Memento Gulag: Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime [1 ed.] 9783428522750, 9783428122752

Erst mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa und der damaligen Sowjetunion wurde das g

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Memento Gulag: Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime [1 ed.]
 9783428522750, 9783428122752

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Memento Gulag

Memento Gulag Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime

Herausgegeben von

Renato Cristin

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Italienischen Kulturinstituts Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-12275-5 978-3-428-12275-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Eröffnung Von Wilhelm Staudacher Generalsekretär der Konrad-Adenauer-StiJtung

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Grußworte Von Renato Cristin Direktor des Italienischen Kulturinstituts Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Dario Fertilio Comitatus pro Libertatibus

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Die Aufarbeitung der totalitären VergangenheitErinnerungskultur als persönliche Erfahrung der Opfer Aufarbeitung totalitärer kommunistischer Vergangenheit und Erinnerungskultur - die Situation in Russland, den baltischen Staaten und Ungarn Von Gabriele Baumann ...............................................

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Die Wiedervereinigung der Geschichte Europas Von Sandra Kalniete ..................................................

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Memento Gulag! Von Vladimir Bukowski ...............................................

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Die Erfahrung der Opfer in der deutschen Erinnerungskultur Von Hubertus Knabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichte Europäisch Erinnern! Von Markus Meckel ..................................................

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Inhaltsverzeichnis Der Umgang mit dem historischen Erbe totalitärer Systeme Erinnerungsformen und gesellschaftliche Rezeption

Die Erinnerung wach halten - Ohne Menschenrechte kein Frieden Von Friedbert Pflüger ................................................

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Zur Entstehung von Gedenkorten in der Demokratie Von Andreas Nachama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das virtuelle Gulag-Museum. Ein Projekt des wissenschaftlichen Informationszentrums "Memorial" (St.-Petersburg) Von Anna Schor-Tschudnowskaja .....................................

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Der Kommunismus, ein Verbrechen ohne Folgen? Von Maria Schmidt ......................................... . .........

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Schlussreden

Schlussworte Von Norbert Lammert

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Memento Gulag. Memento heute Von Marcello Pera ................................................... 103

Eröffnung Von Wilhelm Staudacher Ich möchte mit dieser Tagung der Opfer totalitärer Regime gedenken. Sie findet in Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut Berlin, den italienischen Comitatus pro Libertatibus und der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen statt. Wir greifen heute ein Thema auf, das ein schwieriges Thema ist, ein Thema, das vielfach totgeschwiegen wird. Es mag für viele auch ein bedrückendes Thema sein, aber, meine Damen und Herren, es kann auch befreien. Frei sein zur Erinnerung und frei sein durch Erinnerung, nicht mehr mit der Lüge leben müssen, das ist Teil der Freiheit, die heute auch viele osteuropäische Länder haben. Vac1av Havel hat dazu gesprochen und ich erinnere an seine Worte. In der Wahrheit leben ist für ihn der Vorzug, in der Freiheit zu leben. In ganz Europa wächst das Verständnis, dass Europa mehr ist als Wirtschaft, dass Europa, wenn es politisch zusammenwachsen will, auch ein gemeinsamer kultureller Raum sein muss. Und dazu gehören gemeinsame religiöse und kulturelle Wurzeln, Werte, die wir miteinander teilen, und geistige Orientierungen. Dazu gehört vor allem auch unsere gemeinsame europäische Geschichte mit ihren Höhen und mit ihren Tiefen. Wir dürfen gemeinsam stolz sein auf die großen Leistungen europäischer Kultur und wir stehen in gemeinsamer Erschütterung vor den Perversionen des menschlichen Geistes und den von diesen zu verantwortenden Abgründen der Geschichte. Rassismus und Antisemitismus, Völkermord und Vertreibung, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, die Verfolgung von Minderheiten, die unzähligen Todeslager und Todesmärsche und eben auch der Gulag. Dies alles verdunkelt das Bild unserer gemeinsamen europäischen Geschichte. Im stalinistischen Gulag, dem sowjetischen Straflagersystem der Jahre 1928 bis 1954, sind Millionen von unschuldigen Menschen aus ganz Europa zu Tode gekommen. Auch nach Einsetzen

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Wilhelm Staudacher

der Tauwetterperiode in der Sowjetunion ging die Verfolgung von politisch Andersdenkenden weiter. Das letzte Arbeitslager für politische Gefangene wurde 1989 in Perm am Ural geschlossen. Heute ist dort eine politische Bildungsstätte mit einem Museum entstanden, die einzige ihrer Art in ganz Russland. Zu Zeiten der Sowjetunion war es absolut verboten, das Thema Repressionen und Terror öffentlich anzusprechen. Die Gesellschaft schwieg dazu und schwieg daher auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, über persönlich erlittenes Leid. Das Verbot, darüber zu sprechen, führte zur Unfähigkeit, mit Worten zu beschreiben, was in den Jahren des Terrors in der Sowjetunion geschah. Bis heute behindert dies die Schaffung eines Minimalkonsenses zu diesem Thema in der russischen Öffentlichkeit. Die Schatten der Vergangenheit sind auch in den Ländern Osteuropas noch allgegenwärtig zu spüren und spalten die Gesellschaft. Die Abrechnung mit den totalitären Systemen in der Geschichte Ungarns und Lettlands aber ist in vollem Gange. Beide Staaten haben im Unterschied zu Russland einen Anfang in der Kultur des Gedenkens gewagt, der maßgeblich von den Befreiungsbewegungen in ganz Mittel- und Osteuropa ausging. Die heutige Osterweiterung der Europäischen Union ist auch ein Ergebnis dieser Freiheitsbewegung. Aber genau daran zeigt sich, dass wir diese Geschichte mit ihren Lichtund Schattenseiten ungeteilt annehmen müssen. Wir dürfen uns nicht nur das Angenehme heraussuchen und damit wieder zu Gefangenen der Lüge werden. Wir müssen vielmehr unsere gemeinsame europäische Geschichte mit ihren Höhen und Abgründen als unser aller Erbe begreifen, dem wir nicht ausweichen können und dem wir nicht ausweichen wollen. Denn wir haben nur in dem Maße eine gemeinsame Zukunft, wie wir uns auch zu unserer gemeinsamen Vergangenheit bekennen ... Nie wieder" - daraus leitet sich der europäische Auftrag zur Gestaltung der Zukunft ab, es ist unser Auftrag. Wir werden diesen Auftrag nur erfüllen können, wenn wir bereit sind, die geschichtliche Wahrheit zu erkennen und daraus zu lernen, wenn wir bereit sind, die Wahrheit auszusprechen und sie zu ertragen. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, um Vorwürfe oder Kritik, es geht darum, die Opfer zu ehren, sie nicht der zweiten Vernichtung durch Vergessen preiszugeben. Aus ihrem Leiden und Sterben ergibt sich für uns die Verpflichtung, eine bessere Zukunft zu gestalten. Weil es einmal möglich war. Deshalb ist es wieder möglich. Diese Worte eines jüdischen Philosophen sind eine ständige Mahnung. Menschen-

Eröffnung

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rechte sind ein fragiles Gut, jede Generation muss sie neu verstehen und neu verinnerlichen, muss sie neu wiedererwerben und neu sichern. Dafür braucht es Erinnerung, dafür braucht es das Wissen um die Abgründe und erst daraus entspringt das Verstehen, wie es sein muss und was nicht sein darf. Wir Deutschen sind die letzten, die Grund hätten, anderen Belehrungen zu erteilen. Wenn wir heute diese Diskussion über Erinnern und Verstehen mit Italienern, Balten, Russen und anderen führen wollen, dann tun wir dies mit der ausgestreckten, offenen Hand der Freundschaft. Nicht das Aussprechen der Wahrheit schafft Schande, sondern das Unterdrücken der Wahrheit. Erinnerungsarbeit und Trauerarbeit sind die Vorraussetzungen innerer und äußerer Freiheit. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat in Sankt Petersburg in Zusammenarbeit mit der russischen Nicht-Regierungsorganisation Memorial in den letzten fünf Jahren ein Projekt zur Erinnerungskultur und Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit entwickelt. Damit wurde unter anderem der Grundstein zur Schaffung eines virtuellen Museums des Gulag gelegt, in dem an die 300 Museumsinitiativen mit ihren Exponaten aus ganz Russland und einigen anderen europäischen Ländern erfasst werden. Das virtuelle Museum soll ein Panorama des heutigen Zustands der Erinnerungskultur sein. Es versteht sich als interaktives Museum der Modeme gegen den Terror. Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass diese Konferenz mit so hochrangiger und gewichtiger Präsenz aus Deutschland und Italien, aber auch aus Lettland, Ungarn und Russland zu diesem schwierigen, aber notwendigen Thema zustande gekommen ist und ich wünsche uns allen eine offene Diskussion. Danke schön.

Grußwort Von Renato Cristin Das Italienische Kulturinstitut Berlin nimmt mit besonderem Stolz, zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, an der Organisation dieser dritten Ausgabe des Memento Gulag teil, Erinnerungstag der Vereinigung Comitatus Pro Libertatibus an die Opfer der Totalitarismen, die im 20. Jahrhundert zwei dämonische, ideologische Formen annahmen: die kommunistische und die nationalsozialistische. Der Stolz, von dem ich spreche und der auch der Grund gewesen ist, weswegen das Institut, das ich die Ehre habe zu leiten, sich entschlossen hat, diese Ausgabe zu organisieren, bezieht sich auf die Tatsache, nicht nur einen Beitrag zur historischen Erinnerung und zur philosophischen Überlegung zu liefern, sondern auch zur konkreten Erarbeitung einer antitotalitären und liberaldemokratischen Kultur. Der italienische Beitrag zu dieser Tagung besteht außer in dem Entstehungsgedanken seitens des Italienischen Kulturinstituts Berlin und der Comitatus Pro Libertatibus - und ich danke hier Dario Fertilio und Vladimir Bukowski - und der abschließenden Rede des Senatspräsidenten Marcello Pera auch in einem Film über die Beziehung zwischen Totalitarismus und Freiheit (Seminar über die Freiheit), den der Regisseur Alessandro Turci in Interviews mit dem Historiker Sergio Romano, dem Präsidenten der Stiftung des Abgeordnetenhauses Giorgio Napolitano und dem Senatspräsidenten Pera realisiert hat. In der Absicht, sich der Opfer der Totalitarismen zu erinnern, riskiert man einen doppelten Fehler: auf der einen Seite kann man die geschichtlichen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus hervorheben mit dem weniger historiografischen als mit dem politisch-ideologischen Ziel, die Verbrechen des zweiten zu beschönigen; auf der anderen Seite kann man eine einfache Gleichsetzung zwischen den Massakern des kommunistischen und jenen des

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nationalsozialistischen Regimes, insbesondere der Shoah schaffen; auf diese Weise erreicht man nicht nur ein fehlerhaftes Ergebnis vom historiografischen Standpunkt aus, sondern auch ein unfruchtbares vom Standpunkt des spezifischen Verstehens der beiden Ideologien aus, die diese Verbrechen hervorgebracht haben. Wenn wir jedoch diese beiden großen geschichtlichen Tragödien vom Standpunkt des Respekts für die Opfer aus betrachten, können wir mit gutem Recht die Erinnerung an sie, zusammen mit der Besinnung und der Meditation, bewahren, da sie Opfer unmenschlicher, krimineller, auf Hass basierender Ideologien sind. Aus diesem Grund ist das Memento im Titel dieser Tagung der Ausdruck einer Pflicht, aber auch eines Rechts, zusammen die Erinnerung an Hunderte von Millionen unschuldiger Opfer zu ehren. Heute insbesondere werden in den Beiträgen unserer illustren Vortragenden die historischen, politischen und existentiellen Auswirkungen einer der größten Tragödien der Menschheit ausgeleuchtet: der kommunistische Totalitarismus und der Schrecken des Gulag, jener Gefangenenlager, die Millionen Personen verschlungen haben, die Opfer des ideologischen Wahnsinns und der politischen Gewalt des Kommunismus wurden. Ich möchte sofort ein mögliches Missverständnis ausräumen: der Gulag (Glavnoe Upravlenie Lagerej) ist nicht ein blutiges Mittel, um ein positives Ziel zu erreichen, wie eine gewisse Historiografie es behauptet hat, dass nämlich der Einsatz von Millionen Menschen zur Zwangsarbeit ein zu zahlender Preis war, um die Industrialisierung des sowjetischen Staates zu erreichen. Der Gulag ist kein Unfall auf dem Weg der Rettung der Menschheit von der kapitalistischen Barbarei zum kommunistischen Paradies. Der Gulag ist keine stalinistische Hyperbel des bolschewistischen Unterdrückungsapparates, sondern wie wir heute wissen (und ich beziehe mich insbesondere auf den vor kurzem erschienenen Aufsatz von Oleg Chlevnjuk, Geschichte des Gulag), ist er zutiefst verbunden mit der kommunistischen ideologischen Struktur. Lenin hatte bereits 1918 neben den Massenerschießungen die Errichtung zahlreicher Konzentrationslager für politische Oppositionelle und für all diejenigen befohlen, die sich einfach nicht dem sowjetischen System anschließen wollten. Ziel und Mittel bilden in der Theorie des Kommunismus (sowohl in der sowjetischen, als auch allgemein) eine untrennbare Identität: auch als Zielsetzung ist

Grußwort

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der Kommunismus in sich eine Monstrosität und der Gulag seine direkte und unausweichliche Folge. Indem man diese Fakten feststellt, kann man daraus den Schluss ziehen, dass der "real existierende Sozialismus" keine Fehlgeburt der marxistisch-leninistischen Theorie ist, sondern die staatlich-politische Form, in der sich jene Theorie konkretisiert hat. Wenn dem so ist, muss die Kritik am real existierenden Sozialismus, d. h. an der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten, von Anfang an und in der Tiefe eine Kritik an der kommunistischen Ideologie implizieren. Man muss daraus die Konsequenz ziehen, dass, wenn man gegenüber dieser historisch-politischen Tragödie eine zweideutige oder einfach neutrale Haltung einnimmt, dies bedeutet, einer Ideologie wieder eine Stimme (und auch Kraft) zu verleihen, die sich als tödlich für jedes Volk erwiesen hat, das das Unglück hatte, mit ihr zu experimentieren. Auch in dieser Hinsicht des kritischen Erinnerns und der Aufmerksamkeit ist die Wahl Berlins als Ort dieser dritten Ausgabe des Memento Gulag von großer symbolischer Bedeutung; ebenso bedeutsam ist die Bereitschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung gewesen, diese Tagung in ihren Räumlichkeiten abzuhalten. Als ich vor fast einem Jahr der Leitung der Akademie und dem Generalsekretariat der Konrad-Adenauer-Stiftung vorschlug, zusammen mit den Comitatus Pro Libertatibus die Ausgabe 2005 dieses Studientages zu realisieren, erhielt ich sofort eine sehr positive Aufnahme, die eingebettet ist in den Rahmen einer gegenseitigen, herzlichen Freundschaft und einer bereits sehr fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut Berlin. Dafür möchte ich sehr herzlich Herrn Dr. Wilhelm Staudacher, Generalsekretär der KAS, Frau Dr. Melanie Piepenschneider, Direktorin der Akademie der KAS, Frau Dr. Beatrice Gorawantschy, Herrn Dr. Peter Fischer Bollin und Frau Gabriele Baumann danken. Was das Italienische Kulturinstitut angeht, möchte ich Frau Dott. Chiara Floreano und Herrn Dott. Georg Gehlhoff danken, die auch die nichtdeutschen Texte übersetzt und die redaktionelle Betreuung übernommen haben. Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer niedergerissen. Ich benutze bewusst das Wort niederreißen und nicht Fall, denn die Mauer ist nicht nur gefallen, sondern auch niedergerissen worden. Der gesamte eiserne Vorhang, dessen symbolischer Ausdruck die

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Mauer war, ist nicht nur deshalb gefallen, weil sie nicht mehr aufrecht stand, sondern auch weil der Wille und das Durchhaltevermögen der der ideologischen Herrschaft der Sowjetunion unterworfenen Völker und des Westens sie bis zu ihrem Fall zunehmend geschwächt haben. Es sind in erster Linie die inneren Widersprüche des kommunistischen Systems gewesen, die den eisernen Vorhang an seinen Wurzeln unterminiert haben. Beispiele dafür sind die Volksaufstände dieser unterdrückten Völker: all diese Bewegungen wurden niedergeschlagen, einige blutig erstickt. (Ich erinnere nur an einige: Berlin, Juni 1953, Budapest, Oktober 1956, Prag, März 1968, Danzig, August 1980.) Es handelte sich um Rückschläge, die der Kommunismus und die Mauer erlitten, die in verschiedenen Formen die beiden Hälften Europas teilte: der Ungarnaufstand, dessen Promotoren kritische Marxisten und Reformsozialisten waren, die die Schwierigkeit spürten, die Theorie in die Praxis umzusetzen und in Wirklichkeit einen Prozess der Kritik an Marx begannen, der erst zehn Jahre später ans Licht trat; der Prager Frühling, wo die Forderung nach nationaler Freiheit einherging mit jener nach individueller Freiheit und dessen größter Schrei von Jan Palach ausging, der sich vor einem sowjetischen Panzer selbst anzündete; der Aufstand der Werftarbeiter in Danzig, der die Geburt und die Festigung der Solidamosc-Bewegung sah. Von hier aus begann der Weg, der zum Fall des kommunistischen Regimes und zur Rückkehr der Freiheit und der Demokratie in Polen führte, Vaterland des damaligen Papstes Johannes Paul II, der sich ohne Unterhalt für die Befreiung seines Landes und ganz Zentralund Osteuropas vom sowjetischen Joch einsetzte. Die Vervollständigung dieser Erhebung, die zwischen dem Ende der 80er Jahre und dem Beginn der 90er Jahre ganz Osteuropa betraf, fand mit der Bewegung der Perestroika in der Sowjetunion Gorbatschows und der mutigen Initiative des Präsidenten Jeltsin statt, der, nachdem er dem Wiederautbäumen der Kommunisten im versuchten Putsch des Sommers 1991 widerstanden hatte, es schaffte, die Sowjetunion aufzulösen, die formell im Dezember jene Jahres aufhörte zu existieren. All dies kann "Widerstand" genannt werden. Im Westen sollte dieser Ausdruck, der sich auf den Kampf gegen die verschiedenen kommunistischen Diktaturen Osteuropas bezieht, den gleichen positiven Wert einnehmen, den die Linken heute zum Beispiel in Italien dem Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus zuschreiben.

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Dies ist der interne Parcours, der zur Implosion des kommunistischen Systems und zum Fall der Mauer führte. Man darf dabei jedoch nicht die ausschlaggebende Rolle des Westens vergessen. Als die USA ihre Cruise-Raketen in Deutschland und Italien aufstellten und sie gegen die SS20-Raketen des Warschauer Paktes richteten, führten sie einen vielleicht entscheidenden Schlag gegen den eisernen Vorhang. Der wirtschaftliche Druck, über den politischen hinaus, den der Westen auf Dauer und mit Geduld auf die Regime des Warschauer Paktes und mit variabler Stärke je nach Land und den historischen Umständen ausübte, war ein unausweichlicher Schub, der die Volksrnassen jener Länder erreichte und motivierte. Als dann Ronald Reagan das System der weltraumgestützten Raketenabwehr aufbauen wollte, trat der Parcours in seine finale Phase ein, auch weil die Sowjets sich der Unzulänglichkeit und selbst der Nutzlosigkeit nicht nur ihres Produktionssystems, sondern auch ihres militärischen Apparates bewusst wurden. Schließlich kam der letzte Schlag mit der deutschen Wiedervereinigung, durchgesetzt von Helmut Kohl, mit der die Vereinigten Staaten einverstanden waren. Es war der politische Triumph des Westens und der Zusammenbruch eines riesigen und schwerfälligen ideologischen und institutionellen Machtmechanismus. Auch in Italien wird der Jahrestag des Falls der Berliner Mauer mit einem offiziellen Festtag gefeiert, den die italienische Regierung 2005 eingeführt hat: der Tag der Freiheit, in Erinnerung an die Befreiung Osteuropas vom Totalitarismus und mit Verweis auf Freiheit und Demokratie für all jene Länder, die immer noch von Regimes unterdrückt werden, die sich auf totalitäre Ideologien berufen, von der kommunistischen bis zur islamistischen. Genau heute, in unserer Tagung, die übereinstimmt mit dem 16. Jahrestag des Falls der Mauer, haben wir die Gelegenheit, uns eine ganze Reihe wichtiger Zeitzeugen zu kulturellen, geschichtlichen und politischen Aspekte der Verbrechen des sowjetischen Kommunismus und seiner Satellitenstaaten anzuhören. Es täuscht sich jedoch, wer meint, mit dem Ende der Mauer sei auch das Ende des Kommunismus gekommen. Er täuscht sich, nicht nur weil jeder feststellen kann, dass die kommunistische Ideologie auf der Welt weiterhin weit verbreitet ist (man denke an die lateinamerikanischen Länder, die fast alle von politischen Mehrheiten regiert werden, die sich auf die kommunistische Drittewelt-Ideologie

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berufen; aber auch in Europa gibt es noch Parteien, die sich explizit als kommunistisch definieren), sondern auch weil eine derartige Nachgiebigkeit bedeutet, die politische, kulturelle und soziale Immunabwehr gegenüber dieser großen Krankheit der Zeitgeschichte zu schwächen. Ebenso wenig wie man nicht gegenüber jener wahnsinnigen Ideologie nachgeben kann, die das nationalsozialistische Ungeheuer hervorgebracht hat, kann man auch nicht behaupten, dass der Kommunismus als Form des politischen Gedankens aufgehört hat zu existieren. Auch in diesem Sinne können wir legitimerweise die historische Erinnerung und die kulturelle Aufmerksamkeit erneuern, damit diese beiden Ungeheuer, beide Alpträume der Vernunft, "nie mehr" wiederkehren.

Grußwort Von Dario Fertilio Nur ein paar Worte zu unseren Komitees der Freiheiten, Comitatus pro Libertatibus, sie gehören einer internationalen Bewegung an, die versucht, die kulturellen und ideologischen Grenzen zu überwinden und die Freiheiten, die konkreten Freiheiten zu bewahren. Dies ist unser Ziel, unsere Ehre. Im vergangenen Jahrhundert erklärte Eduard Bernstein: "Die Bewegung ist alles, das Ziel nichts". Vielleicht hatte er Recht: wichtig ist, diesen Memento-Tag organisiert zu haben. Jetzt ist es unsere Aufgabe, dass sich die Initiative auch in Zukunft etablieren kann, bis sie eine internationale Anerkennung findet. Dies ist das dritte Jahr, die dritte offizielle, feierliche Veranstaltung für den Memento Gulag. Nach Rom, nach Bukarest, Berlin: In der Hoffnung, dass die nächste Tagung 2006 in Paris stattfinden kann, machen wir weiter. Die Unterstützung durch das Italienische Kulturinstitut, zuerst aus Bukarest, heute aus Berlin, war grundlegend. Renato Cristin spreche ich meine besondere Anerkennung aus, der die wahre Seele dieses Mementos in der Schöpfungsphase und dann in der Verwirklichung zusammen mit der Adenauer-Stiftung war. Denn ich denke, dass jeder weitere Schritt in der Durchsetzung unserer Freiheiten ein großer Verdienst für uns alle wäre. Es ist wichtig, die Vergangenheit zu erforschen, aber vornehmlich faszinieren uns die Gegenwart und auch die Zukunft. Wir haben erfahren, dass der Präsident der Russischen Föderation, Vladimir Putin, gerade in diesen Tagen den Feiertag des 7. November als Fest der nationalen Wiedervereinigung seines Landes gestrichen und durch ein anderes Datum ersetzt hat. Er hat also symbolhaft den 7. November - den unheilvollen Gedenktag der bolschewistischen Revolution - für uns "frei" gelassen; dieser wird also definitiv Gedenktag für die Opfer der totalitären Regime im Allgemeinen und des kommunistischen im Spezifischen. 2 Cristin

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Deshalb hofft man, dass diese Gelegenheit nicht vergeudet wird; dass an einem 7. November, nicht im nächsten Jahr, aber auch nicht in allzu ferner Zukunft, ein Memento Gulag in Moskau oder an einem anderen Ort Russlands begangen werden kann. Wir schulden es dem heute anwesenden Generalsekretär unserer Komitees, Vladimir Bukowski, einem Mann, der den kommunistischen Totalitarismus unmittelbar im Gulag von Perm während eines längeren Zeitraumes erlebt hat. Wir wissen also, über was wir sprechen, wenn wir das Thema der kommunistischen Lager anschneiden und sind uns der Bedeutung bewusst, die unsere Handlung annehmen kann. Richtigerweise erinnerte Renato Cristin daran, dass zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus große Unterschiede bestehen, aber ich würde hinzufügen, auch große Ähnlichkeiten. Sie sind vielleicht noch nicht in angemessener Form vom historischen und philosophischen Standpunkt aus untersucht worden, aber wir wissen, dass sie existieren. Ähnlichkeiten, die auch symbolisch, in der roten Farbe der nationalsozialistischen Fahne und in einer Reihe von Elementen, die beiden totalitären Regimes gemein waren, erkennbar sind. Wir können die Hauptmerkmale leicht auflisten: Geheimpolizei, Terror als Mittel der Eroberung und Verteidigung der Macht, Verstaatlichung, religiöse Verfolgung, Unterdrückung der öffentlichen Meinung, Führerkult. All dies muss uns zum Nachdenken und Nachforschen anregen, auch weil die totalitäre Bedrohung potentiell immer gegenwärtig ist. Nicht in dieser Gestalt, aber in neuen, tief verwurzelten und expansiven Formen; die des gewalttätigen, religiösen Integralismus, an erster Stelle des islamischen Fundamentalismus. Aber das nahe liegendste Ziel, in unserer Zukunft, ist die internationale Anerkennung des Memento Gulag, auf die wir unsere Energien konzentrieren müssen. Vor kurzem haben alle, die die Erinnerung pflegen und denen die Freiheit am Herzen liegt, gejubelt, da die Organisation der Vereinten Nationen den 27. Januar, jeden 27. Januar, offiziell als Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und des Nationalsozialismus anerkannt hat. Dies ist ein tröstlicher Erfolg, ein symbolischer Sieg für uns alle, die wir an die Gerechtigkeit glauben, und ein Ansporn zu kämpfen, damit auch der Memento Gulag in nicht allzu ferner Zukunft internationale Anerkennung erfahrt. Sei es die Unesco, sei es die UNO, sei es die Europäische Union, die sich dem Gedenken widmet, jedenfalls wäre es wünschenswert

Grußwort

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und gut angelegt für eine gute Sache. Das, was insbesondere zählt, ist das Bezeugen unserer Aufgaben weiterzuführen, bis wir unser Ziel erreicht haben. Es ist wichtig, nicht nur weil es den Stolz oder ein Sinnbild für eine bestimmte Person präsentieren würde, sondern auch jeder von uns könnte sagen, dass er seinen Teil beigetragen und beim gemeinsamen Aufbau geholfen hat. Dieses Resultat gehört niemandem im Besonderen, aber alle können wie einen Beitrag leisten, indem wir überall, wo der Memento Gulag, der 7. November gefeiert wird, zu einer größeren Präsenz, einem tieferen Geschichtsbewußtsein beitragen, das über das hinausgeht, was der Memento Gulag bereits darstellt. Als ich mit dem Freund Vladimir Bukowski sprach, habe ich gewusst, dass der Memento von Bukarest 2004 nicht vergeblich war. Und tatsächlich gab es dieses Jahr ein weiteres Gedenken in Rumänien. Ich wünsche mir auch, dass dasselbe 2006 auch in Berlin erfolgt, auch wenn viele von uns oder wenige von uns nicht da sein werden; andere aber werden sich in Paris wieder sehen. Es ist wichtig, das gleiche Ziel vor Augen zu haben und sich an einer gemeinsamen Aktion beteiligt zu fühlen. Ich wiederhole es: jede Aktion ist gewinnbringend. Diese Begegnungen dienen zu unserer Erinnerung, der Gesinnung, der Vernunft, der Kultur; die Politik wird dabei nicht ausgenommen. Auch diese Veranstaltung, wenn wir sie so nennen wollen, ist ein Teil, das sich in das große Mosaik der Freiheiten einfügt; wir können es auch als einen Ziegelstein in einer symbolischen Mauer betrachten, die wir gegen die neuen, immer wieder auflebenden Autoritarismen errichten. In seinen verschiedenen Ausprägungen forderte der Kommunismus im 20. Jahrhundert zahlreiche Opfer, nach diversen makabren Tabellen von 80 bis 200 Millionen. Ich glaube um diese Toten zu ehren, ihre Verwandten und alle, die gelitten haben, wäre es richtig, das, was wir unternommen haben, weiter zu verfolgen. Ich hoffe, auch jenseits der Zeremonien und der Sinnbilder kann der Memento Gulag eine Gelegenheit der Besinnung werden, hier in Europa und in der Welt. An jedem 7. November müssen wir kontinuierlich, auch für wenige Sekunden, in unseren Herzen diese symbolische Kerze für die Opfer anzünden.



Die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit Erinnerungskultur als persönliche Erfahrung der Opfer

Aufarbeitung totalitärer kommunistischer Vergangenheit und Erinnerungskultur die Situation in Russland, den baltischen Staaten und Ungarn Von Gabriele Baumann

Russland Wahrend sich die Länder Ost-, Mitteleuropas nach 1989 von der sowjetischen Fremdherrschaft befreiten und die alten kommunistischen Machteliten und -strukturen zu großen Teilen austauschten, sah sich die russische Systemtransformation Anfang der neunziger Jahre, nach einer Zeit des demokratischen Aufbruchs, einer zunehmenden Stagnation ausgesetzt. Heute ist die demokratische Umbruchsphase aus dem Bewusstsein der meisten Menschen in Russland weitgehend verdrängt worden oder verschwunden. Nicht mehr die damals offenen Diskussionen über die Vergangenheit stehen im Mittelpunkt, sondern das Streben nach neuer imperialer Größe. Die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit erfolgt bisher weitgehend deskriptiv, nur selten finden weiterreichende Analysen statt, ganz zu schweigen von Einordnungen in größere historische und politische Zusammenhänge. Die Erinnerung an den Gulag in Russland ist bis heute fragmentarisch und nennt im besten Fall lokale Begebenheiten. Nationale Denkmäler für die Opfer des totalitären Regimes fehlen ebenso wie ein nationales Museum als notwendiges Bindeglied zwischen Wissen und Verstehen, Tatsache und Ereignis, Erfahrung und Erinnerung. Alle Arten von Erinnerung an die Jahrzehnte des Terrors in der Sowjetunion könnten aber heute Bestandteil der gesamten Erinnerungskultur in den Ländern Mittel- und Osteuropas sein. Die Darstellung der Epoche des Gulag mithilfe des Projekts eines virtuellen Museums, auf das in einem Beitrag später noch eingegangen wird, bietet eine der wenigen Möglichkeiten, über regionale und

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Gabriele Baumann

internationale Grenzen hinweg einen Überblick über diese Zeit zu erlangen und damit für das Erinnern zu erhalten. Die Aufarbeitung der Vergangenheit spielt von staatlicher russischer Seite für den Demokratisierungsprozesses keine Rolle. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen im Oktober 1991 wurde der Reflexion über den Terror ein Schlussstrich gesetzt. Es wird hier ein Verständnis der sowjetischen Geschichte vermittelt, in dem der Staatsterror gesichtslos ist, nicht ein Verbrechen, das von politischen Gruppen und den ihnen unterstellten staatlichen Strukturen verübt wurde, sondern ein Unglück, das mehr oder weniger als Naturkatastrophe über die Menschen hereingebrochen ist. Mangelnde Kenntnis der Vergangenheit ist daher auch als grundlegendes Defizit innerhalb des Demokratisierungsprozesses festzustellen. An dieser Stelle bemüht sich die Konrad-Adenauer-Stiftung, mit ihren Aktivitäten einen Beitrag zur Anregung des Dialogs zu leisten. Besonders hervorzuheben ist hier die kontinuierliche Unterstützung des virtuellen Gulag-Museums in Kooperation mit der Nichtregierungsorganisation "Memorial" sowie Fachkonferenzen In der Republik Komi zum Thema Erinnerungskultur.

Die baltischen Länder Nach über sechzig Jahren der Besetzung und Unselbständigkeit müssen die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sich ihrer nationalen Identität erst wieder bewusst werden und einen neuen Zugang zu ihrer Nationalgeschichte finden. Dies gestaltet sich am einfachsten in Litauen, da das Land über eine lange Geschichte mit glanzvollen Epochen verfügt und heute zu über 80% von ethnischen Litauern bewohnt wird. Estland und Lettland hingegen haben ihre unabhängige Staatlichkeit erst nach dem Ende des 1. Weltkrieges erkämpft und bereits nach ca. 20 Jahren wieder verloren. Zudem leben in Estland und Lettland jeweils mehr als 1 /3 russischsprachige Bevölkerungsgruppen mit einem ganz anderen historischen Hintergrund und Geschichtsbild in Bezug auf die nationale Identität. Dies erschwert die Bearbeitung der Geschichte und den nationalen Identitätsprozess zusätzlich.

Aufarbeitung totalitärer kommunistischer Vergangenheit

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Von den Universitäten sind nach der Erlangung der Unabhängigkeit zunächst wenige Impulse zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit ausgegangen. Die Lehrkräfte der staatlichen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen waren bis zur Wende gezwungenermaßen der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung verpflichtet und öffneten sich nur spärlich einer kritischen Betrachtung der sowjetischen Zeit. Allerdings haben sie zum Teil bis heute die Lehrstühle an den Universitäten inne und blockieren dadurch eine zügige Vergangenheitsaufarbeitung. Starke Impulse zur kritischen Geschichtsbetrachtung der sowjetischen Zeit kommen von zwei Seiten: zum einen von den aus dem Exil zurückgekehrten Personengruppen und zum zweiten von herausragenden Persönlichkeiten der Unabhängigkeitsbewegung, die oftmals unter der Sowjetzeit besonders gelitten haben. Um für die letzte Gruppe nur einige Beispiele zu nennen: In Estland traten der zu den "Waldbrüdern" (eine Gruppe von Freiheitsaktivisten) gehörige Mart Laar; zweimaliger Ministerpräsident des Landes nach der Unabhängigkeit, und auch Tunne Kelam, heute Europaabgeordneter, mit historischen Beiträgen hervor. In Lettland dokumentierte die ehemalige lettische Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete auch anhand eigener Erfahrungen das Leiden lettischer Eliten in der sowjetischen Zeit. In Litauen meldet sich der Freiheitskämpfer und erste Parlamentspräsident des unabhängigen Litauen ~tautas Landsbergis immer wieder mit wichtigen Beiträgen zur Aufarbeitung und Bewertung der sowjetischen Zeit zu Wort. Zurückgekehrte Exilanten bauten in den 90er Jahren Zentren für die Geschichtsaufarbeitung in ihren Ländern auf. So sind zum Beispiel die Okkupationsmuseen in Riga und in Tallinn mit deren starker finanzieller Unterstützung aufgebaut worden. Aus diesen Zentren kommen wichtige Impulse für Fragestellungen und Forschungen der jüngsten Geschichte. Daneben wurden von staatlichen Stellen Historiker- und Forschungskommissionen eingerichtet. So hat die Präsidentin Lettlands eine Kommission einberufen, in der auch nicht-lettische Wissenschaftler maßgeblich mitwirken. Erste Ergebnisse der Forschungen, die internationalen Wissenschaftsstandards vollauf genügen, sind mittlerweile publiziert und teilweise in mehrere Sprachen übersetzt worden.

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Gabrie1e Baumann

Ein anderer bedeutsamer Schritt zur Geschichtsaufarbeitung ist die Veröffentlichung von Listen derjenigen Personen, die für den Geheimdienst KGB gearbeitet haben. Diese Listen wurden in Litauen bereits der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Das lettische Parlament hat entschieden, die Listen ebenfalls zur Veröffentlichung frei zu geben. Allerdings wartet man seit längerer Zeit auf die Umsetzung dieses Beschlusses. Führende Politiker in Litauen, Lettland und Estland erwarten von Russland als Rechtsnachfolger der zusammengebrochenen Sowjetunion eine Entschuldigung für die Okkupation und die darauf folgenden Menschenrechtsverletzungen. Von einigen Gruppen und Politikern werden auch Wiedergutmachungsleistungen für die Folgen der Okkupation gefordert. Die offizielle russische Seite ist jedoch nicht bereit, die Eingliederung der Baltischen Länder als Okkupation durch eine imperiale Politik Stalins anzuerkennen. Wiedergutmachungsforderungen werden in jedem Fall abgelehnt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit zu einem wichtigen Impulsgeber geworden und hat insbesondere mit ihrer Initiative für eine baltisch-russische Schulbuchforschung Aufmerksamkeit erregt. Ungarn

Der Systemwechsel in Ungarn begann sich bereits in den 80er Jahren abzuzeichnen und vollzog sich nicht in einem "jähen Bruch", sondern durchlief sukzessive verschiedene Prozesse, die zu immer größeren gesellschaftspolitischen Zugeständnissen führten. Dies mag auch eine Erklärung für die nur langsam begonnene Vergangenheitsbewältigung auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene sein. Die juristische Vergangenheitsbewältigung des Kommunismus nach 1989 konzentrierte sich vorrangig auf die Ereignisse der antistalinistischen Aufstände von 1956. Der Ministerrat setzte hierzu eine "Historische Kommission" ein, "die zwischen 1949 und 1956 geschehenes Unrecht zu untersuchen hatte". Die in der von 1949 übernommenen und nur geringfügig modifizierten ungarischen Verfassung festgesetzten VeIjährungs- und Rückwirkungsverbote führten allerdings in diesem Zusammenhang zu juristischen Schwierigkeiten.

Aufarbeitung totalitärer kommunistischer Vergangenheit

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Generell stand weniger die strafrechtliche Aufarbeitung im Vordergrund, man bemühte sich mehr um Entschädigung und Rehabilitierung von Opfern der "harten" Phase der Diktatur (1948 - 56). Auf politischer Ebene wurde bereits 1990 ein Lustrationsgesetz zur Durchleuchtung von Personen des öffentlichen Dienstes gefordert, seine endgültige Verabschiedung fand jedoch erst 1996 statt, wobei die damals regierende sozialistische Partei das Gesetz auf einen Kreis von 500-1000 zu überprüfenden Personen, vorwiegend hohe Funktionsträger und Parlamentarier, begrenzte. Erst im Jahr 2000 erweiterte die konservative anti-kommunistische Regierungspartei FIDESZ den Kreis der zu Überprüfenden auch auf Angestellte im MedienBereich. Die ungarische "Gauckbehörde" wurde 1997 als "Amt für Geschichte" ins Leben gerufen. Zwar kann man dort auf Antrag forschen und Überwachungsakten einsehen, dem Antragsteller werden jedoch nur Zusammenfassungen vorgelegt. Im Gegensatz zur Übernahme der Stasi-Zentrale durch Bürgerrechtler in der DDR, wurde in Ungarn der ehemalige Leiter des Militärarchivs György Marko, der zwischen 1977 und 1989 auch Partei mitglied war, als Leiter der Behörde bestimmt. Für einen Großteil der Bevölkerung schienen nach 1989 wirtschaftliche und soziale Probleme zu überwiegen und den Wunsch nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit eher gering zu halten. Es kam jedoch zu medien wirksamen symbolischen Aufarbeitungen, wie im Falle der Rückführung der Leiche des unter der Regierung Kadar nach den Aufständen 1956 hingerichteten Reformpolitikers Imre Nagy im Sommer 1989. Einer kontrovers diskutierten Aufarbeitung der Geschichte widmet sich in Budapest das Museum "Haus des Terrors". Einst befand sich hier das Hauptquartier der ungarisch-faschistischen "PfeilkreuzerBewegung" wie nach 1945 auch der kommunistischen Geheimpolizei. Zu Debatten kam es, da der Zeit des Holocausts und der Geschichte des Regimes Miklos Horthys, der mit den Nationalsozialisten kollaborierte, weit weniger Raum zukommt als dies für die Zeit des Kommunismus der Fall ist. Zudem gibt es zahlreiche Persönlichkeiten, deren Verwandte als Täter im "Haus des Terrors" dokumentiert sind. Konflikte sind also vorprogrammiert.

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Gabriele Baumann

Die Konrad-Adenauer-Stiftung engagiert sich in Ungarn - auch in Kooperation mit dem Museum "Haus des Terrors" - für eine Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit.

Die Wiedervereinigung der Geschichte Europas Von Sandra Kalniete 1995, auf dem Weg zur vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking, las ich ein Buch der chinesischen Autorin Jung Chang mit dem Titel "Wilde Schwäne". Das Buch erzählt über drei Generationen hinweg die traurige Geschichte der Frauen der Changfamilie und die Geschichte Chinas. Damals dachte ich, dass diese Geschichte auch über meine Familie und fast jede andere lettische, litauische und estnische Familie hätte geschrieben werden können, die die Besatzung der Sowjets überlebte. Es gibt in den baltischen Staaten nicht eine Familie, die nicht ihre eigene sibirische Geschichte erzählen kann und deren Mitglieder nicht in den unermesslichen Weiten des gefrorenen Landes verschwunden sind. Unsere Geschichten sind alle gleich. Die Zeitpunkte und Orte der Deportationen sind gleich. Die Gräueltaten und Verletzungen der Menschenrechte sind die gleichen. Nur unsere Namen unterscheiden sich. Es stimmt, dass ich in Sibirien geboren wurde, sechs Zeitzonen von meiner Heimat in Lettland entfernt. 1941, als meine Mutter vierzehneinhalb Jahre alt war, wurde sie zusammen mit meinem Großvater Janis und meiner Großmutter Emilja von der sowjetischen Obrigkeit nach Sibirien deportiert. Sechs Monate später starb mein Großvater im Gulag den Hungertod. Meine Großmutter starb 1950 in der erzwungenen Ansiedlung. Sie war unterernährt und entkräftet von einer Arbeit, die jenseits menschlicher Möglichkeiten lag. 1949 wurde mein Vater Aivars, der damals 17 Jahre alt war, zusammen mit seiner Mutter Milda deportiert. Ihr einziges Verbrechen war, dass sie als Familienmitglieder eines "Bandit" galten. "Bandit"

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bezeichnete Mitglieder jeglichen Widerstands und Aivars Vater, Aleksandrs, blieb dies auch unter sowjetischer Besatzung. Mein Großvater wurde festgenommen und in den Zellen des KGB gefoltert. Später wurde er in den Gulag verschleppt, wo er 1953 starb. Meine Eltern lernten sich 1953 kennen und heirateten im selben Jahr. Ich wurde in dem Dorf Togur in der Region Tomsk geboren. Zweimal im Monat mussten sich meine Eltern mit mir im Büro des Kommandanten melden, um dem sowjetischen Sicherheitsdienst zu versichern, dass ihr Baby nicht seinen vorgeschriebenen Platz im Exil verlassen hatte. Demnach war es mein Schicksal, nicht frei zu sein. Da mein Vater und meine Mutter die Sowjets nicht mit weiteren Menschensklaven versorgen wollten, habe ich keine Geschwister. Nach Stalins Tod wurde den Deportierten erlaubt, nach Lettland zurückzukehren. Und so nahm meine Familien-Odyssee in Sibirien im Mai 1957 ihr Ende. Meine Mutter hatte sie sechzehn Jahre ertragen, mein Vater und meine Großmutter acht Jahre, ich selbst vier Jahre und fünf Monate. Meine Mutter war ein 14jähriges Mädchen, als sie nach Sibirien deportiert wurde und kam zurück als 30jährige Frau. 50 Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hat Lettland drei aufeinander folgende Besatzungen erlebt: Sowjetische, deutsche und erneut sowjetische Besatzer, die für den großen Verlust menschlicher Leben und Unterdrückungen verantwortlich sind. Die Zahl derjenigen Letten, die unter beiden totalitären Regimen gelitten haben, die durch die Unterdrückung getötet und deportiert, in Todeslagern eingesperrt waren, die in Kriegen getötet, die von ausländischen Mächten begonnen, die von den Sowjets und den Nazis in ihre Armeen getrieben wurden und die zur Emigration gezwungen wurden, ist nicht vollständig belegt. Mit Sicherheit übersteigt sie aber 600.000 Menschen, die ungeborenen Kinder nicht mitgezählt. Zu dieser enorm hohen Zahl müssen noch 70.000 lettische Juden addiert werden, die von den Nazis ermordet wurden. Umso mehr Fakten wir sammeln, umso stärker werden die Zahlen weiterhin steigen. Meine Damen und Herren, ich erinnere Sie an diese schrecklichen Fakten und erzähle Ihnen mein persönliches Schicksal, weil ich überzeugt bin, dass die Welt über die Verbrechen informiert werden muss, die in Osteuropa und den baltischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang verübt wurden.

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In dieser Zeit bauten die freien westlichen Staaten ein demokratisches und wohlhabendes Europa auf, in dem die Regeln des Gesetzes und der Respekt für die Menschenrechte regieren. Von den Schulden, die das 20. Jahrhundert Europa hinterlassen hat, gibt es eine besonders schwere. Der Eiserne Vorhang hat die besetzten Nationen nicht nur von unserer gemeinsamen europäischen Heimat ausgeschlossen - der Eiserne Vorhang hat auch 50 Jahre unserer wahren Geschichte einen Platz in der europäischen Geschichte unterschlagen. Die falsche Version der Geschichte unserer Länder, die bis 1990 kursierte, war komplett zensiert und die Fakten wurden gemäß der politischen Ziele und der Ideologie der herrschenden kommunistischen Regime umgeschrieben. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als die Archive für die Forschung geöffnet und die Erinnerungen derjeniger veröffentlicht wurden, die die Unterdrückungen und den Gulag überlebt haben, begann die Außenwelt die Wahrheit zu erfahren. Die Beweisdokumente so wie die schrecklichen Berichte der Opfer bestätigten die kriminelle Natur des kommunistischen Regimes der Sowjets. Ich bin der festen Überzeugung, dass es die Pflicht meiner Generation ist, eine vollständige und wahre Geschichte des Eisernen Vorhangs zu schreiben. Wir müssen die Verbrechen, die in Osteuropa und in den baltischen Staaten verübt wurden, ans Licht bringen. Geschieht dies nicht, wird Europas Geschichte immer unvollständig, einseitig und unehrlich bleiben. Meine Damen und Herren, die geistige Trennung zwischen Westund Osteuropa, die die 50jährige totalitäre Besatzung hervorgerufen hat, herrscht noch immer vor und muss überwunden werden. In der eher kurzen Friedenszeit von 15 Jahren sind die osteuropäischen Staaten und Balten auf den europäischen Zug aufgesprungen, der seine Fahrt schon vor langer Zeit aufgenommen hat. Von uns erforderte es Visionen, politischen Willen und einen nationalen Konsens, um alle unpopulären ökonomischen, finanziellen und sozialen Reformen durchzusetzen, die für den Anschluss an die anderen Europäer in der Union notwendig waren. Wie dem auch sei, wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass weit mehr als gemeinsame Anstrengungen und unser guter Wille notwendig sein werden, um die letzten geistigen Narben des Eisernen Vorhangs zu beseitigen.

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Es gibt Hunderte von Zeichen, die belegen, dass die grausamen Enthüllungen und Fakten über den sowjetischen Totalitarismus zwar den meisten westlichen Wissenschaftlern bekannt sind, aber noch nicht das westliche Bewusstsein durchdrungen haben. Nur einige wenige Beispiele: Können Sie sich vorstellen, dass ein Modedesigner seine künstlerische Inspiration in den schwarzen Ledennänteln der SS sucht oder ein Hakenkreuz als dekoratives Element benutzt? Nein! Trotzdem bedienen sich westliche Modeschöpfer oft der Elemente der sowjetischen Militärausrüstung. Ist es für Europäer akzeptabel, Porträts von Hitler oder Mussolini in der Werbung zu sehen? Sicherlich nicht! 1996 wurde ich von riesigen Werbeplakaten mit den Porträts von Stalin und Mao geschockt, die die Pariser Metrostationen schmückten. Es stimmte mich traurig, dass niemand den Grund meiner Empörung verstand. Eine weitere Beobachtung: Auf westlichen Flohmärkten würde sich niemand trauen, öffentlich Naziinsignien zu verkaufen, wie es mit sowjetischen Symbolen geschieht. Ich könnte diese Liste der scheinbar kleinen Vorfalle fortsetzen, um aufzuzeigen, dass die Verbrechen Stalins bei vielen Menschen nicht den gleichen Schmerz in den Eingeweiden hervorruft wie die Taten Hitlers. Es gibt eine Reihe von Umständen, die das Fehlen eines öffentlichen Bewusstseins für die Tragödie üsteuropas und der baltischen Staaten erklärt. Bis 1996 waren glaubwürdige Infonnationen über die Lager und die Unterdrückungen rar. Die Archive waren für Wissenschaftler und die Forschung nicht zugänglich. Die ersten Augenzeugenberichte über den Gulag wurden lange Zeit nicht ernst genommen, weil es schwierig war zu glauben, die Gräuel, von denen berichtet wurde, könnten wahr sein. Eine leichte Veränderung in der Einstellung des Westens kam mit der Veröffentlichung einer mündlichen Geschichte der Lager mit dem Titel, Der Archipel Culag von Alexander Solschenizyn. Durch Perestroika und Glasnost wurden weitere Enthüllungen bekannt. Seit den 1990er Jahren sind die Archive zugänglich, ein Umstand, der zur Veröffentlichung einiger fundamentaler Forschungsarbeiten über den Gulag und den sowjetischen Terror führte. Wie auch immer, ihr Einfluss war weitestgehend auf die Wissenschaft beschränkt und rief wenig Interesse bei der breiten Bevölkerung hervor. Dies bestätigt, dass das soziale, kulturelle und politische Rahmenwerk für das Wissen um den Gulag bis heute fehlt.

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Vielleicht ist dies auch auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Zeit zurückzuführen. Im Westen nehmen die Menschen alles, was in Osteuropa und den baltischen Staaten passiert ist, als eine lang vergangene Geschichte wahr. Für uns ist sie hingegen noch immer Teil der jüngsten Vergangenheit, eine lebendige Erinnerung. Das Fehlen eines echten Interesses der Öffentlichkeit wird von den Medien und der Filmindustrie genau wahrgenommen und Filme, die reflektieren, was wirklich hinter dem Eisernen Vorhang passiert ist, sind rar. Nur einige wenige wie "Good-bye, Lenin" konnten öffentliches Interesse hervorrufen. Das gleiche kann über visuelle Dokumente gesagt werden. Die Nazis waren so stolz auf ihre Rechtschaffenheit und so überzeugt von einem lOOOjährigen Reich, dass sie alles gewissenhaft fotografierten und ihre Verbrechen gegen die Menschheit filmten. Mittlerweile sind diese entsetzlichen Bilder Teil eines kollektiven Bewusstseins der Menschheit geworden. Die Sowjets hingegen waren vorausschauend genug, keine visuellen Zeugnisse zu hinterlassen. Wir alle kennen die Macht, die Bilder über die öffentliche Wahrnehmung haben. Die fehlende Vorstellungskraft erklärt teilweise, warum die Öffentlichkeit so unbekümmert mit den sowjetischen Lagern und ihren Opfern umgeht. Wir müssen auch über eine weitere heikle Angelegenheit sprechen: die Einstellung der politischen Rechten und Linken des Westens gegenüber dem sowjetischen Totalitarismus. Die Linke hat jahrelang für Erklärungen und Entschuldigungen für den sowjetischen Terror gekämpft. Nicht nur Kommunisten, auch viele Sozialisten haben auf Streichelkurs mit den Sowjets gesetzt. Immer noch sind viele nicht willens oder vielleicht nicht in der Lage zuzugeben, dass ihre Einschätzung des sowjetischen Totalitarismus falsch war. 1997, als in Frankreich das "Livre Noir du Communisme" erschien, löste es eine Kontroverse aus. Der sozialistische Premierminister versuchte jedoch die Fakten zu schmälern, indem er sie als übertrieben bezeichnete. Während die westlichen Konservativen das sowjetische Regime als übel demaskieren wollten, gaben sie gleichzeitig nur zögernd zu, dass der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg auch eine Schattenseite hatte: dass direkt nach dem Sieg und der Befreiung der Konzentrationslager Hitlers Stalin sein 3 Cristin

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Gulag-System ausdehnte. Es ist nicht gerade angenehm festzustellen, dass ein Massenmörder mit der Hilfe eines anderen Massenmörders besiegt wurde. Niemand möchte sich an Jalta erinnern, als für den Frieden in Europa der Pakt mit Stalin über Osteuropa und die baltischen Staaten geschlossen wurde. Mit dem Gefühl, dass die lang ersehnte Gerechtigkeit endlich wahr wird, hörte ich am 5. Mai 2005 die Rede des Präsidenten George Bush in Riga. Er bestätigte, dass "die Niederlage für einen großen Teil Deutschlands Freiheit bedeutete. Für einen großen Teil Ost- und Mitteleuropas, brachte der Sieg hingegen das eiserne Gesetz eines anderen Reichs. Der Victory-in-Europe-Day markierte das Ende des Faschismus, aber er bedeutete nicht das Ende der Unterdrückung. Das Übereinkommen von Jalta folgte der ungerechten Tradition von München und des Molotov-Ribbentrop-Pakts. Wieder einmal, wenn mächtige Regierungen verhandeln, war die Freiheit kleiner Nationen entbehrlich. Gerade dieser Versuch, Freiheit um der Stabilität willen zu opfern, hat einen geteilten und instabilen Kontinent zurück gelassen. Die Gefangenschaft von Millionen von Menschen in Mittelund Osteuropa wird als eine der größten Ungerechtigkeiten der Geschichte erinnert werden." Ich bin überzeugt, dass innerhalb des Rahmenwerks einer Politik für ein demokratisches Bewusstsein, zu der die Einschätzung und Verurteilung aller totalitärer Regime und ihrer Verbrechen gehört, eine internationale Kommission eingerichtet werden muss, die die Verbrechen des totalitären kommunistischen Regimes bewertet. Ich glaube auch, dass die Opfer aus Sibirien, aus Budapest, Timisuara, Prag und Solidamosc einen Anspruch auf eine sorgfaltige Untersuchung der historischen und rechtlichen Aspekte des sowjetischen Totalitarismus haben. Deshalb müssen wir ein internationales Forschungsinstitut einrichten. Seine Ergebnisse werden der internationalen Gemeinschaft Informationen für die Verurteilung des totalitären kommunistischen Regimes liefern. Zum Schluss möchte ich erzählen, dass ich ein Buch über meine Familiengeschichte geschrieben habe. Für mich war das eine schmerzvolle Reise in die Vergangenheit. Ich fühlte mich, als würde ich Nacht für Nacht durch kafkaeske Horrorlabyrinthe irren. Mein Buch wurde 2001 in Riga veröffentlicht. Es fand internationales Inte-

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resse und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, auch ins Italienische. Weitere Übersetzungen sind in Arbeit. Seit März 2005 ist "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee", erschienen bei Helbig, auch auf Deutsch erhältlich.

Memento Gulag! Von Vladimir Bukowski Womit ich beginnen sollte, ist der Versuch, präziser zu definieren, was Gulag als soziales Phänomen bedeutet, weil der Begriff in den letzten Jahren, seitdem Solschenizyn diesen Begriff durch sein berühmtes Buch Archipel Gulag in den Westen brachte, wie es immer mit politischer Terminologie geschieht, über jegliche Anerkennung hinaus erweitert wurde, damit herumgealbert wurde. Manchmal bin ich wirklich entsetzt, in den Nachrichten oder den Medien eine Referenz zu etwas wie der Guantanamo Strafanstalt als einen neuen Gulag zu hören. Das macht mich wirklich sehr wütend. Es ist nicht nur lächerlich und dumm, es ist wirklich eine Beleidigung der Erinnerung von Millionen und Millionen von Menschen, die im Gulag starben. Meine dringende Frage an solche Leute ist: Gut, sagen Sie mir, wie viele Häftlinge in Guantanamo haben sich zu Tode gearbeitet, sind verhungert, sind erfroren. Wie viele? Nennen Sie mir einen! Und niemand kann das. Ja, viele Länder in der Welt, die meisten Länder der Welt, müssen etwas wie ein Strafsystem haben. In einer Welt, in der wir internationalen Terrorismus haben, in der muss es Gegengewichte geben. Natürlich, die internationalen Regeln zur Behandlung von Gefangenen und Kriegsgefangenen müssen beachtet werden und wenn man irgendwelche Verletzungen findet, sollte dies verurteilt werden. Aber es mit einem Konzentrationslager der Nazis oder einem Gulag zu vergleichen, ist verrückt. Und gerade dies zeigt, . dass es Menschen in dieser Welt gibt, die uns vergessen machen wollen, was dieses Phänomen war. Nun, Gulag bedeutet in der Realität etwas Einfaches. Es ist ein Generaldirektorat des Arbeitslagerestablishments oder des Konzentrationslagerestablishments. Aber natürlich geht es viel weiter und philosophisch viel breiter als nur ein System von Konzentrationslagern. Damit zu beginnen ist beispiellos. Kein anderes Land der Welt zuvor, und ich hoffe kein anderes

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danach, würde versuchen, so etwas zu tun. Gulag als System hat nur eine Parallele zu den Konzentrationslagern der Nazis, nichts anderes, weil es nicht nur ein politischer Unterdrückungsapparat war, es war ein ideologischer Unterdrückungsapparat, es war ein politisches Werkzeug, mit dem die Herrscher versuchten, die ganze Gesellschaft umzugestalten, sie beherrschten das Land mit der Hilfe des Gulag. Sie gestalteten die Sicht der Leute um, weil es ein System der Kriminalisierung jeder Meinung war, die sich von einer als im Land dominierend erklärten unterschied. So konnten wir plötzlich in derselben Baracke nebeneinander sitzend jemanden finden, der ein Trotzkist war, und jemanden, der zaristischer Offizier war. Es war für die Kommunisten nicht wichtig, wer sie waren, so lange wie diese Leute in ihrer Meinung nur geringfügig von der abwichen, die sie durchsetzen wollten. Es war nicht nur das, es war ein Weg das ganze Gewebe der Gesellschaft umzugestalten, alle Schichten der Bevölkerung wurden vernichtet und im Gulag zu Tode gearbeitet. Und gewöhnlich waren es die besten Leute. So verloren wir als ein Ergebnis der kommunistischen Herrschaft die besten Landarbeiter, die besten Arbeiter, die besten Handwerker, die besten Intellektuellen, die besten in jedem Beruf, in jedem Arbeitsbereich des Lebens. Kein Wunder, dass der Weg zurück zum normalen Leben in früher kommunistischen Ländern so schmerzhaft und langsam ist. Das war ein Genozid, es gibt keinen anderen Namen dafür. Es hat auch ein enormes psychologisches Vermächtnis im Land hinterlassen, weil Gulag nicht nur eine riesige Anzahl von Gefängniswächtern und eine riesige Anzahl von Gefangenen erforderte, sondern auch ein System politischer Kontrolle, eine riesige Anzahl geheimer Informanten, von Verhörenden, die Kollaboration der gesamten Nation, denn der Unterschied zwischen einem autoritären System und einem totalitären ist sehr einfach. Ein autoritäres Regime, so bedrückend es auch sein mag, versucht nicht, die ganze Gesellschaft in ihr Verbrechen zu involvieren. Ein totalitäres tut dies. Und wenn über sogenannte Feinde des Volkes das Strafgericht abgehalten und ausgeführt wurde, war das ganze Land gefordert, offen und öffentlich das Verbrechen anzuerkennen, so dass es zum Komplizen bei diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde. Wie würde eine Nation sich selbst später in Einklang bringen damit, in ihre eigene Seele zu blicken und zu verstehen, dass jeder einzelne von ihnen auf die eine oder andere Art in diese Verbrechen involviert

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war. Dies ist ein bleibendes psychologisches Trauma, eine psychologische Narbe, die in unserer Gesellschaft noch nicht verheilt ist. Ich bin Frau Kalniete auch sehr dankbar, dass sie die Tatsache erwähnt hat, dass die westliche öffentliche Meinung Gulag betreffend sehr unerfreulich war. Erst wurde es vehement verneint, bis hin zu einigen Strafprozessen in Frankreich, als die Kommunisten jeden verklagen wollten, der Nachrichten darüber veröffentlicht, und tatsächlich in einigen Fällen gewannen, was bis zur Zensur, selbst auferlegter Zensur der westlichen Medien führte, die niemals etwas dieses enorme Phänomen, diese enorme Tragödie und dieses enorme Verbrechen betreffend erwähnt haben. Aber auch heute, wo alles öffentlich und unbestreitbar ist, können wir unmittelbar den Versuch des linken Establishments sehen, der Hauptkomplizen der Kriminellen, wie sie versuchen, jede Spur dieser riesigen Tragödie zu verwischen. Es verwirrte mich heute wirklich, als ich dieses Gebäude betrat, einige Leute davor zu sehen, die Informationsmaterial verteilten. Offensichtlich will die Berliner Regierung die Kreuze entfernen, die in der Erinnerung an die errichtet wurden, die starben, als sie die Mauer überqueren wollten. Ist das nicht ein Versuch zu vertuschen, ist es kein Versuch, es aus unserer Erinnerung zu tilgen, aus der Erinnerung zukünftiger Generationen, nicht daran zu erinnern, welche Verbrechen begangen wurden? Wenn wir dieses Jahr ein großes Propagandatreffen in Moskau sehen, eine Show, die das Jalta-Abkommen genauso zelebriert wie das Ende des Krieges und den Beginn der Inbesitznahme Osteuropas, wenn wir das gesamte westliche politische Establishment dorthin kommen und daran teilnehmen sehen, so der ganzen Show einen Schleier von Billigung gebend, wenn wir sehen, dass die neuen Monumente für Stalin, sei es mit Roosevelt und Churchill, in Russland wieder enthüllt werden, ist das nicht ein Versuch unsere Erinnerung auszulöschen, ist das nicht eine Beleidigung der Millionen, die starben? Dies geht von Land zu Land, dieser Prozess heute, wie Sie sehr richtig erwähnten, wird manchmal obszön. Wenn die Europäische Union entscheidet, dass die Insignien des Naziregimes in Europa verboten sein sollten, applaudiere ich dazu, aber wenn sie sich zum gleichen Zeitpunkt weigert, die Insignien des früheren Kommunismus in unserem alltäglichen europäischen Heim zu verbieten, das ist erschreckend, das ist es, was ich moralische

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Schizophrenie nenne. Wenn wir ein Verbrechen verurteilen und uns weigern, andere zu verurteilen. Wenn in unserer Welt aufgrund all dieser massiven Propaganda nachkommenden Generationen beigebracht wird, dass die Verbrechen nur vom rechten Flügel begangen wurden, aber das, was die Linke getan hat, nur ein "Fehler" war. Das ist moralische Schizophrenie. Ich muss sagen, dass wir in unserem Land sehr zu bedauern waren, nicht nur weil wir den Kommunismus hatten, der viele Millionen vernichtet hat, sondern auch weil das Ende des Kommunismus nicht von einem endgültigen Urteil markiert wurde, für das wir alle beteten. Deutschland hatte Glück, es hatte das Nürnberger Tribunal. Um die Nation zu zwingen, in ihre Seele hinabzublicken und zu verstehen, welches schreckliche Verbrechen in diesem Land begangen worden war. Und das ist der Grund, warum Deutschland heute ein florierendes Land ist. Innerhalb von zehn Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dank dieses Prozesses und des Prozesses der Entnazifizierung hatte Deutschland das Wirtschaftswunder, während Osteuropa, die frühere Sowjetunion, sich fünfzehn Jahre nach dem Ende des Sowjetregimes immer noch in ökonomischer Flaute befindet. Das ist eine direkte Verbindung zwischen moralischen Werten und ökonomischem Wohlstand. Unglücklicherweise gab es nirgendwo, nicht in einem einzigen früheren kommunistischen Land, ein ehrenhaftes Urteil, ein ehrenhaftes Gericht. Wir haben versucht, dies in Russland zu erreichen, glauben Sie mir, ich persönlich habe 1991 zu der gesamten neuen russischen Regierung gesprochen und habe sie beinahe überzeugt, ein ähnliches Tribunal ins Leben zu rufen, alle ihre Archive zu öffnen, all die schmutzigen Geheimnisse und dunklen Geheimnisse des kommunistischen Regimes zu öffnen, die notorischsten Täter und die schlimmsten Folterer zu bestrafen. Dies wurde abgelehnt. Nicht nur weil die russische Regierung zu dieser Zeit fester Bestandteil der früheren kommunistischen Nomenklatur war, nicht nur deshalb, sondern auch weil, wie sie mir erklärten, sie unter enormem Druck des Westens waren, die Geheimnisse der kommunistischen Zeit nicht öffentlich zu machen, nicht die Archive zu öffnen, weil, wie ich einige Jahre danach entdeckte, als ich Zutritt hatte zu den sowjetischen Archiven, die meisten der westlichen Establishments mit Moskau kollaborierten, geheim oder nicht

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zu geheim, und keines von ihnen wollte, dass dies öffentlich bekannt würde. So ist dies kollektive Schuld. Es ist nicht nur der Mangel der russischen Willenskraft und des politischen Willens, seine Vergangenheit zu missbilligen, sondern es ist auch der Mangel an politischer Willenskraft der Welt, mit ihrer eigenen Komplizenschaft umzugehen. Ich persönlich glaube nicht, dass die früheren kommunistischen Länder, genauso wie die westlichen Länder, wirklich eine florierende und freie Zukunft vor sich sehen, sofern wir diese Tatsache nicht schlussendlich vollbracht haben, eine Verurteilung eines kriminellen Regimes, das schrecklichste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das je in der Geschichte verübt wurde. Und so lange dies nicht geschehen ist, wird uns diese Vergangenheit niemals freilassen, wir werden weiter die sei ben Fehler begehen, über dieselben Hindernisse stolpern, dieselben Dummheiten begehen, unsere persönliche Verantwortung vergessend, die uns aufgrund unseres freien Willens gegeben ist. Das ist eine der wichtigsten Konsequenzen des Fehlens eines Urteils über den Kommunismus. Das ist der Grund, warum wir, zusammen mit meinen Kollegen in den Comitatus pro Libertatibus, zusammen mit einigen früheren politischen Gefangenen der kommunistischen Länder, entschieden haben einen Tag als Tag des Gulag zu kennzeichnen, Memento Gulag. Nur um nichts ungenutzt zu lassen, all diesen Versuchen des Establishments entgegenzuwirken es hinter uns, es vergessen und all seine Spuren verschwinden zu lassen. Wir begannen erst vor drei Jahren in Italien, letztes Jahr hatten wir den Tag des Gulag in Bukarest, jetzt haben wir ihn in Berlin, nächstes Jahr werden wir ihn höchstwahrscheinlich in Polen haben, und so weiter und so fort. Und ich bitte Sie alle, jedes Jahr am 7. November, was auch immer Sie tun, erinnern Sie sich an Gulag, zünden Sie eine Kerze an, erinnern Sie sich an die Namen der verlorenen Menschen, erinnern Sie sich an die komplett zerstörten Nationen. Das ist eine Sache, die wir alle tun können und wir können unsere Freunde und die Freunde unserer Freunde einbeziehen, damit dies ein internationaler Termin wird. Gestern, am 7. November, haben sich meines Wissens nach in vielen Ländern, Ost und West, die Leute zusammengefunden, um dieses dunklen Punktes der Geschichte zu gedenken, ein dunkles Phänomen unserer Leben. Und ich sage - in unseren Leben - und nicht in unserer Vergangenheit, weil ich fürchte, dass Gulag ein sehr präsentes

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Phänomen ist, präsent in einigen Ländern, wo sie immer noch diesen Alptraum durchleben wie in China und Kuba, Nord-Korea und Vietnam. Sie durchleben noch immer diese Erfahrung und erwarten jeden Moment, dass sie in das Land der Hoffnungslosigkeit geschleppt werden, sich erinnernd und betend für das Leben ihrer Lieben und ihrer Verwandten. Und heute, wenn wir sagen Memento Gulag, denken wir sicher auch an sie. Für andere Nationen, die gerade aus ihrer totalitären Vergangenheit auftauchen, ist Gulag bedauerlicherweise immer noch eine Gegenwart, da sie noch immer im Schatten dieser Vergangenheit leben. Bis heute hat kein früheres kommunistisches Land es geschafft, seine vergangene Existenz zu überschreiten und ihre Gegenwart ist noch immer gekennzeichnet davon, wie das Gesicht eines Pockenüberlebenden für immer von dieser Krankheit gekennzeichnet ist. Wir können diese Kennzeichnungen in ihrem öffentlichen Leben beständig sehen, in ihren Business Ethiken, in ihren psychologischen Geisteshaltungen. Gulag hat sie wie Krebs durchdrungen, jedes Kennzeichen ihrer Gesellschaft entstellend. Jedes neue prominent werdende Gesicht ist mit denselben Fragen im Hinterkopf gewissenhaft zu überprüfen: War er ein Informant? War er ein Gefängniswärter? War er ein Opfer? Oder, war er beides? Niemand ist gegen diese Frage immun und indem wir in ihre Gesichter blicken, können wir nur sagen: Memento Gulag! Nichtsdestotrotz marschieren andere Nationen schon rückwärts, gerade in diesem Moment, nicht im Stande in einer Atmosphäre der Freiheit zu leben. In Russland, in Weißrussland, in früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken ist eine Wiederbelebung des Gulag im Fortschreiten. In Russland, wo wir seit beinahe zehn Jahren keine politischen Gefangenen hatten, haben sie jetzt eine Menge von ihnen. In Weißrussland, ein notorisches Land der Unterdrückung, Sie alle wissen, wie viele Gefangene bereits bekannt sind. Eine Menge Leute sind noch immer dort, im Gulag, und ihnen werden sicherlich viele Tausende folgen. Und der deprimierendste Aspekt dieses Prozesses ist die Einfachheit, mit der diese Nationen in ihre gewohnte Haltung der Unterwürfigkeit zurückgefallen sind, der Selbstzensur und des falschen Optimismus. Sie bemerken kaum, dass sie schon im Gulag sind, sie alle, weil sie die Philosophie des Gulag leben: Du stirbst heute und ich werde morgen sterben. Also, Memento Gulag, Kameraden!

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Und was ist mit denen, die im gelobten Westen leben? Sind sie immun gegen diesen Fluch? Sind sie unempfänglich für diese Heimsuchung? Weit davon entfernt. In diesem Moment, in dem wir sprechen, wird eine neue Version der Sowjetunion einer schweigenden Mehrheit von europäischen Nationen aufgezwungen, die Europäische Union. Zugegebenermaßen ist diese eine abgeschwächte Version der Sowjetunion, nichtsdestoweniger jedoch eine Version. Bis jetzt gibt es noch keinen Gulag, bis jetzt. Aber die gesetzlichen und ideologischen Grundlagen eines neuen Euro-Gulag sind schon sichtbar. In einigen Jahren wird es einen Euro-KGB geben, der eine Macht genießen wird, die vielleicht größer ist, als die, welche der KGB jemals gehabt hat. Für den Anfang werden sie diplomatische Immunität haben. Können Sie sich eine Geheimpolizei mit diplomatischer Immunität vorstellen? Sie können tun, was immer sie tun wollen und Sie können sie nicht einmal vor Gericht verklagen. Und sie werden beinahe 32 Arten von Verbrechen kontrollieren, von denen zwei für uns besonders interessant sind, weil sie nicht im Strafgesetzbuch irgendeines zivilisierten Landes der Welt existieren. Eine heißt Rassismus, eine andere heißt Fremdenfeindlichkeit. So wissen wir schon, unter welchem Vorzeichen wir den nächsten Zeitraum absitzen werden. Weil, wie schon in Britannien erklärt wurde, jene, die gegen die europäische Integration und die Europäische Union opponieren, fremdenfeindlich sind und alle, die gegen unkontrollierbare Einwanderung aus den Dritte-Welt-Ländern nach Europa opponieren, Rassisten sind. Nett, oder? Es zahlt sich immer aus, alles vorher zu wissen, zumindest würden Sie wissen, was die Anklagen gegen Sie sein werden. Aber das ist nicht alles. In diesem Moment, in dem wir sprechen, führt jede europäische Nation unter dem Druck von Brussel ein neues Strafrecht ein, das Gesetz gegen "Hasspredigt". Wieder einmal werden wir erinnert an Orwellsche Neusprache, denn dieses Hasspredigergesetz macht einige Tiere gleicher als andere. Zum Beispiel, wenn Sie voller Hasses sind gegen Hasspredigten, sind Sie Ok. Und wenn Sie voller Hass sind gegen weiße europäische Männer, insbesondere gegen jene, die rauchen, sind Sie sicher. Aber wenn Sie einige gekennzeichnete Minderheiten nicht mögen oder irgendetwas anderes, was die Europäische Union sagt, sind Sie das nächste Opfer von Gulag. Sie werden in exakt derselben Weise für Ihr Verbrechen bestraft wie ich es wurde. Ich bemerkte, dass ein neues Gesetz, gerade bevorstehend im britischen Parlament, über die Hassprediger dieselbe

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Bestrafung nach sich zieht wie der Artikel 70, unter dem ich diente. Sieben Jahre. Ist das nicht nett? Ich denke, sie lernen voneinander, frühere Kommunisten und die neuen Utopisten der europäischen Union. So wie wir uns heute zusammengefunden haben, um Gulag zu gedenken, sprechen wir für eine große Anzahl Menschen, für die, welche dort waren, tot oder lebendig, für jene, die noch dort sind und für jene, die wohl auch noch morgen dort sein werden. In der Tat, wir wenden uns an die Menschheit, versuchen sie zu warnen. In vielen Ländern werden die Leute heute zusammenkommen, um nur die Kerze anzuzünden, die Namen ihrer toten Verwandten und Geliebten zu flüstern, zu beten, zu vergeben, zu hoffen. Nichts und niemand kann uns stoppen. Diese Welt mag völlig gleichgültig uns gegenüber sein, die selbsternannten Eliten mögen uns feindlich gegenüber stehen, aber sie können uns nicht daran hindern zu sagen: "Memento Gulag".

Die Erfahrung der Opfer in der deutschen Erinnerungskultur Von Hubertus Knabe Das Thema dieser Sitzung lautet: "Die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit - Erinnerungskultur als persönliche Erfahrung der ,Opfer"'. Ich bin gebeten worden, mit Blick auf die DDR dazu etwas beizutragen. Ich würde dazu die Fragestellung gerne umdrehen und der Frage nachgehen, welche Rolle die Opfererfahrung in unserer Erinnerungskultur spielt. Was die kommunistische Diktatur anbetrifft, so muss man leider konstatieren, dass die Erfahrung der Opfer in der deutschen Erinnerungskultur kaum eine Rolle spielt. Wenn wir zum Beispiel die gegenwärtige Diskussion um die Kandidatur des PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten nehmen, so kann man dazu in der Öffentlichkeit alle möglichen Stimmen hören. Doch keiner fragt, wie es auf die Opfer der SED-Diktatur wirkt, wenn ein früherer Parteifunktionär, dessen Kooperationsbereitschaft vom DDR-Staatssicherheitsdienst überschwänglich gelobt wurde, in eines der höchsten Ämter der Republik rücken soll. Ein anderes aktuelles Beispiel: In Deutschland hat man kürzlich das Versammlungsgesetz verschärft, so dass vor Gedenkstätten nicht mehr demonstriert werden darf, wenn dabei die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verhöhnt werden. Die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft sind dagegen ausdrücklich nicht in den Genuss einer solchen Schutzbestimmung gekommen. Untersucht man die Frage systematischer, welche Rolle die Opfererfahrungen in unserer Erinnerungskultur spielt, gehört es zu den besorgniserregendsten Befunden, dass es nicht gelungen ist, diese an die nächste Generation weiterzugeben. Fragt man Jugendliche heute nach der DDR, so wissen sie damit kaum mehr etwas anzufangen. Im Berliner Kurier wurden z. B. Schüler danach gefragt, wer Erich

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Honecker gewesen sei. Nahezu keiner wusste es zu sagen. Einer gab zur Antwort, das sei der Mann gewesen, der die Juden in Deutschland gerettet hätte. Ein Erfahrungstransfer der Erlebnisgeneration der Opfer zu den nachgewachsenen Generationen hat praktisch nicht stattgefunden. Den Jugendlichen, die die SED-Diktatur nicht selbst erlebt haben, kann man daraus keinen Vorwurf machen. Sie können nur das wissen, was die Älteren ihnen weitervermittelt haben. Auch die Opfer trifft keine Schuld, wenn die Gesellschaft ihren Erfahrungen keine Bedeutung beigemisst. Damit sind wir bereits beim nächsten Punkt: Die Erfahrungen der Kommunismusopfer sind nicht nur für Jugendliche, sondern für den größten Teil der Gesellschaft, also der Erwachsenen, der Medien, der Politiker, kein oder nur ein randständiges Thema. Dies liegt nicht etwa daran, dass man in Deutschland generell kein Ohr für die Opfer von Diktaturen hätte. Glücklicherweise genießen die Opfer des Nationalsozialismus sogar eine verhältnismäßig große Aufmerksamkeit. Doch die des zweiten totalitären Gesellschaftsentwurfs im vergangenen Jahrhundert - des Realsozialismus - werden nur unzureichend beachtet. Die ungleiche Erinnerungskultur in Deutschland kann man an vielen Beispielen zeigen. So wurde in Berlin vor kurzem für elf Millionen Euro ein so genanntes sowjetisches Ehrenmal saniert. Es zeigt einen siegreichen Sowjetsoldaten, der schützend ein Kind in der Hand hält. Das pompöse Denkmal stammt aus der Zeit des Stalinismus und das, was es zeigt, steht in krassem Gegensatz zu dem tatsächlichen Verhalten der meisten Rotarmisten in Deutschland. Demgegenüber ist ein anderes Bauwerk dieser Zeit, das ehemalige KGB-Gefängnis in Potsdam - das einzige erhalten gebliebene seiner Art in Deutschland - bereits seit Jahren wegen Baufälligkeit gesperrt. Während der Ort der Opfer verfällt, ist die Selbstverherrlichung der Täter in neuem Glanz erstanden. Die ungleiche Erinnerungskultur zeigt sich auch in der Unkenntnis der Deutschen über den Archipel Gulag, der das Thema des heutigen Nachmittags ist. Für die meisten stellt er eine völlige terra incognita dar, obwohl dort Millionen Menschen ums Leben kamen. Fragen Sie jemanden auf der Straße, was er mit den Begriffen Magadan, Kolyma oder Workuta verbindet, werden die meisten ratlos mit den Achseln zucken. Wenn Sie dagegen fragen, was geschah in Ausch-

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witz, Buchenwald oder Sachsenhausen, werden Sie, Gott sei Dank, in der Regel einigennaßen vernünftige Antworten bekommen.

Die enonne Unwissenheit spiegelt die Randständigkeit der Erfahrungen der Kommunismusopfer wider. Die wenigsten Deutschen wissen zum Beispiel, dass der Gulag sogar bis nach Berlin reichte. Seit Sommer 1945 residierte in Berlin-Hohenschönhausen die so genannte Abteilung Speziallager des sowjetischen Innenministeriums, die im August 1948 der Hauptverwaltung der Lager, also der sowjetischen Gulag-Verwaltung, unterstellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden von dort fünf sowjetische Gefangenenlager in Deutschland kontrolliert: Buchenwald, Sachsenhausen, Mühlberg, Bautzen und Fünfeichen; eines, Sachsenhausen, lag direkt vor den Toren Berlins. Die Einweisung in eines dieser Lager kam für mehr als ein Drittel der Insassen einem Todesurteil gleich. Im August 1948 befanden sich noch etwa 35 000 Gefangene in diesen Außenstellen des Gulag auf deutschem Boden. 40 000 waren bereits verhungert oder an Krankheiten oder Erschöpfung gestorben. Eine Untersuchungskommission der Moskauer Gulag-Zentrale, die damals nach Deutschland kam und die Lager inspizierte, stellte erschreckende Missstände fest. Ihrem Bericht zufolge befanden sich zum Beispiel 4400 Gefangene in so genannten Lazarettstationen - das waren keine Krankenhäuser, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern Vorzimmer zum Massengrab. Dort kam man hinein, wenn man so schwer von Dystrophie oder anderen Krankheiten geschwächt war, dass man kaum noch Überlebenschancen hatte. Der Gulag berührte die Deutschen aber nicht nur in Deutschland. Tausende Deutsche wurden auch in die Lager der Sowjetunion deportiert. Eine der berüchtigtsten Straflagerregionen für verurteilte Deutsche war Workuta. Die Lebensbedingungen waren dort besonders grausam, weil die Region nördlich des Polarkreises liegt, wo Temperaturen bis minus 60 Grad herrschen und der Boden niemals taut. Andere Deutsche wurden nach Moskau verschleppt, wo man sie erschoss, anschließend verbrannte und schließlich ihre Asche auf einem Friedhof verstreute - insgesamt fast eintausend Häftlinge. Eine sehr viel größere Zahl von Deutschen kam in die Lager der zweiten großen Häftlingsverwaltung in der Sowjetunion: den Archipel GUPVI. Insgesamt wurden während des Vonnarsches der Roten Annee seit Herbst 1944 etwa 270.000 Deutsche zur Zwangsarbeit in

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die Sowjetunion verschleppt. Nach sowjetischen Angaben sind 69.000 von ihnen dort verstorben. Auch diese Zahlen sind in Deutschland kaum jemandem bekannt - geschweige denn die einzelnen Schicksale, die sich dahinter verbergen, ohne deren Kenntnis man das mit der Verschleppung verbundene unermessliches Leiden nicht begreifen kann. Ich bin versucht, an dieser Stelle Josef Stalin ausnahmsweise zustimmend zu zitieren, der einmal gesagt hat: "Ein toter Mensch ist eine Tragödie. Eine Million Tote sind dagegen nur eine Ziffer." Die Erfahrungen der Opfer sind deshalb so wichtig, weil sie dem Leiden ein Gesicht geben. Doch in Deutschland sind die Einzelbiografien genauso unbekannt wie die kollektiven Schicksale. Ich denke hier zum Beispiel an Herbert Belter, den Hans Scholl der DDR. Er wurde 1950, nur wenige Jahre nach den Geschwistern Scholl, in Leipzig verhaftet, weil er Flugblätter verteilt hatte. Er erlitt dasselbe Schicksal wie die Scholls - er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet -, doch niemand kennt in Deutschland seinen Namen. Es gibt keinen Film, keine Schule, keine Straße, die nach ihm benannt ist. Straßennamen sind ein guter Gradmesser dafür, wie präsent die Opfererfahrungen in der Erinnerungskultur einer Gesellschaft sind. Wenn Sie durch Brandenburg fahren, stoßen Sie an jeder Ecke auf eine Thälmannstraße, eine Liebknechtstraße oder eine Karl-MarxStraße. Über 120 Straßen tragen allein den Namen Otto Grotewohls, also des Ministerpräsidenten der DDR, der den SED-Staat regierte, als dieser am brutalsten gegen seine echten und vermeintlichen Gegner vorging. Doch es gibt keine einzige Herbert-Stauch-Straße, die an jenen Mann erinnert, der in Magdeburg am 17. Juni 1953 mit dem Polizeichef über die Freilassung der politischen Gefangenen verhandelte und dafür am Tag darauf standrechtlich erschossen wurde. Selbst an die friedliche Revolution im Jahr 1989 - eine Sternstunde in der deutschen Geschichte - erinnert in Deutschland keine einzige Straße. Unwissenheit und Ungleichheit der Erinnerung könnte man vielleicht verschmerzen, wenn es sich nur um Defizite bei der historischen Wahrnehmung handeln würde. Gravierender aber ist, dass es kaum gelungen ist, aus der Erfahrung der Kommunismusopfer politisch-moralische Standards für die Gegenwart abzuleiten. Ich habe den Fall Bisky schon genannt. Fälle dieser Art gibt es zuhauf.

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So sitzt seit den letzten Wahlen ein ehemaliger hauptamtlicher StasiMitarbeiter im Deutschen Bundestag. Der Öffentlichkeit ist dies weitgehend gleichgültig, der Fall reichte gerade noch für eine kleine Meldung im "Spiegel". Uns fehlen offenbar klare politisch-moralische Standards, die uns zu dem Urteil kommen lassen, dass Verantwortliche eines Unterdrückungsregimes in einem demokratischen Parlament nichts zu suchen haben. Tabubrüche wie diesen gab es in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder und mit der Zeit haben sie sich zu einem großen Tabubruch summiert: Die Diktatur der SED wird als vergleichsweise harmlose Veranstaltung abgehakt, Mitverantwortung an der Unterdrückung anderer erscheint vielen als Kavaliersdelikt. Manchmal ist es schon geradezu umgekehrt, dass eine Mitwirkung am SED-Regime heute für politische Verantwortung besonders zu qualifizieren scheint. Insbesondere PDS-Politiker werben gerne mit der Parole "Ich stehe zu meiner Biographie!" - und werden auch noch gewählt. Die überlebenden Opfer der kommunistischen Diktatur und diejenigen, die aktiv Widerstand geleistet haben, stehen heute dagegen vielfach erneut am Rande der Gesellschaft, was sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar macht. In der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die ich leite, fand zum Beispiel gerade die Eröffnung einer Ausstellung "Zwangsaussiedlungen in der DDR" statt. Die wenigsten wissen, dass sich der Eiserne Vorhang in Deutschland bereits 1952 schloss, als die innerdeutsche Grenze hennetisch abgesperrt wurde - und nicht erst 1961, als in Berlin die Mauer gebaut wurde. Zur Sicherung der Grenzen wurden in der DDR etwa 12000 Menschen aus dem grenznahen Gebieten ausgesiedelt. Zu ihnen gehörte auch eine Frau, die ein Haus besaß, das sie für einen minimalen Betrag verkaufen musste, weil man sie nach ihrer Zwangsaussiedlung nicht mehr hinließ. Als sie nach dem Ende der SED-Diktatur ihr Haus zurück oder wenigstens eine Entschädigung dafür haben wollte, wurde ihr mitgeteilt, dass ihr das nicht zustehe, weil es sich um einen freiwilligen und damit rechtskräftigen Verkauf gehandelt habe. Auch die Ausgereisten der späteren Jahre, die gezwungen wurden, ihren Besitz in der DDR abzugeben, wenn sie in die Freiheit wollten, haben ihre Grundstücke und Häuser nie zurück erhalten. Ich kann die Ungerechtigkeiten gegenüber den Kommunismusopfern bei der Entschädigung des ihnen zugefügten Unrechts hier 4 Cristin

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nicht im einzelnen referieren. Ich erinnere nur an die groteske Situation nach dem Sturz der SED-Diktatur, als Willi Stoph, der letzte Ministerpräsident der DDR, der wegen angeblicher Prozessunfähigkeit aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, eine doppelt so hohe Haftentschädigung bekam wie diejenigen, die unter seinem Regime zuvor ins Gefangnis geworfen wurden. Stoph bekam damals die im Westen übliche Haftentschädigung, während die Opfer der kommunistischen Diktatur eine halb so hohe Entschädigung bekamen deutlicher kann man ihren Stellenwert kaum zum Ausdruck bringen. Die Missachtung der Opfererfahrungen kann man auch an dem jahrelangen Kampf der Opferverbände um eine Ehrenpension studieren. Für die Opfer des Nationalsozialismus gab es in der DDR eine Sonderrente, die bezeichnenderweise zweigeteilt war: die "Opfer des Faschismus" bekamen weniger als die "Kämpfer gegen den Faschismus" - womit vorzugsweise Kommunisten gemeint waren. Nach der Wiedervereinigung wurden diese Sonderrenten - dann auf einem einheitlichen Level - in das bundesdeutsche Rentensystem übernommen. Die Verbände der Kommunismusopfer haben daraufhin gesagt, dass es doch nicht sein könne, dass jemand, der vor 1945 im Lager Buchenwald saß, eine Sonderrente bekommt, und jemand, der nach 1945 dort saß, nicht. Die Gerechtigkeitslücke wurde noch größer, nachdem der Deutsche Bundestag auf Veranlassung des Bundesverfassungsgerichtes die Rentenzahlungen für die ehemaligen Funktionäre des Staats- und Parteiapparates der DDR mehrfach deutlich erhöht hat. So erhält ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter heute fast das Doppelte an Rente wie ein früherer DDR-Bürger mit einem DDRDurchschnittsgehalt. Viele Opfer bekommen dagegen die Folgen ihrer Verfolgung bis heute zu spüren, weil sich ihre systematische Diskriminierung im Berufsleben der DDR auch in entsprechend niedrigen Rentenansprüchen manifestiert. Die CDU hat deshalb die Forderung der Opferverbände nach einer Besserstellung bei der Rentenberechnung in ihr Wahlprogramm aufgenommen - und ich bin gespannt, ob sie auch umgesetzt wird, so lange die Betroffenen noch etwas davon haben. Dass die derzeit gültigen Entschädigungsregelungen die tatsächlichen Opfererfahrungen kaum reflektieren, zeigt sich auch an einem anderen Punkt: Bei den so genannten Unrechtsbereinigungsgesetzen - allein der Titel ist schon merkwürdig, denn wie will man Un-

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recht bereinigen, man kann nur versuchen, es nachträglich zu kompensieren - bei diesen Entschädigungsregeln wird unterschieden zwischen "aufsteigender" und "absteigender" Benachteiligung. Nur die absteigende Benachteiligung wird entschädigt. Das bedeutet, wenn Sie Professor waren und diesen Job aus politischen Gründen verlieren, dann bekommen Sie eine Entschädigung. Wenn Sie jedoch erst gar nicht Abitur machen, studieren, geschweige denn eine Uni versitätskarriere einschlagen durften, gehen Sie leer aus. Doch leider kennzeichnet es die vierzig Jahre existierende SED-Diktatur, dass sie die Aufstiegsmöglichkeiten der Menschen in starkem Maße von deren politischem Wohlverhalten abhängig machte. Die Rekrutierung von Führungskadern setzte immer früher ein und jemand, der aufmüpfig war, hatte von vornherein so gut wie keine Aufstiegschancen - konnte also nach der Logik des Unrechtsbereinigungsgesetzes später auch keine absteigende Benachteiligung mehr erfahren. Die geringe Bedeutung der Opfererfahrungen kann man nicht zuletzt daran ablesen, wie die Betroffenen von den Repräsentanten des Staates behandelt werden. So hat Bundeskanzler Gerhard Schröder zwar regelmäßig - und das ist gut so - mit dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, gesprochen, doch noch nie hat er mit dem Vorsitzenden der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, Horst Schüler, geredet. Wahrscheinlich kennt er nicht einmal seinen Namen. Diese Gleichgültigkeit der politischen Repräsentanten gegenüber den Kommunismusopfern hat bei letzteren ein hohes Maß an Verbitterung entstehen lassen, die wir bei Veranstaltungen, bei Protestdemonstrationen und im Gespräch zu spüren bekommen. Wenn die Verantwortlichen oftmals erklären, sie hätten für bestimmte Maßnahmen, sei es für eine bessere Entschädigung oder für eine Verfolgtenpension, kein Geld, dann muss man ihnen entgegenhalten: Politische Gesten und symbolhafte Handlungen sind umsonst. Es kostet bestenfalls einige Telefongebühren, wenn der Bundeskanzler oder die neue Bundeskanzlerin zum Hörer greifen und den Vorsitzenden der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft anrufen würden, um sich nach der Lage und den Einschätzungen der Kommunismusopfer zu erkundigen. Ich will meine Ausführungen nicht beenden, ohne einen positiven Abschluss zu finden. Es gibt durchaus tatkräftige und erfolgreiche 4·

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Bemühungen, den Opfererfahrungen in Deutschland größeres Gewicht zu verleihen. So werden in der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen die Besucher fast ausschließlich von ehemals Verfolgten durch das Gefängnis geführt. Sie selbst erklären den jährlich 150.000 Interessierten, was sich in der Haftanstalt zugetragen hat. Doch Hohenschönhausen steht mit diesem von den Besuchern als besonders beeindruckend empfundenen Konzept weitgehend allein. Selbst die Aufsichtsgremien der Stiftung tun sich schwer damit und monieren, die Zeitzeugen seien zu "subjektiv". Zuweilen bekomme ich vorgehalten, ich dürfe mir nicht "die Perspektive der Opfer zu eigen machen". Ich kann darauf nur antworten: Wo, wenn nicht an diesem Ort, sollen die Erfahrungen der Opfer den Blick auf die Geschichte bestimmen.

Geschichte Europäisch Erinnern! Von Markus Meckel Einleitung

Die politischen Umbrüche in den ehemals kommunistischen Staaten und Gesellschaften liegen nunmehr 16 Jahre zurück. Diese Umbrüche haben nicht nur für die mittel- und osteuropäischen Staaten, die unter der kommunistischen Diktatur litten, eine ganz neue Perspektive für die Geschichte und die eigene Identität hervorgebracht. Die Geschichte beider Diktaturen des 20. Jahrhunderts hat mit dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedsländer auch eine neue europäische Dimension erreicht. Unserer nationalen und dennoch gemeinsamen europäischen Geschichte im vereinten Europa zu erinnern ist eine neue Herausforderung, der wir uns stellen müssen! Während des Kalten Krieges war eine öffentliche Auseinanderset. zung mit der eigenen Geschichte im ganzen Ostblock kaum möglich - oder nur als Akt des Widerstandes, sie war gewissermaßen durch die harte Hand der kommunistischen Diktatur eingefroren. Nach 1989/90 mussten - und konnten! - ganze Abschnitte der eigenen Geschichte neu entdeckt und neu geschrieben werden. Mit dem Durchbruch von Freiheit und Demokratie kam gleichzeitig in manchen Ländern vieles überwunden Geglaubte wieder hoch. Nicht selten versuchte man, an die Zeit vor dem Kommunismus unmittelbar anzuknüpfen, um auf diese Weise Identität neu zu begründen und zu festigen - zum Teil mit verheerenden Folgen, wie im früheren Jugoslawien. Der Rückgriff auf die Geschichte wurde leicht zu einem Instrument im politischen Machtkarnpf, sowohl innenpolitisch als auch in Abgrenzung und in Auseinandersetzung mit den Nachbarn. So war die Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität und Geschichte zwar einerseits eine Dimension der Emanzipation und Selbstbestimmung - eine Dimension der neu gewonnenen Freiheit. Auf der anderen Seite haben wir aber auch den Rückfall in alte natio-

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nalistische Ideologien und ethnische Konflikte erleben müssen, die vergangen und bewältigt schienen. Für uns alle in Europa, für alle klassischen Nationalstaaten, stellt sich die Frage, was das Zusammenwachsen Europas für die Geschichtsschreibung und insbesondere für die gemeinsame "Erinnerungspolitik" der europäischen Staaten bedeutet. Die neuen Mitglieder der Europäischen Union stehen vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen sich sowohl mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit und ihren Nachwirkungen auseinander setzen, aber auch ihre nationale Identität und Souveränität mit der europäischen Integration in Verbindung bringen.

Der Gestaltung nationaler Erinnerung eine europäische Perspektive geben

Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Geschichtsschreibung mehr und mehr von der nationalen Perspektive bestimmt. Diese auf das eigene Volk und seine Geschichte konzentrierte Sicht prägt auch heute noch weitgehend die öffentliche Erinnerung von Vergangenheit in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union - auch wenn sich die Geschichtswissenschaft selbst in den letzten Jahrzehnten zunehmend internationalisiert hat. Gerade das öffentliche Gedenken und Erinnern bezieht sich in den Nationalstaaten Europas vorwiegend auf die eigene nationale Geschichte, den Tag der eigenen nationalen Unabhängigkeit oder andere zentrale Ereignisse, die nicht selten der Auseinandersetzung mit den Nachbarn galten. Die Frage ist nun, ob und inwiefern die europäische Integration auch einen neuen Blick auf die eigene Geschichte mit sich bringt bzw. wie sie diesen verändert. Blicken wir auf die Nationalfeiertage und ihre Ausgestaltung. Die beiden großen direkten Nachbarn Deutschlands im Osten und Westen begehen ihre Feiertage im Zusammenhang mit Ereignissen, die auch für uns wichtig sind. Der polnische Nationalfeiertag am 3. Mai erinnert an die erste geschriebene Verfassung Europas von 1791, in der im Geist der Aufklärung die drei Gewalten klar unterschieden wurden. In für Polen schwierigen Zeiten entstand hier ein Dokument, welches das lange uneingelöste Postulat der unabhängigen Justiz

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und Rechtstaatlichkeit erhob. Der französische Nationalfeiertag, der 14. Juli, erinnert an den Sturm auf die Bastille, an die Französische Revolution, deren Bedeutung für ganz Europa kaum überschätzt werden kann. Wir als Deutsche begehen unseren Nationalfeiertag am Tag der staatlichen Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Diese war möglich geworden, weil in der DDR wie in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei Freiheit und Demokratie siegten, die Menschen in der DDR die Vereinigung wollten und die europäischen Nachbarn und die ehemaligen Alliierten sie akzeptierten. Ich frage nun: Könnte es nicht lohnend sein, - natürlich ohne die nationalen Traditionen gewissermaßen zu "enterben", sondern sie gegenseitig besser kennen zu lernen und anzunehmen - sie als Teil eines gemeinsamen europäischen Erbes zu verstehen und entsprechend auszugestalten? Gewiss, anfangen kann man damit nur selbst. In Deutschland wurde dieser Versuch in den letzten Jahren durchaus gemacht. Bei den Feierlichkeiten zum 3. Oktober hielten immer wieder wichtige Repräsentanten unserer europäischen Nachbarn die Festrede. Zum 15. Jahrestag der Vereinigung waren im letzen Jahr europäische Partnerregionen aus Polen, Ungarn, Russland und Frankreich eingeladen, um mit uns in Potsdam den Tag der Deutschen Einheit zu feiern. Den Tag des Mauerfalls sollten wir künftig gemeinsam mit Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn begehen, denn die Mauer fiel im Rahmen der friedlichen Revolution des Herbstes 1989, die eben nicht nur ein deutsches, sondern ein mitteleuropäisches Ereignis war! Der Fall der Berliner Mauer in aller Welt ist zum Symbol für das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas geworden! Der Weg, die nationale Selbstdarstellung in europäischer Perspektive neu zu gestalten, ist bereits eingeschlagen. Dennoch liegt noch eine lange Strecke vor uns. Neben den Gedenktagen werden etwa auch die Dokumentationen mit den jeweiligen Geschichtsdarstellungen der nationalen Museen zu betrachten sein. Veränderungen der eigenen, nationalen Perspektiven werden nicht durch Forderungen gegenüber den anderen erreicht werden können, sondern nur durch eine veränderte Sichtweise im jeweiligen Land selbst, durch einen neuen Blick auf die eigene Geschichte, der durch die Erfahrung von Dialog und neuer Gemeinsamkeit bestimmt wird.

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Es wird noch einige Zeit vergehen bis wir zu einer europäischen Erinnerungskultur kommen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Historikern und aktiver gesellschaftlicher Gruppen wird dabei auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus aber ist auch das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit dafür eine wichtige Voraussetzung. Diese wird sich nur langsam und schrittweise entwickeln, etwa bei zentralen politischen Entscheidungen, die ganz Europa betreffen. Gerade zwischen Nachbarstaaten aber wird es zunehmend die Aufgabe sein, die öffentlichen Debatten miteinander zu führen.

Europäische Dimensionen der Erinnerung

Wir stehen heute noch am Anfang, um die Geschichte des kommunistisch geprägten Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang zu betrachten. Häufig sind die Historiker in den betroffenen Ländern noch schwerpunktmäßig damit beschäftigt, die über Jahrzehnte verdrängten und verschwiegenen Kapitel der eigenen nationalen Geschichte aufzuarbeiten und offen zu legen. Auch die Geschichtsschreibung über Dissidenz, Opposition und Widerstand, über das Eintreten für Freiheit und Demokratie ist in den verschiedenen ehemals kommunistischen Ländern noch stark darauf beschränkt, die Prozesse im eigenen Land transparent zu machen, aufzuarbeiten und darzustellen. Das ist auch von großer Bedeutung, denn es macht die Fülle und Breite des Freiheitsdranges deutlich. Vieles ist ja auch bis heute nicht bekannt oder kaum erforscht. Von den eben erwähnten Unruhen in der CSSR im Juni 1953 hatte ich lange nichts gehört oder gelesen. Wie die Perspektive auf die eigene Geschichte sich verändern und neue Tiefe gewinnen kann, haben wir in Deutschland zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 erfahren. Nachdem der 17. Juni über Jahrzehnte in der alten Bundesrepublik als Nationalfeiertag begangen wurde und zuletzt im Bewusstsein der Bevölkerung kaum noch eine Rolle spielte, wurde er durch Helmut Kohl in der Situation, in der er hätte seine Bedeutung neu entfalten können, durch den 3. Oktober ersetzt. Auch in der ostdeutschen Bevölkerung war er nie in der ihm zukommenden Bedeutung erkannt worden, hatte doch

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die SED dafür gesorgt, dass die Informationen über Charakter und Ausmaß dieses Volksaufstandes nicht öffentlich bekannt wurden. So kannte jeder Zeitzeuge und Zeitgenosse in der DDR eben nur die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. Erst nach den politischen Umbrüchen und durch neuere Forschungen ist wirklich bewusst geworden, dass damals mehr als eine Millionen Menschen in über 700 Städten und Gemeinden beteiligt waren. Der Volksaufstand vom Juni 1953 in der DDR war der erste große Aufstand im sowjetisch beherrschten Osten Europas. Die Erhebung in Posen im Juni und die ungarische Revolution im Herbst 1956, der Prager Frühling 1968, der Danziger Arbeiteraufstand 1970, das Entstehen der Charta 77 und der Solidarnosc 1980 - all dies sind weitere große und bekannte Kapitel einer europäischen Freiheitsgeschichte, die in ganz Europa stärker ins Bewusstsein zu heben ist. Es ist wichtig, dass aber nicht nur an die großen Aufstände erinnert wird, sondern auch die kleineren, und dass das vielfaltige individuelle Aufbegehren nicht vergessen bzw. dem Vergessen entrissen werden. Auch sie sind Teil einer europäischen Freiheitsgeschichte, die einmal zu schreiben sein wird. Gerade auch für die Jugend, für welche die Zeit des Kommunismus immer mehr in weite Feme rückt, ist es wichtig zu wissen: Es gibt auch aus dieser Zeit eine demokratische Tradition, ein Erbe der Freiheit, das es zu bewahren gilt! Wer kennt etwa in Deutschland schon die Ereignisse in der CSSR, zwei Wochen bevor in der DDR die Juni-Revolution losbrach? Im Nachbarland hatte die neue kommunistische Führung unter Antonin Novotny eine Währungsreform beschlossen und am 30. Mai verkündet. Sie hätte die Ersparnisse der arbeitenden Menschen vernichtet und eine Teuerungswelle über das Land geschwemmt. Daher kam es in den folgenden zwei Wochen in Pilsen, Ostrau und anderen Industriestädten zu machtvollen Demonstrationen tausender Arbeiter, auf denen Plakate mit den Köpfen der Spitzenfunktionäre verbrannt wurden. Dies führte zu blutigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Sicherheitskräften und zu zahllosen Verhaftungen. Das Regime konnte den Aufstand nur durch Einsatz von Polizei- und Militärverbänden beenden. Auch der Aufstand in Workuta am 1. August 1953 ist weitgehend unbekannt. Damals erhoben sich in diesem Lager des sowjetischen

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Gulag in Sibirien russische Gefangene, aber auch viele anderer europäischer Länder. Viele an dem Aufstand Beteiligte starben im Kugelhagel, auch zwei Deutsche. Der Vorsitzende des damaligen Streikkomitees war ein Offizier der polnischen Heimatarmee, sein Sekretär ein Deutscher, der heute in Israel lebt.

Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit

Nach 1990 wurde in den Ländern mit kommunistischer Vergangenheit mit großem Interesse beobachtet, wie wir in Deutschland mit dieser Vergangenheit umgehen. Besonders die Tatsache, dass wir die Akten, einschließlich denen der Staatssicherheit, zugänglich gemacht haben, fand viel Aufmerksamkeit. Seit Jahren empfängt die Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit regelmäßig Delegationen aus diesen Ländern. Die inzwischen entstandenen ähnlichen oder vergleichbaren Behörden in diesen Ländern arbeiten mittlerweile gut zusammen und tauschen sich aus. Ähnliche Erfahrungen macht der Leiter des Hauses der Geschichte in Leipzig, wo die Geschichte der DDR kritisch dokumentiert wird. Auch hier gibt es zunehmend Interesse und verstärkt auch Kontakte und Zusammenarbeit mit den entstehenden vergleichbaren zeitgeschichtlichen Museen, insbesondere in Ungarn und den baltischen Staaten. Die seit 1998 in Deutschland arbeitende "Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" erfüllt mittlerweile ihren gesetzlichen Auftrag zur internationalen Zusammenarbeit in den Fragen der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur erfolgreich. Im Herbst dieses Jahres jährt sich der ungarische Volksaufstand zum 50. Mal. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, das Collegium Hungaricum in Berlin und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur werden mit einer Reihe von Veranstaltungen und Informationsangeboten an dieses Ereignis erinnern. Ebenso bedarf es einer stärker institutionalisierten Zusammenarbeit der Gedenkstätten über die Zeit des Kommunismus, die in den letzten Jahren entstanden sind und weiter entstehen. Es gilt, eine Erinnerungskultur zu entwickeln, welche eben nicht nur national geprägt ist, sondern den Blick auf die strukturellen Zusammenhänge im ganzen kommunistisch geprägten Teil Europas öffnet.

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Für eine europäisch orientierte Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur hat natürlich Russland heute eine ganz besondere Bedeutung - liefen doch jahrzehntelang viele Entscheidungsstränge über grundlegende Fragen in Moskau zusammen bzw. wurden von dort geprägt. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit Russland in Fragen der Aufarbeitung der kommunistischen Zeit von so großer Bedeutung. Initiativen wie ,,Memorial" sind hier wichtige Dialogpartner im Bereich der Zivilgesellschaft. Seit 2005 ermöglicht das Deutsche Historische Institut in Moskau eine intensivere Zusammenarbeit von deutschen und russischen Forschern bei der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte. Dennoch gibt es noch immer starke erinnerungspolitische Konflikte, etwa zwischen Polen und Russland um den Umgang mit Katyn, wo die Rote Armee 1940 tausende polnischer Offiziere ermordete. Vergangenes Jahr kam es anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau zu Differenzen. Für die Staaten Ostmitteleuropas bedeutet das Ende des Zweiten Weltkrieges gleichzeitig den Beginn von Unterdrückung und Unfreiheit unter der stalinistischen und kommunistischen Diktatur. Estland wartet noch immer auf die russische Unterschrift unter den längst ausgehandelten Grenzvertrag. Die am 18. Mai 2005 geleistete Unterschrift wurde wegen der estnischen Präambel, die dem Text vorausgeht, wieder zurückgezogen. Wenn es europäisch-russische Forschungsprojekte gäbe, in welchen die gemeinsame Vergangenheit aufgearbeitet wird, wäre es ein großer Schritt nach vorn und würde die Gemeinsamkeit einer demokratischen Zukunft glaubwürdig dokumentieren! Wer heute auf das Kriegsende zurückblickt, darf die Nachkriegsgeschichte Europas nicht vergessen! Das gilt aber nicht nur für den Osten Europas, der über vierzig Jahre in Unfreiheit lebte, sondern auch für die Freiheits- und Integrationsgeschichte im Westen. Der 8. Mai 1945 stellt eine Zäsur in der europäischen Geschichte dar. Europa lag am Boden, war geteilt, das Zeitalter der Supermächte, der Kalte Krieg begann. Doch trotz dieser widrigen Umstände wuchs die Keimzelle der europäischen Integration. Nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges legte Robert Schuman mit seiner Erklärung am 9. Mai 1950 den Grundstein für die Schaffung einer Euro-

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päischen Winschaftsgemeinschaft. Die beispiellose Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung gipfelte nach der Überwindung der kommunistischen Diktatur vor 15 Jahren mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 in der jahrzehntelang ersehnten Vereinigung Europas. Das Europa der Integration, die Europäische Union, ist die Gestalt gewordene Lehre aus den Kriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die EU ist das Zukunftswerk, in welchem die Völker Sicherheit und Wohlfahrt suchen. Deshalb war es bedauerlich, dass die EU im letzten Jahr nicht fähig war, den 60. Jahrestag des Kriegsendes angemessen zu begehen. Des Todes und des Leidens im Zweiten Weltkrieg von Millionen von Menschen in West- und Osteuropa hätte auch in der Stadt gedacht werden müssen, die am besten den Wunsch der Europäer nach einer gemeinsamen Zukunft in Frieden, Freiheit und Demokratie versinnbildlicht, nämlich Brüssel. Die Institutionen der EU veröffentlichten lediglich Erklärungen anlässlich dieses Tages. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass an solch wichtigen Jahrestagen stärkere Initiativen für gemeinsame Feiern oder Gedenkstunden aus den europäischen Institutionen kommen werden. Die Vereinigung Europas auf der Grundlage der Demokratie und der Menschenrechte bedeutet das wahre Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Europäische Union kann ihre Zukunft in Frieden und Solidarität, in Freiheit und Gerechtigkeit nur dann aufbauen, wenn sie der Vergangenheit in ihren verschiedenen Perspektiven und Zusammenhängen gerecht wird. Solche Tage berühren die europäische Identität und sollten angemessen in der Hauptstadt Europas begangen werden! Zentrale Herausforderungen

Um unsere gemeinsame Geschichte gemeinsam erinnern zu können, stellen sich somit zwei zentrale Herausforderungen: 1. Unsere Erfahrungen in einer Diktatur sollten uns gelehrt haben, wie wichtig eine klare internationale - und für uns eben: europäische - Politik gegenüber Diktatoren und Potentaten ist. Dissidenten und gesellschaftliche Opposition, diejenigen, die für Recht und Freiheit einstehen - etwa in Belarus - brauchen unsere gemeinsame und deutlichere Unterstützung als Europäische Union! Für eine sol-

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che Politik sollten wir uns in der EU angemessene Instrumente schaffen, etwa eine "Europäische Demokratiestiftung" . Wie eine solche Stiftung aussehen kann wird derzeit intensiv diskutiert. 2. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes hat gezeigt, wie wenig wir in Europa noch ein gemeinsames Verständnis unserer Geschichte haben, etwa in der Bewertung des Kommunismus im Verhältnis zum Nationalsozialismus. Daran müssen wir arbeiten. Dazu gehört aber eben auch, der Dissidenz und Opposition in der kommunistischen Zeit die angemessene Aufmerksamkeit zu widmen und Anerkennung zu zollen. Sie ist ein zentrales Kapitel in der europäischen Freiheitsund Demokratiegeschichte! Mit dem zwischen Polen, der Slowakei, Ungarn und Deutschland verabredeten "Netzwerk Erinnerung und Solidarität" könnte eine Struktur geschaffen werden, welche diesen Prozess der grenzüberschreitenden und europäischen Erinnerungskultur weiter befördert.

Der Umgang mit dem historischen Erbe totalitärer Systeme - Erinnerungsformen und gesellschaftliche Rezeption

Die Erinnerung wach halten Ohne Menschenrechte kein Frieden Von Friedbert Pflüger Der Umgang mit unseren totalitären Vergangenheiten ist und bleibt von entscheidender Wichtigkeit für eine humane, freiheitliche Zukunft. Für die Bundesrepublik Deutschland war es von entscheidender Bedeutung, sich in einer ganz bewussten Antihaltung zum Nationalsozialismus zu gründen. Gleichzeitig war es für diese Bundesrepublik Deutschland auch wichtig, in Ostdeutschland und dem damaligen Ostblock - wie wir das genannt haben - zu sehen, dass es eine andere Fonn totalitärer Diktatur gab. In Abgrenzung zu beiden - ich darf noch einmal sagen - unterschiedlichen totalitären Regimen, entwickelte sich die freiheitliche Kultur in Westdeutschland und schuf die Voraussetzung dafür, dass wir auch die Chance hatten, nach der Wiedervereinigung in ganz Deutschland Demokratie und Freiheit durchzusetzen - mit all den Schwierigkeiten, die wir bis heute kennen. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, die Erinnerung wach zu halten. Ich möchte ganz am Anfang ein Wort sagen zum Begriff "Totalitarismus" - ob man die beiden Diktaturen so einfach nebeneinander stellen kann - ob nicht dieser Begriff Totalitarismus mehr verschleiert als erklärt. Ich bin ein Anhänger dieses Begriffes, weil es neben allen Unterschieden eben doch auch entscheidende gemeinsame Strukturmerkmale totalitärer Systeme gibt, sowohl der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft, wie der Zwangsherrschaft, die wir im kommunistischen System hatten. Es gibt Unterschiede zwischen den Totalitarismen von rechts und links, aber auch Gemeinsamkeiten. Gleich ist beiden Systemen der Wunsch, den Menschen total zu erfassen. Das unterscheidet totalitäre Systeme von einer autoritären Diktatur, wie wir sie etwa in Lateinamerika kennen. Wenn man dort die bestehende Führung nicht direkt attackiert, kann man im Grunde machen, was 5 Cristin

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man will. Man kann vor allen Dingen passiv bleiben, man kann ausreisen, man kann ausländische Presseorgane beziehen. Lediglich wenn man die herrschende Machtc1ique direkt angreift, wird man verfolgt, eingesperrt, dann droht Folter oder vielleicht noch Schlimmeres. Aber der Mensch wird nicht total erfasst. Es reicht dem autoritären Herrscher, wenn der Mensch sich passiv verhält. Anders das totalitäre System: Es zwingt den Menschen von Anfang an zur aktiven Teilnahme, zum aktiven Bekenntnis. Man fängt an in der Jugendorganisation, der Hitlerjugend oder den Jungen Pionieren. Ich darf noch einmal sagen - bei allen Unterschieden, die wir auch sehen müssen: Diese totale Erfassung des Menschen, die Aufmärsche, die Fahnen, die Lieder, die gesungen werden, das tägliche, ständige Bekenntnis ist von entscheidender Bedeutung. Wer sich dem entzieht, wird verfolgt. Dazu kommt die Gleichschaltung sämtlicher staatlicher Institutionen, die Aufhebung jeglicher Gewaltenteilung, die vollkommene Herrschaft einer Partei, die sich als Avantgarde empfindet - sei es die kommunistische Partei, sei es die Partei des Nationalsozialismus. Die Einparteienherrschaft, die Aufhebung der Gewaltenteilung ist ein weiteres Kennzeichen totalitärer Herrschaftssysteme. Ein weiteres Merkmal ist das Finden von Sündenböcken, auf die man alle Schuld, alle Schwierigkeiten, die es in Gesellschaften gibt, abladen kann. Im Nationalsozialismus war es eine Rasse. Sie waren für alles verantwortlich. Sie wurden gebrandmarkt, sie wurden ausgegrenzt. Jeder, der Probleme und Sorgen hatte, der konnte sagen: "Ja, weil es die Juden gibt!" Das war der Versuch, einen Konsens in der Gesellschaft zu erzielen, indem man ein Feindbild aufbaute. In den kommunistischen Systemen ist es das Kapital, der private Besitz über Produktionsmittel, welcher die Rolle dieses Sündenbocks einnimmt. Erst wenn die Herrschaft des Menschen über den Menschen beendet ist, kann es eine wirklich freie Gesellschaft geben. Erst wenn man aufhört, privaten Besitz von Produktionsmitteln zu haben, kann der Mensch wirklich Mensch sein. Auch wird alles, was es an Problemen und Sorgen gibt, auf eine - hier nicht Rasse, sondern Klasse abgeladen. Hinzu kommen die Zwangssysteme von Arbeitslagern oder Konzentrationslagern - Sie kennen sicher die vielen Untersuchungen, die

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es in Deutschland gibt, angefangen vom "SS-Staat" bis zu den neueren Arbeiten über das Grauen in den Konzentrationslagern. Ein Buch kann ich hierzu sehr empfehlen: Anne Applebaum: "Der Gulag". Es mag immer wieder graduelle Unterschiede geben - die müssen auch herausgearbeitet werden. Gerade als Deutscher möchte ich nicht in die Gefahr geraten, zu sagen, ich möchte die Verbrechen des Holocaust dadurch relativieren oder gar minimieren, indem ich sage: "Die anderen haben ja auch ihre Verbrechen gemacht." Nein, jeder kehre vor seiner eigenen Tür! Dennoch hat der Totalitarismusbegriff eine große Berechtigung, wenn wir uns das furchtbare Grauen auch in der kommunistischen Welt ansehen. Wie ist diese furchtbare Ungerechtigkeit, diese Unfreiheit in der sowjetischen Welt an unsere Ohren gedrungen? Hier beginnen nun das erste Mal persönliche Erfahrungen: Ich bin 1975 stellvertretender Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) geworden, in einer Zeit, wo unsere Hochschulen sehr stark von kommunistischen Organisationen beherrscht waren, wo der Totalitarismusbegriff nicht angewandt werden durfte. Da hieß es: "Der einzige Feind sind die Nazis und die Faschisten!" Und: "Je linker man ist, desto mehr ist man ein Gegner der Nazis". Dass es auch ganz links totalitäre Bestrebungen gab, die dann wieder Ähnlichkeiten mit den ganz Rechten hatten, wurde völlig negiert. Und was machte der Westen, was machten wir außenpolitisch? Wir machten mit der Sowjetunion und den Staaten Mittel- und Osteuropas das Erdgas-Röhrengeschäft. Wir haben das getan, nicht weil wir böse Menschen waren, sondern weil wir geglaubt haben, mit der Entspannungspolitik, mit Handel zum Wandel beitragen zu können. So die Formel von Egon Bahr, "Wandel durch Handel". Aber ist dieser eigentlich sehr ehrenwerte Versuch vielleicht zu weit gegangen? Meiner Ansicht nach ja - jedenfalls in vielen Fällen. Da gab es im Jahr 1970, der Hochphase der Entspannungspolitik, Andrej Amalrick, es gab Vladimir Bukowski - der hier unter uns sitzt - die 1970 und 1972 zu Arbeitslagerstrafen verurteilt wurden. Es gab in der Sowjetunion die psychiatrischen Anstalten. Entweder galten die Menschen als "Verbrecher" oder sie galten als "verrückt", wenn sie gegen die kommunistische Herrschaft auftraten. Es gab die totale Unterdrückung und wir haben zumeist geschwiegen. Es waren

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Randgruppen bei uns, die ihr Wort erhoben haben und die wurden dann leicht als etwas "komische" Elemente bezeichnet. Jedenfalls war man schnell in Gefahr, als jemand zu gelten, der die Entspannungspolitik aufs Spiel setzte. Es gab die Politik zunächst der Nixon- und dann der Ford-Administration, die - nicht aus bösem Willen, sondern weil sie glaubte, damit dem Weltfrieden am meisten zu dienen, sagte: Wir wollen uns nicht mit den Bukowskis und Solschenizyns und Sacharows zu eng verbandeln. Wir wollen eine Distanz erkennen lassen, denn es geht ja um viel Wichtigeres. Es geht um SALT 11, die Strategie Arms Limitation Talks, um Rüstungskontrolle. Es geht um Verträge, die wir ausgehandelt haben und die können wir doch nicht dadurch gefährden, dass wir jetzt mit Moskau über diese Leute in den Arbeitslagern sprechen oder gar über den Gulag. Eine moralische Dimension der Außenpolitik war unterentwickelt, wenngleich man sagen muss, dass jemand wie Henry Kissinger sich über diese Fragen Gedanken gemacht hat. Er hat gesagt: "Unsere vorsichtige Haltung entspricht nicht moralischer Indifferenz, sondern der Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten. Wir müssen das tun, was wir für den Frieden tun können." - Aus diesem Grunde verweigerte sich Washington lange einer stärkeren Beachtung der Dissidenten, die deshalb natürlich tief enttäuscht waren. Dann betritt ein anderer Mann die Bühne, Jimmy Carter: Am 20. Januar 1977 kommt er ins Amt und am selben Tag schreibt er Andrej Sacharow im Exil in Gorki einen Brief. Plötzlich ist die ganze Weltkarte verändert! Plötzlich spielen Menschenrechte eine Rolle! Vorher hatte schon der amerikanische Kongress angefangen, sich zu beschäftigen - vor allem mit den jüdischen Immigranten in Russ-land. Ihr Schicksal war ein Thema in der inneramerikanischen Diskussion. Im Jaekson- Vanniek Amendment hat der Kongress erstmals Menschenrechtsgesetzgebung gemacht. Er hat die Menschenrechtssituation in Russland abhängig gemacht für die Gewährung des Most-Javourite-nation-Status, der Meistbegünstigungsklausel. Herr Bukowski, Sie sind damals bei Jimmy Carter gewesen, auch im Januar-Februar 1977, als auch Solschenizyn da war. Damit wurden sichtbare Zeichen gesetzt. Das haben wir an den Hochschulen

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zur Kenntnis genommen und wir haben gesagt: "Endlich, nach Watergate, nach dem Vietnamkrieg, ist da ein Amerika, das wieder zu den Werten der Gründerväter zurückkehrt und sich Menschenrechte auf die Fahne schreibt! Das ist eine viel größere Kraft als die Kraft, die aus Waffen kommt. So entstand endlich eine Bewegung auch über die Helsinki-Gruppen, die dann dieses Unrecht in Russland auf den Punkt brachten. Seitdem wurde überall in Osteuropa, auch bei der Charta 77 in Tschechien, über Menschenrechte diskutiert und all diese mutigen Leute haben ganz wesentlich dazu beigetragen. Wenn ich mich irgendwo äußere, kann ich im äußersten Fall mein Mandat verlieren oder ausgepfiffen werden. Für diese Leute waren Meinungsäußerungen Fragen von Leben und Tod. All diese mutigen Leute haben dazu beigetragen, dieses System zum Taumeln zu bringen. Diese Leute müssen heute in unserer Erinnerung bleiben! Wir können nicht sagen: "Schluss mit der Vergangenheitsbewältigung das schadet doch dem Ansehen Russlands, wenn man sich zuviel damit beschäftigt." Im Gegenteil: Je mehr sich Russland damit beschäftigt, desto souveräner zeigt es, dass es ein anderes Land geworden ist. Wer es wirklich gut meint mit der russischen Demokratie und der russischen Zukunft, der muss Organisationen wie Memorial zum Durchbruch und zu Gehör verhelfen! Das sind doch nicht Eingeständnisse von Schwächen und von nationaler Schande, sondern im Gegenteil: Diese ganze Aufarbeitung der Geschichte mit allen Fehlern, die ein Volk begangen hat, führt doch dazu, dass man eigentlich erst souverän mit Freiheit und Demokratie umgeht. Im Dialog mit Russland ist es sehr wichtig über den Kampf gegen den Terrorismus zu reden. Das ist eine große Verpflichtung mit Russland und mit Putin darüber zu reden! Es ist ganz wichtig, auch mit ihnen über Erdgas, Erdöl und Wirtschaftsgeschäfte zu sprechen. Ich bin der Letzte, der sagt, das wollen wir nicht tun! Aber im deutschrussischen Dialog muss es auch Raum geben für Menschenrechte und Demokratie und auch für Erinnerungsarbeit. Russland darf kein Ausnahmepartner werden. Es hat die entsprechenden Papiere des Europarates unterzeichnet. Unserer Beziehung zu Russland sind Grenzen gesetzt, wenn diese Themen keine Rolle spielen. Das muss man nicht aggressiv machen, aber es gehört dazu!

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Dazu gehört auch, dass - wenn man die 750 Jahrfeier von Königsberg begeht und dazu als russischer Präsident den französischen Präsidenten und den deutschen Bundeskanzler einlädt - dass man dann auch den litauischen Präsidenten Adamkus und den polnischen Präsidenten Kwasniewski dazu bittet. Um zu zeigen, dass Deutsche und Russen nie wieder - wie so oft in der Geschichte - Politik über die Köpfe der Mittel- und Osteuropäer hinweg betreiben. Ich hoffe und erwarte von der neuen Bundesregierung - und bin bisher ganz zuversichtlich - dass sie einige Akzente anders setzt. Ich möchte schließen mit einem Wort von Lew Kopelew aus dem Oktober 1981 : "Heute müsste bereits allen eindeutig klar sein, dass der Friede auf dieser Welt nur dann wirklich erhalten bleibt, wenn auch die Menschenrechte gesichert werden, die Rechte der kleinsten nationalen und sozialen Minderheiten und die Rechte jedes einzelnen Menschen. Deswegen sind alle, die sich heute für Menschenrechte einsetzen, wahre Friedenskämpfer. Ohne Menschenrechte kann es keinen Frieden geben. Und wer demonstriert für den Frieden, gut und schön, aber er sollte dann auch gegenüber Folter und Unterdrückung auf der Welt, ganz egal, wo sie passieren, ein offenes Ohr und ein offenes Herz haben."

Zur Entstehung von Gedenkorten in der Demokratie Von Andreas Nachama Die an mich herangetragene Frage bei dieser Veranstaltung lautet: Wie kommt man zu Erinnerungsformen für die großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, und daraus abgeleitet, wie kommt man zu Gedenkstätten, die den ihrer Individualität durch den Massenmord beraubten Opfern nicht nur kollektiv, sondern soweit irgend möglich auch individuell gerecht werden? Hier will ich zunächst die Erfahrung, die ich beim Begleiten des Aufbaus des Lernorts auf dem Gestapogelände "Topographie des Terrors" gesammelt habe, als Folie ausbreiten, ohne damit irgendeine andere Form oder andere Medien des Gedenkens in den Hintergrund rücken zu wollen. Geschichte ist immer eine "Konstruktion aus der Jetztzeit", immer eine Konstruktion von dem Punkt aus, an dem man steht. Das hat ganz logischerweise zur Folge, dass u. U. der gleiche Sachverhalt aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann: Wenn der Blickwinkel die Position eines Stadtmuseums wäre, dann soll dort die gesamte Geschichte einer Stadt dargestellt werden. In einer solchen Einrichtung wäre dann zum Beispiel die jüdische Geschichte oder die Geschichte der Juden im "Dritten Reich" nur ein Segment, das man neben anderen aus der Vogelperspektive eines solchen Stadtmuseums sieht. Ist hingegen der Blickwinkel der eines jüdischen Museums oder der einer Gedenkstätte, die sich aus der Perspektive der Opfer mit eben der gleichen Geschichte beschäftigt, so ist diese Verfolgungsgeschichte der Vordergrund und die allgemeine Stadtgeschichte ist am Horizont zu sehen. Diese beiden Blickwinkel sind zwei unterschiedliche Ausgangspunkte für die "Konstruktion aus der Jetztzeit". So sind die Gedenkstätten, die z. B. ab Anfang der sechziger Jahre in Westdeutschland entstanden sind, nahezu alle durch bürgerschaftliches Engagement, also "von unten" entstanden. Von

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Dachau bis Bergen-Belsen war es in der Regel immer eine Handvoll von Persönlichkeiten, die daran gegangen war, organisiert in Vereinen oder zuweilen auch ohne verfasste juristische Form, mit Hilfe von öffentlichen Mitteln, der Landeszentralen für politische Bildung oder der Kommunen eine solche Gedenksituation herbeizuführen. Darin hat sich die westdeutsche (auch Berliner) Gedenksituation ganz wesentlich von der in der ehemaligen DDR unterschieden. Dort waren es "nationale" Gedenkstätten, die nicht "von unten" entstanden sind, sondern die eher "von oben" verordnet wurden. Äußeres Zeichen waren große architektonische Skulpturen, gelegentlich an stalinistische Architektur erinnernd, die versucht haben, dort Denkzeichen zu setzen. Der Obelisk in Sachsenhausen war nicht der Finger Gottes, sondern der der Partei usw. Wir hatten hier in Deutschland zwei ganz unterschiedliche Zugänge zu Gedenksituationen. Ich will über den Zugang, den es in der DDR dazu gegeben hat, jetzt hier an dieser Stelle nicht weiter reden, da es dafür Berufenere als mich gibt. Aber ein wichtiger Punkt ist, für Ost wie West: Es hat annähernd fünfzehn Jahre gedauert, bis überhaupt etwas geschehen ist. Zwar gab es auch vorher vereinzelt kleine Denkzeichen in Berlin zum Beispiel am Steinplatz, aber dass zum Beispiel ein ehemaliges Konzentrationslager zu einer Gedenkstätte geworden wäre, das können wir hier erst ab Anfang der sechziger Jahre feststellen. Auch die Aufarbeitung von Gerichtprozessen war in beiden deutschen Staaten gehemmt: der Nürnberger Prozess wurde von unserem ehemaligen Bundespräsidenten noch an diesem 8. Mai 2005 in einem großen Interview in der FAZ als eine "alliierte Spruchkammer" bezeichnet. Es gab also eine große Distanz zu seiner Rechtssprechung, weil er nicht unbedingt von jedermann akzeptiert worden ist. Bis eine eigene Rechtssprechung in Gang kam, hatte, auch eingedenk der zahlreichen Bundesrichter bis Anfang der sechziger Jahre, die fast durchweg Parteikarrieren in der NSDAP gemacht haben, seine eigene Schwierigkeit und interne Dynamik. Vorhin war davon die Rede, dass ein Chefredakteur eine erst heute, nach fünfzehn Jahren entdeckte Stasi vergangenheit hat. Ich glaube, wenn man fünfzehn Jahre nach 1945, also im Jahre 1960 eine unabhängige Umfrage unter den bundesdeutschen Chefredakteuren gemacht hätte, die Quote wäre nicht besonders günstig ausgefallen, auf keinen Fall so günstig, dass es da nur einen mit einer NS-Vorgeschichte gegeben hätte. Damit will ich nicht etwa sagen, dass wir

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bisher in den fünfzehn Jahren seit 1989 oder 1990 genug getan hätten, um jene aus Führungspositionen zu bringen, die sie auch in DDRUnrechtsorganisationen innehatten. Allgemeiner formuliert könnte man vielleicht sagen, um Geschichte überhaupt begreifen zu können oder um Vorgänge als Geschichte begreifen zu können, braucht man eine gewisse zeitliche Distanz und die beginnt etwa bei zwanzig, fünfundzwanzig Jahren. Das kann man, wie ich finde, an der NS-Geschichte ganz gut ablesen. So gab es zunächst, Anfang der 60er Jahre, natürlich nicht in Deutschland, sondern in Israel, den ersten großen NS-Prozess, der weltweit intensiv in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, den Eichmann-Prozess. Erst danach begann 1963 - 65 mit dem ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main eine noch immer von Hektik und Emotionen gekennzeichnete Debatte. Schließlich gab es die Verjährungsdebatten im Bundestag 1965, Ende der sechziger Jahre noch einmal. Und nun kann man feststellen, wie die Dinge sich gewandelt haben, wie der Blick auf die Sachverhalte objektiver werden konnte, weil auch immer weniger Personen direkt davon betroffen waren, die noch Amtsträger in dem neu entstandenen Deutschland gewesen sind. An dieser graduellen Veränderung kann man ablesen, wie schwierig dieser Weg war und wie es dann Anfang der achtziger Jahre zu diesem großen Boom an Geschichte kam. Aus heutiger Sicht erscheint es kaum nachvollziehbar, dass es wenige Jahre vor jenem Aufleben der Geschichte, noch in den siebziger Jahren, in vielen Bundesländern ernsthaft diskutiert wurde, den Geschichtsunterricht abzuschaffen und durch Gemeinschaftskunde- oder Sozialkundeunterricht oder ähnliches zu ersetzen. Dann wurde quasi als Initialzündung 1977 die Stauffer-Ausstellung in Stuttgart zu einem großen Publikumserfolg wie dann auch 1981 die Preußenausstellung hier in Berlin. Möglicherweise begann diese Entwicklung schon 1972 mit der Ausstellung im Reichstagsgebäude "Fragen an die deutsche Geschichte", die einen immer größeren Zulauf verzeichnen konnte und immer stärker rezipiert wurde. Schließlich gab 1978 die in den dritten Fernsehprogrammen ausgestrahlte Serie "Holocaust" der Zeitgeschichte einen neuen öffentlichkeitswirksamen Anstoß, der zu einer - vorläufig vor allem emotional getragenen - bisher nicht da gewesenen Geschichtsrezeption der NS-Zeit führte. Auch die aus Schweden in Deutschland aufgenommene Geschichtswerkstättenbewegung, die

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proklamierte: "Grabe, wo Du stehst!" - "Jetzt erforsche doch mal, was für eine Geschichte Dein Ort hat!", war Ausdruck des sich verstärkenden historischen Bewusstseins in der Gesellschaft. "Grabe, wo Du stehst!" hieß dabei, nicht nur nach der traurigen Geschichte eines Orts im Dritten Reich zu suchen, sondern auch nach Spuren der Preußen oder der Stauffer, nach der Geschichte einer Straße, einer Schule oder welchen Orts auch immer in all ihren Facetten. Aus diesen Bewegungen heraus entwickelte sich dann tatsächlich ein ganz neues Geschichtsverständnis der Alltagsgeschichte. Diese verlief aber nicht im Privaten, sondern zeigte die Strukturen und Einflüsse der Politik auf das Leben der Menschen auf. Im Fall der NS-Geschichte gilt dies insbesondere für das Leben der Opfer, aber auch Täter wurden aus dem Schleier der Unkenntlichkeit herausgearbeitet und erhielten individuelle Gesichter, beispielsweise von in der Nachbarschaft wohnenden Personen. Aus diesen Erkundungen heraus wurden dann historische Orte entdeckt, wie zum Beispiel das GestapoGelände in Berlin, das ja bis Anfang der achtziger Jahre als historischer Ort vollständig verdrängt war - als Schuttabladeplatz und Autodrom für Fahren ohne Führerschein sogar bis Mitte der achtziger Jahre vom damaligen Eigentümer Bundesrepublik Deutschland verpachtet worden war. Erst eine Bürgerbewegung entdeckte dieses Gelände mit seiner historischen Hinterlassenschaft - "von unten". So entstand schließlich die ,Topographie des NS-Terrors'. Ich habe vor kurzem an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, bei der sich ein in der Bundesrepublik bekannter Ordinarius für Geschichte darüber mokiert hat, dass die Geschichtswerkstätten wissenschaftlich nicht haltbar wären und dass deren Arbeit "handgestrickt" wäre. Ich denke, er sollte vielmehr froh darüber sein, dass die Menschen sich intensiv und aktiv mit Geschichte beschäftigen. Wenn man will, dass die Geschichte der Verfolgung in der DDR und in der SBZ adäquat dargestellt wird, dann kann, ja soll man das nicht dem Staat und seinen Lehrstuhlinhabern überlassen, vielmehr bedarf gerade die Darstellung der Geschichte der Opfer und ihrer Leiden und die der Strukturen des Verfolgungsapparates der Kontrolle, besser noch der Initiative von Geschichtswerkstätten und Opferverbänden. Der Staat soll diese Vorhaben nach ihrer Gründung subventionieren, aber ausgehen sollten sie von Bürgerinitiativen. Die treibenden Pole müssen diejenigen sein, die daran Interesse haben, die mit ihrem Herzblut da herangehen. Da soll man sich von ge-

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legentlichem Scheitern auch nicht abhalten lassen, denn auch etliche Initiativen, die es in den fünfziger Jahren zur Aufarbeitung von NSGeschichte gegeben hat, waren zunächst gescheitert und sind erst in den siebziger oder achtziger Jahren wieder in Bewegung gekommen. Wiesenthai hatte 1958 ein erstes Wiesenthal-Center abgebrochen, die Akten nach Israel gegeben und die Erforschung der Geschichte fürs Erste aufgegeben. Die Wannseevilla war in den 70er Jahren schon einmal als NS-Lern- und Dokumentationsort von Joseph Wulf vorgeschlagen worden, blieb dann aber doch auf Votum des Berliner Senats unter Klaus Schütz bis 1992 ein bezirkliches Kinderheim. Mitte der sechziger Jahre, nach dem Auschwitzprozess, nach der großen Aufmerksamkeit, die Wiesenthai durch das Aufspüren von Eichmann gehabt hatte, konnte er seine Aufklärungsarbeit neu beginnen. Joseph Wulf hingegen konnte es nicht mehr erleben, dass sein Vorschlag mit Leben erfüllt wurde. Man sieht daran, jedes Ding hat seine Zeit, muss entwickelt werden und muss von "unten her" entwickelt werden: Selbst Gedenktafeln hängen nicht ohne Bürgerinitiative an einer Hauswand. Es reicht nicht aus, dass z. B. der Senat ein Gedenktafelprogramm beschließt, sondern es bedarf der Initiative von Anwohnern oder anderen am Thema Interessierten, um den Prozess auszulösen, der schließlich zum Anbringen der Gedenktafel, zum Aufstellen eines Denkmals oder zur Benennung einer Straße nach einer so zu ehrenden Person führt. Noch ein Wort zu dem Begriff "Gedenkstätte" oder "Gedenkort": Die ,Topographie des Terrors' lehnt diese Bezeichnung für sich selber nahezu ab und sagt, sie sei Lernort. Wessen könnte man auch an dem Ort gedenken, an dem der NS-Terror erst deutschlandweit, dann nahezu europaweit, - im ganzen NS-besetzten Europa - koordiniert wurde? Natürlich kann man an einem Lernort auch gedenken. Aber im Kern geht es darum, nicht nur zu gedenken und zurück zu blicken, sondern in die Gegenwart und Zukunft zu schauen, zu fragen, wo in dieser Welt finden heute Menschenrechtsverletzungen statt: Zu lernen, wie es möglich war, dass eine Demokratie, und das war die Weimarer Republik trotz Papens Preußenschlag von 1932, innerhalb von ca. 100 bis 150 Tagen durch das NS-Terrorregime ersetzt werden konnte. Urplötzlich waren die Errungenschaften von 1789 - die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und die Gewaltentrennung - durch NS-Terror ersetzt - eine Parallele zu anderen Terrorsystemen bietet sich an.

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Und hier ist auch die Verbindung zur Gegenwart und Zukunft: Die Konstitution Europas 1789 ist die eigentliche Meßlatte, an der sich z. B. Außenpolitik orientieren sollte. Wer kommt da mit und wer kommt da nicht mit? Und wenn man an dieser Frage die Dinge fest macht, dann wird ein historischer Ort, eine Topographie des Terrors, eine Gedenkstätte wirklich zu einem Lernort, der auch in die Zukunft blickt und der auch für die Zukunft zum Maßstab wird. Herr Staudacher hat vorhin Primo Levi zitiert: "Es ist geschehen, und also kann es wieder geschehen!" Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen, was können wir dazu betragen, dass es nicht wieder geschieht. Wenn wir so an das Gedenken, an die Geschichte - im Fall der ,Topographie des Terrors' an die NS-Geschichte - und an das Lernen aus der Geschichte herangehen, dann könnte dieser Grundansatz auch für andere Fragestellungen, z. B. hier in Deutschland für die Fragestellung der SBZ und der DDR-Opfer, aber andernorts auch für andere darüber hinaus gehende Fragestellungen angewandt werden.

Das virtuelle Gulag-Museum Ein Projekt des wissenschaftlichen Informationszentrums "Memorial" (St.-Petersburg)

Von Anna Schor-Tschudnowskaja I Politische Rahmenbedingungen

Der Streit um die Geschichte mündet früher oder später in das Problem des gesellschaftlichen Erinnerns, das in Deutschland aus naheliegenden Gründen seit vielen Jahren Aufmerksamkeit genießt. Vor diesem Problem steht das postsowjetische Russland noch nicht. Die zeitliche, v. a. aber politische Distanz zum "Phänomen Sowjetunion" ist dafür noch zu gering, und die Art seines Scheiterns unterscheidet sich stark vom Ende des Dritten Reiches. Die UdSSR als kühnes politisches Experiment erlitt gegen Ende der achtziger Jahre eine endgültige innere Delegitimierung - ihre ideologischen und politischen Potenziale erwiesen sich als erschöpft. Zu einem echten Elitenwechsel kam es im Zuge der Systemtransformation v. a. ab 1990 aber nicht, und das gegenwärtige Russland war und bleibt in seinem Selbstverständnis ein Erbe der in sich zusammengebrochenen Sowjetunion. Für ein reflexives Erinnern fehlt es im Selbstverständnis der postsowjetischen Gesellschaft Russlands immer noch an der notwendigen kritischen Distanz. Daher stellt sich für sie weniger die Frage des gesellschaftlichen Erinnerns als das Problem des noch stark präsenten sowjetischen "Erbes" in vielen Bereichen. Die Analyse der gegenwärtigen Formen des Umganges mit diesem Erbe erlaubt tiefgreifende Einsichten auch in das postsowjetische Stadium der russischen Geschichte. Die Amtszeit von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow (1985 - 91) bzw. seine - in Russland heute im besten Falle belächelte, I Die Autorin dankt Martin Malek (Wien) für Unterstützung bei der Ausarbeitung des Beitrages.

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meist aber verachtete oder gar schroff kritisierte - Politik der "Perestrojka" war v. a. ab 1987 durch zahlreiche ebenso begeisterte wie ernsthafte Versuche und Initiativen gekennzeichnet, auch und gerade die zahlreichen Schattenseiten der sowjetischen Geschichte zu debattieren. Waren vorher über Jahrzehnte hinweg unter Berufung auf die führende Rolle der KPdSU ausschließlich (angebliche oder tatsächliche) "Errungenschaften der Sowjetrnacht" - Alphabetisierung und Urbanisierung, die forcierte Industrialisierung der dreißiger Jahre, der Sieg im Zweiten Weltkrieg, das Erlangen des Status einer Supermacht, die "Völkerfreundschaft" etc. - gepriesen worden, konnten Historiker und Journalisten nun auch ganz andere Seiten der sowjetischen Geschichte beleuchten bzw. hinterfragen. Das betraf etwa die Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft am Anfang der dreißiger Jahre, die Hungersnöte mit Millionen Toten auslöste, zahlreiche Schauprozesse und "Säuberungen", den Hitler-Stalin-Pakt und die Erweiterung des Sowjetreiches (1939 - 1940 und ab 1945), die Deportationen ganzer Völker während des Zweiten Weltkriegs sowie die vielfältigen Schrecken des dem Gulag 2 unterstellten Systems. Damit geriet gegen Ende der 80er Jahre zwangsläufig die Rolle der KPdSU ins Zwielicht, die für diese Ereignisse die politische Verantwortung trug und sich nun allmählich in die Defensive gedrängt sah; diese Verantwortung wurde jedoch bis heute juristisch nicht artikuliert. Das einzige damals verabschiedete und bis heute gültige Rehabilitierungsgesetz vom 18. Januar 1991 wurde in der Art verfasst, dass in ihm keine Subjektbezeichnungen vorkommen: Aus dem Text des Gesetzes geht lediglich hervor, dass der "totalitäre Staat" zahlreiche Verbrechen begannen hatte. Wer genau die Handelnden bzw. die Tater waren, bleibt dank subjektloser Satzkonstruktionen unbenannt. Daher und aus einigen anderen Gründen kam es im postsowjetischen Russland nach der Perestrojka zu einem bemerkenswerten Desinteresse an der eigenen "wahren Geschichte". An die Stelle einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung trat damit ziemlich schnell 2 Der Begriff meint nur an dieser Stelle das sowjetische Lagersystem (Gulag - Glavnoe Upravlenie Lagerej - Hauptverwaltung für Lager des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten [= Innenministerium] der UdSSR). Ansonsten - und daher wird in weiterer Folge die Schreibweise "Gulag" verwendet - umfasst der Begriff metaphorisch den gesamten Staats terror der Sowjetzeit.

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die zunehmende Renaissance von nationalistischem Gedankengut, das gleichermaßen an "heroischen Errungenschaften" der Sowjetepoche wie der Zarenzeit anknüpfte. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Zerfall der UdSSR näherte sich der Kreml in zahlreichen Fragen immer mehr den Positionen seiner damaligen kommunistischen und nationalistischen Kritiker an. 3 Zu den Auswirkungen dieser Entwicklung auf der Ebene der Geschichtswissenschaft gehörte u. a., dass vorübergehend (mehr oder weniger) zugängliche Archive wieder ganz oder teilweise zur restriktiven Benutzungsordnung der sowjetischen Zeit zurückkehrten. Die Errichtung einer russischen "Gauck (bzw. Birthler)-Behörde" stand erst gar nicht zur Diskussion. Das Bewusstsein des höchst widersprüchlichen Charakters der eigenen Geschichte, die zahlreiche Verbrechen einschließt und die Frage der Be- und Verurteilung bzw. der eigenen Verantwortung in drastischer Form stellt, ist sicherlich schmerzlich. Es mündet in eine neurotische unbewusste Verdrängung sowie in auch mehr oder weniger bewusste Ignoranz bzw. Ablehnung und somit in ein gesellschaftliches Schweigen darüber. Abgesehen von wenigen unabhängigen kritischen Positionen hinsichtlich der Bewertung einzelner Fakten der sowjetischen Geschichte werden heute sowohl "von unten" als auch "von oben" kaum nennenswerte Versuche unternommen, den verantwortungsvollen Blick der breiteren Schichten der russischen Öffentlichkeit auf die verschwiegenen und der Dunkelheit des Vergessens anheim gefallenen Verbrechen der Sowjetepoche zu lenken. Dagegen wird versucht, diese Geschichte zu politischen Zwecken zu glorifizieren; damit wird das Verschweigen auf eine besondere Art und Weise fortgesetzt. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass 3 Das zeigte sich etwa an dem Umstand, dass Russland am Ende des Jahres 2000, d. h. unter Präsident Vladimir Putin, die Musik der sowjetischen Hymne übernahm. Zuvor war das "Patriotische Lied" von Michail Glinka eine unpopuläre (und vielfach unbekannte) Hymne gewesen. Der Textdichter verkörperte die offenbar vom Kreml angestrebte Kontinuität zwischen der UdSSR und dem postsowjetischen Russland: Sergej Michalkov (geb. 1913), der bereits 1943 und 1977 die Worte sowjetischer Hymnen zur gleichen Musik verfasst hatte, griff nochmals zur Feder und kreierte einen Text, der Russland als "unsere heilige Großmacht" bezeichnet. - Das Wappen (der doppelköpfige Adler) und die Flagge (die Trikolore) waren dagegen bereits unter Präsident Boris El'cin aus der Zarenzeit übernommen worden.

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selbst die Sprache bzw. die nötigen Begriffe nicht herausgearbeitet wurden. Selbst in privaten Erinnerungen wird es oft aus Hilflosigkeit vermieden, bestimmte - erlebte! - Ereignisse beim Namen zu nennen. Es fehlt weitgehend die passende Sprache, mit der man über die eigene Geschichte und die damit einher gehende (politische) Verantwortung reden kann - in einem Land, in dem zahlreiche geistige und materielle Spuren der sowjetischen Vergangenheit erhalten bleiben.

Die Erfassung "nonverbaler Erinnerung" durch das Projekt Das Anliegen des von dem St.-Petersburger "Memorial,,4 2003 ins Leben gerufenen Projekts "Virtuelles Gulag-Museum" ist das russlandweite Festhalten der langsam verschwindenden materiellen Spuren der sowjetischen Staatsverbrechen. Der geographische und geschichtliche Umfang dieses Projekts, seine Komplexität und große Bedeutung sowie die Bedingungen, unter denen "Memorial" in ganz Russland zu arbeiten hat, prädestinierten gerade den virtuellen Raum für ein solches Museum. "Memorial" erstellt eine digitale Sammlung von Gegenständen, die den repressiven Charakter der sowjetischen Epoche dokumentieren, und gibt im "Virtuellen Gulag-Museum" ihnen und nicht sprachlichen Erinnerungen der Zeitzeugen den Vorrang. Das heißt: Im Fokus der Darstellung stehen zunächst keine Worte (Namen, Daten, Beschreibungen, geschichtliche Zusammenhänge, Tagebücher, Briefe usw.), sondern schweigende - oder besser für sich sprechende - Bilder von Gegenständen aus dem Gulag,5 die von einem unfangreichen Informationsapparat erläutert werden. Die Aufgabenstellung des Projekts eröffnete einen schwierigen Wettlauf mit der Zeit: Die meisten materiellen Zeugnisse der sowjetischen Epoche wurden in der Regel nicht systematisch ausfindig gemacht, aufbewahrt und ausgewertet, weshalb sie ständig vom definitiven Verlust bedroht sind. Die wenigen Initiativen, die diesen Prozess 4 Wenn in der Folge von "Memorial" die Rede ist, ist immer das St. Petersburger wissenschaftliche Informationszentrum "Memorial" gemeint. 5 Manche Gegenstände aus dem Gulag sind erst in den letzten Jahren (durch Wasserrohrbrüche etc.) verloren gegangen. Sie bleiben aber dank der zuvor geleisteten Arbeit von "Memorial" wenigstens als digitale Abbildungen erhalten.

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des "Entgleitens der Erinnerung" aufzuhalten versuchen, kämpfen beständig gegen finanzielle Austrocknung und sind mit einer bescheidenen oder überhaupt fehlenden technischen Ausstattung konfrontiert. Gleichermaßen Ursache wie Folge dieser Umstände sind ein fehlendes gesellschaftliches Interesse an dieser Arbeit und ihre fehlende Anerkennung. Jeder Gegenstand aus der Sammlung des "Virtuellen Gulag-Museums" dokumentiert immer zwei Geschichten: die Geschichte von Gulag und die Geschichte des Erinnerns daran. Jeder Gegenstand erzählt auch davon, wie er aufbewahrt wird - meist nicht als "GulagGegenstand" erkannt, sondern als Teil von Sammlungen, die sich z. B. der Bau einer Fabrik oder der Medizingeschichte widmen. Nicht selten befinden sich nicht als solche identifizierte "Gulag-Gegenstände" in nicht öffentlich zugänglichen Beständen von Museen oder werden aus Mangel an notwendigen Mitteln unter katastrophalen Bedingungen (Keller mit hoher Feuchtigkeit, nicht gekennzeichnete Materialbestände) "aufbewahrt". Das Festhalten im virtuellen Raum sichert für solche "Gulag-Gegenstände" das einzig mögliche "Überleben". Die Darstellung der Gulag-Epoche erfolgt somit auf der Ebene der sogenannten materiellen Kultur. Diese Darstellung bildet nicht einfach die Welt der Gegenstände aus dem Gulag systematisch ab, was den erheblichen wissenschaftlichen Wert dieser Sammlung ausmacht. Sie soll ein besonderes Gefühl für das Schicksal der dort eingesperrten Menschen erzeugen: die Autoren des Projekts gehen davon aus, dass das Empfinden der staatlichen Gewalt bzw. das Nachempfinden der Erfahrung einer solchen besser durch Bilder denn durch Erzählung geschieht. Grenzen des Gulag: Widerstand und schöpferische Tätigkeit In den KZs des Dritten Reiches entstandene künstlerische Aktivitäten - von Bildern und Skulpturen bis hin zu Kompositionen - sind in Deutschland längst Gegenstand von Forschung und öffentlicher Darstellung. In manchen Gedenkstätten (wie z. B. in Buchenwald bei Weimar) gibt es kleine Museen, die entsprechende Gegenstände präsentieren. Dagegen war das Interesse für ähnliche Dinge im Gulag 6 Cristin

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immer viel geringer und im Westen - abgesehen von einem kleinen Kreis an Spezialisten - kaum vorhanden. "Memorial" befasst sich mit diesem Thema allerdings schon seit geraumer Zeit und hat auch eine Reihe von Publikationen dazu vorgelegt. 6 Sie sind aber nur in kleinen Auflagen erschienen, und das Interesse an ihnen ist in Russland mehr als bescheiden. Ein wichtiger Bestandteil der Datenbank "Virtuelles Gulag-Museum" stellen nicht Folterinstrumente oder Alltagsgegenstände der Häftlinge dar. Stattdessen handelt es sich um verschiedene von Häftlingen angefertigte Werke - Bilder (Zeichnungen, Aquarelle), Strickerei, Holzverzierungen, Schachfiguren, Postkarten für Angehörige usw. -, denen für sich genommen (d. h. unabhängig von den Rahmenbedingungen der Entstehung) ein bestimmter künstlerischer Wert zuzusprechen ist. Doch der eigentliche Wert dieser Kunstobjekte besteht darin, dass sie den Begriff des Gulag erweitern: Er kannte eben nicht nur Unterdrückung, Erniedrigung und Tod, sondern brachte auch Dinge hervor, die Zeugnisse des Widerstandes des menschlichen Geistes sind. Die Befassung mit Kunst in den Lagern, Verschickungs- und Verbannungsorten war an und für sich ein Akt des Widerstandes und der Menschlichkeit. Neben der gesonderten Sammlung der Kunstobjekte aus dem Gulag enthalten die Bestände des "Virtuellen Gulag-Museums" zahlreiche weitere Zeugnisse und Dokumente des Widerstandes aus der Gulag-Epoche. Die Autoren des Projekts vertreten grundsätzlich die Auffassung, dass Dokumentationen staatlicher Verbrechen möglichst viele Formen des Widerstandes einschließen sollten. Dieser Bestandteil eines staatlichen Unterdrückungssystems ist gerade für künftige Generationen von besonderer Bedeutung: Ihnen soll vor Augen geführt werden, dass Widerstand gegen die Staatsgewalt immer möglich ist.

6 Hier sei nur auf ein besonders eindrucksvolles zweisprachiges Album mit 1948 - 53 entstandenen Arbeiten eines Zeichners verwiesen: Igor' Golomstok / Irina Osipova (Zusammenstellung): Boris Svesnikov - Lagernye risunki / The camp drawings. Moskva 2000. Die Auflage betrug 1.000 Stück.

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Netzwerk der Museen

Der Großteil der für das Projekt potenziell interessanten Museen ist nicht ausschließlich oder überhaupt nicht dem Gulag gewidmet. Es handelt sich um Schulmuseen oder staatliche Heimat-, Betriebs- oder Geschichtsmuseen. Hinzu kommen ein kleiner Teil jener Museen und Ausstellungen sowie private Initiativen in Wohnungen oder Kellern, die ausschließlich dem Gulag-Gedenken gewidmet sind. Je weiter eine derartige Einrichtung von den beiden "Hauptstädten" Moskau und St. Petersburg entfernt liegt, desto unwahrscheinlicher sind Kontakte mit der Gemeinschaft der etablierten Museen. Das hat verschiedene Gründe wie z. B. das Fehlen von elementarer Infrastruktur für die Kommunikation; oft handelt es sich dabei um dünn besiedelte Regionen, d. h. ehemalige Verbannungs- und Verschickungsorten. Das alles führt u. a. dazu, dass die regionalen Museen und private Initiativen wenig oder nichts voneinander wissen und weitgehend auf sich allein gestellt sind. Ihre Exponate sind oft nicht registriert, weil den Mitarbeitern die erforderlichen Qualifikationen fehlen und sie die Prinzipien der Fixierung und Beschreibung der Ausstellungsstücke nur schlecht beherrschen. Die Sammlungen werden nur in sehr seltenen Fällen von einem breiten Publikum und der lokalen Öffentlichkeit nachgefragt. Die meisten von "Memorial" angesprochenen Mitarbeiter vor Ort wären an einer Zusammenarbeit mit einem solchen Projekt interessiert. Die regionalen Museen sind dabei offensichtlich auf die Unterstützung von "Memorial" angewiesen: Sie bekunden immer wieder die Unmöglichkeit, aus eigener Kraft ihre Sammlungen und Ausstellungsstücke zu handhaben. Daher besteht ein weiteres Ziel des Projekts darin, allen Projekt-Partnern mit methodologischen Hinweisen (Informationsmaterial, gemeinsame Seminare etc.) zu helfen. In erster Linie geht es dabei um die Erarbeitung notwendiger und allen zugänglicher Lehr- und Hilfsmittel. U. a. deswegen will "Memorial" sie in ein unabhängiges horizontales Netzwerk einbinden, das für alle Projektbeteiligten die wertvolle Möglichkeit zum Informations- und Erfahrungsaustausch eröffnet. Die Entwicklung eines solchen unabhängigen Netzwerks, das den Charakter einer professionellen Vereinigung aufweist, wird somit zu einem wichtigen Nebenprodukt des Projekts. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Russland - und konkret einer immer weiteren Verstärkung autoritärer 6"

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Tendenzen - bedeutet die Arbeit an einer derartigen Vernetzung eine zusätzliche politische Brisanz des Gesamtprojekts. "Memorial" verfügt bereits über eine systematisch erstellte Liste der ca. 300 russlandweit einschlägig bedeutenden Einrichtungen und Aktivitäten. Dabei handelt es sich um staatliche, ressortgebundene, schulische, öffentliche und private Museen sowohl in Russland als auch in einigen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken7 , deren Ausstellungen oder Archivbestände Gegenstände aus der Zeit sowjetischer politischer Repressionen enthalten. Sehr viele dieser Sammlungen sind weder als Gulagmuseen gekennzeichnet noch verstehen sie sich als solche. Der erste Schritt zur Einbindung dieser Museen besteht darin, dass "Memorial" sie durch das Studium ihrer Bestände überhaupt erst als für das "Virtuelle Gulag-Museum" relevant identifiziert. Inzwischen wurden bereits vier Museumsseminare (in Syktyvkar, St.-Petersburg, Uchta und Perm') durchgeführt, an denen sich Mitarbeiter von 35 regionalen Museen beteiligten. Die Zusammenarbeit mit Museen und privaten Initiativen in anderen postsowjetischen Republiken ist ein weiterer Grund, dem Projekt eine politische Bedeutung beizumessen. Die offiziellen Auseinandersetzungen um die gemeinsame sowjetische Vergangenheit verlaufen bekanntlich immer wieder kontrovers, d. h. ihre Einschätzungen differieren mitunter erheblich und überschatten die Beziehungen zwischen Russland und v. a. der Ukraine und den drei baltischen Staaten. 8 Die Kooperation von "Memorial" mit Museen und privaten Initiativen aus diesen Ländern, die sich der sowjetischen Vergangenheit widmen, soll zur Verständigung und Versöhnung mit Russland beitragen. Die Überwindung der regionalen und konfessionellen Ausgrenzung in der gemeinsamen Erinnerung an den staatlichen Terror der Sowjetzeit stellt eines der wichtigsten Ziele des Projekts dar.

7 Ferner ist eine Erweiterung der Geographie des Projekts auf Museen aller ehemaliger Sowjetrepubliken sowie der bis 1989/90 kommunistischen Länder Ostmitteleuropas vorgesehen. 8 Das betrifft etwa die als Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft u. a. in der Ukraine ausgebrochene Hungersnot Anfang der dreißiger Jahre und die Umstände der Besetzung der baltischen Staaten durch die UdSSR 1940.

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Mitarbeiter und Zeithorizont In den Jahren 2004 und 2005 wurde die Hauptarbeit bei der Suche nach einschlägig bedeutenden Einrichtungen getan. "Memorial" besuchte ca. 80 Museen, knüpfte Kontakte zu Museumsmitarbeitern, beschrieb Sammlungen, erstellte visuelles Material und hielt es in digitaler Form fest. Ein definitives Projektende wurde nicht festgelegt, da natürlich immer mit dem Auftauchen noch nicht erschlossener Bestände zu rechnen ist. Das Projekt lebt zweifellos auch und gerade vom Enthusiasmus der lediglich ca. zehn St. Petersburger "Memorial"-Mitarbeiter. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle die Direktorin Irina FIige, die selbst auch entlegene Gegenden Russlands aufsucht, um GulagGegenstände zu erfassen. Die Rolle und Möglichkeiten des virtuellen Raums Im Archiv des virtuellen Gulag-Museums befinden sich mehr als 10.000 Abbildungen, doch davon ist bisher nur ein kleiner Teil auf der Website des Projekts zugänglich (www.gulagmuseum.org, mit Informationen auch auf Deutsch und Englisch). Ein virtuelles GulagMuseum ist die einzige praktikable Variante, Museumsinitiativen aus ganz Russland zu präsentieren, zahlreiche Ausstellungsgegenstände aus abgelegenen kleinen Städten und Dörfern Russlands zu dokumentieren und damit für das Erinnern zu erhalten. Bisher stehen alle Informationen im Internet oder auf CD-ROM gratis zur Verfügung, aber es ist in Zukunft denkbar, dass bestimmte Dienste und die Beantwortung von konkreten Anfragen zum Thema kostenpflichtig werden. Neben der Online-Datenbank ist ein Forum geplant. Es soll allen Besuchern die Möglichkeit einräumen, zu Bildern, Namen und anderen Informationen Stellung zu nehmen, d. h. eigene Erinnerung hinzuzufügen, durch eigenes Wissen eine gegebene Interpretation zu korrigieren oder die Bedeutung der historischen Ereignisse zu diskutieren. Die Datenbank enthält zwangsläufig viele Gegenstände, deren Herkunft und Verwendung nicht mehr eindeutig rekonstruierbar sind. Das Projekt hängt daher entscheidend von weiteren Informationen von Zeitzeugen und Wissenschaftlern ab. Natürlich ist "Memorial" für jeden Hinweis dankbar. Ebenfalls werden auf der Website

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mehrere historische Ereignisse angesprochen, die überhaupt eine terra incognita darstellen oder auch ganz verschiedene Interpretationen erfahren: Allzu oft besteht weder über die genauen zeitlichen Grenzen noch über die Protagonisten noch die Beurteilung allfälliger Folgen gesellschaftlicher Konsens. Dies betrifft u. a. den metaphorischen Begriff des Gulag selbst: Sowohl chronologische wie auch begriffliche Grenzen des Phänomens "Gulag" sind noch kaum eindeutig zu bestimmen. Selbst für Autoren und Mitarbeiter des Projektes sind viele Fakten und Begriffe der sowjetischen Geschichte bzw. die zahlreichen Details der sowjetischen Staatsverbrechen nicht eindeutig geklärt. Eine mehr oder weniger fundierte Sicht und Beurteilung der Vergangenheit kann nicht das Produkt einer kleinen Gruppe von Menschen sein. Interpretationen der Geschichte sind immer auf eine Diskussion der betroffenen Öffentlichkeit angewiesen. Das Forum des "Virtuellen Gulag-Museums" soll u. a. dazu dienen, öffentliche Debatten zu initiieren und zu führen und so die gemeinsame Geschichte und ihre Konsequenzen zu erhellen. Solche Klärungsprozesse "von unten" sind für ein gesundes gesellschaftliches Klima von besonderem Wert. Die Projektmitarbeiter versprechen sich von dieser Methode bei der Suche nach der historischen Wahrheit weit mehr Erfolg als von Interpretationen, die "von oben" vorgegeben sind und sich oft nach der politischen Konjunktur richten bzw. die gerade bestehenden Verhältnisse durch Berufungen auf (angebliche oder tatsächliche) historische Ereignisse legitimieren sollen. Die Rolle einer öffentlichen Diskussion über die Vergangenheit sowie des historischen und politischen Erbes im gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewusstsein für die weitere Entwicklung in Russland ist nicht zu unterschätzen. Das bezieht sich u. a. auf Aufklärung und politische Bildung der jungen Generation. Die langfristige Bedeutung des Projekts

Jedes Objekt, das in die Datenbank aufgenommen wird, steht zugleich in zwei Sinnzusammenhängen. Es dokumentiert einerseits ein bestimmtes Detail, d. h. eine Besonderheit aus der Sowjetvergangenheit, andererseits aber auch die Art seiner heutigen Aufbewahrung. Damit werden immer zwei - gleichermaßen in der Datenbank festzuhaltende - Geschichten zugleich erzählt, nämlich über die Sowjet-

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epoche "an und für sich" und die Art der Erinnerung an sie. Insofern hält das "Virtuelle Gulag-Museum" auch Erinnerungsjormen fest, d. h. es dokumentiert die Geschichte des Gulag und den Umgang damit im postsowjetischen Russland. Wie bereits erwähnt, werden viele Gegenstände aus dem Gulag nicht als solche identifiziert und aufbewahrt, ihr Überleben ist eher dem Zufall überlassen. Dieser Zufallsmoment stellt für das Dokumentieren der Geschichte, die sie verkörpern, eine ernsthafte Bedrohung dar. Es ist eine der Lehren aus dem blutigen 20. Jahrhundert, dass gesellschaftlichem Erinnern politische Bedeutung innewohnt. Erinnern bekam eine wichtige prophylaktische Wirkung und soll eine Wiederholung von Diktatur, Staatsterror und Krieg vorbeugen. Diese vorbeugende Wirkung geht hauptsächlich auf das Verantwortungsbewusstsein für das eigene Tun zurück. Insofern nimmt die Förderung des gesellschaftlichen Erinnerns auch auf das politische Klima einer Gesellschaft Einfluss, denn in demokratischen Gesellschaften nimmt das Verantwortungsbewusstsein der Bürger eine politische Funktion wahr. Bevor es jedoch zu einem bewussten gesellschaftlichen Erinnern kommen kann, bedarf es eines reflexiven Umgangs mit dem geschichtlichen Erbe, der die notwendige Distanz erst schaffen müsste. Dabei geht es auch um das gesellschaftliche Selbstbewusstsein als Ganzes - um das Bild von sich selbst und vom eigenen geschichtlichen Hintergrund sowie um das Verständnis der eigenen Rolle bzw. der eigenen Verantwortung. Das gesellschaftliche Selbstbewusstsein ist politisch, da es eng mit dem politischen Willen dieser Gesellschaft zusammenhängt. Auf dieser Verantwortung vor Vergangenheit und Zukunft beruht die "Mission" des Projekts "Virtuelles Gulag-Museum" und seines öffentlichen Forums. Für die russische Gesellschaft ist der Zusammenhang zwischen dem geschichtlichen Erbe, dem gesellschaftlichen Erinnern und dem politischen Verantwortungsbewusstsein zentral. Die Arbeit, die das gesellschaftliche Erinnern anregen oder formen will, zielt somit auch darauf ab, in Russland die - schwachen, aber doch vorhandenen - antiautoritären Tendenzen zu stärken.

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Aktuelle Probleme

"Memorial" sieht sich Schwierigkeiten auf mehreren Ebenen gegenüber. An erster Stelle ist die allgemeine politische Entwicklung Russlands v.a. seit 2000, als Vladimir Putin zum Präsidenten gewählt wurde, zu nennen. Sein Regime hat die Errungenschaften der Perestrojka-Zeit nicht unerheblich relativiert und ist dabei kaum auf Widerstand in der Gesellschaft gestoßen - im Gegenteil. 9 Es gehört inzwischen quasi zum guten Ton, eine "eiserne Hand" in der Innenund Außenpolitik zu fordern, Stalin - und insbesondere seine Führung im Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg zur Supermacht nach 1945 - zu loben 10 und gleichzeitig das "Chaos" zu verdammen, das "die Demokraten" (in weiten Teilen der politischen Klasse wie der Öffentlichkeit Russlands längst ein Schimpfwort) seit 1991 angerichtet hätten. Von Aufarbeitung und Bewältigung der Schrecken der sowjetischen Vergangenheit, Rehabilitierung der Opfer usw. ist nur noch selten die Rede; entsprechende Initiativen hängen von einzelnen Personen und Organisationen ab und werden vom Staat im besten Falle ignoriert, wenn nicht aktiv behindert. Stattdessen gilt das Hauptaugenmerk des Kremls unter Putin einer "positiven Geschichte" und "patriotischen Erziehung"". Beide kommen ohne "Helden" nicht aus, und diese entstammen der sowjetischen ebenso wie der prä9 So zeigen Meinungsumfragen, dass solide relative oder sogar absolute Mehrheiten für eine Wiederherstellung der (in der russländischen Verfassung verbotenen) Zensur eintreten und das Vorhandensein einer politischen Opposition für überflüssig halten. 10 Eine Folge davon ist, dass in Moskauer Buchhandlungen zahlreiche - in teilweise großen Auflagen erscheinende - Stalin-Hagiographien ausliegen (einen Tiefpunkt bietet dabei eine antisemitisch verbrämte Arbeit von Vladimir Karpov: Generalissimus. Bd. I, H. Moskva 2(02) und Werke, welche die russische und / oder sowjetische Geschichte kritisch oder auch nur ohne patriotisches Pathos darstellen, auch in seriösen Geschäften immer seltener anzutreffen sind. - Dazu kommt, dass bei Meinungsumfragen nach den beliebtesten Politikern Russlands bzw. der UdSSR Stalin immer sehr gute Platzierungen erreicht. Bei einer Anfang März 2005 bekannt gewordenen Erhebung meinten 50 % der Befragten, dass Stalin in der russischen Geschichte eine "zweifellos" oder "eher" positive Rolle gespielt habe, und 42 % wünschten sich für die heutige Zeit einen Führer wie ihn (dagegen 52 %). 11 Davon zeugt u. a. ein "Staatliches Programm ,Die patriotische Erziehung der Bürger der Russländischen Föderation für 2006 bis 2010''', das die Regierung am 11. Juli 2005 verabschiedete.

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sowjetischen Epoche in der Geschichte Russlands. Die Sowjetzeit gilt keineswegs als kritisch zu betrachtender Abschnitt, sondern wird als wichtiger Bestandteil einer einheitlichen Geschichte Russlands dargestellt und zum erheblichen Teil glorifiziert. Kritik gilt leicht als "unpatriotisch". Ihre Urheber müssen sich oft vorwerfen lassen, den "Feinden Russlands" in die Hände zu arbeiten bzw. Argumente zu liefern. Im postsowjetischen Russland, welches sich immer noch im Prozess eines komplexen Wandels befindet, ist die zweifelsohne wichtige Ressource Geschichte zum "Baukasten" degeneriert, aus dem sich die politische Klasse, Medien, Wissenschaftler, "Polittechnologen" usw. je nach Konjunktur und "Notwendigkeiten" bedienen. So brach im Umfeld des 50. Geburtstages Putins (2002), der bekanntlich für die Auslandsaufklärung des KGB arbeitete, eine Diskussion zu der Frage aus, ob nicht das kurz nach dem gescheiterten Putschversuch im August 1991 demontierte Denkmal des ersten - und für seine Brutalität berüchtigten - sowjetischen Geheimdienstchefs Feliks Dzerfinskij (1877 -1926) wieder auf dem Lubjanka-Platz im Zentrum Moskaus aufgestellt werden sollte. 12 Angesichts solcher Vorfälle ist es subjektiv sogar verständlich, dass die Putin-Führung eine Aufarbeitung des Stalinismus als überflüssig oder jedenfalls als nicht förderungswürdig betrachtet. Bisher missachten die staatlichen Behörden die Arbeit am "Virtuellen Gulag-Museum". Das könnte man einerseits (negativ) als Desinteresse des Staates an der Aufarbeitung der Vergangenheit interpretieren, andererseits (positiv) gibt es insofern Anlass zu Optimismus, als er wenigstens keine Hürden errichtet. Eine akute Gefahr geht von weitgehenden Änderungen im Bereich der für NGOs geltenden Gesetzgebung aus, die der Kreml im Dezember 2005 im Eiltempo durch beide Kammern des Parlaments (Föderalversammlung) gepeitscht hat. Die Ursache dafür ist, dass weite 12 In den letzten Jahren wurden in mehreren Provinzstädten Denkmäler von Lenin und Stalin erneut bzw. erstmals aufgestellt. Demgegenüber existiert in ganz Russland kein einziges "föderales" Denkmal für die Gulag-Opfer. Die vorhandenen Monumente verkörpern somit zwangsläufig lediglich eine Art "lokales" - d. h. nicht landesweites - Gedächtnis (Irina Flige: Jazyk i obrazy pamjati 0 Gulage v rossijskom obscestve. Unveröffentlichtes Manuskript, St.Petersburg 2005, S. 9).

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Teile der politischen Elite Russlands die NGOs als neues bzw. zusätzliches Feindbild ausgemacht haben. Ihnen wird gerne undifferenziert vorgeworfen, nicht die "nationalen Interessen" Russlands zu vertreten, Oppositionelle (oder sogar Terroristen) zu unterstützen, der Geldwäsche zu dienen, Ausgangsbasis von Spionage gegen Russland zu sein und "bunte Revolutionen,,\3 in verschiedenen GUS-Republiken angezettelt bzw. gefördert zu haben. Die neuen für NGOs gültigen Regelungen verfolgen nun das explizit genannte Ziel, ihre Finanzierung aus dem Ausland zu erschweren bzw. unmöglich zu machen. Die gesamte Arbeit von "Memorial" litt schon immer an unzureichenden Geldmitteln. Doch gerade das "Virtuelle Gulag-Museum" wurde allein von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt, wofür ihr Dank und Anerkennung zu zollen ist. Nun aber droht die Finanzierung wegen der neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für NGOs verloren zu gehen. Der Journalist Karl Grobe meinte zu den Konsequenzen der maßgeblich von Putin zu verantwortenden politischen Verhältnisse in einem Beitrag zu dem "Memorial"-Projekt, dass "die Sammlung der russischen und der sowjetischen Erinnerung erlöschen und am Ende gar zu einem subversiven Akt umgedeutet werden" könne. 14 Daher ist zu hoffen, dass die russischen NGO-Regelungen in internationalen Organisationen und Gremien wie G-7 (bzw. mit Russland G-8, wo Moskau seit Beginn des Jahres 2006 den Vorsitz führt), OSZE und Europarat verstärkt thematisiert werden. Davon könnte ein wichtiger Teil der Erinnerung eines ganzen Landes an eine dunkle Epoche seiner Geschichte abhängen.

13 Unter dieser Bezeichnung werden in Russland die "Revolution der Rosen" im November 2003 in Georgien, die Präsident Eduard Sevardnadze das Amt kostete, und die "orangene Revolution" in der Ukraine im Herbst 2004 (Orange war die Farbe der Anhänger des damaligen Oppositionsführers und nunmehrigen Präsidenten Viktor Juscenko) zusammengefasst. 14 Frankfurter Rundschau, 2. I. 2006, S. 14.

Der Kommunismus, ein Verbrechen ohne Folgen? Von Maria Schmidt Meine Aufgabe ist es, mich mit der Erbschaft zweier totalitären Systeme in Ungarn auseinanderzusetzen. Die Nazibesetzung des Landes dauerte knapp ein Jahr lang, dieser Zeitabschnitt ist zweifellos als totale Katastrophe im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs zu betrachten. In dem in Schutt und Asche gelegten Land sind jedoch alle an den Gräueltaten beteiligten, für die Naziverbrechen verantwortlichen Tater, Politiker, Soldaten, Offiziere in den verschiedenen Volkstribunalprozessen verurteilt worden: die gesamte Nazi-Erbschaft wurde politisch, moralisch, physisch und in materieller Hinsicht vernichtet und mit Erfolg ausgerottet. Beteiligte Personen wurden eingekerkert, interniert oder deportiert. Der Ausdruck Faschist bekam in Ungarn vernichtende Fülle, die Kommunisten benutzten ihn statt den Ausdruck Nazi, so gelten die beiden Wörter bis heute als lebendige, moralische Brandmarke. Wird jemand als Faschist, als Nazi oder Antisemit gebrandmarkt, gilt seine Person auch heute ab sofort als nicht salonfähig. Er muss aus dem öffentlichen Leben verschwinden, obwohl - dass sage ich nur in Klammem - diese Begriffe all ihre Konturen längst verloren haben. Zwischen 1945 -1991, rund fünfundvierzig Jahre lang besetzten sowjetische Truppen das Land. Wir lebten in einer kommunistischen, totalen Diktatur, wo keineswegs das Proletariat die herrschende Klasse war, sondern Intellektuelle und Bürokraten. Die aktuelle Moral, das neue Wertesystem wurde uns stets von kommunistisch geprägten Intellektuellen vorgeschrieben, nur die kommunistische Narrative und Ideologie durfte unterrichtet werden, in öffentlichen Publikationen erscheinen. Gerade deshalb konnte mit der wahren wissenschaftlichen Verarbeitung dieser kommunistischen Erbschaft erst fünfundvierzig Jahren später nach 1989 begonnen werden, als auch der Kom-

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munismus in einer totalen Katastrophe endete und das Land wirtschaftlich, moralisch und gesellschaftlich erneut ruiniert war. Wie zuvor ein Kollege betonte, bedarf es tatsächlich zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, um historische Urteile bezüglich eines Zeitabschnittes fällen zu können. Obwohl in Ungarn erst anderthalb Jahrzehnte der neuen Demokratien und Freiheit hinter uns liegen, haben wir damit begonnen, uns mit dem kommunistischen Erbe zu befassen. In Ungarn endete die schlimmste Periode der kommunistischen Diktatur in den siebziger Jahren. Ein großer Anteil westlicher Intellektueller, die jedoch zum Kommunismus ein besonderes Verhältnis hatten, nennt die Periode der 70er und 80er Jahre realer Sozialismus. Der Ausdruck verrät alles über die ideologische und politische Einstellung dieser Intellektuellen. Um die marxistische Utopie weiterhin als salonfähig zu bewahren, machten sie einen Unterschied zwischen einem idealen und einem realen Sozialismus. Es entstand so ein absurder Ausdruck, der immer wieder benutzt wird, um das eigentliche Ideal, den Sozialismus entlasten zu können. Nie habe ich begriffen, wie ein idealer Sozialismus existieren könnte! Es ist ein Rätsel! Und dieses Rätsel ist bis heute nicht gelöst worden. Dasselbe Spiel wird heute mit dem Ausdruck Kommunismus getrieben. Kritisiert man heute in Ungarn den Kommunismus, wird man mit dem Argument zurechtgewiesen: dass all das Erlittene dieser dunklen Zeit in Wirklichkeit nichts mit dem Kommunismus zu tun hätte. Es wäre kein Kommunismus gewesen, da dieser nicht "eins zu eins" verwirklicht wurde, so wie es Karl Marx in seinen Werken festgelegt hatte. Es war kein Sozialismus, nur ein "realer" Sozialismus. Und auch Kommunismus war es keiner! Was war er dann? Um die Absurdität dieser Argumentation zu veranschaulichen, stellen Sie sich vor, man könnte nicht über Nazismus sprechen, da Hitlers berüchtigter Wegweiser, der Band "Mein Kampf' nicht Wort für Wort realisiert wurde. Diese Argumentation wäre nicht nur lächerlich, sondern sie würde auch mit Recht als absurd und politisch inkorrekt bezeichnet werden. Diese Art von Argumentation und Diskussion ist jedoch typisch, und zeigt zugleich in betäubender Weise, dass bei dem historischen Urteil über die Gräueltaten des Kommunismus ein doppelter Maßstab benutzt wird, dass die Verbrechen des Kommunismus von bestimmten Kreisen immer wieder relativiert werden. Wenn es um den Sozialismus oder um den Kommunismus geht, erlauben sich linke Intellek-

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tuelle in Ost und West alles, Oft gehen sie so weit, dass sie selbst die Tatsache verleugnen, dass Millionen von Menschen hinter dem Eisernen Vorhang unter einer totalen kommunistischen Diktatur vegetieren mussten. Nach dem Fall des Kommunismus musste deshalb sofort mit der Aufklärungsarbeit begonnen werden, denn es ist nicht so einfach, dieses Erbe aus der Welt zu schaffen. Es ist in unseren Köpfen, Seelen und Routinen. Generationen sind ohne andere Wertesysteme aufgewachsen, oder ohne . andere Welten kennen gelernt und erlebt zu haben. Ihre Realität war jahrzehntelang die Diktatur, ein System, dass Individuen nicht als Erwachsene behandelte. Es gab Arbeit, es gab zu essen (vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten, wodurch Ungarn sofort den Spitznamen Gulaschkommunismus verdiente), und es gab eine Wahrheit, eine Erklärung für alles. Was es nicht gab: Privateigentum, Meinungs- und Bewegungsfreiheit. Politik zu machen war Privileg der Parteielite. Das Leben aber war nur deshalb erträglicherer geworden, weil das ungarische Volk und die kommunistischen Machtinhaber nach dem Freiheitskampf von 1956 einen neuen Ausgleich abgeschlossen hatten. Basis dieser inoffiziellen Einigung war die gegenseitige, panische Angst. Das Volk wurde durch die mächtige Terrorwelle nach der Revolution eingeschüchtert. Durch Hinrichtung von Hunderten, Einkerkerung von Zehntausenden, Emigration Hunderttausender. Die erniedrigte Bevölkerung wiederum bekam von der furchtbesessenen Parteileitung mehr Freiheit in der Privatsphäre, höheres Lebensniveau (im Vergleich zu den 50er, 60er Jahren). Als Preis für die minimalen Zugeständnisse zeigte sie kein Interesse für das politische Leben und akzeptierte die Tatsache, dass Ungarn weiterhin ein von der Roten Armee besetztes Land blieb. Nach dem Wechsel im Jahre 1990-1991 begannen nun die Diskussionen über das kommunistische Erbe. In der sogenannten "friedlichen" oder "sanften" Revolution floss kein Blut: die Kommunisten übergaben ihre Macht dem Volke, und beteiligten sich an der Gestaltung der Demokratie. Es war also keine Frage, dass sie als ebenbürtige Partner sowohl am politischen, als auch am wirtschaftlichen Leben des neuen freien Ungarns teilhaben können. Mit dem moralischen und historischen Erbe des Kommunismus musste trotzdem etwas geschehen. Viele hofften auf einen anlaufenden Prozess der Vergangenheitsbewältigung, doch rasch stellte sich heraus, dass der

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Westen uns in diese Richtung überhaupt nicht folgen wird. Ganz im Gegenteil! Selbst moralische, geschweige denn juristische Schritte in Bezug auf die für die Gräueltaten verantwortlichen, ehemaligen Kommunisten wurden sofort in Frage gestellt. Lieblingskinder der westlichen Elite waren nicht die Antikommunisten, sondern die Postkommunisten, die wahren "darlings" der Wende. Es entstanden verschiedene Ausdrücke, zum Beispiel Reformkommunisten, Postkommunisten. Lassen Sie doch mal die Worte Reformnazis, Reformfaschisten, Postfaschisten, Postnazis auf Ihrer Zunge zergehen! Sie werden sehen, es ist unmöglich. Warum ist es so einfach bei Kommunisten, die 1953, 1956, 1968, oder 1981 noch aktiv waren? Tatsache ist lediglich, dass Begriffe wie Reformkommunisten, Postkommunisten überall, und zwar ohne negative Konnotation, benutzt werden. Die braven Kommunisten, die sich reformieren konnten, und alle zu Demokraten und Kapitalisten geworden sind. Dass die Sowjetunion zusammenbrach, dass die Rote Armee nicht mehr einsatzfähig war, als diese Entscheidungen von den damaligen kommunistischen Eliten getroffen wurden, darüber wird heute gar nicht mehr gesprochen. Vom Westen kam keine Unterstützung und jeder, der sich mit den wahren Fragen der kommunistischen Vergangenheit auseinandersetzen wollte, wurde rasch als Nationalist, Antisemit oder Faschist gebrandmarkt. Da die Sozialistische Arbeiterpartei in Ungarn bei einer Gesamtbevölkerung von 10 Millionen über 800.000 Mitglieder besaß, war und ist es nicht leicht, die kommunistische Vergangenheit überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen. Der Schwierigkeitsgrad ist jedoch weiter erhöht worden: die ungarische Medienelite blieb nämlich nach dem Wechsel praktisch die gleiche. Westliche Investoren haben zwar die wichtigsten Medien des Landes aufgekauft, ließen aber flächendeckend alle ehemaligen Funktionäre in den leitenden Positionen und stellten diese Medien so in den Dienst der Postkommunisten. Trotz allem möchte ich an dieser Stelle betonen, dass wir viel erreicht haben. Ich muss auch gestehen, dass die ungarischen Entwicklungen nach einem Blick auf die gegenwärtige deutsche Situation in meinen Augen noch wertvoller geworden sind. Zwischen 1998 und 2002, unter der Regierung Orban wurden zwei Feiertage eingeführt: ein Holocaust- und ein Kommunismus-Gedenktag. Seit 2000 muss jährlich in den Schulen, Gymnasien, an den Universitäten an die Opfergruppen und tragischen Ereignisse erinnert

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werden. Lehrer und Professoren können sich entscheiden, ob sie mit ihren Klassen ins Museum gehen oder ob sie sich Filme anschauen, oder verschiedene Programme zusammenstellen. Neben den beiden Feiertagen wurden auch Museen gestiftet: ein Holocaust Museum und Dokumentationszentrum sowie ein Museum für die Opfer des Kommunismus. Das letztere, das "Museum Haus des Terrors" wurde 2002 eröffnet und aus Staatsmitteln errichtet. Es kostete eine beträchtliche Summe von drei Milliarden Forint, etwa 12 Millionen Euro. Im Herzen von Budapest, in einem auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinenden Gebäude altbürgerlichen Stils aus dem 19. Jahrhundert, in der Andrassy Allee 60, fanden wir den Ort, der durch seine unheimlichen historischen Erfahrungen faktisch mit dem Begriff Terror verschmolzen war. Das Gebäude war zwischen dem 15. Oktober 1944 und 1956 ein wichtiger Schauplatz zweier Diktaturen. Hier hatte sich die Partei der Pfeilkreuzler - Nationalsozialisten ungarischer Prägung - eingerichtet, und hierher wurde in den tragischen Wintermonaten 1944 - 1945 ein Teil der Opfer verschleppt. Kaum hatten die Pfeilkreuzler das Gebäude verlassen, machte die Staatspolizei der Kommunisten das Gebäude zu ihrem Hauptquartier und terrorisierte mehr als zehn Jahre lang die ungarischen Bürger. Das "Haus des Terrors", wie man das Museum in Ungarn nennt, wurde zu einem übergroßen Erfolg. In den seit der Eröffnung vergangenen drei Jahren hatten wir über 1.500.000 Besucher, Schulkinder kommen und besuchen dieses Museum aus dem ganzen Land. Seit seiner Eröffnung steht das Museum Haus des Terrors im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jeder hat sich dem Hause gegenüber seinen Standpunk erarbeitet. Das Ausmaß der Diskussion zeigen schon die über 3.000 Zeitungsartikel, die alleine in Ungarn erschienen. 2.800 davon waren - zugegebener Weise - negativ, meistens wurde die Sprache kritisiert, wobei unsere Darstellungsweise mit der bislang "offiziellen" Schilderung moderner Zeitgeschichte nichts zu tun hat. Das Museum Haus des Terrors ist ein interaktives Videomuseum, das von den Besuchern genauso "miterlebt" werden kann wie ein Film. Wichtige Daten sind ausgeschildert, dem Interessenten werden durch Ton- und Filmdokumente sowie durch gezielte Texte innerhalb der Räume Hinweise und Informationen vermittelt. Weitere Angaben stehen den Gästen durch die Touchscreen-Anlagen zur Verfügung . Das Museum wurde bewusst für den Besucher des 21. Jahr-

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hunderts konzipiert, für junge Leute, um den Schrecken der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts auch für sie erlebbar und nachfühlbar zu machen. Dies hat den linksliberalen "Meinungsbildern" offenbar viel Kummer bereitet. Ihr zweites Problem war, dass unser Museum in der wichtigsten Straße der Hauptstadt liegt, an einem zentralen Ort. An der Fassade sind die Symbole der beiden menschenverachtenden Regime des letzten Jahrhunderts, ein roter Stern und ein Hakenkreuz, das Symbol der ungarischen Nazis in derselben Größe nebeneinander angebracht. Die größte Diskussion wurde natürlich darüber geführt, ob man die zwei Systeme überhaupt miteinander vergleichen kann. Meine Antwort lautete stets: "Den Vergleich habe nicht ich gemacht, denn es waren die Kommunisten die gerade in diesem Haus das Zentralgebäude ihrer politischen Polizei einrichteten. Sie wählten dasselbe Haus, das die ungarischen Nazis als ihre Zentrale benutzt haben, es war also ihre Entscheidung und nicht unsere. Dies entspricht den Tatsachen, so war die Geschichte: das ist die Geschichte dieses Haus, dieses Landes." Mittlerweile gibt es in Ungarn keine Diskussion mehr darüber, ob die zwei Diktaturen miteinander zu vergleichen sind. Die ungarische Öffentlichkeit hat dies schon als eine Selbstverständlichkeit anerkannt. Im Jahre 2005 organisierten wir eine große Ausstellung mit dem Titel "Ungarische Tragödie 1945 - Versklavt und verschleppt". Diese Ausstellung widmete sich der Geschichte und dem Andenken der über 700.000 ungarischen Staatsbürger, die während des Zweiten Weltkrieges und nach 1945 in die Sowjetunion deportiert worden waren. 350.000 von ihnen sind nie zuriickgekehrt. Über diese Opfer wurde in Ungarn überhaupt noch kein Wort gesprochen. 2006 planen wir nun eine Ausstellung über die 200.000 Ungarndeutschen, die 1946 ebenso deportiert wurden und ihre ungarische Heimat verlassen mussten. In den ehemaligen kommunistischen Ländern, den Ostblockstaaten, in Polen, in Estland sind auch zentrale Museen gebaut worden. Auch in der Ukraine will man ein großes Museum errichten. Es ist also eine gemeinsame Zielsetzung dieser Länder in der Europäischen Union, in der europäischen Gemeinschaft auch mit ihren eigenen historischen Erfahrungen präsent zu sein. Tatsache ist jedoch, dass die europäische Medienelite, vor allem in Deutschland, danach in Frank-

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reich und in den anderen Ländern der westlichen Welt unseren Bemühungen gegenüber äußerst negativ eingestellt ist. Es ist eine Erfahrung, die sich von Tag zu Tag bestätigt. Immer wieder werden wir von westlichen Journalisten und öffentlichen Meinungsbildern gebrandmarkt, die überhaupt kein Interesse für unsere Vergangenheit zeigen, weil sie offensichtlich daran interessiert sind, die kommunistische Erfahrung als eine positive, als eine "humane" zu präsentieren. Es wächst in einem der Eindruck, dass ein wesentlicher Teil der westlichen Journalisten es als eine persönliche Beleidigung erlebt, wenn außer den Opfergeschichten unter den Nazis auch andere ins Auge gefasst werden. Meiner Meinung nach ist ein gemeinsames europäisches Verständnis mit den zehn neuen Ländern der Europäischen Union nur dann möglich, wenn der "glücklichere", westliche Teil samt seinen 68ern - auch wenn deren gesellschaftliches Gewicht noch so groß ist - endlich akzeptiert, dass dies unsere Vergangenheit war, dass wir es nicht dulden können, aus der Öffentlichkeit weiterhin ausgeschlossen zu sein. Sollte in Ungarn wieder eine nicht postkommunistische Regierung an die Macht kommen, wollen wir auch daran arbeiten, dass in Brüssei und in Berlin sowie in Washington D.C. endlich ein Museum an die Leiden und Opfer des Kommunismus erinnert. Auch ein Museum über den Kalten Krieg sowie ein Denkmal in Berlin für die Opfer des Kommunismus sind mehr als wünschenswert. Ich möchte hoffen, dass wir nicht noch zwanzig Jahre warten müssen, denn all die unterdrückten Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg sofort und so viel zu leiden hatten, werden keine zwanzig Jahre mehr leben.

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Schlussworte Von Norbert Lammert Ich muss eigentlich nicht erläutern, warum die Adenauer-Stiftung das Thema so wichtig findet, mit dem Sie sich heute den ganzen Tag über beschäftigt haben. Allein die Anwesenheit des Präsidenten des italienischen Senats und des Präsidenten des Deutschen Bundestages macht deutlich, dass wir dieses Thema nicht für ein schönes, wichtiges, aber eben typisches Akademiethema halten, sondern für eine konstitutive Herausforderung einer lebendigen Demokratie, eines politischen Systems, das seine Verpflichtung zu Demokratie und Freiheit einhält und das um die historischen Erfahrungen weiß, aus denen unser heutiges demokratisches System gewachsen ist und über deren Gefährdungen wir mit Blick auf die Vergangenheit, wie im übrigen auch auf die Gegenwart, keine Illusionen haben dürfen. Diese Veranstaltung findet am 8. November statt, das ist der Vortag des auffalligsten einzelnen Tages, den es in der deutschen Geschichte im Jahresablauf gibt. Aber auch dieser 8. November ist nicht ganz so unscheinbar, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag, denn es war ein 8. November, an dem genau vor 66 Jahren, am 8. November 1939, ein einsamer verzweifelter Einzelkämpfer einen der zahlreichen gescheiterten Anschläge auf Adolf Hitler unternahm, Georg Elser, ein unscheinbarer Schreiner mit relativ wenigen Kontakten auch in der baden-württembergischen Stadt, in der er lebte, ganz sicher ohne organisierte Kontakte zum sogenannten deutschen Widerstand, der buchstäblich einsam, aber mit verzweifelter Wut seinen aussichtslosen Versuch unternommen hat, eine verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen. Dass der 9. November, den wir morgen begehen, in der deutschen Geschichte sowohl die Novemberrevolution wie den ersten Hitlerputsch wie den Fall der Mauer in einer kaum noch überbietbaren historischen Liste miteinander verbindet, bedarf keiner Erläuterung, aber

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verdient immerhin, an einem solchen Tage festgehalten zu werden. Denn allein der Zusammenhang dieser Daten macht deutlich, dass unsere Gegenwart eine Vergangenheit vor sich hat und dass die Zukunft dieses Landes, wie anderer Länder auch, ohne Kenntnis dieser historischen Erfahrungen, ohne immer wieder neu erarbeitete Schlussfolgerungen aus solchen historischen Erfahrungen nicht in der gewünschten Weise gesichert werden kann. Lieber Kollege Pera, ich weiß, dass Sie in Ihrem ersten Leben vor der Politik sich nicht so sehr aus der Perspektive der unmittelbaren politischen Verantwortung, sondern aus der Perspektive eines Philosophen mit den Herausforderungen unserer Geschichte, unserer Vergangenheit auseinander gesetzt haben. Sie haben mit dem jetzigen deutschen Papst und damaligen deutschen Kurienkardinal Ratzinger gemeinsam über das Thema der Identität und dem, was nationalen europäischen Identitäten an Erfahrungen und Überzeugungen zugrunde liegt, publiziert und Sie sind deswegen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ein ganz willkommener Schlussredner dieses heutigen Symposiums.

Memento Gulag. Memento heute Von Marcello Pera Von den Vernichtungslagern der Kommunisten und Nationalsozialisten wissen wir fast alles. Zeugenaussagen, Tagebücher, Erinnerungen, psychologische und soziologische Analysen sowie zahllose historische Beschreibungen erzählen uns davon. Das Grauen, welches diese in uns auslösen, sitzt tief. Die Verpflichtung, nie wieder solch abscheuliche Verbrechen zu begehen, wird bei jeder passenden Gelegenheit feierlich wiederholt. Fortwährend werden Anstrengungen unternommen, um Institutionen und demokratische Sitten zu schaffen, die solcherlei Tragödien vorbeugen. Man könnte meinen, dass wir alle unsere Lektion aus der Geschichte gelernt haben. Eine Frage, die bisher wenig Beachtung fand, dafür aber umso wichtiger wäre, bleibt bestehen. Weshalb hat das Wissen um die Tragweite dieser ungeheuerlichen Dramen des 20. Jahrhunderts keinen Eingang in das kollektive Gewissen gefunden? Weshalb fällt es der öffentlichen Meinung des Westens noch schwer, dieses gemeinsame Fundament der ethnischen und Klassensäuberung, die von den nazifaschistischen und kommunistischen totalitären Regimen praktiziert wurde, anzuerkennen, deren Wurzeln Hannah Arendt bereits in den frühen fünfziger Jahren ermittelte? Warum fällt es, im Besonderen, immer noch schwer, die Reichweite des Terrors in der Sowjetunion anzuerkennen? Dank der Staatspartei hatte der Kommunismus die Möglichkeit, den kollektiven Mythos des "neuen Menschen" zu verbreiten. Die "große Lüge" wurde mit einer umfassenden Propaganda, totalen Zensur und einer kompletten Schließung der Grenzen durchgesetzt. Der Rest wurde mit Hilfe des Massenterrors aufgezwungen. Die Möglichkeit, Informationen zu manipulieren, erreichte bis dahin ungeahnte Höhen. George Orwell schrieb: "Die organisierte Lüge, die von den totalitären Staaten praktiziert wird, ist nicht, wie einige meinen, eine vorübergehende Notlösung. die der Täuschung

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zu Kriegszeiten ähnelt. Sie ist vielmehr untrennbar mit dem Totalitarismus verbunden. Sie würde auch dann weiter bestehen, wenn Konzentrationslager und Geheimpolizei nicht mehr nötig wären. [ . . . ] Tatsächlich verlangt der Totalitarismus die kontinuierliche Manipulation der Vergangenheit und auf lange Sicht verlangt er mit großer Wahrscheinlichkeit sogar die Leugnung der Existenz objektiver Wahrheit" I.

Die Erklärung Orwells stimmt, aber sie antwortet nicht gänzlich auf unsere Fragen. Der Fall der Ukraine reicht, um dies zu zeigen. Die eklatante Verspätung von mindestens einem halben Jahrhundert der Reaktion der weltweiten öffentlichen Meinung auf den holodomor - das ukrainische Wort, das geprägt wurde, um die Massenvernichtung durch Aushungern zu beschreiben und heute eines der Elemente darstellt, die die ukrainische Nationalidentität definieren lässt sich nicht alleine der Zensur und der stalinistischen Propaganda zurechnen. Um zu verstehen, weshalb die Hungersnöte der Jahre 1932 - 33, die zwischen fünf und sieben Millionen Opfer, vornehmlich ukrainische Bauern, forderten, bis heute nicht in angemessener Form von der öffentlichen Meinung des Westens zur Kenntnis genommen worden sind, reicht Stalin nicht aus. Hierzu muss man sich auch der offenen Komplizenschaft und verzweifelten Anstrengungen einiger intellektueller, westlicher Bewunderer Stalins erinnern. Der Fall Walter Durantys ist emblematisch. Duranty war der Korrespondent der New York Times aus Moskau. Über Jahrzehnte hinweg war er als der wichtigste und maßgebendste angesehen und 1932 erhielt er sogar den Pulitzerpreis für "die Jahre seiner unermüdlichen und brillanten Arbeit in Moskau", wie es in der Begründung hieß. Während der verheerenden Tage des Hungers in der Ukraine schrieb Duranty, dass "kein Wille zum Aushungern oder Verhungern lassen besteht" und "jeder Korrespondentenbericht über den Hunger in Russland heute eine Übertreibung oder einen Fall von boshafter Propaganda darstellt". Seine Kollegen haben bezeugt, dass dieser Journalist, ein Bewunderer Stalins, seine Berichte in folgenden Worten rechtfertigte: "Was stellen wenige Millionen toter Russen in einer Situation wie dieser dar? Nichts wirklich Wichtiges. Es handelt sich nur um einen Unfall im großartigen historischen Umbruch, der sich hier vollzieht"z. 1 G. Orwell, ..The Prevention of Literature", in Collected Essays, Secker & Warburg, London, 1961.

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Dies ist in Amerika passiert. Woanders sind die Dinge nicht viel anders verlaufen. Zum Beispiel glaube ich, dass in Italien nur eine kleine Minderheit davon Kenntnis hat, dass mehr als tausend unserer Landsmänner - 1028 ist die genaue Zahl, die bis heute ermittelt wurde - ihr Leben im Gulag ließen oder während des großen stalinistischen Terrors erschossen wurden. Die Hälfte dieser Männer gehörte zur italienischen Gemeinschaft von Kerc in der Krim, die anderen waren in der Mehrzahl politische antifaschistische Emigranten, hauptsächlich kommunistische Kämpfer. Ihre Geschichte unterscheidet sich nicht von derer vieler anderer politischer Flüchtlinge, Vertriebener, Kriegsgefangener und ganzer Gemeinden, die aus anderen europäischen Länder emigriert sind: vor unterdrückenden und antifreiheitlichen Regimen geflüchtet, haben sie in der neuen sowjetischen Heimat die Verwirklichung der eigenen Ideale gesucht und wurden stattdessen mit Verfolgungen, körperlicher und moralischer Folter und häufig mit Todesurteilen konfrontiert. Einige konnten sich mit großem Mut dem moralischen Drift der Denunziation und den Zwängen des Regimes entgegensetzen, bis sie die eigenen Freunde und Nahestehenden im Tausch mit der eigenen Freiheit anzeigten. Dennoch wurde dies in absolutes Schweigen gehüllt. Erst seit kurzem scheint sich der Schleiher an manchen Stellen zu lüften. Die Stadt Mailand zum Beispiel, hat sich in diesen Tagen der verdienstvollen Initiative angenommen, den Park Valsesia den italienischen Gulagopfern zu widmen. Beispiele wie diese, ganz unterschiedlich in geographischer Hinsicht und was die Reichweite der Phänomene angeht, auf die sie sich beziehen, ermöglichen es, die Frage in ihrer ganzen, enormen Tragweite auf die Rolle der Intellektuellen in der Operation Beschweigen und auf die vorsätzliche Reduktion auf das Schweigen hinsichtlich der Gulag zu richten. Wieso? Die Frage ist unheimlich. Die Veranlagung zur geistigen Kritik, eine Offenheit, bereit jeden Gegensatz und jeden Mangel der sozialen Welt aufzuspüren, ist und muss das charakteristische Prinzip der Intellektuellen sein. Und nun, wie ist es möglich gewesen, dass begabte, westliche Intellektuelle mit Kritikfähigkeit auf ihre Berufung verzich2 A. Beichmann, "After 70 years a Pulitzer committee is reexamining Walter Duranty's Stalin whitewashes in the New York Times. How bad were they? See for yourself', in The Weekly Standard, 12. Juni 2003.

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tet haben angesichts der Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen und Gemetzel der totalitären Systeme? Warum gelingt es Ihnen, eine Gesellschaft wie das stalinistische Russland oder das maoistische China faszinierend zu finden? Es ist keine Frage der mangelhaften Informationen. Viele Intellektuelle und englische, amerikanische und deutsche Journalisten besuchten in den dreißiger Jahren die Baustelle des Belomor Kanal, im gegenwärtigen Russland, wo in der Mehrzahl etwa dreihunderttausend politische Inhaftierte arbeiteten. Die Journalisten hatten die Gelegenheit, es persönlich zu sehen. Ebenso schrieben sie freimütig Lobesworte und Würdigungen für das, was als eine verdienstvolle Umerziehung von hunderten bis tausenden Staatsfeinden durch die sowjetischen Sicherheitsorgane vor ihren Augen erschien. Die Eheleute Webb schlussfolgerten zum Beispiel: "Diese begeisterte Teilnahme war gleichwertig mit der Anerkennung der Kapazität der GPU, nicht nur in der Verwirklichung einer großartigen Arbeit des Ingenieurwesens, aber insbesondere um den Sieg auf dem Gebiet der menschlichen Umerziehung zu erzielen,,3.

Die Frage kommt wieder, warum dieser "Verrat der Intellektuellen"? Ich glaube, weil der demokratische und freie Westen den Preis für Stalin im Zuge des Zweiten Weltkrieges zahlen musste. Zudem verleitete der Mythos des Antifaschismus dazu, die tragische Wirklichkeit des Kommunismus zu vergessen und die, die für dieses noble und großmütige Ideal ihr eigenes Leben opferten. Und schließlich aufgrund der geschichtlichen Darstellung der westlichen, kommunistischen Parteien - die, wie Raymond Aron vertritt, für eine bestimmte Zeit als Plattformen der UdSSR im feindlichen Gebiet errichtet wurden. Sie haben die kulturelle Umwelt und die gemeinsamen Urteile beeinflusst. Und dennoch diese Erklärung ist noch unzureichend. Sie erklärt nicht, warum Walter Duranty, die Eheleute Webb und andere weniger bekannte die Augen vor der Realität verschlossen. Die entscheidende Ergänzung kommt meines Erachtens von der totalitären Mentalität. 3 Sidney and Beatrice Webb, "Soviet communism: a new civilisation", Longmans Green und Co., New York, 1935 (ital. Übers., Sidney und Beatrice Webb, 11 Comunismo sovietico: una nuova civilta, Einaudi, Torino, 1950.

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Sie ist viel größer gewesen als die entsprechenden totalitären Regime, und sie war sehr tiefgreifend. Sie ist auch in den Westen vorgedrungen, wo man sich hinter der scheinbaren demokratischen Ideologie versteckte, in manchen Fällen hat sie fast den Fall der Mauer überlebt. Hier befindet sich meines Erachtens die wahre Antwort auf die Fragen, zu denen ich Stellung genommen habe. Und diese wahre Antwort muss uns in der moralischen und politischen Lehre zum Nachdenken bringen, die wir jetzt weiterführen müssen, besonders in diesen Tagen. Angesichts der Bedrohungen seitens der iranischen Theokratie hat der Westen endlich eine einheitliche und starke Stimme gefunden. Plötzlich und unheilvoll, hat er den gleichen Hass wiedererfahren, der gegen die Juden in allen totalitären, europäischen Regimen des letzten Jahrhunderts entfesselt wurde. Und dazu hat er die gleichen Kennzeichen festgestellt. Die Kampagne, die Stalin in den letzten Jahren seines Lebens gegen die "Weltbürger", "die nationalistischen Juden", "die Zionisten", "die mörderischen Ärzte" veranlasste - alles Bezeichnungen der sowjetischen Propaganda, die sich auf die Juden beziehen - war nicht bedingt durch die Paranoia des Diktators, sondern durch die Notwendigkeit des Regimes, innere Feinde zu finden. Die stalinistische Führung war bereit, jede Art des Vorurteils auszunutzen, jede Form der Angst zu schüren, jede Art der Gegner zu ermitteln und ferner die innere Stabilität des eigenen Regimes zu stärken. Dasselbe kann heute geschehen. Und wir sind nur dann vorbereitet die Herausforderung anzunehmen, wenn die totalitäre Mentalität vollständig ausgerottet sein wird, wenn niemand der Versuchung verfällt einen Fortschritt zu sehen, wo sich hingegen ein Abgrund befindet. "Memento Gulag" muss auch dazu dienen, nicht nur um dem stalinistischen, intellektuellen Rechtfertigungsverhalten von gestern und dem heutigen Fundamentalismus entgegenzuwirken, im Namen eines vermuteten sozialen Fortschritts und einer Modernisierung, die das Regime mit sich gebracht hätte. Nicht nur um sich dem Vergessen entgegenzustellen, der Zensur der Archive, der Verdrängung der Verbrechen, der Verschleierung der Namen der Verantwortlichen des sowjetischen Regimes. Wir müssen geltend machen, dass glücklicherweise eine andere intellektuelle Tradition existiert. Der hier anwesende Vladimir Bukowski, der es geschafft hat, hunderte über hunderte geheime Dokumente des sowje-

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tischen Regimes zu beschaffen, hat sie ins Internet gestellt und somit für alle Historiker und einem großen Publikum zugänglich gemacht. Bukowskis Dokumentation ist nicht nur geeignetes Material für den Historiker, es bedeutet viel mehr. Es stellt auch eine moralische und politische Investition für eine Zukunft in Freiheit dar, die, wie uns die Geschichte gezeigt hat und die Zeiten, in denen wir leben, uns mahnen, nie als eine Errungenschaft angesehen werden kann, die immer besteht.