: Cambridge University Press 2017; Heinhard Steiger, Das natürliche Recht der Souveränität der Völker. Die Debatten der Französischen Revolution 1789–1793, in: Jörg Fisch (Hg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker / The world Divided. Self-Determination and the Right of Peoples to SelfDetermination, Berlin und München: De Gruyter Oldenbourg 2011, S. 51–86. Liliana Obregón, Empire, Racial Capitalism and International Law: The Case of Manumitted Haiti and the Recognition Debt, in: Leiden Journal of International Law 31, S. 597–615; Sudhir Hazareesingh, Black Spartacus. Das große Leben des Toussaint Louverture. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl unter Mitwirkung von Nastasja S. Dresler, München: C. H. Beck 2022, S. 1, 28, 71, 295 f. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg: Friedrich Nicolovius 1795.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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Am stärksten aber ist der Eindruck des Lochs. Denn anders als in der Szene des Reichsstaatsrechts und der territorialen Staatsrechte klafft ab ca. 1800 eine erklärungsbedürftige Lücke in der völkerrechtswissenschaftlichen Publizistik. Es erscheinen auffallend wenige Lehrbücher und Monographien, kaum neue Systeme. Michael Stolleis wurde 1991 Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Er pendelte täglich zwischen seinen beiden Büros im Bockenheimer Juridicum und jenem im Hausener Weg mit Blick auf die Nidda. Im Jahr darauf, 1992, erschien der zweite Band seiner Geschichte des öffentlichen Rechts: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800–1914. Hier nun schreibt er im Vorwort, es gäbe für das Völkerrecht seit dem System von Johann Ludwig Klüber »eine nicht mehr abreißende, ganz eigenständige Lehrbuchtradition, die es erlaubt, das meist von Strafrechtlern mit behandelte Völkerrecht hier auszuscheiden.« 28 Klüber war es tatsächlich, der 1819 das nächste, äquivalent bedeutende Lehrbuch nach Georg Friedrich von Martens verfasste. 29 Aber ich zitiere Ihnen diesen Satz nicht, um das Offensichtliche zu bekräftigen, nämlich ein langsames Wiederaufleben der völkerrechtswissenschaftlichen Publizistik. Erstaunlicher ist, dass Michael Stolleis’ Geschichte des öffentlichen Rechts im zweiten Band das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts außen vor lässt. Die Gründe dafür liegen in einer zunehmenden wissenschaftlichen Autonomie dieses Fachs, so Stolleis’ Begründung 1992. Ob das wirklich überzeugend ist? Ob er das später auch noch so niedergeschrieben hätte? Denn seine eigentliche Beschäftigung mit der Völkerrechtswissenschaft lag in wichtigen Teilen seinerzeit noch vor ihm. Der umtriebige und zugleich fokussierte Max Planck-Direktor initiierte eine Reihe von Projekten. Alle würden sie – beginnend mit dem großen Policey-Projekt – nachhaltige Spuren in der Rechtsgeschichte hinterlassen. Von 1997–2001 leitete er zusammen mit Ingo Hueck das DFG-geförderte Projekt »Deutsche Völkerrechtswissenschaft im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. So viele verschiedene, gute, interessante Dissertationen erschlossen das Feld. Noch bevor international der »turn to history« im Völkerrecht ausgerufen wurde, las man – angeregt durch Stolleis – Primärquellen, reflektierte über Publikationsorgane, Netzwerke und dogmatische Zentralbegriffe. Das Erscheinen dieser Bücher erfolgte parallel zum internationalen Aufstieg der

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Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800–1914, München: C. H. Beck 1992, Vorwort, S. 7. Jean Louis Klüber, Droit des Gens moderne de l’Europe, 2 Bde., Stuttgart: J. G. Cotta 1819.

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Völkerrechtsgeschichte, die nun ihre eigenen, überwiegend englischsprachigen Zeitschriften, Buchreihen und immer häufigere Konferenzen bekam. Ein Meilenstein war Martti Koskenniemis Gentle Civilizer of Nations, das Michael Stolleis mit großem Lob im Feuilleton der FAZ rezensierte. 30 Jetzt, 20 Jahre später, liest die internationale Community das Nachfolgewerk To the Uttermost Parts of the Earth. Dort bekräftigt der finnische Völkerrechtler in seinem Durchgang durch mehr als sechs Jahrhunderte der legal imagination eine These, die er schon zehn Jahre zuvor in einem Aufsatz 31 publiziert hatte: »International law is a specifically German discipline«. 32 »Deutsches Völkerrecht« könnte insofern in einer zweiten semantischen Bedeutung nach Koskenniemi die Prägung der internationalen Wissenschaft durch deutsche rechtswissenschaftliche Gelehrsamkeit beinhalten. Michael hätte das vermutlich gefreut, auch wenn es seiner Beobachtung von 1988 widersprochen hätte. Denn Koskenniemi, seit 2011 Ehrendoktor der Goethe-Universität, nimmt sich rund stattliche 160 Seiten Platz, 33 um die deutsche Gelehrsamkeit zu analysieren, und Koskenniemis Referenz im Vorwort auf die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts von Michael Stolleis wird insofern auch performativ bekräftigt. Beide sind sich darin einig, dass die deutsche Universitätslandschaft des 16., 17. und 18. Jahrhunderts ein fruchtbarer Nährboden gewesen ist. Im Umfeld von Mittel- und Kleinstaaten wurden Machtverhältnisse juristisch und später kameralistisch vermessen – nach innen, aber eben auch nach außen. Das Naturrecht wurde im »Streit der Fakultäten« durch empirische Politikwissenschaft, Ökonomie und kritische Philosophie herausgefordert. Am Ende verschwand es als juristische Disziplin. 34 Koskenniemi hat die Völkerrechtsgeschichtsschreibung in den vergangenen Jahren politisiert. Sein Interesse richtete sich seit jeher auf das Verhältnis von Recht und Macht. Er wollte verstehen, wie europäische Juristen Herrschaftsverhältnisse konstruierten, Machtausübung legitimierten oder auch kritisierten. 30

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Michael Stolleis, Unterm Vergrößerungsglas. Martti Koskenniemis glänzende Geschichte des Völkerrechts. Rezension von: Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge: Cambridge University Press 2001, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.07.2002, S. 37 [finnische Version in: Lakimies 6 (2002), S. 1029–1032]. Martti Koskenniemi, Between Coordination and Constitution: International Law as a German Discipline, in: Redescriptions. Yearbook of Political Thought, Conceptual History and Feminist Theory 15 (2011), S. 45–70. Martti Koskenniemi, To the Uttermost Parts of the Earth. Legal Imagination and International Power 1300–1870, Cambridge: Cambridge University Press 2021, S. 800. Ebd., S. 797–951. Ebd., S. 877.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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Denn dahinter stand die Überzeugung, dass diese, über Jahrhunderte hinweg gewachsene Grammatik uns erhalten geblieben ist. Sie hat den Blick auf die zwischenstaatlichen Verhältnisse geprägt. Wir können diese Welt beinahe gar nicht anders sehen, sagt Koskenniemi, als mit den Augen von Kapitalismus und Völkerrecht. Umso wichtiger ist es, diese Ordnungssysteme in ihrer historischen Kontingenz wahrzunehmen, um sie womöglich hinter uns zu lassen. Vor dem Hintergrund dieses Politisierungsschubes habe ich bei meinen Lektüren von Michael Stolleis’ Werken immer wieder darüber nachgedacht, ob er auch eine vergleichbare rechtspolitische Mission hatte, die hinter seinem Schaffen stand? Sein Œuvre ist wie ein aufgefaltetes Gebirge. Es gibt darin verschiedene Massive, mit prominenten Spitzen, getrennt und zugleich verbunden durch Täler und Seitentäler, die der passionierte Wanderer Stolleis sämtlich durchschritten hatte. Doch wo auch immer ich seine Völkerrechtsgeschichten gelesen habe, so habe ich doch hier seine eigentliche Mission nicht auf völkerrechtspolitischen Feld identifizieren können. Als Hochschullehrer war ihm primär daran gelegen, angehenden deutschen Juristinnen und Juristen ein historisches Bewusstsein für die Geschichtlichkeit ihres eigenen öffentlichen Rechts zu verschaffen. 35 Und verknüpft damit war – Marietta Auer hat es eben gesagt – eine reflektierte Idee individueller, professioneller Verantwortung. Als Forscher kartierte er dafür eine noch nicht erschlossene Wissenschaftslandschaft. Er war Pionier und setzte neue Qualitätsmaßstäbe. Sein Anliegen formulierte er 2006 in einem retrospektiven Projektbericht. Es lohnt sich, hier seinen Ton im Original zu hören, weil die folgende Passage viele methodische Anliegen zum Ausdruck bringt, die dem Rechtshistoriker Michael Stolleis generell am Herzen lagen: »[Es] war beabsichtigt, die völkerrechtliche Doktrin jener Zeit aus der Perspektive der ›intellectual history‹ als Interaktion zwischen theoretischer Reflexion und politischer Lage zu verstehen. Die Trennung zwischen den sogenannten Fakten und den Ideen sollte verschwinden. Das ideelle Begreifen der Realität ist zugleich gestaltende Weltdeutung. Wird eine neue Weltsicht mehrheitlich durchgesetzt, dann kommt dies der Erschaffung einer neuen Welt gleich. Wird Deutung geschichtsmächtig, hat sie die Welt verändert. Da die Welt eine im Kleid der Sprache wandelnde Kopfgeburt ist, sind Veränderungen des kollektiven Sprachgebrauchs Veränderungen der Welt.« 36

Die im DFG-Projekt entstandenen Einzelbände warfen Schlaglichter auf diese noch unerzählte Transformation. Erneut erweist sich die »territoriale Vielfalt,

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So auch Peter C. Caldwell, Michael Stolleis (1941–2021), in: Central European History 55 (2022), S. 267–275 (270). Stolleis, Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870–1939 (Anm. 16), S. 167.

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Kleinräumigkeit und Provinzialität« 37 Deutschlands im 19. Jahrhundert als fruchtbar für die Rechtswissenschaften. Wenn im 18. Jahrhundert von einem »Völkerrecht der Teutschen« die Rede war, so wiederholte und variierte sich die Konstellation einige Jahrzehnte später unter neuen politischen Vorzeichen. Johann Ludwig Klüber schreibt 1817 in seinem reichen, in der vierten und letzten (postum erschienenen) Auflage von 1840 bald 1000-seitigen »Öffentlichen Recht des Teutschen Bundes« über das »Völkerrecht der teutschen Bundesstaaten«. 38 Denn Völkerrechtsverhältnisse gibt es Klüber zufolge in multiplem Sinne: als Völkerrecht des Deutschen Bundes zwischen den souveränen Einzelstaaten des Bundes untereinander im Sinne eines »Bundesrechts« im engeren Sinne sowie dem Deutschen Bund in seiner Gesamtheit gegenüber anderen Staaten bzw. Staatensystemen. Hinzu kommen bezüglich der Einzelstaaten des Bundes noch vier weitere Konstellationen von Völkerrechtsverhältnissen als »Völkerrecht der Teutschen Bundesstaaten«: 39 1. zwischen den Einzelstaaten und dem Deutschen Bund, 2. zwischen den Einzelstaaten, 3. zu auswärtigen Staaten, 4. zwischen den Einzelstaaten und auswärtigen Staatensystemen. Das klingt nicht nur kompliziert, es ist auch in der Sache verzwickt. Nach wie vor fehlt dieser Publizistik die explizit koloniale Dimension. Die außereuropäische Welt ist kaum präsent. Stattdessen werden die Rechtsverhältnisse innerhalb Europas als positive Verbindlichkeiten, die qua Vertrag und Herkommen bestehen, analysiert und Lücken durch Analogie und andere logische Verfahren geschlossen. Früher als in allen anderen Staaten der Welt entsteht auf diesem Nährboden eine eigene publizistische Tradition. Die Kolonialmächte England und Frankreich hingegen produzieren zunächst kaum Lehrbücher. Sie sind machtpolitisch tonangebend, sie gestalten die Welt nach ihren normativen Ideen, aber man findet erstaunlich schwachen rechtswissenschaftlichen Niederschlag davon. Vielmehr ist es die große Tradition des deutschen öffentlichen Rechts, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reiche Früchte trägt, nun vor 37

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Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost, 1945–1990, München: C. H. Beck 2012, S. 689 (rückblickend formuliert in Bezug auf die grundsätzliche Prägung der deutschen Rechtskultur in der Vormoderne). Johann Ludwig Klüber, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt am Main: Andreäische Buchbuchhandlung 1817, § 9 (S. 13 f.). Ebd. – Hervorhebung im Original.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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der Folie des Imperialismus und zunehmenden Militarismus des Zweiten Kaiserreichs. 40 Michael Stolleis hat diese deutsche Völkerrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts selbst nie erzählt, noch hat er sie meines Wissens jemals unterrichtet. Als Seitenstück zu seiner Geschichte des öffentlichen Rechts erscheint aber das Völkerrecht wieder im dritten Band, der 1999 erschien und die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus behandelt. Hier war sie eingebunden in totalitäre, rassistische Machtstaatlichkeit und außenpolitisch aggressives Großraumdenken. 41 Auch im vierten Band von 2012 finden wir Leserinnen und Leser die Wissenschaft des Völkerrechts mit behandelt, wenn es um die beiden deutschen Staaten bis 1990 geht. 42 Michael Stolleis war zu diesem Zeitpunkt sowohl als Professor an der GoetheUniversität als auch als Max-Planck-Direktor bereits emeritiert. Zugleich blieb er Universität, Institut und auch dem Exzellenzcluster bzw. Forschungsverbund Normative Ordnungen intensiv verbunden. Zusammen betreuten wir eine letzte völkerrechtsgeschichtliche Dissertation: Nina Keller-Kemmerer wurde 2017 über Andrés Bello, einen chilenisch-venezolanischen Völkerrechtler, promoviert. 43 Für ihre preisgekrönte Analyse kombinierte sie die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts mit Globalgeschichte und postkolonialen Perspektiven. Mit Michael Stolleis ging sie über Michael Stolleis hinaus: Wegweiser weisen Wege, sie gehen sie nicht selbst. Und Michael Stolleis nahm sich weiterhin Zeit für wissenschaftliche Gäste aus dem In- und Ausland und beeindruckte sie, die sich schon inhaltlich viel von

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Pointiert zu den entsprechenden deutschen Denkschulen, auch im internationalen Vergleich: Anthony Carty, The Evolution of International Legal Scholarship in Germany during the Kaiserreich and the Weimarer Republik (1871–1933), in: German Yearbook of International Law 50 (2007), S. 29–90; Jochen von Bernstorff, The Use of Force in International Law before World War I: On Imperial Ordering and the Ontology of the Nation-State, in: European Journal of International Law (EJIL) 29 (2018), S. 233–260 (244); ders., Innen und Außen in der Staats- und Völkerrechtswissenschaft des deutschen Kaiserreichs, Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Wien vom 24. bis 26. Februar 2014, 23. Beiheft Der Staat 2015, S. 137–153. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945, München: C. H. Beck 1999, S. 380–400. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4 (Anm. 37), S. 90, 202–210, 480–488, 562–565, 629–635, 689 f. (Rückblick auf das 19. Jahrhundert), S. 694. Nina Keller-Kemmerer, Die Mimikry des Völkerrechts. Andrés Bellos »Principios de Derecho de Jentes« (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 38), BadenBaden: Nomos 2018.

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der Begegnung erwartet hatten, nochmals durch sein enzyklopädisches Wissen, mehr noch aber durch seine Zugewandtheit. Der Pflichtmensch kokettierte damit, sich nun nur noch jenen Schreibverpflichtungen zu widmen, auf die er richtig Lust hatte. Welch schöne Texte sind dabei entstanden! 44 Ich ende mit der Empfehlung eines älteren völkerrechtsgeschichtlichen Beispiels, das er 2015 erneut publizierte: »Die Prinzessin als Braut« erschien zunächst 2001 und wurde dann vor einigen Jahren in dem eleganten Band Margarete und der Mönch. Rechtsgeschichte in Geschichten nachgedruckt. 45 Es geht um die Staatsheirat. Das Thema hatte Michael Stolleis bereits für den vierten, 1990 erschienenen Band des Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) in systematischer Form gefasst. Auf nur zwei Spalten verdichtete er Definition, Rechtsgrundlagen und Probleme dieser Konstellation. Es hatte auch internationalrechtliche Aspekte. Denn das Völkerrecht verband sich hier mit dynastischen Interessen. Staatsheiraten konnten Friedensschlüsse vorbereiten, die Braut konnte als »Pfand des Friedens« dienen oder die Ehe den Frieden besiegeln. In den Rechtsnormen spiegelte sich ein großer vormoderner Pluralismus: Hausgesetze der Dynastien, Erbverbrüderung und Fürstentestamente gehörten hierher; gemeines Erbrecht galt subsidiär, in Konflikten galt die Jurisdiktion des Kaisers und damit Reichsrecht. 46 Michael Stolleis zog dabei verschiedene Register und verband das Erzählen von Geschichten darüber mit multiplen Perspektiven: Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Frauen, Fest- und Zeremonialkultur, Wirtschafts- und Finanzgeschichte wurden bei ihm explizit als geschichtswissenschaftliche Kontexte aufgerufen. 47 Noch mehr fasziniert hat mich schließlich beim Wiederlesen seine exemplarische Erzählung über den »Wasunger Krieg« von 1747/48, der um Rangfragen bei Hofe ausbricht. 48 Dort berichtet Michael in historischer Chronologie über einen Konflikt, der zu einem gehegten Krieg und Friede durch Recht führt. Beide Elemente sind womöglich typisch vormodern deutsch. Der Konflikt liegt

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Michael Stolleis, »recht erzählen«. Regionale Studien, 1650–1850 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 341), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2021 [versammelt Texte der Jahre ab 2017 neben einem von 1995]. Michael Stolleis, Die Prinzessin als Braut, in: ders., Margarete und der Mönch (Anm. 4), S. 56–69. Michael Stolleis, Artikel »Staatsheirat«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin: Erich Schmidt 1990, Sp. 1822–1824 (1823). Stolleis, Die Prinzessin als Braut (Anm. 45), S. 57. Michael Stolleis, Der Streit um den Vorrang, oder: Der Wasunger Krieg, in: ders., Margarete und der Mönch (Anm. 4), S. 70–81.

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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nämlich in einem verzwickten Streit um den Vorrang bei Hofe, in dem verschiedene Prinzipien der Präzedenz widerstreiten. Weil beide Seiten – hier zwei Damen – auf ihrem Recht auf Rang bestehen, wird daraus ein militärischer Zwischenfall mit sogar einem bedauerlichen toten Soldaten. Erst als sich das Reichskammergericht einschaltet, kommt es zu einer Lösung. Michael erzählt diese Geschichte, betont ihre komischen Aspekte und analysiert sie auf ihren verschiedenen Ebenen. Auch hier wirkt wiederum ein spezifisch vormodernes deutsches Völkerrecht: ein Äußeres Recht zwischen den Reichsständen. Für dieses wurden manchmal diplomatische Aktionen und militärische Drohungen eingesetzt. Charakteristisch war in beiden Erzählungen der hohe Grad an Verrechtlichung: die Hierarchie unter adligen Personen wie auch unter Reichsständen wird juristisch argumentiert und behauptet. Der Konflikt selbst wird am Ende vergerichtlicht. Ohne dass Michael Stolleis diese Merkmale überakzentuiert, fügen sie sich doch in seine Charakterisierung des 18. Jahrhunderts. Und man kann wohl darüber nachdenken, wie solche Konflikte im Duodezformat die deutsche Wissenschaftskultur des Völkerrechts geprägt haben: es hat gelernt, mit einem Pluralismus von Akteuren, Konfliktfeldern und normativen Quellen umzugehen. Rechtspluralismus war ihm eingeschrieben, und eine Verrechtlichung von Konflikten früh Programm. Vor einigen Jahren veröffentlichte Anthea Roberts, eine australische, interdisziplinär forschende Völkerrechtlerin ein vielbeachtetes Buch: Is International Law International? 49 Es belegte eine naheliegende Vermutung, dass nämlich das Völkerrecht zwar eine universale Ordnung und universale Sprache beansprucht, in der Akteure aus aller Welt vereint oder jedenfalls verbunden scheinen. Tatsächlich besitzt es aber nationale und lokale juristische Prägungen. Entsprechend wies Roberts nach, wie divers Internationales Recht ist: Verschiedene Akteure konstruieren Völkerrecht ganz verschieden; es gibt Muster von Differenz, Dominanz und Spaltung. 50 In jedem Fall spielen die nationalen Wissenschaftskulturen und jeweiligen juristischen Sprachen eine Schlüsselrolle. Deutschland kommt in diesem Panorama knapp mit seiner Leidenschaft für Dogmatik auf drei Seiten vor, 51 seine frühneuzeitliche Völkerrechtsgeschichte bleibt unerzählt und ist der Autorin vermutlich unbekannt – und doch erkennt man diese Geschichte sofort wieder. Denn sein Völkerrecht entstand früh als wissenschaftliche Disziplin, die sich am positiven Recht ausrichtete, sich in

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Anthea Roberts, Is International Law International?, Oxford: Oxford University Press 2017. Ebd., S. 4. Ebd., Kapitel 5, S. 218–221.

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vielen, auch kleinen Konflikten erprobte und einen reichen Boden an diffiziler juristischer Gelehrsamkeit nutzte. Dies könnte nun die dritte, vielleicht Stolleis’sche Bedeutungsvariante meines Titelbegriffs sein: »Deutsches Völkerrecht« – ein Völkerrecht, entstanden in einer langen und reichen Tradition des öffentlichen Rechts seit der Vormoderne, 52 geprägt durch Herrschaftsverdichtung und Glaubensspaltung, Aufklärungsphilosophie und Idealismus ebenso wie durch juristische Dogmatik und Rechtsprinzipien – mit allen ihren zeitgebundenen Vorannahmen. Es war normativ verbunden mit und getrennt von Politik und Religion, gesellschaftlichen Konventionen und individueller Moral. Niemand hat diese normative Ordnung so gut gekannt, erforscht und in Geschichten erzählt wie Michael Stolleis. Mit so vielen Menschen stehe ich dafür in seiner Schuld. Ich danke ihm und bin fest überzeugt, dabei nicht alleine zu sein. Miloš Vec

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Die Beiträge der Focus Section »›Typisch deutsch‹ …: Is There a German Approach to International Law?« der Jubiläums-Ausgabe des German Yearbook of International Law 50 (2007) gehen in ihrem völkerrechtshistorischen Interesse nur bis 1871 zurück, siehe Thomas Giegerich und Andreas Zimmermann, Introduction, S. 15–27 (19).

»Deutsches Völkerrecht« – Eine Wissenschaftsgeschichte

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Zur Geschichte des Kolonialrechts – ein Gespräch*

I.

Ein unvollendetes Gespräch

Wie kann man eines Menschen »recht gedenken«, der Festschriften und Preisungen mit so viel freundlicher Skepsis begegnete wie Michael Stolleis? Ich versuche es mit einem wissenschaftlichen Gespräch. In einem letzten E-Mailwechsel mit Michael Stolleis, wenige Tage vor seinem Tod, ging es um die Geschichte des Kolonialrechts, »ein tatsächlich nur dünn bearbeitetes Gebiet«, wie er schrieb. 1 Das geplante Gespräch über den Text, auf den sich jene Nachricht bezog, einen Versuch zum Kolonialverwaltungsrecht, konnten wir nicht mehr führen, die vielen weiteren Fragen zur Erforschung der deutschen Kolonialrechtsgeschichte 2 nicht mehr besprechen. Lassen Sie uns das unvollendete Gespräch im Gedenken an Michael Stolleis ein Stück weiterführen. Es ist nun ein Gespräch mit seinen Texten, in denen sich Antworten und – mehr noch – mögliche Fragen finden lassen. II.

Hic sunt leones – ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte

Mit der Redewendung »hic sunt leones« wurden auf frühen Landkarten, die Afrika zu erfassen suchten, die unbekannten Gebiete, die »weißen Flecken« markiert oder verschleiert. Michael Stolleis hat jene Wendung 1985 aufgegriffen, in einem umfassenden Überblick über Forschungsdefizite der Rechts-

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Die Vortragsform ist beibehalten. Jakob Zollmann und HCL danke ich für weiterführende Kritik und Anregung. E-Mail vom 9.3.2021: »Herzlichen Dank für Dein Kolonialrecht, ein tatsächlich nur dünn bearbeitetes Gebiet.« Die Formulierung »deutsche« Kolonialgeschichte ist missverständlich; eine im älteren Sinne »nationalgeschichtliche« Perspektive ist notwendig unzureichend, wie nicht zuletzt die Forschungen zur Globalgeschichte gezeigt haben.

Zur Geschichte des Kolonialrechts – ein Gespräch

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geschichte. 3 Zu dem daraus entwickelten Forschungsprogramm, zu dem unter anderem die Geschichte des öffentlichen Rechts gehört, hat er bekanntlich Vieles beigetragen: selber forschend, Forschungsschwerpunkte anstoßend, organisierend, unterstützend. Für das (lange) 20. Jahrhundert bezieht sich diese Forschung insbesondere auf Weimar und den Nationalsozialismus, auf die Entwicklung des sozialen Interventionsstaates, auf Völkerrechtsgeschichte, aber auch auf die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik und der DDR. Kaum berührt wird indessen der Bereich des Kolonialrechts, die Kolonialzeit des Deutschen Reichs seit den 1880er Jahren, immerhin eine Periode von gut dreißig Jahren. In seiner Auflistung der weißen Flecken, denen oft blinde Flecken der jeweils Forschenden entsprechen, wie er schrieb, ist das Thema nicht genannt. 4 Und auch in seiner bahnbrechenden Geschichte des öffentlichen Rechts kommt es kaum vor. 5 Von den rechtshistorischen Lehrbüchern anderer Autoren ganz zu schweigen. 6 Zu den Gründen für – ich zitiere erneut Stolleis – »hartnäckige Ignorierungen bestimmter Fragestellungen« zählte er die Zeitverbundenheit von Forschung, 3

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Michael Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte oder: Hic sunt leones (1985), in: ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hg. von Stefan Ruppert und Miloš Vec (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 265), Bd. 2, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2011, S. 939–952, 939. Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte (Anm. 1), insbes. S. 946. Zentral für diese Zeit: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800–1914, München: C. H. Beck 1992, und Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945, München: C. H. Beck 1999. Auch Auslassungen oder nur kurze Aufnahmen können aber bekanntlich zu weiteren Forschungen anregen. So erzählt einer der derzeit wohl führenden deutschen Kolonialrechtshistoriker unter dem Siegel der Verschwiegenheit, er verdanke nicht zuletzt dem nur kurzen Hinweis auf Kolonialrecht in Bd. 2 das Thema seiner Examensarbeit; längere Aufenthalte in Namibia und viele weitere Arbeiten in dem Feld folgten seitdem. In den klassischen Lehrbüchern zur Rechts- oder Verfassungsgeschichte findet sich regelmäßig bis in die 2000er Jahre gar nichts: Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München: dtv 1993 (kein Sachregistereintrag), S. 189 kurze Erwähnung der Wende zur »Ära imperialistischer Weltpolitik«, die sich mit dem »Erwerb von Kolonien« angekündigt habe. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, München 4. Aufl. München: C. H. Beck 2000, S. 308 (über Sachregistereintrag »Kolonialvereine« erschlossen, handelt von der Unterstützung der Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. im Kaiserreich ab 1890. In der 7. Aufl. von 2013, sind hinzugekommen die Registereinträge Kolonialismus und Kolonialherrschaft. Letzter führt zu einer kurzen Schilderung der deutschen Kolonialherrschaft (ebd., § 26, Rn. 13, S. 305 f.). Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 3. Aufl. Berlin: De Gruyter 1984 (kein Sachregistereintrag, keine Erwähnung); ebenso in der 6. Aufl., 2006. Werner Frotscher, Bodo Pieroth,

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die Zeitgebundenheit auch der rechtshistorischen Fragestellungen. 7 Und in der Tat wird man sagen können, dass die weitgehende Nicht-Thematisierung des Kolonialismus in der Rechtsgeschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts die kultur-, wirtschafts-, außen- und erinnerungspolitische Situation in der Bundesrepublik jenes 20. Jahrhunderts spiegelt. 8 Doch sollten wir uns damit nicht vorschnell beruhigen. Zur Erinnerung gehört auch, dass es seit den 1970er Jahren bemerkenswerte kulturpolitische Debattenversuche gab: etwa im Kontext von Rückgabe- oder auch nur Leihgesuchen ehemals kolonisierter Staaten, die mit Hilfe ihrer traditionellen Kunst bzw. ihrer kulturellen Objekte, die auf verschiedenen Wegen in die Sammlungen der Kolonialmächte gelangt waren,

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Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. München: C. H. Beck, 2021, Rn. 21 ff., erwähnen Kolonien und einen Kolonialkrieg (nur) im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsgeschichte der USA, mithin die britischen Kolonien in Nordamerika. Stephan Meder, Rechtsgeschichte: eine Einführung, Köln u. a.: Böhlau 2002, S. 180: Unter dem Stichwort »Kolonisten« wird auf Fragen der Grundherrschaft im Feudalrecht des Mittelalters verwiesen. Ebenso in der 3. Aufl., 2008, S. 214. Kein Befund auch bei Hans Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl. Heidelberg: Müller 1983 (keine Kolonialrechtstexte in den Quellensammlungen der Kapitel aufgeführt, nichts im Sachregister). – Im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2012, Bd. II, finden sich zwei knappe Einträge zu »Kolonien« (Karl-Heinz Ziegler, Sp. 1964–1966) und »Kolonialrecht« (Christiane Birr, Sp. 1960–1964). Anders als Ziegler gibt Birr einen durchaus nützlichen Einblick in das deutsche Kolonialrecht (Stand der genannten Literatur: 2010). Die »Nachgeschichte« wird aufgegriffen bei Miloš Vec, s.v. Protektorat, in: HRG, 1. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 1990, Bd. IV, Sp. 858–861. Siehe die Stichworte in HRGdigital (Zugriff: 30.05.2022). Die tradierte institutionelle Verbindung der Rechtsgeschichte mit dem Zivilrecht, damals deutlich kritisiert (Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte [Anm.1], S. 942), dürfte ein weiterer Grund sein. Die institutionellen Voraussetzungen, um das für den Kolonialismus zentrale öffentliche Recht, das Strafrecht und das Arbeitsrecht zu erforschen, sind jedenfalls an den Universitäten seitdem nicht besser, eher schlechter geworden. Es gibt vereinzelt rechtshistorische Arbeiten, deren Verdienste nicht geschmälert werden sollen. Zu den frühesten bundesdeutschen rechtshistorischen Beiträgen gehören: (posthum) Udo Wolter (unter Mitarbeit von Paul Kaller), Deutsches Kolonialrecht – ein wenig erforschtes Rechtsgebiet, dargestellt anhand des Arbeitsrechts der Eingeborenen, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17 (1995), S. 201–244; die Arbeiten von Harald Sippel seit 1992, z. B. ders., Typische Ausprägungen des deutschen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems in Afrika, in: Rüdiger Voigt, Peter Sack (Hg.), Kolonialisierung des Rechts: zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung, Baden-Baden: Nomos 2001, S. 167–182, 351–372; zusammenfassend: ders., Recht und Gerichtsbarkeit, in: Horst Gründer, Hermann Hiery (Hg.), Die Deutschen und ihre Kolonien: ein Überblick, Berlin: be.bra-Verlag 2018, 208 ff.

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ihre Identität zurück zu gewinnen oder neu zu erfinden suchten. 9 Die derzeit geschriebene Geschichte der deutschen »Debattenverhinderungsversuche« jener Zeit ist Teil einer zweiten Welle der (versuchten) »Aufarbeitung« kolonialen Unrechts. 10 Weshalb hat die erste Debatte die Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik offenbar gar nicht erreicht? Derzeit kann man darüber wohl nur spekulieren. 11 Mittlerweile prägt die »Rückkehr des Verdrängten« massiv die erinnerungspolitischen Debatten der letzten Jahre. 12 Wir kommen darauf zurück. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung rechtshistorischer Enthaltsamkeit gehört – auch für das Gebiet des Kolonialrechts – die von Stolleis 1985

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Entscheidender Anstoß sind die Dekolonialisierungsbewegungen und deren Erfolge in den 1960er Jahren sowie die Wahrnehmung von »Neokolonialismus«. Dazu kurz Sebastian Conrad, Rückkehr des Verdrängten? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland, 1919–2019, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–42/2019, S. 28–33, online: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/ apuz/297608/deutsche-kolonialgeschichte/ (Zugriff: 18.12.2022). Prominente Stimme in dieser Debatte: Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, 3. unveränd. Aufl. München: C. H. Beck, 2021, die auch zu Frankreichs Rückgabepolitik gearbeitet hat. Vielleicht müsste man sagen, die zweite Debatte ist die erste umfassendere Aufarbeitungsdebatte. Pointiert auch: Rebekka Habermas, Restitutionsdebatten, koloniale Aphasie und die Frage, was Europa ausmacht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–42/2019, S. 17–22, online: https://www.bpb.de/shop/zeit schriften/apuz/297608/deutsche-kolonialgeschichte/ (Zugriff: 18.12.2022). Zu den Gründen gehört vielleicht eine Art Erinnerungskonkurrenz zwischen Deutscher Demokratischer Republik und Bundesrepublik; in letzterer wurden entsprechende Fragen von »Akteuren der Neuen Linken« im systemkritischen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verhandelt (Conrad, Rückkehr des Verdrängten? [Anm. 9]), von denen in den Rechtswissenschaften wenige zu finden waren. Zugleich hob in der Zeit seit den 1970ern langsam die NSRechtsgeschichte an, die Aufmerksamkeit der Akteure der kritischen juristischen Zeitgeschichte war insofern wohlmöglich anders gebunden. Zur Konjunktur der Kolonialgeschichte und zu den gegenwärtigen Gründen: Conrad, Rückkehr des Verdrängten? (Anm. 9). Diese zweite (bei Conrad unter Berücksichtigung des kolonialistischen Revisionismus der Zwischenkriegszeit: dritten) Phase, die wiederum auf Narrative der 1960er Jahre zurückgreifen konnte, beginnt in den 1990ern, nach Ende des kalten Krieges und im Kontext (zunehmender) Globalisierungskritik. Die Planung und Konzeption des Humboldt-Forums in Berlin im wiederaufgebauten Schloss gab der Debatte erneut Schub und machte deutlich, wie wenig bekannt das Thema der auch-kolonialen Sammlungen, aber auch des Kolonialismus insgesamt jedenfalls in einer breiteren deutschen Öffentlichkeit, vielleicht auch besonders der nun sensibilisierten Feuilleton-Öffentlichkeit noch war. Zählt man auf Kolonialismus bezogene Artikel in der taz in der Zeit von Mai 2021 bis Mai 2022, kommt man auf 40 Artikel (zu Raubkunst, Rückgabe, Museumspolitik, Humboldtforum, Kämpfe von People of Color um die Anerkennung deutscher Staatsangehörigkeit etc.).

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konstatierte Vorreiterrolle der historischen vor der rechtshistorischen Forschung. 13 Jene hat, allgemeine Globalisierungswahrnehmungen mit der Konzeption von Globalgeschichte begleitend, seit den 1990er Jahren auch zunehmend den Kolonialismus untersucht. 14 Kolonialrecht wurde in diesem Kontext von historischer Seite thematisiert, aber eben kaum von Rechtshistoriker:innen. Für deren frühe kolonialrechtshistorische Zugänge findet sich in Teilen die Stolleis’sche Kritik an einem eher engen rechtshistorischen Zugriff bestätigt, der auf juristische Dogmengeschichte, auf Rechtstexte fokussiert und dabei die notwendige Anbindung an Sozial-, Wirtschafts-, Politik- und Alltagsgeschichte, an Ethnologie und Kulturwissenschaft vermissen ließ. 15 Das lag natürlich auch an für deutsche Jurist:innen schwierigen Quellenlagen und Forschungsanforderungen – Sprachen, problematische Archivbestände, Heterogenität der kolonisierten Regionen. Sie bestehen weiterhin, sind dank der Digitalisierung oder doch Digitalisierbarkeit von Quellen mittlerweile etwas kleiner. 16 13 14

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Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte (Anm. 1), S. 946. Ansätze früherer Kolonialgeschichtsschreibung gab es in der DDR: Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus 1884–1915. Ost-Berlin: Akademie 1966. Peter Sebald (1934–2018) arbeitete in Leipzig neben der Regionalgeschichte offenbar schon seit 1956 über Kolonialismus, leitete ein Kultur- und Informationszentrum der DDR in Sansibar (späte 1960er) und veröffentlichte 1972 ein Buch über Togo als »Musterkolonie«. Hinweise bei: ZMO Leibniz-Zentrum moderner Orient, wo die Nachlässe von Sebald und von Trutz von Trotha liegen; https://www.zmo.de/bibliothek/bestaende/nachlass-drhabil-peter-sebald-und-prof-trutz-von-trotha/ (Zugriff: 14.12.2022). Fundiertes zur Kolonialgeschichte findet sich aber auch in der bundesdeutschen Wissenschaft schon früher, beginnend mit den 1960er Jahren bei (bundesdeutschen) Afrika-Experten, zu nennen sind etwa: Hermann Bley, später der schon zitierte Trutz von Trotha, Gesine Krüger und Andreas Eckert. Zusammenfassend Trutz von Trotha, Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassende Befunde zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft, in: Saeculum 55 (2004), S. 49–95. Zur Geschichte der frühen Kolonialgeschichtswissenschaft: Christine Bürger, Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und der BRD, Bielefeld: transcript 2017. Forderungen nach transnationalen Perspektiven z. B. bei: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Campus 2002. Ähnliche Kritik: Sebastian Conrad, Regimes der Segregation. Kolonialismus, Recht und Globalisierung, in: Rechtsgeschichte Rg 4 (2004), S. 187–204, 192 ff. In der neueren rechtshistorischen Literatur ist das Methodenbewusstsein überwiegend anders, zumal in solchen, die sich mit »Alltagsrecht«, also Arbeitsrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht, Privatrecht befassen. Für deutsche Kolonialliteratur siehe z. B. »Digitale Sammlung Deutscher Kolonialismus« der Universität Bremen unter: https://brema.suub.uni-bremen.de/

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Kolonialrechtsgeschichte sollte indessen auch Rechtspraxis, und das hieße eben: Rechtspraxis vor Ort, erfassen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten sind groß, in Teilen wohl unüberwindbar, zumal in den derzeit üblichen universitären Strukturen der deutschen Rechtswissenschaft. 17 Von der fortgesetzten Kolonialität mancher Kolonialarchive, deren Wissensordnung und Wissensproduktion auf kolonialistischer Wissensproduktion basiert, diese gegebenenfalls reproduziert, ganz zu schweigen. 18 Produktive Fragestellungen zu entwickeln bleibt daher eine Herausforderung. Anregungen in der internationalen Forschung gibt es aber ausreichend. Seit einigen Jahren ist das weitgehende Ignorieren des deutschen Kolonialismus (erneut) Thema öffentlicher Debatten. Im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung sind weitere Provenienzforschung und die Unterstützung von Rückgabevorhaben vereinbart. 19 Erste Museen gehen nun auch in Deutschland

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dsdk" (Zugriff: 02.05.2022). Hinweise zu möglichen Beständen in deutschen Archiven über: https://www.archivportal-d.de/. Eine Einführung mit Hinweisen auf die Bestände des Bundesarchivs und mit kleinen virtuellen Ausstellungen unter: https://www.bundesarchiv.de/DE/Navigation/Entdecken/Kolonialgeschichte/ kolonialgeschichte.html (Zugriff: 13.05.2022). In den »National Archives of Namibia« gibt es einige Bestände, vieles ist von den deutschen Kolonialverwaltungen nach Deutschland gebracht worden, weshalb es im Bundesarchiv einige Bestände gibt, die offenbar in Teilen »rückgefordert« werden. So ein kurzer, nicht datierter, nicht gezeichneter Text unter: https://nan.gov.na/, dann link über das Bild »Colonial« (Zugriff: 13.05.2022). Ob zu rechtshistorischen Fragen unmittelbar relevantes Material in Namibia vorhanden ist, vermag ich nicht zu sagen; zu Fragen wie Landaneignung etc. wäre das denkbar. In Forschungsinstitutionen wie etwa den Max-Planck-Instituten gilt Anderes. Zur erforderlichen kolonialkritischen Perspektive auf Archive, die nicht »objektives« Wissen aufbewahren, sondern kolonialen Zwecken dienten und insofern ihrerseits Gegenstand der Forschung sein müssen, siehe Ann L. Stoler, Colonial Archives and the Arts of Governance, in: Archival Science 2 (2002), S. 87–109; Annette Hofmann, Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in historischen Tondokumenten aus dem südlichen Afrika, Wien / Berlin: Mandelbaum 2020. Dazu: Heike Becker, Revisionen. Kolonialgeschichte hören, Rezension von: Hoffmann, Kolonialgeschichte hören, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien / Vienna Journal of African Studies 41 (2021) 21, S. 159–168; Gesine Krüger, Der Klang des Kolonialarchivs, Rezension von: Hofmann, Kolonialgeschichte hören, in: geschichte der gegenwart, 22.08.2021, https://geschichtedergegenwart.ch/der-klang-des-kolonialarchivs (Zugriff: 13.05.2022). Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP 2021–2025, S. 100: »Koloniales Erbe«: »Um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben, unterstützen wir auch die Digitalisierung und Provenienzforschung des kolonial belasteten Sammlungsgutes und dessen Zugänglichmachung auf Plattformen. Im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften streben wir Rückgaben und eine vertiefte ressortübergreifende internationale Kooperation an. Wir unterstützen insbesondere die

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voran (z. B. das Lindenmuseum in Stuttgart, das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln, beides (ehemals) völkerkundliche Sammlungen). 20 Die Zeitumstände begünstigen nun offenbar die Formulierung entsprechender Fragen bzw. fordern sie geradezu. Man wird das mit Sebastian Conrad als Zeichen einer neuen Verortung, einer neuen Verortungsnotwendigkeit in einer veränderten »globalen« Welt verstehen können. Und vielleicht auch als Zeichen der veränderten deutschen Gesellschaft, die als Einwanderungsgesellschaft mit hohem Migrationsanteil nicht einfach bei »alten« Erinnerungspolitiken stehen bleiben kann. 21 Und so finden sich seit den 2000er Jahren zunehmend auch deutsche Publikationen zum Kolonialismus und – noch eher wenige – zum Kolonialrecht. 22 III.

Sehepunkte – ein Blick auf mögliche Fragen

Welche »Sehepunkte« könnten wir einnehmen, welche Fragen stellen? 1.

Wissenschafts- und wissensgeschichtliche Perspektiven

Forschungsbedarf besteht für die von Michael Stolleis intensiv genutzte rechts wissenschaftsgeschichtliche Perspektive: Es gab »Kolonialrechtswissenschaft«, betrieben nicht nur von den Kolonialrechtspraktikern aus den Verwaltungen, die typischerweise früh zu rechtspraktischen Entwicklungen und Rechtssetzungsentwürfen publizieren, sondern auch in der »akademischen Arena«. 23

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Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext. Außerdem entwickeln wir ein Konzept für einen Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus. Unsere Kulturpolitik leistet einen Beitrag für eine gemeinsame Zukunft zwischen Europa und Afrika. Wir schaffen ein Sonderprogramm »Globaler Süden«. Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden, uns in Partnerschaft auf Augenhöhe begegnen und veranlassen unabhängige wissenschaftliche Studien zur Aufarbeitung des Kolonialismus.« DPA / ZEIT online, Kolonialismus: Köln will Benin-Bronzen nach Nigeria zurückgeben, www.zeit.de/kultur/2022–11/benin-bronzen-koeln-nigeria-rautenstrauch-jost-museum (Zugriff: 16.12.2022). Conrad, Rückkehr des Verdrängten? (Anm. 12), S. 9. Ab den 2000er Jahren nimmt die auf Verwaltung und Recht, also auch auf Rechtspraxis bezogene Thematisierung zu, vgl. die hervorragende Arbeit von Jakob Zollmann, Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894–1915, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Zur Entwicklung der Kolonialausbildung insgesamt die erziehungswissenschaftliche Dissertation von Elke Harnisch, Die progressive Etablierung kolonialen Wissens im Aus- und Weiterbildungssektor des Deutschen Reiches zwischen 1884–1914, online verfügbar unter: https://kups.ub.uni-koeln.de/7594/1/Disser

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Zu nennen sind etwa der Staats- und Verwaltungsrechtler Georg Meyer, 24 der Rechtshistoriker Conrad Bornhak, 25 eher am Rande der auch in der Bundesrepublik bedeutend wirkende Staats- und Völkerrechtler Erich Kaufmann, 26 intensiv die Verwaltungsrechtler Karl von Stengel 27 und Hermann Edler von Hoffmann. 28 Zur ganzen Breite des öffentlichen Kolonialrechts, insbesondere

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tation_Elke_Harnisch.pdf (Zugriff: 29.04.2022). Zu »koloniale[r] Wissenschaft« ebd., S. 229 ff. Die Rechtswissenschaft kommt nur ganz am Rande vor, etwa ein Satz zu Max Fleischmann (S. 263). Zu den Inhalten findet sich nichts. – Kolonialwissenschaftliche Fächer (neben den Sprachen u. a. auf Koloniales bezogene Aspekte aus der Geographie, Landwirtschaft, Medizin, Wirtschaft allgemein, Ingenieurswissenschaft, natürlich der »Volkskunde« [Anthropologie / Ethnologie], Geschichte, Rechtswissenschaft) wurden am Ende der deutschen Kolonialzeit an 18 Universitäten und 18 weiteren Einrichtungen gelehrt; der Umfang erstreckte sich von 1–24 Vorlesungen; ebd., S. 288. Georg Meyer (1841–1900); vgl. Pascale Cancik, Georg Meyer, in: Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Berlin / Boston: De Gruyter 2018, S. 47–63. Zum Kolonialrecht, das Meyer auch im Reichstag aktiv förderte: Georg Meyer, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete, Leipzig: Duncker & Humblot 1888. Conrad Bornhak (1861–1944), u. a.: Conrad Bornhak, Geschichte des preußischen Verwaltungsrechts, 3 Bde., Berlin: Springer 1884–1886. Zum Kolonialrecht: ders., Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts 2 (1897), S. 3–53. Erich Kaufmann (1880–1972). Auch Kaufmann wurde antisemitisch diskriminiert. Zum Kolonialrecht: Erich Kaufmann, Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Eine rechtsvergleichende Studie über die Grundlagen des amerikanischen und deutschen Verfassungsrechts, Leipzig: Duncker & Humblot 1908. Ohne Hinweis zum kolonialrechtlichen Buch: Hans Liermann, Art. »Kaufmann, Erich«, in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 349–350, online: URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd 118560719.html#ndbcontent (Zugriff: 29.04.2022). Umfassend: Frank Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880–1972), Baden-Baden: Nomos 2008. Karl von Stengel (1840–1930), Professor für Verwaltungsrecht an der Universität Breslau, später an der Universität Würzburg, dann München. Siehe Martin Otto, Art. »Stengel, Karl von« in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 244–245, online: URL: (Zugriff: 29.04.2022). Zum Kolonialrecht z. B.: Karl von Stengel, Die staats- und völkerrechtliche Stellung der deutschen »Kolonien« und ihre zukünftige Verfassung, Berlin: Deutscher Kolonialverein 1886; ders., Deutsche Kolonialpolitik, Barmen: Bamberger 1900, 2. Aufl. 1907 (zuerst 1899 als zwei Aufsätze in: Wissenschaftliche Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung, Nr. 59/60); ders., Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, Tübingen: Mohr 1901; ders., Der Kongostaat: eine kolonialpolitische Studie, München: Carl Haushalter 1903. Hermann Edler von Hoffmann (Privatdozent an der Universität Göttingen, der unter anderem eine Denkschrift zur Förderung des Kolonialunterrichts (1904)

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auch des Kolonialverwaltungsrechts, publizierte auch der Staats- und Völkerrechtler Max Fleischmann (1872–1943). Er erhielt 1910 den ersten Lehrauftrag für Kolonialrecht an einer preußischen Universität, in Halle. Im Jahre 1921 wurde er dort ordentlicher Professor: Wenn die mir zugänglichen Informationen zutreffen, umfasste die Bezeichnung seiner Professur: »Staatsrecht und Kolonialrecht« – im Jahr 1921 (!), also deutlich nach dem – freilich erzwungenen – Ende des kaiserreichsdeutschen Kolonialismus. 29 22 Jahre später, 1943, nahm Fleischmann sich wegen antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung das Leben. 30 Monographische (Werk-)Biographien zu den zentralen Wissenschafts-Akteuren gibt es m. W. nicht. 31 Hingegen sind Publikationsorgane und versuchte Institutsgründungen zur Förderung und Lehre der gesamten »Kolonialwissenschaften« in Ansätzen erforscht. Für eine intensivere Etablierung als »Fach« bzw. als Bündel von Fächern fehlte es am Ende an »Kolonial-Zeit« und an staatlicher Unterstützungsbereitschaft. Darüber hinaus dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Zweifel bestanden, ob es sich wirklich um eigenständige Fächer handelte, die – jenseits

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verfasst hat; in: BArch R8032/941, zitiert bei Harnisch, Etablierung kolonialen Wissens (Anm. 23), S. 263. Zum Kolonialrecht z. B.: Hermann [Edler von] Hoffmann, Das deutsche Kolonial-Gewerberecht, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 8 (1906), S. 164–195, 285–323; ders., Verwaltungs- und Gerichtsverfassung der Deutschen Schutzgebiete, Leipzig: Göschen 1908; ders., Einführung in das deutsche Kolonialrecht, Leipzig: Göschen 1911. Seit Mai 1921 »ordentlicher Professor für Staatsrecht und Kolonialrecht« an der Universität Halle, siehe Volkhard Winkelmann u. a., Fleischmann Max, in: Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle, online: http://www.ge denkbuch.halle.de/gbdatensatz.php?num=84 (Zugriff: 29.04.2022) m. w. H. Zum Kolonialrecht z. B.: Max Fleischmann, Die Entwickelung [sic] des deutschen Kolonialrechts, in: Deutsche Juristen-Zeitung 10, Nr. 22 (1905), Sp. 1035–1039; ders., Die Verwaltung unserer Kolonien und die Fortschritte des letzten Jahres, in: Jahrbuch über die deutschen Kolonien 1 (1908), S. 75–116; ders., Die Verwaltung der Kolonien im Jahre 1908, in: Jahrbuch über die deutschen Kolonien 2 (1909), S. 53–78; ders., Die Verwaltung der Kolonien im Jahre 1913, in: Jahrbuch über die deutschen Kolonien 7 (1914), S. 88–114. – Zum Aufschwung kolonialer Forderungen und Aktivitäten seit 1924, mit Schwerpunkt auf der NS-Zeit: Werner Schubert, Das imaginäre Kolonialreich. Die Vorbereitung der Kolonialgesetzgebung durch den Kolonialrechtsausschuß der Akademie für Deutsches Recht, das Reichskolonialamt und die Reichsministerien (1937–1942), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 115 (1998), S. 86–149, 88. Zum Lehrauftrag für Kolonialrecht 1910 in Halle, siehe Gertrud SchubartFikentscher, Art. »Fleischmann, Max«, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 236, online: URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116603186.html #ndbcontent (Zugriff: 29.04.2022). Jedenfalls nicht in deutscher Sprache.

Zur Geschichte des Kolonialrechts – ein Gespräch

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der schnellen Ausbildung von Praktikern aller Bereiche für die Entsendung in die Kolonien – eigenständige Wissenschafts-Institutionen erforderten. Diese »Erfolglosigkeit« ändert indessen nichts an der wissensgeschichtlichen Bedeutung jener Versuche einer Disziplinen-Bildung. Schwerpunkte waren das »Seminar orientalischer Sprachen« an der Universität Berlin (heute HU) und das 1908 gegründete »Hamburgische Kolonialinstitut«, das später zum Kern der Hamburger Universitätsgründung (1919) werden sollte. Auch wenn es hierzu historische Forschung gibt, bleibt Forschungsbedarf: Die Versuche, Kolonialrecht als neues Rechtsfeld, als Kombination von spezifischen Subdisziplinen zu etablieren und damit Stellen und Anerkennung im rechtswissenschaftlichen Markt zu gewinnen, sind noch in den Blick zu nehmen. Im damaligen Fächerkanon der Kolonialwissenschaft sollte das Kolonialrecht im Gespann mit der neueren Geschichte aufgegriffen werden, das Themenfeld hieß: »Geschichte und Rechts- und Staatswissenschaften«. 32 Mit der Staatswissenschaft sollte offenbar zeitgenössisch angeknüpft werden an die dort bearbeitete Gemengelage von politischen, ökonomischen und rechtlichen Fragestellungen, eine methodische Perspektive, die im gewissen Sinne auf das damals noch Vorläufige des deutschen Kolonialismus und besonders des Kolonialrechts verweist. Es war ein Feld praktischer Problemlagen, das mit erst noch entstehendem, zu schaffendem Recht gefasst werden musste. Auch der dazugehörige konkrete Rechtsunterricht scheint noch nicht vertieft erfasst worden zu sein. Die Kooperationen und Konkurrenzen zwischen Rechtspraktikern, »Anwendungswissenschaftlern« und »Grundlagenjuristen«, die für das Erfassen von Rechtskultur wissensgeschichtlich so aufschlussreich sind, könnten hier sichtbar gemacht werden. 2.

Rechtspraxisgeschichte: ein Blick auf Kolonialverwaltungsrecht

Greifen wir das Stichwort »Rechtskultur« auf, erneut Michael Stolleis zitierend: »Wie eine Gesellschaft ihr Recht ausgestaltet, wie sie es achtet und missachtet, wie sie ihre Spezialisten und Repräsentanten des Rechts hervorbringt und agieren lässt, nennen wir insgesamt Rechtskultur«. 33 Werfen wir also einen Blick auf »Alltagsrecht«, das koloniale Verwaltungsrecht. Kennzeichen des deutschen Kolonialrechts ist unter anderem die rassistische, die rassifizierende Regression des (gerade) im Entstehen begriffenen rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts. Die Kolonien – deutlich sichtbar etwa im damaligen 32 33

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So im geplanten Katalog der Vorlesungen im Hamburgischen Kolonialinstitut, siehe Harnisch, Etablierung kolonialen Wissens (Anm. 23), S. 278. Michael Stolleis, Der lernfähige und lernende Staat (2009) in: ders., Gesammelte Aufsätze und Beiträge (Anm. 3), Bd. 2, S. 1027–1046, 1054 f.

Pascale Cancik

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Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia – wurden im Laufe der Jahre geradezu geflutet mit Verwaltungsrecht. Was den »bürokratischen Interventionsstaat« in der »Metropole«, also im deutschen Kaiserreich, ausmachte, die Expansion von Verwaltungsrecht als Ordnungsversuch und (gesellschaftliches) Kommunikationsmedium, wurde – in spezifisch modifizierter Form – zum kolonialen Instrument. Wie jene mehr oder weniger reflektierte Instrumentalisierung ausreichend differenziert erfasst werden kann, gehört zu den noch zu vertiefenden Forschungsfragen; ebenso wie die Frage nach den Auswirkungen, den Rück-Wirkungen kolonialen Sonderrechts auf die Rechtskultur in der »Metropole« (dem deutschen Reich). Legitimationsversuche in den Diskursen der damaligen Zeit zeigen, dass nicht nur die koloniale körperliche Gewalt und Willkür, 34 sondern auch das rechtsförmige Unterschreiten rechtsstaatlicher Standards, also das »Unterschreiten in Rechtsform«, wahrgenommen und als rechtfertigungsbedürftig angesehen werden konnte. 35 Die verbreitete Überzeugung, dass Kolonisierung eine Aufgabe der zivilisierten Welt sei, bot die »mentale Struktur und den Legitimationsrahmen« für solche Rechtfertigung. 36 Das zu untersuchende Recht war nicht nur in Gesetzen niedergelegt, sondern insbesondere in Verordnungen der Regierung und der Verwaltungen unterschiedlicher Ebenen und nicht zuletzt in den konkretisierenden oder lückenfüllenden Erlassen der Verwaltungen vor Ort. Vernachlässigt man für einen Moment, dass der Oktroi der fremden Rechtsordnung schon an sich kolonial ist, und überfliegt dieses gesammelte »Recht im weiteren Sinne«, könnte man beinahe den Eindruck »ganz normaler Verwaltung« gewinnen. Die Aufgaben reichen von Bergbau über Gewerbe, Presse und Polizei bis Schule, wie im Deutschen Reich auch. Das Recht regelt Organisation und Verfahren von Verwaltungen und Gerichten. Wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland werden amtliche Gesetzessammlungen und lokale Amtsblätter für die

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Zum kolonialen Alltag als Gewalträumen für die Kolonisierten, nicht zuletzt zur sexualisierten Gewalt gegen Frauen, siehe die mikrohistorisch ansetzende Studie von Rebekka Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main: Fischer 2016. Hierzu und zum Folgenden: Pascale Cancik, Strukturen des Kolonialverwaltungsrechts im Deutschen Kaiserreich, in: Philipp Dann, Isabel Feichtner, Jochen von Bernstorff (Hg.), (Post)Koloniale Rechtswissenschaft, Tübingen: Mohr Siebeck 2023, S. 123–159. Jürgen Zimmerer, Nationalsozialismus postkolonial. Plädoyer zur Globalisierung der deutschen Gewaltgeschichte (ursprünglich 2009), in: ders. (Hg.), Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin u. a.: Lit 2011, S. 14–39, 31. Beispiele für die legitimierende Zivilisierungsmission, allerdings etwas anders akzentuiert, auch in den Kolonialgesetzgebungsarbeiten im NS; dazu Schubert, Das imaginäre Kolonialreich (Anm. 29).

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Kommunikation des Rechts und der Verwaltungen eingerichtet. Über die Schwierigkeiten dieser Kommunikation angesichts der Entfernungen und mangelnden Erschließung geben die Quellen einige Auskunft; aber insgesamt hat man eine wahre Normalitätsfiktion vor Augen. Auf den zweiten Blick aber wird das Koloniale am konkreten Kolonialverwaltungsrecht immer deutlicher sichtbar, nicht zuletzt in den kleinen Abweichungen. 37 Als solches regelt es rassistische Diskriminierung sowie die enteignende Aneignung von Land, Ressourcen, und nicht zuletzt von menschlicher Arbeitskraft und Körpern. Zu den dafür rechtlich vorgegebenen Mitteln gehören die Vermessung von Mensch, Tier und Land, die Registrierung, Markierung, aber natürlich auch konkrete Verbote und Gebote. 38 So sollten, um ein Beispiel zu geben, die Verwaltungsbehörden auf die – aus kolonialistischer Sicht – rechtswidrige Arbeitsverweigerung, auf den »Vertragsbruch von Farbigen« reagieren. Die Erfüllung der Arbeitspflichten sollte durch polizeiliche Zwangsmaßnahmen – also nicht privatrechtlich – durchgesetzt, Zuwiderhandlungen bestraft werden. 39 Explizit auf die Kolonisierten zielten auch jagdrechtliche Verbote für die sogenannten »Eingeborenen«: Wildschutzgebiete (ein Vorläufer unserer Naturschutzgebiete) dienten primär dem Ausschluss der indigenen Bevölkerung. Auch gewerberechtliche Vorgaben eröffneten den Verwaltungen entweder über Genehmigungsvorbehalte Spielräume für Diskriminierung oder diskriminier-

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Kolonial ist natürlich schon der Oktroi einer fremden Rechtsordnung unter (Teil-)Verdrängung der indigenen Rechtsordnungen. Zentral sind die sog. Eingeborenenverordnungen. Dazu Zollmann, Koloniale Herrschaft (Anm. 22), S. 97 ff.; Jürgen Zimmerer, Der totale Überwachungsstaat? Recht und Verwaltung in Deutsch-Südwestafrika, in: Voigt / Sack (Hg.), Kolonialisierung des Rechts (Anm. 8), S. 183, 184; eindrücklich zum »Scheitern« der sog. Eingeborenenverordnungen in der Praxis: ebd., S. 191 ff.; Cancik, Strukturen des Kolonialverwaltungsrechts (Anm. 34), S. 145 f. Verordnung betreffend Arbeitsverträge mit Farbigen in Deutsch-Ostafrika vom 27.Dezember 1896, in: Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung, Teil 2: 1893–1897, hg. von Alfred Zimmermann u. a., Berlin: Mittler 1898. Zur Verordnungsgeschichte: Harald Sippel, Die Ideologie der Arbeitserziehung in Deutsch-Ostafrika, in: Kurt Beck, Gerhard Spittler (Hg.), Arbeit in Afrika, Münster, Hamburg: Lit 1996, S. 311–333, 321–329; zur Begründung und Durchsetzung von Arbeitspflichten / Arbeitszwang mit Hilfe des letztlich verwaltungsrechtlichen kolonialen Arbeitsrechts und des Strafrechts: Wolter, Deutsches Kolonialrecht (Anm. 8), der die Nähe zum alten reichsdeutschen Gesinderecht mit seinen Zwangsverhältnissen aufzeigt. Umfassend später: Thorsten Keiser, Vertragszwang und Vertragsfreiheit im Recht der Arbeit von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 278), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2013, S. 2 ff.

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ten direkt. So war etwa »Eingeborenen der Wandergewerbeschein zu versagen«. 40 Jenes Recht ausschließlich als Unterdrückungsinstrument gegenüber den Kolonisierten wahrzunehmen, würde indessen die Vielfalt der Funktionen oder doch Effekte dieses Verrechtlichungs-Versuches verkennen. Kolonialrecht bewirkt, zumal in Siedlungskolonien, eine »duale Rechtsordnung«, umfasst Sonderrecht gegenüber den Kolonisierten, 41 besonders deutlich die sog. »Eingeborenenverordnungen«, 42 die der Aufenthalts-Erfassung und zwangsweisen Durchsetzung von Arbeitspflichten dienen sollten; es umfasst aber eben auch Recht für die sogenannten »Weißen«. 43 Es galt gerade auch, die Kolonisateure »zu verwalten«, ihre Konflikte zu ordnen und dafür den Staat vor Ort zu installieren. Über deren »weiße« Regulierungs- und Verwaltungskritik, die Unzufriedenheit mit dem regelnden Staat, kann man den überlieferten Quellen Einiges entnehmen. 44 Sie ist Teil der langen Geschichte der Bürokratiekritik. 45 Die Kritik der zu den »Anderen« gemachten Verwaltungsunterworfenen, der Kolonisierten ist schwerer auffindbar. 46 Es gibt Anhaltspunkte, dass solche Kritik von einigen (wenigen) Kolonisierten unter Nutzung des aufgedrängten und erlernten Kolonialrechts versucht wurde. 47 Entsprechende Interaktionen

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Cancik, Strukturen des Kolonialverwaltungsrechts (Anm. 34), S. 146 f., zum Jagdrecht: S. 148 f. Juristischer Rassismus in rechtswissenschaftlicher Diktion knapp zusammengefasst bei Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht (Anm. 28), S. 21: »Farbige dagegen sind von der Teilnahme an der Rechtsordnung der Weißen ausgeschlossen«. Siehe Anm. 37. Die rassifizierende Rechtsordnung »musste« verschiedene Gruppen von Rechtsunterworfenen unterscheiden. Neben der Trennung nach »weiß« und »farbig« traten Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit, nach kolonialgebietszugehörigen und fremden »Farbigen«. Was noch als »weiß« gelten konnte, war ebenfalls Gegenstand von rechtlich formatierten Erörterungen. Als zeitgenössisches Beispiel: Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht (Anm. 28), S. 21 ff. Zu (interner) Kolonialismus- und Verwaltungskritik: Jakob Zollmann, Zankende Amtsschimmel und andere koloniale Herausforderungen. Über die Streitkultur in Deutsch-Südwestafrika, 1890–1915, in: Michael Eckardt (Hg.), Mission Afrika: Geschichtsschreibung über Grenzen hinweg. FS für Ulrich van der Heyden, Stuttgart: Franz Steiner 2019, S. 373–385. Pascale Cancik, Zuviel Staat? Die Institutionalisierung der »Bürokratie«-Kritik im 20. Jahrhundert, in: Der Staat 56 (2017), S. 1–38. Ein interessanter Versuch, aus kolonialen Tonaufnahmen gleichsam die »Gegenstimmen« hörbar zu machen: Hofmann, Kolonialgeschichte hören (Anm. 18). Die Chiefs / Könige als Vertragspartner wären etwa zu nennen, aber auch einheimisches Personal der Kolonialverwaltung oder Kolonialtruppen. Andreas Eckert, Verwaltung, Recht und koloniale Praxis in Kamerun

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sind in historischen Forschungen betont worden, sie werden in rechtshistorischen Arbeiten neuerdings aufgegriffen. 48 Permanent zu lernen hatte auch die Kolonialverwaltung. Die von Michael Stolleis für die Rechtsgeschichtsschreibung aufgegriffene verwaltungswissenschaftliche Perspektive des lernenden Staates und der lernenden Verwaltung 49 kann für die kurze Phase des modernen Kolonialismus (des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts) also leicht fruchtbar gemacht werden. In den genannten Rechtstexten findet man viele Hinweise darauf. Ob und wie entsprechende »Lernerfahrungen« für die weitere deutsche Geschichte bedeutsam geworden sind, wäre für das Recht noch genauer zu prüfen. 50 In Deutschland gibt es seit einigen Jahren eine heftige Debatte um eine solche »postkoloniale« Perspektive auf die spätere deutsche Geschichte. IV.

Schwierige Vergleiche

Mit dem Hinweis auf jene in Teilen erbittert geführte Diskussion um postkoloniale Perspektiven, und das heißt hier insbesondere vergleichende Blicke auf Kolonialismus und nationalsozialistische Vernichtungspolitik, erreichen wir das schwierige Feld allgemeiner geschichts- und erinnerungspolitischer Debatten. 51 Staatlich-gesellschaftliches Unrecht in der deutsch-kolonialen Vergangen-

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1884–1914, in: Voigt / Sack (Hg.), Kolonialisierung des Rechts (Anm. 8), S. 167–182, 174, konstatiert weniger ein duales Rechtssystem (nur theoretisch), sondern eher »ein gleichsam interaktives koloniales Rechtssystem« (Hervorhebung von P. C.). Zur versuchten Nutzung des neuen Eigentumsrechts am Boden durch Manga Bell ebd., S. 176, 179. Jüngst aufgegriffen durch Christian Bommarius, Der König, der Recht wollte, in: DIE ZEIT 35 (26.8.2021), S. 50. Neben Eckert etwa Ulrike Schaper, Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916, Frankfurt am Main: Campus 2012. Stolleis, Der lernfähige und lernende Staat (Anm. 33). Ansätze in Dann / Feichtner / von Bernstorff (Hg.), (Post)Koloniale Rechtswissenschaft (Anm. 35). Zum derzeitigen Konflikt etwa: Jonas Kreienbaum, Koloniale Ursprünge? Zur Debatte um mögliche Wege von Windhuk nach Auschwitz, 1.10.2021, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–41/2021, online: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geschichte-und-erinnerung-2021/341135/koloniale-urspruenge/ (Zugriff: 30.05.2022); Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, in: Merkur 75, Nr. 867 (2021), S. 5–17, spricht von »Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes«; unter der »Oberfläche der Erinnerungsdebatte« liegen, Conrad zufolge, »grundlegende gesellschaftliche Veränderungen«. Vgl. zusammenfassend erneut ders., Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, in: Susan Neiman, Michael Wildt (Hg.), Historiker streiten, Gewalt und Holocaust – Die Debatte, Berlin: Propyläen 2022, S. 31–57.

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heit und seine historiographische und politische Marginalisierung scheinen unversehens zur einer die Gegenwart bestimmenden Geschichte mit ziemlich unübersichtlichen Konfliktkonstellationen geworden zu sein. Das Stichwort »Humboldt-Forum« dürfte als Andeutung genügen, die Debatten setzen sich derzeit anderen Orts fort. 52 Es handelt sich nicht nur um einen in unterschiedlichen Medien und Arenen geführten neueren »Historikerstreit«. 53 Wir erleben vielmehr eine damit verbundene wissenschafts- und allgemeinpolitische Debatte um »richtige Erinnerung« und ihre Bedeutung für die »Identität« der Bundesrepublik Deutschland. 54 Wie immer man zu »kollektiven Identitäts«-Konstruk-

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Der Sommer 2022 war, jedenfalls in den Feuilletons, geprägt vom Streit um die 15. Kasseler documenta, wo unter Leitung eines indonesischen Künstlerkollektivs ein Künstler große Protest-Plakate / Stofftransparente mit antikapitalistischen und antimilitaristischen Darstellungen, die sich auch antisemitischer und antiisraelischer Bildsprache bedienen, ausstellte. Der indonesische Kontext bringt wiederum Erfahrungen von Kolonialherrschaft ein. So auch: Michael Wildt, Historikerstreit 1.0, 2.0, in: Neiman / Wildt (Hg.), Historiker streiten (Anm. 51), S. 309–327, 318. In der Geschichtswissenschaft gibt es indessen eine schon viel länger andauernde Debatte um Kontinuitäten von Kolonialherrschaft und NS. Zusammenfassend und kritisch zu einer vor allem aufmerksamkeitserregend angedeuteten direkten Verbindung von Windhuk nach Ausschwitz (so ein Titel von Zimmerer [Anm. 36]): Jakob Zollmann, From Windhuk to Auschwitz – old wine in new bottles (Review Article) in: Wolfram Hartman (Hg.), Nuanced Considerations. Recent Voices in Namibian-German Colonial History, Windhoek: OrumbondePress 2019, S. 303–342. Vgl. nüchtern abwägend: Michael Wildt, Rezension von: Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner, Jürgen Habermas, Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München 2022, in: H-Soz-Kult, 13.05.2022, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb114581(Zugriff: 30.05.2022). – Zum Kontext gehört die Debatte um Achille Mbembe; zu erheblicher Aufregung führte aber insbesondere auch die These von der deutschen Erinnerungskultur als »Entlastungsstrategie«, pointiert polemisch und historisch fragwürdig aufgegriffen von A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen, in: geschichte der gegenwart, 23.05.2021, https://geschichtederge genwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/print/ (Aufruf: 13.05.2022). Aus der amerikanischen Holocaustforschung auch, aber durchaus anders ansetzend: Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2021; wiederum anders: Natan Sznaider, Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, München: Hanser 2022. Die starke Überschneidung von gegenwarts-politischen, erinnerungspolitischen und fachlich begründeten Motiven und Emotionen, die noch dazu ganz unterschiedlich kontextualisiert sind (USA, Israel, Deutschland, Osteuropa), das Ganze möglicherweise begleitet von Wissenschaftler-Konkurrenzbedürfnissen, macht das Feld jedenfalls für Nicht-Insiderinnen kaum noch verstehbar. Vgl. auch die Beiträge zur Debatte in: Neiman / Wildt (Hg.), Historiker streiten (Anm. 51); einordnend: Wildt, Historikerstreit 1.0, 2.0 (Anm. 53).

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tionen« steht: Die Heftigkeit der Debatte verweist darauf, dass wir offenbar die »Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes« (Conrad) beobachten können und gegebenenfalls – bewusst oder nicht – daran beteiligt sind. 55 Kann man in solcherart »verminten« Umfeldern rechtshistorisch forschen, vielleicht sogar klug beitragen? Muss man sich »aktiv engagieren«, um glaubwürdig zu sein? Michael Stolleis hat mit seiner langen Erfahrung in der Erforschung von Unrechts-Recht in erinnerungspolitisch ähnlich umstrittenen Konfliktlagen vor »populären, moralisch begründeten Bewertungen« gewarnt. Forschung müsse sich vorsichtiger und selbstkritischer bewegen als die populär-pädagogische Seite. 56 Das bedeutet indessen auch: Sie darf sich das Vergleichen, die zentrale wissenschaftliche Methode, nicht von politisch interessierten Seiten aus der Hand nehmen lassen. Vergleichen ist bekanntlich gerade nicht Gleichsetzen, 57 auch wenn es in manchen Arenen durchaus dazu genutzt wurde und wird. Umgekehrt können auch Relativierungsvorwürfe als Instrumente politischen Verschweigens oder Verdrängens in der Gegenwart missbraucht werden. Auch das Kolonialrecht kann und muss also selbstverständlich, wie das Recht im Nationalsozialismus, untersucht werden auf das spezifische Verhältnis von Recht und Unrecht, von Instrumentalisierung des Rechts zur Legalisierung oder doch Verschleierung des Unrechts. Die vom Recht erzeugte Behauptung der Normalität bei partieller Abschaffung des gerade errungenen bürgerlichen Rechtsstaats findet sich in aller Deutlichkeit schon in jener Kolonialzeit. Das führt nicht und soll nicht führen zu simplen Kausalitätsdiagnosen oder Kontinuitätsbehauptungen mit Blick auf die spätere Geschichte. Ähnlichkeiten, Vorbildregelungen, rechtspraktische Erfahrungen, anknüpfende Diskurse aber wird man durchaus finden. Denn für den Nationalsozialismus sowie – in anderer Weise und doch mit Ähnlichkeiten – in der DDR war eben die Abschaffung des »rechtsstaatlichen Anteils« am Verwaltungsrecht charakteristisch (und natürlich auch im Strafrecht, im Zugang zum Rechtsschutz), 58 all das – allerdings und anders als in der Kolonialzeit – in ausdrücklicher, vielfach formulierter Abwendung vom bürgerlichen Rechtsstaat. Das bedeutete insbesondere die Abschaffung der Konstruktion individueller subjektiver, gegen den Staat gerichteter 55 56 57

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Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter (Anm. 51). Stolleis, Der lernfähige und lernende Staat (Anm. 33), S. 1044. So auch Sybille Steinbacher, Über Holocaustvergleiche und Kontinuitäten kolonialer Gewalt, in: Saul Friedländer u. a., Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München: C. H. Beck 2022, S. 53–68, 58. Zum Verwaltungsrecht in der DDR: Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München: C. H. Beck 2009.

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Rechte der Verwaltungsunterworfenen, damit verbunden die Abschaffung des Verwaltungsrechtsschutzes vor Verwaltungsgerichten, schließlich die Abschaffung der Gesetzesbindung der Verwaltung (und damit der gewaltenteilenden Konstruktion) sowie die Abschaffung der Verfassungsbindung der Gesetzgebung. Ähnliche Rechtssituationen finden wir, bei allen Differenzen, auch (schon) im Kolonial(verwaltungs)recht. Über weitere Ähnlichkeiten, Kontinuitäten und Differenzen wird, jedenfalls von historischer Seite, seit längerem gestritten. 59 Rechtshistorische Forschung kann hier, etwa mit Blick auf rassistische Diskriminierung durch Recht, beitragen. Es gilt also, sich nicht vereinnahmen zu lassen, wissenschaftliche Distanz zu wahren, so gut das eben geht. Die Tatsache, dass, anders als bei der Erforschung des NS-Rechts seit dem Ende der 1960er Jahre, persönliche Rücksichtnahmen, Lehrer-Schüler-Verhältnisse nicht (mehr) relevant sind, 60 sollte die Arbeit etwas erleichtern; die bislang so zurückhaltende Bearbeitung des Kolonialrechts – um die rechtsgeschichtswissenschaftliche Verortung nochmals aufzugreifen – ist insofern freilich umso weniger verständlich. Wie dem sei: Die neueren Forschungsversuche der juristischen Rechtsgeschichte könnten von Michael Stolleis’ Erfahrung mit erinnerungspolitisch umkämpften Forschungsthemen profitieren. Soviel uns seine Texte helfen – das persönliche Gespräch ersetzen sie nicht. V.

Wie »recht erzählen«?

Wie kann man, schließlich, diesen Teil der Rechtsgeschichte »recht erzählen«? 61 Der Literaturliebhaber Michael Stolleis hat Rechtsgeschichte auch in rechtshistorischen Geschichten, in schönen, freundlichen, oft heiteren Erzählungen

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Z. B. die Debatte zwischen Birthe Kundrus, Jürgen Zimmerer und anderen in Freiburg 2008: Debatte um (Dis)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus, z.T. im Netz nachlesbar: www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/ iz3w2008-KD-Einfuehrung.htm (Zugriff: 18.12.2022). Zu diesem weiteren Faktor, der die zögerliche Aufarbeitung von Unrechts-Recht für die Erforschung des Nationalsozialismus erklären half, vgl. Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte (Anm. 1), S. 943. Das ursprünglich zu Michael Stolleis’ achtzigstem Geburtstag 2021 geplante Kolloquium mit diesem Titel konnte nicht mehr stattfinden. Sein letztes Buch hat den Titel aufgenommen und dokumentiert mit den versammelten »Pfälzer« Rechtsgeschichten eine der von Stolleis vertretenen Erzählformen an der »Grenzlinie zwischen fiktiver und historisch belegbarer Erzählung«: Michael Stolleis, »recht erzählen«. Regionale Studien 1650–1850 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 341), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2021, Einleitung, S. 1–14, Zitat: S. 14.

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geschrieben. Und er hat immer wieder auf die (auf)klärende Kraft der Literatur hingewiesen. Für die Kolonialgeschichte mag man etwa auf Uwe Timm verweisen, der schon 1978 in seinem Roman Morenga eindrucksvoll gezeigt hat, wie deutscher Kolonialismus »wirklich gewesen« 62 (sein könnte). Andere Perspektiven darauf werden zunehmend auch in Deutschland wahrnehmbar gemacht, gelegentlich versammelt unter dem Begriff »postkoloniale Literatur«, ich nenne nur Anton de Kom, Wir Sklaven von Suriname (Erstdruck 1934), neu ins Deutsche übersetzt 2021, und die Romane von Abdulrazak Gurnah. 63 Michael Stolleis hat die Frage nach dem »recht erzählen« sehr differenziert beantwortet – ausdrücklich oder vermittelt in seinen Texten. 64 Eine wissenschaftliche Darstellung von »Unrechts-Recht« gut zu schreiben heißt, sich um Präzision und gute Lesbarkeit zu bemühen; die rassifizierende Sprache der Zeit erkennbar zu machen, ohne sie zu reproduzieren; dem emotionalen Sog berechtigter Empörung und Gegenwartsdebatte zu widerstehen, um die ambivalente Nutzbarkeit und Nutzung des Rechts nüchtern und umso klarer offenzulegen; zugleich aber den historischen Kontext nicht zu verleugnen. »Schön«, freundlich, gar heiter können diese Texte nicht sein. Ihre Erkenntnisse sollten in der Lehre (der Rechtsgeschichte) aufgegriffen werden, so wie es das Deutsche Richtergesetz für Nationalsozialismus und SEDUnrecht neuerdings ausdrücklich vorsieht. 65 Das gilt, auch wenn viele Lehrende 62

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Die Frage, »wie es wirklich gewesen«, formuliert von Leopold von Ranke, sollte bekanntlich die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts leiten. Dem Historismus deshalb objektivitätsgläubige Naivität vorzuwerfen, wäre allerdings ein Stück weit wohlfeil. Dass lange Zeit Europazentriertheit zu großen Blindstellen geführt hat, gerade auch im Bereich der Kolonialismusforschung, ist aber richtig. Die Debatte um Wissenschaftlichkeit / Objektivität und die Abgrenzung von Literatur, nicht zuletzt der linguistic turn, die Unhintergehbarkeit der Sprachlichkeit gehörte wohl zu den zentralen methodischen Anstößen für und von Michael Stolleis’ Arbeiten. Jüngst: Abdulrazak Gurnah, Afterlives, London: Bloomsbury 2020, dt.: Nachleben, München: Penguin 2021. Zusammenfassend etwa: Michael Stolleis, Rechtsgeschichte schreiben. Rekonstruktion, Erzählung, Fiktion? (2008), in: ders., Ausgewählte Aufsätze (Anm. 3), Bd. 2, S. 1083–1112. In einer neuerlichen Änderung der entsprechenden Norm im DRiG von 2021 wird nun gefordert, dass »die Vermittlung der Pflichtfächer [!, P. C.] […] auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur« erfolge, § 5a Abs. 2 S. 3, letzter Halbsatz DRiG; BGBl. 2021 I Nr. 38 v. 2.7.2021, S. 2154 (2172). Auch § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG wurde ergänzt: »Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die ethischen Grundlagen des Rechts und fördern die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts […]. Zu alldem die Beiträge in ZDRW 1/2019; ferner: Christian Baldus, Zwischen Göring und Jhering? NS-Justizunrecht im Studienplan, in: RW Rechtswissenschaft 12, Heft 2 (2021), S. 273–289.

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angesichts der veränderten Universitäten kaum noch wissen, wie sie die Studierenden mit den sogenannten »Grundlagenfragen« auch nur bekanntmachen können, wenn schon die Bezeichnung als »Grundlagen«, wie Stolleis es einmal formuliert hat, letztlich eine Verdrängungsbewegung aus dem Kanon des juristischen Unterrichts hinaus markiert. 66 Wenn wir dies alles in unserem Gespräch als schwierig beklagten, würde Michael uns wohl aufmuntern – vielleicht mit einer seiner Geschichten vom Töpfern, dem Scheitern an der Drehscheibe, um uns am Ende eine getöpferte kleine Vase zu schenken. Pascale Cancik

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Die [von Michael Stolleis beobachtete und bekämpfte] Verdrängung der in den 1980er so benannten Grundlagendisziplinen, etwa der Rechtsgeschichte, kann man ablesen an der Regelung im DRiG, wonach in der juristischen Ausbildung auch die »Grundlagen« der »Kernbereiche« – also der drei großen Fächer Zivil-, Straf- und öffentliches Recht – für das Examen eine Rolle spielen sollen – ohne dass deutlich würde, auf welche Weise das geschehen soll, was genau der Stoff sei. Jenseits spezieller Schwerpunktbereiche spielen im staatlichen und auch im universitären Teil der Prüfung geschichtliche Grundlagen höchst selten und allenfalls am Rande eine Rolle, sie sind »zu Einleitungsfächern degradiert«. Vgl. Michael Stolleis, Stärkung der Grundlagenfächer, in: JuristenZeitung 2013, S. 712–714, 712. Ausführlicher ders., Zur kritischen Funktion der Rechtsgeschichte, in: Hagen Hof, Peter Götz von Olenhusen (Hg.), Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen. Neue Akzente für die Juristenausbildung, Baden-Baden: Nomos 2012, S. 212–219.

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Schlusswort In Sten Gagnérs Mansardenseminar unterm Dach des juristischen Seminargebäudes in München lernten wir uns kennen. Michael Stolleis war bereits promoviert und wissenschaftlicher Assistent, ich hatte das Studium gerade abgeschlossen. An einem langen Tisch zwischen Bücherregalen saßen wir mit einem Dutzend anderer Jünger des schwedischen Professors, den alle liebten wie einen Vater. An diesem Dienstag diskutierte man über ein Referat von mir, das die juristische Argumentation in einem Hexenprozess behandelte. Bekanntlich bedurfte es der Wendung zur Rationalität, um die systematische Hexenverfolgung in Gang zu setzen. Juristen der frühen Neuzeit bemühten ihren Scharfsinn zum Beweis eines fiktiven Verbrechens und zur Rechtfertigung grausamer Verhörpraktiken. Als die Runde der Teilnehmer nach vier Stunden auseinanderging, blieb Michael zurück, während ich meine Papiere und Bücher zusammenpackte. »Du bist da an einem interessanten Thema«, sagte der zwei Jahre Ältere. »Ich arbeite an etwas ganz Ähnlichem.« Sein Thema war die Rechtsprechung im sogenannten Dritten Reich. Wir gehörten beide zur Generation, die das Wissen um die massenhaften Tötungen der Nazi-Zeit traumatisierte. Uns ließ die Frage nicht los, wie in einer zivilisierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts Millionen Menschen diskriminiert und ermordet werden konnten. Mit Duldung und Hilfe einer intellektuellen Elite, die sich dem Dienst am Recht verschrieben hatte. Bekannte Professoren unserer Fakultät gehörten dazu. Biedere, geachtete Gelehrte und Lehrer des aktuellen Rechts, deren Argumentationskunst vor nicht langer Zeit ein rassistisches Terrorsystem gestützt hatte. Wie war das möglich? Michael Stolleis erkannte, dass mein Interesse an der juristischen Rechtfertigung der Hexenprozesse auf dieser Frage beruhte. Der Frage, die auch ihn umtrieb. Auch er suchte nach der Antwort. Anders, entschiedener als ich, konkret und ausdauernd. Er fand, es sei Zeit für eine Rechtsgeschichte der NS-Jahre. Genau so sagte er das nicht. Zu leicht hätte man ihn missverstanden. Die Aufarbeitung und Überwindung der Nazi-Vergangenheit war ein zentrales Thema der Studentenrevolte von 1968. Die erwachsen gewordenen Kinder entsetzten sich über die Generation der Väter, und ihre moralische Empörung war zu einer Welle geworden, die, spät genug, das intellektuelle Deutschland erfasst hatte. Es tat gut, die Scham über die deutschen Verbrechen mit Verdammungsurteilen über Täter, Helfer und Mitläufer zu besänftigen. Sich vom

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historischen Erbe distanzierend deutete man zornig auf die Schuldigen und zeigte so, dass man zu den besseren Menschen gehörte. Mit dieser moralischen Überheblichkeit wollte Michael nichts zu tun haben. Sie war ihm »eine zu leichte Pflichtübung«. Als Wissenschaftler ging es ihm um das Verstehen des Unverstehbaren. Selbstverständlich empfand er Empathie mit den Opfern und Verachtung für die Verantwortlichen. Man kann den Emotionen nicht entrinnen. Aber er wollte doch wissen, »wie es eigentlich gewesen«. Auch wenn er diese Forderung Leopold von Rankes gelegentlich naiv nannte, der geschichtlichen Wirklichkeit wollte er sich so weit wie möglich annähern. Die Gefühle und Urteile der Nachgeborenen standen da im Weg. Sie beiseite zu schieben, schien zur damaligen Zeit unmöglich. Doch anders als streng rechtshistorisch wollte der von Sten Gagnér methodisch geschulte Universitätsassistent nicht vorgehen. Mit einer Untersuchung der Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht begann er. Damit habilitierte er sich 1973. Als er ein Jahr später als Professor nach Frankfurt ging, verloren wir uns aus den Augen. Nur aus den Augen, innerlich blieben wir verbunden. Fern der akademischen Welt freute ich mich über seinen Aufstieg. Mir schien, dass er sein Ziel weiter verfolgte, auch wenn er sich vorwiegend mit der europäischen Sozial- und Verfassungsgeschichte der letzten 500 Jahre beschäftigte. In seinem Opus Magnum der Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland nimmt das Dritte Reich nur den ihm gemäßen Platz ein. Und doch glaube ich, dass sein wissenschaftlicher Impetus derselbe blieb. Er suchte nach einer Erklärung des deutschen Wegs in die Monstrosität, wollte wissen, wie die neuzeitliche Rechtstradition zu einem mörderischen System pervertieren konnte. Ich denke, er hat gegraben. Tiefer, immer tiefer und weiträumiger, um die Wurzeln der Fehlentwicklung freizulegen. Wie alle Gagnér-Schüler achtete er auf den Kontext. Alles hat mit allem zu tun. Versailles, Weimar und Währungskrise allein erklären nicht das Dritte Reich und schon gar nicht das Versagen der deutschen Jurisprudenz. Man muss den Fokus erweitern. Die Katastrophe hat eine lange politische, soziale und kulturelle Vorgeschichte. Michael Stolleis beschrieb sie. Verbindungslinien zog er nicht. Zum Deuten, Urteilen, Thesen-Aufstellen sah er sich nicht berufen. Das Komplexe zu vereinfachen, betrachtete er nicht als seine Aufgabe. Interpretation war ihm allzu subjektiv, und darum rollte er das Gewirr historischer Fäden nicht zu einem ordentlichen Knäuel zusammen. Doch beim Sammeln der Fäden holte er weit aus. Und er wusste auch, dass eine Rechtsgeschichte des Dritten Reiches nicht allein aus einer Zusammenstellung und Analyse von Dokumenten bestehen kann. Der »Staat«, auch der NS-Staat, bestand für ihn außer aus Verwaltung, Gesetzen, Polizei und Gerichten auch aus dem Denken und Handeln von Beamten und Bürgern. Tun und Denken, schrieb er einmal, sind miteinander verzahnt. Jedem Tun liegt ein Denken zugrunde. Um diesem auf

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die Spur zu kommen, muss die Verwendung der Worte kritisch geprüft werden. Wie das geht und welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden, hat Michael häufig demonstriert. Etwa am juristischen Begriff der »Gemeinschaft«, der im Führerstaat von besonderer Bedeutung war und nach 1945 keineswegs über Nacht aus den Köpfen der Juristen verschwand. Worte und Sätze setzte der Rechtshistoriker Stolleis in Zusammenhang mit der Zeit und den Verhältnissen. Historische Zeugnisse waren für ihn Chiffren, die es zu enträtseln gilt. Das gelingt nur mit einem Blick auf das Ganze, und dazu gehört vor allem das wirkliche, oft banale Leben. Nichts geschieht isoliert. Das gilt auch für die Wissenschaft. Ein Gelehrter ist zuerst und vor allem ein im Leben stehender Mensch. In Michaels Werk spiegelt sich sein Charakter; über die Forschung hinaus dokumentiert es seine Geduld, sein Einfühlungsvermögen, seine Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Unbestechlichkeit. Auch deshalb wird es immer eine Freude sein, seine Texte zu studieren. Über Mangel an Anerkennung musste er nicht klagen. Er gehört zu den ganz Großen, man hat ihn eine Instanz genannt. Seine Leistungen, Ehrungen und Titel hätten andere selbstgefällig, womöglich arrogant gemacht. Nicht ihn. Mit beiden Beinen stand er auf der Erde. Selbstbewusst, aber zurückhaltend, geistig überlegen, aber offen für jeden und neugierig auf alles. So war er, als ich ihn kennenlernte, und so auch noch auf dem Gipfel wissenschaftlichen Ruhms. Als Wissenschaftler zeichnete ihn neben vielen anderen Eigenschaften eine Haltung aus, die ich »mutig« nenne. Mut gehörte dazu, sich mit der Nazizeit zu beschäftigen, wie er es tat. Jedenfalls Ende der 60er Jahre. Damit konnte man damals an der Münchner Universität nicht leicht Karriere machen. Er ging das Risiko ein. Auch nahm er in Kauf, dass viele eine objektive Rechtsgeschichte der Nazizeit einer Entschuldigung der Verbrechen gleichsetzen könnten. Noch mehr, viel mehr Mut erfordert es, sich als Wissenschaftler an eine letztlich unlösbare Aufgabe zu machen. Er begab sich in eine Spannung zwischen Nichtverstehen und Verstehenwollen. Das war schwer erträglich. Er nahm es auf sich, weil ihm die Empörung über das Unfassbare nicht genug war. Seine Bedeutung für die Rechtswissenschaft geht selbstredend weit über seine rechtshistorische Analyse des NS-Zeit hinaus. Wie weit sein Interesse reichte, lassen die heutigen Vorträgen erkennen. Was Michael Stolleis erforscht und veröffentlich hat, wird bleiben. Bleiben werden auch die Schüler und Bewunderer, die seine kritisch distanzierte Forschungsmethode übernommen haben und an die nächste Generation weitergeben. Und bleiben werden Menschen, die sich seiner Großzügigkeit erinnern, seine aufrechte Haltung zum Vorbild nehmen und seine Hilfsbereitschaft nicht vergessen werden. Michaels letzte E-Mail erhielt ich am 13. Januar 2021. Sie kam aus dem Krankenhaus. Er tröstete mich, ich kann es nicht anders sagen, indem er Zuversicht und Stärke vortäuschte. Ihm lag daran, mich nicht traurig zu

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machen. Gerne ließ ich mich täuschen und glaubte an seine Genesung. Umso härter traf mich die Nachricht von seinem Tod. Man sagt sich, wir sterben alle, seine Zeit war um, er hatte ein erfülltes Leben – und was einem sonst an Binsenweisheiten in den Sinn kommt. Aber man ist ganz und gar nicht einverstanden. Dieser Abschied tut weh. Wir waren keine engen Freunde, doch einander nah seit jenem Tag, als er mich im Mansardenseminar ansprach. Michael Stolleis hat mein Leben bereichert. Durch seine Freundschaft, sein Verständnis für meine kleinen Probleme und das, was er in seiner wunderbar klaren Sprache zu Papier brachte. Menschen wie er sind selten. Ohne ihn ist die Welt nicht mehr ganz so, wie sie war. Michael Kunze

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»Rechtshistoriker sind Historiker«. Ein Gespräch mit Michael Stolleis über Väter, Bildungswege und Zeitgenossenschaft Seit den siebziger Jahren haben Sie wegweisende Arbeiten zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus vorgelegt. Wann und wodurch ist Ihr Interesse an der NSVergangenheit entstanden? In meiner Schule in der rheinland-pfälzischen Provinz wurden wir in den fünfziger Jahren von einer sehr alten Lehrergeneration unterrichtet, die vom Krieg verschont geblieben war. Unser Geschichtsunterricht brach im Grunde bei Bismarck ab, so dass wir über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die frühe Bundesrepublik praktisch nichts erfuhren. Entsprechend ahnungslos bin ich dann auch in meine ersten Leseerlebnisse hineingestolpert. Zum Schlüsselereignis geriet für mich ein Schulausflug nach Berlin, wo wir im Theater am Schiffbauerdamm Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui sahen, noch in der Inszenierung von Bertolt Brecht selbst. Nach der Vorstellung habe ich die halbe Nacht mit einer Mitschülerin diskutiert. Das war 1958, ich war 17 Jahre alt. Für mich war die simple Botschaft des Stückes: Die Nationalsozialisten waren wirklicheVerbrecher gewesen. So brutal und eindrücklich war mir das bis zu diesem Zeitpunkt noch nie vor Augen geführt geworden. Die Brecht’sche Theateridee – der Zuschauer muss aufgeklärt und belehrt werden – fiel bei mir im Arturo Ui mit der aristotelischen Vorstellung – er muss erschüttert und gereinigt werden – zusammen: Ich wurde aufgeklärt und moralisch erschüttert zugleich. Und ich begann nun, mich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Hatten Sie das Bewusstsein, einer Generation anzugehören, die mit einer belasteten Elterngeneration geschlagen ist, deren Bürde man nicht einfach abschütteln kann? Ja, dieses Gefühl stellte sich bei mir etwa gleichzeitig ein. Ich machte mit einem Schulkameraden eine Fahrradtour nach Holland und wunderte mich, dass die Menschen dort so unfreundlich zu uns waren. In meiner Naivität dachte ich, Holländer seien wohl von Natur aus unfreundlich, was natürlich nicht der Fall war. Und von dieser Zeit an begann ich zu begreifen, was wir Deutschen anderen Völkern angetan hatten. Auch durch einige Frankreichaufenthalte

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entwickelte sich bei mir das Gefühl, eine Bürde zu tragen, von der ich wenig wusste. In Italien und Österreich – damals beliebte Reiseziele meiner Eltern – hatte ich dieses Gefühl nicht. Aber die französische und die niederländische Erfahrung reichten aus, um zu merken, dass da etwas war, was wir gleichsam als Stein um den Hals mit uns schleppten. Haben Sie sich auch mit der NS-Vergangenheit Ihres Vaters auseinandergesetzt? Mein Vater war Jahrgang 1906 und ist 1929 in die NSDAP eingetreten. Seit dem Tod Gustav Stresemanns, den er sehr bewundert hatte, hielt er die Weimarer Republik für unrettbar verloren; von der Demokratie war er enttäuscht. Er verabschiedete sich von seinem Beruf als Rechtsanwalt, ging in die kommunale Verwaltung und wurde Regierungsrat. »Ich muss meinem Volke dienen, ich muss Aufbauarbeit leisten, ich muss mich gemeinwohlorientiert verhalten« – so beschrieb er im Rückblick seine Motivation zu diesem Schritt. Er wurde zunächst Bürgermeister von Landau, 1937 dann Oberbürgermeister von Ludwigshafen. Eine der wichtigsten verwaltungspolitischen Maßnahmen während seiner dortigen Amtszeit war wohl die Eingemeindung von sieben Ortschaften in die verschuldete Industriestadt Ludwigshafen, darunter auch Oppau – eine kleine Gemeinde, die wegen der dort ansässigen BASF hohe Gewerbesteuereinnahmen hatte. Enorm wichtig war ihm auch, der Arbeiterstadt kulturell etwas zu bieten. Auf diesem Gebiet hat er großes Engagement bewiesen. Über die Ereignisse der »Reichskristallnacht« am 9. November 1938 geriet mein Vater in Konflikt mit der NSDAP. Ausgerechnet an jenem Wochenende heiratete er in Wernigerode am Harz, so dass er nicht in Ludwigshafen war, als die Ausschreitungen begannen. Per Telefon gab er den Befehl, städtische Polizei gegen die gewalttätigen SA-Trupps einzusetzen. Daraufhin kam es zu einem großen Krach mit der Partei, und der Gauleiter Josef Bürckel erklärte meinen Vater zum »Parteifeind Nummer eins«. Nach Kriegsbeginn hat mein Vater sich dann – ungedient und als einfacher Soldat – sofort freiwillig an die Front gemeldet, gegen den Willen des Gauleiters. Ich deute das in gewisser Weise als ein Ausweichen, eine Flucht – und bin auch der Überzeugung, dass er ein grundanständiger und idealistischer Mensch war, dem moralisch im Grunde nichts vorzuwerfen ist. Ihr Vater geriet bereits 1941 in Nordafrika in Kriegsgefangenschaft – als Sie ein Säugling waren. Erinnern Sie sich an die erste Begegnung mit ihm? Sehr gut sogar. Diese Begegnung fand 1947 in der amerikanischen Zone statt, in Neckargemünd bei Heidelberg. Nach sechs Jahren Kriegsgefangenschaft war mein Vater aus Australien zurückgekehrt. Ich war sechs Jahre alt, ging an der Hand meiner Mutter und sah einen fremden Mann auf mich zukommen. Wir haben uns dann ganz harmonisch als Familie zusammengefunden, und er hat

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das elterliche Weingut wieder aufgebaut. 1948 wurde meine Schwester geboren, 1951 mein Bruder. Mit der Zeit hat mein Vater auch lebensgeschichtlich akzeptiert, dass eine Rückkehr zu seiner liebsten Tätigkeit – der Stadtplanung – nicht mehr möglich war. Lange kämpfte er um seine Pensionsansprüche aus der Zeit vor 1941. Der Prozess zog sich hin, weil sich die Ludwigshafener SPD strikt gegen eine Pensionsgewährung an einen ehemaligen NS-Oberbürgermeister ausgesprochen hatte. Auch das Bild meines Vaters wurde aus der Galerie der Oberbürgermeister entfernt, was ihn sehr kränkte. Nach meiner Kenntnis hat schließlich Helmut Kohl dafür gesorgt, dass ihm ab dem 65. Lebensjahr eine geminderte Pension gewährt wurde. Wie haben Sie Gespräche mit Ihrem Vater über die NS-Vergangenheit erlebt? Als Momente jenes vielzitierten Schweigens am Abendbrottisch, von dem so viele Achtundsechziger berichten? Nein, bei uns wurde ausgesprochen viel über den Nationalsozialismus geredet. Da mein Vater in der Gefangenschaft isoliert und über die Lage in Deutschland entsprechend schlecht informiert gewesen war, hielt er jedoch zunächst alles, was über die letzten Kriegsjahre berichtet wurde, für alliierte Lügen. Erst allmählich dämmerte ihm, welche Verbrechen von den Deutschen begangen worden waren, und es fiel ihm schwer, dies zu akzeptieren. Dabei blieb es mindestens bis zur Mitte der fünfziger Jahre. Ich sehe heute noch die Rechtfertigungsliteratur aus dem rechtsradikalen Verlagsmilieu vor mir, die mein Vater eifrig las, deren apologetischen Charakter ich aber bald begriff. In der Pubertät neigt man dazu, gegen denVater zu revoltieren – und das habe ich auch getan. Zugleich war ich ein schlechter Schüler und ständig von »Nichtversetzung« bedroht. Er sorgte sich um mich. Nach dem Abitur machte ich zunächst eine Winzerlehre. Das Weingut ist aber später von meinem zehn Jahre jüngeren Bruder weitergeführt worden, so dass die Frage der Nachfolge gelöst war. Als meine akademische Laufbahn später glatt verlief, war mein Vater natürlich zufrieden. Mein Buch über Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht (1974) hat er gelesen und es akzeptiert. Er hatte wohl etwas Polemisches erwartet und war erleichtert über meine fast unterkühlt scheinende Auseinandersetzung mit dem NS-Recht. Nach der Winzerlehre gingen Sie 1960 zum Jurastudium nach Heidelberg. Waren Sie auch einmal versucht, etwas anderes zu studieren? In Heidelberg begegnete ich einem Hochschullehrer, der mich stark beeinflusst hat, obwohl ich nur kurzen Kontakt zu ihm hatte: Erwin-Walter Palm, Ehemann der Dichterin Hilde Domin. Palm war Kunst- und Kulturhistoriker, Literat und Übersetzer von García Lorca. Seine Lorca-Vorlesung ist mir unvergesslich. Ich fing an, Spanisch zu lernen, wenig erfolgreich, aber die Begeiste-

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rung war dauerhaft. Durch Palm lernte ich Lorca, Lope de Vega und Cervantes, daneben auch die Kunst und Literatur des Manierismus kennen. Ich begegnete einer Welt, die ich unbewusst gesucht hatte. Als bislang schwieriger Schüler fühlte ich mich heimisch an der Universität und genoss die Freiheit. Palm lud den jungen Adepten ins Café Schafheutle ein, aber auch zu sich nach Hause. Dort stand ich staunend vor seiner und Hilde Domins Bücherwand – voll von den Größen der Moderne – und dachte: Das ist es. In meinem Elternhaus standen andere Bücher, allerdings auch die deutschen Klassiker und russische Literatur. Jedenfalls war dieser Besuch bei Palm ein Schlüsselerlebnis. Ich wollte sofort Literatur und Kunstgeschichte studieren. Aber mein Vater hielt beides für brotlose Künste und riet mir dringend, bei Jura zu bleiben. Warum konnte Ihr Vater das von Ihnen verlangen? Weil Sie finanziell von ihm abhängig waren oder weil er eine Autorität war? Er war eine Autorität, und ich sah ja auch in gewisser Weise ein, dass ich es mit meiner Literatur- und Kunstbegeisterung schwer haben würde, erfolgreich zu sein. Ich hatte nichts gegen Jura, hielt das Fach aber für farblos. Nach vier Heidelberger Semestern wechselte ich an die Universität Würzburg, um das bisher Versäumte nachzuholen. Dort habe ich dann nach acht Semestern das Erste Juristische Staatsexamen abgelegt. Zu Beginn des Studiums war ich – aus der Provinz kommend, mit viel Literatur im Kopf – eigentlich kaum politisch motiviert gewesen. Das änderte sich in der Würzburger Zeit, parallel zu meinem wachsenden Interesse am öffentlichen Recht und an Verfassungsfragen. In Würzburg traf ich auch zum ersten Mal auf einen Hochschullehrer mit NSVergangenheit und entdeckte bald, dass er unter den Juristen bei weitem nicht der Einzige war. Das Braunbuch der DDR wurde damals zu einem Schlüsseldokument. Man konnte es für fünf Mark am Universitätseingang kaufen. Darin fanden wir die Namen unserer Hochschullehrer. Zeitgleich wurden prominente Fälle wie Globke und Oberländer publik. Ein Mitstudent in Würzburg war übrigens der Sohn von Oberländer. War auch der 1965 beendete Frankfurter Auschwitz-Prozess ein Schlüsselereignis in Ihrer politischen und wissenschaftlichen Sozialisation? Natürlich habe ich den Auschwitz-Prozess in der Presse mitverfolgt, ihn aber nicht besucht. Ich war 1963 bis 1965 vollauf mit dem Staatsexamen beschäftigt. Mit dem Jahr 1965 verbinde ich vor allem die Ringvorlesungen über die NSVergangenheit in Tübingen, München und Berlin. An der Universität München, wo ich inzwischen promovierte, sprach für die Juristen in dieser Ringvorlesung mit Wolfgang Kunkel der einzige wirklich Unbelastete der Fakultät, ein berühmter Romanist und Rechtshistoriker. Kunkel erzählte, er habe bei den letzten freien Wahlen 1932 für die SPD gestimmt – obgleich kein Genosse –,

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weil er dachte, dies sei die einzige Partei, die das Land noch vor den Nazis retten könne. Er zog sich daraufhin vollständig aus der Politik zurück und widmete sich seinen Studien, wie er erzählte, während er die Vertreibung vieler Lehrer und Kollegen miterleben musste: Acht von elf deutschen Romanisten von Weltrang wurden ins Exil getrieben. Diese Vorlesungen machten das Thema der NS-Belastung zum öffentlichen Diskussionsgegenstand. Sie haben in München bei Sten Gagnér promoviert. Haben Sie sich wegen der NSBelastung vieler deutscher Juristen bewusst für einen schwedischen Doktorvater entschieden? Nein, das war eher ein Zufall. Ursprünglich wollte ich in Würzburg bei einem Öffentlichrechtler über »Two Men in Search of Justice« – Michael Kohlhaas und Josef K. promovieren, also über Kleist und Kafka. Jener Professor in Würzburg war zwar einverstanden mit meinem Thema, aber ich fand ihn nicht anziehend und erfuhr zudem, dass er über 200 Doktoranden hatte, um die er sich ganz gewiss nicht angemessen kümmern konnte. Als mir dann noch seine NS-Belastung zu Ohren kam, dachte ich mir: Nichts wie weg. Durch meinen Wechsel nach München war ich dann erst einmal vaterlos im akademischen Sinne. In München kam ich durch einen Assistenten zu Sten Gagnér, dessen wunderbare Persönlichkeit mich vollkommen in Beschlag nahm. Jeden Dienstag war Seminar, man rauchte, man diskutierte – eine liberale Atmosphäre, in der ich mich gleich heimisch fühlte. Ich habe bei Gagnér eine kleine Promotion geschrieben, die vielleicht nicht weiter wichtig ist. Es ging darin um Christian Garve, einen relativ unbekannten Philosophen des späten 18. Jahrhunderts. Er hatte über das Verhältnis von Moral und Politik geschrieben und stand im Dialog mit Kant, der seine pragmatischen Kompromisslösungen klar zurückwies. Nach Kant hatte sich die Politik nach der Moral zu richten – und diese Moral war eben die kantische. War das mehr als eine akademische Frage, die Sie zu diesem Thema brachte? Hinter diesem Interesse stand das ewige Problem, ob die Politik der Moral zu folgen hat oder ob sich moralische und rechtliche Gebote mit Verweis auf die Staatsräson beiseiteschieben lassen. Was unter Staatsräson eigentlich zu verstehen sei, interessierte mich zunehmend. Es gibt eine lateinische Parömie: necessitas frangit legem – die Notwendigkeit bricht das Gesetz. Ein Herrscher darf im Ausnahmezustand alles tun, um den Staat zu retten. Das ist die Carl Schmitt’sche Frage nach dem Ausnahmezustand. Ohne dass ich damals überhaupt etwas von Schmitt wusste, war mir klar, dass es hier um die Schlüsselfrage nach Rechtsgeltung und Rechtsbruch geht. So kam ich von der Arbeit an dieser kleinen Dissertation zu der Frage, was Gemeinwohl im nationalsozialistischen Recht eigentlich bedeutete: »Gemeinnutz vor Eigennutz«. Als ich Sten Gagnér

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von meinem neuen Forschungsprojekt erzählte, reagierte er wie immer sehr optimistisch und ganz unbesorgt: »Sehr interessant, nur zu, es wird schon alles gutgehen.« Als Außenstehender konnte Gagnér nicht einschätzen, worauf man sich damals einließ, wenn man über die Rechtsgeschichte des Dritten Reiches arbeiten wollte; er hatte auch keine Ahnung von den Vergangenheiten seiner Kollegen. Wie viel Familiengeschichte steckte noch in diesen Interessen – die Frage danach, was der Vater während der NS-Zeit gemacht hat und wie er es später begründet hat? Kann man als rechtschaffener, idealistischer Mensch in einem Unrechtsstaat Gutes tun, im Fall Ihres Vaters für die Kommune? Ich sehe es eher so, dass dieser Anstoß aus der Familiengeschichte sich in meinen Diskussionen mit Generationsgenossen verselbstständigte und zu einer allgemeinen Frage danach wurde, wie wir, die Kriegs- und Nachkriegskinder, mit dieser Erblast umgingen. Es mag sein, dass der familiäre Ausgangspunkt unterbewusst eine Rolle spielte, aber wir befanden uns ja damals in studentischen Kreisen in großer Gesellschaft. Da gab es zwar sehr unterschiedliche Leute – manche kamen aus Familien, in denen die NS-Gegnerschaft evident war, ob aus moralischer, religiöser oder milieuspezifischer Prägung –, aber diese gemeinsame Frage verband uns alle. Nun gehörten Sie zu jener jungen Generation, die in den sechziger Jahren überall diese mehr oder weniger großen braunen Flecken entdeckte. Hatten Sie damals solche Gedanken wie: Die werden wir los, nicht denen gehört die Zukunft, sondern uns? Nein, für eine solche Attitüde war ich viel zu schüchtern, um in Anspruch zu nehmen, ich könnte die Zukunft gestalten. Ich war immer mehr Beobachter als Täter, eher »Merker« als »Tuer«. Bei Auslandsaufenthalten fühlte ich mich oft befangen und fragte mich bei meinen Gesprächspartnern eigentlich immer, welchen Hintergrund sie hatten.Vor allem in Israel ging mir das so, aber auch in den USA. Und ich hatte bei solchen Begegnungen häufig ein Gefühl von Scham, ein Gefühl, der Situation nicht genügen zu können. Ich sah mich auch nicht dazu berufen oder legitimiert, über die Leidenserfahrungen dieser Leute mitzureden. Stattdessen verfiel ich eher in Schweigen und hörte mir ihre Geschichten an, da ich aus eigenem Wissen und Erleben nichts dazu beitragen konnte und auch keine unausgegorenen Meinungen äußern wollte. Haben Sie sich 1967/68 an Demonstrationen der Studentenbewegung beteiligt? Auch dies nicht. Ich bin bei keiner Demonstration dabei gewesen. Den Furor der Achtundsechziger-Linken, diesen Willen, die Gesellschaft umzukrempeln, besaß ich nicht. Das war nicht meine Attitüde, ich war eher ein Beobachter. 1967 habe ich mich verlobt, 1969 geheiratet: In dieser Situation fühlt man sich dann

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nicht mehr so ganz frei, seine Haut zu Markte zu tragen bei einer Demonstration. Aber natürlich hatte ich Kontakte zur Studentenbewegung. Ich habe der »Roten Zelle Jura« bei ihrer Klage vor dem Verwaltungsgericht geholfen, um die Wiedereröffnung der Akademie der Künste in München zu erreichen. 1969 bin ich in die SPD eingetreten, aber während der endlosen Debatten im Ortsverein habe ich schnell gemerkt, dass ich kein Mensch bin, der sich als politisches Alphatier versteht. Ich habe in dieser Zeit angefangen, mein Buch über die Gemeinwohlformeln im Nationalsozialismus zu schreiben, und dann beanspruchten uns unsere Kinder. Kamen Sie über Ihr neues Forschungsthema zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus auch mit Zeithistorikern in Kontakt? Ja, genau zu dieser Zeit knüpfte ich erste Kontakte zum Institut für Zeitgeschichte in München. Dort begegnete ich Martin Broszat, den ich sehr schätzte; auch Helmut Krausnick habe ich dort noch kennengelernt. Meinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz bot ich Broszat für die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte an, er wurde dann 1972 zu meiner eigenen Verblüffung tatsächlich gedruckt – sozusagen als erstes Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit den Begriffen Gemeinschaft und Gemeinwohl in der Rechtssprache des Nationalsozialismus. Wann und wodurch wurde Ihnen bewusst, dass es zum Schreiben von Rechtsgeschichte auch der Methoden der Geschichtswissenschaft bedarf ? Mein Doktorvater Sten Gagnér hatte ein Buch über die Entstehung der Gesetzgebungsidee im Hochmittelalter geschrieben. Er ging darin dem Begriff des ius positivum nach und erzählte diese Ideengeschichte der Gesetzgebung auf sehr eigenwillige Weise, nämlich im Krebsgang rückwärts vom 19. bis hin zum 13. Jahrhundert. Durch Wortverwendungsstudien im Sinne Ludwig Wittgensteins analysierte er, was ius positivum im Kirchenrecht des Hochmittelalters bedeutet hatte. Und in diesem Buch stieß ich auf ein Schlüsselzitat von Wittgenstein aus den Philosophischen Untersuchungen, wonach die Bedeutung eines Wortes in seinem Sprachgebrauch bestehe. Auch für Gagnér war dies ein Schlüsselgedanke: sich über den Sprachgebrauch vergangener Zeiten beugen wie ein Beobachter über Schachspieler. Man kennt die Regeln des Spiels nicht, aber aus der Verwendung der Figuren auf dem Schachbrett kann man sie allmählich erschließen. Anstelle von ideologischen und dogmatischen Befangenheiten der Jurisprudenz, so Gagnér, solle man sich lieber dem Studium der Wortverwendungen früherer Zeiten widmen. Das hat mich beeindruckt, ich las Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und war fasziniert von diesem Denker, der alle philosophischen Probleme als Verhexungen des Sprachgebrauchs betrachtete. Plötzlich verstand ich, dass auch

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die reale Welt aus Deutungen, aus Worten und Wortverwendungen besteht und man durch sie die Welt verstehen kann. Zugleich wurde mir klar, dass die gegenwärtige Wortverwendung in der Jurisprudenz der Erforschung der Rechtsgeschichte eher im Wege steht. Juristen neigen dazu, Begriffe unhistorisch zu verstehen und sie als Bausteine der Dogmatik zu verwenden. Das ist eine ontologische Vorannahme, die man den juristischen »Begriffen« unterlegt – eine platonische Position. Wittgensteins Sprachkritik aber bringt uns auf den Gedanken, dass man zu anderen Zeiten gleiche oder ähnliche Worte anders verwendete – und wie, gilt es herauszufinden. So entstand der Plan, die Wortverwendung der Formel »Gemeinnutz vor Eigennutz« zu untersuchen. Auf der Basis des Reichsgesetzblattes von 1933 bis 1945 fertigte ich Wortlisten an und entdeckte eine Vielzahl unterschiedlicher Sprachvarianten. Daraus ist dann das Buch Gemeinwohlformen im nationalsozialistischen Recht entstanden. Wie hat dieses Buch Ihre weitere Karriere aus heutiger Sicht beeinflusst? Zunächst einmal negativ, weil ich eine Fächerkombination hatte, die in der juristischen Zunft normalerweise nicht gängig ist: Rechtsgeschichte und Öffentliches Recht. Rechtshistoriker müssen in Deutschland immer auch ein Fach des geltenden Rechts vertreten – und das ist seit dem 19. Jahrhundert fast immer das Zivilrecht gewesen. Ich hatte daher keine Chance auf einen zivilrechtlichen und eine geringe auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl, denn abgesehen von ein paar kleinen Aufsätzen hatte ich auch nichts zum Öffentlichen Recht publiziert. Und so saß ich gleichsam zwischen allen Stühlen. Die Münchner verliehen mir großzügig die venia legendi für Öffentliches Recht, Neuere Rechtsgeschichte und Kirchenrecht – ich war inzwischen Assistent am Kirchenrechtlichen Institut – und schickten mich damit in die Welt hinaus. In Kiel vertrat ich zwei Lehrstühle, einen rechtshistorischen und einen öffentlich-rechtlichen. Dann kam ein Ruf aus Frankfurt, von einer liberalen und offenen Fakultät, an der ich mich rasch eingelebt habe. War Ihnen das nicht schon vor Beginn der Habilitationsschrift bewusst, dass diese Fächerkombination Ihnen noch Schwierigkeiten bereiten könnte? Kaum. Ich saß konzentriert an meinem Buch, studierte die Wortverwendung von »Gemeinnutz vor Eigennutz« und vertraute den drei Lieblingssprüchen meines Lehrers Gagnér, der zu sagen pflegte, es wird schon alles gutgehen, es kommt wie es kommt, Unkraut vergeht nicht. Wenn Sie Ihre damalige Haltung mit der Planmäßigkeit vieler heutiger Nachwuchswissenschaftler vergleichen, die sich mit bestimmten Dissertations- und Habilitationsthemen in den richtigen Mainstream hineinzuschreiben versuchen: War das nur Ihre

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ganz private Naivität und Besessenheit, oder hat ein allgemeiner Einstellungswandel zur wissenschaftlichen Laufbahn stattgefunden? Es hat wohl tatsächlich ein Wandel stattgefunden. Ich habe 1960 Abitur gemacht, 1965 mein Erstes, 1969 mein Zweites Staatsexamen abgelegt. Zu dieser Zeit standen den Absolventen alle Berufswege offen. Ich wollte noch 1969 eigentlich als Lektor arbeiten und hatte Gespräche in mehreren Münchner Verlagen. Mein Gefühl war damals ähnlich wie schon zu Schulzeiten: Die Lehrer können mir nichts anhaben, mein Abitur mache ich sowieso. Wir waren ja in der Schule überhaupt nicht taktisch ausgerichtet, mussten keine Punkte sammeln oder unsere Fächer strategisch wählen. Man konnte sicher sein, dass nach dem bestandenen Abitur kein Mensch mehr nach den Noten fragen würde. Diese innere Freiheit gibt es heute nicht mehr. Die Kinder werden ja inzwischen vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität unentwegt auf Berufstauglichkeit gedrillt. Das gab es damals nicht. In die Münchner Fakultät bin ich mehr oder minder hineingestolpert und wunderte mich dann, als man mir signalisierte, dass ich kein besonders angesehenes Thema gewählt hatte, das überdies sofort mit »links« assoziiert wurde. So wurde ich wohl längere Zeit als Außenseiter wahrgenommen. Ähnlich ging es ja in diesen Jahren auch der Zeitgeschichte. Das IfZ war im München der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ein wichtiger Treffpunkt des linksliberalen akademischen Milieus. Und das ordentlich-traditionelle Milieu war inständig bemüht, diese Kreise auf Distanz zu halten. Dies war in München tatsächlich ausgeprägt: Die akademische Welt und vor allem die Bayerische Akademie der Wissenschaften hatten sich abgeschottet. Selbst Thomas Nipperdey galt der Akademie als zu liberal. An der Juristischen Fakultät dachte man vermutlich ähnlich. Wie haben Sie im Vergleich dazu das universitäre Milieu in Frankfurt erlebt, nachdem Sie 1974 dorthin berufen worden waren? In Frankfurt hatte Helmut Coing 1964 das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte gegründet. Dort traf sich eine große Zahl von Rechtshistorikern. Coing war es gelungen, die üblichen zwei Lehrstühle für Rechtsgeschichte zu verdoppeln. Mit Assistenten und Doktoranden bildeten diese Rechtshistoriker eine kritische Masse, wie sie so an anderen Juristischen Fakultäten in Deutschland nicht zu finden war. Hinzu kam, dass die Professorenschaft fast noch jugendlich war. Dafür gab es eine historische Erklärung: Die Lehrstühle der Frankfurter Universität, die 1933 durch dieVertreibung jüdischer Kollegen frei geworden und von »arischen« und regimetreuen Wissenschaftlern besetzt worden waren, wurden nach einer Welle von Emeritierungen in den frühen siebziger Jahren neu besetzt. Gleichzeitig mit diesem einschneidenden

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Generationswechsel kam es durch die Bildungsexpansion dieser Jahre zu einer Verdopplung der Professuren. So fand ich in Frankfurt ein Milieu, in dem ich mich heimisch fühlte. Uns junge Wissenschaftler einte ein liberaler Grundton, was zu engen freundschaftlichen Verbindungen führte, zu gemeinsamen Festen und Unternehmungen. Wir haben Lehrveranstaltungen zusammen durchgeführt, DFG-Projekte beantragt, Doktorandenschulen gegründet, mit Hilfe der VolkswagenStiftung einen Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte nach Frankfurt gebracht und zum Schluss noch eine Max Planck Research School für vergleichende Rechtsgeschichte auf die Beine gestellt. Wenn man an die jüngsten Dramen der heutigen Welt der Exzellenzinitiativen denkt, in der alles auf sechs Jahre terminiert wird und oft schon nach drei Jahren wieder vor dem Aus stehen kann: Ist in unserer wissenschaftspolitischen Gegenwart so etwas, wie Sie es in Frankfurt erlebt haben – das Heranwachsen einer ganz spezifischen universitären Struktur und Kultur –, überhaupt noch vorstellbar? Es ist jedenfalls schwerer. Auch in Frankfurt hat die Ökonomisierung der Universität Einzug gehalten, was man nicht zuletzt auch bei der Rechtswissenschaft spürt. Nach mehr als dreißig Jahren ist dort kürzlich ein erneuter, recht harter Generationswechsel eingetreten. Das ist schade, dass die Professorenschaft generationell nicht besser durchmischt ist, aber es ist eben so. Und nun sind viele junge Juristen da, welche die Rechtsgeschichte selbst nicht prägend erlebt haben. Dafür stehen jetzt Bereiche wie Bankenrecht und Finanzrecht im Vordergrund. Das neugegründete »Institute for Law and Finance« ist ein Zeichen für diese Entwicklung. Zudem hat ein wahres Windhundrennen um Drittmittelprojekte eingesetzt. Die Rektoren und Universitätspräsidenten – vor allem die Naturwissenschaftler unter ihnen – messen die Tüchtigkeit ihrer akademischen Mitglieder nach Drittmittelquoten, und das belastet vor allem die Geisteswissenschaften. Die Rechtsgeschichte ist typischerweise keine Disziplin, in der sich große Drittmittelprojekte in Gang setzen lassen. Schon 1996 warnten Sie in einem FAZ-Artikel vor einer Ausdünnung der Juristischen Zeitgeschichte, sogar vor ihrem drohenden Untergang. Mein Beitrag war damals überschrieben mit dem Satz »Der geschichtsblinde Jurist ist gefährlich« – gefährlich insofern, als generell ein historisch uninformierter Jurist eher dazu tendiert, das geltende Recht nur dem Gesetzblatt zu entnehmen. Ohne Kenntnis der Geschichte ist es aber kaum möglich, gewisse Phänomene kritisch zu beurteilen. Wer zeithistorisch informiert ist, versteht viel besser, wie die Rechtsordnung 1933 umgepolt und an die nationalsozialistische Weltanschauung angepasst wurde. Es gab damals Leitsätze für Juristen, wonach die Rechtsordnung allein durch veränderte Interpretationen, durch sogenannte Einbruchstellen im positiven Recht uminterpretiert werden konnte. Auf diese

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Weise wurde zum Beispiel die Formel der Sittenwidrigkeit neu ausgelegt. Nach 1949 musste das geltende Recht – das im Wesentlichen aus dem Kaiserreich und aus der Weimarer Republik, aber auch aus der NS-Zeit stammte – dann wiederum neu interpretiert werden. Das überkommene Recht entsprach nun einmal in vielen Teilen nicht der »Wertordnung« des gerade verabschiedeten Grundgesetzes, so dass erneut mit solchen Einbruchstellen in das geltende Recht operiert wurde. Aber kaum jemand hat bemängelt, dass unter veränderten Vorzeichen im Grunde immer noch das gleiche Recht Anwendung fand, das schon zwischen 1933 und 1945 gegolten hatte. Um diesen fast unheimlichen Vorgang des Umwendens einer Rechtsordnung über Generationen und politische Zäsuren hinweg zu erklären, bedarf es der Juristischen Zeitgeschichte. Macht die Juristische Zeitgeschichte der Jurisprudenz damit nicht ständig neue Arbeit, indem sie die Forderung in den Raum stellt, neues Recht zu schaffen, anstatt überkommenes Recht neu auszulegen? Bernd Rüthers war der Erste, der in seiner Habilitationsschrift von 1968 – Die unbegrenzte Auslegung – darauf aufmerksam machte. Dieses mehrfach aufgelegte und sehr einflussreiche Buch hat uns damals die Augen geöffnet.Vor Rüthers gab es schon die Habilitationsschrift von Herbert Jäger, meinem späteren Frankfurter Kollegen: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität. Mein eigenes Buch war dann im Grunde die dritte Arbeit zu diesem Thema – 1974 wurde sie gedruckt –, gefolgt von Diemut Majers Buch über »Fremdvölkische« im Dritten Reich und einem Schwarm von Dissertationen. Rüthers’ Buch stach nicht zuletzt dadurch hervor, dass es ihm eine Menge Ärger einbrachte – aber ihn freilich zugleich auch berühmt machte. Hat Rüthers wirklich Ärger bekommen, oder ist er nicht vielmehr einfach totgeschwiegen worden? Totgeschwiegen kann man nicht sagen. Das Buch wurde sofort rezensiert. In das Bewusstsein der herrschenden Meinung ist es aber sicher erst langsam eingedrungen. Natürlich gab es Widerstände in der Rezeption. Seine Botschaft war ja, dass ein Jurist sich der Gefahr der Rechtsperversion nur durch reine Anwendung der Instrumente der Methodenlehre nicht erwehren kann – und das hörte die Zunft natürlich nicht gerne. Hinzu kam, dass Rüthers die Hauptprotagonisten der NS-Rechtswissenschaft erstmals beim Namen nannte und ausführlich zitierte, allen voran den Zivilrechtler Karl Larenz. Dass Rüthers aber ein eher konservativer Arbeitsrechtler war und als Mitglied im »Bund Freiheit der Wissenschaft« nicht mit der Studentenbewegung sympathisierte, mochte da wiederum nicht so recht ins Bild passen. Insofern war er eine interessante Figur mit mehreren Facetten.

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Und wie wurde Ihr Buch über die Gemeinwohlformeln im Nationalsozialismus anfangs rezipiert? Als es 1974 erschienen war, stand die Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, das Flaggschiff der Zunft, vor der Frage, ob man mein Buch besprechen oder es lieber nur anzeigen solle. Da es nicht als genuin rechtshistorische Publikation betrachtet wurde – und der Gegenstand außerdem als zu »frisch« galt –, entschied man sich für eine knappe Anzeige. Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre schwanden diese Vorbehalte. Allmählich wurde es normal, über NS-Themen zu arbeiten. Dann erschienen Aufsätze über mein Buch und es wurde akzeptiert. Abgesehen davon war ich zu dieser Zeit alles andere als ein Karrierist. Ich war ein kleiner Professor, den in den Jahren nach seiner Berufung niemand sonderlich beachtete. Ich habe Öffentliches Recht gelehrt und mich auf Sozialrecht spezialisiert. Vor allem die Situation behinderter Kinder in Kindergärten beschäftigte mich, daneben auch kirchenrechtliche Fragen – ich war Synodaler in der evangelischen Landeskirche in Hessen-Nassau. Rechtsgeschichtlich habe ich in dieser Zeit nicht viel bewegt. Nach der Habilitation wollte ich ein neues Terrain für mich erobern und befasste mich zunehmend mit dem 16. und 17. Jahrhundert. Das NS-Thema habe ich erst einmal beiseitegelassen. Auch meine Quellen zum NS-Recht wollte ich antiquarisch loswerden. Aber das Gebot des Antiquariats war so schlecht, dass ich dann doch alles behielt. Später war ich froh darüber. Würden Sie sagen, dass die breiteren öffentlichen Diskussionen über die NS-Vergangenheit in den sechziger und siebziger Jahren auch die Rechtsgeschichte dazu veranlasst haben, sich mit der Justizvergangenheit zu beschäftigen? Oder haben die Politisierung und Instrumentalisierung dieses Themas vielleicht eher dazu geführt, dass sich die Debatte bis in die achtziger Jahre verschoben hat? Die bereits erwähnten Ringvorlesungen an den Universitäten 1965/66 haben zusammen mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und der Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle ganz sicher auf die Universitäten zurückgewirkt – die angesprochene Welle von Habilitationen und Dissertationen zur NS-Rechtsgeschichte zeigt dies an. Impulse aus der Wissenschaft auf die Öffentlichkeit mag es aber auch gegeben haben, so zum Beispiel durch die unzähligen Fortbildungsveranstaltungen der evangelischen und katholischen Akademien. Sie würden also nicht sagen, dass sich bis heute in gewissen Bereichen eine Abwehrhaltung gegenüber diesem Thema gehalten hat? Wenn man etwa an Debatten über eine Justizreform in der Bundesrepublik denkt, die stets vor dem Hintergrund der NSJustiz ausgefochten wurden, dann hat dies doch auch zu einer gewissen Diskreditierung des Themas Nationalsozialismus in der Rechtswissenschaft geführt.

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Das sehe ich nicht so, aber vielleicht bin ich einfach zu sehr durch das Frankfurter Milieu geprägt, in dem es diese Abwehr nicht gab. Im Gegenteil, man wurde vielfach dazu ermuntert, sich mit der NS-Justiz zu beschäftigen. Eines Tages kam ein Student aus der Jüdischen Gemeinde zu uns und forderte, wir sollten doch endlich einmal eine Ringvorlesung zum NS-Recht machen. Wir waren dazu sofort bereit, sagten ihm aber auch, dass wir schon lange dazu Seminare angeboten hatten. Die Ringvorlesung kam dann 1987 zustande und wurde als Taschenbuch gedruckt. Kurzum: In Frankfurt gab es die Widerstände jedenfalls nicht, nach denen Sie fragten, aber ich kann mir durchaus denken, dass es in anderen, konservativeren Fakultäten vielleicht doch stärkere Vorbehalte gegen die Auseinandersetzung mit Recht und Justiz im Nationalsozialismus gab. Aber letzten Endes wurde das Thema doch überall zu einem etablierten und akzeptierten Gegenstand der Rechtsgeschichte. In Frankfurt konnten wir mit Hilfe der VolkswagenStiftung 1992 den ersten Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte einrichten. Ich war daran beteiligt und schlug vor, mit frei gewählten Vortragsthemen eine Frage vorzugeben: »Was ist und wozu studiert man Juristische Zeitgeschichte?« Aus den Vorträgen der sieben oder acht Bewerber ist dann sogar ein kleines Buch entstanden: Juristische Zeitgeschichte – ein neues Fach? (1993). Ein Zentrum für Juristische Zeitgeschichte, wie etwa an der Fernuniversität Hagen, ist daraus indes nicht entstanden. Rechtshistoriker sind auch zur Lehre im geltenden Recht verpflichtet, und sie wollen in der Rechtsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart alles abdecken. Da bleibt naturgemäß für die Zeitgeschichte nur wenig Raum. Der Frankfurter Historikertag von 1998 markierte den Beginn einer intensiven Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit. Sehen Sie da markante Unterschiede oder Gemeinsamkeiten im Vergleich mit den Debatten der Rechtswissenschaft? Ich habe die Diskussionen des Frankfurter Historikertags als verspätet empfunden. Vieles, worüber in Frankfurt verhandelt wurde, war doch seit dem Historikerstreit der achtziger Jahre hinlänglich bekannt. Dennoch haben wir in der Rechtsgeschichte natürlich mit Interesse beobachtet, wie etwa die Schüler von Theodor Schieder und andere mit der NS-Vergangenheit ihrer akademischen Väter umgingen. In der Rechtsgeschichte gab es kein solch einschneidendes Ereignis wie diesen Historikertag; sie besaß auch nie eine vergleichbare kritische Masse, aus der eine Großdebatte hätte hervorgehen können. 2012 ist der vierte und letzte Band Ihrer Geschichte des öffentlichen Rechts erschienen, der die Zeit der deutsch-deutschen Teilung behandelt. Darin verweisen Sie wiederholt auf die Untrennbarkeit von öffentlichem Recht und politischem Geschehen. Wie prägt

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dieses enge Verhältnis von Rechtswissenschaft und Politik die Arbeit eines Rechtshistorikers? Und welche Probleme ergeben sich beim Schreiben einer »Rechtsgeschichte, die noch qualmt«? Zunächst einmal gibt es da die subjektive Seite: Man schreibt über Ereignisse und Entwicklungen, die man selbst miterlebt hat – mehr oder weniger bewusst. Für jemanden, der 1961 mit dem Studium begonnen hat, war die frühe Bundesrepublik durchaus noch gegenwärtig. In meiner Schulzeit begann der Aufstieg des Bundesverfassungsgerichts, zu Beginn des Studiums trat 1960 die neue Verwaltungsgerichtsordnung in Kraft, 1976 die Teilkodifizierung des Verwaltungsrechts usw. Zeitzeugenschaft erweist sich beim Schreiben als Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil: Man kennt die Ereignisse, man kennt auch viele Akteure. Der Nachteil ist die subjektive Sichtweise, die mangelnde Distanz. Ich bin mir dieser Probleme natürlich bewusst und habe versucht, mich innerlich zu disziplinieren und die Dinge möglichst distanziert zu betrachten. Ob das gelungen ist, mögen andere beurteilen. Es gibt inzwischen durchaus unterschiedliche Stimmen zu dem Buch. Für die einen bin ich ein Linksliberaler, der sich mit deutlichen Positionsbestimmungen zu Dingen äußert, die er selbst erlebt hat. Andere betonen gerade, wie distanziert und quasi-objektiv jemand Entwicklungen analysiert habe, deren Zeitzeuge er war. Ein weiteres Problem ist die ungeheure Menge des zu behandelnden Stoffs. In das eigene Buch kann man unmöglich alles aufnehmen, was zu einzelnen Fragen geschrieben worden ist, schon weil die eigenen Kapazitäten begrenzt sind. Ich lese und schreibe alles allein, aus stilistischen wie moralischen Gründen. Übrigens habe ich mich auch erst nach langem Zögern dazu entschlossen, dem dritten Band noch einen vierten folgen zu lassen. Mit 1945 zu enden schien mir eine klare Zäsur zu sein. Als ich mich dann doch dazu durchgerungen hatte, den vierten Band in Angriff zu nehmen, war die Arbeitsbelastung im Institut so hoch, dass ich dafür sehr lange gebraucht habe. Hinzu kam die Erkenntnis, wie enorm sich das öffentliche Recht – anders als andere Rechtsgebiete – seit 1945 ausgeweitet hatte, auch personell. Nach dem Krieg gab es etwa 50 aktive Öffentlichrechtler, heute sind wir über 700. Die Gründe sind einfach: Wir haben einen Interventionsstaat, eine europäisierte und internationalisierte Rechtsordnung sowie einen Bedeutungszuwachs des Völkerrechts. Mit dieser Erweiterung der Perspektive und der Zuständigkeiten wächst das öffentliche Recht – formell, institutionell und personell – und differenziert sich aus: in Sozialrecht, Umweltrecht, Datenschutzrecht, Telekommunikationsrecht, Technikrecht und vieles mehr. Dies alles in einem Band zu bündeln ist praktisch unmöglich. Also arbeitet man mit kurzen Einblendungen, die vielleicht die Fachleute enttäuschen, aber für das Gesamtbild notwendig sind.

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Kann man inzwischen eigentlich von einer Globalisierung des Rechts sprechen? Ja, das kann man auf jeden Fall. Es lassen sich sogar verschiedene historische Phasen der Globalisierung unterscheiden. Die erste beginnt schlagartig 1492 mit der Entdeckung der Neuen Welt, mit der bald folgenden kopernikanischen Wende des Weltbildes und der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. Die zweite Globalisierung vollzieht sich mit der Industriellen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert. Ob man gegenwärtig von einer dritten Globalisierung durch die elektronische und digitale Revolution sprechen möchte, ist Ansichtssache – man kann sie auch als Fortsetzung, Intensivierung und Beschleunigung der zweiten Globalisierung betrachten. In jedem Fall wird heute die nationale Rechtsordnung von anderen Schichten überlagert und verändert. Das europäische Recht hat sprunghaft zugenommen. Zudem gibt es supranationales Recht nichtstaatlicher Herkunft. Großkonzerne setzen ortloses Recht – ohne jegliche rechtsstaatliche und demokratische Absicherung – und überziehen mit ihren Netzwerken die ganze Welt. Hier entstehen Normen, deren Legitimation schwach ist, die mit großen Rechtsschutzproblemen und mit der Ortlosigkeit der sie erzeugenden Netzwerke verbunden – aber enorm wirksam sind. Der Normalbürger ist damit überfordert, sich gegen die Folgen und Risiken dieser neuen Normensetzungen zu wehren. Ein neues Völkerrecht ist im Entstehen. Es muss sich mit neuen, anonymen Kriegsformen, Waffentechniken und mit neuen Menschenrechtsfragen beschäftigen. Auch ist fraglich, ob und wie die westlichen Menschenrechtskataloge in der asiatischen und der islamischen Welt akzeptiert und implementiert werden. Die interessanteste Frage für den Rechtshistoriker liegt hier darin, ob nun vormoderne, multinormative Rechtsstrukturen wiederkehren, die im 17. Jahrhundert mit Hilfe des homogenisierenden Staates einigermaßen vereinheitlicht und durch Rechtsstaat und Grundrechte gebändigt worden waren. Dann müssten sich unsere Anstrengungen fortan auf die Zivilisierung dieses neuen Rechtszustandes richten. Ist Europa aus Ihrer Sicht der einzige politische Akteur, der diesen globalen Konzernen der Medienrevolution derzeit noch Einhalt gebieten könnte? Entweder Europa oder der klassische Staat – aber beide sind wohl im Moment überfordert, weil ihnen die Mittel fehlen und weil die besagte Ortlosigkeit es ihnen außerordentlich schwer macht, die Akteure zu fassen. Georg Jellinek unterscheidet in seiner Staatstheorie drei Elemente: Staatsgebiet, Staatsvolk und – darüber, wie eine Käseglocke – die Staatsgewalt; ein System mit klar definierten Grenzen, mit Staatsangehörigkeiten und territorial begrenzten Rechtsnormen. Mit diesen Instrumenten kann man heute der Globalisierung nicht Herr werden. Also müssen sich Staaten zusammentun, wie etwa in der Europäischen Union, die aber ihrerseits wiederum Grenzen hat. Die Netzwerke der Kommu-

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nikation und auch des Krieges bereiten diesen territorial gebundenen Kräften enorme Schwierigkeiten. Die internationale Strafgerichtsbarkeit in Den Haag oder eine Exekutive, die man sich unterhalb der UNO vorstellen könnte, greifen entweder noch nicht richtig, oder es gibt sie noch nicht. Wir haben keine Weltregierung und werden wohl auch in absehbarer Zeit keine bekommen. Wir können nur auf das internationale Recht zwischen Staaten, Staatenverbünden und NGOs hoffen. Andere Schwierigkeiten kommen hinzu, etwa beim internationalen Umweltschutz. Es ist wegen der unterschiedlichen Interessenlagen extrem schwierig, gemeinsame Umweltstandards zu erreichen, und erst recht, sie durchzusetzen. Tankschiffe, die unseren enormen Energiebedarf decken, werden in Bangladesch unter inakzeptablen Bedingungen verschrottet – mit Einsatz von Kindern. Ebenso gibt es Kinderarbeit im Textilgewerbe, im Spielzeuggewerbe und vielen anderen Branchen, stets verknüpft mit der Billigproduktion in fernen Ländern und mit dem Argument gerechtfertigt, dass dies für das Überleben der Bevölkerung notwendig sei. Wir hören von unzähligen Konferenzen, aber die dort gefassten Beschlüsse werden nicht ausgeführt. Internationale Zwangsmittel zu ihrer Durchsetzung sind nicht vorhanden. Wenn es darum geht, die Politik zum Handeln zu bewegen, ist die Wissenschaft leider das allerschwächste Glied.Viele kluge Rechtswissenschaftler bemühen sich zwar derzeit sehr intensiv um die Frage der Folgen der Globalisierung für das internationale Recht, für die Durchsetzung der Menschenrechte, insbesondere der Rechte der Frauen, für den Umweltschutz usw. Ob die Europäische Union allerdings die erforderliche Geschlossenheit und Kraft aufbringt, den Ratschlägen dieser Wissenschaftler zu folgen, wird man sehen müssen. Wenn man davon ausgeht, dass im Grunde die gesamte europäische oder transatlantische Expansion darauf beruht, rechtsfreie Räume zu konstituieren und diese auszudehnen: Ist Jellineks Definition von den drei Elementen der Staatstheorie dann nicht eher der Ausnahmefall als die Regel? Rückblickend markiert Jellineks Allgemeine Staatslehre von 1900 den Endpunkt des klassischen Nationalstaats. Es gab klare Staatsgrenzen, die neuen postimperialen Nationen – etwa die Bulgaren, Rumänen, Griechen, Finnen und die baltischen Nationen – hatten sich etabliert. Nach damaligem Denken stand jeder ethnischen Einheit, jeder Nation ein eigenes Territorium zu, mit eigenen Grenzen, eigenem Staatsapparat, eigener Gesetzgebung. Diese Verfassungsbewegung prägte das lange 19. Jahrhundert, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Mit der Auflösung der Kolonialreiche veränderte sich die Situation dramatisch, aber auch dort wurde versucht, neue Staaten zu gründen, neues Staatsbewusstsein zu schaffen – sei es durch symbolische Aktionen, durch Gesetzgebung oder durch Abgrenzungskriege. Insofern ist das Ideal des territo-

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rial abgeschlossenen Nationalstaates keineswegs verschwunden. Auch in zahlreichen Mitgliedsstaaten der EU lebt dieses Nationalbewusstsein fort, zum Teil als heftiger Impuls. Die Nationalstaaten haben sich sogar in den vergangenen Jahrzehnten noch weiter vermehrt. Diese Entwicklung läuft parallel zur Auflösung anderer Grenzen, ebenjener zunehmenden Ortlosigkeit politischer und wirtschaftlicher Prozesse. Wie bewerten Sie die Rolle der Staatsrechtler in der Diskussion um den Artikel 23 des Grundgesetzes nach dem Fall der Mauer 1989? Gab es ein Schlüsselereignis, das erklärt, warum sich die These von der Alternativlosigkeit dieses Weges zur Einheit durchgesetzt hat? Oder war das ein schleichender Prozess? Der Artikel 23 GG, der den Beitritt weiterer Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte, war ursprünglich für das Saarland gedacht. Aus den frühen fünfziger Jahren ist aber die Äußerung des Verfassungsrichters Ernst Friesenhahn überliefert, der geradezu prophetisch darauf hinwies, dieser Artikel könne eines Tages wichtig werden und eine Brücke bilden, wenn nämlich einmal die DDR aufgelöst würde. Danach ist dieser Hinweis vergessen worden, und bald rechnete für viele Jahre niemand mehr mit einer Wiedervereinigung. In der lawinenartigen Entwicklung von 1989/90 stand man dann plötzlich vor dem Dilemma, dass es in der DDR gar keine Länder mehr gab, deren Beitritt man durch Artikel 23 hätte regeln können. Um dies dennoch zu ermöglichen, hat man die »toten« Länder einfach fiktiv wieder zum Leben erweckt. Entschieden wurde darüber im Bundeskanzleramt, unter Beratung einiger Staatsrechtslehrer. Ich war damals der Meinung, man sollte den Weg über den für diese Situation vorgesehenen Artikel 146 GG gehen, und ich hätte mir eine Volksabstimmung über diese Frage gewünscht. Die Ängste vor dem ungewissen Ausgang eines solchen Referendums waren aber ebenso groß wie die vor einer ausgedehnten Verfassungsdebatte, die den gesamten Prozess der Wiedervereinigung hätte behindern und verzögern können. Um dies zu vermeiden, entschied man sich für diesen schon Jahrzehnte zuvor gewiesenen Weg über Artikel 23, auch wenn er wegen der nicht mehr existierenden Länder in der DDR juristisch durchaus problematisch war. Spielte auch der »Geist von 1949« eine Rolle bei dieser Entscheidung, also die Angst vor einer gewissen politischen Unreife der Deutschen auf beiden Seiten? Man wusste viel zu wenig darüber, was die Bevölkerung der DDR über die Wiedervereinigung dachte. Die Bilder von den glücklichen Menschenmassen, die nach dem Fall der Mauer über die Grenzen strömten und in ihrer ersten Euphorie ja sagten zu der neuen Ordnung – vielleicht, so dachten sich damals wohl manche Skeptiker, entsprach das gar nicht der Mehrheitsmeinung, vielleicht mochten die Ängste vor dem Verlust von Arbeitsplatz und Besitz-

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ständen überwiegen. Schließlich fürchtete man eine lange Liste von Ergänzungswünschen von Seiten der »Runden Tische«, also letztlich ein Versäumen der historischen Chance, die Chance der Einheit zu nutzen. Solcherlei Bedenken sprachen aus Sicht der eher an der Erhaltung des Grundgesetzes interessierten Staatsrechtler für den sicheren und schnellen Weg des Artikels 23 GG. Diese Entscheidung war ja Ausdruck einer Tendenz, die das gesamte Wirken der damaligen Kohl-Administration bestimmte: die Vereinigung so rasch wie möglich durchzuziehen. War es aus Ihrer Sicht richtig, diesen historischen Moment – das berühmte »Fenster der Gelegenheit« – mit solcher Entschlossenheit und Geschwindigkeit zu nutzen? Meine Einstellung zur Wiedervereinigung war und ist uneingeschränkt positiv. Sie zu erleben gehört zu den glücklichsten Momenten meiner Generation, zumal wenn man familiäre Wurzeln im Osten hatte.Trotz meiner Kritik an der Umgehung des Artikels 146 GG neige ich inzwischen zu der Aussage, dass die Regierung Kohl damals fast alles richtig gemacht hat. Der außenpolitische Druck war groß: Margaret Thatcher war bekanntlich strikt dagegen, François Mitterrand war ebenfalls kein Freund der Wiedervereinigung, hat aber bald nachgegeben. Auch Michail Gorbatschow lag Deutschland nicht besonders am Herzen, er wollte jedoch Ballast abwerfen, da er selbst Probleme hatte, die er kaum noch meistern konnte. Insofern denke ich, dass die zehn Punkte, die Kohl im Bundestag vortrug, ausgesprochen wichtig und mutig waren. Der Weg der Wiedervereinigung, wie er ihn beschritten hat, mag im Nachhinein übereilt erscheinen, aber er war politisch-pragmatisch sicher richtig. Meine partielle Kritik am Prozess der Wiedervereinigung, wie ich sie im vierten Band der Geschichte des öffentlichen Rechts formuliert habe, bezieht sich deshalb nur auf die Wissenschaftsorganisation und auf die Selbstsicherheit, mit der die westdeutschen Fakultäten ihr juristisches Ausbildungsmodell auf die ostdeutschen Fakultäten übertrugen. Diese Universitäten wurden ohne viel Federlesens »gesäubert«, in vielen Fällen wohl mit Recht, in anderen eben nicht. An der Humboldt-Universität hat man versucht, eine ältere Fakultät mit neuerer Besetzung zu verschmelzen, aber dennoch mit westlichem Übergewicht. An anderen Universitäten wurden einzelne Wissenschaftler gehalten. Aber insgesamt ist man nach meinem Eindruck hier zu schnell vorgegangen. Ich war an solchen Evaluationen von Wissenschaftseinrichtungen kurzfristig beteiligt, weit über die Rechtswissenschaft hinaus, und habe erlebt, wie schnell dort entschieden wurde. Das fand ich schwer erträglich, weil man die Biographien der betroffenen Menschen überhaupt nicht kannte und auch gar keine Zeit hatte, sich mit ihnen zu beschäftigen. Ob es möglich gewesen wäre, diese Evaluationen mit mehr Zeit und Bedacht durchzuführen, mag offenbleiben.

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Natürlich darf man nicht vergessen, dass die DDR-Rechtswissenschaft in hohem Maße ideologisiert und politisiert und eine große Zahl dieser Professorinnen und Professoren einfach nicht mehr verwendbar war. Sie entstammten einer Generation, die noch in der stalinistischen Zeit eingesetzt worden und nun, Anfang der neunziger Jahre, am Ende ihrer Karriere angekommen war. Daher konnten viele Professoren einfach pensioniert werden. Aber ganz so scharf hätte der Bruch insgesamt nicht sein müssen. Eine starke, selbstbewusste Fakultät kann stets auch ein paar Figuren anderer Denkweise ertragen. Aber wie stark waren die Fakultäten, die damals aus dem Westen importiert wurden? West-Professoren, die an den Ost-Universitäten evaluierten, waren doch vielfach gar nicht diejenigen, die dann auch tatsächlich dorthin gingen, um die freigewordenen Posten zu besetzen. So mancher Privatdozent, der im Westen womöglich nie mehr reüssiert hätte, wurde im Osten Einigungsgewinnler. Im Mittelbau, der dort in stärkerem Maße erhalten blieb, sorgten manche dieser neuen Professoren aus dem Westen dann für böses Blut. So führte nicht nur die Abwicklung selbst zu Ressentiments, sondern auch das aus dem Westen importierte Personal. Ich möchte hier keine Personenbewertung betreiben. Aber diese Ressentiments hingen wohl auch damit zusammen, dass »wir« aus dem Westen den Wissenschaftsduktus des Ostens kaum verstanden. Es gab vor dem Fall der Mauer auch so gut wie keine Kontakte zwischen west- und ostdeutschen Rechtswissenschaftlern. Wir verstanden meist die politischen Verschlüsselungen der DDR-Wissenschaftssprache nicht. Innerhalb des von der SED abgesteckten Rahmens gab es immer gewisse Spielräume. In der Zeitschrift Staat und Recht konnte man es nachvollziehen: Wer etwa für eine modernisierende Maßnahme plädieren wollte, beschrieb eine in Ungarn oder in der UdSSR stattfindende Bewegung, die in der DDR noch nicht angekommen war. Oder man rezensierte in vordergründig aggressivem Tonfall ein – verbotenes – westdeutsches Buch, ließ aber Argumente aus diesem Buch einfließen, die auf DDR-Leser eine aufklärende Wirkung entfalteten. Die erwähnten sprachlichen Probleme führten auch zwischen den Studierenden im Osten und den neu berufenen Professoren aus dem Westen zu teilweise hochpeinlichen Verständigungsschwierigkeiten. Inzwischen sind wir am Ende dieses Transitionsprozesses angekommen: Die Generation der damals Berufenen aus dem Westen ist weitgehend pensioniert, und die Studierenden von heute wurden zur Zeit der Wiedervereinigung oder sogar danach geboren. Zum Abschluss eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft. Wo sehen Sie mögliche Brückenschläge zwischen beiden Disziplinen – oder anders formuliert: Wie viel Historiker muss in einem Rechtshistoriker stecken – und umgekehrt?

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Dazu habe ich eine dezidierte Meinung, die aber nicht alle Rechtshistoriker teilen: Rechtshistoriker sind Historiker. Sie befassen sich mit einem spezifischen Teilbereich der Geschichte, nicht anders als Wirtschafts- oder Sozialhistoriker. Sie bringen aus ihrer juristischen Vorbildung eine bestimmte Vorkenntnis und Perspektive mit. Darin liegt ein Vorteil, weil Rechtshistoriker juristische Probleme in der Vergangenheit besser erkennen. Darin liegt aber auch eine gewisse Gefahr, weil Rechtshistoriker ihre Kenntnis des geltenden Rechts zuweilen unbewusst in die Vergangenheit rückprojizieren. Aber methodisch arbeiten wir Rechtshistoriker wie andere Historiker auch. Historiker beschäftigen sich allerdings oft ungern mit Recht, weil es ihnen fremd ist und viel Einarbeitungsenergie erfordert. Rechtshistoriker wiederum vermeiden breite historische Darstellungen; denn sie fürchten, ihren Gegenstand – das Recht – aus dem Blick zu verlieren, wenn sie sich zu viel mit der Gesellschaft und den faktischen und ökonomischen Voraussetzungen des Rechts beschäftigen. Insofern haben beide Seiten ihre Probleme, sich einander zu nähern. Aber in den letzten Jahrzehnten hat sich sehr viel in dieser Richtung bewegt. Für viele Rechtshistoriker, auch für mich, sind die Historiker, auch diejenigen des Auslands, die idealen Partner. Wir verstehen uns einfach gut.

Das Gespräch mit Michael Stolleis fand am 7. Juni 2013 in der Fritz Thyssen Stiftung in Köln statt. Die Fragen stellten Philipp Heß, Annette Weinke und Norbert Frei. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Michael Stolleis, Nahes Unrecht, fernes Recht. Zur Juristischen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts: Vorträge und Kolloquien, Bd. 16), Göttingen: Wallstein 2014, S. 135–164.

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