Edmund Luft zum Gedenken: Dramaturg, Filmkritiker und Filmhistoriker, 15.5.1914–9.5.1995 [1 ed.] 9783428529858, 9783428129850

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Edmund Luft zum Gedenken: Dramaturg, Filmkritiker und Filmhistoriker, 15.5.1914–9.5.1995 [1 ed.]
 9783428529858, 9783428129850

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Edmund Luft zum Gedenken Dramaturg, Filmkritiker und Filmhistoriker 15. 5. 1914 – 9. 5. 1995

Herausgegeben von Helga Luft

a Duncker & Humblot · Berlin

Edmund Luft zum Gedenken

Edmund Luft zum Gedenken Dramaturg, Filmkritiker und Filmhistoriker 15. 5. 1914 ± 9. 5. 1995

Herausgegeben von Helga Luft

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet çber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

# 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatençbernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12985-0 Gedruckt auf alterungsbeståndigem (såurefreiem) Papier ¥ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Italien – einmal ganz anders. Prima Operazione. Ein venezianischesAbenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mechanik der Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Wie ich zum Film kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Italien – einmal ganz anders* Prima Operazione Ein venezianisches Abenteuer

Von Edmund Luft I. Als ich mitten in der Nacht aufwache, finde ich mich in einem Raum, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Undeutlich erkenne ich ein paar weiße Betten, ein schwarzes Kruzifix an der Wand. Vor mir im trüben Schein einer verhängten Lampe sitzt ein Mann, der mich aufmerksam beobachtet. Er trägt eine runde weiße Kappe auf dem Kopf. Komischer Traum, denke ich und will die Augen schließen, da erhebt sich der Unbekannte, gibt mit ein paar leichte, wohlgezielte Ohrfeigen und lächelt mir freundlich zu. „He, he, he“, sage ich, „nun mal langsam! Verrückt geworden?“ Er schüttelt den Kopf und tätschelt mir sanft die Backen. Ich will eine abwehrende Bewegung machen, aber ein brennender Schmerz an der rechten Körperseite läßt mich erstarren. Und plötzlich ist die Erinnerung da. Du hast eine akute Blinddarmentzündung! „Warum schneidet ihr nicht?“ sage ich hastig, „ich habe so starke Schmerzen!“ Der andere schüttelt den Kopf. Ich sinke zur Seite und versuche, mir über die Lage klar zu werden. Endlich fasse ich es. Der Mann dort versteht mich nicht. Ist ein Italiener. Mühsam klaube ich die fremden Worte zusammen. * 1954.

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„Perchè, – perchè non tagliate?“ stottere ich. „Ho tanto male! Dolori!“ Aha, da wird er lebendig. „Si, si, si“, flüstert er eindringlich, „niente paura, è già fatto, finito tutto, capisce!?“ Also, es ist ja alles schon erledigt, sagt er. Das Ding ist heraus. Alles in allem, so sinniere ich, eine schöne Bescherung, sinke beiseite und schwimme wieder hinüber in den Schlaf. Diese „schöne Bescherung“ gab es auf einer Reise nach Venedig. Sicher hat sich schon mancher unter den Tausenden von deutschen Italienreisenden gefragt, was mit ihm geschieht, wenn ihn im Süden sehr plötzlich eine gefährliche Krankheit befällt. Einer Antwort muß man eine allgemeine Warnung voranschicken. Jeder, der in die Ferne fährt, sollte sich bei seiner Krankenkasse darüber unterrichten, was er tun muß, um auch im Ausland versichert zu sein. Vorher! Sonst gibt es hinterher lange Gesichter und verdrießliche Auseinandersetzungen. Was nun die ärztliche Versorgung im Süden angeht, so braucht man im allgemeinen nichts zu befürchten. Italien hat eine Einrichtung, die unserer „Ersten Hilfe“ oder der „Rettungswache“ ähnelt: „Pronto Soccorso“. So gibt es auf den größeren Bahnhöfen ständig dienstbereite Stellen, die mit einem Arzt besetzt sind, und auch die Krankenhäuser haben ihren stetigen Bereitschaftsdienst. Als ich in meinem Hotel am Lido, der Badeinsel von Venedig, angekommen war und meine Blinddarmreizung mächtiges Dolchstoßformat annahm, rief ich das Zimmermädchen herbei und fragte nach dem nächsten Krankenhaus. „Das Ospedale al Mare (Hospital am Meer)“, sagte sie, „– zehn Minuten von hier, ein großes Krankenhaus, sauber und schön, mit einem berühmten Chirurgen, Professore Ciceri. Oh, er ist molto famoso! Ein tüchtiger Herzoperateur! Einer unserer besten. Fühlen Sie sich nicht wohl? Haben Sie’s vielleicht am Herzen?“ „Nein, seufzte ich, „es ist nur der Blinddarm.“ „Appendice!“ rief sie, „dafür ist unser Hospital großartig! Mein Blinddarm ist dort entfernt worden, der von meiner Tochter und der von meinem Mann, Gott habe ihn selig.“

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„Wieso selig?“ fragte ich, „ist er etwa bei der Operation –“ „Aber nein“, rief sie, „Sie brauchen keine Angst zu haben, unsere Ärzte sind hervorragend, sind alle bravi ragazzi, – tüchtige Burschen!“ „Na schön“, ächzte ich, „ich habe jetzt neununddreißigsechs Fieber, ich werde mal mit den tüchtigen Burschen reden.“ Tatsächlich, diese kleine Hospitalstadt am Meeresstrand ist hübsch. Der Bereitschaftsdienst und die Chirurgie finden sich nahe der Uferstraße in einem Palazzo mit weiten spiegelblanken Räumen. Die freundlichen heiteren Farben der marmor- und chromblitzenden Inneneinrichtung machen einen vertrauenerweckend modernen Eindruck. Über allem liegt der vorschriftsmäßige Duft von, na sagen wir, Sauberkeit und Frische. Der Arzt ist sofort zur Stelle. Er untersucht mich schweigend und sagt dann in freundlichem Deutsch: „Sie müssen bleiben hier! Wir machen sogleich Zack-Zack!“ „Wie denn – zack-zack“, sage ich, „wer soll das bezahlen?“ „Nix Geld!“ sagt er, „Geld nix wichtig, wenn Läbänsgefahr! Wir gehen zu Ihre Konsulat und nehmen das Geld!“ „Werden die sich aber freuen“, sage ich, „und später werden sie bei mir kassieren. Kennen Sie den fröhlichen Leibspruch der Konsularbeamten? Gott schütze uns vor Regen und Wind – und Leuten, die im Ausland sind. – Ich bezahle gleich hier, bar Kasse.“ „Ist uns alles egal“, sagt er lachend und holt den Chirurgen. Der ist ein symphatischer junger Mann von sportlicher Tatkraft. Er beugt sich über mich. Zwei Goldmünzen schimmern an seinem Hals. Ich erkläre ihm auf italienisch, was mich schmerzt und er greift zu. „Himmeldonnerwetter, au Backe, Mann – tut das weh!“ „Er schimpft in seiner Sprache“, höre ich den Chirurgen sagen, „da hat er bestimmt große Schmerzen.“ Dann noch ein prüfender Blick. Ein Ruf nach draußen: „Preparare!“ Fertig machen! Ein eiliger Mechanismus setzt sich in Bewegung. Ich werde umgelegt und präpariert. Ein Buchhalter erscheint vor mir und

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verlangt meinen Paß und die Heimatadresse. Er lächelt freundlich. „Sind Sie vielleicht aus Wetzlar?“ fragt er in ausgezeichnetem Deutsch, „wissen Sie, in Wetzlar war ich in Kriegsgefangenschaft, zwei Jahre, oh es war furchtbar, die schlimmste Zeit meines Lebens. Wollen Sie vielleicht Ihr Testament machen? Ich meine, haben Sie noch etwas? Einen letzten Willen?“ „Nein“, stöhne ich, „aber geben Sie immerhin den Schreibblock herüber, für ein paar Zeilen an meine Hinterbliebenen!! „Ich werde alles genau besorgen“, sagt er, „dieses ist ein gutes Krankenhaus.“ Als ich zum Operationssaal gebracht werde, geht ein kleiner Junge im Pyjama neben dem Fahrgestell her. Er guckt unter einer dicken Haube aus Verbandsstoff hervor. Das einzige deutsche Wort, das er kennt, lautet „ja“ und er vollbringt damit eine wahre Meisterleistung. „Tedesco!“ (Deutscher) ruft er, faßt meine Hand und sagt „Jaja-ja“ in absteigender Tonfolge, und ich weiß, das heißt: so ist das Leben, da kann man nichts machen. Dann zeigt er zum Operationsraum, hebt den Finger und sagt „Ja – jaah“, das bedeutet: aber die da werden alles in Ordnung bringen, „jaja!“ – ganz bestimmt, nur keine Sorge. Und drückt mir noch einmal die Hand und sagt: „Auguri, tedesco!“ – Alles Gute, Deutscher! Dann ist es soweit. Ich sehe durchs Fenster über die Lagune, die Silhouette Venedigs zeichnet sich am glühenden Abendhimmel ab, da schiebt sich der Kopf eines Assistenten ins Bild. Er hält die sterilen Gummitatzen hoch, „prima operatione?“ fragt er, – Ihre erste Operation? Ich nicke und spüre den Einstich der Evipan-Nadel. „Auf Wiedersehen, mein Freund!“ sagt er auf deutsch und seine Augen funkeln vergnügt. „Nun aber los“, sagt ein anderer und zieht mir das dunkle Tuch über den Kopf. Prima operatione, denke ich im Einschlafen, „prima“? Na hoffentlich.

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II. Als ich am nächsten Morgen bei strahlender Sonne erwache, blicke ich in die Augen von fünf Leidensgefährten, die mich prüfend mustern. „Posen?“ fragt einer von gegenüber, „Stettin? Bremen? Amburgo?“ „Was soll’s?“ sage ich, „vielleicht versucht ihr es mal auf Italienisch!“ „Ach so“, sagt er, „wollte nur wissen, aus welcher Stadt Sie kommen. Posen? Bremen? Da war ich als Gefangener. Das war eine böse Zeit!“ Und dann wendet er sich an die anderen und sagt: „Marmelade, schwarzes Brot, ein schrecklicher Kaffee und brrr! Immer Kartoffeln! In Deutschland! Furchtbar!“ „Ja“, sagt mein Nachbar, „in Italien gibt es das beste Essen von der Welt. Deshalb kommen so viele Fremde zu uns, jedes Jahr, soviel Deutsche.“ Ehe ich mich noch von meinem Staunen erholt habe, eilt ein Krankenpfleger herbei und steuert strahlend auf mich zu. „Wie geht’s?“ ruft er auf deutsch mit knappem, militärischem Tonfall. Er gibt mir ein Glas Limonade und sagt lächelnd dazu: „Ein Lied – drei, vier!“ „Was soll der Unsinn?“ frage ich. „So sagt man doch?“ meint er in breitem Venezianisch, „so haben sie immer gerufen, wenn sie hier unten vorbei marschiert sind. „Ein Lied! Drei! Vier! – Die Deutschen“, so fügt er erklärend hinzu, „singen ihre Lieder nicht richtig, es ist mehr eine Art von Rufen“ und dann intoniert er auf den Text o-li, o-le, o-la einen zackigen Marsch. „Simmt’s?“ sagt er am Ende, „das ist ein berühmtes deutsches Lied.“ Natürlich habe ich ihn sofort erkannt, den Refrain von EinHeller-und-ein-Batzen, aber ich murmle gemächlich: „Mag sein“, und schaue mich in der Runde um und sage:

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„Na, Freunde, ich merke schon, an Gesprächsstoff wird es uns in den nächsten Tagen nicht fehlen! . . .“. Es werde viele Tage. Mehr als ich gedacht habe. „Ja, Verehrter!“ hat mein „Messerheld“, der tüchtige Dottore Sylvestri am Tage nach der Operation gesagt, „– das war ein handfester Herd und eine Perforatione, ein Durchbruch! Damit kommen Sie nach Italien! Das wird nun seine Zeit brauchen!“ Und lachend, mit einer weiten Geste zum Fenster: „Hoffentlich gefällt Ihnen dieser Erholungsaufenthalt am weltberühmten Lido!“ Nun, Spaß beiseite, ich sehe mich um und in gewissen Grenzen gefällt es mir recht gut. Das „Ospedale al Mare“ besteht aus etwa einem Dutzend großer Gebäude und bietet 2000 Patienten Platz. Das medizinische und sonstige Pflegepersonal umfaßt 600 Menschen, nicht gerechnet die Schwestern vom Orden des Hl. JesuKindes, die hier die Wirtschaft versehen. Unsere kleine Stadt hat eine Kirche, eine Apotheke, einen Kinosaal und eine alkoholfreie Trattoria. Über den weiten Sandstrand blickt man auf das Meer hinaus; oft ziehen die Schiffe ganz in der Nähe vorüber und man hört ihre warnenden Sirenen, denn dieser Teil der Insel liegt dicht in der engen Einfahrt zum Hafen von Venedig. „Unser großes Tal der Tränen“, sagt der Krankenpfleger Mario und weist auf die Nachbargebäude. „Ihr seid hier nur im Tal des kleinen Kummers. Ihr werdet operiert und geht nach zwei, drei Wochen wieder nach Hause. Die dort aber tragen of ein schweres Schicksal.“ Ich erfahre, daß hier viele „Tibitschi“-Kranke Heilung suchen. Tbc: mit See, Sand und Sonne wird die Knochentuberkulose behandelt. Wenn morgens und abends die Holzpantinen auf dem Steinboden klappern, blicke ich in den Hof hinab. Da gehen die Kinder zur Kirche. Ich sehe blühende junge Mädchen mit amputierten Gliedern. Kinder auf Krücken. Ein Tal der Tränen. Aber die strahlende Sonne duldet keine Tränen. Ein Glanz der Heiterkeit, des Lebenswillens liegt über allem. Das vitale Temperament dieser Menschen prägt jedes Ereignis. Dieses Hospital besticht durch aufmerksame Pflege, gutes Essen, durch muster-

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hafte Ordnung und Sauberkeit, – doch auch der Lärm hat sein besonderes Format. Der Steinboden läßt jeden Laut verstärkt widerhallen. Auch kranke Italiener sind wenig geräuschempfindlich. Ihre Aufgeschlossenheit, ihre Freude an der Diskussion, an jeder Art von Kundgebung, nimmt alles wahr. Es bleibt nichts unbesprochen, nichts unberufen. Ein Rumoren liegt über der kleinen Stadt und nur tief in der Nacht und um Mittag, zur geheiligten Siesta, herrscht Stille. „Edmondo, warum ziehen Sie sich die Decke über den Kopf?“, rufen sie. „Weil ihr euch schon seit zwei Stunden über Antonios Leber streitet!“ „Ja, streiten wir uns denn?“ antworten sie lachend, „das haben wir gar nicht gemerkt.“ Das sind sie, meine „Leidensgefährten“. Antonio, der Mechaniker, mit der kranken Leber. Nino, Metallarbeiter und treuer Leser der kommunistischen „Unita“, – Magengeschwür. Emilio, ein Fischerjunge mit Kopfverband. Ihm drang eine Harpune in die Stirn. Dann ist da noch Aldo, der Maurer, der vom hohen Gerüst fiel, und schließlich Giuseppe. Sie alle sind meine Freunde, Giuseppe aber ist der beste unter ihnen. Vielleicht deshalb, weil ich ihn beinahe so sehr verkannt habe. Er ist ein kräftiger, untersetzter Boxertyp mit einem lauernden Blick und einer scharfen, eindringlichen Redeweise. In seinem massiven Gehabe drückt sich eine gewisse aggressive Weltverachtung aus. Vorsicht! dachte ich, als ich ihn zum ersten Male sah. Das war, als er kurz vor der Operation stand und der Franziskanerpater zur Beichte kam. Sie dauerte geraume Zeit und „wer viel sündigt, muß viel beten“ zischelte der Krankenpfleger. Am Abend kamen Giuseppes Freunde. Das waren Gestalten wie er, Männer mit stechendem Blick und mächtigen Fäusten. Ich hörte sie flüstern: „. . . hat es erwischt . . . schwerer Fall . . . also morgen nicht . . . nur keine Angst . . . machen wir schon . . .“, und so einiges mehr. Was sind das für Kameraden, diese dunklen Muskelmänner mit dem verdächtigen Gebaren?, so überlegte ich. Und ich dachte an

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finstere Taten in Venedigs engen Gäßchen und schweigsamen Kanälen. Als er am nächsten Morgen zum Operationssaal abgefahren war, fragte ich die anderen: „Was ist eigentlich dieser Giuseppe von Beruf?“ Sagten die: „Kriminalbeamter! Gestern Abend waren seine Kollegen hier, sie wollen heute Nacht an seinem Bett wachen, alle von der Geheimpolizei!“

III. Einige Tage später, als es Giuseppe etwas besser geht, kommen wir ins Gespräch. Es ist ein langweiliger Abend. Krankenhausstimmung. Wir lehnen in unseren Kissen und starren vor uns hin. Die anderen schlafen. Ich greife zur Weinflasche und gieße mein Glas voll. Giuseppe schaut aufmerksam zu, wie ich trinke. Seine Augen treten aus den Höhlen. „Kamerad“, japst er, „gib mir einen Schluck!“ „Der Himmel soll mich strafen, wenn ich dir Wein zu trinken gebe“, sage ich, „deine Magenoperation wäre sinnlos. Das mußt du verstehen.“ „Wer spricht von trinken“, entgegnet er eifrig, „schmecken will ich ihn! Ach, Wein! Das kannst du mir nicht antun. Mir, dem Sohn eines Schankwirts!“ „Na, denn prost“, sage ich, „aber vorsichtig, alter Saufaus!“ und reiche ihm den Fiasco hinüber. Er nimmt einen mächtigen Schluck, behält ihn eine Weile im Munde, mit seligem Gesicht. Dann spuckt er den Wein in die Bettpfanne. „Wohl bekomm’s!“ sage ich, „ihr habt also zu Hause eine Kneipe?“ „Ja“, sagt er „ich stamme aus den Bergen. Meine Familie hat das Wirthaus im Dorf, schon seit ewigen Zeiten. Ein kleiner ärm-

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licher Albergo. In so einer Gegend ist nicht viel zu verdienen. Und mein Vater ist ein alter Mann. Aber jetzt hat mein Schwager Andrea den Laden übernommen und bringt Schwung hinein. Er holt Fremde heran. Touristen. Deutsche vor allem.“ „Wie macht er das?“ frage ich neugierig. „Weiß nicht“, meint Giuseppe lächelnd, „aber offenbar fällt es ihm nicht schwer. Er ist ja selbst ein Deutscher!“ „Ach nee“, sage ich, „schau mal einer an! Wie habt ihr den Vogel gefangen?“ Giuseppe lacht, verzieht sogleich schmerzvoll das Gesicht und legt erschrocken die Hand auf den Leib. „Vorsichtig! Die Wunde!“, rufe ich, „nicht lachen!“ und beiße mir auf die Lippen. „Meine Schwester Marisa hat den Vogel gefangen“, sagt Giuseppe mit mühsamem Ernst, „im Jahre 1943 kam er angeflattert, als Soldat. Seine Kompanie lag lange in unserem Dorf. Andrea ist auch ein Gastwirtssohn. Er kam jeden Abend in unsere Kneipe. Ich denke, er fühlte sich bei uns ein wenig wie zu Hause. Ein großer, blonder Kerl. Lernte blitzschnell Italienisch und sprach alles so komisch aus. Und war immer so lustig. Auch die Leute aus dem Dorf mochten ihn gern. Er stammt von da oben, vom Mare Baltico.“ „Aha“, sage ich, „vom Ostseestrand. Ein Pommer? Ein Mecklenburger?“ „Weiß nicht genau. Da irgendwo aus dem kalten Norden. Eine Gegend, wo die Leute viel trinken und auch viel vertragen und wo man heute nicht mehr hin kann.“ „Dann ist euer Andreas ein Ostpreuße“, sage ich. „Das möchte ich wirklich gern sehen, wie sich der bei euch ausnimmt!“ „Alle haben ihn gern!“ sagt Giuseppe stolz und schweigt einen Augenblick nachdenklich, „– vielleicht weil er uns soviel Sorgen gemacht hat.“ Ich nicke ihm aufmunternd zu. „Hm“, beginnt er, „ich sagte damals: Marisa, sagte ich, du brauchst nicht so die Augen zu verdrehen, wenn dieser Deutsche

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herein kommt. Daraus wird nichts! – Aber da war es schon zu spät. Die Natur ist nicht aufzuhalten, verstehst Du?“ „Ich beginne zu begreifen“, sage ich, „sie liebten sich – mit Konsequenzen. Und sie heirateten, bravo!“ Aber Giuseppe schüttelt den Kopf. „Nicht so schnell! – Ja, es gab eine fröhliche Verlobung. Warum nicht. Es muß ja nicht unbedingt ein Italiener sein. Und dann kamen wie ein Donnerschlag die Ereignisse vom Herbst 43. Ich ahnte schon lange, daß das nicht gut gehen konnte. – Andrea, sagte ich, der Krieg ist hier gleich zu Ende. Hoffentlich ziehen sich die Deutschen über die Alpen zurück. Und du steigst jetzt schon aus! Ich bringe dich zu Onkel Mario, auf den einsamen Hof hoch in den Bergen. Da bleibst du, bis alles vorüber ist. – Aber Andrea wollte nicht. Er fabulierte von seiner Pflicht. Es kostete ihn viel Überwindungskraft. Aber dann ging er. Ich verstand ihn.“ „Giuseppe, das ist eine traurige Geschichte!“ sage ich. „Ja, er brachte viel Leid über uns. Marisa war tapfer. Sie brachte den kleinen Andrea zur Welt, ging zum Onkel auf den Einödhof und blieb dort. – Von dem großen Andrea hörten wir nur noch einmal, da war er bei Nettuno. Ich dachte, wir würden ihn niemals wiedersehen. – Die Monate, die Jahre vergingen. Marisa sagte: ich warte, entweder ist er tot, dann werde ich es erfahren, – oder er wird zurückkehren. Denn er hat es versprochen. Und er wird sein Wort halten. Er ist ein deutscher Hartschädel. – Gut, was soll ich dir sagen, im Sommer 46 bin ich wieder mal zu Hause und sitze in der Kneipe, döse vor mich hin und denke über unseren Familienkummer nach, – da kommt ein Franziskaner herein. Schaut sich freundlich um, und ist sehr aufmerksam, wie einer, der was kontrolliert und sucht. – Na, er setzt sich, ich gebe ihm zu trinken und er erzählt, daß er auf Reisen nach dem Norden sei, mit manchem Auftrag, es ist noch soviel Durcheinander auf der Welt, ja, ja, und sagt plötzlich: Signora Marisa, ist sie hier? – Pater, frage ich, woher kennen sie meine Schwester? – Eh! ruft er, ich kenne sie nicht, und weiß doch alles. Ich habe eine gute Nachricht für sie. Eine Nachricht von Andrea! . . . Mich traf es wie ein Schlag. Andrea! Er lebt! Und ich stürze auf den Mönch los, er-

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zählen soll er. Und er lächelt und sagt: Bei uns ist er, euer Kriegsmann, in unserem kleinen Kloster an der Küste. Den Amerikanern ist er entwischt. Eines Morgens hockte einer in der Kapelle und unser Bruder Pförtner dachte, der betet, aber er war so zusammengesunken – und als man ihn berührte fiel er erschöpft zu Boden. Er hat uns dann alles erzählt, ganz genau, denn unser Bruder Pförtner ist ein halber Austriaco und versteht auch deutsch. – Erst wollten wir diesen Andrea wieder fortschicken. Aber dann dachten wir, es sei richtig, zunächst Signora Marisa zu fragen, vielleicht weiß sie etwas Besseres. Und da bin ich nun und Andrea sitzt in einer unserer Zellen, ein guter Mensch, weiß Gott, und was machen wir nun?“ Giuseppe schweigt und lächelt vor sich hin. „Donnerwetter“, sage ich, „Giuseppe! Was habt ihr unternommen? Das war doch eine heikle Geschichte! Du, ein Diener des Staates, und der entlaufene Kriegsgefangene, beinahe ein amtlicher „Feind“, dazu dein Schwager und Freund!“ „Eh, niente“, sagt er, „Verfügungen und Vorschriften sind dazu da, daß man ihnen einen persönlichen Sinn gibt. Manchmal ist das Gegenteil gerade das Richtige. Ich bin natürlich hingefahren und wir haben geweint vor Freude und ich habe ihn nach Hause geholt, auf unsern Hof in den Bergen. – Sie haben in aller Stille geheiratet und sind dann langsam zu Tal gestiegen, so – verstehst du, daß es kein Aufsehen gab. – Einmal ist er noch wieder davon gefahren, der unruhige Geist, nach Deutschland, ganz hinauf zum Mare del Nord, wo jetzt viele seiner Landsleute wohnen. Aber er kam bald zurück. Sie hatten ihn nicht mit Blumen empfangen. Es muß trübe ausgesehen haben, da oben. Ich wollte das nur genau wissen, sagte er, als er wieder vor uns stand, hier bin ich nun und wenn ihr mich noch haben wollt, dann bleibe ich hier. Hier ist jetzt meine Heimat, mein Zuhause. – Ja, und dabei blieb es wirklich, zu seinem Glück – und zu unserem.“ Giuseppe nickt mir zu und lehnt sich in die Kissen zurück. „Das ist eine Geschichte, die mir sehr gefällt“, sage ich, „amor vincit omnia oder: alles Getrennte findet sich wieder! Möge der Himmel deine Leute segnen, die tapfere Marisa und den kleinen Andreas und auch den großen – den Hartschädel, meinen Landsmann.“

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„Die Madonna möge auch die Deinen behüten“, sagte Giuseppe, „und ich denke, wir wollen jetzt schlafen!“ Und so geschieht es.

IV. Die Italiener sind geborene Komödianten und die schlechtesten Schauspieler der Welt, hat einmal ein Kritiker gesagt. Dieser in seiner Verallgemeinerung und absichtsvollen Überspitzung kaum haltbare Satz birgt immerhin ein kräftiges Salzkorn, das da genügt, um die Wahrheit zu würzen. . . Nino gehört zu jenen dunklen, sehr südlichen Figuren, die viele Deutsche als „typisch italienisch“ empfinden. Er ist vigilant, hellwach, vif, ein wenig Zappelphillip, ein wenig Charmeur. Die elegante Pose scheint ihm angeboren. Vieles, was er schwungvoll gestikulierend und mit modulationsreicher Stimme vorbringt, erinnert auf verblüffende Weise an eine muntere Goldoni-Inszenierung. Man braucht sich nur noch die entsprechenden Kostüme vorzustellen und die Comedia ist fertig. Erster Akt: Nino hat seine Pyjama-Hose an den Fensterladen gehängt und damit seiner Geliebten das Zeichen gegeben, daß er die Magenoperation glücklich überstanden hat. Sie schlüpft rasch, leise ins Hospital und eilt ins Zimmer. Es ist eine „bella bionda“, eine Blondine vom nördlichen Typ, der genaue Gegensatz von Nino. Sie stürzt zu seinem Bett. „Liebster!“ – Er, ein tapferer, leidender Held, umfaßt sie mit seelenvollem Blick, seufzt: „Du!“ Wir anderen wenden uns diskret ab. Sie flüstern lange, leidenschaftlich, oft gleichzeitig, es gibt unendlich viel zu erzählen. Dann werden die Stimmen plötzlich lauter und lauter. Die hastigen Worte überschlagen sich. „Du hast also zugelassen, daß meine Schwester dich besucht“, knirscht Nino mit mühsam unterdrückter Explosivgewalt, „und das in Begleitung ihres Freundes, dieses elenden Piero?!“ Die Bionda schickt einen Blick zur Decke und setzt zu einem großen Lamento an, aber Nino schneidet ihr das Wort ab.

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„Und dann bist du zur Arbeit gegangen und hast die beiden in deiner Wohnung allein gelassen!“ Die Bionda windet sich. „Ja, was denkst du denn, was die beiden da gemacht haben?“ Die Bionda zuckt mit der Schulter, lächelt verschmitzt, schaut ihren Patienten liebevoll an und flüstert: „Ach, Nino, was wir auch immer tun, wenn wir allein sind.“ Da richtet er sich auf und in seinem Gesicht flammt es: „Und das hältst du für richtig?!“ Die Bionda wirft den Kopf in den Nacken, erhebt sich und schwebt tränenden Auges davon, verfolgt von den Dolchblicken des Geliebten. Zweiter Akt: Die Besuchszeit naht. Nino setzt sich in Positur. Er lehnt in den Kissen wie Lazarus. Sein Haupt fällt matt zur Seite. Die Mutter, eine rassige Venezianerin, tritt ein. Liebevoll betrachtet sie ihren Sohn. Nino macht zur Begrüßung ein müdes Zeichen mit der Hand. Mama kennt ihren Jungen. „Laß dich nicht so gehen“, sagt sie, richtet seinen Kopf gerade und streicht zärtlich über seine Stirn. Neue Gäste treten ein. Die jüngere Schwester, zwei Brüder, die ältere Schwester, begleitet von jenem elenden Piero. Er erhält einen kalt funkelnden Blick der Verachtung. Nun treffen noch ein Onkel, eine Tante mit ihren Töchtern und zwei alte Frauen aus der Nachbarschaft ein. Dichtgedrängt, schweigend, umstehen sie andächtig das Bett. Auch Nino, der Leidgeprüfte, spricht nicht. Nur ab und zu öffnet er die Augen und blickt sie alle an mit dem Ausdruck eines sterbenden Rehs. Jetzt geht ein Raunen durch die Menge: „Papa kommt!“ Der Vater, ein greiser, bäurischer, treuherzig blickender Mann, tritt ein und macht zunächst nach allen Seiten höfliche Verbeugungen. Dann geht er zum Bett seines Sohnes und schaut ihn prüfend an. Lastende Stille. Da erhebt Nino die Hand, deutet auf seine Magengegend, hebt einen Finger, macht dann eine verneinende Bewegung, zeigt drei

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Finger und sinkt dann wieder beiseite. Die Bedeutung dieses gestischen Telegramms ist allen klar: Nicht ein Magengeschwür war es! Nein, es waren drei! Alle sehen sich entsetzt an. Die Frauen schlagen erschreckt die Hand vor den Mund. In Papas Auge schimmert eine Träne. Die Mutter lächelt etwas gequält. Sie kennt ihren Jungen . . . Da, auf dem Höhepunkt der weihevollen Stimmung, erscheint die Krankenschwester. Mit kühlem Blick überschaut sie die Szene, mustert die Hauptdarsteller und die zahlreichen Statisten, rasselt ein wenig mit ihrem großen Schlüsselbund, weist dann einladend nach draußen und sagt laut und deutlich: „Troppo gente!“ Zuviele Leute. Ihr Auftritt wirkt etwa so, wie das Erscheinen eines Bühnenfeuerwehrmanns, der bei einer rührenden Opernszene versehentlich aus der Kulisse tritt und „Feierabend!“ sagt. Heiterkeit und allgemeine Ernüchterung breiten sich aus. Das Volk verläßt, nach allen Seiten gute Besserung wünschend, das Zimmer. Als alle gegangen sind, wird Nino wieder munter, richtet sich auf, sagt „eh, dunque!“ (na, also dann . . . ), ergreift seine Zeitung und vertieft sich in die weltpolitischen Konflikte. Dritter Akt: Gegen Abend. Nino läutet die Alarmglocke. „Ich habe Magenschmerzen!“ ruft er der Schwester entgegen. „Das dachte ich mir schon!“ sagt die, „Sie hatten zuviel Besuch. Also – Schlauch!“ Nino erblaßt. „Ich will eine Pille!“ ruft er. „Schlauch!“ sagt die Schwester. Und schon ist der Apparat da. „Atmen, schlucken, atmen, schlucken“, befiehlt die Schwester und steckt ihm den dünnen Gummischlauch zur Magenspülung in den Schlund. „Mangiare, essen wie Spaghetti!“ ruft sie und Nino würgt, Gesichter schneidend, die Gumminudel hinunter. „Ich werde nie wieder Schmerzen haben“, schwört er, als die Prozedur zu Ende ist und greift zur Zeitung. Wenig später spricht die Schwester draußen auf dem Korridor den Abendsegen. Stille breitet sich aus. Man hört nur noch die klaren Worte der Gebete.

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„Mama mia“, sagt Nino, „Das war ein anstrengender Tag“, legt seine kommunistische „Unità“ beiseite, faltet die Hände und betet das Ave mit. V. Emilio, der Fischerjunge, ist ein feuriger Bursche. Es ist nicht aus ihm heraus zu bekommen, auf welche abenteuerliche Weise die Harpune in seine Stirn, statt auf einen Fisch, geschossen wurde. Jedenfalls muß es ein turbulenter Vorfall gewesen sein. Eines Tages lehnen wir an einem sonnigen Fenster im Korridor und blicken auf die Straße hinunter. Ein paar Musikanten, junge Burschen, haben sich vor dem Nachbargebäude aufgestellt und bringen einer unsichtbaren Signorina ein Schlager-Ständchen. Die jungen Herren sind sichtlich sehr ausgelassen und finden sich großartig. „Katzenmusik!“ sagt Emilio verächtlich, „Angeber! Guck nur, wie sie tänzeln, diese gesunden Affen!“ Ein älteres Ehepaar geht vorüber. Der grauhaarige Herr trägt einen schwarzen Hut mit grünem Band. Ein Fotoapparat hängt auf seiner Brust. Die Dame trägt etwas, das man in Deutschland „Schneiderkostüm“ zu nennen pflegt. An ihrem Arm baumelt eine Basttasche mit der gestickten Aufschrift VENEZIA. – Landsleute! denke ich. Da sagt Emilio: „Das sind Deutsche, diese beiden.“ „Woher weißt du?“ frage ich. „Man sieht es. An allem“, sagt er, „am Schnitt der Kleidung. Und am Blick. Sie haben so eine träumerische Art, sich umzusehen. Sie besichtigen alles, weißt du. So gehen sie auch immer herum, wenn sie zu uns nach Chioggia kommen.“ „Ah“, sage ich, „aus Chioggia bist du? Jetzt wird mir vieles klar. Ihr seid besonders temperamentvolle Leute, nicht wahr? Euer venezianischer Theatermeister Goldoni hat ein herrliches Stück geschrieben: „Le baruffe chiazzote“ – „Die Rauf- und Schreihändel von Chioggia“ – auch Goethe erwähnt sie mit heiterer Bewunderung.“

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„Von Goldoni weiß ich“, sagt er lächelnd, „aber wer ist dieser andere, wie heißt er? Na egal, jedenfalls mit unserem Geschrei ist es nicht so schlimm. Immerhin, wenn wir mal richtig in Fahrt kommen . . .“. „Goethe lobt euch sehr“, sage ich, „– im übrigen, findest du nicht, daß diese Musikanten da unten zur Plage werden?“ „Der Himmel weiß es!“ sagt Emilio mit funkelnden Augen, beugt sich aus dem Fenster und ruft: „He, he, he, ihr Schlappmäuler! Wollt ihr wohl endlich mit der Katzenmusik aufhören?! Habt ihr Schnecken nicht begriffen, daß dies ein Krankenhaus ist? Ihr macht Krach, ihr Affen, zur Mittagszeit, wo jeder seine Ruhe will. Oijoijoijoi, ihr lächerlichen Strandräuber!“ Die Musik hat aufgehört. Von der Straße schallen Flüche. Die erregten Stimmen kippen über. Emilio beugt sich ganz weit aus dem Fenster. Mit seinem Verbandsstoff-Turban, mit der Adlernase und den feuersprühenden Augen sieht er aus wie ein ergrimmter orientalischer Palastwächter. Seine Hände sägen durch die Luft. „Ihr faulen Fische, ihr unglaublichen Musikaffen, zieht Leine! Haut ab, alberne Kamele! Madonna, wie sie glotzen! He, he, Laffen, Blödmänner, Seegurken, Tomatenköpfe – springt mir ins Maul, ich spuck euch nach Hause!“ Ha, das sitzt! Mit einem Blickgefunkel aus Erschrecken und Wut zieht sich der Gegner murrend zurück. Wir haben gesiegt. „Ecco“, sagt Emilio lachend, „da gehen sie hin, die Narren!“ „Großartig, Emilio“, sage ich bewundernd, „ich habe jetzt wahrhaftig einen Eindruck, wie die „Rauf- und Schreihändel von Chioggia“ ausgetragen werden . . . „Das war doch noch gar nichts“, meint Emilio vergnügt, „auf der Gegenseite hätten nicht solche Laumänner sein dürfen!“ Sono I Tedeschi un Popolo Crudele? So lautet eine Schlagzeile im „Gazettino“, der Tageszeitung von Venedig, – Sind die Deutschen ein grausames Volk? Der so attraktiv überschriebene Artikel beschäftigt sich mit den Erfahrungen, die die Welt während der Nazi-Zeit mit den Deut-

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schen gemacht hat. Er kommt zu der freundlichen Erkenntnis, daß Brutalität und Grausamkeit nicht vom Charakter eines Volkes herrühren, sondern vom System, unter dem es lebt; die Diktatur, so wird überzeugend dargelegt, sei der Verderber der Menschlichkeit. Ich wundere mich nicht über diesen „Aufmacher“. Dergleichen erscheint heute in ausländischen Zeitungen noch häufig. Meine italienischen Gefährten allerdings sehen mit sichtlichem Unbehagen, daß ich den Artikel aufmerksam studiere. „Eine ganz unnötige Sache“, sagt einer. „Möchte wissen, warum so etwas noch gedruckt wird. Man weiß es doch längst.“ „So denkst du“, sage ich, „aber vielleicht kennen die Redakteure dieser Zeitung deine Landsleute besser?“ Er schweigt und wiegt nachdenklich den Kopf. In dieser Geste, so scheint mir, ist viel von dem enthalten, was Italiener äußern, wenn das Stichwort „deutsch“ fällt. VI. Wenn unsere deutschen Ferienreisenden nach Hause zurückkehren, berichten sie meist davon, daß wir im Süden wieder als sehr geschätzte Gäste gelten. Das stimmt. Von den Angehörigen des Gaststättengewerbes oder sonstigen Leuten, die mit dem Fremdenverkehr zu tun haben (und das sind sehr viele!), sind sie gut aufgenommen worden. Überdies gelten Höflichkeit und Zuvorkommenheit im Lande ganz allgemein als traditionelle Grundregel der Fremdenbehandlung. Doch kommt der Besucher aus dem Norden nur sehr selten in ein echtes Gespräch mit dem „Mann aus dem Volke“. Ein eingehender Meinungsaustausch scheitert meist schon am sprachlichen Hindernis. Dringt man tiefer, erhält man ein genaueres, lehrreiches Bild. Es bestätigt sich da die Erfahrung, daß der Mensch nichts wirklich vergißt. Die meisten Italiener machten ihre stärksten Erfahrungen mit Deutschen während einer bitteren, harten und chaotischen Zeit. Dieses Erleben ist heute verblaßt, doch färbt es unbewußt die Haltung und Meinung. Wie rief mein Krankenpfleger am er-

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sten Tage in durchaus freundlicher Absicht? „Ein Lied! Drei! Vier!“ Und er war stolz, mich mit einem so „typischen“ deutschen Ruf begrüßen zu können. Man glaubt, das Bild der Deutschen zu kennen und überprüft heute so manches, was bisher für unumstößlich galt, nur zögernd. Daraus ergibt sich eine seltsame Mischung aus vorsichtiger Zurückhaltung und Erwartung, aus Neugier, Respekt und liebenswürdiger Zuneigung; eine Unsicherheit, häufig erfüllt von kuriosen Akzenten. Wer mit einigen Italienern viele Tage in einer Krankenstube verbringt, dem bleibt wenig von der wahren Meinung seiner Gefährten verborgen. Hier ist sie, äußerst komprimiert aus den Andeutungen und Aussagen dreier Wochen: Der Polizist: Die Deutschen haben Tatkraft und Pflichtgefühl. Es sind militärische Menschen. Daher auch ihre Neigung zur Gewaltsamkeit. Wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht, heißt es nur „kaputt!“ oder „raus!“. Das ist nicht immer die richtige Methode. Schade, sie müßten bessere Diplomaten sein. Aber von ihrer Ordnungsliebe und ihrem Gehorsam könnten die Italiener lernen. (Auf den letzten Satz gab es höhnisches Gelächter bei den „Zivilisten“ . . . ) Der Maurer: Deutschland? Ich war zwei Jahre als Kriegsgefangener dort. Habe dabei zwanzig Kilo abgenommen. Ich kenne es. Reden wir von etwas anderem. Der Mechaniker: Die Deutschen sind die ehrgeizigste Nation in Europa und es sollte mich nicht wundern, wenn sie noch einmal die Welt umstülpen. Militär bekommen sie jetzt auch wieder. So eifrig! Sie müssen gut verdienen. Habt ihr schon einmal erlebt, daß ein Italiener meiner Position seine Ferien im Ausland verbringt? – Also die sind am Ball, hart im Nehmen und im Geben. Der Arzt: Ohne die Deutschen kein Europa. Es soll sich ein tiefer Wandel in ihrem Lande vollzogen haben. Ein Aufblühen nicht nur in äußerlichen Dingen, wie ich höre. Viel guter Wille. Man müßte das überprüfen können. Ich würde gern einmal nach Norden fahren, zumal mich da auch auf meinem Berufsgebiet vieles interessiert. Wir sind ja aufeinander angewiesen. Es gibt wenig, was uns trennt und vieles, was uns verbindet.

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Der Metallarbeiter: Diese eisernen Deutschen sind nichts anderes als die Päppelkinder der Amerikaner! Die finanzieren ihnen den ganzen Aufbau-Rummel, um dem Kapitalismus eine Bastion zu erhalten. Übrigens soll’s da mächtig gut zu verdienen geben. Hab schon überlegt, ob ich nicht ein paar Jahre dort oben arbeiten könnte . . . Der Fischerjunge: Italia è bella! Die Deutschen tragen unmoderne Anzüge. Also kann es mit ihrem berühmten Aufschwung nicht soweit her sein. Immerhin, ihre Trinkgelder sind gut. Die Amerikaner geben natürlich noch mehr. In Deutschland muß es mächtig kalt und unbehaglich sein. Deshalb kommen sie jedes Jahr und es kommen immer mehr. Recht so, Italia è bella. Ecco. Italia è bella. Verbessern wir den Reiseführer und fügen wir hinzu, daß dort sogar ein „Ospedale al Mare“ seine Reize hat. Es bietet die erlebnisreichste „Ferien“-Pension am Lido. Übrigens auch die billigste. Mögen unsere kleinen Momentaufnahmen eines so großen Prospekts niemand irreführen. Wer auf Verallgemeinerungen aus ist, der mag sie suchen auf eigene Gefahr. Der Autor dieses Berichts, der Beobachter im Bett, ist jedenfalls nicht neutral. Er ist dem Süden und seinen Menschen angetan, er liebt ihre Sonne, ihre Lebendigkeit, ihr Selbstbewußtsein, ihre harmlosen und gefährlichen Leidenschaften, ihre großen und kleinen Spielereien, kurzum ihre Vorzüge und den größeren Teil ihrer Unarten. Denn auch diese haben Format. Gott hat ihnen vieles im Schlaf gegeben, danach wir uns sehnen.

– Ende –

Mechanik der Phantasie* Von Edmund Luft Wie entsteht ein Filmstoff? Helmut Käutner hat es so beschrieben: „Das Ideal ist, man fängt eine Arbeit mit einem weißen Blatt Papier an. Man denkt sich aus, was man will, macht sich Notizen. Aus den Notizen wird allmählich eine Outline, daraus allmählich ein Script. Und dann fängt das an, weswegen man Film macht, nämlich die Umsetzung ins Bild. Film ist Bilderzählung („Käutner, Edition Filme 8, Verlag Volker Spieß, Berlin 1992). Die filmische Erfindungsgabe entspringt der schöpferischen Phantasie, die Vorhandenes aufnimmt, verwandelt und wieder zu Tage fördert. Im kritischen geistigen Prozeß kann die Imagination zur schöpferischen Leistung werden. Die Bausteine sind bekannt, insofern gibt es tatsächlich nichts Neues auf der Welt, aber die Alliterationen, Adaptionen, Kombinationen sind neu, zumindest für die Augen der Zeitgenossen. Zu den reizvollsten dramaturgischen Baukästen gehört die Zusammenstellung der 36 dramatischen Situationen, aufgezeichnet von dem venezianischen Dichter Carlo Gozzi. Die Vollständigkeit dieser Liste erregte sogar Goethes Bewunderung. Sie umfaßt die zwischen Menschen möglichen Konflikte und die sich daraus ergebenden dramatischen Zustände. Die Aufzählung der individuellen und kollektiven Tragödien reicht von der verhinderten Liebe (Romeo und Julia) bis zum Kampf gegen die Tyrannen (Egmont). Und immer findet sich Aktuelles. Der vom Tode bedrohte Oedipus flüchtet zu Theseus. Worum fleht er ihn an? Um Asyl (Georges Polti: Les 36 situations dramatiques, 1924). Ob dramatische Verwicklung oder epische Abfolge, bei der Beurteilung der Wirkungskraft und Spannweite eines Stoffes * 1993.

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untersucht man zunächst drei Elemente. Man ermißt das Gewicht, die Bedeutung seines Problems. Man schätzt die Spannung ab, die die Handlung entstehen läßt, ihr Rätsel. Man versucht, die Faszination des Stoffes zu beurteilen, die Wirkungskraft der Kollision, seine Magie oder auch Authentizität. Soweit der theoretische Teil. Wer die Erfolgschance bestimmen will, addiert den Geschmack des Tages, die Erwartungshaltung des Publikums. Für das Urteil entscheidend ist nicht zuletzt der zu erwartende Schwierigkeitsgrad der Realisierung. Es gibt Stoffe, die nach aller Erfahrung beachtliche Merkmale des Erfolges aufweisen, jedoch offensichtlich mit den derzeit vorhandenen Kräften nicht zu verwirklichen sind. Geschieht es dennoch, verkehrt sich Hoffnung in Enttäuschung. Bei der deutschen Produktion weiß man ein Lied davon zu singen. Der Themenwechsel im deutschen Film orientiert sich an der allgemeinen Bewußtseinslage, wenn auch mit stets verzögerter Wende. Während der Jahre des Wiederaufbaus war der Heimatfilm erfolgreich, dann auch die Karl May- und die Edgar WallaceSerie. Zugleich gab es auch immer künstlerisch Ambitioniertes, wie etwa von Käutner und Staudte, von Jugert, Hoffmann und Thiele. Die zeitkritischen Tendenzen der sechziger Jahre reflektierten sich im Neuen Deutschen Film. Er wurde durch die 1962 einsetzende amtliche Projektförderung unterstützt und zeitigte zunächst beim Publikum wenig Widerhall, doch erreichten später die Filme von Schlöndorff und Herzog, Verhoeven, Bohm, Fassbinder und Wenders Wertschätzung und einige Popularität. Doch solche summarische Aufzählung verebbt in den achtziger Jahren, in einer Zeit starker Veränderungen, ja Umwälzungen fällt es dem Kino nicht leicht, auf die sich verändernden Mentalitäts- und Bewußtseinslagen einzugehen. Zu den verschiedenen, nebeneinander existierenden Kulturbegriffen und Unterhaltungsbedürfnissen hat nicht zuletzt das übermäßige Angebot des Fernsehens beigetragen. Die problematische Entwicklung bekommt man jetzt dort zu spüren, das Krokodil beißt sich in den Schwanz. Sinneswandel, Themenwandel? Die bei den BundesfilmpreisVerleihungen üblichen Ansprachen glichen früher häufig kritischen Berichten zur Lage. Sie spiegeln heute die Wirkungs-

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geschichte des deutschen Films der letzten Jahrzehnte wider. Im Jahr 1959 erörtert Benno von Wiese „Nutzen und Nachteil des deutschen Films in unserer Zeit“. Er meint, daß wir es verlernt haben, ästhetische Fragen auch in ihren sittlichen Konsequenzen zu erörtern, und sagt weiterhin: „Naive, unbeschwerte Unterhaltung könnte durchaus den Nährboden für jene Leichtigkeit und Spielfreudigkeit bedeuten, die, schon um ihrer Anmut willen, Elemente aller echten Kunst sind. Anders sieht es jedoch damit aus, wenn Trivialität das Mittelmaß geradezu verherrlicht und ihm überdies den falschen Akzent des Bedeutenden zu geben versucht. Dann entsteht unerträgliche Verlogenheit, eine geradezu kunstfeindliche Haltung.“ Unter dem Titel „Ist der deutsche Film am Ende?“ sagt Georg Ramsegger in einer analytisch bedeutsamen Rede 1961: „Der deutsche Film ist in einem dunklen Tal. Seine Musen gehen links und rechts an uns vorüber. Früher grüßten sie wenigstens noch und winkten den einen oder anderen herauf auf den Gipfel, wo sich dann alsbald vielerlei Ehrung über ihn ergoß. Gegenwärtig aber arbeiten wir ohne Fortune. Der wirtschaftliche Strom und der künstlerische Impuls schlagen gleichermaßen matt . . . Gerade in den letzten Jahren hat uns das Ausland mit einer Fülle von Anregungen überschüttet, die bei uns niedergegangen sind wie Bleikugeln im Moor. Es ist, als wären wir immun gegen jeden Reiz, als wären wir an das Bett des Konventionellen und der Einfallslosigkeit gefesselt.“ Sechs Jahre später – 1967 – würdigt Walther Schmieding ein neues Stadium der „stürmischen Entwicklung“ und ist zutiefst begeistert. „Der junge deutsche Film ist autobiographisch, dokumentarisch, realistisch – er ist deswegen doch Kino und will nichts anderes sein. Kino – aber keine Traumfabrik. Unter den jungen deutschen Filmen gibt es bessere und schlechtere, gelungene und mißlungene, radikale und konventionelle, interessante und langweilige – und es gibt vor allem verschiedene Meinungen darüber, welche Filme das jeweils seien. Über einen Punkt aber kann doch, meine ich, nur Einigkeit herrschen: Wenn vom deutschen Film heute die Rede ist, daß überhaupt vom deutschen Film wieder die Rede ist, verdanken wir den Schöpfern dieser neuen Filme, ihrer Zähigkeit und ihrer Besessenheit, ihrem Fleiß und ihrer Begabung,

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ihrem Spürsinn und ihrer Beharrlichkeit, ihrem Witz und ihrem grüblerischen Ernst, ihrer Unbekümmertheit und ihrer Intelligenz, ihrem Starrsinn und ihrem taktischen Geschick.“ Nach soviel Laudatio kommt Karsten Peters 1970 zu einer ganz anderen Bilanz: „Was wie ein neuer hoffnungsvoller Frühling des deutschen Films begann, das ist dem Herbst allgemeiner Ernüchterung gewichen. Das Oberhausener Manifest, das den Anspruch der Jung-Regisseure postulierte, den neuen deutschen Film zu schaffen, dieses Manifest ist nur noch ein Stück Papier. Sonst nichts. Die ersten Werke der Oberhausener und ihrer Gesinnungsgenossen wurden von uns Kritikern mit Begeisterung und vielleicht mit übersteigerter Emphase begrüßt. Aber die Jubeltöne waren mehr als verständlich. Schien sich hier nicht eine Wende anzubahnen? Konnte nicht der Eindruck entstehen, als finde der Film in Deutschland endlich zu sich selbst? Doch der Eindruck war trügerisch. Der Optimismus verfrüht. Der Anspruch, den neuen deutschen Film zu schaffen, entlarvte sich als das Verlangen, an der großen Film-Futterkrippe zu partizipieren.“ Aber auch die Welle der Enttäuschung, des Unmutes legte sich. Im Jahre 1976 erklärte Professor Werner Maihofer, damals Bundesminister des Innern: „Die ,Renaissance des deutschen Films‘, wie es die amerikanische Zeitung ,Newsweek‘ genannt hat, wäre nach dem Urteil sachkundiger Beobachter ohne die langfristige Hilfestellung der staatlichen kulturellen Filmförderung schwerlich möglich geworden. Die Förderung hat auch das filmkünstlerische Experiment unterstützt und bewußt jedes mit einer solchen Chance verbundene Risiko von Fehlleistungen in Kauf genommen. Nur so hat auch hier in unserem ,Experimentum mundi‘ Kreativität auch da eine Chance, wo Kultur sich an den Grenzen des Kommerzes stößt.“ Genug der Historie. Sie bestätigt eine weise Erkenntnis des Josef von Sternberg. Soweit er zurückdenken könne, sagte er 1960 in Wien, habe sich der Film immer in einer Krise befunden, sie wechsle ab und zu nur den Namen. Stoffkrise? Der Fundus an karikaturistischen Drolerien, sarkastischem Zeit-Theater und dramatisierter Vergangenheitsbewälti-

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gung wird noch einiges hergeben. Aber zukunftsweisend ist das nicht. Routine kann Leidenschaft nicht ersetzen und Erfahrung nicht den Mut, das Außergewöhnliche zu wollen. Noch versiegen die Quellen nicht. Es geht um die schöpferische Interpretation der sich verändernden Wirklichkeiten: erkennen, erfassen und gestalten. In einer zunehmend amerikanisierten Welt verdient der deutsche Film unsere Unterstützung. Selbst ein skeptisches Urteil über seinen Zustand ist durchaus vereinbar mit der Hoffnung, ja mit hilfreicher Tat und dem Optimismus, den sie erfordert.

Wie ich zum Film kam* Von Edmund Luft Vor 25 Jahren entschloß ich mich, den Film zu revolutionieren. Ich zählte damals achtzehn Jahre, gerade das richtige Alter. Von Mirabeau wird berichtet, daß er Straßenräuber wurde, um die Verhaltensweise und die Seelenlage der Mitglieder dieses waghalsigen Gewerbes zu studieren. Sein Beispiel regte mich an. Ich beschloß, zum Film zu gehen. Um zum Film zu kommen, braucht man nur Glück und Beziehungen. Beides hatte ich. Ich rief einen Atelierdirektor an und grüßte ihn von meiner Tante. Da diese Dame seine Schwägerin war, zeigte er sich erfreut und bestellte mich zu sich. Unsere Unterhaltung war kurz. Besitzen Sie besondere Kenntnisse? Nein! Sind Sie in irgendeiner Weise begabt? Nicht, daß ich wüßte! Aber Sie sind, so scheint mir, zu allem bereit? Ja! Ah, das ist gut so. Sie werden es zu etwas bringen. Kommen Sie morgen früh wieder! Am nächsten Morgen begann meine Lehrzeit. Ich sollte praktizieren – nicht unter 14 Monaten, bis zu zwei Jahren. Man teilte mich einem kleinen, breitschultrigen Mann zu, der Orje genannt wurde. Er steckte in einem gelblichen Overall und trug eine lederne Tasche, gefüllt mit Nägeln, dazu zwei Hämmer. Einen davon gab er mir. Dann gingen wir in die Dekoration. Wenn jemand „Bühne!“ oder „Biene!“ oder auch „Bienääh!“ rief, traten wir vor und Orje sagte: Wat iß’n? Wir wurden aufgefordert, irgend etwas zu bringen, wegzutragen, festzumachen, anzunageln, umzubauen oder abzureißen, je nachdem. Wir bewegten dabei oft mächtige Gegenstände hin und * 5. 6. 1957.

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her, etwa eine Hotelhallen-Palme oder zwei (!) Konzertflügel. Wie ich hörte, drehten wir etwas aus dem Leben einer affektierten Frauensperson, was sich musikalisches Lustspiel nannte, daher diese beiden mordsschweren Flügel. Orje hantierte mit ihnen voll Kraft und Geschicklichkeit. Ich selbst hatte schon damals eine Vorliebe für genaue Fixierungen und hielt es daher mehr mit dem Nageln, einer aufbauenden Tätigkeit, die leider immer wieder durch den zornbebenden Massen-Schrei „Ruuhää!“ rauh unterbrochen wurde. Am dritten Tage ließ ich von hoher Leiter meinen Hammer fallen, daß er wenige Zentimeter neben dem Regisseur auf den Boden knallte. In das nun folgende Schweigen sprach der Oberbeleuchter: Junge, du machst dich! Nur een bißchen zielen mußte noch lernen! Ich nagelte mich durch drei Lustspiele und ein historisches Drama hindurch und fand bei dem trickreichen, illusionistischen Treiben mehr als einmal hinreichenden Grund zum Aufbegehren. Ja, aber! pflegte ich zu rufen, ja aber. . . ! Doch Orje, mein Sancho Pansa, meinte dann immer: Nanu, Langer, wat haste denn? Mensch, det is doch Kintopp! Verkoofen die seit Jahren mit jrößtem Erfolch! Det ist nu mal die Tour, vastehste? Ich begann die „Tour“ zu verstehen, ja ich muß bekennen, daß meine Grundsätze der kritischen Ehrlichkeit beinahe ins Wanken gerieten. Als Beleuchter erhellte ich die wogende Nordsee und bestrahlte die kaiserliche Marine im Weltkrieg I, als wir ein Spionagedrama im Wasserbassin auf dem Freigelände mit „Seegang“ versahen. Als Klappen-Mann blickte ich in die BellaDonna-Wunderaugen des weiblichen Leinwand-Idols jener Tage. Und als Galgenträger des Tonmeisters tat ich meinen tiefsten Fall. Denn zu jener Zeit sprach ich schon den rechten Film-Jargon. Und als eine beliebte Operettendiva ihren schmachtenden Song zum elften Male wiederholen mußte, sagte ich zu Orje, leider etwas zu laut: Die Koloraturzicke hängt mir zum Halse raus! Die erregte Sängerin geriet außer sich, der Regisseur brüllte nach einem Arzt und der Produktionsleiter wollte mich umbringen.

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Ja, aber, rief ich, ja aber . . . Es bedurfte einer langen Aufklärungsrede meines Freundes Orje, um klarzumachen, daß mit der Zicke nicht die Diva gemeint war, sondern, wie im Film-Umgangston üblich, die Szene. Nach vielen Monaten traf ich wieder den Direktor. Na, sagte er, wissen Sie jetzt alles? Ja, sagte ich, ich weiß jetzt alles, nur begreife ich vieles nicht recht. Das ist gut so, meinte er, sehr gut! Da werden Sie es noch zu etwas bringen. So war das also. Vor 25 Jahren. Ich habe seither nicht davon abgelassen, mich mit dem Film zu befassen. Ja, aber . . . ! rufe ich heute noch. Nur nicht mehr so laut.

Biographie Emund Luft wurde am 15. Mai 1914 in der Nähe von Dresden geboren. Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt. Durch seine Mutter, einer Wiener Sängerin, kam er schon als Kind zum Theater. Sein Berufsziel stand bald fest, er wollte Bühnenregisseur werden. Als er im Herbst 1932 in Berlin das Studium der Theaterwissenschaften aufnahm, bot ihm die Tobis eine Volontariatsstelle im Johannisthaler Atelier an. Er betätigte sich als Ton-Assistent, Beleuchter, später auch an der Kamera und als Cutter. An die erlebnisreiche Lehrzeit erinnerte er sich gern. Im Jahre 1934 wurde er in die Regieklasse der Schauspielschule des Deutschen Theaters aufgenommen. Unter der Anleitung von H. D. Kenter entschied er sich für das damals chancenreiche Fach der Dramaturgie. Er verfaßte dramaturgische Analysen, Dialogbearbeitungen und Treatments zu oft berühmten Stoffen. Mit Vergnügen erinnerte er sich daran, daß er bereits einen „Kaspar Hauser“ zu bearbeiten hatte, einen „Robinson“ und nicht zuletzt einen „Taugenichts“. 1935 heiratete er die Schauspielerin Johanna Oeser. Im gleichen Jahr wurde seine Tochter Julia geboren. 1937 wurde er im Einvernehmen geschieden. Da die Filmarbeit um die Mitte der dreißiger Jahre immer stärker unter das staatliche Diktat geriet, arbeitete er einige Zeit für den Rundfunk. Er gehörte auch zu dem Kreis um Günther Weisenborn. Edmund Luft ging für längere Zeit nach Stockholm. Als der Versuch, in Schweden seßhaft zu werden, scheiterte, kehrte er 1938 zurück und schloß sich in Berlin dem experimentellen Theater und literarischen Kabarett „Die Dachluke“ an. Er schrieb zahlreiche Sketches und Parodien und trat, meist zusammen mit Vera Konju und Helmut Brasch, auch selbst auf. Durch die bei der Tobis erworbenen Kenntnisse wurde er zu Kriegsbeginn Fernsprechspezialist in der Nachrichtentruppe. Er war an der ex-

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perimentellen und praktischen Weiterentwicklung der Trägerfrequenz-Systeme beteiligt. Er war an den verschiedensten Kriegsschauplätzen: Belgien, Frankreich, Paris, Litauen, Rußland, Donezbecken, Kaukasus. Dort wurde er verwundet. Zusammen mit seiner Kompanie konnte er sich in die Ukraine absetzen. In Darmstadt wurden sie aufgefrischt und nach Besançon verlegt, von dort ging es in den oberitalienischen Raum, dann nach Mittelitalien, Rom. Dort freundete er sich mit einem römischen Filmtheaterbesitzer an und lernte fließend Italienisch in dessen Familie. Beim Rückzug der deutschen Truppen geriet er in der Nähe von Mailand in amerikanische Gefangenschaft. Er war dort als Dolmetscher tätig, und im Gefangenenlager in Livorno wurde ihm die Leitung des Lagerfunks übergeben. Er gab dort auch Englisch-Kurse. 1947 wurde das Lager aufgelöst, er ließ sich nach Wiesbaden in der amerikanischen Besatzungszone entlassen. In Wiesbaden lebten Freunde von ihm, auch seine zweite Frau Ulla, die er 1943 geheiratet hatte, und die sich von ihm scheiden ließ, als er im Lager von Livorno war. Er nahm an ihrer Hochzeit mit einem amerikanischen Offizier in Wiesbaden teil. Er selbst heiratete 1948 Annemarie Wurm, die er aus dem Freundeskreis in Berlin kannte und die in Wiesbaden lebte. Er erneuerte alte Kontakte, schrieb Kritiken und Kommentare und unterrichtete an der Volkshochschule. Seine journalistische Laufbahn eröffnete sich ihm 1947 bei den „Nouvelles de France“ nicht zuletzt wegen seiner fremdsprachlichen Kenntnisse. Er arbeitete damals auch als Korrespondent für „Svenska Dagbladet“ und schrieb für Zeitschriften, an die man sich noch heute gut erinnert, den „Ruf“, den „Simplizissmus“, den „Insulaner“. Anfang der fünfziger Jahre wurde er in Wiesbaden Film- und Theaterkritiker und bald auch Mitarbeiter der Filmfachpresse. Fünfzehn Jahre hindurch war er nacheinander Redakteur der „Filmblätter“, der „Filmwoche“, des „Filmecho“. 1962 gestaltete er seine ersten Film-Fernsehdokumentationen „Schnitt im Schloß“ über die Tätigkeit der Freiwilligen Selbstkontrolle und „Vergnügen ohne Grenzen“ über den Filmexport. 1959 starb seine Frau Annemarie. 1962 heiratete er erneut. Helga Luft ist die Nichte des 1984 verstorbenen Verlegers von Duncker & Humblot, Dr. Hans Broermann.

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Seit 1964 beschäftigte sich Edmund Luft immer mehr mit internationaler Medienpolitik. Er wurde Mitglied des Filmkomitees der Informationsabteilung der EWG in Brüssel. Der Europa-Rat übertrug ihm zunächst eine filmhistorische Studie und 1966 einen Forschungsauftrag, der ihn in acht europäische Länder führte. Dabei ging es um die Analyse und Koordination der pädagogischen Arbeit mit audiovisuellem Material. Auf die Veröffentlichung seines Untersuchungsberichtes folgten Aufträge zu weiteren kulturpolitischen Expertisen. In Verbindung u. a. mit BBC und ZDF befaßte er sich längere Zeit hindurch mit den Möglichkeiten europäischen Universitätsfernsehens. Mit großem Engagement wirkte er zwischen Anfang der 50er Jahre bis Anfang der 70er Jahre als Jurysekretär bei den Berliner Filmfestspielen. Diese Aufgabe war für ihn besonders reizvoll. Sie ermöglichte ihm einen intensiven Gedankenaustausch mit zahlreichen Filmexperten. Bei internationalen Filmfestivals wurde er Dauergast: etwa 30 mal Cannes, fast genauso oft in Venedig, dazu vielfach Indien, Manila, Acapulco in Mexiko, Mar del Plata in Argentinien, Valladolid in Spanien, Cork in Irland. Häufig amtierte er auch in den Jurys. Das Auswärtige Amt, das Bundesministerium des Innern und die Filmwirtschaft suchten immer wieder seinen fachlichen Rat. Er gehörte zu den Initiatoren der filmkulturellen Förderung des BMI. Dem Informationsdienst der Export-Union gab er neue Impulse. Für das Filmforum des ZDF gestaltete er dokumentarische Berichte über das Erscheinungsbild des deutschen Films im Ausland. Neben den filmtechnischen Betrieben, zu denen er eine Jugendanhänglichkeit bewahrt hat, fühlte er sich den Filmtheatern besonders verbunden. Ihre Existenzfragen kannte er genau, in Bonn setzte er sich seinerzeit lebhaft für die Schaffung der Filmtheaterprogrammprämien ein. Während der einstigen FilmclubTage von Bad Ems kam er mit der sich gerade formierenden Gilde deutscher Filmkunsttheater in Verbindung. Viele heute in den Studio-Foyers hängende Gildepreis-Dokumente tragen auch seinen Namenszug. Außer der publizistischen Tätigkeit widmete sich Edmund Luft seit 1973 der Sicherung und Erschließung alter deutscher Spielfilme im Bundesarchiv auf dem Ehrenbreitstein. Nach einer ein-

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gehenden Untersuchung der filmarchivarischen Situation in der Bundesrepublik schlug er zur kollegialen Koordination der oft nicht nur räumlich getrennten Kräfte die Gründung einer „Ständigen filmhistorischen Konferenz“ vor. Nicht nur dem Publizisten, auch dem Film-Curator und -Konservator kam seine umfangreiche Personen- und Sachkenntnis aus mehr als vier Jahrzehnten der Beschäftigung mit dem Film zustatten. 1980 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Frankreich machte ihn 1984 zum „Chevalier de l’Ordre d’Art et des Lettres“. 1995 verstarb Edmund Luft. Helga Luft