Menschengesichte: Max Picards literarische Physiognomik 9783050065267, 9783050062693

Karsten Lichau explores the strains and breaks in Picard’s early works (1914–1933). The focus is on a literary trope tha

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Menschengesichte: Max Picards literarische Physiognomik
 9783050065267, 9783050062693

Table of contents :
Danksagung
L/Z
Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur
Literarische Physiognomik. Wissenshistorische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Obsessionsgeschichte
Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen
Zum Aufbau der Arbeit
Teil I: Felder, Laufbahnen, Kontexte. Bourdieu und der New Historicism
1 Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis
1.1 Das Werden der Literatur
1.2 Das Wesen der Literatur
2 Picards Der Bürger
3 Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich
3.1 Ökonomische Metaphern und Modelle
3.2 Von grünen, weißen und blauen Bohnen. Die Anekdote
3.3 Historische Verwicklungen. Text und Kontext
3.4 Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung
„Text-cum-Handlung“. Alan Lius New Historhetoricism
Unhappy Swerving
Teil II: „Gesichte vor dem Weltende“. Picards Frühwerk und Der letzte Mensch
4 Reaktionäre Transgressionen. Der letzte Mensch zwischen Groteske und Apokalypse
4.1 Vom Schein des Humanen zum Hervorbrechen des Grotesken
Die Augen
4.2 Groteske Kaskaden
4.3 Apokalypse
Letzte Dinge. Der Zusammenbruch der Differenzen als mediale und soziale Katastrophe
Akustische Apokalypse. Die letzte Stimme des Menschen ist nicht die Stimme des letzten Menschen
Eine schwankende Apokalyptik
4.4 Picard vs. Bachtin. Der letzte Mensch als Beitrag zur Theorie des Grotesken
5 Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes
5.1 Gesichte im Kontext (I). Hüllen, Fragmente und Neue Seher
Texturen der Unverständlichkeit
5.2 Gesichte im Kontext (II). Picards Frühwerk im Angesicht des Expressionismus
Picard als Expressionist?
Picards Rezeption in der Expressionismus-Forschung
5.3 Gesichte im Kontext (III). Positionen, Themen und Ambivalenzen expressionistischer Zivilisationsdarstellungen
Die Großstadt
Besessene Körper
„Weil sie dem Kommando zu bleiben nicht mehr gehorchen“. Kriegsgesichte(r)
„Herkunft der Abstraktion aus der Bewegtheit“. Picards kunstkritische Schriften
5.4 Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen
Die Verlagslandschaft
Bekanntschaften und Gruppen-Mitgliedschaften
6 Austauschverhältnisse. Picard zwischen den drei Kulturen
6.1 Körpergeschichten. Die Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft bei Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht
Ernst Troeltsch und die „Krise des Historismus“
Karl Lamprecht
6.2 „Am Körper festgehalten“. Picard und die Medizin
Zwischen Positivismus und Rassenhygiene. Picards Dissertation und das Problem der Lues
Nasen. Groteske Figuren zwischen Ästhetischer Chirurgie und Kriegsmedizin
Teil III: Das Menschengesicht
Nach den Gesichten. Vor dem Angesicht
7 „Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien
7.1 Raum und Zeit des Menschengesichts
Die Räume des Menschengesichts. Von interfacialen, innerfacialen und interstellaren Perspektiven
Zeitlichkeit und Ewigkeit des Menschengesichts
7.2 Eine Wellentheorie des Gesichts
7.3 „Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“. Die Menschengesichte der jüdischen Sprachmystik
En-Sof und die sefiroth. Bruch und Harmonie, Bewegung und Enthaltung
Die Gesichte(r) Gottes
Schevirath-ha-Kelim und das „Menschengesicht heute“
7.4 Ästhetische Kabbala
8 Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus
8.1 „Ein neues Geschlecht“ auf verlorenem Posten. Die Ambivalenzen der katholischen Literaturbewegung
8.2 „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“. Picard und die Unmöglichkeiten einer deutsch-jüdischen Literatur
9 Austauschbeziehungen zwischen Protestantismus, Katholizismus und Judentum
9.1 Die Ungeborgenen. Protestantische Positionen zwischen Dialektischer Theologie, Nihilismus und Ökumene
Picard und Kierkegaard
„Religion ist Unglaube“. Die Dialektische Theologie
Rundgespräch und „Eckart-Kreis“. Theologien einer „evangelischen Geisteskultur“
9.2 „Gott über uns und in uns“. Menschengesicht und imago dei-Lehre
9.3 „Wie aus einer Falte des Goldgrundes hervorgetreten“. Die Bemühungen um ein katholisches Geschichts-Bild
9.4 Gesichte(r) im Dialog. Die jüdische Theologie und Geschichtsphilosophie
Tod und Kuss. Faciale Begegnungen in Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung
„Atome der Ewigkeit“. Geschichtsdenken bei Rosenzweig und Picard
Schluss: Der Autor und das Gesicht
Abbildungsnachweis
Literaturverzeichnis

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Menschengesichte

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 13 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Karsten Lichau

Menschengesichte Max Picards literarische Physiognomik

Die vorliegende Arbeit wurde an der Freien Universität Berlin 2010 als Dissertation angenommen.

ISBN 978-3-05-006269-3 eISBN 978-3-05-006526-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier

Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Danksagung................................................................................................................

9

L/Z ........................................................................................................................... 11 Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur ............................. Literarische Physiognomik. Wissenshistorische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Obsessionsgeschichte ..................................................... Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen ............................................... Zum Aufbau der Arbeit .....................................................................................

17 17 23 34

Teil I: Felder, Laufbahnen, Kontexte. Bourdieu und der New Historicism 39 1 Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis ......................................................... 41 1.1 Das Werden der Literatur .................................................................................. 41 1.2 Das Wesen der Literatur .................................................................................... 49 2 Picards Der Bürger ................................................................................................. 55 3 Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich ............... 3.1 Ökonomische Metaphern und Modelle ............................................................. 3.2 Von grünen, weißen und blauen Bohnen. Die Anekdote .................................. 3.3 Historische Verwicklungen. Text und Kontext ................................................. 3.4 Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung ................................................. „Text-cum-Handlung“. Alan Lius New Historhetoricism................................. Unhappy Swerving.............................................................................................

71 77 82 87 94 100 105

Teil II: „Gesichte vor dem Weltende“. Picards Frühwerk und Der letzte Mensch ...................................................................................................... 117 4 Reaktionäre Transgressionen. Der letzte Mensch zwischen Groteske und Apokalypse ............................................................................................................. 119 4.1 Vom Schein des Humanen zum Hervorbrechen des Grotesken ........................ 123

6

Inhaltsverzeichnis

Die Augen ......................................................................................................... 4.2 Groteske Kaskaden ........................................................................................... 4.3 Apokalypse ....................................................................................................... Letzte Dinge. Der Zusammenbruch der Differenzen als mediale und soziale Katastrophe ...................................................................................................... Akustische Apokalypse. Die letzte Stimme des Menschen ist nicht die Stimme des letzten Menschen ........................................................................................ Eine schwankende Apokalyptik......................................................................... 4.4 Picard vs. Bachtin. Der letzte Mensch als Beitrag zur Theorie des Grotesken

136 139 141

5 Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes............................................ 5.1 Gesichte im Kontext (I). Hüllen, Fragmente und Neue Seher .......................... Texturen der Unverständlichkeit ...................................................................... 5.2 Gesichte im Kontext (II). Picards Frühwerk im Angesicht des Expressionismus ............................................................................................... Picard als Expressionist? ................................................................................. Picards Rezeption in der Expressionismus-Forschung .................................... 5.3 Gesichte im Kontext (III). Positionen, Themen und Ambivalenzen expressionistischer Zivilisationsdarstellungen ................................................. Die Großstadt ................................................................................................... Besessene Körper ............................................................................................. „Weil sie dem Kommando zu bleiben nicht mehr gehorchen“. Kriegsgesichte(r) .............................................................................................. „Herkunft der Abstraktion aus der Bewegtheit“. Picards kunstkritische Schriften............................................................................................................ 5.4 Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen ............................................................................................................ Die Verlagslandschaft ...................................................................................... Bekanntschaften und Gruppen-Mitgliedschaften..............................................

171 172 184

151 156 159 164

196 196 203 208 213 217 224 241 270 271 280

6 Austauschverhältnisse. Picard zwischen den drei Kulturen................................... 302 6.1 Körpergeschichten. Die Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft bei Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht.......................................................................... 303 Ernst Troeltsch und die „Krise des Historismus“ ............................................ 306 Karl Lamprecht................................................................................................. 314 6.2 „Am Körper festgehalten“. Picard und die Medizin......................................... 322 Zwischen Positivismus und Rassenhygiene. Picards Dissertation und das Problem der Lues.............................................................................................. 326

Inhaltsverzeichnis

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Nasen. Groteske Figuren zwischen Ästhetischer Chirurgie und Kriegsmedizin .................................................................................................... 335

Teil III: Das Menschengesicht .................................................................. 343 Nach den Gesichten. Vor dem Angesicht .................................................................. 345 7 „Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien...................................... 7.1 Raum und Zeit des Menschengesichts ................................................................. Die Räume des Menschengesichts. Von interfacialen, innerfacialen und interstellaren Perspektiven ................................................................................ Zeitlichkeit und Ewigkeit des Menschengesichts ............................................... 7.2 Eine Wellentheorie des Gesichts.......................................................................... 7.3 „Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“. Die Menschengesichte der jüdischen Sprachmystik..................................................................................... En-Sof und die sefiroth. Bruch und Harmonie, Bewegung und Enthaltung...... Die Gesichte(r) Gottes....................................................................................... Schevirath-ha-Kelim und das „Menschengesicht heute“.................................. 7.4 Ästhetische Kabbala.............................................................................................

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8 Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus .................................................. 402 8.1 „Ein neues Geschlecht“ auf verlorenem Posten. Die Ambivalenzen der katholischen Literaturbewegung........................................................................ 405 8.2 „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“. Picard und die Unmöglichkeiten einer deutsch-jüdischen Literatur.......................................... 415 9 Austauschbeziehungen zwischen Protestantismus, Katholizismus und Judentum.. 9.1 Die Ungeborgenen. Protestantische Positionen zwischen Dialektischer Theologie, Nihilismus und Ökumene ................................................................ Picard und Kierkegaard .................................................................................... „Religion ist Unglaube“. Die Dialektische Theologie ...................................... Rundgespräch und „Eckart-Kreis“. Theologien einer „evangelischen Geisteskultur“.................................................................................................... 9.2 „Gott über uns und in uns“. Menschengesicht und imago dei-Lehre ................ 9.3 „Wie aus einer Falte des Goldgrundes hervorgetreten“. Die Bemühungen um ein katholisches Geschichts-Bild....................................................................... 9.4 Gesichte(r) im Dialog. Die jüdische Theologie und Geschichtsphilosophie ..... Tod und Kuss. Faciale Begegnungen in Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung............................................................................................................. „Atome der Ewigkeit“. Geschichtsdenken bei Rosenzweig und Picard ............

430 431 431 436 440 455 464 475 475 484

8

Inhaltsverzeichnis

Schluss: Der Autor und das Gesicht.......................................................................... 493 Abbildungsnachweis ................................................................................................. 497 Literaturverzeichnis................................................................................................... 498

Danksagung

Mein Dank geht an all diejenigen, die diese Arbeit durch ihre ganz unterschiedlichen Formen der Unterstützung erst möglich gemacht haben. Zunächst möchte ich meinen beiden Gutachtern danken: Prof. Dr. Christoph Wulf und Dr. habil. Martha Zapata Galindo. Ihnen gebührt Dank für weit mehr als für die Betreuung dieser Arbeit. Sie haben mir als akademische Lehrer beigebracht, dass und wie die beiden wohl wichtigsten Eigenschaften des Denkens, Offenheit und kritisches Insistieren, zu vereinen sind. Prof. Dr. Ralf Bohnsack, Prof. Dr. Gunter Gebauer und Dr. Kathrin Audehm haben diese Arbeit in der Zeit ihres Entstehens immer wieder vorangebracht durch Anregung, wo möglich, und Kritik, wo nötig. Für den wissenschaftlichen Austausch und die zahlreichen Anregungen danke ich den Professoren, Postdoktoranden und Doktoranden des Graduiertenkollegs „KörperInszenierungen“, in dessen Rahmen diese Dissertation entstand. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich dankbar dafür, dass sie mir diese äußerst wertvolle Zusammenarbeit ermöglicht hat und das Entstehen dieser Arbeit durch ein dreijähriges Stipendium finanziell unterstützte. Miriam Anne Geoffroy, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf, Ulrike Hanstein, Susanne Foellmer, Kyung-Ho Cha und Bernd Wagner haben (z. T. große) Teile dieser Arbeit sehr sorgfältig gelesen. Und für diese Mühen danke ich ihnen (auch im Namen der potentiellen Leser). Katja Leuchtenberger vom Akademie Verlag sowie Manuela Gerlof und Anja-Simone Michalski von De Gruyter gilt mein herzlicher Dank für die hervorragende Zusammenarbeit und dafür, dass sie immer dem Wohl des Werkes verpflichtet waren, ohne dabei das Wohl des Autoren zu übergehen. Mein Dank geht auch an Marc Geoffroy, Gisela Richter und Isolde Lichau für die ebenso herzliche wie tatkräftige Unterstützung bei dem Unternehmen, wissenschaftliche Arbeit und Elternschaft zu vereinen. Miriam Anne Geoffroy und Amos Lilian Geoffroy-Lichau danke ich dafür, dass sie in der Zeit, in der diese Arbeit entstand, ‚nicht für mich, sondern mit mir da waren‘.

L/Z

In die 1929 erschienene Erstauflage von Max Picards Das Menschengesicht1 hat sich ein Lapsus eingeschlichen: Das vorangestellte Inhaltsverzeichnis gibt für das 9. Kapitel als Überschrift „Das Zeitgesicht“2 an. Im Haupttext lautet der Titel dann jedoch „Das Leitgesicht“3, und der nachfolgende Inhalt macht deutlich, dass dies die von Picard gewünschte Überschrift ist. Denn der Text beschreibt das „Leitgesicht“ – eine Erscheinung zwischen bildlicher Vision und körperlicher Wahrnehmung, die das Versprechen einer metaphysischen oder gestalthaften Orientierung des Körpers und seiner Formen birgt: Jedes Gesicht spürt, daß es wie noch nicht fertig ist, es will sich zu Ende gestalten, und es hat ein Gesicht vor sich, nach dem es sich formt: das ist das Leitgesicht. [...] Jedes Gesicht ist gleichsam noch von einem anderen Gesicht, eben dem Leitgesicht, umgeben, und dadurch erscheint es größer als es wirklich ist.4

Ein Buch über Max Picard und das Gesicht mit dem Hinweis auf einen Lapsus zu beginnen, ist in verschiedener Hinsicht angeraten. Denn oft ist, wo vom Gesicht die Rede ist, die Physiognomik nicht weit und mit ihr die alten, ihrer Sinn-Versprechen oft allzu selbstgewissen Entzifferungs-Praktiken, die je nach historischer Zeit mal als Kunst, mal als Wissenschaft auftreten. Es handelt sich bei dem angezeigten Lapsus zudem um einen höchst beredten, um einen Lapsus also im besten Sinne: Das „Zeitgesicht“ konnotiert historischen Wandel und unterläuft die physiognomische Sehnsucht nach einem dem geschichtlichen Lauf der Zeit enthobenen, metaphysischen „Leitgesicht“ – eine Sehnsucht, die auch bei Max Picard immer wieder zum Vorschein kommt. Zugleich schwingt aber noch im Versuch, historische Zeiten zu ganzheitlichen ‚Zeitgesichtern‘ zusammenzufassen, die Sehnsucht nach Einheitlichkeit und Gewissheit der Deutung mit. Die Rede vom ‚Gesicht‘ der Zeit oder der Gesellschaft, die das große hermeneutische Versprechen der physiognomischen Lektüre erneuert, erfreut sich in der Weimarer Zeit besonderer Beliebtheit: Als Das Gesicht der Zeit veröffentlicht Will-Erich 1 2 3 4

Picard, Max: Das Menschengesicht, München: Delphin-Verlag, 1929, 1. Aufl. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 77. Ebenda.

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Peuckert 1925 einen Roman5 und der sozialdemokratisch orientierte Prager Verlag 1931 Eine Bücherserie für Alle, die nach eigenen Angaben Romane erster Autoren aller Länder, eine Auswahl von Werken von menschlicher und künstlerischer Wahrhaftigkeit[,] Erzählungen zeitnaher Erzähler, die das Tagebuch der Gegenwart führen[,] Enthüllungen über drohende und vergangene Katastrophen[,] Berichte über gegenwärtige und vergangene weltpolitische Abenteuer und Abenteurer [und] Reportagen über das Leben in Kasernen, Kerkern und Kolonien6

bringt. Den Titel Das Gesicht unserer Zeit teilen Broder Christiansens kulturphilosophische Kunstbetrachtungen von 19297 mit einer kritischen Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen und sozialfürsorgerischen Zustände von Gerhard Hoppe8 (1923). Auch Joseph Roth bezeichnet in seinem Brief vom 26. April 1926 an Benno Reifenberg (der zu den engen Freunden Picards zählt) die Aufgabe des Schriftstellers und Journalisten mit dieser Figur: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung. Ich bin ein Journalist, kein Berichterstatter, ich bin ein Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.“9 Das wohl bekannteste Beispiel, das ohne Zweifel ein ‚Gesicht‘ nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der historischen Zeit zeichnet, ist George Grosz’ Das Gesicht der herrschenden Klasse10. Gerade im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts lässt sich das vielbeschworene ‚Gesicht der Zeit‘ jedoch auch als ‚Zeit-Gesicht‘ lesen, das die Züge eines Ver-Sprechens der Geschichte und ihrer ‚Zeit-Bilder‘ trägt: Wo letztere zum ‚Gesicht der Zeit‘ vereindeutigt und stillgestellt werden sollen, gelingt es nicht immer, all jene mimischen Regungen verschwinden zu machen, die mal als feine, mal als grobe bis groteske Entstellungen das Gesicht entgleiten lassen. Wie jene Körperoberfläche, die als ‚Gesicht‘ bezeichnet wird, gelegentlich eine andere Wahrheit ver-spricht, die schon durch ein leichtes Zucken die Versuche der Bedeutungskontrolle scheitern lassen kann, so dringt bei Picard ein anderes Sprechen an die Oberfläche des Textes, das dieser zu beherrschen und zu bekämpfen versucht: Was Leitgesicht sein soll, entpuppt sich als Zeit-Gesicht. Der Lapsus bündelt vieles von dem, was für Max Picard und manche seiner Zeitgenossen auf dem Spiel steht, wenn es um das Gesicht geht: Mit und im Gesicht lassen sich jene soziokulturellen Dilemmata und Widersprüche verhandeln, an denen sich die Weimarer Zeit in unterschiedlichen Feldern abarbeitet. Aus Picards Versuch, das Menschengesicht auf ein Leitgesicht hin zu orientieren, spricht das verzweifelte Begehren, 5 6

7 8 9 10

Peuckert, Will-Erich: Das Gesicht der Zeit, Breslau: Süd-Ost-Deutscher Verlag, 1925. Verlagsanzeige, in: Anzeiger, 72. Jahrgang, Nr. 28, 10. 7. 1931, zit. n. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Band II. Belletristische Verlage der Ersten Republik, Wien, Köln, Graz: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1985, S. 292. Christiansen, Broder: Das Gesicht unserer Zeit, Buchenbach in Baden: Felsen-Verlag, 1929. Hoppe, Gerhard: Das Gesicht unserer Zeit, Potsdam: Stiftungsverlag, 1923. Zit. n. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der ‚Frankfurter Zeitung‘ 1921–1933, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 96. Grosz, George: Das Gesicht der herrschenden Klasse. 55 politische Zeichnungen, Berlin: Malik Verlag, 1921.

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Bedeutung zu sichern, wo semantische Ungewissheit auftaucht, und soziale wie kulturelle Einheit(en) zu retten, wo das Differente und Fragmentarische – oder die „Mannigfaltigkeit“11, um einen zentralen Begriff Picards zu gebrauchen – hervorbrechen. Die Diagnose einer zunehmend mannigfaltigen Welt, in der sich die Oberflächen somatischer und medialer Zeichen von ihren ehemals gesicherten semiotischen Bezugssystemen ablösen, schlägt sich literarisch immer wieder mit großer Vorliebe im Gesicht nieder. Das wohl bekannteste Beispiel findet sich in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten sie für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.12

Wo Picards literarisches Werk das Leitgesicht anvisiert, gibt es immer wieder den Blick frei auf dessen Widerpart: die Bewegungen und Kontingenzen, Mannigfaltigkeiten und Brüche des Zeit-Gesichts. Wie ein leises mimisches Innehalten oder Zucken hervorbrechend, entfaltet das Zeit-Gesicht eine zunehmend entstellende Wirkung, die die vermeintlich so vertrauten Oberflächen und gesicherten Grenzen des Menschen zu grotesken Körperbildern verformt. Und so stammt eine der vielleicht treffendsten Darstellungen jenes grotesk anmutenden Zeit-Gesichts aus Picards Feder. 1921 entwirft er in Der letzte Mensch, seinem ersten im engeren Sinne literarischen und zugleich eigentümlichsten Werk, eine jener ungewöhnlichen literarischen Figuren, die aus der Spannung zwischen Leitgesicht und Zeit-Gesicht entstehen und Picards Schriften und deren implizite Anthropologie interessant machen: Sieh’ jenes Gesicht: Es scheint, daß an dieser Stelle die Linie des Gesichts anhält, es scheint, daß sie nicht mehr weiterzugehen weiß. Dann aber biegt sie auf einmal rasch um. Sieh’ wie sie rasch um biegt! Will sie die Zeit des Anhaltens einholen? Es scheint, daß eine andere Linie, mit der sie sich verbinden muß, schon weitergegangen ist, während sie selber anhielt. [...] Sieh’, wie das Gesicht eckig wird, weil die Linie so rasch umbiegt! Sieh’, wie das Gesicht nervös wird, weil es Angst hat, das nicht mehr einzuholen, was es mit dem Anhalten versäumt hat! Schon 11 12

Picard, Max: Das Ende des Impressionismus, München: R. Piper & Co Verlag, 1916, S. 9. Rilke, Rainer Maria: „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, in: Rainer Maria Rilke, Werke. Bd. III,1. Prosa, hrsg. v. Rilke-Archiv, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1982 [1910], S. 107–346, hier: S. 111f. Zum Verhältnis Rilke-Picard vgl. S. 281ff.

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L/Z sieht man Nasen wie abgebrochen aufhören mitten in ihrer Linie. Warum biegt die Nase dann, wenn sie nicht mehr weiter weiß, nicht einfach ab in den Mund hinein? Wer sagt ihr, daß sie nicht in den Mund abbiegen darf oder in den Hals? Ach, vielleicht ist sie schon einmal in den Hals abgebogen, vielleicht würde sie jetzt wieder in den Hals abbiegen oder noch weiter am Körper herumirren, wenn man den Hals nicht vor der Nase abgesperrt hätte. Sieh’, manche Wesen haben es schon aufgegeben, zu verhindern, daß die Nase und die andern Teile des Gesichtes in den Hals abrutschen. Sieh’, sie sperren ihren Hals nicht mehr ab, sie reichen ihren dicken Hals hoffnungslos hinauf in das Gesicht!13

Die folgende Untersuchung beschäftigt sich mit Picards frühen Schriften aus der Zeit zwischen 1914 und 1933. Im Zentrum stehen dabei sein 1921 erschienenes Werk Der letzte Mensch und sein 1929 veröffentlichtes Menschengesicht, zwei höchst gegensätzliche Bücher. Daneben finden aber auch kleinere Schriften aus den Jahren 1914 bis 1933 Beachtung. Dabei sollen die Peripetien der literarischen Produktion Picards als Spuren einer Spannung zwischen Zeit-Gesicht und Leitgesicht gelesen werden.14 Insofern das Gesicht also eine prominente Rolle spielen wird, stellt diese Studie auch einen Beitrag zur Geschichte des Gesichts in der Weimarer Zeit dar, die bereits das Interesse zahlreicher Veröffentlichungen auf sich gezogen hat15 und in Teilen bereits recht gut erforscht ist. Ganz anders sieht dies jedoch im Hinblick auf die Arbeiten Max Picards aus. Obwohl er in diesem Zusammenhang zu den wichtigsten Autoren zählt, ist die Forschungsliteratur zu seinen Schriften qualitativ und quantitativ mehr als dürftig. Wo seine Arbeiten erwähnt werden, bekommen sie – und mit ihnen der Autor – meist recht schnell das Etikett des ‚Konservativismus‘ angeheftet. So auch bei solch kenntnisreichen Autoren wie Martin Blankenburg, der Picards Physiognomik auf eine „konservative[.] Kulturkritik“16 reduziert oder Claudia Schmölders, die ihn als „Autoren der konservativen Physiognomik der zwanziger Jahre“17 bezeichnet. Dieses Urteil greift jedoch zu kurz: Es vermag die Spannungen nicht auszuloten, die gerade Picards frühe Werke durchziehen, und hat bisher die Entdeckung literatur- und kulturgeschichtlich interessanter Aspekte und Beobachtungen verhindert, die in Picards weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriften verborgen sind. Nur ein Vorgehen, das gleichermaßen textnahe Lektüre und literarische wie soziale Kontextualisierung betreibt, kann diesen Spannungen gerecht werden. Eine an Pierre Bourdieu orientierte, eng an den Texten ansetzende literatur- und kultursoziologische 13 14 15 16

17

Picard, Max: Der letzte Mensch, Leipzig, Wien, Zürich: E. P. Tal Verlag, 1921, S. 17ff. Vgl. zu dieser Stelle ausführlich Kap. 4.1, S. 127ff. Ein Überblick über die Inhalte der einzelnen Kapitel findet sich auf S. 34ff. Vgl. ausführlich Fußnote 2, S. 17. Blankenburg, Martin: Art. „Physiognomik, Physiognomie“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7: P–Q, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, Sp. 955–963, Sp. 961. Schmölders, Claudia und Sander L. Gilman: „Vorwort“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 7–12, hier: S. 8.

L/Z

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Perspektive soll daher die sozialen Kontexte der literarischen Praktiken Picards sowie der Figur des Gesichts einbeziehen. Dafür wird die Arbeit den Bourdieu’schen Ansatz durch literaturwissenschaftliche Theorie- und Analyseelemente wie den ebenfalls an sozialen Austauschprozessen interessierten New Historicism oder dekonstruktivistische Verfahren ergänzen. So wird eine Dynamik sichtbar, die Picards literarische Produkte wie seinen Werdegang als Schriftsteller kennzeichnet und die ich in Anlehnung an Stephen Greenblatt als Swerving18 – einen abwegigen Umweg oder umwegigen Abweg – bezeichnen möchte. Mein Anliegen ist es, einerseits Picards Schriften aus der Schublade des Konservativismus zu befreien, um sie von allzu leichtfertigen und oberflächlichen Interpretationen zu entstauben; doch bedeutet dies andererseits nicht, dass die kulturpessimistischen Ansätze Picards, die in der Tat konservative, ja reaktionäre Züge tragen, geleugnet werden sollen. Sie sind Teil der Spannungen, denen ich nachgehen möchte: Bekanntermaßen tauchen modernefeindliche Attitüden und Spannungen zwischen Moderne und Antimoderne auch bei zahlreichen anderen Autoren auf, deren Werk der avantgardistischen Moderne zugerechnet wird – bei Picard nehmen sie aber einen vergleichsweise breiten Raum ein. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass Christian Filks Versuch, Picard neu zu rezipieren und für die Medientheorie zu entdecken,19 diesen in die Traditionslinie der partiell technik- bzw. zivilisationsfeindlichen Anders’schen Medientheorie einordnet. Filks Arbeit stellt neben Burkhard Spinnens literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit Picard20 den bisher einzigen ernstzunehmenden Versuch dar, Picard neu zu lesen. Zugleich taucht gerade die kritische bis ablehnende Auseinandersetzung mit den modernen Massenmedien, auf die Picard bis ins Spätwerk hinein immer wieder zurückkommt, zum ersten Mal in zwei frühen Texten auf, die als künstlerisch-avantgardistische bzw. politische Positionierungen alles andere als konservativ sind – in der 1914 im Verlag der Weißen Bücher erschienen anti-bürgerlichen Satire Der Bürger21 sowie dem im gleichen Jahr in den Sozialistischen Monatsheften veröffentlichten Aufsatz „Individuum und Organisation“22. Auch wenn Picard später andere Akzentsetzungen vornehmen wird, so greift er dabei doch auf Argumentationsmuster 18 19

20

21 22

Vgl. hierzu ausführlich unten S. 105ff. Vgl. Filk, Christian: „‚Was vorbeizieht, ist gleichgültig, wichtig ist nur, daß etwas vorbeizieht‘. Zum Gebilde der ‚medialisierten‘ Flucht in der Kulturphilosophie Max Picards“, in: Björn Laser, Jochen Venus und Christian Filk (Hrsg.), Die dunkle Seite der Medien. Ängste, Faszinationen, Unfälle, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford und Wien: Peter Lang, 2001, S. 227–246; Filk, Christian: ‚Alles ist abgerissen im Inneren und abgerissen im Äußeren‘. Max Picards Geschichtsphilosophie, Medientheorie und Kulturkritik, Berlin: Avinus Verlag, 2011. Spinnen, Burkhard: „Ebenbild und Bewegung. Zu Max Picards Schriften über die Physiognomik“, in: Helmut Arntzen (Hrsg.), Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland, Weinheim: Beltz Athenäum, 1995, S. 242–284. Picard, Max: Der Bürger. Wiederabdruck in: Allmende 21/22: Elster Verlag, 1988 [1914]. Picard, Max: „Individuum und Organisation“, in: Sozialistische Monatshefte, 20. Jg. (1914), Nr. 2, S. 108–113.

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zurück, die in diesen frühen Arbeiten entwickelt werden. Gleiches gilt für die in diesen beiden Texten erstmals erfolgte Beschäftigung mit der ‚Mannigfaltigkeit‘ und Beliebigkeit der Moderne. Es gilt also, Picard nicht unkritisch zu lesen: Trägt die jüngere (Nicht-)Auseinandersetzung mit Picard fast durchgehend das Manko einer vereinfachenden Etikettierung, die ihn auf einen konservativen Kulturpessimisten reduziert, so steht dieser eine ältere ‚Würdigung‘ gegenüber, die ihn in der Tat sehr konservativ deutet und deren undistanziertes Apologetentum23 wissenschaftlich höchst unbefriedigend ist. Sie dürfte entscheidend zu der zurückhaltenden und undifferenzierten Picard-Rezeption beigetragen haben. Gegen solcherlei Vereinfachungen und Vereinheitlichungen soll hier der Versuch unternommen werden, Picard zu lesen24, d. h. sein Werk einer Lektüre zu unterziehen, die seine Texte nicht in eindeutigen und kohärenten Interpretationen stillzustellen versucht, sondern in die Physiognomik der Texte deren Mimik einbezieht – einer Lektüre, die im oftmals unscheinbaren Detail das Zeit-Gesicht aufblitzen lässt, wo ganzheitliche Lesarten das Leitgesicht postulieren. An dieser Stelle sei noch einmal der Lapsus erwähnt: Er wird erst durch eine ‚lesende Lektüre‘ zum beredten Sprechen – in der Rezeption, Bearbeitung und Zirkulation durch die Leser. So auch der Lapsus Leitgesicht/Zeitgesicht. Seine Beredsamkeit zeigt sich in einer korrigierenden Bearbeitung, die ein anonymer Leser einem Exemplar der Erstauflage eingefügt hat, über das die Berliner Staatsbibliothek verfügt: der handschriftlichen Streichung des „Z“ und seiner Ersetzung durch ein „L“. Diese korrigierende Lektüre lässt das Sprechen des Lapsus nicht verstummen, sondern hat möglicherweise eine neuerliche Lektüre – meine eigene nämlich – angeregt. Auch die Tatsache, dass der Lapsus in späteren Auflagen korrigiert ist,25 bringt also das Ver-Sprechen der Erstauflage keinesfalls zum Schweigen. Dies sei gegen die vereinheitlichende Lektüre Picards, aber auch gegen die Einseitigkeiten von Literaturtheorien angeführt, die Texte und soziale Kontexte gegeneinander ausspielen, statt sie miteinander ins Spiel zu bringen. 23

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25

Vgl. vor allem Hausenstein, Wilhelm und Benno Reifenberg (Hrsg.): Max Picard zum siebzigsten Geburtstag, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1958; Pfleger, Karl: „Erwägungen von Karl Pfleger“: in: Max Picard, Briefe an den Freund Karl Pfleger, Erlenbach-Zürich, Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag, 1970, S. 87–136. Lesen meint hier eine aktive, ‚starke‘ Lektüre im Sinne Roland Barthes: „Lesen ist […] keine parasitäre Geste, keine reaktive Ergänzung einer Schrift, die wir mit dem Prestige der Schöpfung und des Vorhergegangenen schmücken. […] Die Lektüre […] besteht nicht darin, die Kette der Systeme anzuhalten, eine Wahrheit, eine Legalität des Textes zu begründen und damit die ‚Fehler‘ seines Lesers zu provozieren. Sie besteht darin, diese Systeme einzuschalten nicht entsprechend ihrer endlichen Qualität, sondern entsprechend ihrer Pluralität (die ein Sein ist, und kein Abzählen): ich gehe vorbei, gehe hindurch, ich artikuliere“ (Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994 [1970], S. 15f.). Bereits die ebenfalls 1929 im Delphin-Verlag erschienene zweite Auflage – ihr folgt im gleichen Jahr noch eine dritte – korrigiert das Inhaltsverzeichnis im Sinne des Autoren: Die Überschrift lautet nun „Das Leitgesicht“ (Picard: Das Menschengesicht, 2. Aufl., S. 7).

Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

Literarische Physiognomik. Wissenshistorische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Obsessionsgeschichte Die Kulturgeschichte des Gesichts zwischen 1910 und 1933 – die den Kontext meiner Arbeit bildet – hat bereits seit längerem die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen; ja vielleicht ist Aufmerksamkeit sogar untertrieben. Die „Gesichtlichkeitsobsession der Weimarer Zeit“1 kann ohne Zweifel auch der kulturwissenschaftlichen Rezeption ebendieser Zeit attestiert werden. Vor allem Arbeiten zum Film und zur Literatur, aber auch zur Psychologie oder Medizin, bieten Einblicke in diese ‚Obsessionsgeschichte‘.2 1 2

Schmölders und Gilman: „Vorwort“, S. 8. Eine erschöpfende Bibliographie der Arbeiten zum Gesicht in der Weimarer Zeit lässt sich ebensowenig für die Sekundär-, wie für die Primärliteratur erstellen. Einen guten Überblick geben allerdings die Literaturlisten in den Arbeiten von Claudia Schmölders: Schmölders, Claudia und Sander L. Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000; Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München: Beck, 2000 oder Schmölders auch online verfügbares, die gesamte Geschichte der Gesichtslesekunst abdeckendes Archiv für Physiognomik aus Schmölders, Claudia: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin: Akademie Verlag, 1997: http://www.claudiaschmoelders.de/uploads/2/6/3/7/2637360/das.vorurteil.im.leibe.pdf (27.1.2010). Von den unzähligen Sekundär-Arbeiten seien hier nur einige der wichtigsten herausgehoben. Dies sind für den Film: Gläser, Helga, Bernhard Groß und Hermann Kappelhoff (Hrsg.): Blick. Macht. Gesicht, Berlin: Vorwerk, 2001; Blümlinger, Christa und Karl Sierek (Hrsg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien: Sonderzahl, 2002; für die Literatur: von Matt, Peter: ...fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989 [1983]; für die Psychologie: Gilman, Sander L.: „Zur Physiognomie des Geisteskranken in Geschichte und Praxis, 1800–1900“, in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte, 63. Jg. (1978), Nr. 3, S. 209–234; für die Medientheorie: Schmidt, Gunnar: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, München: Wilhelm Fink Verlag, 2003; Löffler, Petra und Leander Scholz (Hrsg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln: DuMont, 2004. Zur Physiognomik der Weimarer Zeit allgemein neben den Arbeiten von Schmölders Sloterdijk, Peter: „Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik“, in: Bernhard Weyergraf (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 8. Literatur der Weimarer Repub-

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

Und doch ist keineswegs geklärt, um welche Art Geschichte es sich bei dieser „physiognomischen Kulturgeschichte“3 handelt. Claudia Schmölders, die mit ihren materialund kenntnisreichen Arbeiten entscheidende Beiträge zur Erforschung dieser Geschichte geleistet hat, zieht aus ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition der Gesichtslektüre den Schluss, es könne sich nur um eine „Literaturgeschichte“4 handeln: „Denn welche andere Geschichte könnte dieses Gesicht haben, wenn es doch zusammen mit seinem Körper ein grundsätzlich ‚sprechendes‘ ist?“5 Dieser rhetorischen Frage kann sich nur anschließen, wer jenseits der traditionellen Physiognomik und ihrer Wahrheits-Ver-Sprechen in Gesichtern nach Sinn sucht. Und doch möchte ich Schmölders Frage um eine weitere, entscheidende und nicht rhetorisch gestellte Frage erweitern: Welche Literaturgeschichte(n) sind es, die das Gesicht der Weimarer Zeit6 zum Sprechen bringen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss zunächst auf ein großes Manko der „physiognomischen Kulturgeschichte“ hingewiesen werden: Zahlreichen Arbeiten, die sich mit dem Gesicht resp. der Tradition seiner physiognomischen Deutung beschäftigen, mangelt es an einem ausreichend differenzierten Zugang. Ein soziologisch und wissenschaftshistorisch nicht differenzierter Kultur-Begriff verdeckt hier oft, dass es keineswegs die gleichen Gesichter sind, von denen z. B. Medizin, Literatur oder Bildende Kunst handeln. Gerade wo gezeigt werden soll, dass die Figur des Gesichts zwischen weit auseinander liegenden Bereichen der ‚Kultur‘ zirkuliert, sind zunächst die Grenzen und Differenzen von Wissensfeldern, die unterschiedlichen sozialen Gesetzen, Perspektiven und Machtsphären unterliegen, deutlich zu markieren.

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lik, München: Carl Hanser Verlag, 1995, S. 309–339. Zur Kulturgeschichte des Gesichtes allgemein sind jüngst erschienen Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: Beck, 2013; Weigel, Sigrid (Hrsg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen, München: Fink, 2013. So der Untertitel des Sammelbandes Schmölders und Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Schmölders: Das Vorurteil im Leibe, S. 9. Ebenda. Wenn im Folgenden von der ‚Weimarer Zeit‘ die Rede ist, so trägt dies dem Umstand Rechnung, dass sich die Zeit der Weimarer Republik für die Geschichte des kulturellen Feldes nicht auf die exakten historischen Grenzen der politischen Institutionen der Weimarer Republik festlegen lässt. Sie umfasst schon das gesamte Jahrzehnt 1910–1920, in dem auch Picards schriftstellerische Tätigkeit einsetzt –, insofern sich die Auseinandersetzung mit der politischen, technischen und kulturellen Moderne, wie sie Picard vor allem in seinen Werken aus der Zeit der Weimarer Republik führt, schon hier findet: Der oft mit der Weimarer Republik assoziierte und etwa für Picards Der letzte Mensch von 1921 als literarischer Kontext prägende Expressionismus ist ja mit Beginn der politischen Weimarer Republik bereits im Verfallen begriffen. Zugleich finden sich natürlich Formen der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modernen schon weitaus früher: Und auch für Picard spielen etwa (spät-)romantische und symbolistische Einflüsse eine wichtige Rolle.

Literarische Physiognomik

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In diesem Zusammenhang muss auch Schmölders Rede von der Physiognomik als „unwissenschaftliche[r] Disziplin“7, die „ihren Ort im Bezirk des Halbwissens und der Halbbildung und der laienhaften Spekulation“ namens ‚Menschenkenntnis‘“8 habe, kritisiert werden: Sie verwischt wichtige sozial- und wissen(schaft)sgeschichtliche Unterscheidungen und Entwicklungen. Denn die häufig anzutreffende Verurteilung der Physiognomik zur Pseudowissenschaft zieht zwei schwerwiegende Probleme nach sich: Erstens ist dieses Urteil historisch ungenau und die Gleichsetzung eines eklektizistischen oder „synoptische[n] Blick[s]“9 der Physiognomik mit ihrer Unwissenschaftlichkeit höchst irreführend. Gerade Johann Kaspar Lavater – an dessen sehr heterogenen physiognomischen Deutungsverfahren10 sich fast alle kulturgeschichtlichen Arbeiten zur Physiognomik orientieren, und aufgrund seines großen Einflusses sicher nicht zu unrecht – markiert die historische Schwelle, an der eine solche Praxis in die Krise gerät und schließlich den Kampf um Anerkennung als Wissenschaft verliert. Erst mit der sozial- und wissensgeschichtlichen Ausdifferenzierung der dem physiognomischen Wissen zugrundeliegenden Perspektiven und Verfahren in verschiedene Disziplinen macht die Gleichsetzung einer nach dem Lavater’schen Modell operierenden Physiognomik mit Pseudowissenschaftlichkeit historisch Sinn.11 Zweitens wird aber durch diese ahistorische Gleichsetzung verschleiert, dass die Lavater’sche Physiognomik auch nicht-pseudowissenschaftliche Fortsetzungen gefunden hat, wie etwa in Franz Josef Galls Phrenologie oder der nationalsozialistischen Rassenphysiognomik. Dass letztere ebenso wie manche ihrer Vorläufer wissenschaftlich höchst fragwürdig waren, ist kein Argument, sie zur Pseudowissenschaft abzustempeln. Denn damit wird nicht nur der Blick auf die historischen Konstellationen verstellt, die Wissenschaftlichkeit definieren, sondern auch eine unkritische Auffassung von Wissenschaftlichkeit befördert. Demgegenüber gilt es vielmehr herauszuarbeiten, welche Rolle in allen Wissensdisziplinen (einschließlich der vermeintlich nüchternen Naturwissenschaften, der sogenannten ‚harten Wissenschaften‘) synoptischen oder 7 8 9 10

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Schmölders: Das Vorurteil im Leibe, S. 16. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 54ff. Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Kunst des Ver-Gleichens. Zur Blickführung in Physiognomiken des späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder und Tilo Renz (Hrsg.), Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006, S. 183–202. Stephan Pabst bemerkt zutreffend: „Selbst wenn sich die Physiognomiken von Lavater bis Klages und Kassner disziplinär nicht zuordnen lassen, müsste eingeschränkt werden, dass sich die ‚Synopse‘ bei Lavater zum letzten Mal in den Grenzen dessen bewegt, was zeitgenössisch für Wissenschaft gehalten wurde. Die massive Kritik, die sie erfährt, ist ein Hinweis darauf, dass hier eine disziplinäre Differenzierung im Gang ist, die wenige Jahre später die physiognomische Synopse exterritorialisiert. Entweder beschränkt sich der physiognomische Ehrgeiz dann auf bestimmte Disziplinen oder er bewegt sich jenseits der Grenze der Wissenschaftlichkeit.“ (Pabst, Stephan: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2007, S. 13)

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

‚eklektizistischen‘ Verfahren und Poetologien zukommt und welche (Wissens-)Politiken dabei über die Grenzen der Wissenschaftlichkeit entscheiden. Die Degradierung einer undifferenzierten physiognomischen Hermeneutik, die mit der Ausdifferenzierung ihrer wissenschaftlicher Teil-Disziplinen im 19. Jahrhundert einhergeht, zieht einen weiteren Effekt nach sich, der für die Beschäftigung mit dem Gesicht in der Weimarer Zeit eine wichtige Voraussetzung darstellt: Die erfolgreiche Kritik an Lavater und seiner Deutung von Gesichtern als Natur-Zeichen weist Gesichter als arbiträre Zeichen aus und macht sie damit für eine ästhetische Physiognomik verfügbar. Bild- und Wortkunst schlagen aus der nachgewiesenen Nicht-Wissenschaftlichkeit der traditionellen Physiognomik Kapital und eignen sich ihre ‚Künste‘ an. So wird die Literarisierung der Physiognomik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zur Aussage über ihren epistemologischen Status. Denn sowohl bei Jean Paul als auch bei [E.T.A.] Hoffmann fällt auf, dass sie eine ausgesprochen physiognomik-kritische Position vertreten, das physiognomische Erbe literarisch aber exzessiv beanspruchen.12

Jene „literarische Umwertung der Physiognomik“ um 1800, nach der „physiognomische nicht als natürliche, sondern als arbiträre Zeichen“13 gelten, stellt eine entscheidende Wende dar. Ein besonderes Augenmerk wird diese Untersuchung daher der Frage widmen, inwieweit und wo Picard diesem im 19. Jahrhundert erfolgten Schritt der Gesichtslesekunst zur „literarischen Physiognomik“ gerecht wird, und wo er wie so viele andere hinter deren Grenzen und Positionen zurückfällt.14 Denn die historische Wende ist – wie z. B. der Aufstieg der Rassenphysiognomik in den zwanziger Jahren zeigt – keineswegs unwiderruflich. Doch selbst wo die Paradigmen der „literarische[n] Umwertung“ – die Ausdifferenzierung moderner Wissenschaft und die Arbitrarität der (Gesichts-)Zeichen – anerkannt werden, schlagen ihre Anerkennung und literarische Darstellung immer wieder in Klage um. So auch bei Picard, wenn er 1921 das Scheitern der traditionellen Physiognomik und ihrer angeblichen Menschenliebe, und damit das Verfügbarwerden der physiognomischen Zeichen für die Literatur anerkennt – und dem natürlichen Zeichen im gleichen Atemzug nachtrauert:

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Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 12. Das Lesen von Gesichtern steht fortan „unter der Voraussetzung, dass die Disponibilität des physiognomischen Materials zur erzählerischen Fiktion einsichtig geworden ist. Das heißt aber nicht, dass sich dieser Zusammenhang erst auf der Ebene reflektiver Fiktionalität einstellt, sondern nur, dass hier bewusst wird, was auch zu den unreflektierten Voraussetzungen der Physiognomik des 18. Jahrhunderts gehörte“ (ebenda). Die moderne Geschichte der Physiognomik zeichnet sich dadurch aus, „dass ihre ästhetische Fortsetzung nicht nur da ansetzt, wo die Physiognomik wissenschaftsgeschichtlich scheiterte, sondern, dass dies mit einer Annäherung an die Techniken literarischer Semantisierung und extremer visueller Reduktion einhergeht“ (ebenda). Vgl. hierzu etwa die Fehde zwischen Picard und Kassner, unten S. 203. Vgl. hierzu auch Schmölders, Claudia: „Die konservative Passion. Über Rudolf Kassner, den Physiognomiker“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 49. Jg. (1995), Nr. 561, S. 1134–1140.

Literarische Physiognomik

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Veronika sagte zu mir: Erinnerst du dich, was Matthias Claudius sagte vom Physiognomen und vom Menschen? Aber, achte darauf, er sagt es vom Menschen: ‚Der Physiognom ist der Mann, der in allen Menschengehäusen den unsterblichen Fremden lieb hat, der sich freut, wenn er in irgend einem Gehäuse, Strohdach oder Marmor, einen Gentleman antrifft, mit dem er Brüderschaft machen kann und gerne beitragen möchte, die Leibeigenen freizumachen, wenn er nur ihre Umstände wüßte. Der unsterbliche Fremdling im Menschen ist aber innerlich im Hause und man kann ihn nicht sehen. Da lauert nun der Physiognom am Fenster, ob er nicht am Widerschein, am Schatten, oder sonst an gewissen Zeichen ausspionieren könne, was da für ein Herr logiere, damit er und andere Menschen eine Gelegenheit hätten, ihm einen Liebesdienst zu tun.‘ Veronika sagte traurig: Wo ist der unsterbliche Fremdling hingegangen?15

Um gleichermaßen der Ausdifferenzierung und Literarisierung der Physiognomik wie dem Anspruch auf ihre soziologische und wissensgeschichtliche Kontextualisierung gerecht zu werden, orientiert sich die vorliegende Untersuchung an Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes sowie an Autoren aus dem Umfeld des New Historicism (Stephen Greenblatt, Peter Stallybrass). Literaturgeschichte wird dabei als Sozialund Kulturgeschichte begriffen, die die impliziten, unausgesprochenen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Literaturproduktion, die kulturellen Bindungen und sozialen Austauschprozesse, in die sie verwoben ist, befragt und in ihre Analyse einbezieht. Zugleich nimmt sie aber auch die Eigengesetzlichkeiten der Literatur und ihrer Texte ernst, die auf der relativen sozialen Autonomie (Bourdieu)16 und der medialen Verfasstheit ihrer Produktion, Zirkulation und Rezeption fußen; sie setzt sich damit von einer traditionellen Sozialgeschichte der Literatur oder der Literatursoziologie ab, die zumeist Literatur bzw. Kultur auf eine Abbildung des Gesellschaftlichen reduzieren, ohne diese als aktive soziale Gestaltungsprozesse und Interventionen zu würdigen.17 Doch nicht nur die Geschichte des Gesichts in der Weimarer Zeit, auch die weniger bekannte, in Vergessenheit geratene Geschichte des Schriftstellers Max Picard soll als eine Sozial- und Kulturgeschichte erzählt werden, die die falschen Alternativen von Text und Kontext, Individuum und Gesellschaft, Schöpfertum und Unterwerfung im Sinne der oben erwähnten Ansätze umgeht. Denn was die Isolation, Verabsolutierung und Essentialisierung des Autor-Subjekts betrifft, ähneln die Praktiken der Literaturwissenschaftler oft denen der physiognomischen Charakterdeutung, ohne dass erstere freilich in gleichem Maße dem Verdikt der ‚Pseudowissenschaft‘ verfallen wären wie letztere. Nicht zufällig greifen beide Disziplinen – Literaturwissenschaft und Physiognomik – immer wieder gerne auf den guten alten Geniekult zu-

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Picard: Der letzte Mensch, S. 67f. Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 1. Eine Ausnahme bildet etwa Huber, Martin und Gerhard Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2000; anders als der Titel vermuten lässt, geht es hier keineswegs um den Abschied von der Sozialgeschichte, sondern um ihre Aktualisierung.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

rück, und dieser auf jene.18 Dagegen konstruiert die vorliegende Arbeit den Autor Max Picard als Subjekt, dessen Handlungen und Produkte erst im Kontext sozialer Auseinandersetzungen zu sprechen beginnen. Sie erweckt die Gesichtszüge des Autors Picard zum Leben, indem sie seine Äußerungen als sozial bedeutsame und beredsame Austauschprozesse begreift: In Anlehnung an die rhetorische Figur der Prosopopoiia, 19 die das Gesicht der Toten oder Vergessenen zum Sprechen bringt, indem sie ihnen eine Stimme (ver-)leiht, lässt sich dieser Versuch als eine soziale Prosopopoiia beschreiben. Die Perspektive einer sozialen Prosopopoiia möchte aber zugleich auch einer soziologischen Reduktion des Individuums auf eine Gesellschaftsfunktion entgegenwirken. Sie wird daher die Aspekte von Autorschaft und den Handlungsaspekt literarischer Praktiken zu erörtern haben: Im Anschluss an Greenblatts Konzept des Swerving versuche ich dafür ein Modell zu entwickeln, das die Unterwerfung der (literarischen) Subjekte unter die objektiven Kräfte der sozialen Felder anerkennt, ohne die damit einhergehende (relative) Freiheit subjektiver Handlung zu vernachlässigen. Das Anliegen, literarische Texte und soziale Kontexte zusammenzudenken, literarische Praktiken nicht als Abbildung sozialer Kontexte zu begreifen, sondern das Literarische und seine Figuren, Textverfahren, Gattungsprobleme etc. als literarische und zugleich soziale Phänomene ernst zu nehmen und den komplizierten Prozessen der Produktion, Transformation, Übersetzung, Lektüre und Zirkulation literarischer Texte nachzugehen, ist ein Anliegen, das Pierre Bourdieus Überlegungen zur literarischen Praxis und deren (Teil-)Autonomie mit dem New Historicism und seiner Konzentration auf Austausch- und Zirkulationsprozesse verbindet. Max Picards literarische Tätigkeit soll als eine soziale Praxis rekonstruiert werden, so dass literarisches Schreiben als Prozess sichtbar wird, der in mehr oder weniger weitreichende gesellschaftliche Kontexte sowie in die Gesetzmäßigkeiten des literarischen Feldes interveniert, und umgekehrt von diesen gekennzeichnet ist. Als ‚literarische Tätigkeit‘ verstehe ich dabei in einem weiten Sinne die schreibende, publizierende, kommentierende künstlerische Praxis der Intellektuellen, die im Falle Picards auch kunstkritische und kulturtheoretische Essays und Monographien mit stark literarischen Zügen umfasst.

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Vgl. hierzu Wellbery, David E.: „Zur Physiognomik des Genies: Goethe/Lavater. ‚Mahomeths Gesang‘“, in: Rüdiger Campe und Manfred Schneider (Hrsg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg im Breisgau: Rombach, 1996, S. 331–356. Der Prosopopoiia, schreibt Paul de Man, „geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration“ (de Man, Paul: „Autobiographie als Maskenspiel“, in: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 140). Es handelt sich bei ihr um „die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, eine Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poein, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben“ (ebenda).

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen „Das Menschengesicht“: Der Titel von Picards bekanntestem Werk aus der Weimarer Zeit steckt das Spannungsfeld von Physiognomik, Anthropologie und Literatur ab, aus dem meine Untersuchung ihre Dynamik gewinnt. Der Titel deutet auf eine Auseinandersetzung mit der Literarisierung der Physiognomik hin, in der Picard die oben skizzierte Ausdifferenzierung und Ästhetisierung der Gesichtslesekunst zur Fiktion – zum visionären literarischen Gesicht – nachvollzieht und zugleich den Verlust physiognomischer Welt- und Menschendeutungsmuster beklagt. Das ‚Gesicht‘ begreife ich als eine soziale und literarische Figur, die die gesellschaftlichen Spannungsverhältnisse zwischen kulturellen Dominanten und deren Subversion, zwischen mehr oder weniger gefestigten Strukturen sozialen Sinns und deren spielerischer Defiguration in der literarischen Fiktion, oder zwischen Leitgesicht und Zeit-Gesicht zu verhandeln erlaubt. Der figura des Gesichts – als „etwas LebendBewegtes, Unvollendetes und Spielendes“20 – wohnt ein Potential inne, das diese kulturellen Verhältnisse in Bewegung zu versetzen, neue Artikulationsmöglichkeiten auszuprobieren und überkommene zu übersteigen erlaubt. Im Anschluss an Ernst Auerbach haben Gabriele Brandstetter und Sibylle Peters den „Aspekt der Beweglichkeit, der den Begriff ‚figura‘ (im Gegensatz zu ‚forma‘) kennzeichnet“21, herausgearbeitet. Sie weisen darauf hin, dass traditionell der „Begriff als Sammelterminus für ein synthetisches, in seiner Vielgestaltigkeit gleichwohl als Einheit gedachtes Gebilde, dessen Repräsentations-Funktion befragt wird“22, gilt. Gleiches ließe sich vom „Gesicht“ sagen. Doch ist jene „‚Figur‘ im hergebrachten Sinn, d.h. Figur als ein Repräsentationsmodell, das Einheit – Einheit der Gestalt, Einheit des Subjekts im Sinn von Identität – verbürgt, obsolet geworden“23; und damit rücken Prozesse in den Vordergrund, in denen die Figur eine „eigene Plastizität [gewinnt] – jene performative Dimension, die Figur selbst als Szene von Verwandlung erscheinen läßt. Damit nun hängt der Aspekt der Neuheit zusammen, der ‚Figur‘ aus dem ‚Grund‘ des (Vorher)Gewußten heraushebt.“24 Und im Zuge dieses Obsolet-Werdens der „Figur als ein Repräsentationsmodell“ wird auch das Gesicht zum Schauplatz von Defigurationen25 und Transfigurationen26. 20 21 22 23 24 25

Auerbach, Erich: „Figura“: in: Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München: Francke Verlag, 1967, S. 55–92, hier: S. 55. Brandstetter, Gabriele und Sibylle Peters: „Einleitung“, in: Gabriele Brandstetter und Sibylle Peters (Hrsg.), De Figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink, 2002, S. 7–31, hier: S. 8. Ebenda, S. 7. Ebenda. Ebenda, S. 8. Vgl. zur Defiguration: Brandstetter, Gabriele und Sibylle Peters (Hrsg.): De Figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink, 2002; Neumann, Gerhard: „Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik der Defiguration“, in: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, Freiburg im Breisgau: Rombach, 1998, S. 377–417.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

Gerhard Neumann leitet den Begriff der Defiguration als „Repräsentationsmodell“ aus dem Prinzip der künstlerischen Anamorphose ab: Repräsentation des Wirklichen in der Kunst erscheint unter diesem Aspekt nicht als Abspiegelung, Wiedergabe, Darstellung oder sonst geartete ‚planparallele Entsprechung‘, sondern als ‚Konstruktion‘; genauer als Kipp- oder Alternierungsmuster von Entstellung und Rekonstruktion des ‚wahrgenommenen‘ Objekts, von Deformation und Wiederherstellung, von Defiguration und Refiguration. Von höchstem Belang ist hierbei der Umstand, daß dieser künstlerische Vorgang Züge einer Inszenierung trägt, daß er Artifizielles und Konstruktives miteinander verknüpft.27

Von besonderer Relevanz für ein literaturhistorisches und kultursoziologisches Verständnis der Figur und der Defiguration ist dabei zum einen, dass Neumann ihre enge Verbindung zur „Refiguration“, zur „Wiederherstellung“ einer Figuration herausarbeitet. Diese enge Verbindung begegnet in Picards Der letzte Mensch, einem Werk, das seine Spannung aus einem Nebeneinander, ja einem Kampf zwischen grotesken GesichtsDefigurationen und einer kosmologischen Refiguration menschlicher Körper bezieht; auch der Gegensatz zwischen dem 1921 erschienenen Der letzte Mensch und dem Menschengesicht von 1929 lässt sich als eine solche Spannung zwischen Defiguration und Refiguration verstehen. Zum anderen weist Neumann der anamorphotischen Defiguration aber auch einen historisch spezifischen Ort zu. Sie „wird zu einem wichtigen Argument in der romantischen Wissenspoetik‘“28, die sich nicht einfach als Gegensatz zur Aufklärung, sondern als deren Fortführung mit anderen Mitteln – nämlich jenen des Sehertums, der Fiktion und der Gesichte – verstand. Diese Form progressiver Aufklärung – die Sichtbarmachung auch des Unsichtbaren – die von den Autoren der Romantik [...] entwickelt worden war, ist [...] durch drei Merkmale bestimmt: die Mutation des Aggregatzustandes des Beobachteten zum einen; den sprunghaften Perspektivenwechsel im Prozeß der Wahrnehmung zum anderen; und einer aus diesem Vorgang folgenden ‚Dekonstruktion‘ des Wahrgenommenen zuletzt. Das poetische Verfahren, das hierdurch in Gang gesetzt worden war, lebte weiter und wirkte bis in die ‚Moderne‘ der Jahrhundertwende fort.29

Das wiederholte Umschlagen von De- in Refigurationen und umgekehrt kann schließlich zu einer kulturellen Transzendierung von Figuren führen, die sich als Transfiguration begreifen lässt. „Die Figur, die der Körper als Objekt jeweils annimmt, ist eingespannt in eine Kette von Veränderungen, ‚Transfigurationen‘, deren Ziel und Zweck

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Vgl. zur Transfiguration Kamper, Dietmar und Christoph Wulf: „Lektüre einer Narbenschrift. Der menschliche Körper als Gegenstand und Gedächtnis von historischer Gewalt“, in: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hrsg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1989, S. 1–7. Neumann: „Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik der Defiguration“, S. 400. Ebenda. Ebenda, S. 413f.

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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wegen des permanenten Wechsels nicht offen zu Tage liegen.“30 Im Begriff der Transfiguration schwingen vor allem zwei Aspekte mit, die für eine Kulturgeschichte des Gesichts und seines Körpers zentral sind: Denn wie wohl kaum ein anderes Körperteil steht das Gesicht nicht nur für die „Transfigurationen“ des Körpers ins Transzendente, sondern auch für die Gewalt, die den Prozessen der Transfiguration oft innewohnt.31 Doch gemahnt gerade die Figur des Gesichts daran, dass kulturelle Plastitzität und Bewegung ihrerseits auf Prozesse sozialer Festlegung und Strukturierung zurückgehen: Als „etwas Lebend-Bewegtes“ von höherer Ordnung bedarf die figura des Gesichts einer wenn auch flexiblen Stabilität. Diese relative Festigkeit und damit auch die deund transfigurierende Macht wächst ihr erst durch gesellschaftliche Aushandlungs- und Austauschprozesse zu – durch soziokulturelle (Kon-)Figurationen. Mit diesem Begriff möchte ich deutlich machen, dass Figuren auf soziale Prozesse einer „kollektiven Erzeugung unterschiedlicher kultureller Prakiken”32 zurückgehen. In einem ähnlichen Zusammenhang hat Norbert Elias von „Figurationen“33 gesprochen und diesen Begriff ins Zentrum einer Soziologie gestellt, die sich gleichermaßen gegen eine strikte Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft34 wendet wie gegen eine Beschreibung der Gesellschaft als Abfolge erstarrter, festgefahrener Zustände. Als „Figurationen“ bilden die sozialen Akteure Verbindungen aus, die komplex und in Bewegung sind, und damit die sozialen Strukturen zu etwas „Lebend-Bewegtem“ machen: „Der [...] Begriff der ‚Figuration‘ [...] macht es möglich, den gesellschaftlich bedingten Zwang zu einer gedanklichen Spaltung und Polarisierung des Menschenbildes, der uns immer von neuem dazu anhält, ein Bild von Menschen als Individuen und ein Bild von Menschen als Gesellschaften nebeneinander zu stellen, aufzuheben.35

Dabei verdeutlicht Elias am Beispiel des Tanzes, dass Figurationen die Menschen zugleich in Abhängigkeiten binden (bis auf die Ebene gesellschaftlicher Systeme) wie in Bewegung versetzen: Das Bild der beweglichen Figurationen interdependenter Menschen beim Tanz erleichtert es vielleicht, sich Staaten, Städte, Familien, oder auch kapitalistische, kommunistische und Feu30 31

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Kamper, Dietmar und Christoph Wulf (Hrsg.): Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1989, S. 1. „Im Verlauf des abendländischen Zivilisationsprozesses haben sich viele verschiedene Figuren des Körpers herausgebildet. Als menschlicher hat er sich im Bezug zum Körper der Götter konstituiert [...]. Bei der Herausbildung der verschiedenen Figuren des Körpers spielt Gewalt eine zentrale Rolle.“ (Kamper und Wulf: „Lektüre einer Narbenschrift“, S. 2) Greenblatt, Stephen Jay: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993, S. 14. Vgl. Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, München: Juventa Verlag, 1970, S. 140ff. So kritisiert er „die konventionelle Trennung – wohlgemerkt, die Trennung, nicht die Unterscheidung – zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung des Menschen und der Menschen“ (ebenda, S. 139, Hervorhebungen im Original). Ebenda, S. 140f.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur dalsysteme als Figurationen vorzustellen. […] Die gleiche Tanzfiguration kann gewiß von verschiedenen Individuen getanzt werden; aber ohne eine Pluralität von aufeinander ausgerichteten, voneinander abhängigen Individuen, die miteinander tanzen, gibt es keinen Tanz.36

„Das Menschengesicht“: In der Rede vom „Gesicht“ im Singular, die bei Picard auf Universalität und die Rettung einer verlorengegangenen metaphysischen Eindeutigkeit zielt, schwingt eine Bedeutungsambivalenz mit, die metaphorisch jenes spannungsvolle Ineinander ausdrückt, dem ich in Picards Werken nachgehen möchte: das Ineinander von Gesicht und Gesicht, von stabilisierter Struktur und defigurierender Vision. Diese Doppelbedeutung des deutschen Wortes ‚Gesicht‘ ist heute ebenso wie sein Plural ‚Gesichte‘ weitgehend außer Gebrauch geraten – nur selten wird das ‚Gesicht‘ im Sinne von ‚Erscheinung‘ verwendet, wie etwa in der Pural-Wendung ‚Gesichte haben‘. Dazu vermerkt das Grimm’sche Wörterbuch 1897: [V]on den pluralbildungen ist gesichte die ältere, edlere, jetzt nur in der bedeutung ‚visionen‘ gebräuchlich, dagegen die jüngere, gesichter heute der bedeutung ‚antlitz, miene‘ ausschlieszlich angehört.37

1735 hatte Zedlers Universallexikon dem Begriff ‚Gesichte‘ noch zwei Einträge zugeordnet – „Gesichte, Visus, Veuë“ als „Einer derer fünff äusserlichen Sinnen, welcher durch das Auge das Sehen verrichtet“38 und „Gesichte und Träume“, die „vor Zeiten die gewöhnlichen Mittel gewesen, dadurch sich Gott denen Vätern, Erz-Vätern und Propheten offenbaret hat“39. Die Bedeutung „Gesichte, Facies“, die der heutigen Verwendung von ‚Gesicht‘ entspricht, wird dagegen dem Artikel „Angesicht“ zugeordnet.40 36

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Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997 [1939], S. 71. Auch Benjamins Begriff der „Konfiguration“ – der Vergegenwärtigung einer „Idee“ im Durchgang durch einen „Stab von Begriffen“ – durchzieht die Spannung zwischen Bewegung und fixierter Struktur: Sie muss „als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren“ (Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978 [1928], S. 9f.). Auf „die Idee von Kon-Figuration als integralem Bestandteil der Figur“ weisen auch Brandstetter und Peters: „Einleitung“, S. 10, hin. Hildebrand, Rudolf und Hermann Wunderlich: Art. „Gesicht“, in: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch. Vierten Bandes erste Abteilung. Zweiter Theil. Gefoppe– Getreibs, Leipzig: Verlag von S. Hirzel, 1897, Sp. 4087–4099, hier: Sp. 4087. Hervorhebungen im Original. Art. „Gesichte, Visus, Veuë“, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Band 10. G–Gl, Halle und Leipzig: Verlag Johann Heinrich Zedlers, 1735, Sp. 1276–1280, hier: Sp. 1276. Art. „Gesichte und Träume“, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Band 10. G–Gl, Halle und Leipzig: Verlag Johann Heinrich Zedlers, 1735, Sp. 1280, hier: Sp. 1280. Vgl. Art. „Gesichte, Facies“, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Band 10. G–Gl, Halle und Leipzig: Verlag Johann Heinrich Zedlers, 1735, Sp. 1280, hier: Sp. 1280.

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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Ein genauerer Blick auf den Eintrag zum Singular ‚Gesicht‘ lässt jedoch den noch im späten 19. Jahrhundert vorhandenen Bedeutungsgehalt des ‚Gesichts‘ als Vision deutlich zutage treten. Er durchzieht alle fünf Bedeutungskategorien, in die das Grimm’sche Wörterbuch das ‚Gesicht‘ differenziert: „1) das sehen“, „2) das antlitz, das angesicht, von den augen auf die ganze vorderseite des kopfes übertragen“, „3) das aussehen (eigentlich ‚das blicken aus den augen‘), die äuszere erscheinung, gestalt“, „4) das was ich sehe oder zu sehen glaube, leiblich oder geistig“ und „5) die möglichkeit, zu sehen“41. Schon die erste Kategorie, „das sehen“, umfasst das Bedeutungsspektrum des visionären ‚Gesichts‘ als einer geistigen Schau zwischen Einbildungskraft und esoterischem Sehertum: „das sehen“ kann sein „das innere schauen, der geistige blick“42 oder „das hellsehen, das sehen von ahnungsvollen traumbildern im wachen zustande, […] das zweite gesicht oder das andere gesicht […] die rätselhafte gabe, zukünftiges in einem deutlichen bilde vorauszuschauen“.43 Vor allem aber die vierte Kategorie bezeichnet das „Gesicht“ als „das was ich sehe oder zu sehen glaube, leiblich oder geistig“. Das Bild ist hier ein visionäres Gebilde zwischen leiblicher Einbildungskraft, religiöser Eingebung und Fiktion: „bild, vorstellung“, „erscheinung“, „die übernatürliche erscheinung, als schickung und kundgebung guter oder böser mächte“ und „die geistererscheinung“.44 Das ‚literarische Gesicht‘ firmiert dabei unter „vorstellung, gebilde der phantasie […] namentlich des schaffenden künstlers, traum des dichters“45 und erscheint als eine auf der Schwelle zwischen leiblichem und geistigem Sehen schwebende Figur, wie ein gekürzt angeführtes Goethe-Zitat aus Wilhelm Meisters Wanderjahre veranschaulicht: „ihre gegenwart entfernte sogleich fast jede erinnerung jenes gesichtes, das mir schon bisher nur als ein traum vorgeschwebt hatte.“46 Die Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste entwirft – 40 Jahre zuvor – ein ähnliches Bedeutungsspektrum des visionären Gesichts: Das Phänomen der Auffassung eines nicht- oder übersinnlichen Seins oder Gegenstandes mit dem Auge des Geistes, die Wahrnehmung einer übernatürlichen Erscheinung oder Offenbarung, oder auch den Gegenstand einer solchen; und zwar wird das Wort ‚Gesicht‘ in diesem Sinne nicht blos in dem mythologischen und mystischen Gebiete der Religion gebraucht, sondern auch in dem der Poesie und Philosophie, als der teutsche Ausdruck für das Fremdwort Idee.47

Auch hier changiert das literarische Gesicht als poetische Figur zwischen zwei Sphären – der Phantasie und der quasi-religiösen Eingebung –, insofern „die Poesie sich des 41 42 43 44 45 46 47

Hildebrand und Wunderlich: Art. „Gesicht“, Sp. 4087ff. Ebenda, Sp. 4088. Ebenda, Sp. 4093. Hervorhebungen im Original. Ebenda, Sp. 4096f. Ebenda, Sp. 4096. zit. n. ebenda. Scheidler, K. H. : Art. „Gesicht (sprachlich)“, in: Hermann Brockhaus, Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Erste Section. A–G. Vierundsechzigster Theil. Gesenius–Getränk, Leipzig: Brockhaus, 1857, S. 140–143, hier S. 142. Hervorhebungen im Original gesperrt.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

Wortes ‚Gesicht‘ als Bezeichnung nicht blos ihrer bewußten Phantasiegebilde, sondern jener höheren ‚Gesichte‘ als übersinnliche Auffassungen und Darstellungen bedient, vermöge welcher auch die Dichter als Propheten gelten können“.48 „Das Menschengesicht“: Die soeben herausgearbeitete Bedeutungsambivalenz des Gesichts markiert zugleich den Rahmen einer literarisch-anthropologischen Forschungsperspektive, die inzwischen mehrere Forschungsansätze und -institutionen mit z. T. verschiedenen Schwerpunkten umfasst. Die unterschiedlichen Richtungen der Literarischen Anthropologie eint dabei der Versuch, verschiedene anthropologische Perspektiven – u. a. die der Kulturanthropologie, der Soziologischen und Historischen Anthropologie, z. T. auch der Philosophischen Anthropologie – zu einem komplexen Blick auf ‚Literatur‘ zu verdichten. Die avancierteste und wichtigste Richtung der Literarischen Anthropologie entstammt den Arbeiten des Konstanzer Sonderforschungsbereiches „Literatur und Anthropologie“.49 Sie knüpfen an die Cultural Anthropology an, insbesondere an die ‚interpretative Ethnologie‘ und deren Paradigmen von Writing Culture und Kultur als Text. Dagegen distanziert sie sich von der deutschen Philosophischen Anthropologie, deren gegen die Ausdifferenzierung der anthropologischen Disziplinen gerichteten „erneuten Versuch einer Gesamtanthropologie“50 sie kritisiert.51 Eine literarisch-anthropologische Perspektive trägt dem Umstand Rechnung, dass literarische Praktiken und Figuren durch anthropologische Menschenbilder oder Gesichter vorstrukturiert sind.52 Andererseits berücksichtigt die Literarische Anthropologie 48 49

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Ebenda. Hervorhebungen im Original gesperrt. Einen guten Überblick bieten Graevenitz, Gerhart von und Gottfried Seebaß: Literatur und Anthropologie. Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 511: http://www.uni-konstanz.de/ FuF/ueberfak/sfb511/index_deu.html (8.2.2008). Ebenda. Neben der Konstanzer Literarischen Anthropologie sind als weitere wichtige Ansätze zu nennen Braungart, Wolfgang, Klaus Ridder und Friedmar Apel (Hrsg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 2004; Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke Verlag, 2004. Dabei sind jedoch Bedenken gegenüber Isers Rede vom ahistorischen „anthropologische[n] Grundmuster“ (Iser, Wolfgang: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1990, S. 18) und vom „Fingieren als anthropologische[r] Dimension der Literatur“ angebracht: Iser spricht vom „Fingieren als einer Ermöglichungsbedingung [...], und zwar in der Absicht, durch das Fingieren der Literatur etwas über die menschliche Fiktionsbedürftigkeit in Erfahrung zu bringen“ (ebenda, S. 7). Auch wenn Fiktionen in so gut wie allen Kulturen begegnen, ist doch vor der Universalisierung einer „anthropologischen Dimension“ der „Fiktion“ zu warnen. Das Fingieren als anthropologisches Phänomen variiert historisch und kulturell, es folgt kulturell differenten Figuren des Begehrens, unterschiedlichen Leitgesichtern, die sich in der Fiktion Ausdruck verschaffen. So trägt der Begriff der Fiktion nicht nur im Alltagsverständnis, sondern auch in der modernen literaturwissenschaftlichen Verwendung die Züge kulturell und historisch spezifischer Traditionen, etwa einer bis in die Antike zurückreichenden metaphysischen Philosophie oder eines ins 19. Jahrhundert verweisenden „gesellschaftlichen Imaginären“, das sich aus einem utopischen Fortschrittsglauben bestimmter sozialer Schichten speist. Vgl. hierzu

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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das Intervenieren literarischer Fiktionen und Figuren in ebendiese Menschenbilder. Literarische Anthropologie in diesem Sinne geht also der Verflechtung von Menschengesichtern und Menschengesichten nach, dem Prozess, in dem Literatur durch soziale (Kon-)Figurationen und Leitgesichter – durch Perspektiven und Muster der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns – ermöglicht, gerahmt und geprägt wird, und zugleich selbst an der Hervorbringung, Bewahrung und Veränderung unterschiedlicher ‚Zeit-Gesichter‘ beteiligt ist. Dabei zielt die Literarische Anthropologie nicht auf die (Re-)Konstruktion eines einheitlichen Menschenbildes, eines ahistorischen, transzendenten Menschengesichts, sondern auf die vielgestaltigen Menschengesichter, die mannigfaltigen „strukturierte[n] Struktur[en]“53, aus denen sich kulturelle Ausdrucksformen herleiten, sowie auf die „strukturierende[n] [...] Struktur[en]“54, die Menschengesichte, die diese Formen in Bewegung halten. Ambivalenz des Menschengesichts: Als geprägte (Kon-)Figuration ist das Gesicht Archiv und Fundus jenes Fiktionsprozesses der Literatur, der sich in Figuren ausdrückt und das Gesicht zugleich in einer „transitorische[n], schwebende[n] Dimension“55 zum visionären „traum des dichters“56 werden lässt: Denn die Figur impliziert das Fingieren: „FIGURA, vom gleichen Stamme wie fingere, figulus, fictor und effigies“57. Und das Fingieren wiederum – darauf hat Wolfgang Iser aufmerksam gemacht – ist ein höchst uneindeutiges Überschreiten präfigurierten Seins:

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Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. Wenn ich dennoch von einer „anthropologische[n] Dimension“ als „Fundament“ der Literatur ausgehe, dann geht es mir nicht darum, etwas über eine allgemeine „Fiktionsbedürftigkeit des Menschen“ zu erfahren, sondern vielmehr um den Nachweis, dass Literatur nicht im luftleeren Raum entsteht. Einen vorsichtigeren Begriff von „anthropologischen Fundamentalien“ verwenden Graevenitz und Seebaß: Literatur und Anthropologie. Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 511, wenngleich die dort vorgenommene Entgegensetzung von Ursprung und höheren Entwicklungsstufen des Menschen nicht unproblematisch ist: So könne „man nicht davon ausgehen, daß die kulturelle ‚zweite Natur‘ des Menschen, gleichgültig ob sie schon vorliegt oder modellhaft entworfen wird, eine ‚constructio ex nihilo‘ ist. Kein Mensch kann etwas ‚aus sich machen‘, wenn er nichts vorfindet, von dem er ausgehen und an dem er konstruktiv ansetzen kann. Das kann auf höheren bzw. historisch späteren Stufen selbst bereits etwas sein, das kulturell vermittelt wurde. Ursprünglich aber muß ein Bereich von ‚vorkonstruktiv gegebenen‘ anthropologischen Fundamentalien in Rechnung gestellt werden, auch wenn sich darüber vielleicht nur Hypothesen und Theorien aufstellen lassen, die definitiv niemals zu verifizieren sind. Ein eigenes Interesse könnte hier auch dem Konzept einer ‚negativen Anthropologie‘ zukommen“ (ebenda, Hervorhebungen im Original). Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 279. Ebenda. Brandstetter und Peters: „Einleitung“, S. 10. Hildebrand und Wunderlich: Art. „Gesicht“, S. 4096. Auerbach: „Figura“, S. 55. Hervorhebungen im Original. Vgl. hierzu auch Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur Fingieren besitzt im Grimmschen Wörterbuch nur einen einzigen Eintrag, nämlich erdichten. Der Verzicht darauf, durch Varianten zu spezifizieren, was das Erdichten sei, läßt das Wort in einer Doppeldeutigkeit zurück, die sich geradezu wie dessen Kernbedeutung ausnimmt. Denn Erdichten kann sowohl Lügen als auch das Herstellen eines literarischen Kunstwerks heißen. In beiden Fällen geschieht ein Gleiches: das Überschreiten dessen, was ist.58

Die Perspektiven einer Literarischen Anthropologie und ihrer Menschengesichte unterliegen dabei aber auch selbst einem historischen Wandel. Eine Literarische Anthropologie des Menschengesichts in der Weimarer Zeit lässt sich nicht mehr auf eine „Anthropologie des Ganzen Menschen“59 zurückführen, an der sich im 18. Jahrhundert das anthropologische Projekt orientierte, sondern fasst weit mehr als das Verhältnis zwischen der Literatur und der singulären Disziplin Anthropologie bzw. ihren Unterdisziplinen. Denn mit der Ausdifferenzierung anthropologischer Fragestellungen und ihrer Ausbreitung in die verschiedensten wissenschaftlichen und künstlerischen Felder im 19. Jahrhundert – einem Prozess, der nicht zufällig parallel zur Literarisierung der Physiognomik verläuft – kann die Suche nach einer Anthropologie der Literatur nur erfolgen, wenn sie die Figur des Gesichts in weit auseinanderliegende, oft unvermutete Disziplinen hinein verfolgt. So tragen Picards Menschengesichte solch heterogene Züge wie die der Medizin (etwa der Rassenhygiene und -physiognomik oder der Schönheitschirurgie), der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Theologie oder der Filmtheorie.60 Eine Literarische Anthropologie der Picard’schen Menschengesichte erschöpft sich schließlich nicht in einer Ausarbeitung der anthropologischen und sozialen Voraussetzungen von Literatur, und zwar auch dann nicht, wenn sie deren historische Kontingenz einbezieht. Vielmehr geht es ihr um den Nachweis, dass literarische Fiktion ihrerseits mit den durch soziale (Kon-)Figurationen geprägten Strukturen interagiert, sie anregt, in sie eingreift, sie verändert, bewahrt oder zum Verschwinden bringt. Und es sind diese fiktiven literarischen Gesichte, die auch bei Picard immer wieder hinter dem vermeintlich stabilen und geordneten Gesicht des Menschen zum Vorschein kommen und es in Bewegung versetzen: Nicht nur die grotesken Defigurationen des Letzten Menschen, auch die Denk-Figuren aus der expressionistischen Zivilisationskritik, der Histo58 59

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Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 5. Hervorhebung im Original. Das 18. Jahrhundert steht im Fokus des von Hans-Jürgen Schings herausgegebenen Sammelbandes Der Ganze Mensch, der einen ersten Versuch zur Begründung einer Literarischen Anthropologie unternahm: Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar, 1994. Die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen betrifft allerdings nicht nur die Untersuchungsfelder, sondern auch die Perspektiven einer Literarischen Anthropologie selbst. Insbesondere die jüngere US-amerikanische Cultural Anthropology (George E. Marcus, James Clifford, Marc Manganaro) insistiert darauf, dass anthropologisches Fragen den Konstruktionscharakter der eigenen Arbeit eingestehen muss. Dazu kommt, dass ein Methoden- und Perspektivenpluralismus die ‚Dichte‘ solcher Konstruktionen und damit die Komplexität von Fragestellungen, Materialanalyse und Theoriebildung erhöht.

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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rismus-Debatte oder dem medizinischen Diskurs, die mystischen Visionen der Kabbala oder die Fragen der zeitgenössischen Theologie, die Picards Werk mit dem literarischen, naturwissenschaftlichen und kulturellen Feld austauscht, verdanken ihr Dasein jenen fingierenden Praktiken des „Erdichten[s]“, ohne die keine Wissenskultur auskommt. Wolf Lepenies zeigt in seiner soziologischen Darstellung des Spannungsfeldes der „Drei Kulturen“61, dass Austauschverhältnisse zwischen Literatur, Naturwissenschaft und Soziologie nicht nur ein aktuelles Anliegen sind, das im Namen zunehmender Interdisziplinarität einer vergangenen Epoche aufgepfropft wird. Es ist gerade die Zeit vor und während der Weimarer Republik, die sich durch Spannungsmomente zwischen diesen drei Wissensformen auszeichnet und die aufgrund ebendieser Spannung einen Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung erlebt. Dabei wird das Spannungsfeld markiert von richtungsweisenden Soziologen wie Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Max Weber, sowie von anti-soziologischen (Stefan George und Hugo von Hofmannsthal sind hier wohl die bekanntesten) und sozialistischen Literaten (Ernst Toller, Kurt Hiller). Und es ist wohl kein Zufall, dass fast alle Protagonisten dieser Dynamik in einem mehr oder weniger intensiven Bezug zum Gesicht und seinen Inszenierungen stehen. Simmel und Hofmannsthal haben darüber ausführlich geschrieben; der schillernde imaginäre Status eines Stefan George ist ohne seine Gesichtsbilder und deren geschickte mediale Inszenierung nicht zu fassen.62 Dass das sozialwissenschaftliche Feld ebenso pro- wie antiliterarische Strömungen (hermeneutisch-interpretative Ansätze vs. naturwissenschaftliches Paradigma) aufweist wie das literarische Feld pro- und antisoziologische Parteigänger umfasst, ermöglicht beiden sowohl feldexterne als auch feldinterne Abgrenzungen. Die ‚Anti-Soziologen‘ des George-Kreises hegten durchaus ein reges Interesse, ja zuweilen eine heimliche bis offene Bewunderung für Vertreter der von ihnen verabscheuten Soziologie.63 Und auch das Verhältnis Picards zu den aufstrebenden Sozialwissenschaften wird sich als komplexer darstellen, als dass es ein Schubladendenken mit Kategorien wie konservativ/progressiv, soziologisch/antisoziologisch zu erfassen vermag.

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Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Fischer, 2002. Vgl. hierzu etwa Blasberg, Cornelia: „Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74. Jg. (2000), Nr. 1, S. 111–145. Dies mag die erstaunliche Bewunderung des oft vehement antisoziologisch eingestellten George-Kreises nicht nur für das Werk, sondern auch für das Gesicht des soziologischen Übervaters Max Weber zumindest in Teilen erklären. Edgar Salin etwa erscheint Weber als „ein Hüne, der mit grossen, schweren Schritten über die Ebene ging, den finsteren Blick mehr nach innen als auf das herbstliche Land oder die Wanderer an seiner Seite gerichtet, – das Gesicht von düsteren Gedanken zerfurcht, – der Bart wie geladen von seelischen Strömen und Stössen“ (Salin, Edgar: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, Düsseldorf: Küpper, 1954 [1948], S. 108). In diesen Worten spricht mehr als eine zufällige private Anerkennung. Vgl. hierzu Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, S. 347ff.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

An dieser Stelle sei angemerkt, dass Picards literarische Physiognomik und meine (Re-)Konstruktion ebendieser literarischen Physiognomik in einem Verhältnis von Kontrast und Komplementarität stehen. Das zeigt etwa Picards Beschwörung des „Menschengesichts“ als transzendente, universale und ahistorische Figur. Sie richtet sich gegen jene historischen Relativismen und Ausdifferenzierungen, die sowohl der Literarisierung der Physiognomik als auch meiner literarisch-anthropologischen Perspektive auf Picards Werk zugrunde liegen: Das Menschengesicht kann nicht vergehen; denn das Menschengesicht gehört nicht der werdenden endlichen Welt an, sondern der unendlich seienden. Das Gesicht steht so seinshaft da, als ob es nie geworden wäre, als ob es nicht nur bei ihm kein Werden gäbe, überhaupt nirgends scheint es ein Werden mehr zu geben, das Werden ist zum Stehen gebracht vor dieser Seinshaftigkeit.64

Und doch: Seine Klage über den Verlust einer im „Menschengesicht“ verbürgten metaphysischen Gewissheit arbeitet sich ab an jenen historischen Phänomenen, die das „Menschengesicht“ zum Verschwinden bringen. Picard betrautert die Literarisierung der Physiognomik – aber er kann sie nicht leugnen und rückt sie daher ins Zentrum seiner Auseinandersetzung: Das Menschengesicht heute [...] ist vieldeutig. Nicht einmal dies ist eindeutig: daß es nur Gesicht und nichts anderes sein könnte. Manchmal scheint es, daß es nur provisorisch oder wie durch Zufall Gesicht sei. [...] Das Gesicht heute [...] ist forschend, es muß sich erst selber bestimmen. Es ist nicht dogmatisch, es wird bestimmt, es ist relativ, es ist das Produkt von Umständen, anstatt daß es Ursache von Umständen ist. Manchmal scheint es: die Kunst, die Wissenschaft, die Philosophie heute sei darum so relativiert, damit das relativierte Gesicht durch diese relatvierte Umgebung gerechtfertigt erscheine. Das Gesicht heute hat sich die Welt erschaffen, in der es legitimiert erscheint.65

In diesem Sinne lässt sich literarische Anthropologie als ein Machen von Gesichten verstehen, das die sozialen und kulturellen (Kon-)Figurationen in Bewegung bringt und zum Leben erweckt: eine soziale Prosopopoiia, die den Gesichtern eine – fiktive – Stimme verleiht, die nur scheinbar die ihre ist. Prosopopoiia [...] verleiht ihnen, Toten, Abwesenden, Kollektiva, in der Fiktion ihrer Rede ein Gesicht, eine Maske (prosopon-poiein), durch die sie gesprochen haben sollen. ‚Eine-StimmeGeben‘ ist die rhetorische Figur, die ein Subjekt der Rede (erst) voraus-setzt und einsetzt, das nachträglich, als sprechendes, immer schon gegeben zu sein scheint. Insofern verstellt diese Figur in ihrem Effekt ‚lebendigen Sprechens‘ auch schon ihr Funktionieren als rhetorische Figur und ihre Voraussetzung von Stummheit und Tod.66

Eine literarisch-anthropologische Perspektive nimmt schließlich nicht nur den Einfluss fingierter literarischer Figuren auf Entwicklungen in den Wissenschaften oder nichtliterarischen Künsten in den Blick, sondern auch die Bedeutung von Fiktions-Praktiken 64 65 66

Picard: Das Menschengesicht, S. 22. Ebenda, S. 108f. Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München: Wilhelm Fink Verlag, 2000, S. 7. Hervorhebung im Original.

Gesichte. Figuren, Kon-Figurationen, Fiktionen

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innerhalb letzterer. Als „etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes“ kommt Figuren in der Rhetorik ebenso Bedeutung zu wie in Mathematik, Malerei, Theater oder Tanz.67 Denn die von der figura ausgehenden Prozesse der Defiguration oder Transfiguration – und damit das Fingieren als „Überschreiten dessen, was ist“68 – sind nicht allein auf die Literaten im engeren Sinne beschränkt. Gilt die „Grenzüberschreitung als Grundbedeutung des Fingierens“69, dann bedarf eine jede Disziplin der Fiktion, will sie nicht erstarren. In diesem Zusammenhang sei nochmals das eingangs diskutierte Problem der Physiognomik als ‚Pseudowissenschaft‘ aufgegriffen: Denn nicht nur die als pseudo- oder unwissenschaftlich geltenden, sondern auch die umkämpften, zweifelhaften, anerkannten oder harten Disziplinen der Wissenschaft greifen in ihren Poetologien der Erneuerung gerne zurück auf die Fiktion – auf jenes Phänomen, das zwischen literarischem „Kunstwerk“ und „Lüge“ oszilliert. Mit Vorsicht ist dabei der einseitigen Betonung des der Fiktion innewohnenden Potentials zur „Grenzüberschreitung“ zu begegnen, wie sie Auerbach und Iser vornehmen. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit literarischen Formen des Grotesken und Apokalyptischen in Picards Der letzte Mensch werde ich auf diese Problematik und die Gefahr eingehen, in der ständigen Rede von der Überschreitung das Überschrittene zu essentialisieren.70 Für die Literarische Anthropologie heißt das: Ihre Aufgabe ist es nicht nur, Defigurationen der unterschiedlichsten historischen, kulturellen und sozialen (Kon-)Figurationen sowie deren geheime Korrespondenzen zu verfolgen – also die Fiktion als „Überschreiten dessen, was ist“71 –, sondern in Gesichten auch das Schaffen dessen, was ist, durch Überschreiten aufzuzeigen.72 67

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Vgl. zu einem historisch und disziplinär weitreichenden Verständnis der Figur Tkaczyk, Viktoria: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Neuzeit, München: Wilhelm Fink Verlag, 2010. Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 5. Ebenda. Vgl. hierzu auch Stallybrass, Peter und Allon White: The politics and poetics of transgression, London: Methuen, 1986; Stallybrass, Peter: „Boundary and Transgression. Body, Text, Language“, in: Stanford French Review, 14. Jg. (1990), Nr. 1–2, S. 9–23. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.4, S. 164ff. Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 5. So führen Graevenitz und Seebaß: Literatur und Anthropologie. Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 511 als ein bedeutendes historisches Fundament der Literarischen Anthropologie die Gottesebenbildlichkeit des einen Menschengesichts an – das zentrale Thema von Picards Das Menschengesicht. Diese historische Figuration, von so umfassender und prägender soziokultureller Wirkung sie auch gewesen sein mag, ist nichts anderes als das Produkt einer ‚erdichteten‘ Überschreitung dessen, was war – des Kosmotheismus bzw. Polytheismus – durch die Lüge/Dichtung des Monotheismus. In ihr ist das Bild der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gerade der bildhaften Verstrickung in die Schöpfung entgegengesetzt und weist dem Menschen ein aus der Welt herausgehobenes Verhältnis zu den Dingen zu. Vgl. hierzu Assmann, Jan: „Bildverstrickung. Vom Sinn des Bilderverbots im biblischen Monotheismus“, in: Gerhart von Graevenitz, Stefan Rieger und Felix Thürlemann (Hrsg.), Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2001, S. 59–75.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

Zum Aufbau der Arbeit Zu Beginn des I. Teils stelle ich Pierre Bourdieus Theorie der literarischen Praxis und der kulturellen Felder dar (Kapitel 1).73 Sie ermöglicht einen Zugang zu Picards Schriften über das Gesicht, der die soziale Praxis des Schreibens auf ihre impliziten sozialen Zusammenhänge und die oft unausgesprochenen historischen Voraussetzungen hin befragt (Kap. 1.1). Ihre Stärke liegt darin, dass Bourdieus soziologische Kritik nicht nur die Verengungen literarischer Theorie bekämpft, zu der insbesondere textnahe literaturwissenschaftliche Traditionen neigen, sondern auch die perspektivischen Verengungen soziologischer Ansätze angreift (auch wenn er letztere in seinen Studien an einigen Stellen selbst nicht zu überwinden vermag). Von Seiten der Literaturwissenschaft ist oft übersehen worden, dass Bourdieus Theorie des literarischen Feldes literaturspezifischen und das heißt vor allem textuellen Dynamiken sehr wohl zentrale Bedeutung zumisst, wie ich in Kapitel 1.2 zeige. Diese Akzentuierung macht eine soziale Literaturgeschichte des Picard’schen Schreibens möglich, die die Literatur und ihre relative Autonomie ernst nimmt, sie nicht auf eine gesellschaftliche Abbildfunktion reduziert und damit dem Gewicht der innerliterarischen Phänomene nicht nur für, sondern als soziale Prozesse gerecht zu werden versucht. Eine kritische Auseinandersetzung mit Bourdieus Theorie literarischer Praxis zeigt, dass gerade die von ihm kritisierten literaturwissenschaftlichen Ansätze dort weiterführen können, wo die soziologischen Theorien ihrerseits Lücken und Unausgewogenheiten aufweisen. So ist (aus soziologischer wie literaturwissenschaftlicher Perspektive) angemerkt worden, dass Bourdieu zwar den historischen Entstehungs- und Wandlungsprozessen sozialer Felder sowie den geschichtlichen Verschiebungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ein überaus großes theoretisches Gewicht gibt, dem jedoch eine weitgehende Vernachlässigung biographischer Laufbahnen oder Werkgeschichten in

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Das Voranstellen der theoretischen Grundzüge ist einer pragmatischen Entscheidung geschuldet, die aus Gründen der Darstellbarkeit trennt, was im Prozess des Forschens (unlösbar) miteinander verwoben ist. Dieses Vorgehen ist nicht in dem Sinne zu verstehen, als stelle die Auseinandersetzung mit Picard eine Anwendung und Exemplifizierung einer oder mehrerer übergeordneter Theorien dar, die einseitig von der Theorie zur Empirie führt. Vielmehr stehen meine theoretischen Vorannahmen mit den empirischen Befunden ebenso in einem Austauschverhältnis wie die untersuchten Praktiken der Literatur und der Wissenschaften. Dies impliziert, dass die einführende Orientierung an soziologischen und literaturwissenschaftlichen Theoriebildungen immer als eine vorläufige Orientierung gelten muss; ihr Sinn und Zweck besteht darin, in der Konfrontation mit historischem Material fragwürdig und modifiziert zu werden und damit neue provisorische Antworten und Orientierungen zu ermöglichen. Dies bedeutet aber auch, dass die Vorannahmen, ohne die ein wissenschaftliches Vorgehen orientierungslos (und damit gar kein wissenschaftliches Vorgehen) wäre, explizit gemacht werden – dies allerdings auch nur, soweit dies möglich ist: Die Vorstellung einer vollkommenen reflexiven Transparenz der eigenen Forschungsposition ist nicht weniger naiv als die Annahme einer voraussetzungslosen wissenschaftlichen Praxis.

Zum Aufbau der Arbeit

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seinen empirischen Studien gegenübersteht.74 An diesem Punkt möchte meine Arbeit anknüpfen und weiterdenken. Dabei gilt es, einerseits nicht hinter die Kritik der Individuum-Gesellschaft-Dichotomie zurückzufallen und andererseits (werk-)biographische Geschichte nicht auf eine Funktion der gesellschaftlichen Mechanismen zu reduzieren, sondern als Praxis zu erweisen, die in die sie hervorbringenden sozialen Konstellationen ihrerseits interveniert oder dies zumindest – sei es mit oder ohne Erfolg – versucht. Kapitel 2 bietet dann eine erste Auseinandersetzung mit Picard, und zwar mit seinem Erstlingswerk Der Bürger (1914). Picards Versuch, sich damit als Schriftsteller am avantgardistischen Pol des literarischen Feldes zu positionieren, offenbart einige der charakteristischen Mechanismen literarischer Praxis und erweist sich zugleich als durchaus originell: Seine satirische ‚Theorie‘ vom schriftstellerischen (Selbst-)Plagiat lässt sich als Sozioanalyse der literarischen Laufbahn lesen, die zwischen affirmativer Unterwerfung unter die Feldmechanismen und ihrer zumindest andeutungsweisen impliziten Kritik schwankt. Um den Werken, die im Zentrum der beiden Hauptteile dieser Arbeit stehen, methodisch gerecht zu werden, ist eine theoretische und methodische Vertiefung des Bourdieu’schen Ansatzes unerlässlich. Die dazu nötigen Erweiterungen stellt Kapitel 3 dar, in dem ich die Feldtheorie mit Methoden des New Historicism verbinde, der den soziologischen Blick in die Literaturtheorie aufnehmen und um literaturspezifische Perspektiven erweitern kann. Die Kompatibilität von Feldtheorie und New Historicism demonstriere ich dabei anhand von vier literaturtheoretischen Kategorien: der Verwendung ökonomischer Metaphern und Modelle (Kap. 3.1), der Verfremdung durch das Anekdotische (Kap. 3.2), den jeweiligen Verknüpfungen von Text und Kontext (Kap. 3.3) sowie der Beziehung von (Autor-)Subjekt und Handlung (Kap. 3.4). Diese theoretisch-methodische Reflexion ist wichtig, um die den Hauptteil meiner Arbeit bildende Auseinandersetzung mit Max Picards Schriften in der geforderten Differenziertheit vornehmen zu können: Picards weitgehend in Vergessenheit geratene literarische Produktionen werden nämlich dort interessant, wo sie nicht einfach in die Schublade des Konservativismus und Kulturpessimismus eingeordnet werden, sondern wo ihre Spannungen und Widersprüche, die Umwege und Brüche der literarischen Praxis kritisch ernstgenommen und als soziale Reibungen auf Textebene begriffen werden. Zu diesem Zweck entlehne ich Greenblatts Aufsatz über „Fiction and Friction“75 die Metapher des Swerving, einer ab- und umwegigen Bahnkurve, und versuche sie als Modell für die Spannungen und Umwege, für die schwankenden Orientierungsversuche, gelegentlich ‚abwegigen‘ Positionierungen und Neuausrichtungen fruchtbar zu 74

75

Vgl. Rehbein, Boike, Gernot Saalman und Hermann Schwengel: „Einleitung“, Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2003, S. 7–15, hier: S. 9. Greenblatt, Stephen Jay: „Fiction and Friction“: in: Stephen Jay Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1988, S. 66–93.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

machen, die das Werk Max Picards auszeichnen. Liest man die Geschichte(n) Picards als verschlungene, aber nicht beliebige Umwege eines literarischen Swerving, so entdeckt man in ihnen mehr als die vordergründigen kulturpessimistischen und konservativen Äußerungen. Diese freilich auch. Dem im I. Teil erhobenen Anspruch, den Text nicht einfach den Kontexten unteroder einzuordnen, folgt die Gliederung der beiden folgenden Hauptteile II und III: So beginnt die Analyse der beiden zentralen Werke – des 1921 erschienenen Der letzte Mensch und des 1929 veröffentlichten Das Menschengesicht – jeweils mit einer textnahen Lektüre einiger Passagen und Aspekte, bevor ein Vergleich der Texte mit auf den ersten Blick nicht unbedingt ‚naheliegenden‘ literatur-, kunst- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten erfolgt. Der letzte Mensch von 1921 bildet den Ausgangspunkt des II. Teils. Auf Textebene fällt dieses Werk vor allem durch die textimmanente Spannung zwischen literarischen Formen des Grotesken und des Apokalyptischen auf (Kap. 4.1 bis 4.3); deren eigenartige Mischung erweist den Text als eine originelle, literarisch ernstzunehmende Arbeit. Sie vermag zudem eine Kritik herkömmlicher, oft statischer Theorien des Grotesken und des Apokalyptischen anzuregen (Kap. 4.4), wie sie sich auch in der jüngeren Groteske-Forschung bis in die Gegenwart hinein finden. An die Textanalyse anknüpfend soll dann im 5. Kapitel Picards Frühwerk im literarischen Feld verortet werden. Dazu werden neben dem Letzten Menschen auch die vorangehenden Arbeiten herangezogen, in denen er sich als Kunstkritiker zu positionieren versucht. Ein zentrales Motiv, das die zwischen 1916 und 1921 entstandenen Schriften – Das Ende des Impressionismus (1916), Expressionistische Bauernmalerei (1918), den „Expressionismus“-Aufsatz von 1919 und Mittelalterliche Holzfiguren (1920) – durchzieht, ist die Spannung von Einheit und Mannigfaltigkeit. Picards frühe Werke (einschließlich des Letzten Menschen) unternehmen den Versuch, sich am autonomen Pol des literarischen bzw. kunstkritischen Feldes zu positionieren – und das heißt zu der Zeit, an einer künstlerischen Aufbruchsbewegung zu partizipieren, die vom Expressionismus bestimmt wird. So fügen sich Picards Texte poetologisch (Kap. 5.1) und thematisch (Kap. 5.3) zum Teil recht bruchlos in den zeitgenössischen intellektuellen Diskurs und in die expressionistische Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Moderne ein. An mancher Stelle weicht er jedoch auch vom Gros der expressionistischen Autoren ab, so etwa, wenn er die weitverbreitete Überhöhung des Ersten Weltkriegs zur anthropologischen Figur nicht nachvollzieht, sondern ein anderes Bild des Krieges zeichnet. Auch sein kunstkritischer „Expressionismus“-Essay deutet eine Distanz zum Expressionismus an; in ihm findet sich eine phänomenologische Differenzierung der Einheits-Sehnsucht, die in späteren Werken wiederbegegnet und weitergeführt wird. Ein äußerst wichtiges Kapitel seiner literarischen Laufbahn bilden die Kontakte Picards zu einflussreichen literarischen Institutionen und Personen: Und hier zeigt sich, dass Picard auch die nicht-textuellen literarischen Praktiken nicht gerade meisterhaft beherrschte. Zum einen haben sich seine Verbindungen zu Verlagen und Medienver-

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bünden als wenig glücklich erwiesen; zum anderen bewies er kein Geschick im Umgang mit sozialem Kapital, das ihm etwa durch die Bekanntschaften mit Rainer Maria Rilke, Rudolf Kassner und Wilhem Hausenstein zufiel (Kap. 5.4). Wie Picards Laufbahn im Feld der Literatur ein kurvenreiches Swerving darstellt, so ist schon sein Eintritt in ebenjenes Feld ein Umweg oder sogar Abweg: Seine Tätigkeit als Arzt, der er in Heidelberg und München nachgeht, gibt er 1918 zugunsten einer intellektuellen Betätigung auf; schon seit 1914 schlägt er diese Richtung mit vorwiegend kunstkritischen und essayistischen Arbeiten ein. Einerseits zeichnen sich darin die feldspezifischen Diskussionshintergründe der zeitgenössischen Kunstkritik ab: Die Wahl der Themen (Expressionismus, Impressionismus, Mittelalter), die Frage nach einer einheitsstiftenden Kraft der Kunst (oder deren Mangel), aber auch die Hinwendung zu ‚naiven‘ volksnahen Kunstformen (Bauernmalerei, Holzfiguren) intervenieren in spezifische Diskurse der zu dieser Zeit der Literatur sehr nahestehenden Kunstkritik. Andererseits finden sich auch Spuren von Austauschprozessen mit literatur- und kunstfernen Diskursen. Und diesen geht Kapitel 6 nach: Auf dem (Um-)Weg vom Arzt zum Schriftsteller hört er religionsgeschichtliche Vorlesungen (u. a. bei Ernst Troeltsch), und die dabei rezipierte Debatte um den „Historismus und seine Probleme“76 bildet einen wichtigen Kontext seiner frühen Schriften (Kap. 6.1). Figuren der Medizin, etwa aus Rassenhygiene und Ästhetischer Chirurgie, lassen sich in den grotesken Gesichte(r)n des Letzten Menschen entdecken (Kap. 6.2). Teil III schließlich setzt sich mit Picards ‚Hauptwerk‘ aus der Weimarer Zeit auseinander: Eine textnahe Lektüre des Menschengesichts (Kap. 7) deckt dabei eine innere Spannung auf: Das physiognomische Begehren nach metaphysischer Geborgenheit und Kontinuität der Gesichtszeichen, das schon die frühen Schriften durchzieht, begegnet in Das Menschengesicht erneut (Kap. 7.1), was für Picards spätere kategorische Verurteilung als konservativer Autor mit ausschlaggebend war. Daneben lässt sich aber auch ein bis jetzt wenig beachteter Versuch herausarbeiten, das Gesicht als Figur der Bewegung zu entwerfen. Wie insbesondere seine ‚Wellentheorie des Gesichts‘ zeigt, die ich in Kapitel 7.2 einer textnahen Lektüre unterziehe und poetologisch als eine ‚Wellentheorie der Literatur‘ zu lesen vorschlage, schlägt sein Schreiben hier erneut eine andere Richtung ein. Für diese Neuorientierung steht auch das Eingehen der jüdischen Mystik und ihrer visionären Gesichte in das Werk (Kap. 7.3 und 7.4). Picards Suche nach religiöser Identität lässt sich ebenfalls als ein schwankender, mehrmals Umwege einschlagender Weg verstehen: Er konvertiert 1939 vom jüdischen zum christlichen (katholischen) Glauben und kehrt später wieder zum Judentum zurück. Dass Picard sich intensiv mit der christlichen und jüdischen Tradition auseinandersetzte, zeigt sich auch in Das Menschengesicht. Darin lassen sich Gemeinsamkeiten mit den 76

So lautet der Titel des Hauptwerks von Ernst Troeltsch, einem der wichtigsten Protagonisten der Historismus-Kritik: Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften. Dritter Band. Der Historismus und seine Probleme. I. Buch. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1922.

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Einleitung: Gesichter und Gesichte. Physiognomik und Literatur

literaturspezifischen Strömungen der katholischen Literaturbewegung (Kap. 8.1) ebenso ausmachen wie Spuren der Suche nach einer deutsch-jüdischen Literatur (Kap. 8.2). Sprachduktus und Inhalt rücken die Schrift in die Nähe des Nachexpressionismus. Auch hier weist der Text über die literaturspezifischen Diskurse hinaus in andere Wissensfelder (Kap. 9): Die Kontextualisierung mit den Diskursen der Theologie und Religionsphilosophie lässt Picards lebhaften Austausch mit der zeitgenössischen protestantischen und katholischen Theologie, etwa mit Søren Kierkegaard, Karl Barth (Kap. 9.1) oder dem Reformkatholizismus Erich Przywaras (Kap. 9.2), deutlich werden. Das zeigt sich u. a. im Rundgespräch Die Ungeborgenen77. Gemeinsamkeiten bestehen aber zugleich zwischen dem Menschengesicht und Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung – einem Werk, das für ein ‚Neues Denken‘ in der jüdischen Theologie steht und in dem das Gesicht ebenfalls eine prominente Rolle spielt (Kap. 9.4).

77

Picard, Max et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933.

Teil I: Felder, Laufbahnen, Kontexte. Bourdieu und der New Historicism

1 Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis

1.1 Das Werden der Literatur Pierre Bourdieus Theorie künstlerischer Produktion1 findet ihren vielleicht konzentriertesten (und zugleich problematischsten) Ausdruck im Konzept der „relativen Autonomie“ kultureller Felder. Dieser in sich selbst paradox erscheinende Begriff versucht die soziale Paradoxie zu beschreiben, die sich in einem historischen Prozess als Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen herausgebildet hat und den innerhalb der Felder sich vollziehenden Diskursen und Handlungsvollzügen Dynamik verleiht. Die moderne Entwicklung kultureller Praktiken wie der literarischen und künstlerischen Produktion führt – in Ländern wie Frankreich und Deutschland etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts – zu einer Ausdifferenzierung der Produktionssphären, in der diese zugleich in umfassende soziale (Teil-)Räume eingebettet und von diesen abhängig wie aus diesen herausgehoben und partiell unabhängig sind. Dieses komplexe Verhältnis gilt es zu begreifen und für die jeweiligen historischen Horizonte zu (re-) 1

Als maßgebliche Arbeiten Bourdieus sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999; Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988; Bourdieu, Pierre: „Disposition esthétique et compétence artistique“, in: Les Temps Modernes, 27. Jg. (1971), Nr. 295, S. 1345– 1378; Bourdieu, Pierre: „Le marché des biens symboliques“, in: L'année Sociologique, 22. Jg. (1971), S. 49–126; als Sekundärliteratur: Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995; Jurt, Joseph: „Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 5. Jg. (1981), Nr. 4, S. 454–479; Jurt, Joseph: „Autonomie der Literatur und sozialgeschichtliche Perspektive“, in: Boike Rehbein, Gernot Saalman und Hermann Schwengel (Hrsg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2003, S. 97–115; Joch, Markus und Norbert Christian Wolf (Hrsg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2005; Magerski, Christine: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie, Tübingen: Niemeyer, 2004; Holler, Verena: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2003; Browitt, Jeff und Brian Nelson (Hrsg.): Practising Theory. Pierre Bourdieu and the Field of Cultural Production, Newark: University of Delaware Press, 2004.

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Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis

konstruieren, da andernfalls die Praktiken der Akteure nicht als das erscheinen können, was sie sind: Teile der beständigen Arbeit an der Konstruktion, Erhaltung und Modifikation dieses paradoxen Verhältnisses. Die kulturellen Felder sind zum einen charakterisiert durch ihre Einlassung in den Raum des Sozialen und das Feld der Macht. Alle Akteure des kulturellen Feldes sind – nicht ausschließlich, aber in entscheidendem Maße – geprägt durch ihren Zugang zu den gesellschaftlich unterschiedlich verteilten Ressourcen wie ökonomisches, kulturelles, politisches und soziales Kapital. Der nach den verschiedenen sozialen Klassen qualitativ und quantitativ divergierende Besitz an Kapital strukturiert den sozialen Raum in herrschende Positionen und beherrschte Positionen; er führt dazu, dass dieser Raum ein dynamischer Raum ist, in dem es permanent zu Versuchen kommt, Kapital zu erlangen, das man (noch) nicht besitzt, bzw. diese Versuche abzuwehren und vorhandenes Kapital zu verteidigen (und letzteres bedeutet für jede Art von Kapital: produktiv zu machen und zu vermehren). Die nach verschiedenen Kapitalsorten konstruierten Herrschaftsverhältnisse überlagern sich daher gegenseitig: So kommt dem ökonomischen Kapital (Besitz an Geld, Gütern, Produktionsmitteln) eine gegenüber den anderen Kapitalsorten beherrschende Funktion zu. Das kulturelle und das soziale Kapital besitzen zwar ebenfalls Herrschaftsfunktionen, indem sie Zugang zu gesellschaftlichen Privilegien (politischem Einfluss, Prestige, Titeln, z. T. auch Gütern) verschaffen; seine Inhaber sind jedoch machthierarchisch den Besitzern unfangreichen ökonomischen Kapitals untergeordnet. Entscheidend ist nun, dass dieses Verhältnis der Kapitalsorten zwar grundsätzlich feststeht, aber keinesfalls statisch ist. Vielmehr kommt es zu Schwankungen und Auseinandersetzungen darum, wie sich der momentane Kurs etwa des kulturellen zum ökonomischen, oder des sozialen zum kulturellen Kapital verhält – die Kapitalsorten besitzen einen Wert, der sich immer als im Vergleich zu anderen Kapitalsorten relativer Wert bestimmen lässt: Das zeigt sich etwa an dem im Verhältnis zu Wirtschaftsvertretern stärkeren oder schwächeren Einfluss von Intellektuellen oder Wissenschaftlern auf politische Entscheidungen (kulturelles – ökonomisches Kapital) oder daran, dass soziale Beziehungen (‚Vitamin B‘) für wissenschaftliche oder künstlerische Karrieren gegenüber fachlicher Qualifikation höhere oder geringere Bedeutung besitzen können (kulturelles – soziales/politisches Kapital2). Die Verhandlungen und Kämpfe, die diese Schwankungen begleiten, bilden das Feld der Macht, den Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Posi-

2

Den Begriff des politischen Kapitals als einer eigenen, dem sozialen Kapital eng verwandten Form (bzw. des politischen Feldes als Unterfeld des sozialen Feldes) hat Bourdieu in Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2001, ausgeführt. Vgl. hierzu auch Zapata Galindo, Martha: Der Preis der Macht. Intellektuelle, Staat und Demokratisierungsprozesse in Mexiko 1968–2000, Berlin: edition tranvia, 2006.

Das Werden der Literatur

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tionen in den unterschiedlichen Feldern (insbesondere dem ökonomischen und dem kulturellen) zu besetzen.3

Und innerhalb dieses Macht-Feldes situiert sich nun das Feld der kulturellen Produktion mit seinen Teilfeldern wie etwa der Literatur, der Bildenden Kunst oder der Musik. Es ist einerseits extern bestimmt, insofern seine Akteure und Institutionen, seine Dynamiken und Kämpfe dadurch charakterisiert sind, dass sie innerhalb des sozialen Raumes beherrschte Herrscher sind; Herrscher, weil sie über Möglichkeiten verfügen, kraft ihres kulturellen Kapitals (also in Form von Titeln, Wissen oder erworbenen Fähigkeiten geronnener (Kultur-)Güter) den Verlauf sozialer Prozesse mitzubestimmen und zu lenken; beherrscht, weil sie dabei an Einfluss dem herrschenden Pol des Machtfeldes unterlegen sind. Als beherrschte Herrscher befinden sie sich am dominierten Pol des Macht-Feldes. Andererseits kommt es jedoch mit dem 19. Jahrhundert zu einem historischen Prozess, in dem es den kulturellen Produktionsfeldern gelingt, den Einfluss der externen Bestimmungen (z. B. politischer Zensur oder direkter finanzieller Abhängigkeit von Mäzenen) auf ihre Praktiken einzudämmen4; er bleibt aber als Horizont erhalten, über den hinauszugehen unmöglich ist. Dieser Prozess der relativen Autonomisierung der Felder führt zu der erwähnten paradoxen Struktur: Aus der Not eine Tugend machend, erklären die Künstler das (partielle) Fehlen ökonomischer Ressourcen zum eigenen Wert, zu einem anti-ökonomischen Maßstab der Produktion, die gerade durch den verkündeten und zur Schau gestellten Verzicht auf ökonomische Interessen zum kulturell 3 4

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 342. Die Diskussion darüber, wann genau dieser Prozess anzusetzen ist und zu welchem Zeitpunkt die Entwicklung der einzelnen Elemente der Autonomie einsetzt, verläuft kontrovers: Einerseits finden sich Elemente der Autonomie bereits in der Frühen Neuzeit (vgl. etwa Stockhorst, Stefanie: „Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung“, in: Markus Joch und Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 55–71), andererseits entstehen die für die Autonomie des Feldes entscheidenden Voraussetzungen eines funktionierenden Verlagswesens und Buchmarkts erst im 19. Jahrhundert; Joch, Markus: „Ein unmöglicher Habitus. Heines erstes Pariser Jahrzehnt“, in: Markus Joch und Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 137–158 deckt auf, dass der von Bourdieu an Zola festgemachte Habitus des modernen Intellektuellen – in dem sich eine feldexterne politische Macht manifestiert, die dem Intellektuellen aufgrund, und zwar allein aufgrund, von feldinterner Anerkennung zuteil wird – schon Heine auszeichnete. Bourdieu selbst verweist darauf, dass es ihm nicht um eine eindeutige zeitliche Festlegung geht: Es bestehe „kein Zweifel daran, daß man die ersten Anfänge so weit vorverlegen kann, wie man nur will“ (Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 407) und in diesem Zusammenhang verweist er auf Francis Haskell, der schon im Barock „die allmähliche Herausbildung eines seinen eigenen Normen gehorchenden künstlerischen Feldes und das Auftauchen einer sozial deutlich unterschiedenen Kategorie von Berufskünstlern nach[weist], die immer mehr dazu neigen, keine anderen Regeln gelten zu lassen als die einer spezifischen Überlieferung, die sie von ihren Vorläufern empfangen haben“ (ebenda), einsetzt.

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Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis

‚reinen Wert‘5 wird. So werden eine neue Dynamik und damit ein eigener, nach autonomen Gesetzen ablaufender Prozess möglich, der durch die Herausbildung eines polaren Gegensatzes ein Feld eröffnet. Dadurch erklärt sich auch, dass die verschiedenen Unterfelder des kulturellen Feldes ein geringer Grad an Institutionalisierung kennzeichnet. Denn der Mechanismus relativer Autonomie gelangt dann zu seiner vollen Entfaltung, wenn die ‚Freiheit‘ der künstlerischen Praxis über die Schulbildung qua Institutionen – zumindest potentiell – triumphieren kann.6 Die immer wieder als Freiheit sich artikulierende relative Autonomie der kulturellen Felder und ihre geringe Institutionalisierung ziehen Akteure an, für die eine solche Freiheit sich als Herausforderung von einem gesicherten Ort aus darstellt oder als Ausweg aus einer prekären Situation erscheint. Weil „das literarische und künstlerische Feld einer der unsicheren Orte des sozialen Raums ist, weil es nur vage Positionen bietet, die eher zu gestalten als schon fertig ausgestaltet sind, weil es äußerst wenig festgelegt und an wenig Voraussetzungen gebunden“7 ist, tummeln sich darin besonders selbstsichere Akteure ebenso wie ausgeschlossene und Absteiger – „Menschen, die ihre nicht ganz gesicherte, widersprüchliche soziale Identität gewissermaßen dazu prädisponiert, die widersprüchliche Position eines Beherrschten unter den Herrschenden einzunehmen“8. Und die politischen, ökonomischen und kulturellen Umbrüche der Weimarer Zeit bringen bekanntlich viele solcher Menschen hervor, denen ihre soziale Position widersprüchlich geworden ist. Eine wichtige Rolle für die Vorgänge des Feldes spielt das Verhältnis, in dem feldinterne und -externe Faktoren die Praktiken der Feldakteure bestimmen. Es handelt sich nämlich um ein Verhältnis der doppelten Vermittlung: Die Autonomie der Praktiken ist eine conditio sine qua non jeglicher feldinterner Handlung. Dabei ist das „Ausmaß an Autonomie, über das ein Feld verfügt, [...] am Übersetzungs- oder Brechungseffekt zu messen, den seine spezifische Logik externen Einflüssen oder Anforderungen zufügt“9. Nur die Kenntnis der Spezifiken der Feldgeschichte und damit der legitimen Übersetzungstechniken versetzt einen Akteur in die Lage, Aussagen, Werke oder Handlungen hervorzubringen, die vom Feld als spezifische Praktiken ‚erkannt‘ und damit ‚anerkannt‘ werden können. Ist dies nicht der Fall, disqualifiziert sich der Akteur in den 5 6

7 8 9

Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 224ff., 382ff. Als Paradebeispiel hierfür kann Manet gelten: Er „vernichtet die bloße Möglichkeit der Bezugnahme auf eine oberste Autorität, ein letztinstanzliches Gericht“ (ebenda, S. 216), wie es etwa die Akademien darstellten – und er tut dies, indem er eine deren Konventionen gezielt überschreitende, „freie“ malerische Praxis inauguriert, die „die gesellschaftlichen Fundamente des starren und absoluten Blickpunkts des künstlerischen Absolutismus [vernichtet] (wie er auch die Vorstellung von einer privilegierten Lichtquelle zerstört)“ (ebenda). Ebenda, S. 358. Ebenda, S. 359f. Ebenda, S. 349. Hervorhebung im Original.

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Augen der Feldakteure von selbst – was sich in Form eines expliziten Ausschlusses (durch Lächerlichmachen oder einen vernichtenden Verriss) oder impliziter Ignoranz (Nichterwähnung, Schweigen) ihm gegenüber äußert. Das Relative der Autonomie, d. h. ihre Abhängigkeit vom sie umgebenden Feld der Macht, ist jedoch nie ganz aufgehoben: So sehr er dies leugnen mag, der Künstler bzw. seine Produktion bleiben von den herrschenden ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen abhängig, die Verbindung zu den feldexternen gesellschaftlichen Prozessen bleibt als Hintergrund immer präsent. Insofern die relativ autonomen Akte des Feldes keine andere Absicherung besitzen als ihre eigene, historisch allmählich herausgebildete und stabilisierte Geschichte, bleibt die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Konstellationen des sozialen Raumes dem Feld eingeschrieben. Die Differenzen feldexterner Positionen (etwa im Feld der Macht) haben – über die Homologie-Wirkungen – ihre feldinternen Spuren hinterlassen, die bis in die Struktur aktueller Positionen sichtbar bleiben: „Allgemein ist davon auszugehen, daß die ursprüngliche Differenzierung, ohne die ein Produktionsraum nicht als Feld funktionieren könnte, ganz der Diversität des Publikums geschuldet ist“10. Dabei ist das Publikum in einem weiten Sinne zu verstehen als die Summe all der Akteure, bei denen die Aktivitäten des Feldes auf Resonanz stoßen – egal ob dies als Ablehnung, Bekämpfung, Zustimmung, nüchterne Rezeption oder Sympathie geschieht. Die heteronome historische (Be-)Gründung der Feld-Autonomie ist nicht ein in der Vergangenheit zurückgelassenes und überwundenes Stadium der Feldgeschichte – sondern ihre stets präsente Gegenwart, das Fundament ihrer Zeit und die Bedingung ihrer Geschichte. Die Prägung der Praktiken sowohl durch feldinterne als auch durch feldexterne Faktoren stellt ein zentrales Moment des Feldmechanismus dar, das die Paradoxien der kulturellen Praktiken (die hierarchische Umkehrung der Pole) und die Herrschaftsverhältnisse des Macht-Feldes unauflöslich miteinander verwebt. Innerhalb dieses Gewebes wahrt der herrschende Pol des sozialen Raums seine Vormacht11 – ohne jedoch die paradoxen Mechanismen des beherrschten Poles und seiner Felder determinieren zu 10 11

Ebenda, S. 397. Dies ist ein sehr wichtiger und in der deutschen Bourdieu-Rezeption oft vernachlässigter Aspekt, der insbesondere an der wiederholt beschworenen Vereinbarkeit von Feld- und Systemtheorie (Luhmann’scher Prägung) zweifeln lässt; letztere akzentuiert in der Relativen Autonomie ungleich stärker die Autonomie, mit wichtigen theoretischen und politischen Folgen. Zurecht betonen Joch/Wolf, dass es „[f]ür die Feldtheorie [...] weder einen glatten Selbstlauf sich ausdifferenzierender Kommunikationssysteme wie Kunst, Wissenschaft, Politik, noch in sich stabile, endgültige Leitdifferenzen [gibt]. Stattdessen beobachtet sie einerseits die konkreten Abgrenzungskämpfe der Literatur gegenüber den Zwängen des Marktes, der politischen Parteien, der Religion, des Journalismus, andererseits die feldkonstitutiven internen Auseinandersetzungen, die je nach Problemlage zu historisch instabilen, wechselnden Oppositionen führen“ (Joch, Markus und Norbert Christian Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: Markus Joch und Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2005, S. 1–24, hier: S. 12).

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Pierre Bourdieus Theorie literarischer Praxis

können. „Die internen Kämpfe werden gewissermaßen durch externe Sanktionen entschieden. Obgleich die Kämpfe innerhalb des literarischen (usw.) Feldes von diesen in ihrem Prinzip (das heißt in den sie bestimmenden Ursachen und Gründen) weitgehend unabhängig sind, hängt doch ihr glücklicher oder unglücklicher Ausgang stets von der Entsprechung ab, die sie mit externen Kämpfen (solchen innerhalb des Macht-Feldes oder des sozialen Feldes in seiner Gesamtheit) verbinden können“12 In einer Umkehrung der externen Verhältnisse wird der machthierarchisch beherrschte Pol der reinen, auf kulturelles Kapital ausgerichteten Produktion zum herrschenden Prinzip der künstlerischen und literarischen Praktiken. Ihr gegenüber ist der Pol der ökonomisch erfolgreichen, weil den Konsumbedürfnissen feldexterner Akteure gemäßen Kunst- und Literatur-Produktion unterlegen, was die feldinterne Anerkennung betrifft. Und so „organisiert sich das literarische Feld tendenziell nach zwei unabhängigen, aber hierarchisch gestaffelten Unterscheidungsprinzipien: Der Hauptgegensatz – zwischen der reinen Produktion [...] und der Massenproduktion [...] – reproduziert den fundierenden Bruch mit der ökonomischen Ordnung, der dem Feld der eingeschränkten Produktion zugrunde liegt“.13 Weil es sich aber auch hier um ein agonales Verhältnis handelt, das zwar – einmal historisch auskristallisiert – Bestand hat und so das Fortbestehen des Feldes absichert (durch Überwachung der Grenzen, Sanktionen von Regelverletzungen), jedoch keineswegs ein statisches Verhältnis ist, kommt es zu einem weiteren, sekundären Gegensatz innerhalb des herrschenden Poles der reinen Produktion. Dieser sekundäre Gegensatz macht die verschiedenen herrschenden Positionen innerhalb des spezifischen Feldes kultureller Produktion zu Oppositionen. Er entwickelt sich zwischen jenen um die Vorherrschaft kämpfenden ‚tonangebenden‘ Akteuren, die über die symbolische Macht verfügen, zu erklären, was als reine Produktion gelten darf, und zu entscheiden, welche Künstler, Autoren und Gruppen mit ihren Werken den Anforderungen und Eigengesetzlichkeiten des Feldes in dem Maße genügen, dass ihnen Zutritt zu Institutionen, Diskussionen, sozialen Netzen und Verbreitungsmedien gewährt wird (wobei letztere wiederum selbst darum bemüht sind, diese Zugehörigkeit zum Feld, die sie selbst gewähren, nicht zu verlieren). Wie die Herrschenden innerhalb des Macht-Feldes sich durch den Besitz an ökonomischen Gütern und politischem Einfluss auszeichnen, heben sich auch die Herrschenden innerhalb der kulturellen Felder durch die Verfügung über Kapitalsorten hervor. Diese sind jedoch vorwiegend kulturel12

13

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 400. Hervorhebungen im Original. So irren etwa Kuzmics und Mozetic, wenn sie den Themen der klassischen Literatursoziologie im Rahmen der Feldtheorie wenig Bedeutung beimessen: „[V]on keinem besonderen Interesse sind die Erforschung des Lesepublikums [...] wie Analysen des Verlagswesens oder der Einfluß der Neuen Medien auf die Rezeption von Literatur.“ (Kuzmics, Helmut und Gerald Mozetic: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2003, S. 35) Das sind sie für die Feldtheorie sehr wohl, aber eben nur als mit anderen feldinternen wie -externen Elementen vermittelte Faktoren, die die homologen Strukturen der Macht ausmachen. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 198.

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ler Natur: Wissen über in der Geschichte des Feldes bedeutsame Phänomene, Techniken kultureller Produktion, Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Entzifferung feldspezifischer Codes. Dazu können aber durchaus auch institutionalisierte Formen des Besitzes an kulturellem Kapital (wie Auszeichnungen, Preise oder der Zugang zu Stellen) oder sogar der Erwerb eines größeren ökonomischen Kapitals kommen. Letzteres geht – gemäß der Logik der kulturellen Produktion – jedoch einher mit dem drohenden Verlust an kulturellem Kapital. Die „Anerkennung“ einer herrschenden kulturellen Position durch Konsekrationsinstanzen (v. a. die Verleihung offizieller Preise), die Bildung von Schulen und Anhängerschaften, die Auslegung von Werken durch Kritiker, u. a. erhöhen nämlich den Bekanntheitsgrad, vermehren die Mittel zur Aneignung einer bestimmten avantgardistischen Praxis und vereinfachen damit den Zugang zu einer ehedem exklusiven Produktion, die nur einem kleinen Kreis von gut informierten Eingeweihten ‚verständlich‘ oder überhaupt bekannt war. Als Folge sinkt der kulturelle Wert, und zwar nicht nur als direkte Auswirkung der eventuellen Zunahme ökonomischer Profite, sondern auch als indirekter Effekt parallel dazu, weil die zunehmende Konsekration innerhalb des Feldes die Autoren zugänglich macht14 und somit einen Raum des Möglichen öffnet für neue Positionierungen, die die zur Herrschaft gelangte, anerkannte und konsekrierte Position angreifen. Ob diese Angriffe erfolgreich sind, ist nun wiederum abhängig von ihrer Fähigkeit, sich innerhalb des Feldes Gehör zu verschaffen (gegen die anerkannte Herrschaft der „arrivierten Avantgarden“ oder „Arrièregarden“15, aber zugleich in Abhängigkeit von ihnen), also in spezifische Diskussionen und Handlungszusammenhänge einzutreten und gleichzeitig – über strukturelle Homologien – Gehör bei einem Publikum zu finden (also Allianzen zu feldexternen Positionen des sozialen Raums zu knüpfen, um Zugang zum Feld der Macht zu erhalten). Die junge Avantgarde, die weder über institutionalisiertes kulturelles Kapital noch über größere ökonomische Mittel verfügt, macht wiederum aus dieser Not eine Tugend: Ihre Chance besteht darin, die Funktionsmechanismen des kulturellen Feldes, ihre relative Autonomie, in Erinnerung zu rufen, indem sie sie auf neue Art und Weise inszenieren. Sie berufen sich also auf die Merkmale der kulturellen Reinheit: ihre Unabhängigkeit von, ja sogar ihren Gegensatz zu ökonomischem Besitz, ihre Exklusivität (die sich oft als Unverständlichkeit für und Ablehnung durch andere feldinterne wie -externe soziale Akteure äußert) und ihren Bruch mit der Tradition. Dieser Bruch vollzieht sich jedoch als ein geheimes, den Akteuren zumeist nicht bewusstes Einverständnis mit ebendieser Tradition (in die die herrschenden Avantgarden durch die Konsekration teilweise eingegangen sind): Denn er kann als Bruch nur erfolgreich sein, d. h. von den 14

15

„Die das Feld der Produktion beherrschenden arrivierten Autoren suchen nun nach und nach sich auch auf dem Markt durchzusetzen und werden in dem Maße immer lesbarer und verständlicher, wie sie sich in einem mehr oder weniger langen Prozeß des Vertrautwerdens, das mit spezifischen Initiationsübungen einhergehen kann, banalisieren.“ (ebenda, S. 257) Ebenda, S. 255.

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Vertretern und den übrigen ‚Kennern‘ der Tradition ernst genommen werden, wenn er die Kenntnis der Geschichte signalisiert, in die er eintreten möchte, indem er sie ‚bricht‘. Der feldintern immer wieder neu auflebende Kampf zwischen arrivierten Avantgarden und neuen Avantgarden unterwirft das Feld einem ständigen Wandel: Insofern es einigen der Akteure gelingt, durch ihren Bruch mit bestehenden avantgardistischen Formen der reinen Produktion eine eigene avantgardistische Position zu begründen und durchzusetzen – also eine spezifische Revolution durchzuführen – entstehen in der Geschichte des Feldes immer wieder Einschnitte und neue Episoden, die zu einem Teil der Geschichte werden und damit die Gestalt des Feldes, wie sie zukünftige Akteure prägen wird, weiterentwickeln, bewahren und verwandeln. Dabei ist diese in historischen Zeiten – den ‚Epochen‘ – sich niederschlagende Dynamik des Feldes, die „Dialektik der Distinktion“16, nicht als ein nach Naturgesetzen abrollender zyklischer Prozess zu verstehen: Nicht die Zeit schafft das Neue, sondern das Neue die Zeit, „es ist [...] der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein“17. Erst die Wahrnehmung der Akteure verwandelt – vermittelt über die feldspezifische doxa18 – den durch den Kampf herbeigeführten geschichtlichen Wandel in einen essentialisierten Vorgang, der zumeist über das Muster der biologisch notwendigen Abfolge von Generationen ausgedrückt wird. Bourdieu führt aus, dass sich „das Aufkommen einer ausgeprägten Tendenz, die gesamte soziale Ordnung mittels des Schemas der Trennung in Generationen zu denken (jener Logik gemäß, der zufolge die Intellektuellen nur allzuoft Merkmale, die ihren ureigenen Mikrokosmos betreffen, auf die Gesamtheit der sozialen Welt ausdehnen), auf die Jahrhundertwende verlegen läßt: Es ist in der Tat jener Moment, in dem sich diese Trennung tendenziell auf das gesamte Feld der Kulturproduktion ausweiten läßt.“19 16 17

18

19

Ebenda, S. 205. Ebenda, S. 253. Mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer schnelleren Auftauchen und Verschwinden neuer Avantgarden kommt es demzufolge um 1900 zu einer extremen Beschleunigung der Zeit im Feld der Kultur. Die doxa bezeichnet die Notwendigkeit, sich den beschränkten oder geblendeten Blick der Feldakteure anzueignen, für den der Kampf um die im Feld verhandelten Werte dermaßen in den Mittelpunkt ihres Interesses (ihrer Lebensvollzüge) rückt, dass sie die Relativität des Feldes und die Tatsache, dass seine „autonomen“ Werte nicht die von allen geteilten und angestrebten Werte sind, zumeist völlig ausblenden: Aus der – relativen – Autonomie des Feldes wird in der Wahrnehmung ein absolutes Feld. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 205f. „Ihren prototypischen Ausdruck findet diese Theorie der Generationen, die zu einer anerkannten ‚Methode‘ in der Literatur (mit der Untersuchung von ‚literarischen Generationen‘) und in der Politik (‚politische Generationen‘) geworden ist, im Buch von François Mentré, Les Générations sociales, Paris 1920. Darin wird der Begriff der ‚sozialen Generation‘ als eine ‚geistige Einheit‘ entwickelt, die sich aus einem ‚kollektiven Zustand‘ herausbildet.“ (ebenda, S. 206)

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Ein Bourdieu vermeintlich so wenig nahestehender Denker wie Harold Bloom bietet mit seiner psychoanalytisch inspirierten Theorie der „Anxiety of influence“20 ein durchaus geeignetes Modell, um die Mechanismen der permanenten Revolution zu fassen. Diese Mechanismen, laut Bourdieu von den Akteuren im Modus der Generationen wahrgenommen, sind darauf angelegt, ein ödipales Setting zu perpetuieren. Durch (literarischen) Mord am (geistigen) Vater erst verschaffen sich die Rollen von Vater (arrivierter Avantgarde) und Sohn (junge Avantgarde) ‚Anerkennung‘ im Bourdieu’schen Sinne: „The strong poet fails to beget himself – he must wait for his son, who will define him even as he has defined his own Poetic Father.” 21 Insbesondere die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts beschleunigen nicht nur die geschichtliche Zeit durch eine immer schnellere Abfolge neuer Avantgarden, sondern treiben die Autonomie des Feldes voran, indem sie die Maßstäbe kultureller Reinheit erhöhen. Die Unerreichbarkeit und Unverständlichkeit reiner (Hoch-)Kultur für Nicht-Experten wird zunehmend verschärft. Das Feld schließt sich um sich selbst, insofern das für die Rezeption der Werke notwendige Wissen um die Geschichte des Feldes immer umfangreicher wird und Techniken der Referenz und des Zitierens dieser Geschichte komplexer und ausgiebiger eingesetzt werden.

1.2 Das Wesen der Literatur Laut dem Philosophen James Carse gibt es zwei Spiele, die wir Menschen spielen: endliche und unendliche. In endlichen Spielen spielen wir nach einem bestimmten Regelwerk, um zu gewinnen. In unendlichen Spielen spielen wir mit ständig wechselnden Regeln – um weiterzuspielen. Der Markt versucht die Literatur zu einem endlichen Spiel zu machen, mit Preisen, Verkaufszahlen, wer gewinnt. Das ist sie aber nicht. Tatsächlich sitzt man zu Hause und spielt weiter, erfindet weiter. Der Hauptgrund zu schreiben ist doch weiterzuschreiben.22

Entgegen der oft geäußerten Annahme, die soziologische Analyse literarischer Werke bleibe dem ‚Eigentlichen‘ der Literatur gegenüber indifferent und könne lediglich Aussagen über Kontexte, nicht aber Einblicke in Texte liefern, zeigt Bourdieu in seinen Regeln der Kunst, dass dies durchaus der Fall ist. Die zunehmende Ausdifferenzierung der autonomen literarischen Praktiken verläuft nämlich – infolge der Auseinandersetzung im Feld – ganz entscheidend über Positionierungen des Schreibens und Lesens, d. h. über textimmanente Strukturen. Das Verdienst, den Gegensatz von Form und Inhalt sowie von Text und historischem resp. sozialem Kontext als einen falschen Gegensatz bloßgestellt zu haben, schreibt Bourdieu Gustave Flaubert zu. Gemäß der Maxime, 20 21 22

Bloom, Harold: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York: Oxford University Press, 1973. Ebenda, S. 37. Powers, Richard: „Der Weltenvernetzer. Interview mit Tobias Rapp“, in: die tageszeitung, 2./3. Dezember 2006, S. 20, hier: S. 20.

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dass das Feld sich nicht anders als historisch begründen kann, lässt sich an Flaubert zeigen, dass erst die Versöhnung von semantischen und poetologischen Aspekten des Schreibens das Gesetz jenes relativ autonomen Spiels aufzustellen erlaubt, dem die Akteure moderner Literatur verfallen sind. Wenn Flaubert das Erbe von realistischer und formalistischer Tradition antritt und beide zusammenführt, vollzieht er einen Übergang, der weit mehr ist als der Schritt hin zu einer weiteren historischen Epoche – er ist der Quantensprung, der moderne Literatur zu sich kommen lässt: Die Beobachtung des Alltäglichen, Banalen, Minderwertigen – zentrales Anliegen und Merkmal realistischer Literatur – erfolgt mit höchster Kunstfertigkeit – wie sie die Formalisten zelebrieren und verehren. Flaubert ‚überwindet‘ damit die moralisch-essentialisierenden Einseitigkeiten des Realismus wie den Idealismus der Formalisten, wenn „er genausoviel Antipathie für den falschen Materialismus eines Realismus, der das Wirkliche nachahmen will, aber dessen wahren Stoff verkennt, nämlich die Sprache, die ein dieser Bezeichnung würdiges Schreiben als ein mit Sinn behaftetes Klangmaterial behandelt (‚das Brüllzimmer‘), wie für den geklitterten und wohlfeilen Idealismus der bürgerlichen Kunst“23 hegt. An deren Stelle setzt er ein „Programm, das sich in der Formel ‚das Mittelmäßige gut (be-)schreiben‘ ankündigte [...]: Es geht um nichts anderes, als das Wirkliche zu schreiben (nicht, es zu beschreiben, nachzuahmen, es sich in gewisser Weise selbst herstellen zu lassen, eine natürliche Darstellung der Natur); das heißt zu machen, was Literatur genuin definiert, freilich in bezug auf das im plattesten Sinn wirklich, alltäglich, beliebig Wirkliche, das im Gegensatz zum Ideal nicht dafür gemacht ist, geschrieben zu werden.“24 Bourdieu kritisiert den von den Feldmechanismen erzeugten Glauben an die Transzendenz symbolischer bzw. literarischer Formen, der diese als unveränderliche Essenz, als ahistorisches Wesen des Literarischen, als überzeitliche Gattungen wahrnimmt. Und was er der Literaturwissenschaft vorwirft, ist die ungebrochene Übernahme dieses Glaubens. Er leugnet jedoch keinesfalls die zentrale Bedeutung, die der Analyse und Differenzierung der literarischen Formen für eine Sozioanalyse der Literatur zukommt. Eine Betrachtung des Literarischen, die darauf verzichtet, die textimmanenten Strukturen aufzudecken, verfehlt notwendigerweise die Wahrnehmung dessen, was auch für eine Auseinandersetzung mit den sozialen Prozessen des Feldes zentral ist: die Darstellungsebene. Denn „[d]ie gesellschaftliche Konstruktion autonomer Produktionsfelder geht einher mit der Konstruktion spezifischer Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien der natürlichen und sozialen Welt [...] das heißt mit der Erarbeitung eines genuin ästhetischen Wahrnehmungsmodus, der die Grundlage des ‚schöpferischen Akts‘ in die Darstellung und nicht in das Dargestellte verlegt und seine Geltung vollends im Vermögen erlangt, die niederen oder vulgären Objekte der modernen Welt zu ästhetisieren.“25 23 24 25

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 158. Ebenda, S. 160. Ebenda, S. 215.

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Der historische Prozess der Ausdifferenzierung eines modernen literarischen Feldes wird also von der Herausbildung eines eigenen literarischen ‚Sinnes‘ begleitet, der wie das Feld seine eigene Geschichte in Gang setzt. Die Akteure des Feldes betreiben nämlich auf ihrer Suche nach den im Raum des Möglichen auffindbaren Positionierungen selbst eine Art historischer Analyse der Gattungs-, Stil- und Kompositionsmerkmale, die das Literarische auszeichnen: Die zunehmende Autonomiegewinnung des Feldes „geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung der künstlerischen Ausdrucksformen und einer fortschreitenden Aufdeckung der Form, die einer jeden Kunst oder Gattung genuin zukommt“26. Diese Analyse vollzieht sich vornehmlich über Negationen, die – auch hier gemäß dem Prinzip struktureller Homologie – mit der Ablehnung der traditionellen Feld-Positionen und ihrer Inhaber auch die dazu homologen ästhetischen Positionierungen – Stile, Sprachen, Gattungen, Techniken – zumindest partiell als überkommen zurückweisen. Erstaunlicherweise produzieren die Akteure also tatsächlich so etwas wie ein ‚Wesen des Literarischen‘: Indem sie immer wieder versuchen, Stilprinzipien oder Gattungsmerkmale als überholt darzustellen und damit verzichtbar zu machen, arbeiten sie an einer ‚Reinigung‘ des Literarischen – sprich: an der Herauspräparierung der Mechanismen, die als eigentlich literarische übrigbleiben, wo das Verzichtbare historisch über Bord geworfen wird. Wenn z. B. die Dichter Lyrik ohne Reim komponieren oder die Schriftsteller Romane ohne ‚Romanhaftes‘ verfassen, die aber eben als Bestandteil der Geschichte der Lyrik oder des Romans ‚anerkannt‘ werden, lösen sie die Merkmale des Literarischen immer feiner auf und nähern sich damit der Gewinnung der ‚eigentlich‘ literarischen Substanz. Indem die Geschichte der Lyrik in zahlreichen „Revolutionen Verfahrensweisen, die ihren konventionellen Charakter durch ihre Abgenutztheit eingestehen, aus dem Universum der legitimen Lyrik verstieß, trug sie gewissermaßen zu einer Art historischer Analyse der dichterischen Sprache bei, die ganz spezifische Verfahren und Effekte wie den Bruch mit dem phonosemantischen Parallelismus herauszuarbeiten versucht“27. Genauso kann „[d]ie Geschichte des Romans [...] mindestens seit Flaubert auch als eine lange Arbeit an der Aufgabe beschrieben werden, ‚das Romanhafte zu töten‘, wie Edmond de Goncourt sagte, das heißt, den Roman von all dem zu reinigen, was ihm eigen scheint, die Intrige, die Handlung, der Held [...]. Dieser ‚reine‘ Roman erfordert evidentermaßen eine neue Lektüre, verlangt eine Lesehaltung, wie sie bisher der Lyrik vorbehalten war – ihr ‚idealer‘ Grenzfall ist die scholastische Übung der Entzifferung oder der auf wiederholter Lektüre aufbauenden Nachschöpfung. [...] Der ‚reine‘ Roman ist Produkt eines Feldes, in dem sich die Grenze zwischen Kritiker und Schriftsteller verwischt; letzterer theoretisiert um so besser über seine eigenen Romane, als diese bereits den Roman und seine Geschichte reflektieren und kritisieren, wobei sie unaufhörlich seinen Fiktionscharakter in Erinnerung rufen.“28 26 27 28

Ebenda, S. 223. Ebenda, S. 381. Ebenda, S. 381f.

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Die hermeneutischen Widerstände, die sich einer einfachen und uninformierten Lektüre damit in den Weg stellen und die das ‚Wesen des Literarischen‘ für das 19. Jahrhundert charakterisiern, sind Ergebnis dieser historischen (Selbst-)Analyse und Reinigung. Und das 20. Jahrhundert wird dann erneut die Literatur durch „Unverständlichkeit“29 reinigen: Nicht mehr die vermeintliche Beherrschung hermeneutischer Komplexitäten, sondern das Eingeständnis genuiner Unverständlichkeit, wie sie avantgardistischen Texten eignet, öffnet den Zugang zum Wesen des Literarischen und damit zum Feld. Die „Unverständlichkeit“ setzt im Verlauf der Geschichte des autonomen Feldes dem Verstehen von avantgardistischer Literatur immer größere Widerstände entgegen. Moritz Baßler hat diese „Unverständlichkeit“ als Signum der modernen literarischen Avantgarden herausgearbeitet und dabei nicht nur auf einer Ebene der zunehmenden hermeneutischen Unzugänglichkeit angesetzt. Es handelt sich um mehr als eine die spezifischen Wissensbestände der Feldgeschichte betreffende Schwierigkeit des Verstehens, nämlich um eine den literarischen Text der Avantgarde per se auszeichnende performative Unmöglichkeit des Verstehens. Das literarische Feld tritt ein in eine „Zeit avantgardistischer Experimentier- und Entdeckerfreude mit Texten und Schreibweisen, die vor allem eins sein mußten: neu, anders als alles Bisherige, und das hieß [...] zunächst einmal: unverständlich.“30 Im Sinne Bourdieu lässt sich diese grundsätzliche Unverständlichkeit zugleich auch als ein Prozess der ‚reinigenden‘ Konzentration auf die Spezifika des literarischen Textmediums begreifen, auf die Eigenart der „Textur“: Als solche bezeichnet Baßler „‚das sprachliche Material in seiner spezifischen Verknüpfung‘ ohne strukturierende Momente, die den hermeneutischen Zugriff auf Literatur lenken. In texturierter Literatur steht die Materialität des Textes im Vordergrund, globale inhaltliche Aussagen erübrigen sich. [...] Texte ‚ohne konsistente Strukturen‘, die den ‚Interpreten [...] auf ihre Textur, auf den Stoff, aus dem sie gemacht sind, auf das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind‘ verweisen, werden ebenfalls verkürzt Texturen genannt. Textur heißt also erstens die materiale Seite des Textes und zweitens – vereinfacht – der Text selbst, sofern eine Reduktion auf diese materiale Seite einen sinnvollen hermeneutischen Zugang erschwert oder verhindert.“31 Daraus ergibt sich eine wichtige methodische Folge: Die von Bourdieu – ob ihres weitgehend ahistorischen Zugriffs auf literarische Texte – so heftig kritisierte dekonstruktivistische Lektüre ist damit, wie er selbst nahelegt, für die historische Analyse der klassischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts ein fruchtbarer Ansatz: Waren es im 19. Jahrhundert die „Symbolisten, die [...] jegliche Transzendenz des Signifikats gegenüber dem Signifikant in Abrede stellten“32 und damit die moderne Krise des Zei29 30 31 32

Vgl. Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1994. Ebenda, S. 12. Baßler, Moritz et al.: Historismus und literarische Moderne, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1996, S. 32. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 222.

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chens für alle nachfolgenden Generationen zum unumgänglichen Bestand der Feldgeschichte machten, zu einem Problem, hinter das nun nicht mehr naiv zurückzugehen war, so gehen die klassischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts noch einen Schritt darüber hinaus: „Die Entwicklung des Feldes der kulturellen Produktion in Richtung auf größere Autonomie geht mit der in Richtung auf erhöhte Reflexivität einher, die jedes [sic!] der ‚Gattungen‘ zu einer kritischen Besinnung auf sich selbst, seine eigene Grundlage, seine eigenen Voraussetzungen führt: Immer häufiger schließt das Kunstwerk – vanitas, die sich als solche bezichtigt – etwas wie Selbstverhöhnung ein.“33 Gerade die Dekonstruktion liefert die geeigneten Analysemittel für in diesem Sinne unverständliche Texte bzw. Texturen, indem sie die „vanitas, die sich als solche bezichtigt“, als „Unlesbarkeit“ im Sinne de Mans auf der Rezeptionsebene der „Allegorien des Lesens“ verdoppelt: „‚Lesen‘ ist eine Allegorie der Unlesbarkeit. Und zwar eine Allegorie, die die Aporie ihrer Operation nicht zur Einheit eines Aktes aufheben kann, in dem sich das Verstehen seiner Unmöglichkeit gewiß sein und auf dieser Gewißheit eine neue, eine negative Hermeneutik des ‚freien Spiels‘ der Assoziationen errichten könnte, sondern diese Aporie als fortgesetzte Diskrepanz zwischen dem notwendigen Projekt und dem unmöglichen Akt des Lesens artikuliert – eine ironische.“34 Die dekonstruktivistischen Techniken des de Man’schen „Lesens“ erlauben es, den Brüchen und Katachresen des modernen avantgardistischen Schreibens nicht auszuweichen und so dem Gesetz des Feldes nachzugehen. Die rhetorischen Figuren der Allegorie und der Ironie, von Paul de Man – wenn auch weitgehend ahistorisch – als Modell eines dekonstruktivistischen Verständnisses von Lektüre verwendet, betreiben „eine Form der Entmystifizierung der mimetischen und repräsentativen Redeweisen, die sich in der Rhetorik des Symbols und der Metapher verdichten“ und „dementier[en] jede Anstrengung, eine Aussage zum getreuen Abbild einer Intention und derart zum Garanten von deren Mitteilbarkeit zu machen, als illusorisch“35. Auf Textebene ermöglichen erst die Allegorien des Lesens das unendliche (Weiter-)Spielen des literarischen Spiels, gemäß den Freiheits-Regeln des literarischen Feldes: Denn auch im Kern von Bourdieus Feldgesetzen steckt – den Akteuren des Feldes zumeist unbewusst und von ihnen verdrängt, verleugnet oder verschoben – ein transzendentes Nichts. „Was das Bewußtwerden der Logik des Spiels als solchen angeht und der illusio, die ihm zugrunde liegt, so habe ich lange geglaubt, daß es gewissermaßen per definitionem dadurch ausgeschlossen sei, daß derlei Luzidität aus der literarischen oder künstlerischen Unternehmung einen zynischen Betrug oder einen bewußten Schwindel machen müßte – bis ich endlich einen Text genau las, in dem Mallarmé durchaus deutlich, wenn auch in dunklen Worten, die objektive Wahrheit der Literatur als auf kollektiven Glauben gegründete Fiktion formulierte und zugleich unser 33 34 35

Ebenda, S. 384. Hervorhebung im Original. Hamacher, Werner: „Unlesbarkeit“: in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 7–26, hier: S. 17. Ebenda, S. 11.

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Recht darauf, das literarische Vergnügen gegen alles Objektivieren zu retten: ‚Wir wissen, Gefangene einer absoluten Form, daß, sicherlich, nur ist, was ist. Sofort indessen unter einem Vorwand den Köder aus dem Weg zu schaffen bezichtigte uns der Inkonsequenz, indem wir den Genuß verleugneten, auf den wir aus sind: denn dies JENSEITS ist sein Agens und der Motor, möchte ich sagen, wenn mir nicht widerstünde, es öffentlich zu unternehmen, ruchlos die Fiktion zu demontieren und folglich den Mechanismus der Literatur, um das Kernstück auszubreiten oder nichts [Kursivsetzung K. L.]. Doch ich verehre es, wie man durch List und Schwindel in irgendeine verbotene Höhle des Blitzes den bewußten Mangel bei uns an dem, was da oben erstrahlt, hinaufprojiziert. Wozu das dient? Zu einem Spiel.‘“36 Was Bourdieu mit Flaubert zum Gesetz der historisch gewonnenen Feldautonomie erklärt – „Das Mittelmäßige gut (be-)schreiben“ – wahrt in der interessiertdesinteressierten Hinwendung zur minderwertigen und nichtswürdigen Welt „die Distanz in der Beschreibung und den Kult der Form“37. Es lässt sich somit auch als das Allegorische des von de Man zitierten Walter Benjamin fassen. Denn was die Allegorie in sich trägt, „bedeutet etwas anderes als es ist. Und zwar bedeutet es genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt“38 und artikuliert damit jenen „Diskurs, der von der (sozialen oder psychologischen) Welt spricht, aber in einer Weise, als würde er nicht von ihr sprechen; der von dieser Welt nur sprechen kann, wenn er so spricht, als spräche er nicht darüber, das heißt in einer Form, die für den Autor wie den Leser eine Verneinung – im Freudschen Sinne – dessen vollzieht, was er zum Ausdruck bringt“39. Und hier liegt vielleicht auch ein Grund für die enorme Faszinationskraft des Gesichts in der frühen Moderne, für ihre „Gesichtlichkeitsobsession“. Rudolf Kassner – mit dem Picard das Interesse an der Physiognomik sowie eine nicht immer freundschaftliche Bekanntschaft verbindet – attestiert dem Gesicht genau jenes paradoxe Verhältnis von Bedeutung und Ausdrucks-Verneinung, Vorstellung und Nichtsein, das auch die literarischen Praktiken auszeichnet – gemäß dem „große[n] Paradox jeder Physiognomik, daß der Mensch nur so sei, wie er aussehe, weil er nicht so aussieht, wie er ist.“40

36 37 38 39

40

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 433. Wo nicht anders vermerkt, Hervorhebungen und Sperrung im Original. Ebenda, S. 157. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 208. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 20. Hervorhebungen im Original. Der Literat als „Kritiker und Schriftsteller […] theoretisiert um so besser über seine eigenen Romane“ (ebenda, S. 382), je mehr er nicht nur deren Geschichte und Fiktionscharakter reflektiert und kritisiert, sondern auch die grundsätzliche Unabschließbarkeit und Unzulänglichkeit dieser Reflektion und Kritik angesichts des Textes. Kassner, Rudolf: Zahl und Gesicht. Nebst einer Einleitung: Der Umriß einer universalen Physiognomik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979 [1919], S. 16.

2 Picards Der Bürger

Der Bürger-König befahl: ‚Ich will, daß am Sonntag jeder Bürger sein Buch aus seinem eigenen Kopfe habe!‘ Denn Bücher sind Legitimationen. Durch die Bücher legitimiert sich der eine Bürger vor dem andern als ungefährlich. Man weiß nie recht, was hinter einem Menschen steckt, solange er noch kein Buch geschrieben. Die nicht originellen Bücherschreiber verschaffen sich durch das Plagiat einen Ausweis ihrer Gesinnung. Durch die Wahl des Plagiates legitimieren sie sich dann. Und die in ihrem ersten Buch originellen geben die Beständigkeit ihrer Gesinnung dadurch kund, daß sie sich in den folgenden Büchern selber plagiieren.1

Mit diesen Sätzen beginnt Picards 1914 im Verlag der Weißen Bücher erschienenes Erstlingswerk Der Bürger und damit auch sein Dasein als „Bücherschreiber“. Eine Literaturwissenschaft, die an der sakrosankten Einheit von Autor und Werk festhält und letzteres als kohärenten Entwurf konstruiert, mag darin ein zeit seines Lebens bewusst gehaltenes und verfolgtes Programm der literarischen Unbeständigkeit sehen. Doch auch ein feldtheoretisches Modell, das literarische Laufbahnen nicht als bewusst getroffene Entscheidungen konstruiert, sondern als zumeist unbewusste Bewegungen, deren Richtung von den sozialen Gravitationskräften des literarischen Feldes vorgegeben wird – ohne determiniert zu sein –, schließt eine bewusste Thematisierung der schriftstellerischen Laufbahn und ihrer feldpolitischen Strategien keineswegs notwendig aus. Und so lässt sich Picards Der Bürger, mit dem meine Auseinandersetzung mit Picards literarischen Schriften einsetzt, als eine satirische Kritik der sozial beeinflussten Kontinuitäten und Brüche, Legitimationen und Originalitäten im Werk eines Schriftstellers lesen. Die Opposition zwischen „originellen“ und „nicht originellen Bücherschreiber[n]“, aber auch die ständige Bedrohung der Schriftsteller durch die Tendenz, sich selbst oder andere Bücherschreiber zu plagiieren und damit der „Beständigkeit ihrer Gesinnung“, ja der „Ungefährlichkeit“ zu verfallen, lässt sich als Paraphrase der Mechanismen und Akteure des literarischen Feldes verstehen: Avantgarde (originell) vs. heteronomer Pol (nicht originell), aktuelle Avantgarde (in ihrem ersten Buch originell) vs. arrivierte Avantgarde (die sich in den folgenden Büchern selber plagiiert), die Spannung zwischen permanenter Revolution und ständigem Altern des Feldes (Originalität vs. Plagiat), die mit der Autonomie des Feldes einhergehenden Risiken und Gefahren (denen der Bücherschreiber durch die Konvention – die Plagiate – ausweicht, wo1

Picard, Max: Der Bürger. Wiederabdruck in: Allmende 21/22: Elster Verlag, 1988 [1914], S. 109f.

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durch er sich als „ungefährlich“ erweist, aber aus dem Kampf um die Zugehörigkeit zur jungen Avantgarde ausscheidet). Auch wenn ich die im Bürger vorgenommene Kritik am Fremd- und Selbstplagiat nicht als bewusst durchgehaltenes Programm, als Ursprung oder Keimzelle des höchst heterogenen Picard’schen Werkes verstehe, so sei doch gleich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit letzterem eines festgehalten: Zumindest dem von mir untersuchten Frühwerk bis 1929 kann man sicher nicht vorwerfen, der ‚Legitimations-Technik‘ des Plagiats zu verfallen. Wenn Picard den entscheidenden Unterschied zwischen den „nicht originellen“ oder nur in ihrem „ersten Buch originellen“ und den avantgardistischen (sprich: wiederholt originellen) Schriftstellern daran festmacht, dass letztere nicht nur dem Fremd-, sondern auch dem Selbst-Plagiat ausweichen, dann ist er der aus dieser Einsicht zu folgernden Maxime, kein Selbstplagiat zu betreiben, zumindest unbewusst gefolgt: Sein „erstes Buch“ – Der Bürger – unterscheidet sich stark von seinen späteren Schriften. Stilistisch und thematisch bildet es in mehrfacher Hinsicht einen Gegenpol zu dem, was den Großteil seines frühen, mittleren und späten Schaffens ausmacht. So stellt auch die einleitende Vorbemerkung zum Bürger in der Zeitschrift Allmende, die 1988 einen „Wiederabdruck des fast vergessenen Textes“ veröffentlichte, fest: Als repräsentativ für Picard kann ‚Der Bürger‘ freilich nicht gelten. [...] [S]o blickte er mit ‚Der Bürger‘ sozusagen ins Gesicht der herrschenden Klasse. Wie kurz dieser Blick indes war, zeigen bereits die auf ihn folgenden ‚kunsttheoretischen‘ Bücher [...], in denen Picard seinem eigenen frühen Zugriff mißtraute, weil für ihn jeder bloß innergesellschaftliche Bezug notwendig zu kurz greifen mußte.2

Und doch finden sich im Bürger nicht nur die als „Ausweis der Gesinnung“ (sprich: der Kenntnis der Felddynamiken) nötigen Anklänge und Verweise auf die zeitgenössischen Positionen, deren Stile und Topoi, sondern auch zahlreiche Andeutungen dessen, was sein späteres Werk durchzieht. In manchem lassen sich spätere Schriften als Abrücken von dieser frühen Positionierung lesen – als ein Abrücken, das die Spuren des frühen expressionistisch-avantgardistischen Aufbegehrens, seiner Probleme, Paradoxien und Komplexitäten, auch in der Negation weiterträgt. Mit dem Bürger positioniert sich Picard am avantgardistischen Pol des literarischen Feldes – als expressionistischer Autor oder „Dichter“3, dessen Profil sich besonders deutlich in der Distanzierung von seinem Antagonisten, dem „Bürger“, abzeichnet. In dieser Hinsicht ist sein Erstlingswerk alles andere als „originell“. Wenn er den Bürger als unschöpferischen, passiv-analysierenden, alles Individuelle und ‚Große‘ vernichtenden und billige Sicherheiten suchenden Feind des Dichters entwirft, dann ist dies aus feldtheoretischer Perspektive nicht mehr als ein „Ausweis seiner Gesinnung“, der ihn durch die „Wahl des Plagiats legitimier[t]“ – nämlich als einen „Bücherschreiber“, der 2 3

o. N., in: ebenda, S. 97. Ebenda, S. 111.

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von der herrschenden literarischen Avantgarde als Autor anerkannt zu werden begehrt. Tonfall und Klischee der expressionistischen Avantgarde verschaffen ihm jedenfalls „durch das Plagiat einen Ausweis ihrer Gesinnung“. So heißt es etwa zum Verhältnis zwischen „Dichter“ und „Bürger“: Der Bürger hat einen Widerwillen gegen den Dichter. Das ist nicht recht von dem Bürger. Denn der Dichter ist der Entdecker des wesentlichen Kernes in Dingen und Menschen. Er individualisiert die Welt. Dadurch ermöglicht der Dichter erst die dem Bürger ureigene Tätigkeit, die individuelle Welt nach dem Schema des Normalbürgers zu schablonisieren. Der Dichter ist der Arbeitgeber der bürgerlichen Schematisierungsfabrik.4

Picard inszeniert das Buch als einen satirischen Versuch, den Bürger in Art eines biologischen „Büchlein[s] zur Bestimmung“5 zu beschreiben. Er knüpft damit an den bei Expressionisten überaus beliebten Mensch-als-Tier-Topos an, in dem das Tier mal als positive Projektion des Begehrens nach Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und ‚Degenerationen‘, mal als Negativbild des Entfremdeten, Abjekten, seines Willens und seiner Würde beraubten Wesens figuriert. Indem Der Bürger (populär-)wissenschaftliche Begriffe aus zoologischer, evolutionstheoretischer und ‚sozialdarwinistischer‘ Terminologie benutzt, ahmt das „Büchlein zur Bestimmung“ poetologisch eine jener „Schematisierungsfabrik[en]“ nach, deren der Bürger unablässig bedarf, und ironisiert damit dessen „ureigene Tätigkeit, die individuelle Welt nach dem Schema des Normalbürgers zu schablonisieren“: Dieses Büchlein ist nicht etwa die Monographie einer aussterbenden Art. Trotz mancher Degenerationssymptome vermag der Bürger in unserem Kulturklima noch ganz gut zu gedeihen. Nur haben sich bei den neuerdings vorkommenden Durchkreuzungen mit anderen Artkreisen die reinen Merkmale des Bürgers etwas verwischt. So diene denn dies Büchlein zur Bestimmung von Menschen, bei denen der Leser zweifelt, ob er einen Bürger vor sich hat oder nicht.6

In dem Hinweis auf die Durchkreuzungen, durch die „die reinen Merkmale des Bürgers etwas verwischt“ werden, deutet sich allerdings eine Nuancierung an, die die soziale Zugehörigkeit der gegenwärtigen Menschen fragwürdig und komplizierter erscheinen lässt, als dies in den meist sehr eindeutigen anti-bürgerlichen Pamphleten der Fall ist. Der Bürger ist keineswegs die einseitige und schematische Kampfschrift, als die so viele expressionistische Variationen des feldbegründenden Antagonismus Bürger-Dichter daherkommen. Im Sinne seiner eigenen Plagiats-Theorie lässt sich Picards Erstlingswerk also durchaus eine Originalität bescheinigen, die es über den Status des Plagiats erhebt. Denn die Picard’sche Kritik des Bürgers betreibt nicht allein das Geschäft der literarischen illusio, sondern bietet auch Ansätze einer dialektischen bis selbstreflexiven Beschreibung, die über simple Dichotomien und Distinktionen hinausgeht. 4 5 6

Ebenda, S. 111f. Ebenda, S. 99. Ebenda. Auf den folgenden Seiten geht es dann um die „Begrenzung der Art“, das „Vorkommen“ und die „Variabilität der Art“ (ebenda, S. 100), doch hält Picard die biologistische Terminologie im weiteren Verlauf des Buches nicht durch.

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Das zeigt sich zunächst in der Beschreibung jener zentralen Funktion, die Picard seinem Bürger zuschreibt – der „Kulturverdauung“: Sie erscheint zum einen unter dem bereits bekannten Aspekt, als Gegensatz zum aktiv Schöpferischen, Gewagten und Einzigartigen des Dichters. Die Kulturverdauung/ Der Bürger zerlegt die Gesamterscheinung einer individuellen Leistung in ihre einzelnen Komponenten. Und zwar zerlegt er so lange, bis er Teile findet, zu denen ihm Analoga bekannt sind. Gott sei Dank. Jetzt weiß er doch etwas von dem Großen Unbekannten! Die Vergleichung ist dem Bürger der einzige Weg zu neuer Außenwelt. Indem der Bürger sich an die Verwandtschaften, Beziehungen hält, sucht er die Einzigkeit zu vernichten.7

Die „Kulturverdauung“ ist zum anderen aber auch eine unerlässliche soziologische Funktion, die das Bedürfnis nach kultureller Neuerung durch ihre Vernichtungsarbeit erst ermöglicht. So kommt der bürgerlichen Zerlegung und Aneignung des künstlerischen Werkes eine für die Schaffung von Kultur elementare Wichtigkeit zu: Der Bürger bemächtigt sich jeder individuellen Leistung. Indem er dabei ihren IndividualGehalt zerstört, verändert er sie so, daß sie von ihm geschaffen sein könnte. Damit ist aber wieder ein Bedürfnis nach neuer Individual-Leistung vorhanden. Nur dem Bürger ist also die Mannigfaltigkeit der Kulturformen zu verdanken.8

Die „Kulturverdauung“ lässt sich – trotz der hier mitschwingenden satirischen Untertöne – als Metapher für jene Feldmechanismen lesen, die das Unverständliche, Reine und Distinguierte avantgardistischer Kulturproduktion – in Picards Worten: des „Großen Unbekannten“ – immer wieder einem schleichenden Prozess der verallgemeinernden Analyse, Entwertung und Aneignung unterwerfen, dem ‚bürgerlichen Geschmack‘ annähern und so die dialektische Dynamik des Feldes aufrechterhalten. Das zeigt sich dort, wo sie ausbleibt oder nicht schnell genug voranschreitet: Wie manche Individualleistung verdirbt unberührt wegen der langsamen Kulturverdauung des Bürgers! Manchmal läßt sich eine Kulturerscheinung nicht vom Bürger so herrichten, daß ihr der Anschein des Besonderen gleich verloren geht. Dann muß eben die Einzelleistung ganz langsam in Kulturepochen sterben: Das Zeitalter des ... Oft braucht es einen durch Jahrzehnte reichenden Leichenzug, bis das Ende des ... gekommen ist.9

Und so wird aus dem binären Antagonismus von Dichter und Bürger ein ökonomischer Austausch, wenn Picard die Metapher wechselt und statt von der biologischen „Verdauung“ vom wirtschaftlichen „Verbrauch“ und „Absatz“ künstlerischer Produkte spricht: „So schafft der Bürger der Individualleistung ein Absatzgebiet; durch den Verbrauch ist die Notwendigkeit neuer Kulturschöpfung vorhanden.“10 Und ganz folgerichtig stellt er unter der Überschrift „Zeitgeschichtliches“ fest: „Darum haben wir heute keine Kultur, weil wir zu wenig Bürger und zu viel Individuen haben.“11 Das starke 7 8 9 10 11

Ebenda, S. 101. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 101f. Ebenda, S. 102. Ebenda.

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Anwachsen des kulturellen Feldes macht die Welt von Literatur und Malerei zu einem trügerischen Versprechen, weil ihr kein entsprechend anwachsendes „Absatzgebiet“ korrespondiert. Bourdieu spricht – in Anlehnung an Marx – von der „zweiten Bohème“ als einer „intellektuellen Reservearmee“12: Überdies – und das verstärkt noch ihren schillernden Charakter – ändert sich die Bohème im Verlauf der Jahre ständig, und zwar in dem Maße, wie sie numerisch zunimmt und wie durch ihr Prestige und ihren Flimmer jene mittellosen jungen Menschen angelockt werden, [...] die, unmittelbar den Gesetzen des Marktes unterworfen, nicht selten, um ein Leben als Künstler führen zu können, das sie nicht ernähren kann, zur Ausübung eines Broterwerbs gezwungen sind, der zuweilen ohne jeden unmittelbaren Bezug zur Literatur steht.13

Freilich manifestiert sich bei Picard zugleich auch die feldtypische doxa, die Kulturschöpfung zwar aus sozialem Austausch herleitet, die „Individuen“ jedoch verabsolutiert. Verschiedene Kategorien und Begriffe, die Picard in Der Bürger entwickelt, sind von besonderem Interesse, weil sie in späteren Schriften wieder begegnen. Dabei erfahren sie jedoch nicht selten eine veränderte, zum Teil entgegengesetzte Wertung – dass er „sich in den folgenden Büchern selber plagiiere[.]“, kann man Picard jedenfalls nicht vorwerfen. Seine Ausführungen aus Der Bürger lassen sich allerdings nicht nur mit seinem späteren Werk in Verbindung bringen, sondern auch mit einem Aufsatz über „Individuum und Organisation“14, den Picard im gleichen Jahr wie Der Bürger veröffentlicht. Bevor ich auf einige der Wandlungen und Bearbeitungen hinweise, die Darstellungen und Positionen aus Der Bürger in späteren Schriften erfahren, möchte ich hier kurz auf „Individuum und Organisation“ eingehen. Zum einen wird nämlich die darin beginnende Auseinandersetzung Picards mit dem spannungsreichen Verhältnis von Einheit und Teil, Mannigfaltigkeit und Ordnung sowohl in Der Bürger als auch in späteren Werken – mit anderen Akzenten und Positionierungen – wieder aufgenommen. Zum anderen ist dieser Text auch für Picards (frühe) politische Positionierung interessant: Er erscheint nämlich in den Sozialistischen Monatsheften, einem akademisch orientierten und dem Revisionismus um Eduard Bernstein nahestehendes Organ, das sich einer nicht-bürgerlichen Sozialismuskritik verpflichtet fühlte. Der Mitbegründer und Herausgeber Joseph Bloch sah die Aufgabe des Blattes insbesondere darin, die Bedeutung des geistigen Überbaus für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft herauszuarbeiten, die Marx zugunsten des Primats des Ökonomischen vernachlässigt habe. Diese politische Orientierung schlägt sich auch in Picards Aufsatz nieder: Unter Berufung auf Carl Gustav Jung und William James entwickelt Picard darin eine These, 12 13 14

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 98. Ebenda, S. 97f. Picard, Max: „Individuum und Organisation“, in: Sozialistische Monatshefte, 20. Jg. (1914), Nr. 2, S. 108–113.

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nach der das Traumhafte und die Phantasie sowie das zielgerichtete Bewusstsein als die beiden ebenso grundlegenden wie gegensätzlichen Formen des menschlichen Denkens sich dem Individuum und der Organisation zuweisen lassen. Zwei Formen des Denkens haben wir zu unterscheiden: das Denken mit gerichteter Aufmerksamkeit, wo der gesamte Vorstellungsablauf von einer Obervorstellung beherrscht wird, und das Träumen oder Phantasieren, wo eine Obervorstellung dem Denkablauf fehlt oder mindestens ihm unbewußt ist. […] Die theoretische Grundlage einer Organisation kommt mit Hilfe des zielgerichteten Denkens zustande, des Denkens mit einer Obervorstellung, die dargestellt wird durch die Idee der Organisation. Das Denken des einzelnen aber geschieht mit dem entgegengesetzten Denktypus des Traumartigen und Phantasiehaften. W. James sagt darüber: ‚Unser Denken besteht zum größten Teil aus Reihen von Bildern, von denen eines das andere herbeiführt, aus einer Art passiver Träumerei.‘ […] Beide stehen im Gegensatz zu einander, aber beide kommen in ein und dem selben Individuum vor.15

Aus dieser These entwickelt Picard nun zum einen eine Psychologie der politischen Organisation des Arbeiters, zum anderen eine Kritik der Erstarrung dogmatischer politischer Organisationen. Zunächst widmet sich Picard der Bewusstseinsprägung des Arbeiters. Bei diesem dringen nämlich – zumindest wenn er einer mechanischen Tätigkeit nachgeht – die eigentlich dem geordneten Bewusstsein angehörenden zielgerichteten Vorstellungen ins Unterbewusste ein und werden dort zu sich verselbständigenden, der „gerichtete[n] Aufmerksamkeit“ sich entziehenden „Reihen von Bildern“. Denn die Obervorstellung, die bei der Arbeit die Assoziation so regelt, daß dem Arbeitsziel fremde Assoziationen ferngehalten werden, wird durch die ständige Wiederholung der gleichen Arbeit immer weniger nötig und darum ins Unterbewußtsein verdrängt. Der Arbeiter spürt gar nicht mehr, daß die Assoziationen von einer Obervorstellung kontrolliert werden; das heißt: die Assoziationen folgen sich unbewußt wie im Traum. Das mechanische Arbeiten verwandelt also den durch eine Obervorstellung gekennzeichneten Denktypus in den Denktypus des Traumartigen, Phantasiehaften.16

Picard sucht offenbar nach psychologischen Antworten auf die für sozialistische Bewegungen und Theorien immer wieder zentrale Frage nach dem (fehlenden oder falschen) politischen Bewußtsein der Arbeiterklasse, mit der das Ausbleiben der eigentlich zu erwartenden Artikulation der gesellschaftlichen Widersprüche zu erklären wäre.17 Dabei verweist er u. a. auf die unterschätzte Bedeutung der Müdigkeit18 sowie die gefähr15 16 17

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Ebenda, S. 108f. Ebenda, S. 109. „Es handelt sich nun darum die Bedingungen zu unterscheiden, von denen die Umwandlung des traumhaften Denktypus in den gerichteten abhängig ist, das heißt die psychologische Grundlage für den Anschluß des einzelnen an eine Organisation.“ (ebenda, S. 110) „Eine Eigenschaft des traumhaften Denktypus ist es vor allem, die es erschwert, daß er zugunsten des gerichteten aufgegeben wird: Das traumhafte Denken geschieht fast unbewußt und ermüdet darum nicht, dagegen ist das Denken mit einer Obervorstellung ermüdend, weil hier die Aufmerksamkeit ständig auf das Ziel des Denkens gerichtet sein muß, und der Prozeß, durch den die Assoziationen beiseite geschoben werden, die sich dazwischen schieben wollen, ist ermüdend. Im

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liche Rolle der Massenmedien19 – letztere wird bis in Picards Spätwerk ein zentrales Thema bleiben. Insbesondere im Hinblick auf Picards spätere Schriften ist ein Hinweis interessant, den er im Rahmen seiner Kritik politischer Organisationen gibt. Obwohl seine Kritik – der sich der zweite Teil seines Aufsatzes widmet – vor allem den im Dogmatischen erstarrenden politischen Organisation gilt, weist er zunächst auf die Gefahren einer allzu pluralen und offenen politischen Organisation hin und gibt zu bedenken, dass auch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit anhand bewusster ‚Obervorstellungen‘ keine Gewähr für eine sichere politische Orientierung biete – und zwar insbesondere dann, wenn diese ‚Obervorstellungen‘ allzu zahlreich werden. So könne auch die Gewohnheit ein Geschehnis der Außenwelt unter einem Reichtum an Gesichtspunkten, das heißt Obervorstellungen zu betrachten für die Organisierung des einzelnen ein ungünstiges Moment sein. Wer die Einzelheiten einer an sich politischen Angelegenheit bald dieser bald jener Obervorstellung unterordnet, der wird sich nur ungern unter die einzige Obervorstellung einer bestimmten politischen Organisation zwängen. Dazu kommt noch, daß, wenn man ein Ereignis unter den verschiedensten Gesichtspunkten überdenkt, man an dem einzelnen jeweils nur leicht festhält und sich darum nicht sehr dafür einsetzt.20

Hier klingt eine Auseinandersetzung an, die Picard in späteren Schriften – insbesondere unter dem Begriff der ‚Mannigfaltigkeit‘ – wieder aufgreifen wird.21 In erster Linie warnt Picard aber vor einer allzu großen Vereinheitlichung politischer Organisationen durch die dogmatische Unterwerfung unter eine ‚Obervorstellung‘. Ohne den Begriff der ‚Partei‘ oder gar einer speziellen Partei zu erwähnen, weist er nämlich darauf hin, dass die fehlende Motivation der Arbeiter, sich zur Denkform eines zielgerichteten Bewusstseins zu organisieren, durchaus auch auf Probleme zurückgeführt werden könne, die nicht nur dem Individuum bzw. seiner Produktionssphäre, sondern auch der Form seiner politischen Organisation entspringen. So äußere sich der Mißmut über die Unverträglichkeit der beiden Komponenten nur an der einen Komponente, an der die Assoziationen hervorrufenden Arbeit […]. Aber wer kann dafür garantieren, daß diese Mißstimmung sich nicht eines Tages auch gegen die andere Komponente, gegen die Obervorstellung, den Gedanken der betreffenden politischen Organisation, wendet? Vielleicht gerade

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20 21

Zustand der Ermüdung ist der traumhafte Denktypus, der so wie so schon der gewöhnliche ist, noch mehr ausgeprägt, weil er nicht anstrengt. Die politischen Parteien, die eine allgemeine Teilnahme am politischen Leben wünschen, verlangen darum mit psychologischer Berechtigung nur ein solches Maß an Arbeitszeit, daß dadurch die ersten Bedingungen für das anstrengende Denken mit einer Obervorstellung gewährleistet sind, das dem politischen Denken eigen ist.“ (ebenda) „Und wenn gewisse politische Parteien ihren Parteiangehörigen das Lesen politisch andersartiger Zeitungen verbieten, so geschieht das auch mit psychologischer Berechtigung. Denn die Zeitung entspricht mit ihrem vielgestaltigen Inhalt, dessen Teile sich ohne innern Zusammenhang lose aneinanderreihen, durchaus dem traumhaften Denktypus der Ermüdung. Und da die Zeitungen gewöhnlich abends, also im Zustand der Ermüdung, gelesen werden, so können sich leicht fremdartige und nicht gewünschte Assoziationen einschleichen.“ (ebenda, S. 110) Ebenda, S. 111. Hervorhebungen im Original gesperrt. Vgl. hierzu unten S. 199f und insbesondere S. 248–254.

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Picards Der Bürger dann, wenn es sich als unmöglich erwiesen hat die eine Komponente, die durch die Art der Arbeit bestimmt ist, wesentlich zu ändern? Die Gefahr, daß sich der bereits Organisierte eines Tages gegen die eigene Organisation wendet, kann noch durch das besondere Wesen der betreffenden Organisation vergrößert werden. Wenn der eine Organisation beherrschende Gedanke sich gegenüber neuen Erscheinungen, die von ihm eine Veränderung verlangen, unbiegsam zeigt, wenn er wie ein Dogma hingestellt wird, so wird die Arbeit in der Organisation, ähnlich wie die Berufsarbeit, mechanisch.22

Auch diese, gegen das Mechanische, ‚Unbeugsame‘ und Dogmatische gerichtete Reflektion Picards wird in veränderter Form später erneut begegnen.23 Schließlich findet sich in Picards Aufsatz über „Individuum und Organisation“ eine Passage, in der er seine These der gegensätzlichen psychologischen Grundformen auch auf den Künstler anwendet – und daraus eine Kritik der gegenwärtigen künstlerischen Praktiken ableitet. So gebe es Menschen, denen das traumhafte Denken nicht als Fehler, sondern als Auszeichnung zu eigen ist: die Künstler. Deren höchster Typ ist dadurch gekennzeichnet, daß ohne eine regulierende Obervorstellung die durch das Erlebnis hervorgerufenen Assoziationen zu einer anscheinend wie beabsichtigten Komposition verbunden werden. Man wird jetzt verstehen, warum das Interesse der Künstler am politischen Leben so gering ist: eben weil die Denkform des politischen Lebens ihnen widerspricht. […] Diese Bemerkung gilt für unsere heutige Zeit durchaus, wo ein einheitlicher Stil, das heißt eine Obervorstellung fehlt, von der das gesamte Kunstschaffen beeinflußt würde. In den durch einen Stil gehobenen Epochen aber war auch den Dichtern das gerichtete Denken nicht fremd, und darum schlossen sich in jenen Zeiten dichterische und politische Betätigung nicht aus, weil beide die gleiche Denkform zur Grundlage hatten.24

Hier führt uns Picards Gedankengang wieder zurück zu seinen Ausführungen aus Der Bürger: Denn während der ideale Künstler den Reichtum der ‚Assoziationen‘ unter die Einheit einer (politischen) Obervorstellung zu organisieren vermag und dem gegenwärtigen Künstler immerhin noch das „traumhafte Denken“ zur „Auszeichnung“ wird, wirkt in der Kunstwahrnehmung des Bürgers „das bürgerliche Gesetz von der psychischen Kategorie der Totalität“25 einem wahren „Erlebnis“ von Kunst entgegen: Der Bürger kann das Erlebnis nicht so aufnehmen, wie es sich als tatsächliche Impression gibt. [...] Darum hängt der Bürger dem Erlebnis eine Fortsetzung an. Die potentielle Kraft, die in den Möglichkeiten, Andeutungen des Erlebnisses liegt, wird im Bürger in einem wirklichen Ablauf ausgerollt.26

Die Tendenz zur Zerlegung, die den Prozess der bürgerlichen Kunstwahrnehmung charakterisiert, kann das Kunstwerk nicht als „Impression“ und damit nicht als „potentielle Kraft, die in den Möglichkeiten, Andeutungen des Erlebnisses liegt“ würdigen. Im 22 23 24 25 26

Ebenda, S. 112. Vgl. zu Picards Auseinandersetzung mit dem ‚Fixieren ‘ revolutionärer (Kunst-)Bewegungen unten S. 268f. Ebenda, S. 111. Picard: Der Bürger, S. 103. Ebenda. Hervorhebungen K. L.

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„Erlebnis“-Begriff schwingt dabei die lebensphilosophische Emphase mit, die Suche nach dem ‚Einen‘, der Gesamterscheinung, dem nicht durch die bürgerliche Technik der Zerlegung in Teile, Verwandtschaften, Beziehungen und bekannte Analogien zu fassenden „Große[n] Unbekannte[n]“. Die „Möglichkeiten“ beziehen sich hier also nicht auf ein positivistisch-mechanistisches Kalkül, sondern bergen ein transzendentes „Potential“ der „Kraft“ und „Andeutung“. Picard schwankt hier noch zwischen einer impressionistischen Position – für die das Andeutungshafte, das subjektive Erlebnis und das Schillern der Möglichkeiten die entscheidenden Elemente des Kunstwerks sind – und der Kritik an ebendieser Position, die schon bald alle Zerlegung, Möglichkeit und Mannigfaltigkeit zurückweist und nach Form, Einheit und Gewissheit des Ausdrucks sucht. Schließlich verweist das „Große Unbekannte“ auch auf symbolistische Positionen, die u. a. in Picards 1921 erschienenem Der letzte Mensch als literarischer Einfluss erkennbar sind. In ähnlicher Weise wird an anderer Stelle auch die Angst des Bürgers vor den „Möglichkeiten“, wie sie die „elementare [...] Sexualität“27 oder die ‚Gewalt des Gesetzes‘ bergen, lächerlich gemacht: Die Gewalt, mit der eine gesetzliche Formel viele Erscheinungen subsumiert, ängstigt den Bürger durch die vielen Möglichkeiten, unter denen sie wieder in die Erscheinungswelt hinausgreifen kann.28

Der Begriff der „Möglichkeit“ taucht in späteren Werken erneut auf, wird dort jedoch zum Gegenstand einer vehementen Kritik, die die soziale Welt als von einem ubiquitären Möglichkeits-Modus befallen darstellt. In Der letzte Mensch etwa erscheint die dargestellte Wirklichkeit immer wieder unter dem Zeichen eines „als-ob“, das die Wahrnehmung sämtlicher Gewissheiten beraubt und in ein beängstigendes Delirium grotesker Wahrnehmungen stürzt.29 27 28 29

Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 105. Vgl. zum Zusammenhang von Gewalt und Gesetz auch unten S. 341f. „Die Wesen, die heute wie Menschen aussehen, sind keine Menschen. Sie sehen nur aus, als ob sie Menschen wären. [...] Viel tausend Jahre lang mußte man aussehen wie ein Mensch; nun darf man heute noch so aussehen, weil es nicht plötzlich aufhören kann. [...] Ach, daß man die Kraft hätte, ach, daß man selber aufhörte zu sein, weil man nicht mehr aussehen muß, weil man nur noch aussehen darf! Aber man hat nicht die Kraft“ (Picard: Der letzte Mensch, S. 9ff.). Die Kritik des ‚Möglichen‘ reicht von Das Ende des Impressionismus und Der letzte Mensch (vgl. hierzu ausführlich S. 123–25 (Der letzte Mensch) und S. 253ff. (Das Ende des Impressionismus)) über die Subsumierung des Faschismus unter die ‚Möglichkeiten‘ bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Radio oder der modernen Atomtechnik im Spätwerk. So analysiert Picard 1946: „Was vorbeizieht, ist gleichgültig, wichtig ist nur, daß etwas vorbeizieht; in diese Reihe kann sich deshalb alles einschleichen, auch ein Hitler“ (Picard, Max: Hitler in uns selbst, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag, 1946, S. 15). Und 1948 heißt es ganz ähnlich: „Das Radio ist eine Maschinerie, die das pure Wortgeräusch produziert, es kommt fast gar nicht mehr auf einen Inhalt an, sondern nur darauf, daß ein Geräusch entsteht. Die Worte sind wie zerstampft im Radio, sie sind wie eine unförmige Masse verwandelt. Beim Radio gibt es kein Schweigen mehr.“ (Picard, Max: Die Welt des Schweigens, Frankfurt a. M., Hamburg: Fischer, 1959 [1948], S. 140)

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Der „Möglichkeit“ eng verwandt ist der Begriff der „Mannigfaltigkeit“. Mit beiden assoziiert Picard nicht eine endliche, durch positivistisch-rationale Zergliederung fassbare Menge, sondern versieht sie mit den Attributen des Andeutungshaften, des Unbestimmten und Unheimlichen. Als solche steht sie dem bürgerlichen Drang nach einer Kultur der Eindeutigkeit, Gewohnheit und Vertrautheit, nach einer Sicherheit verheißenden Hermeneutik des Kunstwerks entgegen, die dem „Gesetz der psychischen Totalität“ genügt. Die Kunst ist dem Bürger ein Panoptikum, in dem er die Unbestimmtheiten der Natur gefahrlos zwischen Hölzern gespannt oder mit Steinen beschwert begaffen kann. O, wie der Bürger sie jetzt liebt, jene Unsicherheiten, die vom Künstler nun zur Gültigkeit bestimmt wurden. O, wie er jetzt vertraut ist mit den sicher deutbaren Abschnitten, die der unheimlichen Mannigfaltigkeit abgerungen wurden! Und wie er sich freut und alles erzählt, was er von ihnen weiß, wenn er sie wiedererkennt, abgeschlossen und still, die ihn in der Natur draußen so beunruhigten!30

Nur zwei Jahre später ist es jedoch Picard selbst, den die „Mannigfaltigkeit“ zu beunruhigen beginnt. Seine Kritik des Impressionismus jedenfalls macht diesem zum Vorwurf, sich zu sehr an das Mögliche und Mannigfaltige zu halten: Das ist charakteristisch für den Impressionismus: Nicht daß er im allgemeinen dem Systematischen widerstrebt, sondern wie er es benützt. Er erlebt in ihm nicht den Zwang zur Einheit einer Anschauung gegenüber der Mannigfaltigkeit. Es dient ihm bloß zur Vereinfachung, um viele Dinge in Beziehung zu vereinen.31

Die Begriffe der ‚Möglichkeit‘ und der ‚Mannigfaltigkeit‘ werden nun ihres numinosen Charakters entkleidet, fungieren als rationales numerisches Kalkül und werden so zum Objekt seiner Kritik. Dabei ist der Impressionismus selbst beteiligt an der zunehmenden Mannigfaltigkeit der Welt, die er zu beherrschen vorgibt, denn er „ließ [...] die Objekte der Außenwelt zahllos werden, damit nicht anders als nur mit einem Blicke, oberflächlich, d. h. impressionistisch gesehen werden konnte“32. Picards Opposition zur Mannigfaltigkeit und zu den ‚Möglichkeitskonstruktionen‘ des Impressionismus bringt nun jedoch nicht mehr deren Steigerung ins Unheimliche und Unfassbare ins Spiel, sondern sucht den durch die Kunst des Impressionismus übergesteigerten Komplexitäten und Vielheiten der modernen Lebenswelt durch einen Rückzug ins Einfache, Einheitliche und Bescheidene zu entgehen. „Die Ausdehnung der Objektwelt hing doch nur vom Menschen ab. Man hätte sie einfach beschränken können, dann wäre man nicht auf den Impressionismus angewiesen gewesen.“33 Die Verehrung des „Großen Unbekannten“ der Kunst wandelt sich im Zuge dieser – naiven – Komplexitätsreduktion und wird zur religiösen Hinwendung zum „Großen Unbekannten“ des Monotheismus: Der Impressionismus ist die Ausdrucksform einer Zeit, die nichts glaubt. [...] Eine solche Zeit will immer in Bereitschaft, auf dem Sprunge sein. Das Gegenwärtige muß rasch verlassen wer30 31 32 33

Picard: Der Bürger, S. 112. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 57. Ebenda, S. 11. Ebenda.

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den können. Sinn und Zweck einer Erscheinung verknüpfen zu stark. Von der Oberfläche aber löst man sich rasch los. Eine solche Zeit muß impressionistisch sein.34

Auch der im Bürger verwendete Begriff der „Gesinnung“ erfährt in den folgenden Schriften eine Akzentverschiebung. Die „Gesinnung“ meint 1914 das hinter den Techniken des Fremd- und Selbstplagiats stehende Motiv, mit dem der Bürger sich als kohärentes Subjekt legitimiert und damit in Opposition zur Kunst setzt.35 Das ändert sich zwar auch im Impressionismus-Buch nicht: Der Impressionismus hört nicht auf, solange die Gesinnung nicht aufhört, aus der er hervorgeht. Es liegt im Wesen des Impressionismus, die Gesinnung zu verdecken. In diesem Buche ist die Erscheinung vom Impressionismus abgedeckt worden. Seine Gesinnung ist aufgezeigt worden. Man vertreibe jetzt diese Gesinnung. Oder man habe den Mut, zu ihr zu stehen. In beiden Fällen sind wir am Ende des Impressionismus.36

Der impressionistischen Gesinnung wird hier aber zugleich auch ein positiver Aspekt zugestanden: Als – wenngleich oberflächlicher – Versuch, Einheit anstelle der Vielheit (wieder-)herzustellen, weist sie immerhin in die richtige Richtung. Man kann sagen: Der Impressionismus ist ein Mittel, die zahllos gewordenen und darum unkontrollierbaren Objekte der Außenwelt wenigstens mit einem Blicke, oberflächlich, zu übersehen.37

Aufgrund seiner Vertauschung von Mittel und Zweck kann der Impressionismus aber nicht ans Ziel gelangen und wird – trotz seiner gegenläufigen Intention – zum Teil des Problems: Die Impression, die als Zweck erschien, wird als bloßes Mittel erkannt. Der aufgedeckte Zweck entheiligt dann das Mittel. Die Mannigfaltigkeit des impressionistischen Ausdruckes als Mittel einer ganz bestimmten menschlichen Gesinnung darstellen, also: die Erscheinung weniger wichtig nehmen als ihren Sinn, das heißt über den Impressionismus theoretisieren.38

„Möglichkeit“, „Mannigfaltigkeit“ und „Gesinnung“: Mit der sich wandelnden Akzentuierung und Wertung vor allem der ersten beiden Begriffe beherzigt Picard unbewusst seine eigene Kritik am (Selbst-)Plagiat. Es wäre allerdings zu einfach, die spätere negative Wertung von „Möglichkeit“ und „Mannigfaltigkeit“ als pure Negation der früheren Äußerungen zu begreifen. Vielmehr wohnt – wie im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich werden wird – Picards vermeintlich so einfachen und klaren, z. T. naiv anmutenden Urteilen und Beschreibungen eine Komplexität inne, die sich erst dem Blick auf die Veränderungen, Bearbeitungen und Entstellungen39 erschließt, die sie über die Jahre 34 35 36 37 38 39

Ebenda, S. 12. „Die nicht originellen Bücherschreiber verschaffen sich durch das Plagiat einen Ausweis ihrer Gesinnung.“ (Picard: Der Bürger, S. 109f.) Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 76. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 9. Vgl. zu Walter Benjamins Begriff der „entstellten Ähnlichkeit“ als Modell einer literarischen Schreibweise Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise,

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hinweg durch die unter dem Einfluss verschobener sozialer Konfigurationen sich vollziehende Arbeit des Schreibens erfahren haben. Das frühe avantgardistischexpressionistische Aufbegehren in Der Bürger hinterlässt Spuren der Brechung in den späteren Konzeptionen von Ganzheit und Mannigfaltigem, Ruhe und Bewegung, Möglichkeit und Geborgenheit, denen es nachzuspüren gilt. Dass es sich dabei ebenso wenig um Kontinuitäten wie um einfache Negationen handelt, sei an einer Stelle aus dem Bürger verdeutlicht, die zwei leise Andeutungen auf das bietet, wonach eineinhalb Jahrzehnte später Das Menschengesicht so verzweifelt sucht. Der Austausch von Bewegung und Ruhe in den Gesichte(r)n der Kultur, der für das spätere Werk und seine ‚Wellentheorie des Gesichts‘40 zentral sein wird, findet sich bereits – und zwar recht unvermittelt – im Verhältnis von Bürger und Künstler. Jede Kulturschöpfung hat ein Plus an innerer Bewegtheit, das der Schaffende nicht ganz in die Form zwingen konnte. Diese schwingende Dynamik des Schaffenden kommt in der Statik des Bürgers zur Ruhe.41

Werden hier noch das „Plus an innerer Bewegtheit“, das sich kulturellen Formen und Figuren entzieht und die „schwingende Dynamik“ des Künstlers von der „Statik des Bürgers“ in eine negativ besetzte „Ruhe“ überführt, so entspringt 1929 Picards Wertschätzung des Gesichts dem harmonischen Ausgleich und einem fließenden Ineinander von Bewegtheit und Ruhe: In manchen Gesichtern ist ein solches Einverständnis zwischen Frontal- und Profilgesicht, daß man den Unterschied zwischen dem bewegten Wesen des einen und dem unbewegten des anderen gar nicht merkt. Frontal- und Profilgesicht sind so sehr im Einverständnis: es ist, als ruhe das Profilgesicht aus im Frontalgesicht, ehe es anfängt, sich zu bewegen.42

Freilich speist sich in Das Menschengesicht die Ruhe nicht mehr aus immanentmateriellen Quellen wie einer bürgerlichen „Statik“, sondern aus transzendenten Ursprüngen.43

40 41 42 43

Frankfurt am Main: Fischer, 1997. Weigels Modell richtet „den Blick auf die Verschiebungen und Modifikationen in und an den Denkfiguren und Bildern in der Genese Benjaminscher Schriften [...]. Dabei geht es sowohl um die genealogische Rekonstruktion der Schreibarbeit an bestimmten Figurationen und Konstellationen, die in den Schriften wiederholt mit teils leichten, teils markanten Veränderungen begegnen, als auch um die Entstellungen, die sich bei der praktischen, d. h. schreibenden Aneignung bestimmter Konzepte aus verschiedenen Feldern wie Philosophie, Psychoanalyse, Ökonomie, Anthropologie, Ästhetik etc. ereignen“ (ebenda, S. 13). Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 7.1 und 7.2. Picard: Der Bürger, S. 101. Picard: Das Menschengesicht, S. 49f. Zudem findet sich schon im Bürger ein Hinweis auf die Unterwerfung des Gesichts unter eine bürgerliche, auf Effizienz zielende materialistische Mechanik: „Die zerlegende Kulturverdauung ermöglicht es dem Bürger, den Punkt zu finden, von dem aus er am raschesten und unter Aufwendung der geringsten Energie zu den ihm bereits Bekannten gelangt. Das ist der sogenannte Mittelpunkt, Schwerpunkt, Gesichtspunkt, von dem aus ... zu betrachten ist.“ (Picard: Der Bürger, S. 101, Hervorhebung K. L.)

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Schließlich findet sich im Bürger auch eine Auseinandersetzung mit Frank Wedekind, die sich als eine implizite Poetologie der Groteske lesen lässt, wie sie Picard 1921 in Der letzte Mensch entfalten wird: „Wedekind beugte sich nach vorn und sah die Welt an durch die Öffnung seiner beiden gespreizten Beine.“44 Diese Kurzformel grotesker Poetologie, in die Picard den Wedekind’schen Blick zusammenfasst, wird erst im Vergleich mit der vorangehenden Perspektive der bürgerlichen Sexual-Moral sowie ihrer Verschränkung mit der Literatur verständlich. Die beschränkte und selbstblinde moralische Verlogenheit der Bürger45 stellt Picard bloß, indem er sie als einer „elementare[n] Sexualität“ hoffnungslos unterlegen schildert: Das bürgerliche Sittengesetz stellt der elementaren Sexualität die strengste Schranke vor. Dabei weiß der Bürger im geheimen ganz sicher, daß er sie doch nicht bewahren kann. Wenn der Bürger aber dann diese Schranke überschreitet, hat er das Gefühl einer positiven Leistung. Der Bürger liebt moralische Hindernisrennen über markierte Hürden.46

Auch hier spielt wieder das Phänomen des unerreichbaren „Möglichen“ hinein: Weil der Bürger zwar den vielfältigen Möglichkeiten verfallen, aber zur Abstraktion vom sichernden Objekt nicht fähig ist, schwankt er zwischen der Faszination durch das Mögliche und die Gebundenheit an das Wirkliche: Darum wird die allgemeine Institution der Ehe wegen ihres verwirrenden Reichtums an Möglichkeiten vom Bürger in die dinghafte beruhigende Tatsächlichkeit am eigenen Leib überführt. Die Ehe rein als paragraphierte Einrichtung ist ein wahrhaftes Aphrodisiakum für den Bürger.47

Aus diesem Zwiespalt leitet Picard eine ‚Theorie‘ bürgerlicher Polygamie und Perversität ab, die deutliche Einflüsse der später von Picard so erbittert bekämpften Psychoanalyse aufweist. Denn die Kehrseite des „verwirrenden Reichtums an Möglichkeiten“ ist die „Angst des Bürgers vor der Vielfältigkeit und Ungewißheit einer abstrakten Gesetzesformel“48. Sie zieht Bewältigungsstrategien nach sich, die an den Zwangscharakter erinnern, wie ihn Freud nicht nur der individuellen, sondern auch der kulturellen Neurose zuschreibt49: Abstraktion, Möglichkeit und Unsicherheit ängstigen den Bürger so weit, daß er sich sogar selber als Objekt anbietet, um zur Sicherheit zu gelangen. [...] Der Bürger kann nicht abstrahieren, auch nicht Lusterfahrung vom Lustobjekt. Bei jeder neuen Lust44 45

46 47 48 49

Ebenda, S. 110. Zum Zusammenhang von Gesicht, der Sexualisierung des Blicks (bzw. der Haptik) und der Ambivalenz sittlicher Entrüstung nach dem 1. Weltkrieg vgl. D’Alessandro, Stephanie: „Der erregte Betrachter. Über Voyeurismus“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 191–205. Picard: Der Bürger, S. 104. Ebenda, S. 105. Ebenda. So bezeichnet Freud „die Religion als eine universelle Zwangsneurose“ (Freud, Sigmund: „Zwangshandlungen und Religionsübungen“: in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Bd. 7. Werke aus den Jahren 1906–1909, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999 [1907], S. 127–139).

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Picards Der Bürger erfahrung ist die Erinnerung an die vergangenen Lüste in ihrer ganzen Gegenständlichkeit mit dabei. Immer würde bei einem Ehebruch des Bürgers die Ehefrau auch zugegen sein. Darum kann der Bürger das Pensum an Lusterfahrung, das er an seiner Ehefrau gewonnen hat, nirgends anders als an diesem gelernten Objekt repetieren.50

An dieser Stelle sei eine biographische Anmerkung eingeschoben: Bemerkenswerterweise halten diese Sätze Picard nicht davon ab, noch im Jahr ihres Erscheinens – 1914 – den Bund der Ehe zu schließen. Er heiratet Margarethe Picard, geb. Goldstrom,51 ungeachtet der im Bürger geäußerten Einsicht, wonach bürgerliche Ehe und Treue – psychoanalytisch gesprochen – Formen einer perversen Verdrängung darstellen: Der Bürger braucht für seine polygame Veranlagung kein anderes Geschlechtswesen als die Ehefrau. Das wird ihm möglich, weil er sich den polymorphen Charakter des Geschlechtstriebes zu Nutzen macht. Das heißt: Der Bürger wird an seiner Ehefrau pervers. Dieses Festlegen der polygamen Veranlagung auf ein einziges Objekt durch ihre Umwandlung in die Variabilität des Perversen zeigt die ökonomische Tüchtigkeit des Bürgers bis ins Elementarste. Die Perversität, durch die er sexuelle Abwechslung gewinnt, ist das Harem des sparsamen Bürgers.52

Die ‚gestauten‘ polygamen und polymorphen Triebe projiziert der Bürger zugleich nach außen. Und dabei kommt ihm die für das Massenpublikum geschriebene, heteronomen Kriterien gehorchende Unterhaltungsliteratur zu Hilfe: Die innere Verbindung zwischen einem Buch und seinem bürgerlichen Leser geschieht durch das Beschreiben sexueller Vorgänge. [...] Der Ehebruch und alles Sexuelle in der Literatur ist eine literarische Notwendigkeit: eine captatio benevoluptatis des bürgerlichen Lesers.53

Was nun aber Wedekinds Sicht auf Literatur von der des Bürgers unterscheidet, sind die Implikationen des Blicks: Während die die Welt auf den Kopf stellende Wedekind’sche Perspektive auch die eigene körperliche Verfasstheit – die Triebe der „elementaren Sexualität“ – mit abbildet (durch das Nach-vorne-Beugen und das Suchen „durch die Öffnung seiner beiden gespreizten Beine“), spaltet der Bürger ebendiese Implikation des eigenen Körpers und seines Begehrens ab und projiziert sie in die skandalisierte Perversität der anderen. Wedekind stellt also nicht nur den „Ehebruch und alles Sexuelle“ in ihren Inhalten dar, sondern auch die darunterliegenden Prozesse eines wechselseitigen Begehrens und dessen Perspektiven – besonders erfolgreich mit seinen 50 51

52 53

Picard: Der Bürger, S. 105. Margarethe Goldstrom war Ärztin und zählte zu den ersten Frauen, die in Deutschland ein Medizinstudium absolvierten. Sie erkrankt recht bald nach der Heirat an Tuberkulose und stirbt bereits 1927 im Schweizer Tessin an dieser Krankheit (es existieren unterschiedliche Angaben zum Todesjahr von Margarethe Goldstrom, die z. T. erheblich voneinader abweichen, vgl. aber die biographische Darstellung des Enkels der Picards, Gabriel Picard: „Max Picard: cenni biografici e problematica religiosa“, in: Silvano Zucal und Daniele Vinci (Hrsg.), Come all’inizio del mondo. Il pensiero di Max Picard, Trapane: Il pozzo di Giacobbe, 2011, S. 11–18, hier: S. 12; sowie die ebenfalls auf Gabriel Picard zurückgehenden Angaben in Picard, Max: Der alte Fluss. Über Zeit, Alter und Jenseits, herausgegeben von Gabriel Picard und Volker Mohr, Schaffhausen: Loco Verlag, 2007, S. 87). Ebenda, S. 106. Ebenda, S. 110. Hervorhebung im Original.

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zwischen 1894 und 1913 erarbeiteten, aufgrund von Verboten durch die Zensur mehrfach umgeschriebenen „Lulu“-Tragödien Die Büchse der Pandora und Erdgeist: Der ‚Erfolg‘ der Stücke zeigt sich nicht nur in den Verboten und dem Skandal, den das Stück auslöste, sondern auch in der filmischen Adaption Die Büchse der Pandorra durch G. W. Pabst von 1928, die wie die literarische Vorlage den Begehrensstrukturen des intersubjektiven wie medialen Blicks nachgeht. In diesem Zusammenhang liest sich Picards Beschreibung des Kinos als einer „Skandalmaschine“ wie eine Kritik avant la lettre zu Pabsts Büchse der Pandorra: Der Skandal ist für den Bürger das notwendige Geräusch der Gesellschaftsmaschine, das ihm die Tatsächlichkeit ihres Ablaufs versichert und ihn darum beruhigt. Das Kino aber hat eine Versachlichung der bürgerlichen Beziehungen gebracht. Es hat alles Skandalhafte aus der bürgerlichen Gesellschaft an sich gezogen und läßt es zwischen künstlichen Gebilden abspielen und aufbrauchen.54

Bereits Wedekind überführt die bürgerliche Moral der Verlogenheit und (Selbst-)Blindheit und stellt ihre eingeschränkte Perspektive durch literarische Techniken grotesker Poetologie nach. Den darauffolgenden Skandal führt Picard nicht auf die Inhalte, sondern auf die Bloßstellung des beschränkten Blicks zurück: „Nun ist der Bürger wütend, daß Wedekind mehr sah als das, was gerade vor ihm war. Der Bürger aber sucht nie darüber hinaus: Das ist die Geburt der Zote. Die Zote ist das interbourgeoise Esperanto.“55 Picards Rede vom „interbourgeoise[n] Esperanto“ impliziert eine Kritik der „Bürgerliche[n] Psychologie“56 als einer die Sexualität verabsolutierenden und daher einseitigen Psychologie. Sie umfasst auch eine Kritik der Psychoanalyse: Die Entlarvung ihrer sexuellen illusio als Projektion eines bürgerlichen Universalismus stellt als eine zumindest ansatzweise soziohistorische Zurückführung auf das Sexualitäts-Dispositiv 57 eine weitaus scharfsichtigere Kritik der Psychoanalyse dar als die späteren moralisierendentrüsteten Pamphlete gegen sie:58 Die Psychologie, die der Bürger anwendet, beruht auf sexueller Basis. Der Bürger begreift die Geschlechtsorgane als die einzigen Mittel, um zu unmittelbaren Erlebnissen zu kommen. Weil der Bürger weiß, daß jeder Mensch Sexualorgane hat und weil er annimmt, allein mit ihnen könne man die Welt erleben, so glaubt er an die Gleichheit der Erlebnisse bei allen Menschen. Darum hält sich der Bürger auch mit jedem verwandt und ist mit jedem gleich vertraut.59

Picards Der Bürger ist in seinem expressionistischen Pathos selbst Ausdruck der künstlerischen illusio und ihrer Projektionen des „Bürgers“. Doch das Werk birgt auch Mo54 55 56 57 58 59

Ebenda, S. 109. Ebenda, S. 110. Ebenda, S. 107. Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983 [1976], S. 95ff. Vgl. vor allem Picard, Max: Einbruch in die Kinderseele, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag, 1961. Picard: Der Bürger, S. 107.

Picards Der Bürger

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mente einer Kritik, die über die einfachen Dualismen und die klischeehaften Projektionen anderer expressionistischer Manifestationen hinausgeht. So bringt er etwa die antirationalen Ausbrüche des ansonsten durch und durch rationalen Bürgers ins Mystische auf einen Begriff, der sich vielleicht noch nicht der Gefährlichkeit, wohl aber der Hohlheiten so manches modernen Mystizismus bewusst ist: Zuweilen findet der Bürger die von ihm selber geschaffene Rationalisierung des Lebens unerträglich. Um ihr zu entrinnen, versucht er dann eine Dummheit zu machen. Die Dummheit ist die mystische Versenkung des Bürgers.60

Und schon im einleitenden „Begleitwort“ hatte Picard die allzu einfache und klischeehafte Dichotomie von Bürger und Dichter hinterfragt, indem er sein „Büchlein“ empfiehlt als „ein bequemes Hilfsmittel bei den eigenen Exkursionen ins Land der Bürger, jenes Land der deutschen Sehnsucht, das der Leser während seines Lebens sicher oftmals selbst besucht.“61 Zwar könnte man hier noch einwenden, dass gerade der Leser eben immer Bürger bleibt – wenn auch nur partiell, weil sich „bei den neuerdings vorkommenden Durchkreuzungen mit anderen Artkreisen die reinen Merkmale des Bürgers etwas verwischt“62 haben. Doch der Schluss des Buches verwirrt erneut die verbreitete Tendenz zur schematischen Vereinfachung; und dort fällt es schwer, die Pointe nicht als ein ironisches Augenzwinkern zu lesen, das nicht nur den Leser des Bürgers, sondern auch seinen Dichter-Autoren als einer selbstreflexiven Kritik fähig und bedürftig vorstellt – „einer kritischen Besinnung auf sich selbst, seine eigene Grundlage, seine eigenen Voraussetzungen“63. Unter der Überschrift „Anleitung zur wissenschaftlichen Erforschung des Bürgers“64 nimmt der „Anhang“ des Bürgers die verbreitete Kritik an der rationalobjektivierenden Einseitigkeit der Wissenschaft auf, ohne der anti-rationalen mystischen „Dummheit“ zu verfallen: Die erfolgreichste Methode zur Erkenntnis des Bürgers ist die Selbstbeobachtung.65

60 61 62 63 64 65

Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 99. Hervorhebung K. L. Ebenda. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 384. Picard: Der Bürger, S. 114. Ebenda.

3 Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Um dem in Kapitel 1 literatursoziologisch abgeleiteten „Wesen der Literatur“ gerecht zu werden, wird meine in den beiden folgenden Hauptteilen dieser Arbeit erfolgende Analyse der Picard’schen Werke eng am Text ansetzen und von diesen textnahen Lektüren ausgehend zu den feldinternen und -externen Kontexten voranschreiten: Ich möchte damit auch herausarbeiten, dass ein solches Vorgehen Bourdieus literatursoziologischer Theorie keineswegs widerspricht, sondern in Einklang steht mit dem historisch gewachsenen Feldgesetz. Ein oft vernachlässigtes und auch von Bourdieu selbst empirisch kaum eingelöstes Element seines Ansatzes ist nämlich das Insistieren darauf, dass die ästhetischen Qualitäten der Texte von primärer Bedeutung für eine Soziologie der Literatur sind und diese „die literarische Form gerade nicht als irrelevant, sondern vielmehr als das Konstituens der Literatur schlechthin betrachtet“. 1 Ein solches Unterfangen bedarf jedoch der Unterstützung aus der Literaturwissenschaft und muss sich auf die Suche machen nach adäquaten Ansätzen, die eine solche textnahe Analyse ermöglichen, ohne ihre Vermittlung mit den sozialen und kulturellen Kontexten zu leugnen. Zwar räumt Bourdieu dem Text bzw. der ästhetischen Produktion in seiner Soziologie der Literatur einen zentralen Platz ein, doch gilt es, dieses Theoriegebäude mit genuin literaturwissenschaftlichen Methoden zu füllen. Markus Joch und Norbert Christian Wolf unterstreichen, dass die Sozioanalyse ausgiebig auf Erzählanalysen von Roland Barthes bis Gérard Genette zurück[greift], bis hin zur Frage der gewählten Verbzeiten, [und] dass die Sozioanalyse literarischer Texte im Unterschied zu Diskurs-, System- und Medientheorie induktiv bei der Einzeltextanalyse anzusetzen vermag, ja muss, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden (literarischer Text als distinkter Einsatz des Autors im Feld). Sie ist deshalb mit den Errungenschaften literaturwissenschaftlicher Textanalyse leichter vermittelbar und bedarf ihrer sogar notwendig zur historisch adäquaten Untersuchung2.

Einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der mit Bourdieus soziologischer Perspektive kompatibel ist und diese zugleich bereichern kann, stellt der in den achtziger Jahren in den USA entstandene New Historicism dar, zu dessen wichtigsten Vertretern Stephen Greenblatt, Loius Montrose, Peter Stallybrass und Alan Liu zählen. Sie arbeiten wie 1 2

Holler: Felder der Literatur, S. 29. Joch und Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft“, S. 13f.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Bourdieu an einer „Synthese externer und interner Analyse“3, ja an der Aufhebung ihres vermeintlichen Gegensatzes und an dem Nachweis, dass „die Interessen und analytischen Techniken der ‚Poetik der Kultur‘ zugleich historisch und formal [sind], [...], daß formale und historische Belange nicht einander entgegengesetzt, sondern vielmehr untrennbar sind.“4 Dieses Anliegen, das von Greenblatt in der historischen Auseinandersetzung mit der Frühen Neuzeit, insbesondere mit der Shakespeare-Forschung, entwickelt wurde, ist inzwischen für zahlreiche kulturwissenschaftliche Studien übernommen worden. Dabei wurde der von Beginn an interdisziplinär ausgerichtete Ansatz des New Historicism auch für ganz andere Epochen und Disziplinen fruchtbar gemacht. Obwohl sich der New Historicism ebenso wie Bourdieus Feldtheorie inzwischen einer breiten Rezeption erfreuen, gibt es aber erstaunlicherweise kaum Ansätze, beide miteinander zu verbinden. Dass beide vereinbar sind und wie weit die Überschneidungen reichen, zeigt besonders deutlich einer der Mastertexte5 des New Historicism, Greenblatts „The Circulation of Social Energy“6 aus den Shakespearean Negotiations. Von diesem Text ausgehend und weitere Texte aus den Shakespearean Negotiations einbeziehend, möchte ich im folgenden Feldtheorie und New Historicism zusammenführen und damit ihre Kompatibilität aufzeigen. Nach Greenblatt setzt der New Historicism nicht nur ein mit einem sozialen Begehren, mit dem Wunsch nach dem (unmöglichen) Austausch mit den Anderen – „I began with the desire to speak with the dead“7 –, dem zu antworten nur der Fiktion als Dichtung/Lüge8 möglich ist. Greenblatt geht aus von einem soziologisch-anthropologischen 3 4

5

6 7 8

Holler: Felder der Literatur, S. 8. Montrose, Louis: „Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur“, in: Moritz Baßler (Hrsg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Tübingen: Francke Verlag, 2001, S. 60–93, hier: S. 63f. Als die wichtigsten Monographien und Sammelbände des New Historicism dürfen gelten: Greenblatt, Stephen Jay: Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare, Chicago: University of Chicago Press, 1980; Greenblatt, Stephen Jay: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1988; Greenblatt, Stephen Jay: Learning to curse. Essays in Early Modern Culture, New York: Routledge, 1990; Veeser, Harold Aram (Hrsg.): The New Historicism, New York, London: Routledge, 1989; für die deutsche Rezeption Baßler, Moritz (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996; Glauser, Jürg und Annegret Heitmann (Hrsg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999. Aus der inzwischen großen Menge von Studien, die mit dem New Historicism arbeiten, seien herausgegriffen: Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Wilhelm Fink Verlag, 2000; Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink Verlag, 1999; Tkaczyk: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Neuzeit, München: Wilhelm Fink Verlag, 2011; Cha, Kyung-Ho: Humanmimikry. Poetik der Evolution, München: Wilhelm Fink Verlag, 2010. Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 1. Vgl. hierzu oben S. 30.

Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

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Vorsatz: „I propose that we begin by taking seriously the collective production of literary pleasure and interest“9. Zwei für sein Denken charakteristische Begriffe – die „Circulation of Social Energy“ und die „poetics of culture“10 – beschreiben ein Vorgehen, das bis in die Diktion hinein frappierend an Bourdieu erinnert: „I have termed this general enterprise – study of the collective making of distinct cultural practices and inquiry into the relations among these practices – a poetics of culture.“11 Ein besonderes Gewicht misst Greenblatt der Tatsache zu, dass die Magie und der Zauber der Literatur ein Effekt höchst objektiver sozialer Phänomene sind: „The idea is not to strip away and discard the enchanted impression of aesthetic autonomy but to inquire into the objective conditions of this enchantment, to discover how the traces of social circulation are effaced.“12 Insbesondere die deutsche, vorwiegend literaturwissenschaftlich geprägte Rezeption des New Historicism13 misst dieser Betonung des Sozialen wenig Gewicht zu. Paradigmatisch dafür erscheint die fragwürdige Übersetzung der „social energy“ als „kulturelle Energie“14, die das soziale Aushandeln der „negotiations“ hinter kulturellen Systemen, Semiotiken und Dynamiken verschwinden lässt. Interessanterweise verliert in der deutschen, vorwiegend soziologisch ausgerichteten Bourdieu-Rezeption das Insistieren auf dem spezifisch Literarischen an Bedeutung gegenüber der Prägung durch soziale Kontexte. Der New Historicism wendet sich wie Bourdieu gegen literaturwissenschaftliche Ansätze, die ausschließlich dem Text verhaftet bleiben. Die von beiden betriebene Kritik an den Einseitigkeiten etwa des new criticism oder der Dekonstruktion hat allerdings auch dazu geführt, dass die große Bedeutung textnaher Ansätze für ihre Arbeit zumeist unterbewertet wurde. Daran mag die Heftigkeit und Emotionalität der Polemik – Alan Liu etwa attestiert dem New Historicism eine „Angst“ vor dem Stallgeruch allzu text9 10 11 12

13

14

Ebenda, S. 4. Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“, S. 3. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 5. Ebenda. Ergänzt sei noch, dass der New Historicism dem „enchantment“ der Literatur auch dadurch gerecht zu werden versucht, dass er es in die literarischen Formen des eigenen Schreibens mitzunehmen versucht. Für die Soziologie der Literatur haben auch Lepenies und Bourdieu darauf hingewiesen, dass gerade das genuin Literarische und dessen ‚Reize‘ besonderes Erkenntnispotential bieten. Hier sind vor allem Gotthart Wunberg und Moritz Baßler zu nennen, die sich mit einer Gruppe anderer Forscher um die Rezeption des New Historicism und seine methodische Ausarbeitung verdient gemacht haben. In der deutschen Übersetzung der Shakespearean Negotiations wird der Begriff von Robin Cackett als „soziale Energie“ übersetzt (vgl. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare). Dagegen spricht Baßler von „kultureller Energie“ (Vgl. etwa Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen: Francke Verlag, 2005; Baßler, Moritz: „Zwischen den Texten der Geschichte. Vorschläge zur methodischen Beerbung des New Historicism“, in: Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp (Hrsg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin, New York: de Gruyter, 2002, S. 87–100, hier: S. 94).

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

lastiger Theorien15 – mitgewirkt haben; doch was im Text und als Text geschieht, ist für beide Ansätze zentral. Ein Versuch, die Ansätze der Bourdieu’schen Feldtheorie und der Arbeiten im Gefolge des New Historicism zusammenzudenken, ist bisher weitgehend ausgeblieben. Weder im Zuge der Versuche, die Anregungen Bourdieus für eine erweiterte soziologische Literaturtheorie in Deutschland fruchtbar zu machen, wie sie etwa Jurt, Joch/Wolf, Holler oder Magerski unternommen haben, noch im Rahmen der weitaus umfangreicheren Rezeption des New Historicism und der Bemühungen um seine methodische und theoretische Weiterentwicklung, insbesondere durch die Forschergruppe um Wunberg und Baßler, wurden Versuche zu einer theoretischen Verbindung unternommen. Die Gründe dafür, dass die Beziehungen zwischen Bourdieu und dem New Historicism auch in der deutschen Rezeption bisher kaum ausgeleuchtet wurden, sind wohl in erster Linie in ihrer vermeintlich unterschiedlichen Orientierung am Text- bzw. Handlungsparadigma16 sowie in dem Auseinanderlaufen der Rezeptionslinien, entlang derer beide Theorien hierzulande wahrgenommen wurden, zu suchen. Vor allem die späte Wahrnehmung Bourdieus und seine von Seiten der Literaturwissenschaft wiederholt vorgenommene Disqualifizierung als soziologischer Reduktionist17 sorgten dafür, dass seine kulturtheoretischen Schriften und das von ihr ausgehende Potential an „Provokationen“ (Joch/Wolf) gerade für die Literaturwissenschaft langezeit weitgehend unbemerkt geblieben ist. Auf der anderen Seite ist auch der New Historicism in Deutschland erst spät aufgenommen worden und erfuhr zudem seine wichtigste und intensivste Verarbeitung durch den Versuch, vor allem seine in engerem Sinne literaturwissenschaftlichen ‚Verfahren‘ auszuarbeiten. Soziologische und politische Aspekte des New Historicism verloren dabei an Gewicht – anders etwa als in den USA, wo es im Rahmen der Cultural Studies zu einem Anschluss des politisch eher zurückhaltend auftretenden New Historicism an marxistische, feministische und postkolonialistische Diskurse kam.18 15

16 17

18

Vgl. Liu, Alan: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“, in: Moritz Baßler (Hrsg.), New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main: Fischer, 1995, S. 94–163. Dazu ausführlich Kap. 3.4, S. 100ff. Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 3.3, 3.4. Ein Beispiel: „Bourdieu […] favours a functionalist approach. He analyses the actions of the subjects within what he terms ‚the cultural field‘ exclusively with regard to the chances of winning power and prestige and considers the cultural objects simply as strategic means which the producers use in the struggle for power.“ (Bürger, Peter: „On literary history“, in: Poetics. International Review for the Theory of Literature, 14. Jg. (1985), Nr. 3–4, S. 199–207, hier: S. 205) Vgl. hierzu auch Holler: Felder der Literatur, S. 26ff. Neben diesem rezeptionsbedingten Auseinanderdriften spielt möglicherweise auch eine innerfranzösische Animosität eine Rolle: Bourdieus als Positionskampf lesbare Kritik an Foucault – einem für den New Historicism zentralen Denker –, die er u. a. in den Regeln der Kunst betreibt, wenn er Foucualts Episteme als „eine mehr oder weniger erneuerte Form von Kulturalismus [...], eine[.] Art Wissenschaftswollen, sehr verwandt dem alten Konzept vom Kunstwollen“ (Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 319) bezeichnet. Auf der anderen Seite mag die von Liu kritisierte Angst des New

Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

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Die weitgehende Nicht-Beachtung von Verbindungslinien erstaunt dennoch ein wenig, zumal zwei der ‚Gründungstexte‘ des New Historicism Bourdieu an zentraler Stelle rezipieren und seinen Einfluss positiv unterstreichen: Greenblatts Aufsätze „The Circulation of Social Energy“ und „Fiction and Friction“ aus den Shakesperarean Negotiations gehen – wenngleich lediglich im Fußnotenbereich – auf Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis19 ein. Im Zusammenhang mit einer für ihn so entscheidenden Frage wie der von Subversion und Containment („Eindämmung“ oder „Machterhalt“) macht Greenblatt das Theater zum Modell sozialer Handlung. Was auf der Bühne geschieht, ist dabei jedoch keineswegs unverbindlich, sondern Paradigma für den Zwang, der sozialen Handlungen innewohnt: Das theatrale Geschehen bringt sein Publikum dazu, eine scheinbar retrospektive Notwendigkeit als prospektive Notwendigkeit anzuerkennen: Die formale Notwendigkeit, die sich für den Zuschauer rückblickend aus den bereits stattgefundenen Ereignissen ergibt, ist in Wirklichkeit eine vorgängige Notwendigkeit, die sich in der Existenz eines Manuskripts enthüllt20.

Die oft verkannte politische Containment-Funktion des Theaters verleiht dem (Rück-)Blick auf die sozialen Zusammenhänge dargestellter Praktiken eine formale Notwendigkeit, die ihnen außerhalb der Bühne nicht in diesem Ausmaß zukommt. Sie verwirrt die „Unterscheidung [distinction] zwischen retrospektiver und prospektiver Notwendigkeit“21, und in diesem Zusammenhang bezeichnet Greenblatt Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis als „äußerst anregend“.22 Auch im Zusammenhang mit der wichtigen Einsicht, dass „Shakespeares Theater [...] in dem Maße wirksam und mächtig [wird], in dem sein Publikum an seine Nutzlosigkeit und praktische Wertlosigkeit glaubt“23 fühlt er sich „an Bourdieus Kritik an einer ‚eingeschränkte(n) Definition des ökonomischen Interesses‘ erinnert, die er als das historische Produkt des Kapitalismus ansieht“24. In dem Aufsatz „Fiction and Friction“ wird ebenfalls an einer höchst bedeutsamen Stelle auf Bourdieu verwiesen: Greenblatt fasst die Verbindung zwischen dem Diskurs über Sexualität, wie ihn eine spezifische Kultur entwickelt, und den in ihr möglichen und unmöglichen Modellen sozialer Identität in die Metapher des Swerving. Diese Stelle ist für meine Arbeit von besonderem Interesse, da ich unten die Metapher des Swerving aufgreifen und zu einem Modell für die soziale Laufbahn des Schriftstellers ausar-

19 20 21 22 23 24

Historicism vor großen Theorien, die noch dazu nach methodisch einseitigen Entscheidungen für textzentrierte oder kontextualisierende hermeneutische Paradigmen ‚riechen‘, dazu geführt haben, dass seine Rezeption zu einem soziologischen Großdenker wie Bourdieu Distanz gehalten hat. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 28. Ebenda, S. 211, Fußnote 14 Ebenda. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 211, Fußnote 15

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

beiten werde.25 Mit dem Bild einer Bowl-Kugel und des ihr eignenden Gewichts veranschaulicht Greenblatt in „Fiction and Friction“, dass dem Diskurs über Sexualität bei der Herausbildung kultureller Identitäten eine ‚gewichtige‘ Rolle zukommt. It does so by helping to implant in each person a system of dispositions and orientations that governs individual improvisations, to implant, in other words, the defining off-center weight: ‚But nature to her bias drew in that‘26.

In der anschließenden Fußnote zitiert er eine längere Passage aus Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis, in der u. a. von einer an Greenblatts „swerving“ erinnernden „deviation“ die Rede ist: ‚Personal‘ style, the particular stamp marking all the product of the same habitus, whether practices or works, is never more than a deviation in relation to the style of a period or class so that it relates back to the common style not only by its conformity ... but also by the difference which makes the whole ‚manner‘.27

Der Versuch, die kulturwissenschaftlichen Konzepte von Bourdieus Feldtheorie und des New Historicism (bzw. dessen theoretisch-methodischer Weiterentwicklung) zusammenzudenken, soll im Folgenden anhand verschiedener theoretischer Fragen durchgeführt werden, die sich für die Beschäftigung mit Max Picards literarischer Physiognomik als bedeutsam herausstellen werden: Die Bedeutung ökonomischer Modelle für eine Theorie kultureller Praxis, der Zusammenhang von Anekdotischem und historischer (Re-)Konstruktion, das Text-Kontext-Verhältnis sowie die Frage nach AutorSubjekt und Handlung sind Probleme, an denen sich wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Feldtheorie und New Historicism aufzeigen lassen, und die beide als vereinbare bzw. sich gegenseitig ergänzende theoretische Entwürfe erweisen. Wichtige Unterschiede, wie sie etwa in der Behandlung des Verhältnisses von Text und Praxis, der anders akzentuierten Kontextualisierung oder der Rolle des Anekdotischen deutlich werden, sollen jedoch keineswegs unerwähnt bleiben.

25 26 27

Vgl. unten S. 105ff. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 75. Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, S. 86, zit. n. ebenda, S. 178f. Hervorhebungen S. G. Auch Peter Stallybrass und Allon White, auf deren neohistoristische Theorie des Grotesken ich in Teil II zurückgreife, verweisen auf Bourdieu als einen der Hauptbezugspunkte ihrer Arbeit: „The writings of Mikhail Bakhtin, Norbert Elias, Mary Douglas and Pierre Bourdieu have been a perpetual and special source of inspiration to us.“ (Stallybrass und White, The politics and poetics of transgression, S. ix) Während Bourdieu im angelsächsischen Bereich als Theoretiker des Grotesken nicht nur bei Stallybrass/White erwähnt wird, sondern auch das Bachtin-Sammelwerk Face to Face. Bakhtin in Russia and the West dem Vergleich Bourdieu – Bachtin einen eigenen Beitrag widmet (Lane, Jeremy: „Sociology and Dialogics: Pierre Bourdieu, Mikhail Bakhtin and the Critique of Formalist Aesthetics“, in: Carol Adlam et al. (Hrsg.), Face to Face. Bakhtin in Russia and the West, Sheffield, 1997, S. 329–346), erwähnt ihn Peter Fuß’ jüngste Groteske-Studie nicht. Auch dies ist ein Indiz für die verkürzte Bourdieu-Rezeption der deutschen Literaturwissenschaft.

Ökonomische Metaphern und Modelle

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3.1 Ökonomische Metaphern und Modelle Zu den wichtigsten verbindenden Elementen, die Feldtheorie und New Historicism gegenüber anderen Literaturtheorien auszeichnen, gehört ihre auf ökonomische Prozesse zurückgreifende Konstruktion von Kultur und Gesellschaft. Bourdieu überträgt Kategorien wie ‚Kapital‘, ‚Arbeit‘ oder ‚Produktion‘ als Modell in die Untersuchung kultureller Praktiken. Dagegen verwendet der New Historicism ökonomische Schlagworte wie ‚Zirkulation‘, ‚Austauschbeziehungen‘ oder ‚Verhandlung‘ eher metaphorisch: Zwar stellt auch Greenblatt in den Shakespearean Negotiations ein differenziertes Schema auf, das ökonomische Kategorien auf Prozesse kultureller Transaktion anwendet und verallgemeinert – eine systematische Ausarbeitung dieses Ansatzes erfolgt jedoch in weiteren Studien weder bei Greenblatt selbst noch bei den übrigen New Historicists. Es fällt auf, dass dort, wo Bourdieu und Greenblatt Begriffe aus der Ökonomie entlehnen, bearbeiten und an ihnen das eigene Vorgehen entwickeln, Schlagworte des jeweils anderen auftauchen – und zwar jeweils an prominenter Stelle, an der für die gesamte Theoriebildung zentrale Konzepte vorgestellt und ausgeführt werden. Während Greenblatt dabei explizit auf Bourdieu verweist, findet sich umgekehrt kein Beleg für eine eingehendere Auseinandersetzung Bourdieus mit dem New Historicism. Und es ist gut möglich, dass die bei Bourdieu anzutreffenden Metaphern der „sozialen Energie“, der „Austauschbeziehungen“ und der „Zirkulation“ auf anderem Wege in Bourdieus Schriften gelangt sind als über eine direkte Kenntnis des New Historicism; dies liegt zumindest für die „soziale Energie“ sogar nahe, denn der Begriff findet sich schon in einem Aufsatz Bourdieus28, der der Verbreitung des New Historicism zeitlich vorausgeht. Die „Zirkulation“ wiederum ist ebenso wenig wie die „soziale Energie“ ein vom New Historicism exklusiv verwendeter Begriff. Bourdieus Unternehmen, so divers sie verlaufen sind, lassen sich zusammenfassen als ein Versuch, eine Ökonomie der symbolischen Güter zu entwickeln, ohne dem Ökonomismus zu verfallen. Von der Untersuchung der Krise vorkapitalistischer Praktiken in der kabylischen Gesellschaft29 bis hin zur Theorie des modernen literarischen Feldes ist es ein zentrales Anliegen seiner Arbeiten, die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen einer „allgemeine[n] Theorie der Ökonomie der Praktiken aufzustellen“30. An einer Stelle nun, an der er den Kapitalbegriff aus der Politischen Ökonomie

28

29 30

Den Begriff „soziale Energie“ erwähnt Bourdieu erstmalig in einem 1983 und zunächst auf deutsch veröffentlichten Beitrag: Vgl. Bourdieu, Pierre: „Ökonomisches Kapital, Kulturelles Kapital, Soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen: Schwartz, 1983, S. 183–198, hier: S. 183. Vgl. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 162.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

übernimmt, um daran marxistische Theorien des Ökonomischen gleichermaßen zu kritisieren und zu erweitern, verweist er in enger Anlehnung an Marx darauf, es sei wichtig, den Kapitalbegriff wieder einzuführen, und mit ihm das Konzept der Kapitalakkumulation mit allen seinen Implikationen. Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form. Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung sozialer Energie [énergie sociale] in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich.31

Der Begriff der „Zirkulation“ begegnet in einem anderen für Bourdieu zentralen Zusammenhang – der Explikation des Begriffs des „symbolischen Kapitals“, an den Bourdieu seine gesamte erweiterte Ökonomie der Praktiken knüpft: Im Gegensatz zum ökonomischen Kapital zeichnet sich das symbolische Kapital dadurch aus, dass die in ihm verausgabte Arbeit einem Tabu der expliziten Kalkulation unterliegt. Dennoch gehorchen auch der symbolische Tausch und Kapitaltransfer ökonomischen Prinzipien, die jedoch im Vollzug der symbolischen Transaktionen verschleiert werden. Es kommt zur Verklärung der ökonomischen Akte zu symbolischen Akten, eine Verklärung, die praktisch vor sich gehen kann, wie beispielsweise beim Gabentausch, bei dem die Gabe aufhört, ein materielles Objekt zu sein und zu einer Art Botschaft oder Symbol wird, mit dem ein sozialer Zusammenhang hergestellt werden soll. [...] Bei diesem ganz besonderen Typ von Zirkulation [circulation] wird eine besondere Form von Kapital erzeugt und akkumuliert, das ich das symbolische Kapital genannt habe und dessen Hauptmerkmal seine Entstehung in einer sozialen Beziehung ist.32

Es gibt also zwei soziale Wahrheiten des symbolischen Tauschs: Zum einen funktionieren die Ökonomien des Symbolischen nur dann, wenn die objektiv in den Praktiken liegende Zweckgerichtetheit ökonomisch nicht ins Leere läuft, sprich: wenn dem Geben auch ein – mehr oder weniger – entsprechendes Nehmen folgt. Zum anderen funktionieren Praktiken aber nur dann als „symbolische Praktiken“, wenn ihnen eine aus subjektiver Perspektive in den Handlungen liegende „Interessefreiheit“33 zukommt – und der Schein des Selbstverständlichen, der soziale Herrschaft und Verpflichtung zum subjektiven Bedürfnis sublimiert. Diese subjektive Interessefreiheit ist jedoch selbst wieder ein objektiver (wenngleich schwer fassbarer) Bestandteil der sozialen Welt, aus dem die Wahrnehmungen, Kategorisierungen und Dispositionen der Handelnden entstehen. Mit besonderem Nachdruck unterstreicht Bourdieu, dass die Wirkmacht des symbolischen Kapitals nicht einem metaphysischen System der symbolischen Formen entstammt, sondern der unermüdlich und immer wieder aufs Neue zu leistenden Arbeit an 31 32 33

Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, Kulturelles Kapital, Soziales Kapital“, S. 183. Hervorhebung K. L. Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 176. Hervorhebung K. L. Vgl. Bourdieu, Pierre: „Ist interessefreies Handeln möglich?“: in: Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 137–157, hier: S. 139. Von der Kunst gilt: „Wer in sie eintritt, hat an Interesselosigkeit Interesse“ (ebenda, S. 342).

Ökonomische Metaphern und Modelle

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der Aufrechterhaltung und Verdrängung des ökonomischen Prozesses, der dem Symbolischen zugrunde liegt. Und dabei greift er erneut auf den Begriff der „Sozialen Energie“ zurück: Das symbolische Kapital besteht aus einem beliebigen Merkmal, Körperkraft, Reichtum, Kampferprobtheit, das wie eine echte magische Kraft symbolische Wirkung entfaltet, sobald es von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, die über die zum Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen dieser Eigenschaft nötigen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien verfügen [...]. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magischer Akt. Nur scheinbar aber bildet er eine Ausnahme vom Gesetz des Ausgleichs der sozialen Energie. Damit der symbolische Akt eine derartige, ohne sichtbare Verausgabung von Energie erzielte magische Wirkung ausüben kann, muß ihm eine oft unsichtbare und jedenfalls vergessene, verdrängte Arbeit vorangegangen sein.34

Wie bei Bourdieu spielt auch in Greenblatts Denken die Übertragung ökonomischer Modelle auf kulturelle Prozesse eine tragende Rolle. Der im Eingangskapitel der Shakespearean Negotiations unternommene, aber für den New Historicism und Greenblatt eher untypische Versuch, das eigene Vorgehen losgelöst von einer Materialanalyse systematisch zusammenzufassen, orientiert sich an der Aneignung ökonomischer Begriffe wie „circulation“, „negotiation“ oder „exchange“. Mit ihnen lassen sich die Austauschprozesse verfolgen, die kulturelle Güter oder Praktiken (Texte, Theorien, Begriffe, Metaphern) zwischen verschiedenen, oft weit auseinander liegenden kulturellen Sphären oder Wissensfeldern hin- und herwandern lassen. Dabei transportieren die Tauschobjekte die Werte (das kulturelle, ökonomische oder soziale Kapital, bzw. die „soziale Energie“), die in den Produktionsprozessen in sie investiert wurden, und ermöglichen den neuerlichen Einsatz dieser Werte in veränderten sozialen Kontexten. Die Zirkulationsprozesse erfolgen dabei auch dem New Historicism zufolge nicht ohne Konditionen und Restriktionen. Die Aneignung kultureller Objekte oder Praktiken findet, abhängig von ihrem Wert und ihrer Exklusivität, unter verschiedenen Vorzeichen statt und erfordert „negotiations“35: Handelt es sich um allgemein zugängliche Produkte (beispielsweise die ordinäre Sprache des Volkes), so kann eine Aneignung als „Appropriation“36 erfolgen, also ohne große Gegenleistung. Dieser Fall gilt allgemein für Produktionen, die nicht durch die Macht spezifischer Produzenten oder Rezipienten mit limitierenden Zugriffsrechten geschützt werden. Ist dagegen letzteres der Fall, erfolgt ein Tausch nur für eine Gegenleistung, etwa als Geldzahlung, also in Form von ökonomischem Kapitel („Purchase“37). Bei der dritten Form der Aneignung, der „Symbolic Acquisition“38, findet die Gegenleistung vor allem in symbolisch-repräsentativer Form statt. So ist es (zu Renaissance-Zeiten) nicht möglich, Machthaber und deren für das Theater verlockenden 34 35 36 37 38

Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 174. Hervorhebung K. L. Vgl. zum Folgenden Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 9ff. Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“, S. 9. Ebenda. Ebenda, S. 10.

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‚Glanz‘ auf die Bühne zu bringen, ohne diesen im Gegenzug mit einer gewissen Bewunderung zu begegnen, auch wenn diese gebrochen oder nur partiell sein mag. Symbolic acquisitions begegnen in dreierlei Form: Eine direkte „Simulation“39 betreibt etwa das Nachspielen eines öffentlichen Rituals, das als solches kenntlich bleibt (etwa einer Krönungsszene oder einer Theateraufführung). Die verstecktere Form der „Metaphorical Acquisition“ nutzt latente Homologien zum Vorbild aus, stellt dabei aber stets auch die Differenzen aus40. „Synekdoche“ und „Metonymy“ schließlich isolieren ein für die negotiations verfügbares und erlaubtes Attribut oder einen Bestandteil eines sozialen Produkts und lassen es für den (in seiner Gänze möglicherweise unerlaubten) Rest stehen (wie bei Shakespeare die anzügliche Sprache für den gesamten Komplex erotischer Handlungen). Greenblatt betont, dass die Austausch- und Zirkulationsprozesse den Praktiken und Objekten soziale Energie verleihen; wie bei Bourdieu und Marx werden die Produkte zum sozialen Gut oder Tauschwert jedoch erst durch die Investition von Arbeit. „Kulturgüter“ entstehen in einem sozialen Prozess der „kollektiven Erzeugung unterschiedlicher [distinct] kultureller Praktiken“41, in dem kulturelle Werte aufgegriffen, modifiziert und dadurch neu geschaffen werden. Der Austausch sozialer Praktiken verläuft über Grenzen, die den „Exchange“ als einen zweiseitigen Vorgang erst ermöglichen. Gleichzeitig werden diese Grenzen aber auch in den „negotiations“ ständig neuverhandelt und stabilisiert, verschoben oder modifiziert: „[C]irculation depends upon a separation of artistic practices from other social practices, a separation produced by a sustained ideological labor, a consensual classification.“42 Ähnlichkeiten zu Bourdieus Theorie der Felder fallen hier deutlich ins Auge. Zugleich weist das Bourdieu’sche Konzept des „symbolischen Kapitals“ jedoch auch bedeutende Differenzen zu den „Austauschbeziehungen“ und „Zirkulationen“ des New Historicism auf. Wesentlich stärker als dieser betont Bourdieus Modell der sozialen Praxis, dass symbolische wie wirtschaftliche Ökonomien Ausschluss- und Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten und befestigen. Darauf verweist sein Begriff der „symbolischen Gewalt“, der das „Gesetz des Ausgleichs der sozialen Energie“43 dahingehend differenziert, dass hier zwar immer ein gegenseitiger Ausgleich – ein do ut des – stattfindet, aber zumeist zwischen ungleichen Ausgangspositionen innerhalb einer Machthierarchie. Dagegen vernachlässigt die zunehmende Orientierung des New Historicism am Textualitätsmodell vor allem die Aspekte von Gewalt und Ausschluss, wie sie die symbolische Ökonomie mit sich bringt. Die Frage nach den Grenzen der Zirkulation – 39

Ebenda. In A Midsummer Night’s Dream spielt z. B. das Weihen des Brautbetts mit Feldtau an auf den katholischen Brauch, das Ehebett mit Weihwasser zu besprühen (Vgl. ebenda, S. 11). 41 Ebenda, S. 14. 42 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 13. 43 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 174. 40

Ökonomische Metaphern und Modelle

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die in „The circulation of social energy“ ja deutlich herausgestellt werden44 – gerät angesichts der (erfolgreichen) Suche nach immer wieder verblüffenden Diskursverknüpfungen gelegentlich ins Hintertreffen.45 Für meine literaturhistorische Auseinandersetzung werde ich insbesondere auf den der Ökonomie entlehnten Begriff der „Austauschbeziehungen“ zurückgreifen. Er spielt nicht nur im New Historicism eine zentrale Rolle, sondern findet sich auch bei Bourdieu – und zwar mit starken Affinitäten zu seiner Verwendung bei Greenblatt. Bourdieu benutzt ihn, um in Die Regeln der Kunst die zwischen verschiedenen teilautonomen Feldern bestehenden Homologie-Beziehungen zu differenzieren: Er unterscheidet dabei „Analogien“ – die sich einem übergeordneten strukturierenden Rahmen verdanken und die erklären können, warum thematische, stilistische oder topologische Gemeinsamkeiten zweier oder mehrerer Autoren nicht notwendigerweise auf einer Kenntnisnahme bestimmter Schriften beruhen müssen – und „direkte[.] Austauschbeziehungen“, welche durch explizite Rezeption und die daran anschließende Übertragung aus einem Feld in ein anderes Feld zustande kommen: Für jede einzelne historische Konfiguration wären einerseits die strukturellen Analogien zwischen verschiedenen Feldern zu überprüfen, die Koinzidenzen und Korrespondenzen zugrunde liegen können, ohne daß ausgesprochene Anleihen mitspielten, und andererseits die direkten Austauschbeziehungen, die in ihrer Form und sogar in ihrer Existenz von den Positionen der betreffenden Akteure oder Institutionen im Feld abhängen.46

Die Unterscheidung zwischen „Analogien“ und „direkten Austauschbeziehungen“ richtet sich gegen die irreführende Rede von einem allgemeinen ‚Zeitgeist‘. Die Eigenart des kulturellen Feldes, interne Austauschbeziehungen zwischen den Teilfeldern zu etablieren, spielt für die Analyse literarischer Praktiken insbesondere der Weimarer Zeit eine wichtige Rolle. Denn die im 19. Jahrhundert gewachsenen Allianz- und Konkur44 45

46

Vgl. Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“, S. 5ff. Das zeigt sich etwa, wenn Greenblatt den „Prozeß einer solchen Absonderung [...] mit Hilfe verschiedener Metaphern“ (Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 23) beschreibt, die den Ausschluss eher als einen absichtsvollen Akt erscheinen lassen, wie etwa dem „Bau von Mauern oder Zäunen“ oder der Durchlasskontrolle an „ein[em] Tor“, dem Aufstellen einer Tafel, „auf der die innerhalb der Mauern geltenden Verhaltensmaßregeln kundgetan werden“ oder einer „Klasse von Funktionären, die sich auf die Gebräuche der eingegrenzten Zone spezialisiert“ (alle Zitate ebenda). Die Feldtheorie dagegen deckt gerade die Wirkmächtigkeit unbewusster Exklusionsmechanismen auf, die erst dann funktionieren, wenn sie nicht mehr als soziale Ausschlussmechanismen, sondern als selbstverständliche ‚natürliche‘ Akte wahrgenommen werden – also als absichtslose Praktiken. Dass die Feldtheorie hier einen höheren Komplexitätsgrad erreicht, zeigt etwa auch der ‚Fall Rousseau‘: Die wohlwollend-herablassende Behandlung des ‚Naiven‘, die in dessen Akzeptanz vor allem die Souveränität der Autonomie manifestiert, ließe sich als ‚absichtsvolle Inklusion‘ beschreiben, die letztlich einer unbewussten Exklusion ähnelt. In der Absicht der Feldakteure manifestiert sich die Chancenlosigkeit des ‚Naiven‘. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 386ff. Ebenda, S. 319. Hervorhebung K. L.

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renz-Beziehung etwa zwischen künstlerischem und literarischem Feld, der Austausch zwischen beiden über gegenseitige Kritiken, soziale Kontakte und Freundschaften oder Vorbildfunktionen stellt sich als ein komplexes reziprokes Geflecht dar, das angesichts der emphatischen Aufbruchs- und Umsturzrhetoriken der Weimarer Zeit nur allzu leicht als universalisierter und homogenisierter ‚Epochengeist‘ missverstanden oder zum ‚Gesicht der Zeit‘ vereinheitlicht wird. Dennoch ist für die Weimarer Zeit – ohne einen jener ‚Epochengeister‘ zu beschwören – davon auszugehen, dass ökonomische, kulturelle und soziale Einschnitte in einer solchen Stärke stattfinden, dass sie feldübergreifende Auswirkungen zeitigen: Damit ist für das zweite und dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch die von Bourdieu allgemein aufgestellte „Grundfrage“ zu bejahen, ob die sozialen Effekte chronologischer Zeitgenossenschaft oder räumlicher Einheit wie etwa die Tatsache, dieselben spezifischen Treffpunkte zu frequentieren (Literatencafés, Zeitschriften, Kulturvereine, Salons usw.) oder denselben kulturellen Botschaften ausgesetzt zu sein (gemeinsamen Standardwerken [das wären für die Weimarer Zeit etwa Spengler oder Freud, K. L.], obligatorischen Fragestellungen [der nach Einheit und Differenz, K. L.], hervorstechenden Ereignissen [1. Weltkrieg, Revolution, Einführung der Demokratie, K. L.] usw.), mächtig genug sind, über die Autonomie der unterschiedlichen Felder hinweg eine gemeinsame Problematik – verstanden nicht als ‚Zeitgeist‘, sondern als Raum der Möglichkeiten, als System unterschiedlicher Positionen, in bezug auf den man sich zu definieren hat – entscheidend zu bestimmen47.

Solche „Analogien“ stellen in Picards Texten etwa die expressionistischen Topoi (Großstadt, Krieg oder Modernisierung) und Verfahren dar, die nicht notwendigerweise aus einer direkten Rezeptionserfahrung hervorgehen. Dagegen lassen sich für die „Austauschbeziehungen“ Picards etwa zum Feld der Medizin und Psychiatrie, zur Geschichtswissenschaft oder zur Theologie oft direkte Rezeptionsprozesse nachweisen.

3.2 Von grünen, weißen und blauen Bohnen. Die Anekdote Ein von Gegnern wie Befürwortern des New Historicism gern erwähntes Charakteristikum ist sein anekdotisches Verfahren, das die Zirkulationsprozesse zwischen kulturellen Texten in vermeintlich unscheinbaren und daher umso überraschenderen Begebenheiten, Gegenständen und Textkorrespondenzen aufspürt.48 Die anekdotische Darstellungsweise wird dabei in der Rezeption des New Historicism einerseits geschätzt – nicht zuletzt, weil sie die Lektüre des wissenschaftlichen Textes zu einem angenehmen, an der Poetizität und dem literarischen enchantment der Kulturprodukte partizipierenden Vergnügen werden lässt; andererseits wird das Anekdotische immer wieder als problematisch 47 48

Ebenda, S. 320. Vgl. zur Anekdote im New Historicism Fineman, Joel: „The History of the Anecdote: Fiction and Fiction“, in: Harold Aram Veeser (Hrsg.), The New Historicism, New York: Routledge, 1989, S. 49–76.

Von grünen, weißen und blauen Bohnen. Die Anekdote

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empfunden und den Kontextualisierungen des New Historicism Unkontrollierbarkeit und Beliebigkeit vorgeworfen.49 Dabei zielt der Einsatz von Anekdoten – der oft auch ein Einsetzen mit Anekdoten 50 ist – keineswegs allein auf Belustigung und Unterhaltung, auch wenn beides durchaus als Qualität anerkannt wird. Das Anekdotische ist vielmehr ein bewusst herangezogenes Mittel, um gezielt die Wahrnehmung für vergangene oder unvertraute kulturelle Phänomene aus den eingefahrenen Schemata zu lösen – und zwar qua Entstellung und Verstörung der aus den großen und kleinen Geschichten entstandenen Konstruktionen der Geschichte: „The historical anecdote functions less as explanatory illustration than as disturbance, that which requires explanation, contextualisation, interpretation.“51 Baßler verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition der Anekdote als historische Erzählform. Mit ihr geht eine Erwartungshaltung einher, die festgefahrene geschichtsphilosophische Narrationsschemata hinterfragt: Die Anekdote steht seit jeher, seit Prokops Geheimgeschichte(n) des byzantinischen Hofes im 6. Jahrhundert, für eine geheime, alternative, potentiell skandalöse Geschichtsschreibung neben der offiziellen. Als Erzählung einer einzelnen, konkreten, merkwürdigen Begebenheit sperrt sie sich sozusagen von Natur aus gegen metanarrative Vereinnahmung durch ‚die‘ Geschichte.52

Greenblatts anekdotisches Verfahren, das durch unerwartete und überraschende Konnexe ein „almost surrealist wonder“53 hervorrufen soll, erinnert dabei an den surrealistischen Effekt, dessen Bestreben Breton als produktive Bestürzung beschreibt: „[D]en Geist bestürzen, heißt ihn ins Unrecht setzen.“54 Einen solcherart von einem ‚surrealistischen Erstaunen‘ bestürzten „Geist“ erfordert auch Bourdieus Feldtheorie, die wie seine gesamte Soziologie stark beeinflusst ist von den frühen ethnologischen Arbeiten; Spuren eines solchen ‚Geistes‘ finden sich in all dem, was Bourdieu zusammenfassend als „Reflexive Anthropologie“ beschreibt: Immer wieder bemüht er sich darum, den Konstruktionscharakter eines jeden Forschungsprozesses und den Verfremdungseffekt, den diese Wissenskonstruktionen selbst erzeugen, den Forschenden ins Bewusstsein zu bringen.55 Erst die „Bestürzung“ der ethnologi49 50 51 52 53

54 55

Vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 38f. So etwa Greenblatt: „Invisible Bullets“, Greenblatt: „Fiction and Friction“, Greenblatt: „Shakespeare and the Exorcists“. Greenblatt: Learning to curse. Essays in Early Modern Culture, S. 5. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 38. Greenblatt, Stephen Jay und Catherine Gallagher: „Introduction“, in: Stephen Jay Greenblatt und Catherine Gallagher (Hrsg.), Practising New Historicism, Chicago: University of Chicago Press, 2000, S. 1–19, hier: S. 10. Breton, André, Erstes Manifest des Surrealismus, 1924, zit. n. Baßler: Die kulturpoetische Funktion. Auch Greenblatt betont die subjektive Begründung und den Konstruktions-Charakter seines eigenen Vorgehens, das sich aus dem Begehren speist, mit den historischen Akteuren in Dialog zu treten und erst durch die fiktionalen, kontingenten und umstrittenen (Wieder-)Belebungen der von Toten hinterlassenen Spuren möglich wird – „Es begann mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen“ (nicht mit „dem Toten“, wie die deutsche Übersetzung fälschlicherweise schreibt): „I began

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schen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen „Geister“ öffnet den Blick auf die „Magie“- und „illusio“-Effekte der beobachteten Felder. Und um diese Bestürzung des wissenschaftlichen Geistes zu erreichen, schätzt auch Bourdieu den Einsatz anekdotischer, vermeintlich unscheinbarer und überraschender Blicke ins Detail: So demonstriert er etwa den so wichtigen Distinktionsbegriff in Die feinen Unterschiede anhand vermeintlicher ‚Erbsenzählereien‘, oder genauer: anhand der anekdotischen kulinarischen Unterscheidung von weißen und grünen Bohnen, die den Leser zunächst einmal verwundert innehalten lässt. Der soziale Sinn fürs distinguierende Bedeuten des Details entgeht nämlich nur allzu leicht dem Zugriff theoretischer und methodischer Groß-Konstruktionen. So werden in Unkenntnis oder Verkennung der Tatsache, daß hinter der offenbaren stofflichen Konstanz der Erzeugnisse sich eine Vielzahl divergierender sozialer Gebrauchsweisen verbirgt, Taxinomien in Anschlag gebracht [...], die geradewegs dem gesellschaftlichen Unbewußten der Statistiker entsprungen, zusammenfassen, was tatsächlich getrennt werden müßte (z. B. weiße und grüne Bohnen) und trennen, was zusammengefaßt werden könnte (z. B. weiße Bohnen und Bananen, da letztere innerhalb der Früchte, was erstere innerhalb der Gemüsesorten sind).56

Wer sich von diesen Unterschieden bestürzen lässt, versteht nicht nur, dass sich aus der Differenz der (nahrhaften, geschmacklich zu deftigen Speisen passenden, kostengünstigen) weißen Bohnen zu den (gesunden, kulinarisch erleseneren, kostspieligeren) grünen Bohnen ein gesamter Kosmos sozialer Lebenswelten und Unterschiede ablesen lässt, sondern auch die unbewusste Ignoranz, die die alltägliche praktische Vertrautheit mit solchen Kategorien der wissenschaftlichen Wahrnehmung einpflanzt. Nur wer den eigenen Forscher-Blick so zu entfremden und zu überraschen vermag, dass er eine ganze Soziologie im und aus dem Unterschied zwischen weißen und grünen Bohnen konstruieren kann, ist in der Lage, eine empirische Forschung zu betreiben, die die klassischen Meta-Narrationen und Abbildtheorien hinter sich lässt. Die Liebe zum Detail ist dabei kein Selbstzweck.57 In der Konfrontation mit anderen Details der

56 57

with the desire to speak with the dead“ (Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“, S. 1). In diesem Begehren liegt eben auch der Wunsch, die Objekte des wissenschaftlichen Forschens in Subjekte übergehen zu lassen und als „lebendige Stimmen“ zu hören, indem ihnen in der Tradition der romantischen Prosopopoiia ein fiktives Gesicht gemacht wird – ein Gesicht, das etwas anderes ist als ein passives, die soziale Umwelt objektivierendes Abbild. Greenblatt erteilt dem Konzept einer „Konfrontation zwischen totalem Künstler und totalisierender Gesellschaft“ (Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 10) mit seinem Anspruch wissenschaftlicher Souveränität und Objektivität eine Absage. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, S. 45. Der Vorwurf Lius, die Anekdote diene allein der „intellektuelle[n] sprezzatura“ (Liu: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“, S. 95, Hervorhebung im Original) des New Historicism, übersieht diese produktive Form der Bestürzung des Wissens. Dass ihre Anekdoten jedoch auch zur „intellektuelle[n] sprezzatura“ werden können, gilt für Bourdieu wie für den New Historicism: Auch in der Wissenschaft werden Demonstrationen einer spezifischen handwerklichen Virtuosität mit Anerkennung der ‚Erkenntnisse‘ honoriert.

Von grünen, weißen und blauen Bohnen. Die Anekdote

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Alltags- und Esskultur58 (wie etwa der kulinarisch und ökonomisch mit der weißen Bohne auf gleicher Stufe stehenden Banane) beginnen Bourdieus Bohnen zu erzählen. Ganz ähnlich bergen Greenblatts „Invisible Bullets“ eine andere Theorie-Geschichte nicht nur der ‚blauen Bohnen‘ sondern auch des Atheismus: Die Aufzeichnungen aus Thomas Harriots 1588 verfasstem A Brief and True Report of the New Found Land of Virginia, um die Greenblatts Aufsatz „Invisible Bullets“ kreist, schwanken zwischen kultureller Affirmation und Subversion. Die gläubige Verehrung von weltlichen und überweltlichen Autoritäten, der der Text vordergründig folgt, wird subversiv in Zweifel gezogen durch eine Denkfigur, die die Erfindung von Gottheiten als bewusst eingesetztes, ‚erfundenes‘ Herrschaftsmittel suggeriert. Doch findet diese Denkfigur ausschließlich Anwendung in der ethnologischen Beschreibung der ‚Anderen‘: „[A]theism [...] was almost always thinkable only as the thought of another. This is one of its attractions as a smear; atheism is a characteristic mark of otherness“59. Greenblatt führt aus, dass sich in Harriots ethnologischen Aufzeichnungen ein solcher Atheismus der Anderen findet – eine indigene Theorie mit einer surrealistisch anmutenden Interpretation, die zugleich das Wissen der englischen Kolonisatoren an ‚Modernität‘ übertrifft: Die durch die Kolonisatoren eingeschleppten Krankheiten töteten zahlreiche der unterworfenen Algonquains, nachdem die Eroberer bereits deren Dörfer verlassen hatten. Eine der zahlreichen indigenen Spekulationen über dieses Phänomen, von der Harriot berichtet, ist die Prophezeiung, „daß vom [englischen] Geschlecht noch mehr kommen würden, um die ihrigen zu töten und ihre Stelle einzunehmen“60. Als zugleich subversiver wie affirmativer Spiegel der kulturellen Dominante – derzufolge religiöse, politische und moralische Überlegenheit identisch sind – kann dann die Zurückführung der Krankheit auf eine spezielle Art „blauer Bohnen“ gelesen werden: The supporters of this theory even worked out a conception of the disease that in some features resembles our own: ‚Those that were immediately to come after us [the first English colonists], they imagined to be in the air, yet invisible and without bodies, and that they by our entreaty and for the love of us did make the people to die ... by shooting invisible bullets into them‘61. 58

59 60 61

Bourdieu und der New Historicism schätzen das Anekdotische auch deshalb, weil es dem wissenschaftlichen Zugriff zumindest in Ansätzen die Sinnlichkeiten kultureller Produkte wahrzunehmen erlaubt, die für ihren ‚Sinn‘ von so entscheidender Bedeutung sind – weil „‚Kultur‘ im eingeschränkten und normativen Sinn von ‚Bildung‘ dem globaleren ethnologischen Begriff von ‚Kultur‘ eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft“ werden muss (Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 17). Während Bourdieu eine Vorliebe für kulinarische Details hegt, erregen auf Seiten des New Historicism u. a. Kleidungsstoffe und die mit ihnen ‚verwobenen‘ Anekdoten die Faszination Greenblatts oder Stallybrass’. Greenblatt: „Invisible Bullets“, S. 22. Harriot, Thomas, A Brief and True Report of the New Found Land of Virginia, 1588, zit. n. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 52. Greenblatt: „Invisible Bullets“, S. 36.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Doch die Gemeinsamkeit geht noch weiter: Insbesondere in Bourdieus literaturhistorischen Regeln der Kunst rückt das Anekdotische nicht nur in den Fokus des Dargestellten, sondern auch der Darstellung selber. Im Versuch, die klassische Dichotomie von Theorie und Empirie auch in der eigenen Darstellung hinter sich zu lassen, fordert Bourdieu ein Verfahren, dass das Material selbst zum Sprechen bringt – und zwar gerade in seinen unscheinbaren Randbemerkungen. Wie der New Historicism, der die Anekdote(n) so mit sozialer Energie aufläd, dass der Gegensatz von (all)umfassender Narration und nichtiger Begebenheit aufgelöst wird, gilt Bourdieus Bemühen einer „Theorie[, die] wie die Luft, die man atmet, überall und nirgends ist: in einer abschweifenden Anmerkung, im Kommentar eines alten Textes, in der Struktur des interpretierenden Diskurses selbst.“62 Wohlgemerkt: Das Verfahren der Feldtheorie ist kein anekdotisches wie das des New Historicism. Aber das kulturelle Feld mit seinen feinen Differenz-Mechanismen (seinen affinées und raffinements) haust im Anekdotischen (nicht in einer universalen Theorie) und ist genau dort aufzuspüren. Durch Entlehnung von Elementen der Feldtheorie lässt sich so dem „Problem der Repräsentativität“ theoretisch begegnen, das Moritz Baßler im Verfahren des New Historicism und seiner Vorliebe für Anekdotisches ausmacht. Gerade weil die Akteure das Gesetz des Feldes, seinen Distinktionsdruck – vermittelt über den Habitus – immer wieder in Praktiken umsetzen müssen, gewinnt das unscheinbare Detail, das vermeintlich Unbedeutende an Bedeutung: Die Anekdote, nicht die Meta-Erzählung, macht den (feinen) Unterschied. Ein weiterer Kritikpunkt, der sich sowohl an Greenblatt als auch an Bourdieu richtet und sich mit ihrem Rückgriff auf das Anekdotische in Verbindung bringen lässt, ist der Vorwurf, sie kämen der von ihnen geforderten historischen Kontextualisierung selbst nicht ausreichend nach. Alan Liu kritisiert, daß der Interpret im New Historicism [...] ein Subjekt ist, das in der Vergangenheit nach einem anderen Subjekt sucht, das ihm definieren kann, was er selbst ist; aber alles, was diese Suche in ihrem unheimlichen Spiegel zeigt, ist das gleiche Subjekt, das er bereits kennt63.

Ähnliche Defizite sehen Rehbein, Saalmann und Schwengel in Bourdieus Historisierungspraktiken: „Bourdieu liefert größtenteils Momentaufnahmen, es bleibt unklar, auf welche Weise historische Prozesse zugänglich werden, obwohl er ihnen einen hohen Stellenwert zuschreibt.“64 Letztlich lässt sich – und dies zeigt auch die vorliegende Studie – ein heuristischer Wert anekdotischer Verfahren erst durch eine darüber hinausgehende breitere Kontextualisierung erweisen, auch wenn letztere niemals erschöpfend oder repräsentativ sein kann. Doch gerade eine Untersuchung literarischer (Text-)Praktiken kann an Plausibili-

62 63 64

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 284. Liu: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“, S. 110. Rehbein, Saalman und Schwengel: „Einleitung“, S. 9.

Historische Verwicklungen. Text und Kontext

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tät gewinnen, wenn sie sich durch Bourdieus und Greenblatts Geschick im Umgang mit anekdotischen Details anregen lässt, ohne bei ihnen stehenzubleiben.

3.3 Historische Verwicklungen. Text und Kontext Wie die beiden folgenden Kapitel zeigen werden, ist die Problematisierung des TextKontext-Verhältnisses nicht von der Frage nach dem literarischen Autor-Subjekt zu trennen – dies verdeutlicht etwa Jannidis’ Rede vom Autor als einem „Begriff[.] zwischen Text und historischem Kontext“65. Auch wenn aus Gründen der Darstellung hier zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Text und Kontext behandelt wird, handelt es sich um zwei Seiten einer Medaille: Wo das „Lebend-Bewegte, Unvollendete und Spielende“ (Auerbach) der literarischen Figuren nicht dem Autor zugesprochen wird, schreibt man es dem Text oder den Text-Kontext-Beziehungen zu. Und während der New Historicism in dieser Frage eher zum Text hin tendiert, spielt bei Bourdieu der Handlungsaspekt eine ungleich größere Rolle. Dies und die Tatsache, dass zwar beide Ansätze stark kontextualisierend arbeiten, Bourdieu dabei aber die feldinternen Kontexte in den Fokus rückt, während der New Historicism sich vor allem für die Austauschbeziehungen zwischen Texten und feldexternen Kontexten interessiert, dürfte zu den wichtigsten Unterschieden zwischen den beiden hier verglichenen Ansätzen zählen. Für Greenblatt und Montrose ist das „Lebend-Bewegte“ zuallererst eine Dimension des literarischen Textes. Textnahe anekdotische Lektüren verschiedener, oft sehr heterogener Texte sind ihnen der Königsweg zur Erschließung und Konstruktion überraschender und verblüffender Austauschprozesse; dabei wird das klassische hermeneutische Modell eines mehr oder weniger stabilen, zumeist analytisch etablierten und unbefragten soziokulturellen Hintergrundes (des Kontextes), der im Einzelwerk (dem Text) abgebildet wird, ersetzt durch ein Modell, in dem eine Zirkulation zwischen Texten-als-Kontexten die Hierarchie Kontext-Text ablöst. Auf dieses Modell spielt Montroses chiastische Wendung von „der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte“66 an. Allerdings schwankt der New Historicism nicht selten zwischen Text- und Handlungsparadigma. So erscheint die „soziale Energie“ mal als immanente Eigenschaft des Kunstwerks (d. h. im Feld der Literatur: des Textes), mal als Potential, das erst durch die Rezeptions- und Tauschhandlungen sozialer Akteure seine Wirksamkeit entfaltet.

65

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Jannidis, Fotis: „Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext“, in: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1999, S. 353–389, hier: S. 297. Montrose: „Die Renaissance behaupten“, S. 67.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Besonders in seinem Aufsatz „Resonance and Wonder“67 hat Greenblatt mit der Dimension des „wonder“ nahegelegt, dass die soziale Energie, die den Betrachter eines Kunstobjekts oder den Leser eines literarischen Textes staunend innehalten lässt, dem Werk selbst innewohnt: „By wonder I mean the power of the object displayed to stop the viewer in his tracks, to convey an arresting sense of uniqueness, to evoke an exalted attention“68. Einzigartigkeit und Macht werden hier dem Produkt des Künsters zugeschrieben und erscheinen weitgehend abgelöst von seinen Handlungen bzw. von denen seiner Adressaten zu sein. Dem steht allerdings entgegen, dass – wie Greenblatt betont – die (textuellen) Spuren der Toten als solche stumm sind und stumm bleiben; mit Leben und Energie erfüllt werden sie erst vom Leser bzw. Wissenschaftler, durch „das Studium der kollektiven Erzeugung unterschiedlicher kultureller Praktiken und die Erforschung der Beziehungen zwischen ihnen – als Kulturpoetik“69. Der Modus sozialer Energie ist die Zirkulation; und diese bringt weit mehr als nur Texte in Umlauf: The textual traces [...] that are at the center of our literary interest [...] are the products of extended borrowings, collective exchanges, and mutual enchantments. They were made by moving certain things – principally ordinary language but also metaphors, ceremonies, dances, emblems, items of clothing, well-worn stories, and so forth – from one culturally demarcated zone to another.70

Und selbst wo Texte zirkulieren, strömt diesen Energie erst durch Resonanz („resonance”) zu, also durch jenes Moment, das über das einzelne Kunstwerk weit hinausreicht und damit dem Wonder entgegengesetzt ist: By resonance I mean the power of the object displayed to reach out beyond its formal boundaries to a larger world, to evoke in the viewer the complex, dynamic cultural forces from which it has emerged and for which as metaphor or more simply as metonymy it may be taken by a viewer to stand.71

Die hier gegensätzlich erscheinenden Momente von Resonance und Wonder verraten ein Schwanken des New Historicism zwischen Text/Objekt- und Handlungs-Paradigma. Allerdings hat Greenblatt jüngst deutlich gemacht, dass dieses Verhältnis keineswegs als Gegensatz oder Widerspruch zu lesen sei, und damit auch seine früheren Ausführungen in „Resonance and Wonder“ selbstkritisch hinterfragt: Es gehört zu den, durch den Dekonstruktivismus vielleicht allzu beliebt gewordenen Freuden der Kulturanalyse, den verborgenen Übertragungen zwischen vermeintlich polaren Gegensätzen nachzuspüren. Das Staunen, das auf den ersten Blick mit einem strengen Formalismus verknüpft scheint, könnte in Begegnungen, die weit außerhalb der Grenzen der Kunst liegen, eine macht67 68 69 70 71

Greenblatt, Stephen Jay: „Resonance and Wonder“: in: Stephen Jay Greenblatt, Learning to curse. Essays in Early Modern Culture, New York: Routledge, 1990, S. 216–246. Ebenda, S. 170. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 14. Hervorhebung K. L. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 7. Greenblatt: „Resonance and Wonder“, S. 170.

Historische Verwicklungen. Text und Kontext

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volle Präsenz entfalten; und die Resonanz, die auf Anhieb fast vollständig in historischer Kontextualisierung aufzugehen scheint, könnte sich als eine nachhaltige Wirkung der Form erweisen. Die polare Entscheidungslogik – der Kurator, der vor der Wahl steht, Resonanz oder Staunen zu erzeugen – macht einer nuancierteren Wahrnehmung von deren subtilem Wechselspiel Platz.72

Moritz Baßler legt in seiner Aneignung des New Historicism für die deutsche Literaturwissenschaft den Akzent eindeutig auf das Text-Paradigma einer an kulturellen Kontexten interessierten Lektüre. Indem er es weiterentwickelt, versucht er, eine „Theorie der Textualität vorzulegen, die Text und kulturellen Kontext zugleich beschreibt, und eine Methode daraus abzuleiten, die beide zu analysieren erlaubt“73: Er optiert noch entschiedener als Greenblatt für eine strikte Eingrenzung des kulturellen Kontextes auf Texterzeugnisse – der Kontext wird zum ‚Kon-Text‘: „Der Kontext eines Textes, der [...] modellhaft durch die reziproke Beziehung zweier Texte ‚hergestellt‘ wird (jeder Text ist potentiell Kontext für den jeweils anderen), wird lesbar als ein ‚umfassenderer kultureller Text‘.“74 Damit bildet die Summe aller Texte, die in einer Epoche gespeichert wurden, den immensen Kontext eines Textes – das „Archiv“75, das Baßler in Abgrenzung von Foucault nicht als ein die Texte übersteigendes und hervorbringendes Gesetz des Sagbaren und nicht Sagbaren, sondern (mit Boris Groys) als Summe aller wirklichen Texte einer Zeit fasst. In seiner Textualitätstheorie vollzieht Baßler die von ihm selbst ausgemachte „Weigerung [des New Historicism, K. L.], den historisch-kulturellen Kontext eines literarischen Textes anders zu fassen denn in Form weiterer, je partikularer Texte“76 mit. Sie ist dabei jedoch „nicht als Universaltheorie angelegt, sie behauptet keinesfalls, daß ‚alles Text‘ sei.“77 Kulturelle Komponenten und Prozesse wie Medialität, Performativität, Kommunikation, Handlung, Erinnerung und Semiose werden also bewusst vernachlässigt, um dem New Historicism die oftmals eingeforderte methodisch abgesicherte Basis zu verschaffen; erst ein generalisierter Textualitätsbegriff [...] bietet einen methodisch bruchlosen Weg an, der von den Texten in ihren kulturellen Kontext führt – und nicht, wie sonst immer, umgekehrt von einem bereits definierten Hintergrund ausgeht, in den die Texte sich einordnen.78

Der Text, oder genauer: die Verfasstheit als Text, soll die heterogenen Dinge, die im New Historicism zirkulieren, methodisch handhabbar machen: 72

73 74 75 76 77 78

Greenblatt, Stephen Jay: „Resonanz und Staunen revisited. Über Wunden, Schnitte und die Norton Anthology of English Literature“, in: Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hrsg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München: Wilhelm Fink Verlag, 2009, S. 33–51, hier: S. 35. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. V. Ebenda, S. 13. Vgl. ebenda, S. 176. Baßler: „Zwischen den Texten der Geschichte“, S. 94. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. V. Ebenda, S. 9.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich Die Textualität bezeichnet jene systematische Ebene, [...] auf der zwei Dinge allererst miteinander in Verhandlung treten können, genauer gesagt: die Ebene, auf der diese Verhandlungen allererst beschreibbar werden [...], in diesem Fall also ‚the literary and the nonliterary‘, Resonanz und Staunen, ‚literary criticism and reality‘, kurz: Text und Kontext.79

Die Vorteile der Textualität liegen für Baßler also zum einen in der methodisch kontrollierten Beschreibung: Sie kann auf literaturwissenschaftliche Techniken wie das Close reading oder die Verfahrensanalyse und auf Modelle wie das der Intertextualität modifizierend zurückgreifen. Zum Anderen will das Vorgehen kontextualisieren, ohne zu vereinfachen und umgeht so „Metanarrationen und Kollektivsubjekte [...]. Techniken des Close reading, mit ihrer Genauigkeit auch im Detail, wurden mit Gewinn vom Einzeltext auf den texte général übertragen. Das Komplexitätsversprechen, das kulturwissenschaftlichen Ansätzen eigen ist – hier wurde es erstmals ansatzweise eingelöst, und zwar dadurch, daß kulturwissenschaftliche Text-KontextAnalyse als komplexitätssteigernde Vernetzung konkreter Texte praktiziert wurde – und nicht, wie sonst, als komplexitätsreduktive Abstraktion.80

Baßlers Textualitätsansatz birgt jedoch das Problem, dass die Verknüpfung zwischen Text und ‚Kon-Texten‘ selbst über einen Text und dessen Beschreibungen verläuft: Zwischen den [...] Texten der Geschichte, dem Quellentext und dem Historiker-Text, befindet sich ein weiterer Text, der Text der Kultur. Die Schwierigkeit aller Historiker-Texte liegt darin, diesen nicht-linearen, prinzipiell unendlich komplexen Text als paradigmatische, das ist kulturelle Dimension jedes Quellentextes mit zu vertexten.81

Zunächst weißt Baßler darauf hin, dass dies „ein Problem notwendiger Komplexitätsreduktion“82 ist. Doch es ist zu fragen, ob damit nicht die methodische Handhabbarkeit überschätzt wird, die dem neohistoristischen Inter-Text zukommt, bzw. von Baßler zugeschrieben wird. Wenn er an anderer Stelle schreibt, „die Bezüge eines Textes zu anderen Texten lassen sich ja beschreiben“83, was ist an dieser Beschreibung dann methodisch so viel leichter zugänglich für eine Analyse als die Beschreibungen von Handlungen oder Bildern? Denn die Bezüge eines Textes zu anderen Texten sind ja auch in seinem Modell als Beschreibungen aus dem unkontrollierbaren Gewirr kultureller Paradigmen zu konstruieren, und nicht einfach aus den Texten zu entnehmen. Kritisch anzumerken ist außerdem, dass genaugenommen zwei ‚Texte der Kultur‘ zwischen Quelltext und Historiker-Text liegen: Baßler unterschlägt die „kulturelle Dimension“, die nicht allein den Quellentexten, sondern auch jedem Historiker-Text zukommt – ein weiteres Phänomen, das die von Baßler behauptete methodische Handhabbarkeit zweifelhaft werden lässt.

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Ebenda, S. 46. Ebenda, S. 10. Baßler: „Zwischen den Texten der Geschichte“, S. 98. Ebenda. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 49.

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Die Orientierung des Baßler’schen Textualitätsmodells an der Linguistik beraubt zudem den New Historicism seines lebendigen Charakters zugunsten einer methodischen Kontrolle, die zweifelhaft erscheint: „Im Gegensatz zu den ubiquitären Transaktionsund Energie-Metaphern ist damit […] eher ein Zustand bezeichnet, ein synchrones Nebeneinander, das im Gegensatz zum wilden Zirkulieren immerhin der Analyse prinzipiell zugänglich wäre“.84 Unbefriedigend ist schließlich die Lösung, die für die zwei von Baßler durchaus treffend beschriebenen Probleme des New Historicism angeboten werden: das „Problem der Repräsentativität“85 und das „Problem der Verknüpfung“86. Seine Verteidigung gegen den Vorwurf unkontrollierbarer, weil unendlicher Archive, klingt unfreiwillig komisch, wenn er schreibt „Mit einer solchen ‚Öffnung hin zu einem texte général‘ sei nun allerdings, so die allgemeine Auffassung, das Text-Kontext-Problem ‚methodisch kaum noch handhabbar.‘ Aber stimmt das eigentlich? Wir haben doch inzwischen Computer!“87 Und auch die ausschweifend-holprige Metaphorik, die sich dann anschließt, überzeugt weniger als sie amüsiert: Wäre das nicht phantastisch? Man könnte auf diese Weise eine – nach Nietzsche – antiquarische Historie kultivieren, ohne sich von ihren Wackersteinen herunterziehen zu lassen. Man könnte die Vorteile positivistischer Akkumulation nutzen, ohne auf den Tanz der Anekdoten zu verzichten.88

Dass digitale Datenbanken – zumal in der von Baßler geforderten Detailliertheit – ein höchst effizientes Mittel kulturwissenschaftlicher Analyse bieten können, soll hier keineswegs lächerlich gemacht werden. Vielmehr verweist der Kurzschluss von Hypertext und texte général, Diskursfäden und digitalen Links auf ein in der linguistischen Orientierung liegendes Grundproblem: Die Frage nach der analytischen Handhabbarkeit kulturwissenschaftlichen Materials entscheidet sich auch im Zugriff auf historische (diskursive wie nicht-diskursive) Prozesse der Macht und der Ökonomie, und auf die in diese Prozesse ebenso verwobenen wie in sie eingreifenden Handlungssubjekte. Das Textualitätsmodell Baßlers vermag diese komplexen historischen Verstrickungen kaum

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Ebenda. Ebenda, S. 38. „Das bloße Faktum der exzentrischen Anekdote macht die Andersartigkeit des historischen Archivs schlagartig sichtbar und gibt dem Forscher den Auftrag, die diskursive Konstellation zu rekonstruieren, in der solches denkbar, sagbar und möglich war. Berühren sich die Diskurse, die hier als kontingent auftreten, noch an anderen Orten, in anderen Texten, wo kommen sie her, gibt es andere formale Lösungen ihrer Kookkurrenz?“ (ebenda, S. 40). Ebenda, S. 44. „Was ist das Verbindende zwischen den synchronen Texten, wenn es keine Metanarration, keine Foucaultsche Episteme, kein irgendwie abstraktes Allgemeines ist? [...] Diese Frage, die von den New Historicists in ihrer Ablehnung systematisierender Synthesen bislang nicht befriedigend beantwortet werden konnte, registrieren wir als das Problem der Verknüpfung.“ (ebenda, S. 50, Hervorhebung im Original) Baßler: „Zwischen den Texten der Geschichte“, S. 95. Ebenda.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

zu integrieren. Seine methodische Kontrolle weist damit eine entscheidende (und gefährliche) Lücke auf! Diese Lücke lässt sich jedoch durch eine Modifikation des neuhistoristischen Textualitätsmodells und seine Einbindung in die Feldtheorie schließen. Sicher stellen die Orientierung des New Historicism (und vor allem seiner deutschen Rezeption) am TextParadigma und die der Feldtheorie am Praxis-Paradigma den bedeutendsten Unterschied zwischen beiden theoretischen Ansätzen dar. Bourdieus Feldtheorie unterscheidet sich deutlich von einer Theorie, die Kultur als Text(e) liest. Das Performative von Handlungen, Kommunikationen, Ritualen und Körper-Inszenierungen, das Baßler explizit ausklammert, spielt bei Bourdieu eine ganz entscheidende Rolle. Dagegen ist bei ihm vor allem die Frage nach der medialen Verfasstheit des literarischen Produktes par excellence, des Textes, wenig ausgearbeitet. Zurecht merken Joch und Wolf an, „dass Bourdieu seine Laufbahndeutungen bisweilen überdehnt, Erzählkontingenzen unterschätzt“89. Die unterschiedlichen Ausrichtungen bieten damit auch die Möglichkeit, den jeweiligen Defiziten der Ansätze abzuhelfen. Die Feldtheorie und das Textualitätsmodell des New Historicism lassen sich gewinnbringend miteinander vermitteln – freilich um den Preis einer Beschränkung auf literaturspezifische Probleme. Denn für das literarische Feld verringert sich der theoretische Unterschied zwischen Texten und Praktiken, weil literarische Texte sich als schriftstellerische Praktiken beschreiben lassen, denen im Zuge der fortschreitenden Autonomisierung des Feldes eine immer zentralere Bedeutung zukommt. Die Feldtheorie erlaubt es, die in literarischen Texten vorgenommenen Positionierungen im Feld als Handlungen zu beschreiben. Wenn Baßler betont, dass das „Problem der Literaturspezifik“90 von einem allgemeinen Textualitätsmodell der Kultur nicht ad absurdum geführt wird, so ist dem zuzustimmen. Zwar liegt die Textualität von Kultur unterhalb der Unterscheidung von Literatur (in engerem Sinne) und Nicht-Literatur, diese Unterscheidung wird damit jedoch noch keinesfalls obsolet. Baßlers Frage, ob „Kunstwerke vielleicht gerade in ihrer ästhetischen Form diskursiv [werden] und [...] eigene, genuin literarische Diskurse aus[bilden]“91, ermöglicht Anschlüsse an die Feldtheorie und eine Erweiterung des neuhistoristischen Text-Paradigmas. Die Frage erweist sich damit keineswegs als ein im Vergleich zur Frage der Repräsentativität und der Verknüpfung untergeordnetes Problem, weil sie ein Licht auch auf diese zu werfen vermag: Mit der Feldtheorie lässt sich nämlich das Verfassen literarischer Texte als spezifische Form sozialer Handlungen begreifen, die sich durch die immer wieder neuen Versuche auszeichnet, ästhetische Formen zu etablieren, welche sich von nicht-literarischen oder konventionellen literarischen Formen unterscheiden und damit als legitime literarische Äußerungen durchsetzen lassen. Dadurch wird – für das literarische Feld – das Schreiben von Texten zur Handlung, an der sich die spezifischen sozialen Praktiken der Schriftsteller orientieren. 89 90 91

Joch und Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft“, S. 14. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 46. Ebenda.

Historische Verwicklungen. Text und Kontext

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Das literarische Feld erscheint als Summe von textlichen und nicht-textlichen Praktiken, innerhalb derer ersteren eine historisch zunehmend dominante, wenngleich nicht exklusive Rolle zuwächst, wenn es um die Aufrechterhaltung von Praktiken des (teil-)autonomen ästhetischen Diskurses der Literatur geht. Da jedes Feld mit seinen Praktiken einer permanenten Feld-Dynamik unterliegt und die einzelnen Handlungen und Positionierungen selbst diese Feld-Dynamik aufrechterhalten bzw. vorantreiben, handelt es sich bei den Texten einer Epoche auch keineswegs um ein stillgestelltes Archiv. Als Praktiken sind Texte nicht einfach Teil eines statischen synchronen Systems paradigmatischer Äquivalenzen, sondern geschehen in einem Modus der Zeitlichkeit: Bachtins Diktum, wonach „jedes konkrete Wort (die Äußerung) jenen Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer schon sozusagen besprochen, umstritten, bewertet“92 vorfindet, bedeutet aus feldtheoretischer Perspektive, dass die literarische Äußerung in die synchronen und diachronen Archive nicht einfach ‚eingebettet‘ ist, sondern diese Archive im Vollzug der Äußerung in die Vergangenheit verweist, zu potentiell überholten Texten macht und eine zeitliche Differenz des eigenen Tuns zu den im Archiv gespeicherten Text-Summen markiert. Und dies gilt nicht allein für die Text-Praktiken der Produktion, sondern auch für die der Rezeption. Die für das literarische Feld geltend zu machende Handlungs-Dimension des Textes bewahrt auch die für den New Historicism so wichtigen diachronen Metaphern der Sozialen Energie und der Zirkulation davor, zugunsten eines synchronen sozialen Netzes verabschiedet zu werden. Denn nur wo es zeitliche Differenzen gibt, kann es zum Fluss und zur Zirkulation (von Energie, Zeichen oder Waren) kommen – ein „Netz“ oder ein „Archiv“ mögen noch so komplex sein, als dynamische Metaphern taugen sie kaum. Obgleich die Bourdieu’sche Feldtheorie also eine Integration des Baßler’schen Textualitäts-Modells – das ja explizit nicht mit universalistischem Anspruch auftrat – und seiner Methoden für den spezifischen Fall einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung (nach 1850) möglich macht, muss dieses Modell jedoch ergänzt werden. Denn wenn nicht-textuelle Praktiken auch im Fall der Literatur gegenüber dem Text zunehmend an Bedeutung verlieren, so bleiben sie doch für die Dynamik des Feldes relevant. Viele dieser Praktiken – wie die Mitgliedschaft in literarischen Clubs, die Zugehörigkeit zu Künstlergruppen oder das Frequentieren von wichtigen Institutionen, Freundschaften und Bekanntschaften, Positionierungen in benachbarten Feldern, etc. – sind nicht allein mit dem Textmodell zu erfassen, auch wenn sie selbstverständlich, nicht anders als die Verknüpfung zwischen den Texten, durch eine wissenschaftliche Beschreibung konstruiert und zugänglich gemacht werden, in der wiederum Textualität das entscheidende Moment ist. Dies zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung etwa an dem mangelnden Geschick, mit dem Picard soziale Kontakte zu knüpfen und auszunutzen versteht.93 Seine 92 93

Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M., 1979, S. 169. Vgl. hierzu Kap. 5.4, S. 280ff.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

‚Scheu‘, wie sie etwa von Rilke beschrieben wird, ist sicher ebenso wie die zahlreichen Konventionalitäten in seinen Texten dem Erfolg Picards abträglich gewesen. Wohlgemerkt: Zahlreiche Literaten – z. B. auch Rilke – inszenieren sich als ‚scheue Wesen‘ (die sie auch sein mögen); aber sie gewinnen durch diese oft ostentative, wenig scheue Inszenierung soziale Anerkennung als glaubwürdige Wort-Künstler. Nicht so Picard, der sein scheues Wesen nicht zur Schau zu tragen versteht und angeknüpfte Kontakte oft nicht weiterverfolgt. Das geben zumindest die erhaltenen Zeugnisse von Bekannten und Zeitgenossen zu erkennen – Zeugnisse, die als Texte eine nicht-textuelle literarische Praxis objektivieren und damit zu rekonstruieren erlauben.

3.4 Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung Sowohl Bourdieu als auch der New Historicism vertreten kulturwissenschaftliche Positionen, die für eine Stärkung handlungs- und subjektorientierter Ansätze eintreten, ohne die strukturalistische und poststrukturalistische Kritik des ‚schöpferischen‘ Autors als eines souveränen Subjekts zu ignorieren oder dahinter zurückzufallen. Beide setzen dabei gleichermaßen an strukturalistischen Befunden an: Soziale Handlungen werden innerhalb semiotischer Strukturen hervorgebracht, die sich durch Differenzbildungen in Sprach- und Bildmedien, Praktiken und Handlungsstilen oder materiellen Objekten herausbilden und verändern. All diese Dimensionen werden als Instanzen ernst genommen, die Subjekte und deren Handlungen ermöglichen und zugleich unterwerfen und beschränken. Der „Tod des Autors“, wie ihn Roland Barthes94 verkündet und Michel Foucault – in einer eigenartigen Kombination – zugleich konstatiert und herbeiwünscht95, begegnet je-

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Für Barthes tritt in die vom Autor verwaiste Subjekt-Position der Text ein, das „diskursive Material“, das kulturelle Bewegung und die Produktion von Neuem bewirkt. In seiner Materialität erweist sich der Text als nicht kontrollierbar, als „ein vieldimensionaler Raum, in dem sich eine Vielzahl von Schreibweisen [écritures], keine davon originär, vereinigen und streiten. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten, die den unzähligen Bereichen [foyers] der Kultur entstammen“ (Barthes, Roland, La mort de l’auteur, 1968, zit. n. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 16). Vgl. Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“: in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 [1969], S. 7–31. Foucault beschränkt sich nicht allein darauf, den Autor zu verabschieden. Er stellt fest, dass der Tod des Autors als Selbstverständlichkeit gelten könne und knüpft daran die Vision einer „Kultur [...], in der Diskurse zirkulierten und rezipiert würden, ohne dass es die Autor-Funktion gäbe“ (ebenda, S. 259). Doch zugleich nimmt er eine analytische Aufarbeitung der Autorfunktionen vor und zeigt, wie lebendig diese Funktionen sind – etwa im Konzept des „Werks“ oder des „Schreibens“ (das Barthes „écriture“ im Visier hat). Anders als Barthes’ toter Autor wäre Foucaults Autor also eher ein Untoter oder Wiedergänger – und so ließe sich auch der Foucault’sche Widerspruch zwischen der Feststellung seines Todes und dem gleichzeitigen Wunsch nach ebendiesem Tod als einer Utopie begreifen.

Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung

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doch weder in Bourdieus scharfer Polemik gegen Genie- und Schöpferkult96, noch in Greenblatts „Gespräch mit den Toten“. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass sie einer Verabsolutierung der semiotischen Strukturen und der in ihnen wirksamen Mechanismen widersprechen. Subjekte und Handlungen – und im Falle der Literatur der Autor und seine Schreibakte – bleiben relevant, ja unersetzlich, wenn sie auch gegenüber traditionellen Konzepten modifiziert werden und nicht als unspezifische Essentialien gehandelt werden. New Historicism [...] eschews the use of the term ‚man‘; interest lies not in the abstract universal but in particular, contingent cases, the selves fashioned and acting according to the generative rules and conflicts of a given culture. And these selves, conditioned by the expectations of their class, gender, religion, race and national identity, are constantly effecting changes in the course of history.97

Besonders deutlich wird dies bei Bourdieu. Er insistiert gleichermaßen auf eine (objektiv re-konstruierbare) Zweckgerichtetheit der aufeinander abgestimmten sozialen Praktiken der Literatur wie auf deren (relative) Offenheit: Die von den institutionalisierten Klassifikationssystemen (Lehranstalten, tradierten Handlungsformen und literarischen Schreibweisen) ‚vorgeschriebene‘ Geschichte ist als Programm darauf angewiesen, ja abhängig davon, dass sie von (einzelnen) Handelnden ausgeführt wird: Somit wird die objektivierte Geschichte nur agiert und agierend, wenn der mehr oder weniger institutionalisierte Posten samt seinem impliziten, mehr oder weniger kodifizierten Handlungsprogramm ähnlich einer Kleidung, einem Werkzeug, einem Buch oder einem Haus jemanden findet, der sich darin hinreichend wiederfindet und wiedererkennt, um ihn zu übernehmen, in 98 die Hand zu nehmen, ihn zu besetzen und sich zugleich von ihm besitzen zu lassen.

Diese desillusionierte Sicht auf das Subjekt impliziert aber keinesfalls sein Überflüssigwerden, seine Reduzierung auf einen mechanischen ‚Handlanger‘ des Programms oder seine vollständige Determiniertheit. Das Subjekt, das die Geschichte auf sich oder in seine Hände nimmt, ist unersetzbar: Denn [s]o stark auch der Feldeffekt sein mag, er wirkt sich nie völlig mechanisch aus, und die Beziehung zwischen Positionen und Positionierungen (namentlich durch Werke) ist stets durch die Dispositionen der Akteure und durch den Raum des Möglichen vermittelt, den diese Akteure durch ihre Wahrnehmung des Raums der Positionierungen, dem sie selbst Struktur verleihen, als solchen konstituieren99.

Keineswegs leugnet die Sozioanalyse die Existenz einzigartiger Akteure: Wie anhand von Flaubert zu sehen [...], hebt sie [die wissenschaftliche Analyse, K. L.] zunächst die Einzigartigkeit des ‚Schöpfers‘ zugunsten der sie gedanklich nachvollziehbar machenden 96

97 98 99

Etwa mit der Frage nach der Schöpfung der Schöpfer: Bourdieu, Pierre: „Aber wer hat denn die Schöpfer geschaffen?“: in: Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 197–211. Vgl. auch Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 299ff. Greenblatt: „Resonance and Wonder“, S. 164. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 197. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 406.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich Beziehungen nur dem Anschein nach auf, um sie am Ende der Rekonstruktion des Raums, dem der Autor als konkreter Schnittpunkt angehört, um so eindrucksvoller wiederzufinden. Diesen Punkt des literarischen Raums zu erkennen, der auch der Punkt ist, von dem aus sich ein singulärer Standpunkt gegenüber diesem Raum, eine Perspektive auf ihn ausbildet, versetzt in die Lage, durch mentale Identifikation mit einer konstruierten Position die Besonderheit dieser Position und desjenigen, der sie einnimmt, wie auch die außergewöhnliche Anstrengung zu verstehen und sinnlich zu erfassen, die – zumindest im Fall Flaubert – notwendig war, um sie existent werden zu lassen.100

Hier klingt Bourdieu ähnlich wie Adorno, der das Genie zunächst im „unendlich Kleinen“ fast verschwinden lässt, um es dann aber doch – als soziales – zu retten: Durch das unendlich Kleine des Entscheidenden erweist der Einzelkünstler sich als Exekutor einer kollektiven Objektivität des Geistes, der gegenüber sein Anteil verschwindet; in der Vorstellung vom Genie als einem Empfangenden, Passivischen war implizit daran erinnert. [...] In der Tastatur jeden Klaviers steckt die ganze Appassionata, der Komponist muß sie nur herausholen, und dazu freilich bedarf es Beethovens.101

Entscheidend ist dabei das Konzept des Habitus als einer Vermittlungsstruktur zwischen Struktur und Praxis.102 Die Habitustheorie stellt eine Handlungstheorie dar, doch es ist nicht der Habitus, der handelt: Handlungen – und im Feld der Literatur insbesondere die stilistischen und thematischen Äußerungen eines Schriftstellers – erwachsen aus dem Zusammentreffen der durch den Habitus inkorporierten Strukturen (den Dispositionen, über die ein Akteur verfügt) und einer historischen Situation, in der diese (als Positionierungen in Werken, Kommentaren, Korrespondenzen) zur Anwendung kommen: Literarische Handlungen „sind nicht einfach der Herkunft zuzurechnen, sie ergeben sich vielmehr aus der Konstellation von Habitus und literarischer Welt.“ 103 Hinter dem Prinzip der „Vermittlung“ steht dabei nicht die Vorstellung von einer kontrollierten oder determinierten Austauschbeziehung, sondern das Konzept einer „Homologiebeziehung“, das gleichermaßen zentral für die Bourdieu’schen Theoreme des „Feldes“ wie des „Habitus“ ist. Im Aufeinandertreffen von Feld-Positionen und den Dispositionen der Akteure kommt es zu als angemessen wahrnehmbaren Handlungen (Positionierungen), wenn kulturelle Positionen, Dispositionen und Positionierungen homologe Strukturen aufweisen. Diese Homologiebeziehungen bergen jedoch auch einen Freiraum, der den Handlungen Kontingenz und Offenheit verleiht. Bezogen auf das Feld der Literatur bedeutet dies, dass Bourdieu die Triebfeder literarischen Wandels nicht in einer ominösen systemischen Selbstbewegung von Originalität, Automatisierung des vormals Originellen und neuerlicher Entautomatisierung allein auf der Ebene des Textes sieht, sondern diese in eine Homologiebeziehung zu den sozialen 100

Ebenda, S. 14. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 402f. 102 So lautet der Titel eines der wichtigsten Aufsätze zum Habitus: Bourdieu, Pierre: „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, in: Pierre Bourdieu (Hrsg.), Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 125–158. 103 Joch und Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft“, S. 1. 101

Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung

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Positionskämpfen zwischen den Bewahrern und den Umstürzlern in aestheticis bringt, aus denen die Textdifferenzen hervorgehen.“104

Ebensowenig wird diese „Triebfeder literarischen Wandels“ in einem ominösen AutorSubjekt isoliert: Die Feldtheorie bricht mit einem auratisierenden Verständnis von Autorschaft, dem Glauben an das schöpferische Genie als einzigem oder primärem Erklärungsprinzip künstlerischer Werke, um den Autor als relationale, historisch variable und stets umkämpfte Größe umso ernster zu nehmen.105

Bourdieus Theorie vom Habitus als „Vermittler“ nimmt also selbst eine Mittler-Position ein, die zwischen Struktur- und Handlungs-Theorie zu vermitteln und einen Ausweg aus jenem Dilemma zu finden versucht, das Prozesse der Veränderung einseitig entweder einer denkenden Struktur oder einem souverän handelnden Subjekt zuordnet. Zugleich sieht aber die an Bourdieu anknüpfende Literaturwissenschaft in der theoretischen Vertiefung der Handlungstheorie ein wichtiges Desiderat weiterer Forschungen eine solche aufgeführt. Rehbein, Saalmann und Schwengel schlagen in diesem Zusammenhang vor, das Bourdieu’sche Konzept von Subjektivität und Handlung zu überdenken: Der Bereich der Subjektivität wird auf die beobachtbaren Habitus reduziert. Benötigt eine Theorie, die das Handeln von Akteuren […] beschreiben will, neben dem Begriff des Habitus nicht auch einen theoretischen Begriff eines Handlungssubjekts?106

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Ebenda, S. 2. Ebenda, S. 14. Den aktiven Handlungsaspekt arbeitet Bourdieu insbesondere in seinen späten Méditations pascaliennes heraus, in denen er das in früheren Schriften betonte Hysteresis-Konzept mildert: Der Habitus generiert weniger starre, die Akteure an ihre soziale Herkunft bindende ‚Zwangshandlungen‘, sondern erscheint hier als Aktivität ermöglichende Instanz. „[E]s gilt, eine materialistische Theorie zu konstruieren, die, wie Marx in den Thesen über Feuerbach forderte, vom Idealismus ‚die tätige Seite‘ der praktischen Erkenntnis übernimmt, die die materialistische Tradition ihm überlassen hatte“ (Bourdieu: Meditationen, S. 175). Sie sieht im Handelnden eine Fähigkeit zur aktiven Hervorbringung und Konstruktion seiner Welt – auch wenn dieser Handelnde alles andere als ein freier Souverän ist: „Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus: Er gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, daß diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in die Praxis umsetzt.“ (ebenda) Und nicht umsonst rückt Bourdieu in den Méditations pascaliennes die Phänomenologie in den Mittelpunkt einer – kritischen – Auseinandersetzung: Spielen doch Phänomene der Konstruktion, des Zusammentreffens und der Vermittlung gerade in dieser philosophischen Tradition eine prominente Rolle. 106 Ebenda. 105

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Unter dem etwas unglücklichen Schlagwort von der „Rückkehr des Autors“107 hat Fotis Jannidis den ‚Autor‘ ebenfalls als eine Vermittlungs- oder Zwischeninstanz retabliert, als „Begriff [...] zwischen Text und historischem Kontext“108. Im Anschluss an Foucaults Analysen und in Auseinandersetzung mit den historisierenden Literaturtheorien von Johann Gottfried Herder, Georg Lukács und Greenblatt macht er fünf Funktionen aus, die literarische Operationen einer Autor-Instanz zuschreiben: Selektions-, Gestaltungs-, Bedeutungs-, Erkenntnis- und Innovationsfunktion. Sie alle beschreiben literarische Prozesse, deren zumindest teilweise Zurechnung zu einem qua Text und Kontext limitierten, nicht notwendig intentional handelnden „Autor“-Subjekt theoretisch weitaus befriedigender ist als ihre alleinige Verortung in einem selbsttätigen System der Sprache, des Textes, des Schreibens o. ä. Denn „[w]eder die Sprache noch die Literatur [...] erzeugen irgend etwas von selbst.“109 Für eine literarisch-anthropologische Untersuchung aufschlussreich ist insbesondere die fünfte Autorfunktion, die Innovation. Die Kategorie der Innovation ordnet die literarischen Erzeugnisse gemäß eines Ordnungsschemas, das zwischen alt und neu differenziert. Innovation kann als eine genuin literarische Eigenschaft bezeichnet werden, die literarischen Texten per se zukommt, „schon allein, weil sie einmalige Satzkombinationen bilden und fast immer innovative Kombinationen von Textmerkmalen aufweisen“110. Diese Feststellung interessiert jedoch eine historisch ausgerichtete Sozioanalyse weniger. Ihr geht es in erster Linie um die Ausbildung prägender Positionen und literarischer Paradigmen: „Interessant für literaturhistorische Modelle sind [...] weniger die Neuerungen als Neuerungen, sondern die Konventionen und ihre Entstehung, also die erfolgreichen Innovationen.“111

107

Unglücklich ist der Titel des von Jannidis, Lauer, Martinez und Winko herausgegebenen Sammelbandes insofern, als – wie Jannidis selbst konstatiert – der Autor eigentlich weder tot noch je verschwunden war, höchstens vielleicht unbemerkt oder unsichtbar, weil als Begriff aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs verschwunden. Eher als um die Rückkehr geht es um das Wiedererscheinen oder das Wieder-Sichtbarwerden des nach der Verkündung seines Todes munter weiterexistierenden Autors (bzw. seiner Funktionen). 108 So lautet der Untertitel von Jannidis’ Aufsatz: Jannidis: „Der nützliche Autor“. 109 Ebenda, S. 388. Von einer „textuellen Eigenbewegung“ gehen dagegen aus: Buschmeier, Matthias und Till Dembeck: „Textbewegung? Zur Einleitung“, in: Matthias Buschmeier und Till Dembeck (Hrsg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 9–20. Doch Buschmeier und Dembeck vermögen es letztlich nicht, die von ihnen selbst geäußerte skeptische „Frage zu klären, ob die Bewegtheit von Texten ausschließlich als Effekt einer bestimmten Rezeptionshaltung zu beschreiben ist – in diesem Falle wäre die Rede von textueller Eigenbewegung unzutreffend oder zumindest überzogen –, oder ob sich auch an den Texten selbst Strukturen angeben lassen, denen die Erzeugung dieses Effekts zuzurechnen ist“ (ebenda, S. 9). Schon die Formulierung der Frage ist verräterisch: Denn was ist eine Zurechnung anderes als der „Effekt einer bestimmten Rezeptionshaltung“? 110 Jannidis: „Der nützliche Autor“, S. 388. 111 Ebenda.

Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung

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Jannidis schlägt vor, zu diesem Zweck zwischen „Innovation“ und „Erfolg“ zu unterscheiden und letzteren anhand der „Lösungskapazität der neuen Typisierung für gesellschaftliche Problemsituationen“112 zu bestimmen. Dies erscheint mir allerdings problematisch, da der literarische Autor hier mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Orientierungsanspruch ausgestattet wird, der im Zuge der Moderne und der zunehmenden Autonomie der Felder fragwürdig geworden ist. Hier spukt vielleicht noch das alte Autor-Genie herum. Der „Erfolg“ ließe sich mit Bourdieu jedoch auch anders fassen und ohne die Leitfunktion der Literatur überzustrapazieren – nämlich als für die Behauptung oder Neugewinnung einer literarischen Position notwendiger Innovations-Erfolg, als Vermögen, in die Geschichte des Feldes einzugehen, also den hergebrachten kanonisierten Innovationen eine neuerliche Innovation hinzuzufügen und zur Konvention zu machen. Denn auch Jannidis’ „erfolgreiche Innovationen“ sind ja „Neuerungen als Neuerungen“, was jedoch ihren Erfolg oder ihr Verdienst nicht schmälert. Gerade die im literarischen Feld selbst und als Literatur betriebene Sozioanalyse ist dann aufschlussreich für spezifische „gesellschaftliche Problemsituationen“ – nämlich die sozialen Kräfte im literarischen Feld und im Feld der Macht – wenn sie sozial relevante und machtvolle ‚Neuerungenals-Neuerungen‘ von den belanglosen zu unterscheiden hilft. Insofern das literarische Feld einer permanenten Abfolge spezifischer Revolutionen unterliegt, erwächst die Innovationskraft der Literatur als eine genuine Eigenschaft schriftstellerischer Produktion nicht allein aus dem System der Sprache, sondern aus den sozialen Praktiken des ‚Schreibens‘. Ein literaturwissenschaftlicher Ansatz, der ein handelndes Autor-Subjekt mit dem (Kon-)Textparadigma113 auf der Höhe aktueller Theorie zusammenführt, rechnet also mit Text- und Autorintentionen, hält dabei aber deren Kohärenz ebenso wenig für notwendig wie deren erfolgreiche Realisierung im literarischen Feld. Sie ermöglicht damit eine sozioanalytische Perspektive auf Schriftsteller und ihre Werke, die den oftmals erratischen, umwegigen oder abwegigen Verlauf deutlich werden lässt, den Laufbahnen wie die von Max Picard oftmals nehmen. Die hier skizzierte Autortheorie schließt Handlungen, denen eine bewusste Intention zugrunde liegt, nicht kategorisch aus. Sie versucht jedoch in erster Linie der Bedeutung gerecht zu werden, die nicht-bewussten, subjektiv interessefreien Handlungen zukommt: Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, daß die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, daß man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muß, ohne deshalb von einer bewußten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können.114

112

Ebenda. Vgl. dazu oben S. 52ff. 114 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 168. 113

100

Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Ein solcher Ansatz zieht aus der Handlungs-Option auch die Konsequenz, auf ein Autor-Subjekt nicht verzichten zu können. Zugleich verabschiedet er sich jedoch von Konzepten monolithischer, eigenständiger und souveräner Subjekte, die die falsche Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft fortschreiben. Er propagiert – so Bourdieu – „keineswegs das isolierte, egoistische und berechnende Subjekt der utilitaristischen und ökonomistischen Denkschule“115 und – so Greenblatt – „kein Genie, das als einziger Ursprung für die Energien großer Kunst angesehen werden könnte“116. Der Schriftsteller ist vielmehr „selbst ein Produkt kulturellen Austauschs“117.

„Text-cum-Handlung“. Alan Lius New Historhetoricism Für einen Versuch, Textualitäts- und Handlungsparadigma zusammenzuführen und weiterzuentwickeln, plädiert auch Alan Lius Kritik am New Historicism. Dass die Fragen nach dem Autor-Subjekt und nach der Kontextualität literarischer Praktiken zusammengehören, zeigt sein Aufsatz über „Die Macht des Formalismus“118. Nach Liu mangelt es dem neohistoristischen Ansatz vor allem an zweierlei: an einer fundierten Theorie von Subjekt und Handlung sowie an einer kontrollierten In-Bezug-Setzung von Text und Kontext.119 Sowohl dem Text-Kontext-Modell des New Historicism als auch seiner Konstruktion sozialer Handlung macht er den Vorwurf, dass ihnen eine Vermittlungs-Instanz fehlt, die zwischen ihre jeweiligen Elemente tritt (und wie sie etwa das Habitus-Modell vorstellt, das Liu jedoch nicht erwähnt). Der Ausweg aus dem Manko führt für ihn über eine historische und methodische Kritik, und so plädiert er für eine Weiterentwicklung des New Historicism zu einer an der Rhetorik geschulten Theorie „von Literatur als Text-cum-Handlung“ 120, die der im

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Bourdieu: Meditationen, S. 185. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 22. 117 Ebenda. 118 Liu: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“. 119 In ihrer Abwendung von der weitgehenden Textzentriertheit formalistischer Methoden, aber auch von traditionellen hermeneutischen Ansätzen, deren kontextualisierende Methoden einen Verfügungsanspruch über Text und Kontext behaupten, versäumten es die meisten Vertreter des New Historicism, das Verhältnis von Text und Kontext und die Methoden ihrer Relationierung und Rekonstruktion zu reflektieren: Das, was jetzt zwischen Kontext und Text die Ideengeschichte ersetzt, ist die phantastische, interdisziplinäre Nichtsheit der Metapher. [...] Kurz, anstelle des Einflusses, der das Fließen zwischen Kontext und Text organisiert hatte, gibt es jetzt nur eine metaphorische Übertragung, auf die durch geschickte Manipulation hingewiesen wird“ (ebenda, S. 123). Die kraftlose Sprachgeste, die laut Liu dieses Hinweisen, das „älteren Ideengeschichtlern wohl wie das Schwenken des Zauberstabes erscheinen mag“ (ebenda, S. 123f.), lautet: „Warum nicht?“ (ebenda, S. 95). 120 Ebenda, S. 139. 116

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Zentrum des Ansatzes ausgemachten „Suche nach dem Subjekt“121 Orientierung verschaffen kann. Denn im New Historicism geht es nicht nur um die Foucaultsche Kritik am Subjekt, an der ‚Humanität‘ [...], sondern auch, grundsätzlicher, [um] die Suche nach dem Subjekt, nach irgendeinem Subjekt, das uns sagen kann, was dieses es ist (Autorität, Autor, Identität, Ideologie, Bewußtsein, Humanität), das die Pluralität an die Dominante, den historischen Kontext an den literarischen Text bindet und dadurch eine einzige kulturelle Bewegung erzeugt, ein einziges motiviertes Artefakt122.

Gegen die vom (Post-)Strukturalismus geerbte „Vorliebe des New Historicism für synchrone Strukturen“123, die ja auch Baßler teilt und die sich vor allem aus der linguistischen Neigung zu textuellen Geweben erklären lässt, gilt es für Liu, die Perspektive der Handlung weiterzudenken und zwei Fragen zu stellen: „Was ist die Handlung von Literaturgeschichte?“124 und „Was ist es, das die Macht (ein vollkommen mythisches Konzept, solange sie nicht handelt) tut?“125 Liu unternimmt die Erweiterung des New Historicism hin zu einem „Verstehen von Text als Handlung“126 – also ganz im Sinne der von mir oben entfalteten feldtheoretischen Interpretation des Textes als dominante literarische Praxis – mit einem Modell der Prädikation, das die Offenheit historischen Tuns mit den Lücken von Sprechhandlungen zusammendenkt. Wir wollen wissen, was sie taten; aber zwischen Begriffen wie ‚sie‘ und ‚taten‘, zwischen Subjekt und Handlung, historischem Sein und historischem Werden, tut sich eine kleine Lücke auf. Diese Lücke ist das Geheimnis der Prädikation, das zentrale Rätsel eines jeden Historismus.127

Die Prädikation stellt „einen Augenblick dar [...], in dem Syntax, Genealogie, Gesetz und all die anderen Insitutionen, die zum Schutze der Ausübung prädikativer Macht in einer Konvention der Regelmäßigkeit geschaffen wurden, sich in bedrohlicher Wehrlosigkeit befinden“.128 Jeder Prädikationsakt bringt in einem „Identitätskontakt“129 Subjekt und Objekt/Prädikatsnomen zueinander und birgt damit ein Potential der Instabilität – eine entscheidende textuelle Dimension der literarischen Laufbahnen von Autoren und Texten. In der Berührung über diese (Sprach-)Lücke hinweg vermag sich das Historische einzunisten, oder noch genauer: Es entsteht dort, gemäß dem Bourdieu’schen Diktum, wonach erst der Kampf um Differenz die Zeit schafft, als jener „minimale[.] Übergang“, den Adorno als „Differential des Neuen“ bezeichnet und dem „Künstler“ als Autor zuschreibt: 121

Ebenda, S. 108. Ebenda. 123 Ebenda, S. 111. 124 Ebenda. 125 Ebenda, S. 111, 110. 126 Ebenda, S. 140. 127 Ebenda, S. 112f. Hervorhebung im Original. 128 Ebenda, S. 113. 129 Ebenda. 122

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Daß die Struktur der Geschichte durch den parti pris für wirklich oder vermeintlich große Ereignisse verzerrt wird, gilt auch für die Geschichte der Kunst. Wohl kristallisiert sie jeweils sich im qualitativ Neuen, aber mitzudenken ist die Antithesis, daß dies Neue, die jäh hervortretende Qualität, der Umschlag, so gut wie ein Nichts ist. Das entkräftet den Mythos vom künstlerischen Schöpfertum. Der Künstler vollbringt den minimalen Übergang, nicht die maximale creatio ex nihilo. Das Differential des Neuen ist der Ort von Produktivität.130

Eine eng am Text operierende dekonstruktivistische Rhetorik lässt sich für Lius Historhetorizismus fruchtbar machen, wenn sie eine präzise Stelle in einem zu errichtenden Theoriegebäude des New Historicism erhält. In diesem Zusammenhang sei auf Paul de Mans Ausführungen zur Prosopopoiia als einer „Kunst des unmerklichen Übergangs“131 verwiesen. Sie können zum einen dort hilfreich sein, wo es um die Interpretation eines Textes als poetologisches Modell geht. So wird meine Lektüre von Picards Wellentheorie des Gesichts als einer Wellentheorie der Sprache dort ansetzen, wo ein solcher „unmerklicher Übergang“ der Gesichtsbewegungen eine metaphysische Erklärung auf den Plan ruft, die Picards implizite Poetologie der Sprache – als Prosopopoiia – trägt.132 Zugleich können de Mans Überlegungen auch einen produktiven Beitrag liefern, um das ‚Wie?‘ literaturhistorischer Bewegungen unter den Bedingungen eines modernen literarischen Feldes zu erfassen. Was nämlich für die rhetorische Dynamik der Prosopopoiia im Kleinen (des einzelnen Textes) gilt, lässt sich auf die Bewegungen des großen Zusammenhangs – die Kontexte des Feldes – übertragen. Auch letztere bilden nämlich ein System der Vermittlungen, das die radikale Distanz eines Entweder-Oder-Gegensatzes in einen Prozeß umwandelt, der gestattet, die Bewegung von einem Extrem zum anderen über eine Reihe von Transformationen zu durchlaufen, welche die Negativität der ursprünglichen Beziehung (beziehungsweise das Fehlen einer Beziehung) unversehrt lassen133.

Robert M. Erdbeer knüpft an Lius Kritik an und wirft dem New Historicism den „Verzicht auf das [vor], was auch im dekonstruktivistischen Methodenparadigma nach wie vor im Zentrum aller Reflexionen steht: auf die akribische Lektüre im begrenzten, manifesten, fiktionalen Text“.134 Auf der Suche „nach der deskriptiven Ebene, die jene divergenten Praktiken und Modi, die Container und Transformatoren der sozialen Energien, allererst vergleichbar, diachron bestimmbar und als diskursive Praktiken und Formationen deutbar machen kann“135, konstatiert er ebenso wie Liu die fehlende theoretische und methodische Reflektion diachroner Prozesse sowie literarischer Handlungen. 130

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989 [1970], S. 402. 131 de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“, S. 140. 132 Vgl. hierzu unten Kap. 7.2. 133 de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“, S. 138. 134 Erdbeer, Robert Matthias: „Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46. Jg. (2001), Nr. 1, S. 77–105, hier: S. 77. 135 Ebenda, S. 77f.

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Erdbeer entwickelt ein Modell der Verfahrensanalyse und greift dabei zurück auf Šklovskijs Begriff des „Verfahrens“ („prijom“). Diese Analysekategorie verdankt sich der Beobachtung, dass die Kunst der Moderne seit der Durchsetzung des avantgardistischen Paradigmas eher verfahrens- denn ergebnisorientiert verfährt. Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung, die etwa Alfred Döblins Aufsatz über „Die Bilder der Futuristen“ als Maßstab des „Kunst-Werts“136 auf der Rezeptionsebene beschreibt137, sind auch für Šklovskij die zentralen Merkmale aktueller avantgardistischer Kunst: Das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.138

Erdbeer schlägt im Anschluss an das Verfahrens-Modell fünf Kategorien vor, die mit dem Formalismus sowohl Strukturen als auch rhetorische Handlungsvollzüge des Textes in den Blick nehmen und so das von Liu ausgemachte „reine Nichts“ zwischen Text und Kontext bzw. zwischen Dokument und Diskurs füllen. Von besonderem Interesse für die folgende Untersuchung ist die poetologische Dimension, die in der Textverfahrensanalyse eine Schlüsselstelle einnimmt. Sie verklammert Produktions- und Rezeptionsästhetik; doch bleiben die rezeptionspoietischen Ergänzungen und Überschreitungen an die poietisch vorgegebenen Verfahren immer rückgebunden, an Verfahren, deren kontrolliert vollzogene Kodierung man als Textintentionalität und immanente Logik eines Textes charakterisieren kann.139

Der Begriff der „Textintentionalität“ richtet sich zum einen gegen die Reduktion der literarischen Handlung auf eine Autor-Intention, zum anderen gegen die vollständige Eskamotierung des Handlungsaspektes zugunsten eines absoluten Sprachsystems und setzt gegen eine einseitige Verortung von „Textbewegungen“ auf die textintentionale Kooperation von Medium und Produzent [...]. Verfahrensanalytisch ist das Phänomen der Textintentionalität mithin Ergebnis zweier logischer Kodierungstechniken: des 136

Döblin, Alfred: „Die Bilder der Futuristen“, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste, 3. Jg. (1912), Nr. 110, S. 41–42, hier: S. 41. 137 „Für eine Sinfonie, ein Quartett, ein Drama gilt das Hineinhören, Hineinlesen als selbstverständlich; ja man sieht sogar die Schwierigkeit des Verständnisses, die Langsamkeit des Hineinwachsens in das Kunstwerk als Charakteristikum, als Index seiner Güte an. Für die Malerei und Plastik nicht so; die Erleuchtung soll nur so von den Wänden knallen. Man passiert die Ausstellung; mit jeder Kopfdrehung holt man sich einen Kunstwert herunter, wie die Jungens Spatzen beim Schützenfest. Hier die Grundnegation der Futuristen. Sie verlangen Zeit für sich. Jedes Bild ist ein Gedicht, eine Novelle, ein Drama; man liest das nicht in zwei Minuten. Man braucht schon mehr Zeit bei den Futuristen als bei den Pointillisten und Impressionisten.“ (ebenda) 138 Šklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München, 1994, S. 3–35, hier: S. 15. 139 Ebenda, S. 97. Hervorhebungen im Original.

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Sprachsystems und dessen kreativer Modellierung durch den Produzenten, abzüglich der textuellen Entropie qua dissémination.140

Aufschlussreich und wichtig ist dabei der Hinweis, dass zwischen der Intention des Autors und der Textintention Diskrepanzen bestehen können – aber sehr wohl auch Übereinstimmungen! Erdbeer unterscheidet darüberhinaus die poetologische Dimension in eine „immanente“ bzw. „implizite“ und eine „explizite“ Poetologie. Erstere umfasst alle Textverfahren, die der Text anwendet, und darüber hinaus die textinterne Reflexion auf die literarische Praxis, die sich nicht notwendig in der Form expliziter Theoreme vollziehen muss. Im Rahmen der konkreten Textverfahrensanalyse geht es also weniger um textexterne, diskursiv-poetologische Traktate oder Äußerungen eines Autors, sondern um die textinterne oder immanente Poetologie. Immanent poetologisch kann man dabei alle jene Textpassagen nennen, die der Text als Reflexionen auf die individuellen Textverfahren zu erkennen gibt141.

„Implizit poetologische Signale oder Kommentare“142 sind Elemente des Textes, die zwar keine explizite Poetologie bilden, aber in poetologischer Dimension sozusagen aus dem Text herausragen – „poetologische Symbole [...], die im nicht-poetologischen Zusammenhang der Narration – dem plot – problemlos funktionieren (sprich: verschwinden), die jedoch zugleich ‚poetologisch lesbar‘ sind.“143 In Anlehnung an und Abgrenzung von Paul de Man’s Proust-Lektüre situiert Erdbeer hier sein poetologisches Konzept von Handlung: Die textspezifische Dynamik [...], die sich der poetologischen Dimension verdankt, entsteht aus dem Verhältnis explizit und implizit poetologischer Momente (oder Kommentare) zueinander und zum strukturalen Arrangement. Die implizit und explizit poetologischen Momente bilden auf der Ebene des Textes Netze, die nicht kongruent sein müssen (aber können), so daß eine implizit poetologische die explizit poetologische Bemerkung unterlaufen kann und umgekehrt.144

Insbesondere die textverfahrensanalytischen Begriffe der „Textintention“ und der „textinterne[n] oder immanente[n] Poetologie“ werden sich in der Beschäftigung mit Picards literarischen Praktiken als hilfreich erweisen. So steht die „Textintention“ als eine dem Text als Verfahren zukommende Qualität eine wichtige Ergänzung dar, wenn es um die Beschreibung der Laufbahn des Autors Picard geht. Denn um die Laufbahn der Subjekte des literarischen Feldes zu konstruieren,145 sind sowohl die Dynamiken der TextDimension als auch die der Feld-Dimension mitzuberechnen. Eine mit der Autorinten140

Ebenda. Hervorhebungen im Original. Der Begriff der Dissémination wird hier nicht in rein dekonstruktivistischer Lesart, sondern im Sinne des Ecoschen Paradigmas verwendet. 141 Ebenda, S. 99. 142 Ebenda, S. 100. 143 Ebenda. Hervorhebung im Original. 144 Ebenda. 145 Vgl. hierzu das nachfolgende Kapitel über Unhappy Swerving, S. 105ff.

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tion nicht identische, im Text als Verfahren sich niederschlagende Textintention vermag zu erklären, wie eine „Laufbahn des Texts“ zustandekommt: Sie ergibt sich aus der Offenheit und Unabgeschlossenheit des literarischen Textmediums – der Textur im weiteren Sinne –, in die Produktions- und Rezeptionsverfahren eingreifen können. Dass dabei die Textintention von der Autorintention abweichen kann, zeigt sich bei Picard: In Der letzte Mensch unterlaufen literarische Strategien der Groteske als „Textintention“ das apokalyptische Projekt Picards (als Autorintention) und deren absoluten Wahrheitsanspruch.146 Damit erweist sich der Text als symptomatisch für die expressionistische Bewegung: Denn ließe sich die Unterscheidung von Autor- und Textintention nicht einem Großteil der expressionistischen Werke nachweisen, die ihr eigenes pathetisches Streben nach Einheit und Komplexitätsreduktion (auf der Ebene der Autorintention) durch die avantgardistischen Techniken der Unverständlichkeit, Texturierung und Montage (auf der Ebene der Textintention) hintergehen? Im Sinne der Textverfahrensanalyse ist schließlich Picards Wellentheorie des Gesichts „poetologisch lesbar“. Sie stellt einen „implizit poetologische[n] [...] Kommentar“147 zum Verfahren dar, der „im nicht-poetologischen Zusammenhang der Narration [...] problemlos funktionier[t]“148, aber mit anderen Strukturen und Kodierungen des Textes in einer Art korrespondiert, dass sie sich auch als Reflexion auf das Verfahren lesen lässt.149 Und in diesem Falle stimmen dann Autor- und Textintention überein: Der Text, oder genauer: die Textur vollführt eine „Wellenbewegung“, wie sie die Wellentheorie des Gesichts expliziert.150

Unhappy Swerving Um den Subjekt- und Handlungsaspekten des modernen Autors ebenso wie der Kritik am Autor-Konzept gerecht zu werden und die Peripetien des literarischen Habitus wie seiner (Text-)Produkte zu verfolgen, entlehne ich im Folgenden das von Stephen Greenblatt in seinem Aufsatz „Fiction and Friction“ verwendete Sprach-Bild des „Swerving“ und des damit assoziierten Metaphernfeldes von Bewegungen und Kräfteverhältnissen, Bahn und Weg: Auch wenn es von Greenblatt aus einem historisch und thematisch ganz anderen Gegenstand entlehnt wird, nämlich dem gender trouble in Shakespeare-Texten aus dem 16./17. Jahrhundert, eigne ich mir das Swerving als Modell für die umwegige schriftstellerische Laufbahn Max Picards im literarischen Feld 146

Vgl. hierzu S. 159ff. Erdbeer: „Der Text als Verfahren“, S. 100. 148 Ebenda. 149 Ein weiteres Beispiel ist gerade im Zusammenhang mit dem russischen Formalismus interessant: Auch Picards Darstellung der Sternenlinien und ihrer Zerstörung (vgl. S. 147f.) ist lesbar als „poetologisches Symbol“ der „Ordnenden Linie“, die die Pluralität der „Durcheinandergekommene[n] Anordnung“ (Liu) nicht mehr in metaphysischer Richtung zu orientieren vermag. 150 Vgl. Kap. 7.2. 147

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der Weimarer Zeit an. Dazu werde ich im Folgenden ein wenig näher auf Greenblatts Aufsatz eingehen und zugleich eine Vertiefung und Ausarbeitung des metaphorischen Begriffs zu einem eigenen Modell vornehmen.151 Eine exakte Übersetzung des Begriffs ins Deutsche ist nicht möglich: Das Bedeutungsspektrum des Swerving umfasst den Effet oder Drall, das Schlingern, die Kurvenbahn oder auch das Aus- und Abweichen bzw. die Wendung. Greenblatt verwendet die Metapher, um zugleich die von außen beobachtete schwankende Bahnkurve einer Bowl-Kugel wie das innere Gewicht und Gesetz zu fassen, das der Kugel Schwung und einen von der geradlinigen Bahn abweichenden Effet verleiht. Für meine Übertragung als subjektivierungs- und feldtheoretisches wie poetologisches Modell schlage ich die recht freie Übersetzung von „Swerving“ als „abwegiger Umweg“ vor. In Greenblatts Lektüre von Shakespeares Komödie Twelfth Night (dt. Was ihr wollt) fungieren das „Swerving“ und der „bias“152 zugleich als poetologisches Prinzip der dramatischen Handlung wie als Modell der geschlechtlichen Subjektivierung der Hauptpersonen: Verwirrspiel und Maskerade, Schiffbruch, Verwechslung und Täu151

Ich weise darauf hin, dass Greenblatt den Begriff in seinem 2011 erschienen, sehr lesenswerten und erfolgreichen Buch The Swerve (Greenblatt, Stephen: The Swerve. How the World Became Modern, New York, London: W.W. Norton, 2011) erneut aufgreift, dismal sogar in titelgebender Funktion. Die dort vorgenommene Akzentuierung des Begriffs als ‚Wende‘ (so auch die deutsche Übersetzung des Titels) entfernt sich jedoch von in „Fiction and Friction“ vorgeschlagenen und von mir entfalteten Lesart als ab- und umwegiges Schlingern. Zwar scheint die in „Fiction and Friction“ erfolgte Auseinandersetzung deutlich durch. Die Bedeutung von oft verschwindend kleinen Dingen und abwegigen Zufällen bildet in dem späteren Buch, das von der am Beginn der Renaissance stehenden Wiederentdeckung von Lukretz’ De rerum natura durch den ‚Buchjäger‘ Poggio Bracciolini handelt, geradezu ein Leitmotiv: „That it did not disappear, that it surfaced after many centuries and began once again to propagate its deeply subversive theses, is something one could be tempted to call a miracle. But the author of the poem in question did not believe in miracles. He thought that nothing could violate the laws of nature. He posited instead what he called a ‚swerve,‘ – Lucretius’ principal Latin word for it was clinamen – an unexpected, unpredictable movement of matter. The reappearance of his poem was such a swerve, an unforeseen deviation from the direct trajectory – in this case, toward oblivion – on which that poem and its philosophy seemed to be travelling.“ (Greenblatt: The Swerve, S. 7) Insgesamt liegt der Akzent jedoch eher auf einem einmaligen, erstaunlichen Wende-Ereignis, weniger auf einer Bahnkurve. „This is a story […] of how the world swerved in a new direction.“ (ebenda, S. 11) Zugleich betont Greenblatt hier erneut (mit Lukretz), dass der swerve keinem Determinismus unterliegt: „The swerve is the source of free will. In the lives of all sentient creatures, human and animal alike, the random swerve of elementary particles is responsible for the existence of free will. For if all of motion were one long predetermined chain, there would be no possibility of freedom.“ (Lukretz, De rerum natura, zit. n. ebenda, S. 189) In keinem der beiden Texte („Fiction and Friction“ oder The Swerve) erfolgt allerdings eine theoretische Vertiefung der Metapher zu einem Modell, wie ich sie hier vornehme. 152 In der Bedeutung reicht „bias“ von der „Vorliebe“ über die „Ausrichtung“ bis zum „Abweichen“ und dem mechanischen „Ausschlag“; auch hier ist eine Übersetzung schwierig, weil sie notwendigerweise einen Teil des Bedeutungsspektrums ausblendet. Am treffendsten bezeichnet vielleicht das deutsche „Neigung“ den hier gemeinten Doppelaspekt von physikalischer Abweichung und subjektiver Vorliebe.

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schung sind die ‚abwegigen‘ Momente, die das Geschehen vorantreiben:153 Das Zwillingspaar Sebastian und Viola wird durch einen Schiffbruch (1. Abweg) voneinander getrennt und an die Küste Illyriens verschlagen. Dort tritt Viola, als Mann verkleidet (2. Abweg), in die Dienste des Herzogs Orsino und überbringt als dessen Diener ‚Cesario‘ Liebesbotschaften an die von Orsino heftig umworbene Gräfin Olivia; die jedoch hat nach dem Tod des Bruders einer Heirat – dem für sie nach den historisch geltenden sozialen Normen vorgesehen Lebensweg – für sieben Jahre abgeschworen (3. Abweg). Die verschiedensten amourösen Verwicklungen nehmen ihren Lauf und drohen immer wieder in homoerotische „shadow stories“ zu münden, in ‚abwegige‘, weil von der sozialen Norm nicht erlaubte gleichgeschlechtliche Verbindungen, die Shakespeare narrativ nicht entfaltet. [S]hadow stories […] haunt the plays, rising to view whenever the plot edges toward a potential dilemma or resolution that in fact eschews [...]; the plays insist only that we register them in passing as we take in (or are taken in by) the events that ‚actually‘ happen. What if Olivia had succeeded in marrying Orsino’s page Cesario? And what if the scandal of a marriage contracted so far beneath a countess’s station were topped by a still greater scandal: the revelation that the young groom was in fact a disguised girl? Such a marriage – if we could still call it one – would make some sense in a play that had continually tantalized its audience with the spectacle of homoerotic desire: Cesario in love with ‚his‘ master Orsino, Orsino evidently drawn toward Cesario, Antonio passionately in love with Sebastian, Olivia aroused by a page whose effeminacy everyone remarks.154

Doch schließlich nimmt – und zwar wieder in Abweichung von den subjektiv angestrebten Handlungszielen der Akteure – alles ein ‚gutes‘, den sozialen Normen entsprechendes Ende: Als Olivia Cesario zu begegnen meint, heiratet sie ihn auf der Stelle; doch weder vermählt sie sich – wie zu fürchten ist – mit einer Frau, noch mit einem sozial unter ihr stehenden Diener. Denn so wenig Cesario ‚in Wahrheit‘ Mann und Page ist, so wenig handelt es sich bei der geheirateten Person um Cesario/Viola: Der wiederum abwegige Zufall will es, dass Olivia einer weiteren Verwechslung aufgesessen ist und im Moment der Eheschließung nicht Cesario/Viola, sondern deren zum Verwechseln ähnlichen Zwillingsbruder Sebastian gegenübersteht. Damit löst sich die Verwicklung (und mit ihr weitere) auf und die Dinge nehmen ihren ‚natürlichen‘ und sozial legitimierten Verlauf, der sich als nicht geradliniger „bias“ zu erkennen gibt: „So comes it, lady, you have been mistook;/But Nature to her bias drew in that“155, verkündet Sebastian. Das vermeintliche Abweichen vom Weg erweist sich nicht als Abweg, sondern als erfolgreicher und die binärgeschlechtliche Norm (die ‚Natur‘) bestätigender Umweg. 153

Dieses Verwirr- und Maskenspiel wurde zu Shakespeares Zeiten performativ verdoppelt durch die Tatsache, dass Frauenrollen (die sich im Laufe des Stücks als Männer verkleiden) von männlichen Schauspielern dargestellt wurden. 154 Greenblatt: „Fiction and Friction“, S. 66f. 155 Shakespeare, William: Twelft Night, or What You Will, 5.1.259f., zit. n. ebenda.

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Diesen Prozess einer auf Ab- und Umwegen erfolgenden Subjektivierung, einer alles andere als geradlinig verlaufenden Unterwerfung unter die (heterosexuelle) Norm fasst Greenblatt in das Bild einer Bowl-Kugel, deren Bahn eine Swerving-Bewegung vollzieht. [I]n Twelfth Night events pursue their natural curve, the curve that assures the proper mating of man and woman. To be matched with someone of one’s own sex is to follow an unnaturally straight line; heterosexuality, as the image of nature drawing to her bias implies, is bent [gebogen, geneigt, krumm; auch: schwul, K. L.]. Shakespeare’s metaphor is from the game of bowls […]. An enacted imbalance or deviation is providential, for a perfect sphere would roll straight to social, theological, legal disaster: success lies in a strategic, happy swerving.156

Das Swerving ist eine schlingernde Bewegung, die über Umwege verläuft, immer wieder au Abwege zu geraten droht und, wenn sie ihr Ziel erreicht, den vermeintlichen Abweg als notwendigen Umweg erweist. Happy Swerving ist ein abwegiger Umweg, und gerade als ein solcher erfolgreich. Dabei zielt die Metapher nicht allein auf das objektive Ereignis, die mathematisch rekonstruierbare Kurve, die die Kugel beschreibt, oder ihre Abweichung von der geraden Bahn; das Swerving geht nämlich auf ein inneres – gewissermaßen ‚subjektives‘ – Gewicht zurück: [T]he ‚bias‘ refers not only to the curve described by the bowl as it rolls along the pitch but also to the weight implanted in the bowl to cause it to swerve.157

Der abwegige Umweg folgt also einem inneren Impuls, einer „Neigung“, die mehr meint als die Neigung der Bahnkurve: Ein dem Körper (der Bowl-Kugel) eingebautes materielles Gewicht, das der Körper selbst ist, bringt ihn ‚von innen‘ heraus dazu, von der geraden Linie abzuweichen und Umwege einzuschlagen: Something off-center, then, is implanted in nature [...] that deflects men and women from their ostensible desires and toward the pairings for which they are destined. This deflection can be revealed only in movement.158

In vielerlei Hinsicht eignet sich diese Metapher des Swerving, um ein Bourdieu und den New Historicism verbindendes Modell der literarischen Praktiken des Autors zu entwerfen und mit ihm die Handlungsbewegungen und Subjektivierungsprozesse abzubilden, wie sie sich im modernen Feld der Literatur abspielen. Das eingebaute innere Gewicht, das die Kugel erst in der Bewegung („only in movement“) eine umwegige bis abwegige Bahn einschlagen lässt, erinnert an die Verkörperungen des Habitus, jener strukturierten und strukturierenden Struktur. Erst im Zusammentreffen mit einem sozialen Raum oder Feld, das die verinnerlichten Kräfte und Potentiale aktiviert, ihnen ‚Gewicht‘ verleiht, ist der Habitus in der Lage, die in ihm bereitliegenden Handlungsmöglichkeiten freizusetzen: Schließlich verweist Bourdieus „Feld“-Begriff nicht nur auf Statistik und Ethnologie, sondern auch auf die physikalische Feld-Theorie, für die ja die 156

Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 68. Ebenda. 158 Ebenda. 157

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‚Gewichtskraft‘ eines Körpers erst als Wirkung in einem Gravitations-Feld zustande kommt. Das von Greenblatt beschriebene Swerving der Bowl-Kugel ist physikalisch nichts anderes als eine Bewegung im (Gravitations-)Feld! Mit dem Modell eines Swerving lassen sich die sozialen Praktiken einzelner Individuen mit dem Einfluss sozialer Ordnungen zu einer „Laufbahn“ im Sinne Bourdieus vermitteln, die – um in der Metapher zu bleiben – beiden ihr ‚Gewicht‘ belässt. Swerving is […] a principle that links individual characters endowed with their own private motivations to the larger social order159.

In Die Regeln der Kunst entwickelt Bourdieu den Begriff der „gesellschaftlichen Laufbahn“, den er im Zusammenhang mit dem Werdegang der kulturellen Avantgarden definiert „als Serie nacheinander von demselben Akteur oder derselben Gruppe von Akteuren in verschiedenen Räumen bezogenen [sic!] Positionen“160. Insofern die Laufbahnen sich aus den Positionen ableiten, ist also die ständige Verschiebung des Feldes, der die eingenommenen, angestrebten und möglichen Positionen unterworfen sind, in Betracht zu ziehen. Die Laufbahnen ergeben sich daher als Verknüpfungen aus den jeweils relationalen Zuständen der Positionen. Biographische Veränderungen können sich dabei innerhalb desselben Sektors des Feldes ereignen (indem etwa symbolisches Kapital (Ansehen) gewonnen oder ökonomisches Kapital erworben wird); es kann aber auch zu einem Wechsel des Sektors kommen, der mit einem Wechsel der Kapitalsorten einhergeht – so etwa, wenn Autoren sich von symbolisch prestigeträchtigen ‚reinen‘ Gattungen ab- und weniger exklusiven, weil leichter konsumierbaren Formen der Literatur zuwenden. Von Bedeutung für die Beschäftigung mit der Avantgarde der Weimarer Zeit ist das Phänomen der „divergierenden“ Laufbahnen, die oft aus einer ursprünglich homogenen Avantgarde-Gruppe resultieren. Bekanntermaßen stellen die Expressionisten ein gutes Beispiel dar: Während eine Fraktion sich den Negationen des Expressionismus, dem Dada (Hugo Ball, Kurt Schwitters) oder der Neuen Sachlichkeit (Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever, Alfred Döblin), anschließt, also versucht, sich der nächsten Generation, der neuen Avantgarde, zuzuschlagen, führt der Weg für eine andere Gruppe zu traditionelleren Formen des Erzählens, bei nicht wenigen Autoren mit christlich-religiösem und aufgrund von dessen Hang zum Moralischen heteronomem Einschlag. Hier wäre etwa Georg Britting zu nennen. Beide Laufbahnen knüpfen an die expressionistischen Spannungen zwischen ästhetischer Modernität und zivilisatorischer Anti-Moderne an. Während erstere den Expressionismus als junge Avantgarde beerbt, indem sie seine ästhetischen Elemente radikalisiert (zum dadaistischen Un-Sinn und zur neusachlichen Sinnlosigkeit) und dabei Pathos, Ekel und Utopismus durch die „Verhaltenslehren der Kälte“ (Lethen) ersetzt, wendet sich letztere vom avantgardistischen Stil ab und sucht Zuflucht vor den Zumutungen der zivilisatorischen Moderne durch Rückkehr zu traditionellen Formen metaphysischer Sinnstiftung. 159 160

Ebenda. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 409. Hervorhebungen im Original.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

Diesem von Haefs als „Nachexpressionismus“161 bezeichneten Stil lässt sich Picards Das Menschengesicht162 zuordnen; Picards Laufbahn „divergiert“ also ebenfalls vom Letzten Menschen, der stark expressionistische Züge trägt, zum Menschengesicht. Die „generationenübergreifende[n] Laufbahnen“163 – also die Abfolge von Karrieren zwischen Vorfahren, Nachfahren, deren Kindern usw. – treten in verschiedenen Formen auf: als gerade oder gebrochen auf- bzw. absteigende Laufbahnen, als „Nichtplatzwechsel“164 oder „transversale“165 Laufbahnen. Besonders letztere führen oft ins literarische Feld: Es handelt sich um „horizontale, aber in gewissem Sinne absteigende – Karrieren innerhalb des Macht-Feldes, die von ‚temporell‘ beherrschenden und kulturell beherrschten Positionen [...] oder von mittleren, mit ökonomischem und kulturellem Kapital ungefähr gleich ausgestatteten Positionen (‚Koryphäen‘: Ärzte, Anwälte usw.) ausgehend zum Feld der Kulturproduktion führen“166. Folgt man diesem Modell, so ist Picards schriftstellerische Laufbahn das Ergebnis einer langsam absteigenden transversalen Laufbahn: Er stammt aus einer KaufmannsFamilie. Sein Vater Josef (1854–1916) arbeitete in einem bedeutenden Tuchgeschäft, das ein Großonkel Max Picards gegründet hatte. Auch wenn der Picard’sche Tuchhandel nach 1900 einen Niedergang erlebte, blieb ein gewisses Vermögen erhalten; als zumindest zeitweilig recht erfolgreiche Kaufleute nehmen die Picards also eine temporell herrschende, kulturell beherrschte Position ein.167 Zugleich weist Picards eigene Laufbahn ebenfalls einen absteigenden ‚transversalen‘ Positionswechsel auf: Nach seinem Studium der Medizin arbeitet er eine Zeit lang als Arzt. Mit der Position eines Assistenzarzts an der Universitätsklinik Heidelberg hat er sogar – gemäß der Logik des wissenschaftlich-medizinischen Feldes der Zeit – Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere.168 Nach einer Tätigkeit als praktizierender 161

Vgl. Haefs: „Nachexpressionismus“. Vgl. hierzu den III. Teil dieser Arbeit. 163 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 411. 164 Ebenda. 165 Ebenda. 166 Ebenda. 167 „Ich will erzählen von dem Hause, in dem ich geboren bin. Dieses Haus kaufte der Bruder meiner Großmutter (väterlicherseits), als er Ende der vierziger Jahre [des 19. Jahrhunderts, K. L.] von Oberendingen im Aargau nach Schopfheim kam. […] Hier gründete er Ende der vierziger Jahre ein Tuchgeschäft, und es hat einige Jahrzehnte lang, bis in die siebziger Jahre hinein auch in Freiburg im Breisgau kein größeres gegeben, denn er versorgte alle Leute des ganzen badischen Oberlandes und den Rhein entlang bis fast nach Konstanz und bis auf die Höhen des Schwarzwaldes über Säckingen und Waldshut, mit Tuch.“ (Picard, Max: Das alte Haus in Schopfheim, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag, 1974, S. 5ff.) 168 In etwa zur gleichen Zeit nimmt Gottfried Benns Laufbahn eine ähnliche transversale Richtung: Er ist nicht nur – wie andere Autoren – bekanntermaßen Arzt, sondern schlägt auch eine vielversprechenden Karriere in der medizinischen Wissenschaft aus. Vgl. hierzu Ansel, Michael: „Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Benns zwischen 1910 und 1933/34. Ein Rekonstruktionsversuch auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie“, in: Martin Huber und Gerhard Lauer (Hrsg.), 162

Wiedergänger. (Autor-)Subjekt und Handlung

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Arzt in München wendet er sich jedoch ganz der Schriftstellerei zu und steigt damit im Sinne des Macht-Feldes ab. Gegen eine Verknüpfung von Swerving und „sozialer Laufbahn“ mag man nun aus handlungstheoretischer Perspektive einwenden, dass die mit dem Swerving konnotierte Metapher des Gewichts nahelegt, die Bahn sei nach physikalischen Gesetzen voraussagbar und damit keineswegs abwegig. Doch in dem Aufeinandertreffen des (Ball-)Körpers mit der Umgebung wird das – qua Gewicht in den Körper eingelagerte – ‚Gesetz‘ konfrontiert mit dem Raum der Bewegung, in dem sich das Feld und die darin positionierten Körper mit ihren Gesetzen Geltung verschaffen. Und dieses Zusammenkommen gehorcht nun nicht mehr einer eindeutigen Voraussagbarkeit: The swerving is not totally predictable because the bowl will encounter obstacles, or ‚rubs‘, that will make its course erratic; if sometimes frustrating, these rubs are also part of the pleasure and excitement of the game.169

Wie die Kugel trägt auch der Habitus ein (Handlungs-)Gesetz in sich, das sich prozessual entfaltet und dabei auf Hindernisse trifft, so dass die hervorgebrachten Handlungen nicht eindeutig vorhersehbar sind. Dazu kommt, dass der Schriftsteller im literarischen Feld nicht nur wie die Bowl-Kugel auf Hindernisse („rubs“) trifft, sondern dass die Laufbahnen auch aufgrund der ständig sich verschiebenden Positionen und Kräftekonstellationen des Feldes unvorhersehbar sind. Anders als im Falle der Bowl-Kugel sind hier die Kraftlinien des Feldes nämlich keineswegs über die Zeit hinweg konstant. Und das ist auch für die Analyse der Picard’schen Laufbahn relevant: So ist etwa der Umstand, dass Picard mit seinem Der letzte Mensch 1921 zwar ein ambitioniertes, den stilistischen Ansprüchen des Expressionismus durchaus genügendes Werk vorlegt, dies allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Expressionismus bereits von neuen Avantgarden als literarisch überholt disqualifiziert wird, für den geringen Erfolg des Buches – neben anderen Faktoren – mitverantwortlich. Die Eigenbewegung des Feldes führt hier dazu, dass die Positionierung kein erfolgreiches Swerving beschieden ist, sondern eher als abwegig gelten muss (und so auch zum Teil explizit rezipiert wurde). Und wie die Kugel-Metaphorik beschreibt auch Bourdieus Handlungstheorie ein (ernsthaftes) ‚Spiel‘, in dem das Subjekt in der Konfrontation mit Hindernissen, bewegt von inneren und äußeren Kräften auf Um- und Abwegen seinen Ort findet. Denn auch das Zusammenkommen von Habitus und Feld führt keineswegs zu einem mechanisch determinierten und berechenbaren Effekt: Es setzt vielmehr eine Suche in Gang, die sich zwar auf soziale Kräfte zurückführen lässt, die aber in ihrem Verlauf nicht vorherzusagen ist, sondern die gerade als generatives Schema dazu ‚neigt‘, neue, von vorgezeichneten und ausgetretenen Bahnen abweichende Wege zu gehen. Das Zusammentreffen eines spezifischen Habitus und der mit ihm erworbenen Dispositionen mit einem Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2000, S. 251–280. 169 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 68.

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Feld, das sich in seiner aktuellen Situation durch eine Konstellation von Positionen – bereits besetzten und freien, möglichen und ‚unmöglichen‘, naheliegenden und schwer erreichbaren – auszeichnet, ist kein streng kausales oder logisch kalkulierbares Ereignis. Das gilt für die Literatur in besonderem Maße: Vermittelt über die Wahrnehmungskategorien der Habitus, sind „die Praktiken der Schriftsteller und Künstler, und nicht zuletzt ihre Werke, Produkt der Begegnung zweier Geschichten: der Geschichte der Produktion der besetzten Position und der Geschichte der Dispositionen derer, die sie besetzen“170. Das Einnehmen einer Position ist erst das Ergebnis einer (erfolgreichen) Positionierung – oder auch verschiedener Positionierungsversuche. Bourdieus Unterscheidung von Positionierung und Position171 hebt den prozessualen Charakter der Platzierung im Feld hervor. Die verschiedenen Praktiken und Interventionen im Feld erscheinen als eine Ortssuche, in deren Verlauf die herkunftsbedingte Einstellung eines Schriftstellers, die Einheit seiner Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (Habitus) auf eine bestimmte Situation im Gefüge der Literatur trifft, im hier geltenden Raum des Möglichen, in dem der Autor seinen Ort sucht.172

Die Begriffe Position und Positionierung sind daher nicht misszuverstehen: Eine Positionsbestimmung, wie sie etwa der Seemann mithilfe von Kompass, Logbuch und Seekarte vornimmt, um seinen exakten Ort auf einem Koordinatensystem zu bestimmen, ist im sozialen Raum nicht möglich. Denn das Koordinatensystem ist hier selbst ständig in Bewegung und verändert seine Relationen, so dass auch die Kenntnis der sozialen Herkunft und der biographischen Geschichte eines Akteurs seine Handlungen nicht genau zu bestimmen erlaubt: Die Praktiken und Präferenzen, seien sie stilistischer, politischer oder religiöser Natur, sind [...] nicht einfach der Herkunft zuzurechnen, sie ergeben sich vielmehr erst aus der Konstellation von Habitus und literarischer Welt. Da sich der Zustand letzterer permanent verändert, kann es im Extremfall vorkommen, dass vergleichbare Dispositionen zu entgegengesetzten Positionsnahmen führen173.

Die beim Zusammentreffen von Feld- und biographischer Geschichte entstehenden literarischen Handlungen sind daher höchst vage. Sie entstehen ja in einem Raum des Möglichen, wenngleich nicht des Beliebigen. Und insofern das moderne literarische Feld das sozial Ungesicherte zur Tugend erklärt und die Umkehrung der sozialen Norm zum eigenen Gesetz macht, tastet es sich in einen sozial abgelegenen Raum des Möglichen, in gesellschaftliche shadow stories, vor und zerrt sie aus dem Schatten oder Zwielicht hervor. Im Swerving behalten Prozesse der literarischen Subjektivierung und damit die von ihnen ermöglichten textuellen und nicht-textuellen Praktiken eine Offenheit, die weder 170

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 406. Ebenda, S. 365ff. 172 Joch und Wolf: „Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft“, S. 1. 173 Ebenda. 171

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beliebig noch vorausberechenbar ist. Zwar wird – bei Shakespeare – das Abwegige des Swerving zum Umweg, der (erfolgreich) ans Ziel führt und die Subjekte der sozialen Norm unterwirft. Greenblatt betont jedoch, dass schon bei Shakespeare ein (Nach-)Geschmack des Abwegigen und Subversiven zurückbleibt, den die shadow stories mit sich führen. Sebastian glosses his own image with the comment, ‚You would have been contracted to a maid‘ (5.1.261); that is, he invites Olivia to contemplate what could have happened had nature not drawn to her bias. The line seems to call forth its complement – ‚But now you are contracted to a man‘ yet characteristically Twelft Night does not give us such a sensible and perfectly predictable turn. Instead Sebastian concludes by renewing the paradox after it had seemed resolved: ‚Nor are you therein, by my life, deceiv’d,/You are betroth’d both to a maid and man.‘174

Die „maid“ – zeitgenössische Anspielung auf eine ‚männliche Jungfrau‘ – „here refers wittily not only to Sebastian’s virginity but to the homosexual coupling that Olivia has narrowly escaped. Only by not getting what she wants has Olivia been able to get what she wants and, more important, to want what she gets.“175 Damit wird klar, dass Swerving alles andere ist als eine allein durch Bewusstsein und Willen zu steuernde Bewegung. Subjektivierung bleibt Unterwerfung: No one but Viola gets quite what she or he consciously sets out to get in the play, and Viola gets what she wants only because she is willing to submit herself to the very principle of deflection: ‚I am not that I play‘ (1.5.184) She embraces a strategy that the play suggests is not simply an accident of circumstance but an essential life-truth: you reach a desired or at least desirable destination not by pursuing a straigt line but by following a curved path.176

Überträgt man dieses anit-intentionalistische Prinzip auf das moderne literarische Feld, so lässt sich damit die illusio des genialen oder souveränen Autor-Subjekts zerstören, wie sie auch Picards Der Bürger und den darin erhobenen Vorsatz, dem Selbst- und Fremdplagiat zu entgehen, durchzieht. Als poetologisches Prinzip erlaubt das Swerving aber zugleich, über Bourdieu hinauszugehen und für das literarische Feld auch eine eigene Laufbahn der Texte in Rechnung zu stellen, da ja die Positionen der Akteure vor allem durch Positionierungen in Texten markiert werden. Die Texte besitzen – nach Robert Matthias Erdbeer – zwar eine eigene „Textintentionalität“177, doch löst ihre Rezeption eine eigene Dynamik aus, so dass sich sowohl vom Autor als auch von der Textintention zumindest teilweise verselbständigende „Laufbahnen“ der Texte ergeben. Diese Ablösung des avantgardistischen Textes von den Instanzen der Autor- und Textintention ist auf der Ebene der Produktion zurückzuführen auf „eine gewisse Dissonanz, mit der sich in jedem Augenblick die ironische, manchmal parodistische Dis174

Shakespeare, Twelfth Night, or What You Will, 5.1.262–263, zit. n. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 71. 175 Ebenda. 176 Ebenda, S. 70f. 177 Erdbeer: „Der Text als Verfahren“, S. 100.

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tanz des Schreibenden zu dem in Erinnerung bringt, was er schreibt“178. Auf der Ebene der Rezeption geht sie zurück auf die Unkontrollierbarkeit der Lektüre-Potentiale eines Textes: Die Ideologie des unausschöpfbaren Kunstwerks oder der ‚Lektüre‘ als Wieder-Erschaffen kaschiert [...], daß das Werk nicht zweifach, sondern hundertfach, tausendfach von all denen gemacht wird, die daran interessiert sind, die ein materielles oder symbolische Interesse darin finden, es zu lesen, einzuordnen, zu entziffern, zu kommentieren, zu reproduzieren, zu kritisieren, zu bekämpfen, es zu kennen, zu besitzen.179

Die im Swerving liegende Offenheit und Unvorhersehbarkeit birgt einen weiteren für die literarische Praxis wichtigen Aspekt: die Gefahr des Scheiterns. Das Abwegige kann zum erfolgreichen Umweg werden, es kann aber auch abwegig im engeren Sinne bleiben – eine Option, die für die Figur des avantgardistischen Schriftstellers bedeutsam ist, weil dem riskanten Möglichkeitsraum des literarischen Feldes eigene shadow stories innewohnen. Wenn Hugo von Hofmannsthal den „Dichter“ als Ausgestoßenen und Erniedrigten beschreibt, dann liegt darin gleichermaßen (Selbst-)Täuschung wie soziale Realität: So ist der Dichter da, wo er nicht da zu sein scheint, und ist immer an einer anderen Stelle als er vermeint wird. Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet [...] [,] als ein unerkannter Bettler [...]. Das Gesinde wies ihn unter die Treppe, wo nachts der Platz der Hunde ist.180

Die Selbstwahrnehmung und -Inszenierung des Literaten als Ortloser, seine (a-)soziale Melancholie, sind ebenso Bestandteil der illusio des literarischen Feldes wie realer Ausdruck seiner Stellung im sozialen Raum und im Feld der Macht: Unhappy Swerving. Einem solchen Unhappy Swerving entsprechen die riskanten Laufbahnen, für die Bourdieu in einer Auseinandersetzung mit der ‚literarischen Genetik‘ eine weitere Wegesmetapher wählt, um auf den risikoreichen, umwegigen und oft erfolglosen Verlauf der schriftstellerischen Praxis par excellence – des Schreibens – aufmerksam zu machen: Als Vorzug dieser Methode hebt er hervor, dass sie ihr Augenmerk auf die verschiedenen Vorarbeiten und Stadien der Textproduktion richtet und mit der Illusion des aus einem Guss oder einem Geistesblitz heraus schreibenden Autor-Genies bricht. Stattdessen ist das Schreiben eine mühsame, umwegige und oft gewagte Arbeit, die immer auch ‚Gespür‘ für die Gefahren (nicht Kalkül) verlangt: Man verstünde das Zögern, das Verwerfen, die Rückkehr zu früheren Fassungen besser, wenn man realisierte, daß das Schreiben, diese gefährliche Schiffahrt in einem Ozean drohender Gefahren, in seiner negativen Dimension auch durch eine vorweggenommene Kenntnis der wahrscheinlichen, dem Feld als Möglichkeit innewohnenden Rezeption geleitet wird; daß der 178

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 155. Ebenda, S. 277. 180 Hofmannsthal, Hugo von: „Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag“, in: Die neue Rundschau, XVIII. Jg. (1907), Nr. 3, S. 257–276, hier: S. 265. 179

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Schriftsteller [...] dem Piraten (peiratès) gleicht, der etwas riskiert, der experimentiert (peirao), sich von den eingefahrenen Geleisen des Üblichen entfernt und als Experte zeigt in der Kunst, den Weg zwischen jenen Gefahren aufzuspüren, die in Gemeinplätzen und konventionellen Formen bestehen.181

Indem Bourdieu das literarische Schreiben als ebenso risikoreiches wie risikofreudiges, gefahrvolles Experimentieren mit den im Raum des Möglichen potentiell einzuschlagenden Um- und Abwegen beschreibt, aus denen sich dann schriftstellerische „Laufbahnen“ ergeben können, bricht er mit zentralen Kategorien der traditionellen Literaturwissenschaft. Größen wie die des „Autors“ oder des „Werkes“ werden nicht einfach verabschiedet, aber problematisiert; sie erscheinen nicht als gegebene Voraussetzungen einer literarischen Tätigkeit, sondern als Ziel einer Suche, als mehr oder weniger erfolgreiches Ende eines riskanten, oft schwankend zurückgelegten Weges. „Autor“ und „Werk“ sind die Insignien, mit denen die Kritik dem Schriftsteller und seinen Produkten jene Anerkennung zuteil werden lässt, die das unausgesprochene Ziel seiner Praktiken ist – und mit denen sie zugleich die zahlreichen Umwege, Richtungsänderungen und unsicheren Orientierungsversuche zugunsten einer kohärenten Laufbahn und eines geradlinigen Weges ausblendet – und damit auch die sozialen Gravitationskräfte, die das Swerving ermöglichen, weil sie ihm zugrunde liegen. Die sozialen „Laufbahnen“ eines Schriftstellers und seiner Texte gleichen der kurvenreichen „Bahn“ einer Bowl-Kugel, mit ihren Umwegen, dem Schlingern innerhalb der Grenzen möglicher Bahnen, den Richtungsänderungen – mal mehr nach der einen Seite, mal mehr nach der anderen Seite – und schließlich der Gefahr, ganz von der Bahn abzukommen, wenn die Neigung (der bias) in eine Richtung allzu stark wird und der Abweg sich nicht als erfolgreicher Umweg entpuppt, sondern abwegig bleibt. An den literarischen Klippen der „Gemeinplätze[.] und konventionellen Formen“ hat Max Picard – um im Bilde zu bleiben – einigen Schaden genommen. Sein Wirken ist zwar nicht gänzlich gescheitert, doch ein bleibender, die Zeit überdauernder Erfolg ist ihm nicht beschieden gewesen. Seine Abwege sind zu oft abwegig geblieben: Der letzte Mensch, sein riskantestes und unkonventionellstes Buch, empfinden selbst literarische Freunde als einen Ausrutscher.182 Picards Gespür für die Platzierung erweist sich hier als unzureichend. Die Unverständlichkeit des Textes wagt sich allzu weit in den gefahrvollen Schatten des literarisch Möglichen hinaus, ohne durch ein entsprechendes soziales oder kulturelles Kapital abgesichert zu sein. Zu gering ist zudem seine soziale Einbindung in Kreise avantgardistischer Schriftsteller, und zugleich haben die (inhaltli181

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 316. Hervorhebungen im Original. An dieser Stelle sei an Victor Turner erinnert, der sich in seiner Theorie des Performativen auf die gleichen griechischen Wurzeln (peirao) des Piraten beruft, um das Gewagte und Riskante eines jeglichen performativen Prozesses, nicht nur der hochkulturellen Produktion, auf etymologischer Ebene zu verorten. Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main: Fischer, 1995, S. 24. 182 Vgl. hierzu S. 177f und Kap. 5.4, insbesondere S. 282f.

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Austauschbeziehungen. Feldtheorie und New Historicism im Vergleich

chen) Positionierungen seiner vorangegangenen kunstkritischen Essays ihm nicht die Reputation verschafft, die ihn als eines modernen Literatur-Stils fähigen Literaten ausweisen würde. Das Menschengesicht dagegen bietet zwar einige literarisch durchaus interessanten Passagen, gleitet aber allzu oft ins Heteronome religiöser Moral und in die Konvention ab. Und seine geringe soziale Einbindung in die literarisch herrschenden Kreise183 ist für seinen Erfolg ebenfalls wenig förderlich. Vielleicht hat Picard die von Hofmannsthal beschriebene soziale Ortlosigkeit des Schriftstellers allzu wörtlich genommen: Ein wenn auch bescheidenes Erbe184 sichert ihn finanziell ab und ermöglicht ihm den frühen Rückzug in ein asketisches Leben im Schweizer Tessin, wo Picard seit 1918 an verschiedenen Orten rund um den Lago Maggiore und den Luganer See (Brissago (ab 1919), Sorengo (1930), Gentilino (1934), Caslano (1943), Neggio (1955)) lebt – dort, wo auch Herrmann Hesse und Hugo Ball185 die Einsamkeit suchen. Doch während letztere dies zu einem Zeitpunkt tun, an dem sie bereits literarisch anerkannt sind und ihre Laufbahnen sich damit dem Ziel ausreichend genähert haben, um nicht mehr von der Bahn abzukommen, ist Picards Rückzug Ausdruck seiner geringen Unterwerfung unter die Normen des literarischen Feldes und dessen Umgangsformen. Wohlgemerkt: Mit drei Auflagen innerhalb des ersten Jahres ist Das Menschengesicht durchaus erfolgreich. Diesen Erfolg verdankt das Buch aber einer Rezeption, die in ihm einen religiösen Lebensratgeber oder eine Sammlung von Weisheiten sieht, also einer eher heteronomen Verwendung. Als Literatur oder (Kultur-)Philosophie wird es dagegen kaum rezipiert, und damit bleibt ihm die für eine dauerhafte Anerkennung zumeist nötige feldinterne Rezeption verwehrt. Doch gerade die ungewöhnlichen Widersprüche, Risse und Brüche im Werk dieses abwegigen Autors machen seinen literarischen Weg zugleich interessant: Denn neben den konventionellen finden sich auch so manche innovative Abwege in ein literarisches Schattenreich, die es lohnen, ein Stück weit nachgegangen zu werden.

183

Vgl. hierzu Kapitel 5.3, S. 280ff. Vgl. Bosch, Manfred: „Lebensdaten Max Picards“: in: Max Picard, Wie der letzte Teller eines Akrobaten... Eine Auswahl aus dem Werk, hrsg. v. Manfred Bosch, Sigmaringen: Thorbecke, 1988, hier: S. 299. 185 Picard wohnt nach seiner Übersiedlung ins Schweizer Tessin von 1943 bis 1955 in Balls ehemaligem Haus in Caslano. Vgl. Enzinck, Willem: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, in: Neue Deutsche Hefte, 35. Jg. (1988), Nr. 1, S. 189–204, hier: S. 194. 184

Teil II: „Gesichte vor dem Weltende“. Picards Frühwerk und Der letzte Mensch

4 Reaktionäre Transgressionen. Der letzte Mensch zwischen Groteske und Apokalypse

Was hat das Buch für einen Sinn? Es ist vor den Mauern des Untergangs gerufen, wer hört es, und hat es einen Sinn, daß da gerufen wird? Irgend einer hebt den Kopf über die Mauer – und dann ist er wieder verschwunden, und so vielleicht noch ein paar. Ich weiß nicht, warum man noch da ist. Ich weiß wohl, das Menschliche, das ist das Überraschende, es ist das Charakteristikum des Menschlichen, daß es überraschend ist, es kann heute verschüttet sein und morgen ist es wieder so als ob es von jeher immer nur aufgedeckt und dem hellsten und wärmsten Auge nahe gewesen wäre.1

Im Zentrum des nun folgenden II. Teils meiner Arbeit steht Max Picards 1921 veröffentlichtes Buch Der letzte Mensch2, ein schon zu Lebzeiten kaum rezipiertes und danach fast vollständig in Vergessenheit geratenes Werk. Dabei stellt Der letzte Mensch ohne Zweifel ein Schlüsselwerk Picards dar, gerade weil es in mehrfacher Hinsicht aus dem Gesamtwerk herausragt: Zum einen finden sich hier die ‚großen‘ Themen, mit denen er sich in späteren Schriften immer wieder auseinandersetzt, hier erstmalig in versammelter Form – insbesondere das Gesicht tritt zum ersten Mal ins Zentrum des literarischen Geschehens. Zum anderen steht Der letzte Mensch aber zu den darauffolgenden Werken in starker Spannung oder gar im Widerspruch, denn die inhaltlichen und stilistischen Positionierungen des Letzten Menschen verhalten sich zu den in späteren Schriften vertretenen Standpunkten oftmals konträr. Und schließlich lässt sich konstatieren, dass dem Letzten Menschen auch hinsichtlich der literarischen Komplexität, des Innovationspotentials und der Risikobereitschaft in Stil- und Gattungsfragen eine ‚herausragende‘ Stellung unter Picards Werken zukommt. Dies soll – im Sinne der von Liu und Erdbeer geforderten „akribische[n] Lektüre im begrenzten, manifesten, fiktionalen Text“3 – ausgehend von einer textnahen Beschäftigung mit dem Letzten Menschen geschehen. Untersucht werden dabei zunächst jene Textverfahren, die Lius neuhistoristischer Rhetorik zufolge den Text (kon-)figurieren: Redeformen, literarische Gattungen, Rhetoriken, Poetologien und Texturen. 1

2 3

Max Picard über Der letzte Mensch in einem undatierten Brief an Rainer Maria Rilke, zit. n. der von Rilke am 26. Mai 1921 an Nanny Wunderly-Volkart gesandten Kopie dieses Briefes, in: Rilke, Rainer Maria: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Im Auftrag der Schweizerischen Landesbibliothek und unter Mitarbeit von Niklaus Bigler besorgt durch Rätus Luck, Bd. II, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1977, S. 459f. Picard, Max: Der letzte Mensch, Leipzig, Wien, Zürich: E. P. Tal Verlag, 1921. Erdbeer: „Der Text als Verfahren“, S. 77.

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Reaktionäre Transgressionen

Dieser Text, der sich nur schwer einer Gattung zuordnen lässt, schwankt zwischen Essay und phantastischer Literatur, zwischen „groteskem Realismus“4 (Bachtin) und Fiktion. Das ‚Gesicht‘ bildet dabei das Zentrum, um welches das literarische Geschehen kreist: Es erscheint als eine Körper-Figur, die jeglicher Form entgleitet und den menschlichen Leib mehr und mehr zu einer grotesken Gestalt werden lässt. Zugleich aber erweisen sich auch die literarischen Formen – rhetorischer, poetologischer und textueller Art – als instabile, nicht fixierbare Gestalten: Der Textverlauf des Letzten Menschen nimmt immer stärker die Züge des Grotesken an – jenes literarischen Verfahrens, das nach Michail Bachtin und Peter Fuß auf eine unendliche, nicht stillzustellende Bewegung der Formen abzielt.5 Doch schließlich kippt der Text ins Apokalyptische – jene extreme Form literarischer Gewalt, die ein endgültiges Ende und damit den Stillstand allen Sprechens zu etablieren versucht. Die Auseinandersetzung mit apokalyptischen und grotesken Verfahren bildet den Leitfaden, an dem ich meine textnahe Analyse orientiert. Denn Picards Verknüpfung der mit diesen beiden literarischen Formen verbundenen Gattungen, Stilen und Topoi entpuppt sich als höchst interessante und originelle Position. Sie bildet einen weder von den Zeitgenossen noch von der späteren Rezeption wahrgenommenen, sehr eigenständigen und innovativen Beitrag zum literarischen Feld der Zeit. Indem ich dies nachweise, möchte ich zum einen die Literaturgeschichte der Weimarer Zeit um eine vielleicht nicht entscheidende, aber doch erinnerungswürdige Position ergänzen. Zum anderen möchte ich aber auch zeigen, dass die eigenartige Verschränkung apokalyptischer und grotesker Formen und Redeweisen, die Der letzte Mensch literarisch entfaltet, auch die gegenwärtige Forschung anregen und bereichern kann. Die Textanalyse wird u. a. zeigen, dass die vermeintlich so gegensätzlichen Textverfahren der Groteske und Apokalypse ‚geheime Korrespondenzen‘ unterhalten: Dadurch wird nicht nur das apokalyptische Sprechen in der von ihm postulierten absoluten Gewalt und Endlichkeit unterlaufen; auch das Groteske erweist sich als weniger offen und unendlich, als die literarische Groteske-Forschung im Gefolge Bachtins es zumeist verkündet. Meine Lektüre von Picards Text ermöglicht damit eine Kritik literarischer und kulturtheoretischer Groteske-Theorien, die oft eigenartig geschlossen und fixiert konzipiert sind und damit die eigene These von der „grotesken Liquidation symbolischkultureller Ordnungsstrukturen“6 unterlaufen: So bestätigen die in der textnahen Analyse gewonnenen Defigurationen der Groteske und Apokalypse, was auch die vom New Historicism inspirierten Arbeiten von Stallybrass und White als kulturwissenschaftliche Kritik an Groteske-Theorien im Gefolge Bachtins formulieren.

4 5 6

Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995 [1965], S. 25. Vgl. hierzu unten S. 133f., 165ff. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2001, S. 195.

Reaktionäre Transgressionen

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Indem die Auseinandersetzung mit dem Letzten Menschen im weiteren Verlauf des II. Teils (Kap. 5) die Textebene überschreitet, erweist sie den Text auch aus einer literarischen Perspektive, die – im Sinne Bourdieus und des New Historicism – über den einzelnen Text hinausgeht und literarische Kontexte, Feldpraktiken und kulturelle Zirkulationen in die Analyse einbezieht, als ein eminent wichtiges Werk Picards. Dabei werden die Befunde der textnahen Lektüre nicht ohne Bedeutung sein: Die aus den Textverfahren herausgearbeiteten Ambivalenzen durchziehen nicht nur den Einzeltext, sie begegnen auch auf den unterschiedlichen Kontext-Ebenen wieder – angefangen bei Picards übrigen Schriften, über die Texturen und Poetologien des zeitgenössischen literarischen Feldes, die Themen und Topoi seiner Avantgarden sowie deren nichttextuelle literarische Praktiken, bis hin zu wissenschaftlichen Kontexten jenseits des literarischen Feldes. Der letzte Mensch ist ohne Zweifel Picards eigenartigstes, gewagtestes und unverstandenstes Werk – und deswegen vielleicht auch sein am meisten in Vergessenheit geratenes Buch. Es ist das Schlüsselwerk für jenen ‚anderen‘ Picard, dem das Etikett des Kulturkonservativismus nicht gerecht wird. Der letzte Mensch wirft sowohl auf die frühen kunstkritischen Schriften Picards als auch auf das spätere Menschengesicht den Schatten einer desillusionierten, fast nihilistischen Beobachtung der Moderne und ihrer als Krise empfundenen sozialen, medialen, politischen wie wissenschaftlichen Entwicklungen erscheinen. Gerade die Brüche und Inkohärenzen zum vorangehenden und nachfolgenden Werk – und sein Status als gescheiterter, weil kaum rezipierter Text – machen den Letzten Menschen zu einem Zeugnis des Unhappy Swerving, das sich als Zusammenhang zwischen den aufeinanderfolgenden literarischen Positionierungen eines Schriftstellers konstruieren lässt. Dies verdeutlicht, dass die aus unterschiedlichen Positionierungen und Rezeptionsprozessen resultierenden Text- und Autorlaufbahnen – ob gelungen oder gescheitert – nicht jene souveräne Einheit von Werk, Autor-Subjekt und Laufbahn bilden, die die klassische Interpretation eines Werkes als kohärenten Zusammenhang eines geschlossenen Entwurfes oder als wiederholte Überwindungen des Vorangegangen konstruiert.7 Das allmähliche Voranschreiten der Kontextualisierung über Picards Werk hinaus lässt die Kraftlinien des zeitgenössischen literarischen Feldes, wie sie sich in den Texten und Praktiken anderer Schriftsteller manifestieren, deutlich werden: Picards literarische Behandlung der Texturen und Poetologien erfolgt in Auseinandersetzung mit den Positionen der zeitgenössischen Avantgarden des Ästhetizismus, des Impressionismus und insbesondere des Expressionismus. Und auch die Themen – von der Kritik des künstlerischen Impressionismus bis zur Darstellung der Großstadt oder des Kinos – erweisen ihn literarisch als vom Expressionismus beeinflusst: Gerade der Bruch zwischen der modernen Ästhetik seiner Texte und der darin vorgenommenen inhaltlichen 7

Vgl. zum Zusammenhang von Text (Werk), Autor-Subjekt und Laufbahn oben S. 99f sowie zum Auseinandertreten von Text- und Autorlaufbahnen bzw. -intentionen S. 103ff.

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Reaktionäre Transgressionen

Kritik an der zivilisatorischen Moderne verbindet ihn mit zahlreichen Protagonisten des Expressionismus. Schon seit längerem bemüht sich die Literaturwissenschaft darum, den Expressionismus vom Klischee des hohlen Pathos zu befreien, seine Ambivalenzen und damit auch sein kritisches theoretisches Potential zu würdigen. Dabei wurde insbesondere der Frühexpressionismus zum Ausgangspunkt für ein „gewandeltes Expressionismusbild“8, während der Spätexpressionismus mit fehlender theoretischer Tiefe und humanistischem Pathos gleichgesetzt wurde.9 Und vielleicht vermag Der letzte Mensch hier zu einer weiteren Differenzierung des Blickes in die Geschichte beitragen, wie ihn Liu für nötig erklärt: Durch manche pathetische und literarisch wenig gelungene Passage muss sich auch eine Lektüre des Letzten Menschen hindurcharbeiten. Der letzte Mensch steht jedoch auch dafür, dass die spätexpressionistischen Darstellungen ‚neuer‘ und ‚letzter‘ Menschen an mancher Stelle komplexer und an aufschlussreichen Beobachtungen reicher sind als es ihre weit verbreitete pauschale Disqualifizierung nahelegt. Dass Picards Versuch, mit Der letzte Mensch Anerkennung gerade am avantgardistischen Pol des literarischen Feldes zu finden, letztlich scheitert, dürfte nicht allein auf die literarisch eher misslungenen, weil stilistisch konventionellen oder inhaltlich rückständigen Passagen zurückzuführen sein. Was seinen literarischen Umweg zum Abweg werden lässt, erklärt ein weiterer Schritt der literarischen Analyse, der den nichttextuellen literarischen Praktiken nachgeht, den sozialen und institutionellen Verflechtungen des Schriftstellers Picard, seinen Künstler-Freundschaften und Kontakten zu Verlagen. Hier zeigt sich Picard als wenig geschickt im Knüpfen sozialer Netzwerke – Freundschaften zu einflussreichen Schriftstellern oder Verlegern sind rar und wo sich soziales Kapital gewinnbringend einsetzen lässt, nutzt Picard die sich bietenden Gelegenheiten unzureichend. In einem letzten Schritt wird die Untersuchung dann zum Teil eher unvermutete Austauschbeziehungen aufdecken, die über die Grenzen des literarischen Feldes hinausreichen. Denn auch Picards Tätigkeit als Mediziner und seine geschichtsphilosophischen Auseinandersetzungen mit dem „Historismus und seine[n] Problemen“10 fließen – in transfigurierter Form – in den literarischen Text ein: Wissens-Figuren aus der Medizin oder dem Historismus überlagern sich zu den Gesichte(r)n des Letzten Menschen. 8 9

10

Vietta, Silvio und Hans-Georg Kemper: Expressionismus, München: Wilhelm Fink Verlag, 1997 [1975], S. 18. „Entscheidend für dieses neue Epochenverständnis dürfte wohl die Einsicht sein, daß die expressionistische Beschwörung eines ‚neuen Menschen‘ nicht isoliert werden kann aus dem Spannungsfeld der Epoche, insofern sie selbst nur eine Re-aktion ist auf die ebenfalls und vor allem in der frühen Phase des Expressionismus zur Darstellung kommende schwere Strukturkrise des modernen Ich.“ (ebenda) So lautet der Titel eines der wichtigsten Beiträge zu dieser Auseinandersetzung: Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme.

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4.1 Vom Schein des Humanen zum Hervorbrechen des Grotesken „Die Wesen, die heute wie Menschen aussehen, sind keine Menschen. Sie sehen nur aus, als ob sie Menschen wären.“11 Mit diesen Worten beginnt Picards 1921 im Wiener E. P. Tal & Co Verlag12 erschienenes Buch Der letzte Mensch, sein zugleich unkonventionellstes und am meisten in Vergessenheit geratenes Werk. Die Diagnose eines Absinkens des Humanen zum trügerischen Schein, die hier den Ausgangspunkt des Textes bildet, greift den wohl wichtigsten Topos traditioneller Physiognomik13 auf, um ihn zugleich zu sprengen: Es ist geradezu die Grundgeste physiognomischer „Herme(neu)tik“14, das täuschende Potential menschlicher Gesichts-Zeichen zu postulieren und auszubreiten, vor dem Trug des Oberflächlichen zu warnen, um im Gegenzug die ebenso kryptische wie offensichtliche (Geheim-)Lehre physiognomischen Sehens zu entfalten, indem die physiognomische Deutung auf eine hinter Schein und Täuschung hervorzuzerrende und dingfest zu machende ‚tiefere‘ Wahrheit, auf ein gleichermaßen empirisch sicherzustellendes wie metaphysisch gesichertes „inneres Wesen“ zielt.15 11 12 13

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Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Vgl. zur Edition der Picard’schen Schriften ausführlich Kap. 5.4. Wenn ich von „traditioneller Physiognomik“ oder „Tradition der Physiognomik“ spreche, so meine ich damit die für die Moderne maßgebliche Entwicklung physiognomischer Wissenspraktiken seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie setzt nicht erst und nicht allein mit Lavaters Werken ein; doch insofern sich sein Versuch, Physiognomik als umfassende Wissenschaft im Rahmen von Empirismus und Aufklärung zu positionieren, als Referenzpunkt fast aller in der Folge einsetzenden wissenschaftlichen Kritik, epistemologischer Problematisierung und der Ausdifferenzierung in verschiedene Wissensbereiche erweist, schwingt in der „traditionellen Physiognomik“ immer auch die „Lavater’sche Physiognomik“ mit. Nicht, weil sie die an sie anschließenden physiognomischen Bestrebungen erfolgreich dominiert, sondern weil sie sie durch ihre zahlreichen Probleme – bei gleichzeitig minimalem Problembewusstsein – anregt, kann sie als Ausgangspunkt der physiognomischen Traditionen bis in die Moderne des 20. Jahrhunderts gelten. Auch letztere wird etwa im Werk Picards verschiedene dieser Probleme (wie die von Lavater postulierte Innen/Außen-Entsprechung eines mit sich selbst identischen Individuums und seines Gesichts(körpers), die heilsgeschichtlichen Motive, die Frage nach dem empirischen, ästhetischen oder fiktionalen Status physiognomischen Wissens) erben und bearbeiten, kritisieren und verwerfen – und über sie stolpern. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 20f. Blankenburg, Martin: „Wandlung und Wirkung der Physiognomik. Versuch einer Spurensicherung“, in: Karl Pestalozzi und Horst Weigelt (Hrsg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, S. 179–213, hier: S. 181f. Auch hier ist an erster Stelle Lavater zu nennen, der die paradoxe herme(neu)tische Grundgeste der Physiognomik und ihre zugleich empiristisch-aufgeklärte wie okkulte Tradition in den Ausruf fasst: „Bis auf einen gewissen Grad lässt sich physiognomische Wahrheit bestimmen – in Zeichen und Worte fassen, mittheilen – sagen: ‚das ist Character hohen Verstandes – dieser Zug ist der Sanftmuth, dieser dem wilden Zorn eigen! So blickt die Verachtung! So die Unschuld! Wo dieß

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Picards Diagnose sprengt diese physiognomische Strategie, indem sie sie beschwört und universalisiert: Es geht ihr gerade nicht um die immer wieder auftretende fehlerhafte Deutung einzelner Gesichts-Zeichen, die etwa durch Übung und eine dabei zu erwerbende zunehmende Sicherheit des Urteils überwunden oder zumindest minimiert werden kann.16 Der Trug liegt bei Picard schon im Versprechen, hinter dem Schein ein wahres, „inneres“ Wesen und damit eine metaphysische Gewissheit zu finden: Die Täuschung erweist sich – und zerbricht zugleich – nicht mehr am „Wesen“, sie ist zum „Wesen“ geworden. Wo sich am „Wesen“ die Frage nach falscher oder wahrer Feststellung der Beziehung von Innen und Außen (‚Seele‘ und Körper) des Menschen17 und damit nach seiner Identität klären ließ, wird es nun zum Subjekt/Objekt der NichtIdentität: Die „Wesen“ sehen aus „wie Menschen“, aber „ sind keine Menschen“18. Picard unterläuft den klassischen Lavater’schen Gestus, indem er ihn zitiert, zuvor aber seine Voraussetzungen – die Entsprechung von Außen und Innen – zerstört. Rudolf Kassner hat eine ähnliche gegen die traditionelle Physiognomik gerichtete Bewegung zwei Jahre zuvor gefasst als das „Paradox jeder Physiognomik, daß der Mensch nur so sei, wie er aussehe, weil er nicht so aussieht, wie er ist“19. Anders als Kassner betreibt Picard diese Sprengung der physiognomischen Geste jedoch nicht durch eine paradoxale Wendung, sondern indem er das physiognomische Postulat der Identität (bzw. Ähnlichkeit) von Aussehen (Schein) und Sein (innerem Wesen) in einer Negation aufhebt –

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Zeichen – da ist diese Eigenschaft!‘ – Läßt sich sagen: ‚So musst du beobachten! Den Weg musst du gehen, dann wirst du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewissheit kommen‘ – Aber soll der geübte Beobachter, der Feinergebaute auch hier, wie in allen Dingen, die Wissenschaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer sehen? Nicht weiter fliegen? Nicht häufig Anmerkungen machen, die sich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen lassen?“ (Lavater, Johann Kaspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. I, Leipzig und Winterthur: Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie, 1775, S. 54f.) Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz „Kunst des Ver-Gleichens. Zur Blickführung in Physiognomiken des späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts“. Der „innere Mensch“, auf den Lavaters physiognomisches Erkenntnisinteresse sich richtet, kann nicht ohne die religiöse Komponente einer zukünftigen Erlösung verstanden werden; er ist als inneres immer auch ein zukünftiges Wesen und als solches verkündet er eine überlegene (christlich-) transzendente Wahrheit. In diesem Sinne heißt es bei Lavater in der Vorrede zu seinen Physiognomischen Fragmenten: „Ich verspreche nicht [...] das tausendbuchstäbige Alphabeth zur Entzieferung der unwillkührlichen Natursprache im Antlitze, und dem ganzen Aeußerlichen des Menschen, oder auch nur der Schönheiten und Vollkommenheiten des menschliches Gesichts zu liefern; aber doch einige Buchstaben dieses göttlichen Alphabeths so leserlich vorzuzeichnen, daß jedes gesunde Auge dieselbe wird finden und erkennen können, wo sie ihm wieder vorkommen.“ (Lavater: Physiognomische Fragmente, S. a3) Bekanntlich begründet Lavater diese Entsprechung durch den Rückgriff auf Leibniz’ Modell der prästabilierten Harmonie bzw. auf Bonnets Modifizierung desselben zu einer Theorie der präformierten Keime. Vgl. hierzu Pabst: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, S. 24ff. Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Kassner: Zahl und Gesicht, S. 16.

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in der Nicht-Identität von „Wesen“ und „Menschen“: „Die Wesen, die heute wie Menschen aussehen, sind keine Menschen. Sie sehen nur aus, als ob sie Menschen wären.“20. Zudem verallgemeinert Picard diesen Widerspruch für seine historische Gegenwart („heute“) so, dass er zur universalen ‚Krise der Repräsentation‘ wird: Er konstatiert damit jenes Changieren „zwischen dem Universum der Ordnenden Linie und dem der Durcheinandergekommenen Anordnung“21, jene Zerschlagung einer metaphysischen Verbindung von Signifikant und Signifikat, die zum Kennzeichen der Moderne erhoben worden sind. Wo solche überzeitlichen Gewissheiten abhanden gekommen sind und die Beziehungen von Schein und Sein sich lockern, vermag nur eine historische ‚Trägheit‘ noch eine Entsprechung zwischen ihnen zu stiften. So heißt es von dem „Wesen“ weiter: Sie müssen heute nicht mehr so aussehen wie Menschen. Sie dürfen nur noch so aussehen. Es scheint irgendwie noch erlaubt zu sein. [...] Viel tausend Jahre lang hat man aussehen müssen wie ein Mensch. Nun wirkt das Gesetz der Trägheit: Viel tausend Jahre lang mußte man aussehen wie ein Mensch; nun darf man heute noch so aussehen, weil es nicht plötzlich aufhören kann22.

Wenn er nur noch die Wiederholung im Reich der kontingenten Körperzeichen Bedeutung stiften lässt, nicht mehr Gott oder die Natur, dann vollzieht Picard damit den entscheidenden Bruch nach, der die moderne Physiognomik des 19. und 20. Jahrhunderts von der des 18. Jahrhunderts trennt: Kann der Blick des Physiognomikers sich nicht mehr auf die ‚natürlichen Zeichen‘ und ‚Gesichter‘ berufen, um den ihm folgenden Blick des Adepten an deren „ordnender Linie“ zu orientieren, dann verbleibt nur der Blick in jene andere Dimension des Physiognomischen, die all ihren traditionellen Figuren als textuell Verdrängtes oder Verleugnetes zugrunde liegt. Der Physiognomiker erweist sich als Seher von ‚Gesichten‘, von Figuren aus einem Reich grotesker Fiktionen, in deren „durcheinandergekommene[r] Anordnung“23 sich der Adressat zu verlieren droht. Und so verkündet Picard als letzte ‚Wahrheit‘, die sich hinter dem physiognomischen Schein hervorzerren lässt, die Erschöpfung der Formen: Schon gibt es Wesen, die gar nicht mehr aussehen können wie Menschen, obwohl sie noch dürfen. Es sind keine menschlichen Formen mehr für sie da. Die menschlichen Formen sind schon aufgebraucht.24

Folgerichtig entfaltet der Text des Letzten Menschen eine Welt der Defigurationen, des Grotesken, der ‚unverständlichen Texturen‘25, in der die Sprengung des physiognomischen Gestus’ in all ihren Konsequenzen sichtbar wird. 20 21 22 23 24 25

Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Liu: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“, S. 116. Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Hervorhebungen im Original gesperrt. Liu: „Die Macht des Formalismus: Der New Historicism“, S. 116. Picard: Der letzte Mensch, S. 10. Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, und ausführlich Kap. 5.1, S. 184ff.

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Das Groteske folgt in Der letzte Mensch einer langsamen und allmählichen Entwicklung – ein für diese literarische Gattung eher ungewöhnliches, wenngleich nicht völlig unbekanntes Verfahren. Groteske Elemente der Übertreibung, Verzerrung und Vermischung treten zunächst kaum merklich auf und steigern sich mit der Zeit immer mehr, bis hin zu einer gewaltigen kaskadenartigen Selbst-Überbietung grotesker Übertreibungs-Mechanismen. Um einen ersten Überblick über das schwer zugängliche und wenig strukturierte Buch zu geben, das sich einer nachvollziehbaren Erzähllogik weitgehend entzieht, lassen sich fünf Teile unterscheiden. Am Anfang steht die Diagnose des gegenwärtigen Zustands der Menschheit und ihrer Erscheinungsformen: „Die Wesen, die heute wie Menschen aussehen, sind keine Menschen. Sie sehen nur aus, als ob sie Menschen wären.“26 Diese Diagnose bildet den Ausgangspunkt des Textes und zieht eine Kette von zunehmend grotesken, einer kohärenten Darstellung sich entziehenden Folgen nach sich, die den Hauptteil des Buches (S. 17–129) ausmachen: In mehreren Anläufen und thematischen Variationen (S. 17– 100) wird das Groteske entfaltet; es kommt zur wiederholten Steigerung und Entfesselung grotesker Phantasien und Visionen. Immer wieder und zumeist recht unvermittelt tauchen dabei Themenfelder auf, in deren Zentrum v. a. groteske Variationen des menschlichen Körpers, aber auch Komplexe wie der Krieg und der Schützengraben, die Entwicklungen und Auswirkungen moderner Technologien (Kino, Automobile), die Industrie, die Zivilisation und die Großstadt stehen; Topoi also, die nicht nur in anderen Grotesken der Zeit auftauchen sondern an denen sich literarische, soziologische und bildkünstlerische Anthropologien der Weimarer Zeit immer wieder abarbeiten, um ihre Perspektiven auf den modernen Menschen und seine „Krisen“, Untergänge und Utopien zu konturieren. Sie stellen zwar verbindende Elemente dar, eine narrative Erzähllogik lässt sich aus ihnen jedoch nicht rekonstruieren (was für groteske Textgattungen ja nicht erstaunt). Die grotesken Defigurationen steigern sich zunehmend; auf ihrem Höhepunkt angelangt, wird in der Groteske jedoch ein demiurgischer Plan sichtbar (S. 101–144), den ein „letztes Wesen“ im Verborgenen vorbereitet – ohne dass die grotesken Variationen dadurch zu einem Stillstand kommen. Der vierte Teil (S. 144–198), der auf die Schilderung dieses demiurgischen Plans folgt, zeichnet sich durch eine thematische und stilistische Mäßigung aus. Neben groteske Elemente tritt hier recht unvermittelt die Darstellung einer göttlichen Weltordnung, wie sie später in Das Menschengesicht weiterentwickelt wird. Diese kosmologische Ordnung erweist sich jedoch als eine vergangene, sie vermag den im letzten Teil (S. 198–204) sich vollziehenden apokalyptischen Untergang nicht zu verhindern, mit dessen Eintreten Der letzte Mensch endet.

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Picard: Der letzte Mensch, S. 9.

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Zu Beginn jedoch bricht das Groteske ganz unscheinbar – wie durch einen kleinen Riss – hervor: Man merkt: es stimmt alles, es sieht alles so aus wie bei einem Menschen, aber an einer Stelle ist doch irgend etwas, was nicht ist wie bei einem Menschen.27

Nach Wolfgang Kayser zeichnet das Groteske nicht allein das Ungewohnte einer die vertrauten kulturellen Ordnungen durcheinanderbringenden grotesken „entfremdete[n] Welt“ aus – sondern deren Vermischung mit der vermeintlich unerschütterlichen und geordneten Wahrnehmungs-Realität. [D]as Groteske ist die entfremdete Welt. Aber das verlangt noch einige Erläuterung. Man könnte die Welt des Märchens, wenn man von außen auf sie schaut, als fremd und fremdartig bezeichnen. Aber sie ist keine entfremdete Welt. Dazu gehört, daß was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt. Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat. [...] Das Grauen überfällt uns so stark, weil es eben unsere Welt ist, deren Verläßlichkeit sich als Schein erweist.28

Und gerade die leisen und noch undeutlichen Vorboten dieser Vermischung vermögen in besonderem Maße Beunruhigung und Befremden auszulösen.29 Das Groteske ist ein Phänomen, in dem das Phantastische einbricht in die Wahrnehmungs-Realität einer vertrauten Welt („Man merkt: es stimmt alles, es sieht alles so aus wie bei einem Menschen“) und diese damit in ihrem Realitätsstatus, ihrer vermeintlichen Verlässlichkeit und Ordnung unterläuft durch das, was unfassbar – weil sprachlich nicht zu fassen – ist: „irgend etwas, was nicht ist wie bei einem Menschen“. So heißt es bei Kayser: „Sobald wir die Mächte benennen und ihnen eine Stelle in der kosmischen Ordnung anweisen können, verlöre das Groteske an seinem Wesen [...]. Was einbricht, bleibt unfaßbar, undeutbar, impersonal.“30 Im Aufeinandertreffen von Phantastischem und Realität erweist sich, dass beide keine ‚reinen‘ Phänomene sind – das Phantastische ist realer und damit bedrohlicher, die Realität phantastischer und damit gefährdeter, als es scheint. Gerade indem das Groteske der Erwartung zugleich entspricht und zuwiderläuft, setzt sie die Ordnung außer Kraft. An der Erscheinung des Wesens „stimmt alles“, und doch enthält sie ein zunächst nicht deutbares Zeichen oder Objekt, „irgend etwas“, das mit dem „Menschen“ auf beunruhigende Weise nicht übereinstimmt, weil es nicht zu benennen ist. Picard steigert den grotesken Effekt dadurch, dass er ihn als eine mehrfache Unbestimmtheit inszeniert: Wie in unzähligen Motiven der grotesken Bild- und Erzähltradition lässt sich zum einen die Körperoberfläche nicht in Kategorien des Humanen oder Nicht-Humanen verorten und dadurch begrifflich bestimmen. Sie erscheint zugleich menschlich und nicht-menschlich. Zum anderen unterliegt das Phänomen aber auch 27 28 29 30

Ebenda, S. 10. Vgl. Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg, Hamburg: Gerhard Stalling Verlag, 1957, S. 198f. Hervorhebung K. L. Das Film-Genre des Psycho-Thrillers hat diese Technik zur Perfektion getrieben, etwa in den Filmen Alfred Hitchcocks oder David Lynchs. Kayser: Das Groteske, S. 199.

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einer zeitlichen Unbestimmtheit. Der Text führt nämlich das Entstehen der undeutbaren Stelle, die die ästhetische und epistemologische Ordnung verwirrt, auf einen Moment zurück, der seinerseits zeitlich nicht verortet werden kann; der Augenblick des AußerKraft-Setzens der menschlichen Formen hebt das linear geordnete Zeit-Kontinuum in einer Art ‚Ausnahmezustand‘31 auf und lässt sich nur vage als in einer geschichtlich nicht näher spezifizierten Vergangenheit, die fast schon ahistorisch anmutet, erfassen: Diese Stelle ist entstanden damals, als für einen Augenblick befohlen worden war, dass man aufhören solle, wie ein Mensch auszusehen, damals, als der Befehlende sich einen Augenblick besann, ob er eine neue Form entstehen lassen solle.32

Schließlich erscheint in der Schilderung der Stelle, an der „irgend etwas [...] nicht ist wie bei einem Menschen“, auch an der Textoberfläche ein Fremdkörper, eine Art Textur-Fleck. Die sprachliche Indexikalisierung33 „irgend etwas“ deutet auf eine unbestimmte Stelle in der sprachlichen Äußerung, der eine im Text nicht einholbare – vermeintliche oder reale – Erfahrung zugrunde liegt. Dieser „Hiatus von Erfahrung und deren sprachlicher, mithin textueller Vermittlung“34 lässt an der Textoberfläche einen Riss entstehen. Indem er die Grenzen des Textkörpers durchbricht und überschreitet, verdoppelt dieser Riss auf der Textebene die groteske Öffnung und Überschreitung von (Leib-)Grenzen – die von Bachtin ins Zentrum des Grotesken gestellte „Darstellung des offenen, unabgeschlossenen Körpers“35 und „jene[r] seiner Teile, in denen er über sich selbst, über die eigenen Grenzen hinauswächst“36. Denn durch den indexikalischen Hinweis auf die Unbestimmtheit der textuellen Darstellung („irgend etwas“) erweist sich der Textkörper in der Lektüre als unabgeschlossen, als offen in Richtung auf eine beunruhigende Erfahrung, die als Fremdkörper in ihn hineinragt und zugleich den Text über sich selbst hinausweisen lässt. Der ‚Fleck‘, der als unbestimmbare Stelle die Oberflächen des dargestellten Körpers wie des darstellenden Textes durcheinanderbringt und das Kontinuum der Zeit verwirrt, enttäuscht die physiognomische Wahrnehmungserwartung37 und ermöglicht damit den Auftritt der Figur des ‚Sehers‘: Sein Blick ist ‚Vi31 32 33

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Zum ges(ch)ichtlichen „Ausnahmezustand“ vgl. ausführlich unten S. 475ff., 484ff. Picard: Der letzte Mensch, S. 10. Eine Indexikalisierung verweist vom Text auf den situativen Kontext seiner Äußerung, die – historische oder imaginierte – Sprechsituation. Vgl. hierzu Pape, Helmut: „Indexikalität der Erfahrung oder Objektivität des Wissens?“, in: Zeitschrift für Semiotik, 21. Jg. (1999), Nr. 1, S. 3–14; Arbeitsgruppe Performativität und Wissen(schaft): „Diskursivierung des Performativen“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropogie, 13. Jg. (2004), Nr. 1: Praktiken des Performativen, S. 81–127, hier: S. 114ff. Arbeitsgruppe Performativität und Wissen(schaft): „Diskursivierung des Performativen“, S. 114. Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt, S. 381. Ebenda, S. 358. Carl Pietzcker hat die Groteske auf eine Erwartungsenttäuschung zurückgeführt: „Das Groteske ist die Struktur, in der die Erwartung, ein Sachverhalt werde in einer bereits bekannten Weise gedeutet, enttäuscht wird, ohne daß eine weitere, angemessene Deutungsweise bereitsteht. Ein Werk wird grotesk, wenn es diese Struktur von Erwartung und Enttäuschung im Leser weckt.“ (Pietzcker,

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sion‘ und die von ihm erblickten Gesichter entpuppen sich als ‚Gesichte‘. Durch den inszenierten Eintritt in eine neue, entstellte und entstellende Art des Sehens wird Picard zum Seher von literarischen Gesichten. Er kompensiert die gestörte Wahrnehmung durch eine erweiterte, phantastische Erfahrung – durch eine Figur der Fiktion, die zwischen Dichtung und Lüge oszilliert: „Einmal stand in der Reihe neben mir ein Gespenst, das einen Körper hatte, als ob es ein Wesen wäre so wie ich!“38 Der letzte Mensch lässt sich als Veranschaulichung des von Kayser beschriebenen Phänomens lesen: Immer mehr entpuppt sich bei Picard die Realität des gegenwärtigen Menschen als eine, in die das Bedrohliche, Phantastische bereits – unbemerkt von den vertrauten Wahrnehmungsmechanismen – eingebrochen ist. Kaysers Groteske-Theorie ist komplexer als sein vielzitierter Satz „das Groteske ist die entfremdete Welt“39. Entscheidend ist sein bereits erwähnter Hinweis auf die Vermischung von eigener und entfremdeter Welt: „Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat“40 – und, so könnte man ergänzen – „es bleibt unsere Welt“. Das durch das Groteske hervorgerufene Grauen führt Kayser dabei nicht auf den Traum oder das Phantastische zurück, sondern auf das Aufeinanderprallen von Phantastischem und der vermeintlich geordneten Realität. „Das Grauen überfällt uns so stark, weil es eben unsere Welt ist, deren Verläßlichkeit sich als Schein erweist.“41 Mit einer ebensolchen Verwirrung von Schein und Verlässlichkeit treibt Picard ein groteskes Spiel, das zugleich noch einen Schritt weiter geht: Hier wird nicht nur die vertraute Welt zum Schein – auch das Außergewöhnliche, das Hervorbrechen des Grotesken, erfolgt unter diesem Vorzeichen. Sieh’ jenes Gesicht: Es scheint, daß an dieser Stelle die Linie des Gesichts anhält, es scheint, daß sie nicht mehr weiterzugehen weiß. Dann aber biegt sie auf einmal rasch um. Sieh’ wie sie rasch um biegt! Will sie die Zeit des Anhaltens einholen? Es scheint, daß eine andere Linie, mit der sie sich verbinden muß, schon weitergegangen ist, während sie selber anhielt. [...] Sieh’, wie das Gesicht eckig wird, weil die Linie so rasch umbiegt! Sieh’, wie das Gesicht nervös wird, weil es Angst hat, das nicht mehr einzuholen, was es mit dem Anhalten versäumt hat! Schon sieht man Nasen wie abgebrochen aufhören mitten in ihrer Linie.42

So erwächst das Grauen aus der Konfrontation zweier Welten, die beide zu Scheinwelten werden, weil sowohl der Realitätsstatus als auch die Motivation des Versuchs, die

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42

Carl: „Das Groteske“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 45. Jg. (1971), Nr. 2, S. 197–211, hier: S. 199) Picard: Der letzte Mensch, S. 11. Kayser: Das Groteske, S. 198. Ebenda. Ebenda, S. 199. Hervorhebung K. L. Die vom Grotesken erzeugte Orientierungslosigkeit ist für Kayser eine Orientierungslosigkeit angesichts dessen, was als durchaus diesseitige Realität wahrgenommen wird. Das zeigt der Fortgang des Zitats: „Zugleich spüren wir, daß wir in dieser verwandelten Welt nicht zu leben vermöchten. Es geht beim Grotesken nicht um Todesfurcht, sondern um Lebensangst.“ (ebenda) Picard: Der letzte Mensch, S. 17. Hervorhebungen K. L.

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Ordnung zu retten, (nämlich die „andere Linie, mit der sie sich verbinden muß“, einzuholen) unklar sind. Zunächst lässt sich das Ungeheuerliche – Nasen, die „wie abgebrochen aufhören mitten in ihrer Linie“ – noch überblenden durch den Schein des Verlässlichen: Sieh’, es scheint, daß die Nase an der Stelle, wo sie abbricht, krank ist. Aber: nur einer ungeheuren Gnade verdankt man es, daß die Nase so aussehen darf, als ob sie hier am Abgebrochenen krank wäre. Nur durch eine ungeheure Gnade kann verborgen werden, daß da, wo die Nase krank zu sein scheint, sie überhaupt nicht mehr weiter weiß. Nur weil die Nase krank sein darf beim Abgebrochenen, nur so kann verborgen werden, daß die Nase nicht mehr weiter kann, nur so kann verborgen werden, daß hier, wo sie nicht mehr weiter kann, eine Leere sein würde, eine Leere, die das Furchtbarste wäre, weil sie so sachlich, so organisch im Gesicht sitzen würde! Wie ein Organ, wie ein Auge oder Ohr würde die Leere im Gesicht sitzen.43

Deutlich dringt schon das Grauen des Grotesken hinter dem Schein hervor – ein Grauen, das sich auch hier gerade aus der Mischung von Vertrautem und Unvertrautem speist, aus einer „Leere, die das Furchtbarste wäre, weil sie so sachlich, so organisch im Gesicht sitzen würde“. Diese Schein-Lösung einer kranken Nase trägt bereits ebenso groteske Züge wie ein anderer Versuch, den Schein zu wahren: Hier weiß eine Nase auch nicht mehr, wie sie ihr Ende erreichen soll. Es ist, als ob sie wie ein Schüler bei einer andern Nase absähe, wie es weitergeht. Man sieht die Stelle noch, wo sie nicht mehr gewußt hat, wie es weitergeht, sie zittert immer noch, weil sie es hier nicht gewußt hat. Dann aber geht es plötzlich weiter: so regelmäßig, so genau, so nur irgend einer andern Nase folgend geht plötzlich die Nase weiter, als ob sie gar nichts anderes wolle denn dieses: die Nase, bei der sie abgesehen hat, wie es weitergeht, richtig wiederholen. Es ist ihr gar nicht wichtig, Nase zu sein; sie will nur richtig wiederholen.44

Ein deutlicher Hinweis auf das Groteske ist zum einen die einsetzende Autonomie einzelner Körperteile – oder genauer: ihre Personifizierung –, hier der Nase, „die wie ein Schüler bei einer andern Nase absähe, wie es weitergeht“. Zum anderen schwingt im Vergleich mit einem (dummen) Schüler das groteske Motiv der Marginalisierung mit: Die Groteske-Tradition bedient sich verschiedener Typen kultureller Außenseiter, um in einem Akt der „Rezentrierung des Marginalisierten“ (Peter Fuß) die gewohnten Ordnungen durcheinanderzubringen. Die Nase als (dummer) Schüler, der bei einem anderen absehen muss, entspricht sowohl dem Typus des intellektuellen als auch dem des ontogenetisch Marginalisierten.45 43 44 45

Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 18. Fuß erstellt in Anlehnung an Kröll (vgl. Kröll, Katrin: „Die Komik des grotesken Körpers“, in: Katrin Kröll (Hrsg.), Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, Freiburg im Breisgau: Rombach, 1994, S. 11–105) ein Raster zur Erfassung grotesker Themen und Bildtypen. Dessen 8 Grundmuster sind bereits in mittelalterlichen Grotesken zu finden: Fabelvölker, wilde Leute, menschlich agierende Tiere, Spielleute, Narren, Gebärdenakteure, lebende Tote, Teufel.

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Das Groteske als Spiel mit der Vermischung von entfremdeter und vertrauter Welt weigert sich, die Phänomene eindeutig zu verorten; dies gilt nicht nur für die zeitliche oder die leibliche, sondern auch für die personale Zuordnung von Handlungsprozessen: Wer aber bewirkt die Entfremdung der Welt, wer kündigt sich in der bedrohlichen Hintergründigkeit an? Wir erreichen erst jetzt die letzte Tiefe des Grauens vor der verwandelten Welt. Denn diese Fragen bleiben ohne Antwort. [...] Sobald wir die Mächte benennen und ihnen eine Stelle in der kosmischen Ordnung anweisen können, verlöre das Groteske an seinem Wesen [...]. Was einbricht, bleibt unfaßbar, undeutbar, impersonal.46

Und so führt Picard das Aussetzen der ästhetischen und chronologischen Ordnungen auf die Figur eines „Befehlenden“ zurück, der ebenso „hintergründig“ wie „impersonal“ auftritt: Irgend einer zögert schon, ob er noch erlauben will, daß man noch aussehen darf wie ein Mensch. Es ist, als ob schon irgend einer einmal befohlen habe, daß man für einen Augenblick aufhöre, auszusehen wie ein Mensch. Hat der Befehlende einen Augenblick sich besonnen, ob er die menschliche Form aufhören und eine neue Form anfangen lassen soll?47

Die Gestalt des „Befehlenden“ erscheint ebenso wie der „Augenblick“ ihres Eingreifens und der Realitätsstatus ihres Handelns in einer (ver-)störenden Unbestimmtheit – „als ob schon irgend einer einmal befohlen habe, dass man für einen Augenblick aufhöre, auszusehen wie ein Mensch.“48 Die Figur des „Befehlende[n]“ tritt zunächst in der persona einer hintergründigen Un-Person auf – als „irgend einer“. Zugleich trägt „der Befehlende“ die Merkmale einer demiurgischen Gestalt, auf deren Bedeutung im Zusammenhang mit der grotesken Schöpfung neuer Weltordnungen Fuß hinweist.49 Die grotesken Körpergestalten brechen im weiteren Verlauf des Textes nun immer mehr hervor. Beginnend mit dem Abbrechen der Gesichtslinie an der Nase 50 gerät das

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Aus diesen lassen sich 5 soziokulturelle Formen der grotesken Marginalisierung ableiten: 1. geographische Außenseiter (Fabelvölker), 2. kulturelle Außenseiter (wilde Leute bzw. tierisch agierende Menschen, menschlich agierende Tiere), 3. soziale Außenseiter (Spielleute, Narren), 4. rationale Außenseiter (Narren, Gebärdenakteure), 5. zeitliche bzw. jenseitige Außenseiter (lebende Tote, Teufel). Unter Hinzuziehung der klassischen Formen der grotesken Marginalisierung, wie sie Gottsched aufstellt, lassen sich die beiden letzteren noch einmal differenzieren: Die rationalen Außenseiter können in späteren historischen Epochen nicht nur als intellektuelle Außenseiter, sondern auch als psychopathische Außenseiter marginalisiert werden. Und die zeitliche Ausgrenzung kann die Marginalisierten als historische (einer vergangenen Epoche angehörige), als phylogenetische (vorbzw. a-historische „Urmenschen“) und als ontogenetische (Kinder Senile) Außenseiter darstellen, sowie als „Jenseitige“ (Untote, Gespenster, Teufel). (Vgl. hierzu ausführlich Fuß: Das Groteske, S. 33f., 43f.). Kayser: Das Groteske, S. 199. Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Ebenda. Hervorhebungen K. L. Vgl. Fuß: Das Groteske, S. 212ff. Nicht von ungefähr ist auch die Wahl der Nase als des Körperteils, an dem das Groteske einbricht und die Körper ihrer ordnenden Linie beraubt: Ihr kommt nicht nur in der Tradition des Grotesken eine „prominente“ Rolle zu, sondern auch in der Tradition der Physiognomik-Kritik. Schon bei

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vertraute Körperschema mehr und mehr durcheinander. Das Grauen äußert sich zunächst noch als Befürchtung, die Nase sei „vielleicht [...] schon einmal in den Hals abgebogen, vielleicht würde sie jetzt wieder in den Hals abbiegen oder noch weiter am Körper herumirren, wenn man den Hals nicht vor der Nase abgesperrt hätte“. Doch bald schon wird das nur als phantastische Möglichkeit Angedeutete zur Gewissheit: Sieh’, manche Wesen haben es schon aufgegeben, zu verhindern, daß die Nase und die andern Teile des Gesichtes in den Hals abrutschen. Sieh’, sie sperren ihren Hals nicht mehr ab, sie reichen ihren dicken Hals hoffnungslos hinauf in das Gesicht!51

Mit diesem endgültigen Verlust der „ordnenden Linie“ setzt eine Kette zunehmend grotesker Defigurationen ein. Weil letztere bei Picard am Körper ansetzen oder sogar von diesem ausgehen, orientiert sich die folgende Analyse an den Groteske-Theorien von Michail M. Bachtin und Peter Fuß. Diese erweisen sich zwar – wie ich am Ende dieser Analyse mit Picard zeigen werde52 – hinsichtlich ihrer kulturanthropologischen Ansätze als kritikwürdig, doch bieten sie den Vorteil, mit den grotesken Inszenierungen

51 52

Laurence Sterne wird die bei der Geburt durch die Zange deformierte (eigene) Nase Tristram Shandys zum Aufhänger für eine Auseinandersetzung darüber, in welchem Bedingungsverhältnis Nase und Phantasie nun zueinander stehen. Die mit den Lebensberichten verflochtene wissenschaftliche Beschäftigung mit der Physiognomie der Nasen dient der grotesken Bloßstellung des physiognomischen Deutungsanspruchs, der sich zumeist auf fremde Nasen resp. Körper bezieht. Und wenn Sterne die Nase zu definieren vorgibt, dann verweist er dabei natürlich auf vieles mehr als auf eine Nase – nicht nur auf die von Bachtin genüsslich ausgeführten Parallelisierungen von Nase und Phallus, sondern im literarischen Spiel der Ironie auch auf die von Lavater ignorierte Kluft, die Sprach- und Körperzeichen von den in ihnen bezeichneten, nur vermeintlich abgesicherten Bedeutungen trennt: „I define an nose, as follows, – intreating only beforehand, and beseeching my readers, both male and female, of what age, complexion, and condition soever, for the love of God and their own souls, to guard against the temptations and suggestions of the devil, and suffer him by no art or wile to put any other ideas into their minds, than what I put into my definition. –For by the word Nose, throughout all this long chapter of noses, and in every other part of my work, where the word Nose occurs, – I declare, by that word I mean a Nose, and nothing more, or less.“ (Sterne, Laurence: „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“: in: Laurence Sterne, Selected Works, hrsg. v. Douglas Grant, London: Rupert Hart-Davis, 1950 [1759ff.], S. 25– 524, hier: S. 191, Hervorhebungen im Original) In Jean Pauls Auswahl aus des Teufels Papieren variiert das „Physiognomische Postskript über die Nasen der Menschen“ diese Physiognomik-Kritik: Dem Siebenkäs wächst nach erfolgter moralischer Besserung tatsächlich eine neue Nase – ganz gemäß der von Lavater postulierten Entsprechung von Innen und Außen des Menschen: „Wenn ein Mann einen Fehler einmal abgedanket hat: so kann er nachher ganz frei ihn gestehen und verschreien: Eben so kann einer, der sich seiner Nase entledigt hat, ohne Schande sie heruntersetzen und ihre Misgestalt bekennen; ja nur desto mehr Ehre bringt ihm ihre Vertreibung, bei Gutdenkenden.“ (Paul, Jean: „Auswahl aus des Teufels Papieren“: in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung, erster Band. Satirische Jugendwerke, hrsg. v. Eduard Berend, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1927 [1789], S. 217–564, hier: S. 406f.) Picard: Der letzte Mensch, S. 19 Vgl. unten Kap. 4.4.

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des Körpers (in Bachtins Arbeiten zur Lachkultur, zum Karneval und über Rabelais) bzw. den grotesken Blick-Perspektiven auf (Körper-)Objekte (in Fuß’ Ableitung grotesker Phänomene von den Techniken der Anamorphose) genau jene Mechanismen ins Zentrum ihrer Arbeiten zu stellen, die auch die Defigurationen des Letzten Menschen antreiben. Wie kein anderer hat Bachtin den Körper zum Ausgangspunkt seiner Groteske-Theorie gemacht. Trotz ihres zuweilen essentialisierenden und ahistorischen Körper-Konzepts53 eignet sie sich daher besonders für am Körper ansetzende oder sogar von diesem ausgehende Untersuchungen grotesker Darstellungen: Grundlage aller grotesken Motive ist eine besondere Vorstellung vom Körperganzen und den Grenzen dieses Ganzen. Die Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske völlig anders als in klassischen oder naturalistischen Motiven.54

An Bachtin anknüpfend, hat auch Peter M. Fuß die Inszenierung von (Körper-)Objekten – insbesondere durch den Blick – als zentrales Element des Grotesken ausgemacht. Zwar tauchen auch bei ihm – wie weiter unten zu zeigen sein wird – die Probleme eines ahistorischen Körper-Konzepts und die kulturtheoretische Überhöhung grotesker Subversions-Potentiale auf, die Bachtins Theorie mit sich bringt. Hilfreich sind aber die Versuche, groteske Phänomene – trotz ihrer von Fuß immer wieder beschworenen ‚liquiden‘ Eigenschaften – zu klassifizieren. Neben den bereits erwähnten soziokulturellen Mustern und Bildtypen55 arbeitet er drei Hauptmechanismen des Grotesken heraus, die sich am Modell der optischen Verfremdung und der Anamorphose56 orientieren: die Verkehrung, die Verzerrung und die Vermischung. Für Fuß bilden diese drei Mechanismen eine aufsteigende Hierarchie – der groteske Effekt steigert sich von der Verkehrung über die Verzerrung bis hin zur Vermischung. Und in der Tat lässt sich in Der letzte Mensch eine zunehmende Steigerung grotesker Phänomene beobachten, die dieser Hierarchie folgt. Die geringste Verfremdung geht vom Mechanismus der – einfachen oder komplexen – Verkehrung aus. Die einfache Verkehrung lässt die Elemente, Relationen und Strukturen ihrer Objekte intakt und stellt diese lediglich auf den Kopf. Die diesem Verfahren zugeordnete Figur ist das Inverse; sie ist nur mittelbar der Dekomposition und kulturellen Subversion fähig, insofern sie nämlich im Bewusstsein des Rezipienten nicht zu einer Kollision von Ordnungsprinzipien führt. Die komplexe – weil wiederholte oder nur partielle – Verkehrung dagegen lässt Ordnungen kollidieren. 53 54 55 56

Vgl. zur Kritik an Bachtin unten S. 164ff. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 357. Vgl. oben Fußnote 45, S. 130f. Vgl. zu den hier nicht näher betrachteten Figuren einer literarischen Anamorphose in Picards Der letzte Mensch meinen Aufsatz Lichau, Karsten: „Schwankende Anamorphosen. Über Gefahren und Aporien anamorphotischer Strategien in Max Picards ‚Der letzte Mensch‘“, in: Kyung-Ho Cha und Markus Rautzenberg (Hrsg.), Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Wissenschaft, München: Fink, 2008, S. 183–200.

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Reaktionäre Transgressionen

[Die] komplexe Verkehrung produziert [...] ambivalente Ununterscheidbarkeit. Im Hin und Her wiederholter Verkehrungen oder in der partiellen Verkehrung, die es unmöglich macht, den Ausgangszustand durch nochmalige Verkehrung wiederherzustellen, wird unentscheidbar, welches die ‚verkehrte‘ und welches die ‚richtige‘ Ordnung ist.57

In Der letzte Mensch stellen etwa die herabrutschende Nase und der gleichzeitig in das Gesicht hinaufgereichte Hals eine solche komplexe Inversion dar, die die Hierarchien der Körperteile synchron verkehrt und damit eine eindeutige Lokalisierung und ReStabilisierung der Ordnungsschemata unmöglich macht. Auch der zweite Mechanismus des Grotesken, die Verzerrung, tritt – als Figur des „Monströsen“ – in einfacher und komplexer Form auf: Die einfache Verzerrung bewirkt eine Vergrößerung oder Verkleinerung der Körper bzw. Objekte; sie bewahrt deren relative Positionen, immanente Proportionen und Struktur und verändert lediglich „die Abstände zwischen den Punkten des Abbilds in Relation zu den entsprechenden Punkten des Modells“58, mit dem Sonderfall der numerischen Verminderung – des vollständigen Verschwindens durch unendliche Verkleinerung – oder der Vermehrung von Elementen. Auch hier gilt, dass der „Abweichung von der Norm Gestalt“59 verliehen wird und somit die einfache Verzerrung eher der Stabilisation dient. Die komplexe Verzerrung verändert auch die immanenten Proportionen der den (Körper-)Objekten eignenden Elemente sowie ihre relativen Positionen und damit die Struktur ihrer Objekte. Sie ist das Resultat partieller oder wiederholter Formen der einfachen Verzerrung. Bei Picard tritt die komplexe Verzerrung des Gesichts einerseits in Form des Anwachsens und der übertriebenen Wucherung einzelner Gesichtsteile, andererseits als deren Verschwinden, d. h. als vollkommenes negatives Anwachsen einzelner Teile auf. So haben Teile des Gesichts ihre gewohnten Größenverhältnisse verloren: Niemals sah man je an den Gesichtern der gleichen Generation so verschiedenartige Nasen Augen, Ohren: große Nasen, winzig kleine, halbe Augen, doppelten Mund. [...] Sieh’ dort jenes Gesicht! Unter einer sehr hohen Stirn ist ein winziges Auge und ein fast doppelter Mund reicht bis hin zu einem halben Ohr!60

Zwar erhält auch hier eine „Notlösung“ noch den täuschenden Schein des Vertrauten aufrecht, er trägt jedoch bereits deutlich groteske Züge: Schon sah ich ein Gesicht, für das überhaupt nicht mehr ein Auge gefunden worden war. Ach, das Gesicht war schon resigniert, daß es überhaupt kein Auge mehr haben werde [...] – da konnte man versteckt irgendwo ein winziges Auge finden und es noch rasch in das schon fertige Gesicht schicken.61 57

58 59 60 61

Fuß, Groteske, S. 256. Schon bei Bachtin kommt dem Mechanismus der Verkehrung Bedeutung zu; allerdings bildet für ihn gerade die einfache Verkehrung „das wichtige topographische Moment einer auf den Kopf gestellten körperlichen Hierarchie“ und der darin liegenden „Logik der Umkehrung, der Berührung von Oben und Unten“ (Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 350f.). Fuß: Das Groteske, S. 302. Ebenda, S. 305. Picard: Der letzte Mensch, S. 19. Ebenda, S. 20.

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[Ein anderes] halbes Auge, es hört in der Mitte auf. Das Auge hat in der Mitte noch gewartet, es hat gewartet: ob nur vergessen worden ist, das ganze Auge zu bringen, oder ob überhaupt keine ganzen Augen mehr da sind, die gebracht werden können?62

Die Verzerrung und das Verschwinden von Gesichtsteilen gehen zunehmend über in die Vermischung, die sämtliche Ordnungsrelationen durcheinanderwirbelt. Nach Fuß kommt der Verkehrung und der Verzerrung allein deswegen grotesker Charakter zu, weil sie zu einer Kollision von nicht kohärent zu denkenden Ordnungsmustern führen. Diese Kollision ist allerdings nicht text- bzw. darstellungsimmanent, sondern ereignet sich im Bewusstsein des Rezipienten. Verkehrung und Verzerrung erweisen sich damit letztlich als Abkömmlinge der dritten Form des Grotesken, der Vermischung, die sich in der Figur der Chimäre versinnbildlicht; sie „fügt [...] neue, anderen Objekten entnommene Elemente hinzu und knüpft neue Relationen“63. Fuß sieht in der Vermischung die radikalste Form der Groteske, bzw. ihre eigentliche Grundform, Bachtin bezeichnet sie als die „Quintessenz der Groteske“ 64 und auch Picards Text entspricht diesem Modell: Die groteske Liquidation von Körper- und Textoberflächen schreitet voran, indem die Augen nach der monströsen Verzerrung dem grotesken Mechanismus der Vermischung unterworfen werden: Die Höhlen aber, die leer bleiben würden, weil für sie gar kein Auge gefunden wurde, diese Höhlen werden ausgefüllt mit Fett. [...] Nur Fett, Fett ist jetzt dort. Wo ein Auge war, ist jetzt Fett. Es ist soviel Fett, daß man gar nicht mehr weiß, ob nicht doch noch ein Auge im Fett versteckt ist. In der Tiefe des Fettes könnte das Auge vielleicht versteckt ruhen?65

Wieder geht das Groteske nicht nur von dem Ungewohnten aus – das dem Körperinneren zuzurechnende Fett erscheint im Auge, dem Ort des distanzierenden Blick-Kontakts mit der Außenwelt –, sondern von dessen Vermischung mit dem, was in der vertrauten Ordnung ruht („In der Tiefe des Fettes könnte das Auge vielleicht versteckt ruhen?“). 62 63 64

65

Ebenda. Fuß: Das Groteske, S. 349. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 146. Auch hier knüpft Fuß also an Bachtin an; bereits dieser betont, dass es sich bei der Groteske um eine qualitative, nicht nur quantitative – also verzerrende – Grenzüberschreitung handelt. Die Überschreitung der (Körper-)Grenzen zielt auf eine Vermischung, die „den Körper mit anderen Körpern oder der Außenwelt verbindet“ (ebenda, S. 358). Auch zeitliche Kategorien werden in diese Vermischung hineingezogen, „Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten. [...] In der endlosen Kette des körperlichen Lebens markieren sie [die grotesken Motive, K. L.] die Stellen, wo ein Glied ins andere übergeht, wo das Leben des einen Körpers aus dem Tod des anderen geboren wird“ (ebenda, S. 359f., Hervorhebungen im Original). Der chimärische Grundcharakter des Grotesken beschränkt sich nicht auf groteske Darstellungen und Körper, er kennzeichnet auch das groteske (Un-)Wesen der Kultur. So zeichnet die Vermischung auch historische Umbruchphasen aus, in denen Grotesken vermehrt auftauchen: Historische Umbrüche können selbst als „Mischkulturen“ aus den aufeinandertreffenden historisch-kulturellen Konstellationen gelten, insofern auch sie „neue, anderen Objekten entnommene Elemente hinzu[fügen] und [...] neue Relationen“ (Fuß: Das Groteske, S. 349) knüpfen. Picard: Der letzte Mensch, S. 22.

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Ein anderes Gesicht „konnte kein Auge mehr haben, aber es hat sich so aufgetrieben, es hat sich so mit Fett aufgetrieben, daß das Fett wie ein Fangapparat am Körper ist und wartet, bis ein Auge, das vorübergeht, sich an ihm fängt.“66 Das Gesicht wird zum grotesken Ort des Austauschs und Raubes von Körperteilen, zu einem somatischen Interface, an dem „die Grenze zwischen zwei Körpern oder zwischen Körper und Welt überwunden wird. Hier gehen Tausch und gegenseitige Orientierung vonstatten“67. Das Gesicht verleibt sich ebenso wahllos wie unersättlich Körper und Dinge aus seiner Umwelt ein. Schließlich hat das „Gesicht aber [...] schon ganz vergessen, daß es sich nur darum mit Fett auftreiben ließ, weil es ein Auge auffangen wollte“ und das Fett fällt herunter vom Gesicht, jetzt, da man es nicht mehr braucht, Augen aufzufangen, es fällt herunter auf den Körper, es bleibt hängen am Körper und wartet, bis man es wieder für einen neuen Fang verwendet. Irgend jemand scheint es für einen noch grausameren Fang aufzusparen68.

Die phantastische Funktion des Fettes wird zurückgenommen, doch der beruhigende Schein einer gewöhnlichen Fettleibigkeit mag sich nicht einstellen. Vielmehr wirkt gerade der ‚Realitäts‘-Aspekt, den das Fett auf seinen grotesken Wanderungen über den Körper nun vorübergehend annimmt, besonders bedrohlich. Etwas „noch grausamere[s]“ lauert als Potential in ihm. Wieder ist es die Vermischung des Phantastischen (des grotesken Fett-Fangapparates) mit der Realität einer vermeintlich vertrauten Welt fettleibiger Körper69, die jenes „Grauen“ erzeugt, auf das Kayser immer wieder als Kern des Grotesken verweist: „Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat. [...] Das Grauen überfällt uns so stark, weil es eben unsere Welt ist, deren Verläßlichkeit sich als Schein erweist.“70

Die Augen In der grotesken Motivik eines „zweileibigen Körper[s]“, die nach Bachtin „die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-)Fläche des Körpers [ignoriert] und [...] nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das, was über die Grenzen des Körpers hinaus-, und das, was in sein Inneres führt“71 hervorhebt, kommt bei Picard einem Gesichtsteil eine eigentümliche und interessante Stellung zu: Wie bereits gesehen, sind es die Augen, an denen sich das Auseinanderfallen des Körpers und das (Ver-)Schwinden von Körperteilen zuerst äußert. Damit steht Picard im Widerspruch zu Bachtin, der dem Gesicht allgemein und insbesondere den Augen nur geringe Bedeutung für die Groteske zumisst: 66 67 68 69

70 71

Ebenda, S. 23. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 359. Picard: Der letzte Mensch, S. 23 Als literarische Figur ist das Fett ein durchaus vertrauter Topos: Es begegnet etwa bei Stefan George oder in Karl Kraus’ Rede vom „liberale[n] Fettbürger“ (Kraus, Karl: „o. T. (Die Stimme des Auslands)“, in: Die Fackel, II. Jg. (1900), Nr. 44, S. 1–5, hier: S. 4), der körperlich wie kulturell zum saturierten Gegenbild des Intellektuellen wird. Kayser: Das Groteske, S. 198f. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 359f. Hervorhebung im Original.

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Als Teile des Gesichts spielen in der grotesken Körperkonzeption nur Mund und Nase eine wesentliche Rolle. Kopfform, Ohren und auch die Nase erhalten erst dadurch grotesken Charakter, daß sie tierische Formen oder die Form irgendwelcher Gegenstände annehmen. Die Augen dagegen besitzen überhaupt keine Bedeutung. Sie drücken das individuelle und sozusagen innere Leben des Menschen aus, das für das Groteske irrelevant ist: Die Groteske interessiert sich allenfalls für die vorstehenden Augen.72

Diese Behauptung stellt der Picard’sche Text infrage: Wenn sich an dem von den Augen verlassenen Ort – den Augenhöhlen – das grauenerregende Fett bildet, dann wird die dem Auge nicht nur von Bachtin zugeschriebene Innerlichkeit einer grotesken Defiguration unterworfen. Als ‚Seelenspiegel‘ und Ausdruck eines „individuelle[n] und sozusagen innere[n] Leben[s]“ konnotiert das Auge zumindest nach dem Scheitern der Suche nach einem „Seelenorgan“73 oder anderen physischen Manifestationen der Seele deren Immaterialität. Doch gerade dieses Motiv des Auges als Organ der seelischen Innerlichkeit wird vermischt mit dem des Fettes, das ebenfalls dem Körperinneren, aber einer höchst materiellen ‚Innerlichkeit‘, entstammt. Picard spielt mit der Vermischung von seelischer und materieller Innerlichkeit, indem er die Augenhöhle zunächst als letzte Bastion von individueller Identität und menschlichem Ausdrucksvermögen (vor allem in der Trauer) figuriert. Sie suggeriert eine Hoffnung auf Rettung, denn sollte ein „Gesicht des Menschen“ dem Untergang zu entreißen sein, so würde es sich zunächst als Wiederauftauchen eines Auges bemerkbar machen: Das Gesicht des Menschen aber kann weinen [...], ohne daß ein Auge in ihm ist; wenn kein Auge mehr in ihm wäre, so würden die Tränen so lange aus den leeren Höhlen fließen, bis ein Auge sich selber wieder in die Höhle legte.74

Die Augen erscheinen hier als letzte Fixpunkte innerhalb der durcheinandergeratenden Körperkoordinaten: [S]chauen die Augen aus, wohin die Köpfe fliegen können, um das zu rauben, was ihnen selber im Gesichte fehlt: ein Ohr, eine Nase, einen Mund? [...] Wären die Augen nicht, so würden die Köpfe überall herumirren müssen.75

Vorerst scheint es, dass die Augen ihre Kontrollfunktion behalten und die Identität des Körper-Individuums retten können: Nase, Auge, Ohr sind bei der großen Flucht nicht mitgegangen, sie sind als letzte im Gesicht geblieben. [...] Und die Augen, sie schauen Tag und Nacht, sie schauen noch durch die geschlossenen Lider hindurch den Geflohenen nach. Die Augen können nicht folgen, es sind die letzten Augen. Sie müssen am Gesichte bleiben76. 72 73 74 75 76

Ebenda, S. 358. Hervorhebungen im Original. Vgl. hierzu Hagner, Michael: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a. M., Leipzig: Insel Verlag, 2000 [1997], insbesondere S. 63ff. Picard: Der letzte Mensch, S. 33. Ebenda, S. 25f. Ebenda, S. 34f.

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Reaktionäre Transgressionen

Doch die Hoffnung auf die vertraute Figur der Augen als Organe der Individualität und Innerlichkeit erweist sich als fataler Trug: Gerade die Augen entpuppen sich als Antrieb der grotesken Auflösung von Körpergrenzen. Eines der geflohenen Augen nimmt monströse Dimensionen an, entwickelt ein Eigenleben und wird zum alles verschlingenden Organ, „ungeheuer groß, allein, ohne Körper: Alle Dinge waren geflohen vor diesem Auge, man sah die Dinge nur ganz klein noch in der Ferne“77. Das aus dem Gesicht herausgetretene Auge lässt die Dinge schrumpfen und verschlingt seine Umwelt; zu seinen Opfern gehören etwa ein Mann ohne Mund und eine Kirche ohne Turm. Hatte auf der Flucht der Mann den Mund verloren und die Kirche den Turm? Ach, der Mann hatte den Mund nicht verloren und die Kirche nicht den Turm, sondern das große Auge hat Mann und Kirche eingeholt und Mund und Turm ihnen weggerissen. [...] Es muß wohl beide in sich aufgenommen haben, denn es wuchs und wuchs immer mehr.78

Nicht der ‚natürliche‘ Ort des Verschlingens, der Mund (dem nach Bachtin eine Hauptrolle in der Groteske zukommt), sondern die Augen – deren ‚Natur‘ ja vermeintlich Identität bewahrt – rauben Glieder anderer Körper, um sie sich einzuverleiben. Diese ‚widernatürliche‘ Einverleibung steigert den Effekt des Grotesken, der ja in der Vermischung von vermeintlich unvermischbaren Naturen liegt. Bachtins Hinweis auf die individuelle, expressive Bedeutung der Augen ist daher durchaus aufschlussreich: Gerade aus der vermeintlichen kulturellen Unhinterfragbarkeit semiotischer Kategorien resultiert ja deren Macht, als Natur zu wirken. Und umso wirkungsvoller ist dementsprechend die groteske Wirkung, wenn die identitätsstiftende Funktion der Augen liquidiert wird. In der Textpassage, in der „das große Auge“ in einer grotesken Hyperbolisierung den Mund verschlingt, den ‚eigentlichen‘ Verschlinger, überschreitet zugleich auch der Picard’sche Text seine Grenzen und verleibt sich andere Texte ein: Die Figuren von „Mund“ und „Kirchturm“ zitieren die groteske Tradition, etwa Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, in dem bekanntlich der verschlingende Mund und der phallusgleiche Kirchturm auftreten79. Und indem sich das Auge in einer grotesken Hyperbolisierung den Mund und den Kirchturm einverleibt, verschlingt der Picard’sche Textkörper in einer grotesken Hyperbolisierung den Rabelais’schen, mitsamt dessen bereits monströsen Steigerungen und Hyperbolisierungen. 77 78 79

Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 40. In François Rabelais Gargantua und Pantagruel ist „schon der Schatten des Glockenturmes einer Abtei fruchtbar“ („seulement l’ombre du chlochier d’une abbaye […] feconde“ (zit. n. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 352)). Für Bachtin sind diese beiden Motive zentral in seiner Auseinandersetzung mit Rabelais. Als Metapher des Phallus („Der Glockenturm ist ein gebräuchliches groteskes Bild für den Phallus“, ebenda) tritt der Kirchturm im Zusammenhang mit der Vereinigung von Körpern im sexuellen Akt auf. Der Mund spiegelt die zweite bedeutende Überschreitung von Leibgrenzen wider, das Essen oder Fressen; „im Grunde reduziert sich das groteske Gesicht auf den Mund, den aufgerissenen Mund, alles andere ist nur Umrahmung dieses Mundes, Umrahmung der klaffenden und verschlingenden Bodenlosigkeit des Körpers“. (ebenda, S. 358, Hervorhebungen im Original).

Groteske Kaskaden

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4.2 Groteske Kaskaden Picard steigert die groteske Wirkung seines Textes durch eine Technik der kaskadenartigen Überbietung grotesker Mechanismen (das monströse Wachsen des Auges, das Auge als Fett-Chimäre und Fänger anderer Körperteile, das Auge als Verschlinger des eigentlichen Verschlingers, der groteske Text als Verschlinger grotesker Texte). Diese Technik kaskadenartiger Steigerungen wendet Picard auch auf seine Beschäftigung mit dem Themenkomplex Oberfläche-Schein-Täuschung an. Dabei wird die physiognomische Geste des Aufdeckens und Enttarnens der Täuschung ersetzt durch einen zunehmenden Schwindel, der nicht mehr zu einem Ende zu kommen scheint: Zunächst erscheint das Gesicht in der grotesken Verzerrung, es wuchert und vervielfacht sich, „es ist, als ob nach dem Gesicht wieder ein Gesicht käme, [...] es ist, als ob das ganze Wesen aus nichts bestünde als aus Gesichtern. Überall sind die Gesichter, überall am Körper, sie haben nicht mehr Platz am Kopfe.“80 Auch hier verleibt sich Picards Text einen anderen Text ein: Schon in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zeichnen sich die Menschen durch eine Vervielfältigung von Gesichtern aus81; werden sie dort noch einzeln, „eins nach dem andern“82 benutzt und getragen, so steigert Picard die Vervielfältigung der Gesichter – „es ist, als ob nach dem Gesicht wieder ein Gesicht käme“ – zu einem den ganzen Körper erfassenden Wuchern von gleichzeitig erscheinenden Gesichtern. Die geschilderten Phänomene deutet Picard als Zeichen eines neuen „Wesen[s] [...], das da sein wird nach dem Wesen, das so aussieht wie ein Mensch“83. Das am Beginn des Letzten Menschen geschilderte trügerische „Wesen, das so aussieht wie ein Mensch“ und sich hinter der menschenähnlichen Oberfläche verbirgt, trägt also seinerseits ein sich vorbereitendes „neues Wesen“ in sich; der sich als grotesk entpuppende Körper weist also das von Bachtin betonte Merkmal der „Zweileibigkeit“84 auf und „erzeugt selbst stets einen weiteren Körper“85. Ebenso wie das menschenähnliche Wesen ist das dahinter kommende „neue Wesen“ jedoch auf eigentümliche Art gespalten und erscheint in einer örtlichen und zeitlichen Unbestimmtheit. Es ist einerseits radikal vom Menschen geschieden: „Es scheint, daß das neue Wesen [...] irgendwo anders zurückgehalten war; aber es ist von dort ausgebrochen in die Welt“86. Insofern das „neue Wesen“ also einem Jenseits der „Welt“ entstammt, sieht es so aus, als seien es weder die ‚Menschen‘ noch die ‚menschenähnlichen Wesen‘, die zu den neuen Wesen umgebildet werden. Andererseits hat „[d]er Furchtbare [...] das neue Wesen [...] inwendig im alten Wesen geschaffen, und dort 80 81 82 83 84 85 86

Picard: Der letzte Mensch, S. 37. Vgl. oben S. 9, Fußnote 4. Rilke: „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, S. 111f. Picard: Der letzte Mensch, S. 92. Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München: Hanser, 1969, S. 23. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 358. Picard: Der letzte Mensch, S. 135.

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ist es versteckt, es ist versteckt hinter der Haut des alten Wesens.“87 Das Innere des Körpers wird hier zum bedrohlichen Versteck für ein mehrfach gesteigertes ‚Unmenschliches‘. Und die schützende Funktion der Körperoberfläche, „die imaginäre, bergende Qualität der Haut“88, die „das Eigentliche in sich schließt“89, wird in ihr Gegenteil verkehrt – sie wird zum Schutz vor dem grotesk-bedrohlichen Inneren. Überall spannt sie sich, um das „Wesen, das hinter dem Futteral wirkt“90 zurückzuhalten, bis schließlich das neue Wesen ganz durch die Haut gerutscht sein wird, – sobald das geschehen ist, wird auch die Haut nicht mehr da sein, sie ist nur da, weil unter ihr etwas ist, das sie zurückhalten muß.91

Die Einpflanzung eines bedrohlichen, monströsen, jenseitigen Wesens in das Innere des Körpers erzeugt eine Verwirrung, die die Kategorien von Schein und Sein, Sichtbarem und Unsichtbarem, Oberfläche und Tiefe bzw. Außen und Innen vermischt und eine leibliche Verunsicherung erzeugt. Die Wahrnehmung von Schein und Sein kann sich nicht mehr verlassen auf die Differenz von Äußerlichkeit (des Scheins) und Innerlichkeit (des Seins). Schließlich werden die kaskadenartigen Überbietungen von trügerischen Erscheinungen und Oberflächen gesteigert bis zur Stufe einer monströsen Unbestimmbarkeit, die nicht einmal der Visionär sprachlich zu fassen vermag. Hinter der Haut des „menschenähnlichen Wesens“ ist neben dem vom ‚Seher‘ Picard gesichteten „neuen Wesen“ vielleicht noch anderes verborgen, das auch seine Wahrnehmung übersteigt: Was mag alles noch hinter der Haut verborgen sein! Vielleicht sind noch Dinge hinter ihr verborgen, die gar nicht zu dem neuen Wesen gehören, die überhaupt nirgendshin gehören, die nur hier sein können, weil sie nirgends anders sonst geduldet werden als hier hinter dem Hautsack neben dem neuen Wesen?92

Der grauenerregende Nicht-Ort der Monster ist nicht mehr – wie in der Groteske des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit – der Rand der Welt. Sie hausen als in jeglicher Hinsicht unfassbare „Dinge“, als eine u-topische und zugleich beängstigend nahe figura, im Inneren des Menschen. An die bisher gesehenen Gesichte anknüpfend, kann Picard nur fragend vermuten, dass diese „Dinge“ noch entsetzlicher seien als das „neue Wesen“, und dass sie vielleicht das Material darstellen für ein „allerletztes Wesen“, das nach der Zerstörung des „neuen Wesens“ kommt: Vielleicht wird hier das Material aufgespart für jenes allerletzte Wesen, das sein wird, nachdem auch das neue Wesen, das eben anfängt durchzustoßen, zerstört worden ist.93

87 88 89 90 91 92 93

Ebenda, S. 134. Benthien, Claudia: Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut, Berlin, 1998, S. 43. Ebenda, S. 40. Picard: Der letzte Mensch, S. 138. Ebenda, S. 136. Ebenda, S. 141. Ebenda.

Apokalypse

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4.3 Apokalypse In der als Frage formulierten Vision eines „allerletzten Wesens“ deutet sich bereits an, dass Picards Groteske eine Wendung vollzieht: Sie entwickelt sich mehr und mehr zu einer apokalyptischen Vision, die dem Untergang der Welt und damit einem Endpunkt zustrebt. Die von der Vermischung und Liquidation herkömmlicher Ordnungsschemata ausgelöste Beunruhigung und Verwirrung wird also nicht, wie Bachtins und Fuß’ Theorien nahelegen, in eine Bejahung der ewigen Veränderung und des unablässigen Wandels von De- und Refiguration gewendet – das Erschrecken vor der Zukunft mündet vielmehr in einen ganz und gar nicht „liquiden“ Zustand: Die Picard’schen Gesichte kippen – nach einem kosmologischen Zwischenspiel94 – in eine Vision des Weltuntergangs und laufen damit auf ein apokalyptisches Ende zu, anstatt sich in immer neuen Formen stets zu erneuern. Bevor im Weiteren dieser Gang der (letzten) Dinge verfolgt wird, sei angemerkt, dass ein Umkippen von literarischen Figuren und Redeformen der Groteske in solche der Apokalypse zunächst einmal erstaunt. Denn das Groteske ist nach Fuß, Kayser und Bachtin ja gerade charakterisiert durch die Merkmale der Unentscheidbarkeit von Wahrnehmungs-Perspektiven (im Produktions- wie im Rezeptionsprozess), durch die Liquidation und Vermischung von Ordnungsschemata, durch Erwartungsenttäuschungen sowie durch die Relativierung und Dynamisierung von Wahrheitsansprüchen. Dagegen zeichnet sich die Apokalypse aus durch die Forcierung von Differenzen und binären Ordnungsschemata, durch die Reduktion von Wahrnehmungsperspektiven und durch die Einzigartigkeit und Unverrückbarkeit ihres selbstreferentiellen Wahrheitsanspruchs – ebenso klassisch wie prägnant fasst dies die Offenbarung des Johannes zusammen: „Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig.“ (Offb 22,6) Apokalyptisches Sprechen zeichnet sich, wie Jacques Derrida und Jürgen Brokoff in ihren Arbeiten zur Apokalypse gezeigt haben95, durch mehrere Eigenarten aus, die apokalyptische Texte inhaltlich, poetologisch und stilistisch kennzeichnen. Thematisch umfasst die Apokalypse die Darstellung eines Weltuntergangs und des darauf folgenden Eintritts einer absoluten, oft göttlichen Weltherrschaft, wobei dieses klassische Modell in der Moderne eine Veränderung erfährt: Die moderne Apokalyptik (etwa seit dem 19. Jahrhundert) ersetzt das göttliche „Neue Jerusalem“ oft durch ein irdisches Reich oder lässt dem Weltuntergang gar nichts folgen. Während Eykman96 dies 94 95

96

Ebenda, S. 144–198. Vgl. hierzu die in Derrida, Jacques: Apokalypse, Graz, Wien: Böhlau, 1985 und Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München: Fink, 2001 entwickelten Theorien, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen. Vgl. Eykman, Christoph: Denk- und Stilformen des Expressionismus, München: Francke Verlag, 1974, S. 62.

142

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als Säkularisierung der Apokalypse deutet, distanzieren sich Vondung97 und Brokoff von der These einer säkularisierten Apokalypse, weil dies Entwicklungen des 20. Jahrhunderts allzusehr in eine christliche Kontinuitätslinie einordnet. Brokoff spricht spezifischer von einer Politisierung der Apokalypse [...]: Die politisch gewordene Apokalypse ist keine säkularisierte Apokalypse. [...] Der entscheidende Unterschied zwischen der Apokalypse der Johannesoffenbarung und der politischen Apokalypse besteht darin, daß in den Texten der Weimarer Zeit die Transzendenz Gottes durch eine andere Transzendenz ersetzt worden ist.98

Die apokalyptische Narration orientiert sich dabei an der Leit-Unterscheidung zwischen einer zum Untergang verdammten Immanenz und einer deren Zerstörung bewirkenden Transzendenz. Die Unterscheidung wird durch moralische, ästhetische oder epistemologische Dichotomien (gut/böse, rein/unrein, schön/hässlich, wahr/falsch) näher bestimmt und ausdifferenziert. Zwar hat die Apokalypse eine endgültige Zerstörung von Differenzen zum Ziel; die literarische Schilderung des Untergehens, die im Vordergrund des apokalyptischen Textverfahrens steht, stellt sich jedoch gerade als Forcierung von Differenzen dar – im Gegensatz zur grotesken Darstellung, die ja als Verfahren die Zerstörung von differenzierten Formen betreibt. Derrida hebt in seiner Beschäftigung mit der Apokalypse vor allem ihre paradoxen Versuche hervor, eine zugleich immanente und transzendente, die Wahrheit vermittelnde und seiende Sprechsituation zu etablieren, und zielt dabei auf die Dekonstruktion einer generellen „apokalyptische[n] Struktur der Sprache“99, die in ihrem absoluten Wahrheitsanspruch immer wieder scheitern muss. Dagegen versucht Brokoff eine spezifische Redeform Apokalypse aufzudecken100. Er kritisiert, dass Derrida einen zentra-

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Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland, München: dtv, 1988, S. 62ff. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 10f. Unter Berufung auf Assmanns Arbeit zur Politischen Theologie spricht Brokoff auch von der „Repolitisierung eines zwischenzeitlich theologisch und religiös gewordenen Politischen“ (ebenda, S. 77, Hervorhebung im Original). 99 Derrida: Apokalypse, S. 72. 100 Zwar folgt Brokoff Derridas dekonstruktiver Theorie der Apokalypse, allerdings nur, insofern sie sich auf die Sprechposition der apokalyptischen Rede bezieht, die durch eine Nichtfestlegbarkeit und Unentscheidbarkeit zwischen Sender und Empfänger, zwischen Wahrheit des Gesehenen und Wahrheit des Sehens gekennzeichnet ist. Eine solche Sprechposition ist in der Tat zu einem unendlichen Schicksal verurteilt, wie es die Apokalypse ja gerade ausschließt. Was aber ihre Entscheidungsstruktur betrifft, so sieht Brokoff die apokalyptischen Texte durchaus zu einem Ende kommen, welches „die gewaltsame Beendigung, das dringliche und überstürzte Ende des Sprechens“ (Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 26) ist und dem gemäß die Texte „ihre Bestimmung in der Vernichtung der Immanenz besitzen und nach dieser Vernichtung ihre Bestimmung erfüllt haben“ (ebenda). Brokoff wirft Derrida vor, als Eigenschaft apokalyptischer Rede auszugeben, was in Wahrheit lediglich eine allgemeine Möglichkeit von Sprache ist und hält ihm entgegen, daß er „übersieht, daß die endliche Struktur der apokalyptischen Entscheidung das unendliche Sprechen gewaltsam beendet“ (ebenda) und „im apokalyptischen Text die mögliche Unendlichkeit des Sprechens und 98

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len, über die Sprechsituation hinausgehenden Aspekt apokalyptischen Sprechens vernachlässigt: die mit einem vernichtenden Gewaltanspruch auftretende Entscheidungssituation. Denn deren Struktur ist keineswegs so unendlich und unbestimmt wie die von Derrida dekonstruierte Sprechsituation, sondern höchst gewaltsam und bestimmt, wie Brokoff mit Derrida gegen Derrida argumentiert: „[D]ie Entscheidung in ihrer Struktur [ist] endlich, so spät sie auch getroffen werden mag: dringliche, überstürzte Entscheidung, in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung.“101 Brokoff entwickelt damit eine Charakterisierung, die mir zumindest für die Apokalyptik der Weimarer Zeit historisch adäquater und im Hinblick auf deren kulturelle Kontexte genauer erscheint. Und wenn Picards Der letzte Mensch – wie sich zeigen wird – die apokalyptischen Textverfahren in ihrer Widersprüchlichkeit und Paradoxalität hervortreten lässt, also gewissermaßen nicht nur ihre Sprech-, sondern auch ihre Entscheidungssituation dekonstruiert, dann ist dies keineswegs selbstverständlich, sondern stellt gerade für die Apokalypse der Weimarer Zeit eine höchst originäre und innovative Position dar. Was aber zeichnet die apokalyptische Entscheidungssituation nun aus? Mit der Differenzen-Forcierung geht ein Aufruf an den Adressaten der Offenbarung (den Leser oder Hörer) einher, sich zu entscheiden und sich entweder auf die Differenz-Seite des apokalyptischen Sehers zu schlagen – oder aber in seiner Bosheit, Hässlichkeit oder Falschheit ‚entblößt‘ zu werden: Nichts anderes steckt nämlich hinter dem Wort „apokalypsis“, dessen griechische Wurzel α̉ποκάλυπσις/α̉ποκαλει̃ν das Bedeutungsspektrum eines „Offenbarens“ im Sinne von „Aufdecken“, „Enthüllen“, „Bloßlegen“102 umfasst. Neben dem inhaltlichen spielt der sprachlich-performative Aspekt in der Apokalypse eine zentrale Rolle. Oft einseitig „als ein Geschehen verstanden, das außerhalb der Sprache stattfindet“103, ist die Apokalypse immer auch der „Vorgang des Offenbarens, Enthüllens und Aufdeckens selbst, der ohne das Medium Sprache nur schwer vorstellbar erscheint“.104 Die Redeform der Apokalypse orientiert sich wie die Narration an der Transzendenz-Immanenz-Struktur und beansprucht für ihr eigenes Sprechen eine eigentümliche Position, die die Wahrheit nicht nur darstellt, sondern selbst die Wahrheit ist – auch hier stammt die kanonische Formulierung aus Offb. 22,6: „Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig.“ Der apokalyptische Text erhebt damit einen transzendenten und exklusiven Geltungsanspruch, spricht allen anderen Texten ihre Geltung ab und verurteilt sie – ganz analog zu dem inhaltlichen Transzendenz-Immanenz-Schema – zum Untergang: ein Verfahren, das die nicht-wahren Texte – und das sind tendenziell eben alle anderen Texte – qua performativer Gewalt zu zerstören versucht. Der Anspruch, die tatsächliche Endlichkeit des apokalyptischen Sprechens auseinander[treten]“ (ebenda, S. 27). Vgl. hierzu ebenda, S. 25ff. 101 Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, 1991, zit. n. ebenda, S. 26). 102 Vgl. hierzu Derrida: Apokalypse, S. 12ff. 103 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 7. 104 Ebenda.

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die höchste Wahrheit nicht nur zu sehen, sondern zugleich selbst diese Wahrheit zu sein, bedeutet auch das Zunichtemachen der Geltungsansprüche anderer Texte, die diskursive Vernichtung der nicht-transzendenten Worte und die Vernichtung der Worte derer, die nicht zur Transzendenz erhoben sind105.

In diesem Sinne lässt sich bereits Picards Das Ende des Impressionismus von 1916 als eine apokalyptische Rede begreifen – bereits der Titel deutet dies ja an. Die von der Apokalypse ausgesprochene und vollzogene Vernichtung und die darin liegende Gewalt gegen die „Geltungsansprüche anderer Texte“ macht schon das Motto deutlich, das dem Buch vorangestellt ist. Es verdeutlicht sowohl die Forcierung der Differenzen als auch den dadurch herbeigeführten Aufruf zur Entscheidung – wohl nicht zufällig stammt es aus der Offenbarung des Johannes: „Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“106 Picards Rede bringt sich in eine herausgehobene Sprechposition, indem sie inhaltlich differenziert, „andere“ Positionen performativ als falschen Schein (dis)qualifiziert und als einen durch das wahrhaftige Sprechen überwundenen Zustand darstellt: Wenn „über den Impressionismus theoretisieren nichts anderes als den Impressionismus überwinden“107 ist, dann kommt der Picard’schen Rede zerstörerische Kraft zu. Und so markiert Picard Beginn und Ende seiner Rede – auch dies eine Parallele zur Offenbarung des Johannes – durch den Anspruch, im eigenen wahren Sprechen die anderen nichtwahren Texte (und darüber hinaus auch die Bilder und Praktiken „derer, die nicht zur Transzendenz erhoben sind“, der gesamten Impressionismus-Bewegung) dem Untergang zuzuführen. Auf der ersten Seite verkündet er: Theoretisieren heißt: Die Erscheinung weniger wichtig nehmen als ihren Sinn. Über den Impressionismus theoretisieren muß auch heißen: Die Erscheinung weniger wichtig nehmen als ihren Sinn. Das aber ist: Den Impressionismus überwinden.108

Die Erscheinung weniger wichtig nehmen als ihren Sinn – so lässt sich hermeneutisch beschreiben, was die apokalypsis als Verfahren betreibt: das Aufdecken und Entblößen. Und so steht auch am Ende des Impressionismus-Buches ein typisch apokalyptischer Schluss: In diesem Buche ist die Erscheinung vom Impressionismus abgedeckt worden. Seine Gesinnung ist aufgezeigt worden. Man vertreibe jetzt diese Gesinnung. Oder man habe den Mut, zu ihr zu stehen. In beiden Fällen sind wir am Ende des Impressionismus.109

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Ebenda, S. 23. Hervorhebung im Original. Offb. 3, 15f., zit. n. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 7. Picard vertauscht im zweiten Satzteil die Stellung der Adjektive: Statt wie im Original „Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt“ heißt es bei ihm „weder kalt noch warm“. 107 Ebenda, S. 9. 108 Ebenda. 109 Ebenda, S. 76. 106

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Die Schlussworte bergen drei apokalyptische Motive: Sie verbinden das ‚Abdecken‘ der „Erscheinung“ beziehungsweise das Aufdecken der Wahrheit mit der apokalyptischen Selbstreferenz, nämlich selbst Wahrheit zu sein („In diesem Buche“ – „In beiden Fällen sind wir am Ende“). Und es ergeht die Aufforderung zur Entscheidung, der apokalyptische Ruf: Der Adressat hat die „Gesinnung“ des Impressionismus zu vertreiben und sich auf die Seite der Wahrheit zu schlagen oder „zu ihr zu stehen“ und – zumindest künstlerisch – überwunden zu werden und unterzugehen. Picards kunstkritische Schriften setzen sich wiederholt und unermüdlich auseinander mit dem Enthüllen und Aufdecken eines falschen Scheins und trügerischer Oberflächen; sie durchlaufen dabei mehrfach die Form der apokalyptischen Darstellung und zeigen damit, dass der etymologische Kern der apokalypsis auch hier in der Redeform weiterwirkt. Auch Der letzte Mensch knüpft an dieses apokalyptische Verfahren an. Spätestens dort, wo hinter den Wesen, die „nur aus[sehen], als ob sie Menschen wären“110, ein „neues Wesen“ und dahinter nochmals ein „allerletztes Wesen“ sich andeuten, werden die Erscheinungen als Trug und Täuschung entblößt und die Erwartung geschürt, der Text enthülle einen dahinterliegenden wahren Kern. Und wie schon in Das Ende des Impressionismus deutet auch hier das Motto des Buches eine apokalyptische Ausrichtung an. Picard zitiert Matthias Claudius: „So wär’s bei diesen Worten das Natürlichste, daß nicht allein die strittigen Ausleger, sondern alle Menschen und Nachkommen Adams ihre Weiber und Kinder riefen und hinträten und sich zusammen satt weinten.“111 Das Zitat verbindet die Selbstreferenz auf das eigene Sprechen („bei diesen Worten“) mit der Anrufung zu Ein- und Umkehr. Sind die Tränen als Zeichen der Reue das „Natürlichste“, bezeugen sie die bekehrende Überlegenheit und Zerstörungskraft der apokalyptischen Verkündigung gegenüber den „Worte[n] derer, die nicht zur Transzendenz erhoben sind“ – der „strittigen Ausleger“ – sowie gegenüber den Lesern der apokalyptischen Botschaft. Auch die Entscheidungsstruktur, die Brokoff als spezifisches Merkmal apokalyptischer Textverfahren ausmacht und kritisch gegen Derridas allgemeine Struktur apokalyptischen Sprechens ins Spiel bringt, kennzeichnet den Letzten Menschen. Die wiederholte Aufforderung „Sieh’“, mit der Picard fast immer eine neue Wendung seiner visionären Gesichte einleitet, übersetzt den apokalyptischen Imperativ aus der Johannes-Offenbarung in eine direkte Aufforderung zur visuellen Entscheidung: „‚Komm’, erkhou, veni, dieser Aufruf hallt im Herzen der Vision wider, in dem ‚ich sehe‘.“112 Das „sieh’“ ver110

Picard: Der letzte Mensch, S. 9. Claudius, Matthias, „Verflucht sey der Acker um deiner willen“, in: Ders,. Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Bd. IV, 1799, S. 230, zit. n. ebenda, S. 7. 112 Derrida: Apokalypse, S. 81. Wie für das Groteske, lässt sich auch für die phantastischen Visionen der Apokalypse die Nähe zu optischen Praktiken der Anamorphose nachweisen: „Komm’ und sieh’“ wäre die Aufforderung an den Adressaten einer anamorphotischen Darstellung. Vgl. hierzu 111

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bindet die Affinität der Apokalypse zum Optischen mit dem Ruf zur Entscheidung, der den Adressaten der Vision trifft.113 Oft forciert dabei das Picard’sche „Sieh’“ die Unterscheidung zwischen trügerischem Schein und Wahrheit: Heißt es zunächst „Sieh, es scheint“ oder „Sieh, es ist als ob“, so tritt diesem Schein dann die Wahrheit in einem „Aber“ oder in einem neuerlichen „Sieh’“ entgegen. Den transzendenten Wahrheitsanspruch der Apokalypse symbolisiert auch die Figur, die als Gesprächspartnerin des Visionärs auftritt: Sie schildert, wie die Ich-Figur des Sehers, Visionen des Weltuntergangs. Ihr Name – „Veronika“ – ist eine Anspielung auf die ‚Veronika-Legende‘ und die Auseinandersetzung mit der Bildtradition der vera ikon.114 Veronika-Legende und vera ikon tauchen hier nicht zufällig auf. Sie prägen kunsthistorisch das ikonographische und ikonologische Spiel mit trügerischen Oberflächen, denen das wahre Bild und die Schau der göttlichen ‚letzten Dinge‘ entgegengesetzt werden: Im wahren, göttlichen Bild bzw. dem Abdruck des göttlichen Gesichts, der sich der mittelalterlichen Legende zufolge auf dem Tuch einprägt, dass die hl. Veronika Christus auf dem Passionsweg reicht, um sich von Blut und Schweiß zu reinigen, und demgegenüber alle übrigen, von Menschenhand geschaffenen Bilder zum künstlichen Schein und zur nicht-wahren Bild-Oberfläche werden, liegt das Versprechen auf ein „bildliche[s] Vorerleben der endzeitlichen Gottesschau“115. Der gemalten vera ikon kommt damit ein exklusiver Offenbarungs-Status zu, auf den Picard anspielt, wenn er die Veronika-Dialoge mit dem Schema „Veronika sagte zu mir“ einleitet und ihnen damit die Aura eines Dialogs verleiht, der trotz seines Status’ als irdische Kommunikation die Spuren göttlicher Transzendenz in sich birgt. Auch die narrative Entwicklung konfiguriert die Figuren zunehmend zu einem apokalyptischen Muster. Das Voranschreiten der grotesken Zerstörung verstärkt dabei die Leitdifferenz von Transzendenz und Immanenz und die sie tragenden Dichotomien. Besonders deutlich wird die zunehmende Polarisierung zweier Welten, wenn Picard vor die Schilderung der ‚letzten Dinge‘ eine Art ‚doppelte Kosmologie‘ einschiebt, die aus zwei einander entgegengestellten Welt-Entwürfen – einem teuflisch-grotesken und meinen Aufsatz Lichau: „Schwankende Anamorphosen. Über Gefahren und Aporien anamorphotischer Strategien in Max Picards ‚Der letzte Mensch‘“. 113 So etwa bei der Schilderung des Abbrechens der Gesichtslinien, vgl. oben S. 129f. 114 Vgl. hierzu auch Wolf, Gerhard: „Die andere Haut. Perspektiven einer historischen Anthropologie von Bild und Medium in der abendländischen Kultur der Frühen Neuzeit“, in: Geissmar-Brandi, Christoph; Hijiya-Kirschnereit, Irmela (Hrsg.): Gesichter der Haut, Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2002, S. 233–247; ders., Kessler, Herbert L. (Hrsg.): The Holy Face and the Paradox of Representation, Bologna: Mondadori electa, 1998. 115 Wolf: „Die andere Haut“, S. 238ff. Als ein solches Versprechen fasst ja auch Lavater das menschliche Gesicht in seiner Gottesebenbildlichkeit auf: Sein ‚innerer Mensch‘ ist ein Vorgriff auf die zukünftige heilsgeschichtliche Erlösung und Vollkommenheit der Erkenntnis, die im irdischen (äußeren) Leib der weltlichen Gegenwart ‚durchscheinen‘, von ihm aber zugleich auch verdeckt werden.

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einem himmlischen – besteht. Indem er die grotesken Defigurationen nach und nach auf das demiurgische Treiben eines „Furchtbaren“ zurückführt, erscheinen die grotesken Phänomene als Elemente einer negativen Kosmologie, einer furchtbaren, aber planvollen Zerstörung. Immer stärker tritt dabei ein Gegensatz zutage zwischen einer vertikalen, an himmlischen „Sternenlinien“ ausgerichteten Ordnung (wie sie auf den Seiten 159 bis 179 des Letzten Menschen beschrieben wird) und dem horizontalen, in die Breite gehenden Zerfall, der sich in Gesichtern oder der Architektur moderner Städte äußert. Inhaltlich orientiert sich die apokalyptische Forcierung der Differenzen auch hier an einem topologischen Modell: Der durcheinandergeratenden Welt, die in die Horizontale auseinander fällt, wird eine an der Vertikalen orientierte Ordnung von Oben und Unten, Himmel und Erde entgegengestellt. Das einende Prinzip der vertikalen Sternenlinie, um die die Menschen gebaut waren, durchzieht den gesamten nachfolgenden Gedankengang. Diese Linien, welche die Sterne wie Strahlen auf die Erde fallen ließen, sind Zeichen und ordnende Kraft einer von oben nach unten verlaufenden göttlichen Ordnung der Schöpfung. Gleichsam als Antwort orientiert der Mensch seinen Körper an diesen Sternenlinien, indem er ihn von unten nach oben emporwachsen lässt: „Fest ist der Mensch um die Linie der Sterne gebaut [...]. Er ist gebaut um des einen willen: daß Erde und Sterne sich durch ihn berühren.“116 Die Vernichtung der Sternenlinie und damit einer transzendenten Hierarchie zerstört das Gesicht und den Körperbau der Menschen ebenso wie die architektonische Ordnung von Städten und Bauwerken. Vor allem „[d]ie große Stadt ist das Symbol einer Welt, in der die Linie der Sterne nicht mehr ist.“117 Die Ausdehnung der modernen Großstädte in die Fläche und die moderne Technik der Flachdachbauten118 resultieren für Picard aus der fehlenden Mäßigung durch die Sternenlinie, die früher die Städte in ihrem Wachstum aufhielt – die heutige Großstadt „ist gebaut nur um das Eilende herum“119, sie muss nicht wie die alte erst aufwärts und dann vorwärts wachsen, sie dehnt sich flach und nach vorne aus und „[e]ines Tages werden auch die Stockwerke eins neben das andere sich stellen“120. Analog zu dem architektonischen Modell fallen auch „[d]ie Wesen [...] auseinander wie die Stadt“121, sie ordnen sich um die Horizontale herum an, nur die Stirn vermag dabei anfangs noch zu widerstehen, weil sie „fest in die Vertikale hineingemauert“122 ist. Die Schilderungen der Anti-Kosmologie des „Furchtbaren“ und der himmlischen Kosmologie unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in Sprachstil und -rhythmus deutlich voneinander. So unterbricht Picards himmlische Kosmologie den 116

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 160. Ebenda, S. 184. 118 Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 5.3, insbesondere S. 215f. 119 Picard: Der letzte Mensch, S. 191. 120 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 194. 121 Ebenda, S. 196. 122 Ebenda, S. 149. 117

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Fortgang des Textes auffällig: Während die groteske Schilderung des Weltuntergangs oft auf einer Seite mehrere gedankliche oder thematische Sprünge und logische Brüche aufweist, besteht die himmlische Kosmologie aus einer einzigen zusammenhängenden Darstellung. Die Klarheit und Sicherheit der Formen, durch die Picard die himmlische Kosmologie inhaltlich charakterisiert – Niemals hätte ein Mensch kugelig werden können. Niemals hätte ein Mensch aus seiner Vertikalen herabfallen können in die Horizontale. Denn die Sterne hielten die Vertikale des Menschen fest: die Vertikale, um die herum der Mensch gebaut war, wurde von den Sternen festgehalten123

– findet sich auch im Textverfahren wieder. Wie die himmlische Kosmologie der diffusen und verwirrenden Logik der grotesken Zerstörung ein zwingendes Prinzip entgegenstellt („Niemals hätte“), so unterscheidet sie sich auch durch einen klaren, einfachen und verständlichen Stil von den vorhergehenden Textpassagen, in denen die narrativen Bruchstücke ungegliedert und unentwirrbar durcheinandergeworfen sind. Die himmlische Kosmologie wirkt dadurch dem übrigen Text enthoben und unterstreicht so den Charakter einer transzendenten Ordnung. Doch auch der Einschub dieser himmlischen, letztlich nicht triumphierenden Kosmologie, betreibt als Textverfahren das Geschäft der Apokalypse: Die Attribute ihrer scheinbar zeitenthobenen Ordnungen stellen die positiven Gegensätze zu den Formen des ästhetischen, epistemischen und moralischen Verfalls dar. Sie treiben also die Dynamik der Apokalypse an, indem sie die Differenz forcieren. Und auch die phantastische und scheinbar planlose (Anti-)Logik, die die negative Kosmologie durchzieht, wird zunehmend als ein Geschehen erkennbar, das den Gesetzen einer groteskdemiurgischen Umgestaltung gehorcht und damit einem Plan folgt: Die in Auflösung befindlichen Körper und die fluchtartig hin- und herirrenden, verselbständigten Körperteile werden von einer Dynamik angetrieben, die die Körper in die Breite verzerrt, auseinanderwalzt und schließlich in einer zweiten Bewegung zu kugeligen Formen vermischt. „Sieh’ das Gesicht: es [...] möchte am liebsten jetzt schon in die Horizontale sich hineinlegen, so flach ist es schon, daß es gar nirgends anders mehr hinpaßt als in die Fläche der Horizontalen!“124 In dieser Bewegung in die Breite und Horizontale ist der Mechanismus der grotesken Verzerrung am Werk, der die vertikale Dimension der Gesichts so stark schrumpfen lässt, dass es ganz zu verschwinden droht – entsprechend dem Fuß’schen Sonderfall einer Verzerrung als „numerische Verminderung“, als vollständiges Verschwinden durch unendliche Verkleinerung. Die Verzerrung geht dabei über die somatische Dimension des Mundes hinaus und erfasst auch die akustische und semantische Sphäre der vom Mund ausgehenden Worte und deren „geschlossene Form“: 123 124

Ebenda, S. 159f. Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 145.

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[D]ieser Mund ist nun bei dem neuen Wesen in die Breite ausgezogen [...]. Die Worte rutschen aus diesem breiten Munde, bevor sie noch zu Ende gesprochen sind. Der Mund ist nicht mehr wie beim Menschen eine geschlossene Form, die das Wort klar bildet und nicht eher von sich weggibt, bis das Wort geschlossen und klar ist wie der Mund selber; die Buchstaben rutschen ab aus dem breiten Munde, der sie nicht halten kann, sie rutschen weiter vom Munde weg und treffen sich erst im Rutschen zu einem Worte, vielleicht!125

Der Verlust der „geschlossenen Form“ ergreift über den Körper auch die Sprache. Wie die Körper der Menschen, so unterliegen auch die ‚Körper‘ der Sprache – die Buchstaben und Laute, Lexeme und Phoneme – der Defiguration: Kontingenz und Texturierung der Sprachmaterie lassen das Entstehen von Bedeutung im Wort zu einem zufälligen, höchst vagen Ereignis werden („vielleicht“). Wie der Mund, so ziehen sich auch Augen, Ohren, Stirn, Hals, Arme, Bäuche und Beine in die Breite und nehmen dann zunehmend Kugelform an: Sieh’ die Arme! Sie sind so kurz, daß sie nicht mehr fassen und halten können, sie können fast nur noch schieben und stoßen. [...] Die Arme warten auf die Beine, daß sie kugelig werden [...], es scheint, daß, von Monat zu Monat, bei demselben Wesen einer Generation die Beine immer kürzer werden! Schon ist man nicht mehr imstande, mit den Beinen zu gehen. Man kann sich nur auf ihnen weiterschieben. Was wird das für ein Wesen sein, das statt der Beine unten am Bauche zwei Kugeln hat?126

Die grotesken Mechanismen und die von ihnen bewirkte Liquidation der Formen folgen einem Plan, der sich schließlich den Augen des Sehers zu erkennen gibt. So wird das Treiben des Furchtbaren entblößt als ein erschreckend systematisches Vorgehen, als eine defigurative Logik: Darüber erschrak ich sehr, als ich sah, wie systematisch der Furchtbare es einrichtete, um das neue Wesen zu schaffen. Es ist, als ob der Furchtbare zuerst ein Inventar aller Teile der menschlichen Form gemacht hätte, und als hätte er dann, nach diesem Inventar, systematisch einen Teil des neuen Wesens nach dem anderen immer entgegengesetzt den entsprechenden Teilen des Menschen geformt. Es ist, als ob der Furchtbare auch darum ein paar Menschen übrig gelassen hätte, damit er immer sein Inventar der menschlichen Formen prüfen könne an diesen Menschen, die er übrig gelassen hatte und damit er ja in keinem Teil das neue Wesen dem Menschen ähnlich schaffe.127

Fast scheint es, als trete das Groteske mit seinen unendlich bewegten, unfassbaren und stets neuen Defigurationen hier zurück in eine recht simple Systematik der Negation. Doch so einfach liegen die letzten Dinge nicht. Mit zunehmender Trennung der Formen und Kategorien werden die Sprechpositionen der Protagonisten – der Seher und Demiurgen – komplexer. Darauf weisen Derrida wie Brokoff hin, wenn sie die ambivalente, (ver-)störende Rolle des Teufels im Zuge der apokalyptischen Differenzen-Forcierung herausheben. 125

Ebenda, S. 146f. Ebenda, S. 152f. 127 Ebenda, S. 157. 126

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Als Inbegriff des Bösen ist er nicht eindeutig dem immanenten Handlungsraum zuzuordnen. [...] Als Antichrist und Widersacher Gottes genießt er demnach zumindest anfänglich einen transzendenten Status. Folglich sind die Opposition von Gut und Böse und die Differenz von Transzendenz und Immanenz keineswegs vollständig kongruent.128

Bei Picard tritt der Teufel in der Figur des „Furchtbaren“ auf. Seine Eigenschaften stimmen mit dem Schema des Teuflischen überein, wie es in anderen Apokalypsen begegnet: Je klarer die Differenzen auseinandergetrieben werden, desto unklarer wird seine Verortung.129 Denn da das Wesen des Teufels selbst der Transzendenz zuzuordnen ist oder ihr zumindest früher einmal angehörte, stört es immer wieder die Trennung der forcierten Unterscheidungen. Es droht dabei aber nicht nur die Differenzen von Herrschaft und Ohnmacht, Ordnung und Anti-Ordnung, Schönheit und Furchtbarem, Gut und Böse durcheinander zu bringen, sondern selbst schließlich dieser verstörenden Bewegung zum Opfer zu fallen. Der Teufel erscheint einerseits als transzendenter Agent, von dem eine treibende Kraft innerhalb der Umformung der Welt ausgeht. Andererseits aber überwältigt auch ihn der Lauf der Dinge. Er verliert die Kontrolle über seine Experimente, ja er wird sogar selbst von der Dynamik erschreckt und geängstigt. Dies zeigt sich beim „Furchtbaren“ etwa, wenn er die Differenzierung des Ästhetischen vorantreibt in Richtung des negativen Pols der Hässlichkeit, dabei jedoch angesichts der Schönheit Veronikas durcheinander gerät: Veronika fragte mich: ‚Du sagst, ich sei schön. Warum bin ich dann noch?‘ ‚Veronika,‘ antwortete ich, ‚eben weil du schön bist, eben darum bist du noch. Immer stellt dich der Furchtbare vor sich hin, immer will er dich sehen, wenn er das neue Wesen schafft, damit er das neue Wesen nicht schafft, so, wie du geschaffen bist: schön. Er hat Angst, daß er das neue Wesen dir ähnlich machen könnte, wenn er dich nicht sieht. Der Furchtbare weiß selbst noch nicht, wie das neue Wesen sein wird, er weiß wohl nur dieses gewiß, daß es nicht so wie du aussehen darf.130

Immer mehr gerät die scheinbar systematische Anti-Logik dabei ins Schwanken und schließlich ergreift die Ambivalenz der teuflischen Instanz ihr eigenes Subjekt: Wie ein Mahner bist du hingestellt. Immer schöner wirst du jeden Tag! Es ist, als ob der Furchtbare Angst habe: er könne, je mehr er an dem neuen Wesen schaffe, immer mehr vergessen, wie schön du bist, und das neue Wesen doch noch schaffen, so wie du bist: schön131.

Als bedrohliche Figur des wiederkehrenden Verleugneten – bekanntlich ist es ja gerade die eigene Vergangenheit als (gefallener) Engel, die der Teufel bekämpfen und vergessen muss – droht die Schönheit (Veronikas) selbst im Teufel ein Begehren zu erwecken, das seine zerstörerische und anti-ästhetische Demiurgie durcheinanderbringt.

128

Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 16f. Zur Figur des Teufels in der Groteske-Tradition und seinem ambivalenten kosmologischen Status vgl. Fuß: Das Groteske, S. 261ff. 130 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 157f. 131 Ebenda, S. 158. 129

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Doch auch Veronika wird von einer wahrhaft teuflischen Verwirrung, ja Versuchung ergriffen: „‚Vielleicht ist der Furchtbare doch auch gut, da ich jeden Tag schöner werde.‘“132 Wiederum erweist sich damit die Hoffnung auf sichernden Halt in der durcheinandergeratenden Welt als trügerisch. Zunächst scheint noch die „Angst“ des Furchtbaren – davor, „daß er das neue Wesen dir ähnlich machen könnte“ – seine Unterlegenheit unter die Ordnungen des Guten, Schönen und Wahren ebenso zu belegen wie Veronikas Erhabenheit über den Wandel der Wesen: „‚Du, Veronika, wirst nicht berührt von den Wesen, die der Furchtbare schafft. Du bist unter diesen Wesen so, wie der ruhende Punkt am schwingenden Seil: indifferent‘“.133 Doch kippt auch diese Hoffnung kurz darauf in die Befürchtung, dass der „ruhende Punkt“ sich als hinterlistige Finte des teuflischen Demiurgen entpuppen könnte: Hier bist du, du Schöne, und dort ist eine andere, auch eine Schöne, und noch eine dort, und von einer Schönen zur anderen spannt sich ein Bogen! [...] Ach, mir ist, als wäret ihr schon alle angebunden eben in diesem Bogen, damit der Furchtbare euch alle miteinander in diesem Bogen fortziehen kann, weg aus dieser Welt, sobald das neue Wesen da ist.134

Letzte Dinge. Der Zusammenbruch der Differenzen als mediale und soziale Katastrophe Der Endpunkt, auf den die Apokalypse zuläuft, zeichnet sich im Gegensatz zu ihrem Verlauf nicht durch forcierte Differenz, sondern durch deren Aufhebung, durch absolute Differenzlosigkeit aus – und daher kann der apokalyptische Text meist wenig über das Ende sagen, umso mehr aber über dessen Herannahen: „[D]as Ende ist nah, doch die Apokalypse ist von langer Dauer“135. Das gilt auch für Der letzte Mensch: Während Ausbruch (S. 9–17) und Steigerung (S. 17–101) der grotesken Defigurationen sowie die apokalyptische Polarisierung von himmlischer und teuflischer Kosmologie (S. 144–198) ausführlich entwickelt werden, beschränkt sich das Eintreten des Endes auf die Seiten 198–204. Picards apokalyptische Vision endet in dem Szenario einer grotesken Kugelwelt. Die Wesen, die die Welt in den verschiedenen Stadien ihres Untergangs bevölkern, werden immer mehr zur Kugelform verzerrt; „schon sind die Teile des Wesens zu Kugeln umgebildet. Kopf, Leib, Füße, Arme, jeder Teil ist schon für sich kugelig“ 136. Die Verformung zu „Kugeln des Kopfes, des Leibes und auch noch der Arme“137 bewirkt eine Entdifferenzierung und bereitet so eine letzte Vermischung zu einem einzigen diffe132

Ebenda. Ebenda. 134 Ebenda, S. 159. 135 Derrida: Apokalypse, S. 75. 136 Picard: Der letzte Mensch, S. 198. 137 Ebenda. 133

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renzlosen Mischgebilde vor, zu dem die menschenähnlichen und letzten Wesen allmählich verschmelzen: Noch ist es nicht Zeit, daß die vielen Kugeln des Wesens zusammenwachsen in eine einzige Kugel. Veronika sagte zu mir: Aber mir ist, als ob schon jetzt das Wesen, wenn es allein in seinem Zimmer ist, sich übe, in eine einzige Kugel zusammenzuwachsen. Mir ist, als ob die Wesen, wenn sie allein sind in den Zimmern, als eine einzige Kugel schon jetzt herumkugeln.138

Obgleich Der letzte Mensch nicht mit der alle Differenzen transzendierenden Gegenwart Gottes oder einer anderen transzendenten Instanz endet, sondern das Eintreten der Apokalypse auf den Untergang der immanenten Welt reduziert,139 folgt auch hier auf die apokalyptische Differenzierung das Stadium der Differenzlosigkeit: Die Wesen verschmelzen zu einer kugelförmigen ‚totalen Chimäre‘. Nach und nach bildet sich „eine einzige ungeheure menschliche Gestalt [...], damit die Gespenster alle miteinander in dieser ungeheuren Gestalt gespenstern können“140, und zu diesem Ungeheuer gesellen sich schließlich auch Straßen und Häuser. Die geometrische Form der Kugel, die diese ‚totale Chimäre‘ annimmt, konnotiert dabei Differenzlosigkeit: Eine Kugel wird durch eine Menge von Punkten gebildet, die alle den gleichen Abstand zum Mittelpunkt besitzen. Auch die apokalyptische Entdifferenzierung der Zeiten schreitet voran – oder genauer: Sie vollzieht sich in einem Sprung141: Die Seuche, das Ungeheuer, das schon zusammengewachsen ist, springt an die Wesen, die zu einem Ungeheuer zusammenwachsen werden.142

Noch einmal spielt bei der Entstehung des Kugel-Wesens der trügerische Schein eine Rolle. Sie vollzieht sich an jenem Ort, der um 1920 wie kein anderer für die große Täuschung steht: dem Kinosaal. Denn „dort in dem Kino wird die große Kugel gebildet!“143, und auch die diesem Geschehen vorausgehende zunehmende Verwandlung der zunächst noch gegliederten Wesen zu undifferenzierten, kugelförmigen Zusammenballungen wird als kinematische Vision inszeniert: Sieh’ auf die Leinwand: solange das Wesen noch vorn ist, sind seine einzelnen Kugeln noch nicht zusammengewachsen, dann aber, sobald sich das Wesen entfernt gegen den Hintergrund, werden die Kugeln wie von innen aufgeblasen, die Kugeln werden gedehnt, daß sie nicht mehr zusammengehalten werden können, die einzelnen Kugeln lösen sich auseinander und ihre Stü138

Ebenda, S. 199. Diese Reduktion findet sich in der Apokalypse der Weimarer Zeit immer wieder. Vgl. Eykman: Denk- und Stilformen des Expressionismus, S. 59ff. 140 Picard: Der letzte Mensch, S. 105. 141 Das Motiv des „Sprungs“ als einer nicht-kontinuierlichen Form körperlicher, aber auch historischer oder politischer Bewegung, erfreut sich nicht nur im Expressionismus, sondern auch in der ihm nahestehenden Philosophie und Theologie des Existenzialismus, etwa bei Kierkegaard und Heidegger, großer Beliebtheit 142 Picard: Der letzte Mensch, S. 115. Hervorhebungen im Original. 143 Ebenda, S. 199. 139

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cke fallen irgendwohin in den Hintergrund, man sieht die Stücke nicht mehr! Im Hintergrund, dort, wo die einzelnen Kugeln auseinandergefallen sind, werden sie dort wohl zusammengefügt zu einer einzigen Kugel? Dort im Hintergrund ist wohl die Werkstätte, wo der Furchtbare die große Kugel zusammenfügt?144

Picard macht die Illusionskraft des Kinos zum Antrieb des apokalyptischen Untergangs: Seine Abneigung gegen das Kino führt ihn jedoch zu einer innovativen und interessierten kritischen Beobachtung, wie sie ähnlich auch im frühen Film selbst, zum Teil in Form einer (Selbst-)Reflexion, begegnet: Das von Picard beobachtete Auseinanderfallen der Kugeln auf der Leinwand, „sobald sich das Wesen entfernt gegen den Hintergrund“, lässt sich interpretieren als das Verschwimmen der Körpergrenzen im Hintergrund des Leinwandbildes, das durch die Unschärfe der Bildpunkte entsteht – ein Charakteristikum des frühen Kinos, das die ersten cineastischen Illusions-Techniken begünstigt oder sogar erst ermöglicht. Der apokalyptische Untergang wird damit effektvoll figuriert als Sog in die Tiefe des illusionären Leinwandbildes. In der Folge wird die Leinwand zum Schauplatz des letzten Gerichts, vor dem sich „alle Wesen“ zusammendrängen: Es ist, als ob alle Wesen in das Kino geschickt würden, damit sie hier vorbereitet würden für die große Kugel. Schutzleute und Bankherren, Mörder, Bürger, Verliebte, Kaiser, Narren, Erfinder, Hu144

Ebenda, S. 199f. Das Zusammenwachsen der Menschen und Wesen zur (großen) Kugel spielt auch auf die Rede des Aristophanes aus Platons Symposion und den dort vorgetragenen Mythos von den Kugelmenschen an: Diesem Mythos zufolge existierten die Menschen in Urzeiten als zur Kugel vereinte Doppelwesen aus zwei Männern, zwei Frauen oder einem Mann und einer Frau. „[D]ie ganze Gestalt eines jeden Menschen [war] rund, so daß Rücken und Brust im Kreise herumgingen. [...] Er ging aber nicht nur aufrecht wie jetzt, nach welcher Seite er wollte, sondern auch wenn er schnell wohin strebte, so konnte er [...] auf seine acht Gliedmaßen gestützt, sich sehr schnell im Kreise fortbewegen.“ (Platon: „Das Gastmahl“: in: Platon, Werke in acht Bänden. Dritter Band. Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos, hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, S. 209–393, hier: S. 269) Die übermenschlichen Fähigkeiten ließen die Kugelwesen aber übermütig werden und sich gegen die Götter auflehnen, und so wurden sie von den Göttern bestraft und auseinandergeteilt. Von nun an waren sie dazu verdammt, die jeweils passende andere Hälfte zu suchen, wobei ihnen Eros zur Hilfe kam. „Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja, zerschnitten wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück.“ (ebenda, S. 275) Solange dieses nicht gefunden ist, wird mit einem Ersatz Vorlieb genommen. Volle Glückseligkeit gab es nur als Verheißung: Alle Menschen würden ihre fehlende Hälfte eines Tages wiederfinden – unter der Bedingung, dass sie sich den Göttern gegenüber gehorsam zeigten. Diese Verheißung der Glückseligkeit durch die (Wieder-)Vereinigung zur Kugel ‚am Ende der Zeiten‘ wird bei Picard allerdings ins Gegenteil gewendet: Sie wird zum Bild des Untergangs. Auf Platons Kugelmenschen-Mythos verweist noch ein anderes Motiv des Letzten Menschen: Denn die Drohung der Götter, die Menschen bei weiterem Ungehorsam nochmals in zwei zu teilen, erinnert an die abgebrochene Nasenlinie, die bei Picard den Ausgangspunkt der grotesken Defigurationen bildete: „Es steht also zu besorgen, wenn wir uns nicht sittsam betragen gegen die Götter, daß wir nicht noch einmal zerspalten werden und so herumgehen müssen wie die auf den Grabsteinen ausgeschnittenen, die mitten durch die Nase gespalten sind“ (ebenda, S. 281).

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Reaktionäre Transgressionen

ren, alle werden in das Kino geschoben, alle müssen sich im Kino zu der großen Kugel zusammenfügen lassen. Sie drängen sich, es sind so viele, sie haben nicht alle miteinander Platz in der Werkstätte im Hintergrund, sie müssen vorn auf der Leinwand warten, bis sie an der Reihe sind, auseinanderzufallen und dort hinten in der Werkstätte in die große Kugel hineingefügt zu werden.145

Mit der optischen Entdifferenzierung geht hier der Zusammenbruch sozialer Unterschiede und Hierarchien (zwischen Mördern und Schutzleuten, Kaiser und Bürgern, Huren und Verliebten, Narren und Erfindern) einher. Zum Zeitvertrieb – denn „die Apokalypse ist von langer Dauer“146 – „fangen [sie] an miteinander Theater zu spielen“147. Die Figur des Schauspielers, der als Meister des Trugs und der Täuschung die sozial differenzierte Ontologie untergräbt und aushöhlt, fungiert als Verbündeter des teuflischen Demiurgen und bereitet vor, was von der optisch-technischen Entdifferenzierung im Hintergrund der Leinwand besiegelt wird: Und wenn bei den Spielenden kein Kaiser mehr ist, weil er abgerufen wurde in die große Kugel, so spielt der Schutzmann, der Mörder oder der Narr oder der Bankherr die Rolle des Kaisers, man achtet es nicht sehr, wer dieses spielen darf oder jenes, man weiß: alle werden doch miteinander für die gleiche Kugel ausgewalzt.148

Picards kritisch-ablehnende Analyse des kinematischen Illusions-Dispositivs geht über die inhaltliche und medientechnische Ebene hinaus. Sie umfasst auch die für das Kino entscheidende Dimension der Interaktion von Darsteller und Zuschauer, den Prozess der Rezeption im Kinosaal. Der um sich greifende Differenz- und Orientierungsverlust erfasst nicht nur die verschiedenen Rollen auf der (Film-)Bühne und deren mediale Aufzeichnung, sondern auch die Beziehung Darsteller-Zuschauer: „Bald wird man nicht mehr wissen, wer der Spielende ist und wer der Spieler ist und wer der Zuschauende: diese auf den Stühlen, oder jene auf der Leinwand?“149 Der „Spieler“ liest sich hier wie eine Vorwegnahme der Figur des „Dr. Mabuse“ aus dem 1922 uraufgeführten Film Dr. Mabuse, der Spieler150, in dem ebenfalls „Der Spieler“ nicht identisch ist mit dem „Spielenden“. Die Umsetzung von Mabuses teuflisch-demiurgischem Plan beruht vor allem auf seiner Fähigkeit zur Täuschung, immer wieder schlüpft er in neue Rollen und Verkleidungen, die aus dem „Spieler“ einen „Spielenden“ machen. 145

Picard: Der letzte Mensch, S. 200. Derrida: Apokalypse, S. 75. 147 Picard: Der letzte Mensch, S. 200. 148 Ebenda. 149 Ebenda, S. 201. Das Phänomen lässt sich in einem breiteren Kontext auch als Phänomen „besessener Körper“ lesen. Vgl. hierzu Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, der den Verlust der Beherrschung von Körpern und Körperschaften nicht nur mit dem Welt-Krieg und der Psychologie (Hypnose, Psychoanalyse), sondern auch mit der Entwicklung des Kinos und mit dem Rechtsdiskurs in Verbindung bringt: Auch letzterer befasst sich mit dem Problem des (Rechts-)Subjekts „Körper(schaft)“, dessen institutionelle Praktiken Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Handlungen bereiten. 150 Lang, Fritz (Regie): Dr. Mabuse, der Spieler. 1. Teil: Der große Spieler. Ein Bild der Zeit; 2. Teil: Inferno. Ein Spiel von Menschen unserer Zeit, Uco-Film GmbH, 1922. 146

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Das Verschwimmen der Grenze zwischen Leinwand und Zuschauer, durch das unklar wird, „wer der Spieler ist und wer der Zuschauende: diese auf den Stühlen, oder jene auf der Leinwand“ wird hier im Film selbst reflektiert: Die Massenhypnose-Szene am Ende des Films (vgl. Abb. 1) zeigt genau ein solches Verschwinden oder Überschreiten der Grenze Leinwand/Zuschauer bzw. Spielende/Zuschauer. Die von Mabuse ins Leben gerufenen phantastischen Leinwandwesen steigen hinab von der (Film-)Bühne des (Kino-)Saals und mischen sich unter die Zuschauer, so dass letztere sowohl als Subjekte wie als Objekte des illusionären Filmgeschehens figurieren.

Abbildung 1: Still aus Dr. Mabuse, der Spieler. 2. Teil: Inferno. Ein Spiel von Menschen unserer Zeit (Regie: Fritz Lang), 1922. Schließlich spielt Dr. Mabuse, der Spieler auch mehrfach mit dem Vertauschen von Gesichte(r)n – schon die Eingangssequenz des Films zeigt die Gesichter der Hauptfiguren als Kartenspiel in den Händen Mabuses. Doch zurück zum Letzten Menschen. Der Lauf der letzten Dinge – die Zusammenballung der Wesen zu kugelförmigen Einheiten – erreicht schließlich den Punkt, an dem der Untergang nicht mehr aufzuhalten ist. Die forcierten und auf die Spitze getriebenen Differenzen moralischer, gesellschaftlicher, intellektueller, medialer und theatraler Art stürzen zusammen: Mörder und Bürger, Kaiser und Bankherr, Narr und Erfinder, Hure und Lehrer, Zuschauer und Spieler, – sie sind alle einander so nahe, daß man nicht weiß, wo der Kaiser aufhört und wo der

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Bankherr anfängt, wo Narr und Erfinder, Hure und Lehrer, Zuschauer und Spieler, wo einer aufhört und der andere anfängt.151

Am Ende steht eine ebenso kurze wie eindrucksvolle Darstellung dessen, was so schwer darzustellen ist: des Endes und seiner Differenzlosigkeit. „Kugelige Wesen werden sich herumdrehen auf der Erde, wo einmal Menschen, Berge, Flüsse und Tiere waren“152. Die Differenzen verlöschen mehr und mehr, so dass die verschiedenen Wesen der untergehenden Welt sich nicht mehr erkennen lassen, weil ihre Unterschiede verblassen; schließlich lassen sie sich nur noch anhand toter Erinnerungszeichen rekonstruieren, die den Kugeln anhaften. Die Kugeln zerstören Fauna und Flora, entleeren Flussbetten und ebnen Berge ein, und „wenn nicht hie und da auf den Kugeln der Berge das Skelett eines Vogels gefunden würde und ein toter Fisch neben dem Bett der Flüsse, so würde niemand das kugelige Wesen, das einmal ein Berg und jenes, das einmal ein Fluß war, unterscheiden können.“153 Auch der Mensch verschwindet nun endgültig und wird zur Erinnerungsspur. Die von ihm übriggebliebenen Reste wird „ein großer Unternehmer unter den kugeligen Wesen [...] aufkaufen“154, um daraus ein museales Modell des Menschen zusammenzusetzen, das die Erinnerung an ihn bewahrt. Aus diesen letzten Resten wird dann der Unternehmer den Menschen rekonstruieren lassen, so wie man aus ein paar Urtierknochen das ganze Urtier zu rekonstruieren sucht und dann in einem Museum ausstellt.155

Akustische Apokalypse. Die letzte Stimme des Menschen ist nicht die Stimme des letzten Menschen Das Ende des Endes inszeniert Picard nicht als optische, sondern als akustische ‚Vision‘. Dem sichtbaren Zeugnis von der Existenz des Menschen wird nämlich eine klangliche Spur zur Seite gestellt, um das kugelige Wesen hören zu lassen, wie die Stimme des Menschen war. Und [...] so hört jetzt das kugelige Wesen aus dem großen Phonographen eine Stimme krächzen: der Mensch ist tot. Das kugelige Wesen wartet dann, bis der Phonograph noch einmal krächzt: der Mensch ist tot, – dann dreht es sich über die blumenleere Wiese weiter.156

Mit diesen Worten endet Der letzte Mensch. 151

Picard: Der letzte Mensch, S. 201. Ebenda, S. 203. 153 Ebenda. 154 Ebenda. 155 Ebenda, S. 203f. 156 Picard: Der letzte Mensch, S. 204. Indem das Innehalten des Wesens im Leser eine Haltung erzeugt, die eine Antwort erwartet, und diese Erwartungshaltung enttäuscht wird, zieht der Text auch den Leser hinein in eine groteske, ja absurde Erwartungs-Enttäuschung. 152

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Die technische Apparatur des Phonographen, aus der zum letzten Mal die Stimme des Menschen ertönt, fungiert als Medium einer absolut indifferenten Wiederholung, als Medium des Endes des Endes, des „fin de la fin“157. Picards Phonographen-Stimme weist Ähnlichkeiten auf mit der Stimme von Nietzsches „letztem Philosophen“ Ödipus, der dem endgültigen Eintreten des Endes durch einen trügerischen Dialog mit seiner eigenen Stimme zu entkommen versucht – von Nietzsche bezeichnenderweise als (nachgelassenes!) „Fragment aus der Geschichte der Nachwelt“158 betitelt: [I]ch bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. [...] [M]ein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.159

Neben Nietzsche sind Wieland Herzfeldes Der letzte Mensch160 sowie Jean Pauls Erzählung Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht zu nennen, die möglicherweise einen direkten intertextuellen Einfluss des Letzten Menschen darstellen. Picard war insbesondere dem Werk Jean Pauls verbunden. In Die wunderbare Gesellschaft kommt es – anlässlich der im Text thematisierten Situation der Jahrhundertwende – ebenfalls zu einer Steigerung grotesk-apokalyptischer Motive, in der schließlich die

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Vgl. Derrida: Apokalypse, S. 55. Das „fin de la fin“ erfordert zugleich auch ein „fin du fin“: „Und wer auch immer dahin käme, das Ganze auf die Spitze zu treiben und das Raffinierteste [le fin du fin] zu sagen, nämlich das Ende des Endes [la fin de la fin], [...] daß das Ende immer schon begonnen hat, [...] so würde auch er, ob er will oder nicht, in das Gesamtkonzert miteinstimmen.“ (ebenda, S. 55f.) „Fein“ ist Picards akustische Apokalypse vor allem, weil sie auf ein Phänomen hinweist, das auch Derrida unbeachtet lässt, obwohl er sich intensiv mit dem akustischen Aspekt des apokalyptischen Tons und seiner Stimme(n) befasst. Die Unmöglichkeit, zugleich Sender und Empfänger der Wahrheitsbotschaft zu sein (vgl. hierzu ausführlich ebenda, S. 56ff., 67ff. und unten, S. 162), manifestiert sich nämlich auch als mediale bzw. aisthetische Kluft: Die Aufforderung an den Adressaten einer apokalyptischen Vision, zu sehen, blendet nicht nur die Notwendigkeit einer Übertragung des optisch zu decodierenden Signifikanten der Wahrheit – des Buchstabens – zum Signifikat, sondern auch zur Akustik einer (zu hörenden) Stimme, aus. 158 Nietzsche, Friedrich: „Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt“: in: Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Dritte Abteilung, Vierter Band. Nachgelassene Fragmente. Sommer 1872 bis Ende 1874, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1978, S. 48–49. 159 Ebenda, S. 48f. 160 Nicht nur als Apokalypse ohne ‚neues Jerusalem‘, sondern ebenso aufgrund seines Titels und der Schlusssequenz erinnert Picards Kugel-Apokalypse an Herzfeldes Der letzte Mensch. Auch dort bringt das Ende den Verlust der Erinnerung an den Menschen mit sich, und zwar ebenfalls als Sinnloswerden eines in diesem Falle im Schriftmedium angelegten Archivs. Herzfeldes letzter Mensch leert dieses Archiv, in dem die Erinnerung an die menschliche Zivilisation aufbewahrt ist: „[A]ngelangt im Archiv lachte er automatisch. Lachend warf er die Denkschriften zum Fenster hinaus. Und staunte: als stürzten Äroplane ab! Ereifert, gewissenhaft, immer rascher ließ er die Pergamente flattern, alle.“ (Herzfelde, Wieland: „Der letzte Mensch“, in: Der Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917, 1. Jg. (1917), S. 136–140, hier: S. 138)

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kosmischen Elemente zerfließen und ineinander verschmelzen.161 Und inmitten dieser Vorgänge erscheint ein Gesicht vom „letzten Menschen“: Der Mond stralte plötzlich den Jüngling an; groß, unbeweglich, bleich, aber voll Glanz fing er an, ohne der Maske [die „Maske“ ist wie „der Jüngling“ eine der phantastischen Gestalten der „wundersamen Gesellschaft“, K. L.] zu antworten, und unter der Rede bebten tiefe Töne im Klaviere, aber keine Taste regte sich: ‚Es gibt einmal einen letzten Menschen – er wird auf einem Berg unter dem Aequator stehen und herabschauen auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen – festes Eis glänzet an den Polen herauf der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen – das aufgethürmte Gewölke strömet eilig durch den Himmel und stürzet sich ins Meer und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie – Schau’ auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist schon alles vergangen – deine großen Ströme ruhen aufgelöset im Meere.‘162

Doch anders als Picard nimmt Jean Paul die Endgültigkeit der Vision vom letzten Menschen zurück. Nicht nur durch den eigenartig zwischen Phantastik und Realität schwankenden Status der Gesichte, sondern auch durch den tröstenden Verweis auf eine überlegene transzendente Instanz innerhalb des Geschauten wird die Unausweichlichkeit des menschlichen Verschwindens gebrochen: „Letzter Mensch, denke nicht nach über die lange Welt vor und nach dir; im Universum gibts kein Alter – die Ewigkeit ist jung – sinke in die Welle, wenn sie kommt, sie versiegt, und nicht du!“163 Als technoides Gegenstück zu Nietzsches romantischer Philosophen-Stimme, die auch der Stimme des letzten Menschen noch eine belebende, die menschliche Einheit in Zweisamkeit transfigurierende und damit das Ende zumindest aufschiebende Kraft der akustischen Illusion zugesteht, und auch gegen die Jean Paul’sche Hoffnung auf eine transzendente Erlösung verkündet Picards Phonographen-Stimme jedoch die Endgültigkeit des Todes des Menschen, das Eintreten der Apokalypse. Die letzte Stimme des Menschen ist eben nicht mehr die Stimme des letzten Menschen. 161

„Bald flattert das noch von dir bewohnte Sonnenstäubchen hinauf, und die größern blinkenden Staubkörner auch; aber die Sonne trägt den Kindersarg der Menschheit leicht im Arm und hüpfet, von deiner Flugerde schwach bestäubt, jugendlich, obwohl kinderlos, mit andern Schwestern um die Muttersonne weiter... Schwacher Sterblicher! der du vor allem zitterst, was älter wird als du, höre weiter! Auch die Sonnen der Milchstraße ergreifen endlich einander feindlich und umschlingen sich kämpfend zu einer Riesenschlange, und eine chaotische Welt aus Welten arbeitet brennend und fluthend – Aber im unendlichen Himmel hängt ihre schwarze und feurige Gewitterwolke nur unbemerkt und klein, weit über und unter ihr schimmern die Sterne friedlich in ihren tausend Milchstraßen. – Vernimm weiter, Erschrockner! In der Ewigkeit kommt ein Tag, wo auch alle diese Straßen und weißen Wölkchen sich verfinstern und wo in der weiten Unermeßlichkeit nur Gewitterwolken ziehen, aus Sonnen gemacht, und wo es dämmert in der ganzen Schöpfung...“ (Paul, Jean: „Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“: in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung, Neunter Band, hrsg. v. Eduard Berend, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1933 [1801], S. 541–557, hier: S. 553) 162 Ebenda, S. 552f. 163 Ebenda, S. 554.

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Wie die vollkommen differenzlose Wiederholung der Phonographen-Stimme, so zeichnet sich auch ihr Adressat, das Kugel-Wesen, durch absolute Indifferenz aus: Der identischen Wiederholung der vom Phonographen ausgesendeten Worte vom Tode des Menschen antwortet – nichts: „dann dreht es sich über die blumenleere Wiese weiter“.

Eine schwankende Apokalyptik Die Kugel, in der alle Differenzen verschwunden sind, und ihr akustisches Pendant, die absolut identische Wiederholung einer Stimme, sind Picards Figuren für das Ende der Apokalypse, das sich nicht als differenzierte Ordnung, sondern als undifferenziertes Gemisch, als ‚chimärische Indifferenz‘ darstellt. Sie stehen für die paradoxe und begrifflich nicht einholbare Einheit un-differenzierter Heterogenität, zugleich aber auch für die Einheit von Groteske und Apokalypse. Im indifferenten Nicht-Hören des Kugelwesens gehen der groteske Impuls – seine nie endende Bewegung und seine Relativität –, und der Stillstand, der Endgültigkeits- und Absolutheitsanspruch der Apokalypse ineinander über. Was hat es nun mit dieser eigenartigen Vermischung der vermeintlich unvereinbaren Textverfahren von Groteske und Apokalypse auf sich? Und was bedeutet dies für die literarischen Strategien, die in beiden zum Einsatz gelangen? In Picards Kugel-Gesichten verschmelzen Groteske und Apokalypse, die vermeintlich unendliche Bewegung des Bachtin’schen „Körperdramas“, in dem „Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten“164 sind, und der apokalyptische Stillstand im endgültigen Tod des Menschen. Beide Textverfahren scheinen sich unvereinbar gegenüberzustehen: Ist das Groteske auf Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit, Beweglichkeit und Veränderung kultureller Formen oder Sprechpositionen ausgerichtet, so zielt die Apokalypse darauf ab, das Sprechen zu einem Ende zu bringen und Geschichte stillzustellen, sowohl den von ihr geschilderten Lauf der Zeit als auch ihre eigene Zeitlichkeit durch ein endgültiges und unverrückbares Ereignis ihrer Entscheidungsgewalt zu unterwerfen. Picards Der letzte Mensch macht deutlich, dass die einseitige Betonung des verändernden und subversiven Potentials des Grotesken sowie die Suche nach seinem historischen ‚Wesen‘ ihren historischen Transformationen nicht gerecht wird. Der letzte Mensch deckt also die Einseitigkeiten und Ontologisierungen165 der Kayser’schen, Bachtin’schen und Fuß’schen Groteske-Theorien auf – sie betreibt im wahrsten Sinne des Wortes eine apokalypsis des Grotesken. Bevor ich auf dieses Phänomen näher eingehe, möchte ich jedoch zeigen, dass Der letzte Mensch auch umgekehrt ein Licht auf die apokalyptischen Textverfahren wirft. Indem der Text beide literarische Formen ineinander verschlingt, weist er auf die Ambivalenzen und Aporien sowohl des Grotesken als auch der Apokalypse hin. 164 165

Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 359. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 164ff.

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Reaktionäre Transgressionen

Diese groteske Dekonstruktion der Apokalypse umfasst verschiedene Aspekte. So tauchen neben den dargestellten Merkmalen einer apokalyptischen Sprechposition, die exklusive und gewaltsame Geltungsansprüche vertritt, auch Passagen auf, an denen es zu einer merkwürdigen Rücknahme apokalyptischer Absolutheitsansprüche kommt. Dadurch entsteht ein Sprechen, das ich als ‚schwankende Apokalyptik‘ bezeichnen möchte, und das einen nicht unbedeutenden Beitrag zu dem eigenartigen Charakter des Letzten Menschen darstellt. Auffälligstes Merkmal dieser schwankenden Apokalyptik ist ein immer wieder auftretender Zweifel an der visionären Gewissheit der Gesichte. Er wird sprachlich markiert durch ein „Vielleicht“, wie etwa in der Vision von den Ersatzaugen für die durch die Augen-Flucht leerbleibenden Augenhöhlen. Dort heißt es zunächst: „Die Höhle hätte leer bleiben müssen, wenn man nicht ein Auge für sie gefunden hätte. Aber das Auge paßt nicht für die Höhle.“166 Diese Enthüllung wird durch eine weitere Vision fortgesetzt: Vielleicht ist das, was die Höhle füllt, gar kein echtes Auge mehr. Vielleicht ist es ein imitiertes Auge. Vielleicht hat noch irgend einer gewußt, wie einmal ein Auge ausgesehen hat, und hat es dann nachgemacht. Vielleicht hat derjenige, der in der Zeitung annoncierte, daß er fünftausend Dutzend künstliche Augen zu exportieren habe, – vielleicht hat dieser mit den künstlichen Augen die Höhlen ausgefüllt!167

Anders jedoch, als dies bei einem Seher apokalyptischer Wahrheiten zu erwarten wäre, wird dieser durch ein fünfmaliges „vielleicht“ erzeugte suspense nicht durch eine abschließende triumphale Gewissheit überwunden. Vielmehr wird die Vision fortgeführt durch ein weiteres „Vielleicht“ und mündet schließlich in zwei unbeantwortete Fragen: Ach, vielleicht ist dieser Augen-Exporteur ein großer Gütiger, der den letzten richtigen Augen erlaubt hat, aus dem Gesicht zu fliehen! Tat es ihm leid, daß das letzte richtige Auge bei einem Wesen sei, das nur so aussah wie ein Mensch? Vielleicht ist dieser Augen-Exporteur mehr als bloß ein großer Gütiger?168

Die die Vision beherrschenden „Vielleicht“-Konjunktionen und ihr ebenso markantes Enden im Frage-Modus169 stellen ein für eine apokalyptische Sprachgeste höchst ungewöhnliches Textverfahren dar. Die zu erwartende visionäre Gewissheit und die dadurch ermöglichte gewaltsame Entscheidungssituation, in die der Adressat der Apokalypse versetzt wird, bleiben jedenfalls aus. Auch dass mit „Veronika“ eine zweite, noch dazu weibliche Seher-Figur auftritt und es zu einem Dialog oder zumindest einem Austausch von Meinungen unter Sehern kommt, ist für eine apokalyptische Offenbarung ungewöhnlich. Zwar besteht das Ge166

Picard: Der letzte Mensch, S. 21. Ebenda, S. 21f. 168 Ebenda, S. 22. 169 An verschiedenen Stellen tritt in ähnlicher Weise eine Frage als Abschluss einer Vision auf und nimmt so der visionären Überzeugungsarbeit durch die Gegenüberstellung einer – im weiteren nicht mehr geklärten – Alternative ihren absoluten Anspruch: Vgl. ebenda, S. 19, 25, 27, 30, passim. 167

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spräch häufig nicht wirklich aus einem Dialog, vielmehr teilt auch „Veronika“ eher monologisch Visionen mit, die sich in Form und Inhalt zumeist mit denen des (Ich-)‚Erzählers‘ decken: „Veronika sagte zu mir: Eines Tages wird es sein, daß wir uns nicht einmal mehr erinnern können an das Wesen, das wie ein Mensch hat aussehen dürfen.“170 Dennoch bleibt die Tatsache, dass mit „Veronika“ eine zweite Visionärin auftritt, bemerkenswert. Ebenso wie durch die „Vielleicht-Motive“ und die Frage-Visionen wird damit die Einheitsperspektive der klassischen Apokalypse gebrochen; die Vehemenz und Gewalt des apokalyptischen Entblößens und des an den Adressaten gerichteten Rufs zur Entscheidung werden auf eigentümliche Weise zurückgenommen. Deutlich zeigt sich diese Rücknahme apokalyptischer Gewalt auch, wenn Picard den zentralen Mechanismus der apokalypsis, die Geste des ‚Entblößens‘ eines falschen Scheins und des ‚Aufdeckens‘ der Wahrheit, ins Leere laufen lässt. Denn die entblößende Abdeckung immer neuer „Wesens“-Schichten – im Menschen verbirgt sich das menschenähnliche Wesen, darin bzw. dahinter das „neue Wesen“ und dahinter wiederum das „allerletzte Wesen“ – mündet nicht in die Verkündung einer finalen Wahrheit, wie sie gerade die Rede von einem „allerletzten Wesen“ erwarten lässt. Denn dieses ist nicht der wahre Kern eines Prozesses, in dem Schein und Sein, Außen und Innen auseinander treten und den Blick auf eine letzte Gewissheit freigeben. Das aufgedeckte „Wesen“ entpuppt171 sich vielmehr als Versteck höchst ungewisser, nicht zu verortender „Dinge“: Was mag alles noch hinter der Haut verborgen sein! Vielleicht sind noch Dinge hinter ihr verborgen, die gar nicht zu dem neuen Wesen gehören, die überhaupt nirgendshin gehören, die nur hier sein können, weil sie nirgends anders sonst geduldet werden als hier hinter dem Hautsack neben dem neuen Wesen?172

Diese sprachlich wie topographisch nicht zu fassenden „Dinge“ verleihen Picards Text den Charakter des Uneindeutigen und Opaken, der die von der apokalypsis aufgedeckte Wahrheit wieder mit einem diffusen Schleier bedeckt und die Eindeutigkeit der apokalyptischen Perspektive bricht. Der vehemente Kampf gegen Schein und Oberfläche, gegen Mannigfaltigkeit und Vielheit der Perspektiven, den die kunstkritischen Schriften führten, wird hier transfiguriert zu einem Sprechen, das performativ die MultiPerspektivität und den Reiz diffuser Oberflächen wieder einführt, die es inhaltlich dem 170

Ebenda, S. 16. Schon in Jean Pauls kritischer Auseinandersetzung mit der Physiognomik finden sich zwei Metaphern, die Picards eigenartig unverortbares Hüllen-Wesen gleichsam präfigurieren: die Mumienund die Entpuppungs-Metapher. Während erstere vornehmlich eingesetzt wird, um die anmaßende Behauptung der physiognomischen Lektüre, eines inneren Wesens habhaft zu werden, buchstäblich ins Leere laufen zu lassen (vor allem in Die unsichtbare Loge) steht letztere für die an Lavater durchaus auch positiv anschließende heilsgeschichtliche Perspektivierung Jean Paul’scher Gesichts-Lektüren (etwa im Hesperus oder im Titan). Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 5.1 sowie Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 172–228. 172 Picard: Der letzte Mensch, S. 141. 171

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Untergang preisgeben möchte. In der Dekonstruktion der Apokalypse durch das Textverfahren des Letzten Menschen – seine kaskadenartigen Entblößungsgesten ohne Ende und Kern – treten Autorintention und Textintention173 auseinander; zugleich wendet sich damit der Text des Letzten Menschen gegen die klassischen Apokalypse-Verfahren aus Das Ende des Impressionismus. Picards Text zeugt von dem, was Derrida als „double bind“174 des apokalyptischen Sprechens und seines gewaltsamen Anspruchs bezeichnet: von der Unmöglichkeit, im visionären Sehen zugleich die Wahrheit des offenbarenden diesseitigen Sprechens und des offenbarten jenseitigen Gegenstandes zu haben, zugleich von einem immanenten ‚Hier‘ und einem transzendenten ‚Dort‘ aus zu sprechen, zugleich Empfänger und Sender der Wahrheit zu sein. Denn die Position, von der aus die apokalyptische Wahrheitsverkündung erfolgt, ist problematisch; sie schwankt, weil sie sich auf zwei unvereinbare Ansprüche stützt: Einerseits verkündet der Seher, die offenbarte Wahrheit in Form eines zukünftigen außertextuellen Geschehens visionär zu sehen – und behauptet damit, ihr immanentes (Text-)Objekt, ihr passiver Empfänger zu sein, der seine Wahrheit nicht selbst legitimieren kann. Andererseits postuliert die Apokalypse, im Sehen selbst die Wahrheit zu sein, also als Text Subjekt und aktiver Sender der Transzendenz zu sein. Auch hier ist Offb. 22,6 paradigmatisch. Denn die Einleitung – „Und er sprach zu mir“ – begründet den darauffolgend erhobenen Anspruch des Sehers, selbst wahr zu sprechen – „Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig“ – mit dem Verweis auf eine transzendente Instanz. Das Subjekt der apokalypsis ist zugleich ihr Objekt: Man weiß in der Apokalypse nicht mehr genau, wer seine Stimme [...] dem anderen leiht, man weiß nicht mehr genau, wer was an wen richtet. [...] Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht und wer schreibt, wird der Text apokalyptisch.175

Ebendiese Vermischung zwischen Subjekt und Objekt der Offenbarung, zwischen Stimme und Verkündigung sowie die Unsicherheit darüber, „wer was an wen richtet“, inszeniert Der letzte Mensch in der Phonographen-Stimme als akustische Apokalypse. Im Herzen der Apokalypse, des strengen und gewaltsamen Regimes des Sprechens, steckt also das Groteske, die Verwirrung der Stimmen zur akustischen Chimäre. Bemerkenswerterweise gehen jedoch weder Derrida noch Brokoff darauf ein, dass schon in der kanonischen Fassung des apokalyptischen Anspruchs der ‚Seher‘ eher ein ‚Hörer‘ ist. Dies hat nicht unerhebliche Folgen für die Theorie der Apokalypse, da sich damit das vor allem am Optischen herausgearbeitete neuzeitliche Subekt-ObjektModell hier möglicherweise gar nicht veranschlagen lässt. So ist im Akustischen die Möglichkeit, zugleich Sender und Empfänger zu sein – sprich: sich selbst zu hören – eher gegeben als im Optischen. 176 173

Vgl. hierzu oben S. 69. Derrida: Apokalypse, S. 10. Hervorhebung im Original. 175 Ebenda, S. 71. 176 Dem grundlegenden apokalyptischen double bind zwischen Transzendenz- und Immanenz-Position entgeht jedoch auch die mögliche akustische Identität von Sender und Empfänger nicht. Darauf 174

Apokalypse

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Auf die Unmöglichkeit des apokalyptischen Versuchs, im Sprechen die Differenz von Transzendenz und Immanenz zu überwinden, weist auch eine weitere Passage aus dem Letzten Menschen hin. Sie konstatiert, dass das Verlassen von Dialogizität und Alterität oder eine Kommunikation ohne Differenz nur aus einer göttlichen Perspektive zu denken sind: Nur Gott kann vom Himmel her fragen, Gott allein erwartet keine Antwort, nur wenn man vom Himmel her fragen kann, ist die Frage auch Antwort zugleich, nur bei den Fragen, die von Gott kommen, ist in der Frage die Antwort schon darin.177

Das aber heißt, dass dem Sprechen nur die Differenz, nur das nicht zum Stillstand kommende Schwanken zwischen verschiedenen Perspektiven, zwischen Frage und Antwort bleibt. Die Gefahren, aber auch die Aporien klassischer Apokalyptik zeigen sich in ihrem Versuch, einen solchen Stillstand gewaltsam herbeizuführen. Und auch in der Unmöglichkeit, Schein und Opazität des Textes im Text zu vernichten, manifestiert sich das unausweichliche Scheitern, auf das die apokalyptische Position absoluter Wahrheitsverkündung zusteuert. Wie bereits angedeutet, werfen die soeben dargelegten Aporien der Apokalypse ein Licht auch auf das Verhältnis von Groteske und Apokalypse und damit auf die Eigenarten des Grotesken: Beide Textverfahren berühren sich an dem Punkt, an dem sie ein Schwanken artikulieren zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Forcierung und Auflösung von Differenzen, zwischen Form und Liquidation von Formen. Das Aufgehen der grotesken in einer apokalyptischen Textform ist paradoxerweise ebenso überraschend wie naheliegend. Denn der abschreckende, negativ-didaktische Zug178 der Picard’schen Groteske legt es nahe, die groteske Gegenwelt als eine dem Untergang geweihte zu disqualifizieren und den Gegensatz der himmlischen Kosmologie zur Apokalypse zu steigern. So wie sich in der Picard’schen Apokalypse ein Schwanken zeigt, entpuppt sich seine Groteske als ein Stabilisierungsversuch. Und wie die apokalyptische Gewalt das Groteske in sich birgt, so steckt auch in der grotesken Überschreitung, Vermischung und Transformation eine machtvolle apokalyptische raison: Das Umschlagen des Grotesken in moralisierende und diskriminierende Stabilisierungsversuche spielt ja auch Nietzsches Stimme des sich selbst adressierenden und hörenden letzten Philosophen Ödipus an; und Picards akustisches Ende der Apokalypse korrespondiert dem akustischen Einsetzen der Apokalypse – „Und er sprach zu mir“ – wie es sich in der Johannes-Offenbarung findet. 177 Picard: Der letzte Mensch, S. 16f. 178 In ihrer Arbeit zu grotesken Inszenierungen des Körpers als Formen der Alteritätsbearbeitung betont auch die Arbeitsgruppe Ritual: „Differenz und Alterität im Ritual. Eine interdisziplinäre Fallstudie“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropogie, 13. Jg. (2004), Nr. 1, S. 187–249, die Ambivalenz grotesker Grenzüberschreitungen. Sie können nicht nur der Transformation und Erneuerung kultureller Formen dienen, sondern auch stabilisierend auf die bestehenden Ordnungen wirken, indem sie Prozesse der Marginalisierung oder Verächtlichmachung eines eigenen oder fremden ‚Anderen‘ verstärken oder in Gang setzen. In diesem Falle folgt das Groteske einer „Logik der Negativdidaxe“ (ebenda, S. 211).

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Reaktionäre Transgressionen

ist eine Gefahr, die dem Grotesken latent innewohnt. Indem Picards groteske Techniken nach und nach eine apokalyptische Perspektive etablieren, gehen sie als Taktiken in eine Strategie ein; dabei geht ihnen zunehmend das Unabgeschlossene verloren.

4.4 Picard vs. Bachtin. Der letzte Mensch als Beitrag zur Theorie des Grotesken Wenn Bachtin und Fuß in ihren Groteske-Theorien das Groteske per se als Gegenmodell aller essentialisierenden Formen entwerfen, entgeht ihnen der mögliche Umschlag des Grotesken ins Apokalyptische, wie ihn Picards Der letzte Mensch vorführt. Die Subversion und Liquidation festgelegter Formen und Grenzen zur unendlichen Bewegung sind ein Potential des Grotesken, aber nur eines ihrer Potentiale neben anderen. Es besitzt ebenso die Fähigkeit, Grenzen zu errichten, kulturelle Formationen und Figurationen zu stabilisieren oder Fremdes zu marginalisieren. Auf diesen Umstand und den latenten Essentialismus in Bachtins oder Fuß’ Rhetorik von Überschreiten und Vermischung, Liquidation und Transformation – der die von ihnen konstatierte Beschränktheit und den Essentialismus der Kayser’schen Groteske-Theorie nur durch einen teilweise ebenso unhistorischen wie einseitigen Essentialismus ablöst – wird in der deutschen Groteske-Forschung zu wenig hingewiesen.179 Bemerkenswert ist dabei, dass die drei Groteske-Theoretiker die Ambivalenzen durchaus bemerken, sie dann jedoch wieder fallen lassen. Schon Bachtin weist durchaus auf die Ambivalenzen grotesker Strukturen hin. Als deren Fokus macht er jedoch nicht eine wie auch immer geartete Gegenordnung zur bestehenden Ordnung aus, die sich potentiell zu einer neuen Ordnung stabilisieren kann, sondern die Bewegung der Veränderung selbst. Das negativ-didaktische, d. h. ordnungsstabilisierende oder – restaurierende Potential von Grotesken droht demgegenüber in Vergessenheit zu geraten. Fuß betont einerseits zwar, dass konservative Momente der Stabilisierung und Institutionalisierung von Formen sowie subversive oder progressive Momente der Liquidation und der Entstehung von Kreativität – die sich in der Errichtung neuer Formen äußert – ineinanderspielen und zusammengehören. Dem Grotesken als Prozess der Ausschließung und Marginalisierung (eines „eigenen“ oder „anderen“ Fremden) kommt eine 179

Eine Ausnahme bildet Foellmer, Susanne: Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre, Bielefeld: transcript, 2006. Sie plädiert nicht nur für eine Relektüre Kaysers, die über das Schlagwort von der Groteske als einer „entfremdete[n] Welt“ hinausgeht und innovative Aspekte seiner vielfältigen Theorie (wieder)entdeckt. Indem sie im Zusammenhang mit der Bachtin’schen Überschreitung von Körpergrenzen auf die Dimension des Fremden bei Kayser verweist, rückt sie letzteren zurecht auch „näher an Bachtin heran als dies in der bisherigen Forschungsgeschichte angenommen wurde“ (ebenda, S. 116).

Picard vs. Bachtin. Der letzte Mensch als Beitrag zur Theorie des Grotesken

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Ordnungsfunktion zu: „Das Groteske ist ein Grenzphänomen. Es markiert die synchronen und diachronen Grenzen einer Kulturformation“180. Andererseits tritt innerhalb der Fuß’schen Theorie diese Ordnungsfunktion des Grotesken jedoch hinter seine Transformations- und Liquidationskraft zurück. Dabei knüpft Fuß an die klassischen, v. a. literaturwissenschaftlich orientierten Theoretiker des Grotesken – Schneegans, Kayser, Pietzcker, vor allem aber Bachtin – an. Wie letzterer sieht auch Fuß das Groteske primär als Phänomen der Veränderung, es „gehört ins Register des Werdens, nicht in das des Seins. Die grotesken Gestalten sind imaginäre Gestalten des (Anders-)Werdens, nicht des (Identisch-)Seins.“181 Und wie Bachtin nimmt Fuß das Groteske als ein Phänomen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, als „ein Medium der Transformation kultureller Formationen“182 in den Blick – schon Bachtin hatte ja die sozialen Funktionalisierungen des grotesken Körpers betont, indem er auf die „Verbindung zwischen der Zerstückelung des Körpers und der Gliederung der Gesellschaft“183 hinwies. Fuß’ Tendenz, dem Grotesken per se eine kulturell progressive Funktion zuzusprechen und ein progressives Potential damit zur Funktion zu ontologisieren, ist jedoch problematisch, wie meine Analyse grotesker Elemente in Picards Werk zeigt. Diese einseitige Festlegung einer – wie Fuß selbst unermüdlich betont – sich der Festlegung widersetzenden literarischen Tradition auf eine bestimmte Funktion findet sich ebenfalls schon bei Bachtin, der dem Grotesken ein utopisches Moment zuspricht. Auch er beharrt auf der subversiven, kreativen und nicht stillzustellenden Funktion grotesker Phänomene: Bei Bachtin ist ihr Sinnbild die Bewegung des ewigen Radschlagens184, bei Fuß das Chimärische, das Textstrukturen, Rezeptionsprozesse, soziale Ordnungen und groteske Objekte zu ambivalenten Strukturen vermischt. Fuß charakterisiert das Groteske noch allgemeiner, als dies in der Definition seiner Vorläufer geschieht, die ins Zentrum ihrer Arbeiten die Analyse von Produktions- oder Rezeptionsmustern – moralischen bei Schneegans, epistemologischen bei Kayser, gesellschaftlich-normativen bei Pietzcker – stellen oder – wie Bachtin – leiblichmaterielle Motive und die Vermischung volkstümlicher und hochkultureller KulturFormen untersuchen. Eine groteske Struktur weisen nach Fuß all jene Phänomene auf, die innerhalb einer Kultur Momente „von Ununterscheidbarkeit und Unbestimmtheit“185 erzeugen. Dadurch wird „das Groteske“186 zu einer 180

Fuß: Das Groteske, S. 12. Ebenda, S. 20. 182 Ebenda, S. 13. 183 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 394. 184 „[D]as ‚Grundphänomen‘ [...] ist das Radschlagen, d. h. das dauernde Verlagern des Oberkörpers nach unten und wieder zurück oder, was äquivalent wäre, das ständige Umplatzieren von Himmel und Erde.“ (ebenda, S. 396, Hervorhebungen im Original) 185 Fuß: Das Groteske, S. 12. 186 Zur Unterscheidung zwischen dem Grotesken – als Struktur eines Wahrnehmungsaktes – und der Groteske – als ihrer Darstellung in einem (künstlerischen) Werk vgl. Pietzcker: „Das Groteske“, S. 199, Fuß: Das Groteske, S. 11, Fußnote 1. 181

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Struktur, die es gestattet, auch nicht primär ästhetische Phänomene grotesk zu nennen, soweit sie diese Struktur aufweisen [...]. Dies ist die konstruktive Kernparadoxie des Grotesken: Es ist Teil jener Ordnung, deren (immanente) Dekomposition es betreibt. Es ist zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation. [...] In einer Geste des Ausschlusses konstituiert und etabliert sie [die Kultur, K. L.] ihre Grenzen. Umgekehrt forciert die Rezentrierung des Marginalisierten im Grotesken ihre Liquidation und Transformation.187

Zwar werden auf der einen Seite die Partizipation des Grotesken an kulturellen Ordnungen sowie ihre Grenzen konstituierende und ihre ausschließende Funktion registriert, doch treten diese zugleich hinter der grenzüberschreitenden Kraft der Dekomposition zurück. Fuß bündelt die soziokulturelle Struktur des Grotesken im Begriff der „forcierten Liquidation“, die die Verflüssigung sozialer Strukturen und Institutionen betreibt: Ihre Elemente und deren Relationen werden – wenn auch nur partiell – zerstört und damit als liquide, d. h. für neue Strukturen verfügbar gewordene Elemente 188 anderen Figuren zugeführt, die sich dann wieder zu (Re-)Figurationen verfestigen können. Die „Forcierung“ meint sowohl das „Erzwingen“ wie das „Beschleunigen“ von Transformationen, verweist also darauf, dass das Groteske als aktives Moment kulturelle Veränderung erzwingen kann, ebenso aber auch auf bereits vorhandene Prozesse reagiert, indem es sie beschleunigt. Die von Fuß vorgenommene weite ‚Definition‘ des Grotesken bietet zwar den Vorzug, gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhänge als eine zentrale Dimension des Grotesken einzubinden. Sie geht jedoch in ihrer kulturanthropologischen Allgemeinheit an einigen Stellen so weit, dass historisch und sozial spezifische Phänomene aus dem Blick geraten. Zwar vermerkt Fuß im Anschluss an Pietzckers Charakterisierung des Grotesken als einer Erwartungsenttäuschung, dass „die Abhängigkeit des ‚Erwartungshorizonts‘ von soziohistorischen Faktoren, von den in einer kulturellen Formation üblichen Kategorien und Normen, hervorzuheben“189 ist. Die geforderte Spezifik historischer Diskurskonfigurationen und sozialer Felddynamiken, wie sie eine solche Abhängigkeit impliziert, wird in seinen Analysen jedoch meist nicht eingeholt. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass sowohl Fuß als auch Bachtin eine besondere Nähe grotesker Phänomene zu Krisen- und Umbruchszeiten konstatieren. Bachtin zieht einen Zusammenhang zwischen Groteske und Eschatologie, wenn er groteske Motive wie den Sternenhimmel, die Materialmasse der Berge, das Meer, kosmische Umwälzungen und Naturkatastrophen als Ausdruck eines „Kampf[es] gegen die kosmische Angst und die Eschatologie“190 deutet. Neben die Essentialisierung kultur- und soziohistorischer Prozesse tritt insbesondere bei Bachtin die des Körpers. Wie die groteske Rolle der Augen in Der letzte Mensch 187

Fuß: Das Groteske, S. 11ff. Fuß spricht auch von „Magmatisierung“ (ebenda, S. 157ff.). 189 Ebenda, S. 82. 190 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 382. 188

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verdeutlichte,191 betreibt Bachtin eine Ontologisierung des Körpers und seiner Grenzen, wenn er Organen oder Gliedmaßen per se groteskes Potential zu- oder abspricht: Als Teile des Gesichts spielen in der grotesken Körperkonzeption nur Mund und Nase eine wesentliche Rolle. Kopfform, Ohren und auch die Nase erhalten erst dadurch grotesken Charakter, daß sie tierische Formen oder die Form irgendwelcher Gegenstände annehmen. Die Augen dagegen besitzen überhaupt keine Bedeutung. Sie drücken das individuelle und sozusagen innere Leben des Menschen aus, das für das Groteske irrelevant ist: Die Groteske interessiert sich allenfalls für die vorstehenden Augen.192

Mit der Geringschätzung der grotesken Bedeutung von Gesicht und Augen wird Bachtin vielleicht zum Opfer seines – als Provokation durchaus produktiven – Begriffes des „grotesken Realismus“: Die groteske Überschreitung von Körpergrenzen, das unauflösliche Ineinander von Essen (bzw. Fressen) und Gefressenwerden, von Leben und Tod, möchte Bachtin nicht als abstrakte Ausgeburten der Phantasie, sondern als reale, aus dem Kanon der klassischen, „hohen“ Kultur ausgeblendete Phänomene darstellen, die ebensowenig wie die Bilder des geschlossenen Körpers in der Dichotomie RealitätFiktion aufgehen. Und vor diesem Hintergrund etabliert Bachtin seine – umgekehrte – BedeutungsHierarchie grotesker Körperteile, innerhalb derer Bauch und Phallus „das Zentrum des grotesken Körpers“ bilden, die „nächstwichtige Rolle“ dem „Mund, der die Welt verschluckt“ zukommt „und dann der Hintern“ folgt, „denn all diese Ausstülpungen und Öffnungen zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen die Grenze zwischen zwei Körpern oder Körper und Welt überwunden wird.“193 Diese Hierarchie erzeugt jedoch implizit das Bild eines natürlichen oder ahistorischen, weil nicht geschichtlich relativierten Körpers. Demgegenüber ist zu betonen, dass gerade das Groteske immer nur von einer kulturell geprägten ‚Natur‘ des Körpers handeln kann: Was das Groteske vermischt, sind die kulturellen Raster, die die Natur des ‚natürlichen Körpers‘ als unhinterfragbar erscheinen lassen.194 Dann aber lassen sich keine Körperteile als per se weniger grotesk ansehen; vielmehr können gerade die glatten, abgeschlossenen und oberflächlichen ‚Naturen‘ des Körpers, „der fertige, streng begrenzte, nach außen verschlossene, von außen gezeigte, unvermischte und individuelle ausdrucksvolle Körper“195 ein groteskes Potential entwickeln, wenn hier eine unerwartete, weil ‚unnatürliche‘ Grenzüberschreitung stattfindet. Und gerade dieses Potential kommt bei Picard zum Vorschein, wenn das Auge sich mit Fett anfüllt, um sich andere Körperteile einzuverleiben,196 oder zum Verschlinger von Mund und Kirchturm wird.197 191

Vgl. oben S. 136ff. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 358. Hervorhebungen im Original. 193 Ebenda, S. 158f. 194 Darauf weist auch Fuß hin. Vgl. Fuß: Das Groteske, S. 60f. 195 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 361. Hervorhebungen im Original. 196 Vgl. oben S. 135f. 197 Vgl. oben S. 138. 192

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Liest man Bachtin also mit Bachtin, so muss man ihm entgegenhalten: Nicht notwendigerweise „ignoriert die künstlerische Logik des grotesken Motivs die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-)Fläche des Körpers [...], die den Körper abschließt und als einzelnen und vollendeten begrenzt.“198 Denn dadurch würde sie ja die Dichotomie geschlossene Körperoberfläche – Körperöffnungen stabilisieren, indem sie diese akzeptiert und ihre topologischen wie moralischen Hierarchien einfach umdreht. Das aber wäre Satire und gerade nicht Groteske.199 Wie die Groteske-Theorien von Fuß und Bachtin leidet aber auch die von Kayser an einer Einseitigkeit: Essentialisieren erstere die Prozesse der schöpferischen Groteske, der Liquidation und Transformation, die Bejahung des Wandels und das ‚Radschlagen‘ der Geschichte, so gilt dies bei Kayser für das Grauen, das Entsetzen und die Entfremdung der Lebenswirklichkeit, die den Menschen angesichts seiner eigenen Geschichte erschrecken und zurückweichen lassen. Die Kontroverse darum, ob das Groteske dem Grauen und dem Tragischen oder dem Komischen, der Realität oder dem Phantastischen, dem ewigen Wandel oder der Entfremdung zuzurechnen ist, ignoriert die von allen Autoren betonte Bedeutung der Vermischung: Denn das Groteske zeichnet sich dadurch aus, dass es – je nach historischem und soziokulturellem Kontext – Mischungsverhältnisse aus all diesen Aspekten erstellt. Ihr Reiz, ihre Faszination erwachsen erst aus dem das Aufeinandertreffen dieser widerstreitenden Aspekte. So räumt auch Kayser ganz am Ende seiner Theorie ein, dass sich im Grotesken angesichts all des von ihm unermüdlich betonten Grauens das Leben nicht nur als verdrängte Angst zeigt, sondern dass das Groteske sich auch durch ein ihm eigenes Lächeln auszeichnet: Von [...] Freiheit und Heiterkeit ist in vielen Grotesken nichts mehr zu spüren. Aber wo die künstlerische Gestaltung gelungen ist, da huscht es wie ein kleines Lächeln über das Bild oder die Szene [...]. Das Dunkle ist gesichtet, das Unheimliche entdeckt, das Unfaßbare zur Rede gestellt. Und so ergibt sich eine letzte Deutung: die Gestaltung des Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören.200

Auch hier wird nochmals deutlich, dass die Groteske-Theorien die Ambivalenzen sehr wohl sehen – ihre Einseitigkeiten liegen in der Ausarbeitung und Gewichtung der widerstreitenden Aspekte. Die verschiedenen Ansätze eint der Versuch, trotz aller Ambivalenzen ein Wesen des Grotesken auszumachen – eigenartig genug, sind sie sich doch zumindest darin einig, dass das Groteske Identitäten und Wesenhaftes auflöst. Das Groteske lässt sich nicht als Wesenhaftigkeit beschreiben, denn es handelt sich um ein Potential, das in diverse historische Praktiken (Literatur, Bildkunst, etc.) ein198

Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 359. Mit einer Kritik an der Verwechslung von Satire und Groteske, wie sie der Groteske-Theorie von Heinrich Schneegans zugundeliegt, setzt bekanntlich Bachtins Auseinandersetzung mit der grotesken Körperkonzeption ein. Vgl. ebenda, S. 345ff. 200 Kayser: Das Groteske, S. 202. 199

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geht. Als historisches Potential aber lässt es sich nicht festlegen auf bestimmte Aspekte, sondern erscheint in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Und wenn Picard (wie manche seiner Zeitgenossen) der Groteske apokalyptische Züge verleiht, dann geschieht dies nicht zufällig: Der 1. Weltkrieg, aber auch andere soziokulturelle Kontexte spielen hier hinein – gesellschaftliche Desintegrationphänomene und an sie anschließende Krisendiskurse im allgemeinen und die (Dauer-)Krise der Intellektuellen und Literaten im speziellen, literarische Traditionen, ökonomische und politische Kämpfe. Die hier vorgenommene Kritik der Groteske-Theorien von Bachtin, Fuß und Kayser berührt sich in manchem mit der höchst anregenden Kritik von Peter Stallybrass und Allon White – zwei dem New Historicism entstammenden Autoren – am Begriff der transgression.201 Wie Fuß, Bachtin und Kayser unterstreichen auch sie die Ambivalenz und das Prozessuale des Grotesken. Sie zeigen jedoch, dass das einseitige Insistieren auf der transgressiven Macht des Grotesken dazu verleitet, in der zerstörerischen Überschreitung fixierter Differenzen (von Körpern, kulturellen Formationen, literarischen Formen) eine neue – genaugenommen jedoch alte – Differenz festzuschreiben. Indem die Transgression als produktiver Akt, die überschrittenen Grenzen dagegen als passive Materie, als kulturelle Essenz, erscheinen, droht der Aspekt des (produktiv) Zerstörerischen und der Dynamisierung kultureller Formen jedoch gerade im Bezug auf die Grenzen aus dem Blick zu geraten: Die kulturelle Kraft der „Liquidation“ wird tendenziell allein der Überschreitung zugeschrieben; die Grenzen dagegen werden essentialisiert, ihre historische Gewordenheit – und ihr stets aktuelles Werden – verleugnet. Stallybrass schlägt daher vor, die theoretische Perspektive von der Überschreitung (transgression) auf die Poetologie der Grenze zu verschieben: I emphasize boundaries because I have come to believe that the concept of transgression is liable to smuggle in the notion that boundaries are somehow just there, waiting to be transgressed. On such a view, transgression remains a secondary and, in the most literal sense, reactionary move. But boundaries themselves have to be constructed202.

In Anlehnung an Wittgenstein und Nietzsche verdeutlicht Stallybrass die Bedeutung der Grenze und ihren Konstrukt-Charakter anhand des Sehens-Prozesses. Die aktive Tätigkeit des Blickes errichtet im optischen Wahrnehmungsprozess ihre eigenen physischen und sozialen Begrenzungen: Da ist zunächst die Unmöglichkeit, einen Standpunkt außerhalb unserer selbst einzunehmen; sodann die Schwierigkeit des Versuchs, Grenzen [boundaries] sichtbar zu machen203 und schließlich der Umstand einer erlernten und inkorporierten Gewohnheit: „[T]he aspects of things that are most important for us are hidden because of their simplicitiy and familiarity.“204 Die Nähe dieser Grenzen 201

Vgl. Stallybrass und White: The politics and poetics of transgression, Stallybrass: „Boundary and Transgression. Body, Text, Language“. 202 Stallybrass: „Boundary and Transgression“, S. 10. 203 Vgl. ebenda, S. 11. 204 Ebenda.

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zum Bourdieu’schen Begriff der illusio – der die Grenzen sozialer Klassen und Felder produziert und kontrolliert – liegen auf der Hand; aber auch die Ambivalenzen, Beschreibungen und (Selbst-)Täuschungen des „Sehers“ und seiner Gesichte, wie sie in Der letzte Mensch zur Darstellung kommen, lassen sich mit diesen Überlegungen in Zusammenhang bringen. Stallybrass legt die Arbitrarität des vermeintlich „Ursprünglichen“ bloß, indem er auf den etymologischen Reichtum der von ihm fokussierten „boundaries“ verweist. Anders als die relativ eng gefasste – weil als Fremdwort eingeführte und zum ‚festen‘ Fachbegriff gewordene – „transgression“ umfasst der der „boundary“ zugrundeliegende Wortstamm „bound“ ein breites etymologisches Spektrum, das von „Grenze“, „Limit“ über „schwanger“ und „festgebunden“ bis zum „Sprung“ (bounce) reicht. In der Grenze selbst, der „boundary“, steckt also immer auch die Bewegung, der (Ur-)Sprung (bounce), der die Grenze überhaupt erst erzeugt, indem er zwischen Positionen hin- und herspringt und so einen Raum für Grenzziehungen oder Überschreitungen eröffnet. Der von mir herausgearbeitete Zusammenhang zwischen grotesken und apokalyptischen Verfahren in Der letzte Mensch lässt sich im Sinne der von Stallybrass und White vorgebrachten Kritik verstehen. Bei Picard zeigt sich, wie die Liquidation kultureller Muster nicht nur der Zerstörung und Überschreitung bestehender Grenzen dienen kann, sondern sich selbst als Mechanismus entpuppt, der neue, ja endgültige Grenzen zu ziehen versucht. Wie Groteske und Apokalypse, so stehen hier auch ‚neue‘ und ‚allerletzte‘ Wesen in enger Verwandtschaft.

5 Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Die Aufladung der literarischen Produktion mit sozialer Energie, die die Praktiken der Schriftsteller zu Interventionen in soziale und kulturelle Felder macht, verläuft über Themen, Gegenstände und poetologische Mechanismen, die sich erst durch eine Kontextualisierung in ihrer historischen Umkämpftheit erweisen. Konnte man die bisherige Auseinandersetzung mit dem Letzten Menschen als Dekonstruktion der grotesken und apokalyptischen Textverfahren verstehen, so gilt es nun also, das Werk als Positionierung zu konstruieren. Dabei sind die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten grotesken und apokalyptischen Verfahren sowie die in diesem Zusammenhang begegnenden Themen und Figuren von Bedeutung – denn sie sind nicht nur im Hinblick auf eine textnahe Lektüre relevant, sondern eröffnen auch aufschlussreiche Perspektiven auf die sozialen Kontexte und damit die Positionierungen des Picard’schen Frühwerks. Sowohl thematisch als auch poetologisch lässt sich die im Zusammenhang mit der Groteske analysierte Spannung zwischen Oberfläche und Tiefe oder Außen und Innen durch Kontextualisierung als soziale Positionierung lesbar: Picards Textverfahren und implizite Poetologien tragen Merkmale eines von avantgardistischen Autoren (wie Benjamin, Kracauer oder Jünger) propagierten ‚Neuen Sehens‘ – auch wenn jener andere Konsequenzen aus den aufgeworfenen Problemen zieht als diese. Und auch in thematischer Hinsicht erweist sich das Spannungsfeld GroteskeApokalypse als historisch variables strategisches Potential, das – etwa in der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg oder dem technisch-industriellen Fortschritt – in der Weimarer Zeit für höchst unterschiedliche soziale und politische Positionierungen eingesetzt wird. Picards literarische Praxis lässt sich als Versuch einer avantgardistischen Positionierung im Umfeld des Expressionismus verorten – trotz einer zunehmenden kritischen Distanz. Verwandtschaften mit der Literatur des Expressionismus werden auch auf anderen Themenfeldern deutlich: Der ohnmächtige oder ‚besessene‘ Körper, die Sehnsucht nach Einheit und Komplexitätsreduktion durchziehen nicht nur den Letzten Menschen, sondern bilden auch zentrale Motive wichtiger zeitgenössischer Werke.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

5.1 Gesichte im Kontext (I). Hüllen, Fragmente und Neue Seher Für die soziale Kontextualisierung literarischer Praktiken spielen nicht nur literarische Formen oder Themen und deren Bearbeitung eine Rolle, sondern auch Textverfahren und poetologische Phänomene. Das für die grotesken wie physiognomischen Hermeneutiken des Körpers zentrale Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, Schein und Sein, oder weniger emphatisch, von Außen und Innen – auf das in der im vorangegangenen Kapitel vorgenommenen Textanalyse des Letzten Menschen ausführlich eingegangen wurde – ist ein Topos, dem für die Positionierung der Intellektuellen in der Weimarer Zeit und damit für die Beurteilung des Picard’schen Werkes große Bedeutung zukommt. Dies erscheint zunächst kaum verwunderlich, zeichnet doch die Transgression von Körpergrenzen – und damit das Verhältnis Innen und Außen – das Groteske in unterschiedlichen historischen Zeiten aus. Doch es zeigt sich gerade an Begriffen wie dem der ‚Oberfläche‘, dass die Gegenstände literarischer Praktiken oft erst durch historische Umstellungen ihre Brisanz und Energie gewinnen. Der „epistemologische[.] Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“1 unterliegt im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts einer auf soziale Prozesse zurückgehenden Veränderung; Heiko Christians hat darauf hingewiesen, dass dabei die Diskursivierung der Oberfläche von entscheidender Bedeutung ist. Er diagnostiziert eine Konjunktur physiognomischer Diskurse zwischen 1910 und 1925, die er als Reaktion auf und Intervention in eine epistemologische Konkurrenz deutet. Weil die in dieser epistemologischen Konkurrenz eingesetzten Strategien eines „Neue[n] Sehen[s]“ 2 auf nichts Geringeres abzielen als auf die Wahrung der hermeneutischen Vormachtstellung der literarischen Avantgarde unter veränderten kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, lässt sich Christians Analyse auch für die Auseinandersetzung mit der sozialen Konkurrenz des intellektuellen Feldes fruchtbar machen. Die folgende Analyse der Umstellung und Neupositionierung physiognomischer Topiken wird sich an seiner Darstellung orientieren, weil sich an ihr sehr präzise die Verfahren nachverfolgen lassen, in denen sich die Profilierung und Eroberung der Position einer literarischen Avantgarde zwischen 1910 und 1925 artikuliert. Und wie ich dabei – gegen die von Christians vorgenommene Picard-Lektüre – zeigen werde, erweist sich Picards Der 1

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So der Untertitel des Aufsatzes von Heiko Christians: Christians, Heiko: „Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74. Jg. (2000), Nr. 1, S. 84–110. Vgl. zum Folgenden auch Lethen, Helmut: „Neusachliche Physiognomik. Gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen“, in: Der Deutschunterricht, 49. Jg. (1997), Nr. 2, S. 6– 19. Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 84.

Gesichte im Kontext (I). Hüllen, Fragmente und Neue Seher

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letzte Mensch als literarische Intervention, die sich im Sinne dieser avantgardistischen Position und ihrer Prämissen, Verfahren und Deutungsansprüche positioniert. Das Neue Sehen verarbeitet und literarisiert die gesellschaftlichen Umbrüche von Weltkrieg und sozialer Revolution, aber auch einschneidende Neuerungs- und Wandlungsprozesse im Bereich der Medientechnik. Und es reformuliert den sozialen Deutungs-Anspruch der schreibenden Zunft angesichts veränderter gesellschaftlicher Konstellationen. Gemeinsamer Nenner ist dabei die Diagnose einer fragmentierten Wirklichkeit und des Verlusts einer gesicherten Relation von Außen und Innen, Hülle und Kern, Schein und Sein bzw. Täuschung und Wahrheit, wie sie der „Schrecken der ungewissen Zeichen“3 heraufbeschwört. Unterschiedliche Autoren etablieren auf Basis dieser Diagnose eine neue Position avantgardistischer Hermeneutik, die sich zugespitzt wie folgt formulieren lässt: In einer Umkehrung klassischer Topiken der Physiognomik wird die Deutung eines Äußeren durch einen dahinterliegenden Kern sowie die Erklärung des Teils durch das umfassende Ganze ersetzt durch eine neue Orientierung der Lektüre. Deren eigentliches Zentrum bilden nun gerade die Elemente, denen zuvor im Zuge einer einheitlichen und stabilisierenden Interpretation nur eine untergeordnete Rolle zugekommen war: die Oberflächen mit ihren unkontrollierten und kontingenten Bewegungen, sowie das vereinzelte Detail. Die Physiognomik als Disziplin der Deutung von Oberflächen und Teilen erweist sich dabei als Diskurs von sehr umfassender Ausrichtung, die weit über die Kunst der Gesichtsdeutung im engeren Sinne hinausgeht. Drei Diskursfelder sind es vor allem, in die das Neue Sehen interveniert: Die Verhandlungen um den epistemologischen Ort neuer Medientechniken (v. a. des Films und der Photographie), die traditionelle literarische Hermeneutik (und ihre ebenso traditionellen Aporien) sowie die soziologische Deutung und Diagnose kultureller und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Die Re- und Neuformulierung einer hermeneutischen Position ist zunächst untrennbar mit der Frage nach den ‚neuen‘ visuellen Medien der Photographie4 und des Films verwoben. Denn die modernen Physiognomiker wie Benjamin, Kracauer, Jünger oder Simmel inszenieren ihren eigenen Blick als den eines Kamera-Auges, das die Fragmentiertheit ihrer Objekte und deren Details registriert; die Bewegtheit und Oberflächlichkeit der visuellen Wahrnehmung gewinnen dadurch einen neuen Sinn, dass die ehemals hinter oder unter den materiellen Oberflächen (von Körpern, Gesichtern, Signifikanten, Texten) in der ‚Tiefe‘ verborgen liegenden Bedeutungen jetzt nicht mehr im Kern, sondern im Außen zu suchen sind. 3

4

Barthes, Roland: „Rhetorik des Bildes“: in: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 28–46, hier: S. 35. Den von Barthes eher ahistorisch gebrauchten Ausdruck wendet Lethen: „Neusachliche Physiognomik. Gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen“ treffend auf die Weimarer Zeit an. Natürlich ist die Photographie nicht mehr wirklich neu; aber die Entwicklung der technischen Reproduktionsmöglichkeiten (etwa durch das Negativ-Positiv-Verfahren) führt zu einem Aufschwung der Photographie als Massenmedium.

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In zwei Schritten erfolgt dabei die Einbindung von Photographie und Film in den physiognomisch-hermeneutischen Diskurs: Die technische Aufnahme ist zunächst das Paradigma einer zeitgemäßen modernen Wahrnehmung. Indem sie zeitliche Zäsuren setzt, gliedert sie das Kontinuum der Wahrnehmung in eine Reihe von (Bild-) Ausschnitten: Die epistemologische Registrierung der Wirklichkeit nimmt sich das Kameraauge zum Vorbild – ein Paradigma, das die Zerstörung der herkömmlichen (literarischen) Wahrnehmungs- und Deutungsschemata mit sich bringt. Die Stücke, Ausschnitte, Details (oder ‚Teile‘) eines ambivalenten Geschehens (Veränderung als Zerstörung) ordnen sich nicht um ein ganz bestimmtes Sinnzentrum, einen ‚Kern‘, fügen sich zu keinem klar konturierten ‚Ganzen‘. Die Teile bleiben in Bewegung und können selbst, jedes für sich, zum kurzzeitigen Zentrum avancieren.5

Doch kann der Literat nicht bei dieser Position stehenbleiben, will er nicht seine soziale Funktion der Interpretationshoheit kampflos an die Agenten der neuen Medien abtreten. Zwar sieht Carl Sternheim 1917 in Gottfried Benns Selbstaufgabe an die fragmentierte Dingwelt so etwas wie den Inbegriff des literarischen Auftrags: Spürend, jedes irdische Ding enthält viel mächtigere Schwellung, üppigere Vermischung, als der durch ein Wort geprägte Begriff von ihm fassen kann, sucht er jedes Atom vielmehr in seiner ganzen ursprünglichen Fülle und Unabhängigkeit von logischen und wertenden Zwängen des Menschenwillens uns nah zu bringen, indem er es in seine Regenbogenfarben zerspellt und sich und uns in den Rausch einer Zusammenhangsentfernung hineinreißt.6

Und prägnant formuliert Siegfried Kracauer: „Das Ganze ist zerstückelt, und ein Verdacht richtet sich wider seine Einheit.“7 Im „Verdacht“ gegen die Einheit und in der Absage an die „logischen und wertenden Zwängen“ verbirgt sich allerdings mehr als das scheinbar nüchterne Registrieren der atomisierten Dingwelt und ihrer Bewegungen. Das Ausrufen einer neuen, fragmentierten und oberflächlichen Wirklichkeit ist die eigentliche Pointe einer Operation, die dem Intellektuellen die Deutungsmacht retten soll: „Die Photographie ist [...] das Medium der (uninspirierten) Teile, denen der Autor-Physiognomiker zur Seite springt, um sich zu behaupten“8. Die Deutung resigniert also nicht angesichts der verlorengegangenen Ganzheiten und Sinnkerne, Werte und Wesenheiten; deren Verlust wird vielmehr als neues Orientierungsschema der Lektüre ausgerufen: Anstelle von Werten und Wesenskernen sind es nun die kulturellen und medialen Dynamiken von Oberflächen, auf die sich die hermeneutische Aufmerksamkeit richtet. Doch bedeutet dies keinen Abschied von der Hermeneutik, sondern vielmehr ihre Rettung durch eine topologische Umkehrung und Neuausrichtung. 5 6 7 8

Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 85. Sternheim, Carl: „Kampf der Metapher!“, in: Berliner Tageblatt, 25. Juli 1917. Kracauer, Siegfried: „Stehbars im Süden“: in: Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Berlin: Das Arsenal, 1987 [1926], S. 50–51, hier: S. 50. Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 98.

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Picards Diagnose eines menschenähnlichen Wesens, das ganz Hülle ist, und in dem sich weitere Hüllen-Wesen verbergen, ohne dass das Ganze einen Kern in sich trüge, registriert das Fehlen von Ganzheiten oder Sinnkernen und rückt – in Übereinstimmung mit den Positionen des Neuen Sehens – ihren Verlust ins Zentrum der Deutung. Die zunehmende Ausdehnung in die Breite und die Fläche, wie Picard sie etwa am Mund oder der Großstadt diagnostiziert, gehorcht der Inversion der hermeneutischen Topiken von der ‚Tiefe‘ des (Innen-)Raums in die (Ober-)Fläche des (Film-)Mediums. Menschen und Objekte werden konsumierbar für die große Kugel, die auf ihrer Oberfläche die ins Zweidimensionale überführten Leinwandgestalten des Kinos versammelt: „[D]ort in dem Kino wird die große Kugel gebildet!“9 Der Blick des Kameraauges geht also ein in den klassischen Blick des grotesken und apokalyptischen ‚Sehers‘ und erlaubt, die Überlegenheit eines phyisognomischen Blick zu wahren, der mehr sieht als andere.10 Er muss dabei zwar auf die klassischen Fixierungen von Sinn und Charakter verzichten, vermag aber dennoch über die nur scheinbar sachlich und nüchtern registrierte Wirklichkeit hinauszugehen – gerade indem die Deutung sich an Vagheiten, Bewegungen und Zerstörungen orientiert und ihre Befunde danach ausrichtet: Hinter den Oberflächen tun sich „Hohlräume“11 auf, die sowohl eine sinnentleerte Gegenwart als auch die Notwendigkeit oder das Bevorstehen eines neuen Aufbruchs zu diagnostizieren erlauben. Picards Blick richtet sich auf solche semantischen „Hohlräume“, die von Wesen ohne Wesenskerne bevölkert sind, aus denen der Sinn entschwunden ist und in deren Bruchstellen der Seher nur noch die vagen, ungerichteten Bewegungen der modernen Sinnkrise aufdecken kann. Was mag alles noch hinter der Haut verborgen sein! Vielleicht sind noch Dinge hinter ihr verborgen, die gar nicht zu dem neuen Wesen gehören, die überhaupt nirgendshin gehören, die nur hier sein können, weil sie nirgends anders sonst geduldet werden als hier hinter dem Hautsack neben dem neuen Wesen?12

Ganz ähnlich diagnostiziert Benjamin in seiner Auseinandersetzung mit dem „destruktiven Charakter“ eine Indifferenz gegenüber den von Menschen und Objekten eingenommenen Orten und eine Kontingenz der den Raum bevölkernden Wesen und Dinge: 9 10

11

12

Picard: Der letzte Mensch, S. 199. Schon Lavater rief den Lesern seiner Physiognomischen Fragmente zu: „Also – Was soll ich sagen? Was soll ich thun? Physiognomik wissenschaftlich machen? Oder nur, den Augen rufen zu sehen? Die Herzen wecken, zu empfinden? Und dann hier und dort, einem müßigen Zuschauer [...] in’s Ohr sagen: ‚Hier ist was, das auch du sehen kannst. Begreif nun, daß andere mehr sehen!‘“ (Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 55) Was Kracauer für die Städte des Mittelmeers diagnostiziert, steht stellvertretend für die moderne Stadt: Die kinoartigen Bilder, zu denen die moderne Wahrnehmung die Eindrücke formt, sind „das geordnete Leben nicht mehr. Sein Zusammenhang wird in dem Traumbildstreifen zerstört, der lückenhaft ist. Aus den Hohlräumen mögen die sonst verdeckten Gehalte aufsteigen“ (Kracauer: „Stehbars im Süden“, S. 50). Picard: Der letzte Mensch, S. 141.

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Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen. [...] Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff.13

Die Veränderungen des hermeneutischen Sehens sind dabei weitaus mehr als ein passives Registrieren der „Dinge“, mehr als eine Reaktion auf mediale (und andere) Umbrüche und Leerräume. Sie etablieren ein eigenes, aktives poetologisches Programm, welches auf einen mit den Figuren der Phantastik, des Grotesken, der Fiktion vertrauten Akteur angewiesen ist – auf den dem Alltag enthobenen, ort- und ruhelosen Literaten oder Künstler. Die „negativ surrealistische Logik macht das Erwachen aus dem Albtraum Alltag zur Erkenntnisvoraussetzung für die im poetischen Literaturtraum [...] präsente wirkliche Wirklichkeit.“14 Ganz in diesem Sinne bestimmt Mynona auch die Aufgabe der Groteske: Sie „ärgert und schockiert den fast unausrottbaren Philister in uns, der sich, aus Vergeßlichkeit, mitten in der Karikatur des echten Lebens ahnungslos wohlfühlt, dadurch, daß er die Karikatur bis in das Groteske eben übertreibt, solange, bis es gelingt, ihn aus dem nur gewähnten Paradies seiner Gewöhnlichkeiten zu vertreiben15.

Eine Groteske-Definition, wie sie nicht nur Kaysers Insistieren darauf, dass es „unsere Welt [ist], die sich verwandelt hat“16, sondern auch Picards Letzten Menschen durchzieht. Picards Inszenierung des „Albtraums Alltag“ und seines „nur gewähnten Paradies[es]“ im zunächst ganz unscheinbaren Aufscheinen einer Stelle, an der „alles so aus[sieht] wie bei einem Menschen, aber [...] doch irgend etwas [ist], was nicht ist wie bei einem Menschen“17, etabliert ebendieses Programm einer Vertreibung aus dem Vertrauten. Das traditionelle Objekt der Physiognomik – das Gesicht – wird dabei zur Maske; und diese wiederum fasziniert besonders durch ihre Risse. Das Neue Sehen betreibt eine Montage scheinbar apparathaft eingeholter Textbilder zu Tableaus der Irrealität, der Maskenhaftigkeit. Voraussetzung hierfür ist, daß die Maske, die sehr wohl ein (rezensierter) Film sein kann, ‚Risse‘ aufweist und die neuen Einzelbildtexte des Kulturphysiognomikers in den Augen der Leser die Willkürlichkeit geschossener Photos haben: Konstituierung und Deutung des Text13

14 15

16 17

Benjamin, Walter: „Der destruktive Charakter“: in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. IV. Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981 [1931], S. 396–398, hier: S. 397. Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 95. Mynona, [d. i Salomo Friedländer]: „Die Groteske“: in: Mynona, Der verliebte Leichnam. Grotesken – Erzählungen – Gedichte, hrsg. v. Klaus Konz, Hamburg: Verlag am Galgenberg, 1985 [1919], S. 147–149, hier: S. 148. Vgl. Kayser: Das Groteske, S. 198. Picard: Der letzte Mensch, S. 10.

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bildes und seiner ‚Risse‘ sind eine untrennbare Einheit und sind die eigentlich hermeneutische Hoheitsgeste über das andere Medium und seine snap-shots.18

Und wenn Picard schon in seinem frühen Text über Das Ende des Impressionismus die Technik van Goghs beschreibt, dann lässt sich diese Passage auch als implizitpoetologische Formulierung des Neuen Sehens und als Hinweis auf die aktiveingreifende Rolle des Künstlers lesen, ohne die der „Albtraum Alltag“ und seine Masken nicht durchbrochen werden können. Van Gogh kam und lud die abgehobenen Flächen mit einer Spannung, daß sie einander zerbrachen. Seine Bilder sind wie letzte intensive Gesichte vor dem Weltuntergang. Van Gogh schuf die Welt um, daß sie barst, um ihr Ende wenigstens als die Folge irgendeiner Gesinnung begreifen zu können. Wenn die Welt unterging, dann mußten doch die letzten Menschen eine Gesinnung gehabt haben, wegen der sie unterging. Es war nötig, die Worte und Handlungen der Menschen umzudeuten, wenn van Gogh in ihnen eine Gesinnung finden wollte. Es war nötig: sie entweder anders zu sehen als sie wirklich waren (also zu halluzinieren), oder sie außerhalb der menschlichen Kausalität und Erfahrung zu stellen: Dieser van Gogh mußte wahnsinnig werden.19

Zugleich klingt in dieser frühen Textpassage ein poetologisches Modell an, das Picard selbst in Der letzte Mensch, seinen eigenen „Gesichte[n] vor dem Weltuntergang“, umzusetzen versucht: Auch dieser Versuch, im Untergang der „letzten Menschen eine Gesinnung“ zu entdecken, bleibt ja letztlich ohne Erfolg. Dass es sich dabei um „Gesichte vor dem Weltuntergang“ und nicht etwa „vom Weltuntergang“ handelt, trägt dem Verlust einer transzendenten hermeneutischen Position Rechnung: Es gibt keinen verbindlichen deutenden Zugang zu den „allerletzten Dingen“; gerade dies ist die Pointe des eigenartig schwankenden apokalyptischen Verfahrens, das den Letzten Mensch auszeichnet. Und auch die Anspielung auf den Wahnsinn van Goghs verweist auf Picards eigenes Werk und das Risiko des literarischen Abwegs, der sich letztlich nicht als erfolgreicher Umweg erweist: Die Rezeption des Letzten Menschen bei Ernst Troeltsch20 oder Frank Thiess schwankt zwischen einer Bewunderung als „geniale“ oder „tiefe“ Vision und einer Disqualifikation als Wahnsinn. So schreibt etwa Thiess in seinem an „An Max Picard“ adressierten Brief über die Bildende Kunst: An wen soll ich [...] diesen Brief sonst richten als an Sie? Doch, um nur alles zu sagen, ich richte ihn eigentlich nicht so sehr an Sie, den Verfasser des ‚Letzten Menschen‘, als an den Max Picard, der als einziger in Deutschland aus unmittelbar expressionistischem Erleben der Dinge 18 19 20

Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 95f. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 71. Hervorhebungen K. L. Troeltsch erwähnt Picards Der letzte Mensch als Veranschaulichung seiner Kritik an der Krise des Historismus und im Zusammenhang mit seiner Warnung davor, den „Ernst und die Sachlichkeit, die Gründlichkeit und Ehrlichkeit der deutschen Wissenschaft“ (Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, S. 7) im Zuge dieser Kritik über Bord zu werfen. Den Letzten Menschen stellt Troeltsch dabei als Blick „in die letzten Tiefen dieser Kritik“ (ebenda) neben „das seltsame Buch von R. Pannwitz, Die Krisis der europäischen Kultur“ (ebenda). Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 6.1, S. 313.

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einen Kunststil fand, der das verbale Gegenstück zu Goghs oder Munchs Graphik ist. Dies möchte ich sogar dann noch wahr haben, wenn man schon in den Werken jener zwei Meister zwischen genialen Visionen Wahnsinn oder aber einen mystisch tiefen und unheilbaren Schmerz um alle Kreatur flackern sieht. Auch in Ihren Schriften blitzt dieser Wahnsinn auf, und ich darf Ihnen gestehen, daß ich oft eben noch von hoher Bewunderung gepackt, im nächsten Augenblick jenes Frösteln verspürte, das mich überkommt, wenn ich die letzten Bilder van Goghs sehe oder Hölderlins späte Verse, Patmos und die Einleitung zur Ödipusübersetzung lese. Ob dieser ‚Wahnsinn‘ in Ihnen ist, scheint mir fraglich.21

Stellt Thiess zunächst die Angemessenheit des Etiketts ‚Wahnsinn‘ noch infrage, so gibt er diese zögernde Haltung in seiner weiteren Betrachtung schließlich auf – er attestiert Picard Wahnsinn und deutet diesen als eine konsequente Reaktion, die „Wahrheit“ angesichts einer durcheinandergeratenen Lebenswirklichkeit nur um den Preis einer grotesken Ausdehnung des Ichs ins Unendliche zu gewinnen vermag. [W]enn ich mir überlege, daß dieser Wahnsinn eigentlich nichts weiter als eine immer heftigere Verschiebung der Lebensbasis gegenüber den Dingen ist, indem er die Welt so sieht, wie er sie erlebt, also das unendliche Ich und nicht das begrenzte Objekt zum Richter der Wahrheit macht, weiß ich, daß derselbe ‚Wahnsinn‘ auch in Ihnen ist22.

Christians’ Analyse des Neuen Sehens lässt unerwähnt, dass die neue Physiognomik einige Ansätze vorfindet und aufgreift, die bereits im 19. Jahrhundert begegnen. Die Transformationen einer Physiognomik, die die Fragmente nicht mehr zur Ganzheit zusammenfügt und hinter den Körperoberflächen keine Sinn-Kerne mehr entblößt, finden sich nicht erst in Benjamins ‚destruktivem Charakter‘ oder in der Picard’schen Schilderung der van-Goghschen Poetologie, sondern bereits in der (früh-)romantischen Beschäftigung mit der Kunst des Gesichte(r)-Lesens. Wenn das Neue Sehen den physiognomischen Blick auf Hohlräume und Oberflächenbewegungen ausrichtet, dann greift es auf Motivkomplexe der Mortifizierung, Mumifizierung und Entpuppung zurück, wie sie bereits Jean Paul der traditionellen Physiognomik und ihren Wesenheiten kritisch entgegenhielt,23 um die Lavater’sche Technik des physiognomischen Sezierens und Entblößens der (Gesichts-)Körper in ihrer Suche nach der Seele und dem Wesen scheitern zu lassen. Im Titan etwa stellen die im Zuge der physiognomischen Lektüre sezierten und mortifzierten Körper die vorgeblich so menschenliebende Praxis der Gesichtslektüre immer wieder als kalt und indifferent bloß, was besonders in der Figur des Don Gaspard zum Ausdruck kommt: Dieser „hatte ein parteiloses tiefreichendes Auge für jede, sogar die fremdeste Brust und suchte am wenigsten sein Ebenbild“24, doch „seine 21 22 23 24

Thiess, Frank: Das Gesicht des Jahrhunderts. Briefe an Zeitgenossen, Stuttgart: J. Engelhorns Nachf., 1923, S. 156. Hervorhebung K. L. Ebenda. Vgl. hierzu Pabst: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, S. 172ff., 179ff., 193ff. Paul, Jean: „Titan. 1. und 2. Band“: in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung, Achter Band, hrsg. v. Eduard Berend, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1933 [1800ff.], S. 1–502, hier: S. 23.

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Prüfung eines Menschen war eine kalte Todtenbeschau, und nach dem Prüfen liebt’ er nicht stärker und haßt’ er nicht stärker“ 25. Am deutlichsten jedoch antizipieren Jean Pauls Metaphern der ‚Mumie‘ und der ‚Schmetterlings-Puppe‘ die Masken, Risse und Hohlräume, auf die das Neue Sehen seinen Blick ausrichtet. An der Mumie kann die Rede von einem inneren Menschen ganz wörtlich genommen werden, doch ist dieser innere Mensch tot und selbst nur eine Hülle, denn die Mumifizierung erforderte, den Toten zu ‚enthirnen‘, ihn mithin seines Inneren zu berauben. So persifliert die Mumie die Physiognomik, denn trotz der inneren Leere ist die Hülle der Hülle ein Zeichenträger. Die Mumie persifliert die Physiognomik aber nicht nur als innerer Tod, sondern auch mit dem Bezeichnungsaufwand, der an ihrem Äußeren betrieben wird.26

Jean Paul belässt es allerdings nicht bei der kritischen Bloßstellung der Lavater’schen Physiognomik (und ihrer ‚Bloßstellungen‘), sondern wendet die Beobachtung und Registrierung der Oberflächen- und Fragmentierungs-Phänomene in eine Geste, die die physiognomische Hermeneutik und ihren Anspruch auf Deutungshoheit reformuliert. Indem er den Lavater’schen „inneren Menschen“ auf seine paulinischen Ursprünge zurückführt und als transzendente Figur der Hoffnung entwirft, wird auch hier die Physiognomik zu einer Kunst des ‚Mehr-Sehens‘, zu einer nun allerdings allein dem Literarischen bzw. der künstlerischen Ästhetik vorbehaltenen heilsgeschichtlichen Hermeneutik. Gerade die Puppe wird bei Jean Paul zu einer Metapher der Verheißung, die zwischen Schein, Traum und Erlösung changiert: Auch im Fall der Puppe gibt es eine Hülle und einen eingeschlossenen Körper, so dass sie ebenso wie die Mumie eine Anwendung der physiognomischen Innen-Außen-Dichotomie erlaubt, doch wird das zeitliche Verhältnis zwischen Ich und Hülle, Innen und Außen jeweils unterschiedlich strukturiert. Im Fall der Mumie ist die Hülle auf Dauer gestellt und birgt einen Toten. Im Fall der Puppe ist die Verhüllung vorläufig und birgt ein neues Leben, das aus ihr hervorgehen wird.27

Picards Verschachtelung von Wesen, die hinter der menschenähnlichen Oberfläche des Körpers wohnen, sich aber letztlich als Schein ‚entpuppen‘, lässt genau wie Jean Pauls Mumien die Lavater’sche Physiognomik ins Leere laufen, indem sie einen enormen „Bezeichnungsaufwand“ an der „Hülle der Hülle“ betreibt, ohne auf Wesentliches zu stoßen. Sie lässt sich also durchaus als intertextueller Bezug zu Jean Paul verstehen, mit dessen Werk Picard bekannt war. Picard schreibt also einerseits die Jean Paul’sche Linie der Physiognomik-Kritik fort. Doch andererseits läuft die Kette von Entpuppungen, aus der am Ende das „allerletzte Wesen“ hervorgeht, nicht wie bei Jean Paul auf ein hoffnungsvolles Ende zu. Hinter den zahlreichen Hüllen des Wesens kommt zwar auch bei Picard eine neue Wirklichkeit zum Vorschein – doch sie bringt nicht die Auferstehung eines zukünftigen inneren 25 26 27

Ebenda. Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 179. Ebenda, S. 194.

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Menschen, sondern das Ende alles menschenähnlichen Lebens. Nimmt man Rilkes Diktum über den Letzten Menschen aus einem Brief an André Gide ernst, wonach das „Buch [...] ein wenig Linie von Jean Paul [...] fortsetzt, die seither verlassen wurde“28, dann ließe sich das dahingehend präzisieren, dass Picard beide Linien der romantischen Physiognomik-Kritik (Mumien und Puppen-Metapher) in der Tat fortführt, indem er sie vereinigt: Sein Neues Sehen ersetzt dabei Erlösung durch apokalyptischen Untergang. Das Neue Sehen erarbeitet als literarische Praxis nicht nur eine neue hermeneutische, sondern auch eine neue soziale Positionierung des Schriftstellers. Ob die Autoren der Photographie bejahend (wie Benjamin, Jünger, Kracauer) oder ablehnend (wie Picard) gegenüberstehen, im Hintergrund geht es immer um ein Konkurrenzverhältnis. Die hermeneutischen Umstellungen stellen dabei nicht erst im historischen Rückblick ein soziologisches Phänomen dar; ihre Protagonisten wenden die neuen Deutungsgesten auch selbst explizit auf die Beschreibung der Gesellschaft an und intervenieren damit in die zeitgenössischen soziologischen Diskurse. Hier ist an erster Stelle Georg Simmel zu erwähnen (der für einige der Neuen Seher – wie Ortega y Gasset, Kracauer oder Benjamin – ja auch als Lehrer fungierte). Vielleicht als erster hat er auf den Punkt gebracht, dass es nicht nur um das Gesicht geht, wenn es um das Gesicht geht: Wo die Produkte des spezifisch modernen Lebens nach ihrer Innerlichkeit gefragt werden, sozusagen der Körper der Kultur nach seiner Seele [...] wird die Antwort der Gleichung nachforschen müssen, die solche Gebilde zwischen den individuellen und den überindividuellen Inhalten des Lebens stiften, den Anpassungen der Persönlichkeit, durch die sie sich mit den ihr äußeren Mächten abfindet.29

Und in „Die ästhetische Bedeutung des Gesichts“ formuliert er exakt jene registrierende, am Vorbild der Kamera orientierte Funktion des Auges, mit der die neue Hermeneutik einsetzt: Thatsächlich löst das Gesicht am vollständigsten die Aufgabe, mit einem Minimum von Veränderung im Einzelnen ein Maximum von Veränderung des Gesamtausdruckes zu erzeugen. [...] Den Gipfel dieses äußersten Bewegungsaffektes bei geringster eigener Bewegung erreicht das Auge. [...] Während sich im Auge die Leistung des Gesichts [...] aufgipfelt, vollbringt es so zugleich die feinste, rein formale Leistung in dem Deuten der bloßen Erscheinung, das von keinem Zurückgehen auf die unanschauliche Geistigkeit hinter der Erscheinung wissen darf.30 28

29

30

Rilke an Gide, Brief vom 10. Dezember 1921, zit. n. Rilke, Rainer Maria und André Gide: Briefwechsel 1909–1926. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Renée Lang, Stuttgart, Wiesbaden: Deutsche Verlags-Anstalt, Insel-Verlag, 1957, S. 130. Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“: in: Georg Simmel, Gesamtausgabe. Band 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hrsg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995 [1903], S. 116–131, hier: S. 116. Simmel, Georg: „Die ästhetische Bedeutung des Gesichts“: in: Georg Simmel, Gesamtausgabe. Band 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hrsg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995 [1901], S. 36–42, hier: S. 41f. Hervorhebung im Original.

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Simmel führt diese Umstellung der hermeneutischen Topiken auf soziale Veränderungen zurück: Die moderne Großstadt, vor allem ihre beschleunigten Verkehrsströme, privilegieren den Gesichtssinn und bewirken zugleich dessen zunehmend flüchtige Bewegung. Ganz ähnlich konstatiert Picard: Es mußte dem Impressionismus daran liegen, zwar das Sinnesorgan rasch zu ergreifen, dann aber die Funktion des Sinnesorgans so zu komplizieren, daß wegen der Kompliziertheit die Funktion allein wichtig erschien. [...] Sobald aber der Beschauer im geringsten seinen Standpunkt veränderte, zerfiel die gewonnene Farbeneinheit wieder in ihre Komponenten. Einen Lidschlag – mehr brauchte es nicht. [...] Die Sinnesorgane waren andauernd beschäftigt. [...] Man merkte nicht, daß diese Ergriffenheit rein physiologisch war. Aber da sie im Physiologischen nie zu Ende kam, kam man gar nicht dazu, mehr zu wollen.31

Und wo Simmel als „tiefen Gegensatz“ zur modernen Großstadt „die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes“32 entwirft, kontrastiert Picard dem überreizten Impressionismus die Ruhe der expressionistischen Bauernmalerei: Sie sehen ein Ding so, als ob es eben erst für sich allein von Gott gemacht worden wäre und noch nichts vom anderen wüßte. Kein Ding paßt in den Ablauf des anderen. Kein Ding kann auf ein anderes reagieren. Es kann sich nicht bewegen. [...] Alle Ruhe ist hier versammelt.33

Wie im medialen, so etabliert die literarische Hermeneutik des Neuen Sehens auch im soziologischen Diskurs ihr Interpretationsschema: Bewegungen, Massen, fragmentierte und vereinzelte Individuen lassen sich nicht mehr als äußerer Ausdruck von gesicherten Bedeutungskernen und Charakteren lesen, sondern nur noch als eigene, höchst vage Wirklichkeiten. Nicht zufällig besitzen der medientechnische und der soziologische Diskurs z. T. die gleichen Protagonisten. Christians Analyse des Neuen Sehens, der ich in diesem Punkt zustimme, sieht all diese modernen Positionen des kultur- und sozialphysiognomischen Diskurses dadurch verbunden, dass sie Charakter, Werte und Wesenheiten als Signifikate der Deutung durch das ebenso vage wie umfassende Signifikat der ‚Zeit‘ ersetzen. Die diversen fragmentierten und ins Gleiten geratenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten sind – wie die Photos – Masken: Gesichter, die zugleich groteske und apokalyptische Gesichte sind, phantastische Oberflächen, deren Verweise ungesichert, vage und nicht nach innen gerichtet sind. Die Photos sind dabei ständig neue Belege für die ‚Maskenhaftigkeit der Epoche‘ und setzen selbst erst diese Maske (als eine Reihe von Deutungen) zusammen: [...] Unter der von den Photos dokumentierten Maske – als dem neuen Text, den es richtig zu kommentieren gilt – verbirgt sich nur jenes vage Signifikat der ‚Umwälzung‘, der ‚Bewegung‘ von ehemals wertlosen Teilen. Wenn aber das eigentliche Objekt einer kulturkritisch-hermeneutischen Begierde gerade nicht das Gesicht – und damit die ‚Seele‘ des Individuums – ist, weil Außen und Innen verkehrt wur31 32 33

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 18ff. Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“, S. 117. Picard, Max: Expressionistische Bauernmalerei, München: Delphin-Verlag, 1918, S. 20.

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den, dann muß die Maske als so schlecht sitzend beschrieben werden, daß durch die Spalten und Risse Deformationen und Verzerrungen (für den geschulten Physiognomiker) hervorlugen, deren Ursache – die Zeit nämlich – als eigentlicher Gegenstand der Analyse damit ins Visier gerät34.

Die „Zeit“ wird zur metaphorischen Figur des Gesellschaftlichen und seiner Umwälzungen. Mit dem Ausdruck der Desorientierung angesichts der (gegenwärtigen) Zeit verbindet sich der Anspruch, die im Geheimen bereits angebrochene (zukünftige) Zeit zu deuten. Das klingt bei Siegfried Kracauer noch recht vage: „Die ökonomischen Strukturwandlungen, die sich in der Gegenwart vollziehen, haben [...] die Heraufkunft von Tendenzen zur Folge, die vorerst noch unter einer Hülle leben, da sie den überkommenen Begriffen widersprechen.“35 Das Modell ist das gleiche wie bei Ernst Jünger: „Neue Zeiten pflegen sich unter der Kapuze einzuschleichen“36. Doch lugen bei Jünger unter der Kapuze recht schnell Gewalt und Zerstörungswut hervor, die aus dem eher vagen Neuen Sehen Kracauers ein streng nach vorne gerichtetes Gesicht machen: Die Unklarheit, im besonderen die romantische Unklarheit, die die Mehrzahl aller Äußerungen über die Technik färbt, geht aus dem Mangel an festen Gesichtspunkten hervor. Sie verliert sich sofort, wenn man als ruhendes Zentrum des so mannigfaltigen Vorganges die Gestalt des Arbeiters erkennt. Diese Gestalt fördert ebensosehr die totale Mobilmachung, wie sie alles zerstört, was sich dieser Mobilmachung widersetzt. Es muß daher hinter den Oberflächenvorgängen der technischen Veränderung sowohl eine umfassende Zerstörung wie eine andersartige Konstruktion der Welt nachzuweisen sein, denen beiden eine ganz bestimmte Richtung gegeben ist37.

Auch Picards Der Letzte Mensch bietet eine Unmenge von Hüllen, Kapuzen und Oberflächenvorgängen, hinter denen sich eine „umfassende Zerstörung“ der Gesellschaft und eine „andersartige Konstruktion der Welt“ ankündigen. Und was dabei durch Spalten und Risse hervorschaut ist auch bei Picard – die Zeit: Sieh’ jenes Gesicht: Es scheint, daß an dieser Stelle die Linie des Gesichts anhält, es scheint, daß sie nicht mehr weiterzugehen weiß. Dann aber biegt sie auf einmal rasch um. Sieh’ wie sie rasch um biegt! Will sie die Zeit des Anhaltens einholen? Es scheint, daß eine andere Linie, mit der sie sich verbinden muß, schon weitergegangen ist, während sie selber anhielt. [...] Sieh’, wie das Gesicht eckig wird, weil die Linie so rasch umbiegt! Sieh’, wie das Gesicht nervös wird, weil es Angst hat, das nicht mehr einzuholen, was es mit dem Anhalten versäumt hat!38

Wenn Picard also die Zeit zum (geheimen) Zentrum seiner Gesichte macht, dann artikuliert sich auch darin das Bestreben eines Neuen Sehens. Und daher irrt Christians, wenn er Picard in eine Linie mit Lavater stellt und ihn zum Protagonisten einer überkommenen Physiognomik macht, die gegen die Moderne an Stabilität und Wesenhaftigkeit 34 35 36 37 38

Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 100f. Hervorhebung im Original. Kracauer: „Stehbars im Süden“, S. 68f. Hervorhebung im Original. Jünger, Ernst: Das abenteuerliche Herz, 1929, zit. n. Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 86. Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1932, S. 150f. Hervorhebung K. L. Picard: Der letzte Mensch, S. 17. Hervorhebung K. L.

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festhält: „Die […] Position Picards reformuliert dabei die Lavatersche Argumentation bis ins Detail, um sie gegen die Photographie und den Film zu wenden.“39 Zumindest für den Letzten Menschen trifft diese Einschätzung nicht zu40 – sie hält sich einseitig an die expliziten Äußerungen Picards und seine Klage über den Verlust des Wesens, ohne den literarischen Text ernstzunehmen. Die Ausführlichkeit und Intensität, mit denen Picard die verschiedenen Bewegungen der (Gesichts-) Oberfläche genau entlang der Paradigmen eines Neuen Sehens verfolgt, lässt eine Einordnung in eine Lavater-Picard-Linie als zu einfach erscheinen. Sie berücksichtigt die Kluft zwischen (Modernität der) Beschreibung und (Antiquiertheit der) Folgerungen nicht in ausreichendem Maße. Der Blick des ‚Mehr-Sehers‘ Picard zielt jedenfalls nicht auf stabile Wesenheiten, Charaktere und Identitäten, auch wenn er deren Verlust beklagt. Vielmehr registriert er – nolens volens – die vagen Bewegungen der (Körper-)Oberflächen, die Zerstörungen von Wesenskernen und somatischen Besitzverhältnissen: Man kann nicht mehr aus dem Gesicht den Charakter erfahren. Man weiß ja gar nicht, wem das Gesicht gehört. Man weiß ja nicht, ob jenem, der das Gesicht trägt, das Gesicht auch gehört. Gehört ihm das ganze Gesicht? Oder welcher Teil des Gesichtes gehört ihm?41

Wie bei den anderen Physiognomikern des Neuen Sehens äußern sich in Der Letzte Mensch die Umstellungen der Hermeneutik und der angesichts eines Mangels adäquater Begriffe unternommene Versuch, eine Deutungshoheit um den Preis der Vagheit zu behaupten: Sieh’ die Augen des Wesens! Es schaut, wie durch Gucklöcher, vorsichtig, um sich zu orientieren, wohin es sich gestoßen habe. Sieh’, wie es schnuppert mit der Nase, und wie es horcht mit dem Ohr, um zu erfahren, wo es sei und um zu prüfen, ob es noch weiter durchstoßen könne! [...] Was mag alles noch hinter der Haut verborgen sein! Vielleicht sind noch Dinge hinter ihr verborgen, die gar nicht zu dem neuen Wesen gehören, die überhaupt nirgendshin gehören, die nur hier sein können, weil sie nirgends anders sonst geduldet werden als hier hinter dem Hautsack neben dem neuen Wesen? Vielleicht sind es Dinge, die noch entsetzlicher sind als das neue Wesen. Vielleicht wird hier das Material aufgespart für jenes allerletzte Wesen, das sein wird, nachdem auch das neue Wesen, das eben anfängt durchzustoßen, zerstört worden ist.42

Wer den Letzten Menschen gelesen hat, kann nicht umhin, darin die Artikulation einer avantgardistischen Position zu lesen, wie sie etwa Döblins „Berliner Programm“ von 1913 formuliert: 39 40

41 42

Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 102. Zwar bezieht Christians sich vorwiegend auf Das Menschengesicht, sowie den Aufsatz „Menschliches Auge und photographische Linse“. Auch hier trifft seine Einschätzung jedoch nicht zu. Zwar nimmt die Klage über den Verlust der Werte-Ordnungen, Wesenheiten und der stabilisierenden Linie im Menschengesicht einen im Vergleich zum Letzten Menschen größeren Raum ein. Doch bleibt das Gesicht auch in diesen Werken ein bewegtes, letztlich unfassbares und damit nur einer literarischen, nicht einer ‚buchstäblichen‘ Lektüre zugänglich. Picard: Der letzte Mensch, S. 66. Ebenda, S. 141.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Prinzip: der Gegenstand des Romans ist die entseelte Realität. [...] Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat ‚die Fülle der Gesichte‘ vorbeizuziehen.43

Texturen der Unverständlichkeit Die Etablierung einer modernen Position innerhalb des intellektuellen und literarischen Feldes, wie sie die Avantgardisten des Neuen Sehens anstreben, verläuft nicht allein über eine thematische Fokussierung und Privilegierung von Oberflächen und deren Bewegtheiten. Sie vollzieht sich, als eine zunehmende Autonomie der TextOberflächen, auch auf der Text-Ebene. Moritz Baßler hat diese „Entdeckung der Textur“44 unter das Paradigma einer „Unverständlichkeit“ moderner Literatur gefasst. Dabei ist letzteres keineswegs mit dem Ende hermeneutischer Prozesse und Bemühungen gleichzusetzen; vielmehr meint die „Unverständlichkeit“ ein produktions- wie rezeptionsästhetisches ‚Programm‘ bestimmter Avantgarde-Texte und stellt damit ein systematisches wie historisches Phänomen dar. Systematisch umfasst das Phänomen zwei – nur analytisch zu trennende – Aspekte: Die Unverständlichkeit, d. h. ein erschwerter oder blockierter Verstehensprozess auf Seiten des Rezipienten, wird auf Seiten der Textproduktion ausgelöst durch das Fehlen von jenen verständnisleitenden Strukturen, die gewöhnliche Texte gliedern. Indem der Text traditionell als Verweisungsgefüge die Teile in ihrer Beziehung zum Textganzen organisiert, entstehen Strukturen, die für die Bedeutungsproduktion eine zentrale Funktion erfüllen: Sie orientieren sowohl die reziproke Beziehung von Textganzem und Textteilen als auch das symbolische oder mimetische Verstehen der Darstellungen (etwa von Orten, Personen oder Vorgängen) eines Textes.45 Indem die hermeneutische Lektüre dem Text aufgrund dieser Strukturiertheit eine oder mehrere Bedeutungsschichten unterlegt, wird der Text in seiner Eigenschaft als materiales Ensemble von Zeichen, Medien und Strukturen durch die Lektüre zum Verschwinden gebracht. Je eingängiger dabei die Machart eines Textes, je leichter seine Lektüre, desto weniger wird der Text als Träger wahrgenommen. Durch das Fehlen solcher Strukturen, durch die paradoxen, lückenhaften oder widersprüchlichen Verknüpfungen innerhalb des ‚Verweisungsgefüges Text‘ kommt es zu einer Störung oder Blockade des Verstehensprozesses: Unverständlichkeit [...] ist – produktionsästhetisch gesprochen – im Verzicht auf eine sinnzentrierende Strukturierung des Kunstwerkes begründet, insbesondere in der Blockade jener hochin43

44 45

Döblin, Alfred: „An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm“: in: Alfred Döblin, Aufsätze zur Literatur, hrsg. v. Anthony W. Riley, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 1963 [1913], S. 15–19, hier: S. 17. Vgl. zum Folgenden Baßler: Die Entdeckung der Textur. Vgl. hierzu ebenda, S. 13f.

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tegrativen, oft ‚organisch‘ genannten Relation von Teilen und Ganzem, die – rezeptionsästhetisch gesprochen – den ästhetischen Horizont der Hermeneutik bis heute bestimmen.46

Anstelle einer Rezeption, die den Text in Richtung auf eine einheitliche oder auch mehrdeutige inhaltliche Paraphrasierung, ein Autor-Subjekt oder dessen souveräne Handlung hin transzendiert, tritt dann eine Rezeption, die sich auf den Text oder das Werk im Sinne eines Gewebes richten muss und „die ‚Qualität der Elemente‘, die Materialität des Textes in den Vordergrund“47 rückt. Damit ist der zweite systematische Aspekt der „Unverständlichkeit“ benannt – das Hervortreten der „Textur“. Mit diesem Begriff fasst Baßler die materialen Eigenschaften eines Textes – von seinem typographischen Erscheinungsbild bis hin zu rhetorischen und poetischen Verfahren.48 „Textur“ bezeichnet zunächst eine allgemeine Eigenschaft aller Texte – eine Textur besitzen auch alle mehr oder weniger ‚verständlichen‘ Texte; sie fällt bei diesen nur weniger auf, da das Verstehen leichter über sie hinweggehen kann. Im engeren Sinn wird der Begriff dann auf Texte angewandt, die die Textur-Seite des Textes – seine Oberflächen – poetologisch betonen.49 Mit der „Entdeckung der Textur“ ist zugleich eine historische Entwicklung gemeint, die einen recht weiten Zeitraum und höchst unterschiedliche literarische Avantgarden zusammenfasst: Sie setzt bereits im 19. Jahrhundert ein mit Realismus und Naturalismus, reicht über Symbolismus und Ästhetizismus bis hin zum Expressionismus und zur Neuen Sachlichkeit. Baßler führt damit verfahrenstheoretisch aus, was Bourdieu andeutet, wenn er die Geschichte des literarischen Feldes in der Moderne, d. h. im Zuge der Ausbildung ihrer relativen Autonomie als eine Art historische Selbst-Analyse bezeichnet: Mehr und mehr vermeintlich ‚wesentliche‘ Elemente des Literarischen werden dabei als verzichtbar ausgewiesen – so auch der hermeneutisch zu rekonstruierende Sinn und die Verstehbarkeit des Textes: Die Entwicklung des Feldes der kulturellen Produktion in Richtung auf größere Autonomie geht mit der in Richtung auf erhöhte Reflexivität einher, die jedes [sic!] der ‚Gattungen‘ zu einer kritischen Besinnung auf sich selbst, seine eigene Grundlage, seine eigenen Voraussetzungen

46 47 48

49

Ebenda, S. 12f. Ebenda, S. 13. „Eine Textur ist ‚das sprachliche Material in seiner spezifischen Verknüpfung‘ ohne strukturierende Momente, die den hermeneutischen Zugriff auf Literatur lenken.“ (Baßler et al.: Historismus und literarische Moderne, S. 32) „In texturierter Literatur steht die Materialität des Textes im Vordergrund, globale inhaltliche Aussagen erübrigen sich. [...] Texte ‚ohne konsistente Strukturen‘, die den ‚Interpreten [...] auf ihre Textur, auf den Stoff, aus dem sie gemacht sind, auf das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind‘ verweisen, werden ebenfalls verkürzt Texturen genannt. Textur heißt also erstens die materiale Seite des Textes und zweitens – vereinfacht – der Text selbst, sofern eine Reduktion auf diese materiale Seite einen sinnvollen hermeneutischen Zugang erschwert oder verhindert.“ (ebenda)

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

führt: Immer häufiger schließt das Kunstwerk – vanitas, die sich als solche bezichtigt – etwas wie Selbstverhöhnung ein.50

Einen Höhepunkt erreicht das Phänomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die literarischen Verfahren Experimente mit Oberflächen und Bewegungen ins Zentrum rücken. Wie das Auge des modernen Physiognomikers nicht mehr durch die Oberflächen hindurchzudringen vermag, so wird sich auch die Hand des modernen Schriftstellers der Materialität und Oberflächlichkeit ihrer Tätigkeit bewusst: ihrer rhetorischen, textuellen und nicht zuletzt auch typographischen Praktiken. Der enge Zusammenhang der Baßler’schen „Entdeckung der Textur“ mit der von Christians beschriebenen Neu-Positionierung der Physiognomik liegt auf der Hand: Das hermeneutische Interesse daran, zu verstehen, was ein Text sagt, gilt hier weiterhin als grundlegend und legitim für die Interpretation literarischer Texte. Erst wenn ein Text unverständlich ist, also nichts einigermaßen Deutliches mehr sagt, stellt sich notwendig die Folgebzw. Ersatzfrage, was er denn dann noch bedeute.51

Das aber heißt, dass es nicht um eine Verabschiedung der Hermeneutik, sondern um die Umstellung ihrer Topik und damit um ihre Reformulierung geht. Die Texturierung eines modernen Textes steht – wie der Blick des modernen Physiognomikers – als literarische Praxis in einem komplexen Handlungszusammenhang, der die Neuorientierung der Hermeneutik ermöglicht und die Konzentration auf die Oberflächen vom Negativurteil der ‚Oberflächlichkeit‘ befreit, ja in ihr Gegenteil zu wenden erlaubt: Denn es wäre wohl voreilig, zu schließen, man sei mit dieser Entdeckung der Textur, der Textoberfläche als künstlicher und gemachter, automatisch auch schon der alten Dialektik von Oberfläche und Tiefe entronnen. [...] Je ostentativer die Oberflächen unverständlicher Texturen den hermeneutischen Blick auf irgendwelche ihnen zugrundeliegenden Bedeutungen versperren, desto eindringlicher oft gerade die Suggestion einer Tiefe dieser Bedeutungen.52

Und wie die Physiognomik des Neuen Sehens die bedrängte Deutungshoheit des künstlerischen ‚Sehers‘ nicht nur verteidigt, sondern ihr zugleich neue soziale Perspektiven eröffnet, erweitert die Unverständlichkeit paradoxerweise zugleich den Horizont literarischer Praktiken. So 50

51 52

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 384. Hervorhebung im Original. Die Kompatibilität der Baßler’schen Textur mit Bourdieus Theorie von den permanenten Teil-Revolutionen des Feldes und der immer schnelleren Abfolge neuer Avantgarde-Generationen verdeutlicht auch Baßlers Charakterisierung der literarischen Moderne als einer „Zeit avantgardistischer Experimentier- und Entdeckerfreude mit Texten und Schreibweisen, die vor allem eins sein mußten: neu, anders als alles Bisherige, und das hieß [...] zunächst einmal: unverständlich“ (Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 12). Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 6. Baßler, Moritz: „Oberflächen. Die geflügelte Erde von Max Dauthendey“, in: Gilbert Merlio und Nicole Pelletier (Hrsg.), Munich 1900 site de la modernité. München 1900 als Ort der Moderne, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien: Lang, 1998, S. 203–217, hier: S. 203.

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erweist sich die Qualität dieser Tiefe in den meisten Fällen als irritierend unbestimmte Größe – ihre Sinnbesetzungen scheinen oft geradezu austauschbar: Mal soll sie sich der Metaphysik, mal der Kultursoziologie erschließen, einmal ist sie religiöser, ein andermal ödipaler Natur.53

Die „Unverständlichkeit“ drückt aus und treibt auf die Spitze, was nach Bourdieu der Herausbildung eines modernen literarischen Feldes als Prinzip einer relativen Autonomie gesellschaftlich zugrunde liegt: die zunehmende Ausgrenzung nicht-eingeweihter Laien aus dem Feld der Experten und ihrer spezifischen Diskurse. Die gewonnene Autonomie äußert sich nämlich nicht allein im Imperativ an die Künstler, „die vor allem eins sein mußten: neu, anders als alles Bisherige, und das hieß [...] zunächst einmal: unverständlich.“54 Ebenso entscheidend ist auch die verschärfte Anforderung an den Rezipienten, der das literarische Werk nur noch als Experte interpretieren, d. h. konsumieren kann: Sein Eintritt in das Feld erfolgt über den Nachweis der Kenntnis seiner bisherigen Geschichte, seiner Gegenstände, seines aktuellen Zustandes, sowie seiner unausgesprochenen Gesetze. Die Unverständlichkeit nun ermöglicht beides – den Erweis der Kenntnis der Feld-Geschichte und die Demonstration des souveränen Umgangs mit ihr, der die jederzeitige ‚Umwertung aller Werte‘ für möglich und nötig erachtet. Denn um feststellen zu können, dass ein Text keinen eindeutigen Sinn verbirgt, benötigt der Interpret ein umfangreiches Wissen darüber, welche Sinnangebote für die Deutung überhaupt zur Verfügung stehen. Keinen Sinn erkennen kann jeder (und in Dingen moderner Avantgarde-Kunst ist dies ja eine häufige, höchst verbreitete Reaktion, die daher kaum Distinktionsqualitäten bietet); aber nur der Eingeweihte und Fachmann vermag zu erkennen, dass ein Text unverständlich ist, d. h. keinen Sinn erkennen lassen soll.55 Die vielbeschworene ‚Tiefe‘ moderner Texte (prominent etwa im Symbolismus) ist insofern durchaus ernstzunehmen: Sie lässt sich – als soziale Praxis – begreifen als das nur dem Eingeweihten mögliche ‚vollständige‘ Durchschreiten der in der Geschichte des Feldes angehäuften Schichten von Sinnangeboten und hermeneutischen Deutungen, das diese Schichten als bereits ‚deklassierte‘ hinter sich lässt und zu einem neuen Paradigma vorstößt. Daneben artikuliert die Unverständlichkeit aber auch die Konkurrenz zwischen avantgardistischer Literatur und modernen Formen einer massenmedialen Öffentlichkeit: Explizit wendet sich Rudolf Kurtz in der Erstausgabe des Sturm gegen das Bemühen um Verständlichkeit [...], das selbst vor der Zerrüttung des eigenen Gehirns nicht zurückschreckt. [...] [W]ir haben es dem Publikum so leicht gemacht, uns mißzuverstehen, daß es ein erlaubter Scherz ist, zu dem Niveau einer behaglich freundwilligen Unterhaltung herabzu53 54 55

Ebenda. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 12. Baßlers zutreffende Beobachtung, dass „[e]rst wenn ein Text unverständlich ist, also nichts einigermaßen Deutliches mehr sagt, [...] sich notwendig die Folge- bzw. Ersatzfrage [stellt], was er denn dann noch bedeute“ (ebenda, S. 6), lässt sich, wenn sie nicht vom Text, sondern vom sozial Handelnden ausgeht, reformulieren: Erst wer feststellen kann, dass „ein Text unverständlich ist, also nichts einigermaßen Deutliches mehr sagt,“ kann sich notwendigerweise „die Folge- bzw. Ersatzfrage [stellen], was er denn dann noch bedeute“.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

steigen [...]. Denn es gilt, ihre trägen Sinne von dem Dasein eines Willens zu unterrichten, wo sie im Glanz der bunten Feuerwerke schmunzelnd die Absicht zu unterhalten wittern. Es ist ein Irrtum. Wir wollen nicht unterhalten.56

Max Picard nimmt sicher nicht die avancierteste Position innerhalb der avantgardistischen Experimente mit Texturen und Unverständlichkeiten ein: Dazu werden beide Aspekte zu unsystematisch verwendet. Doch erweist die wiederholte – und zumindest ansatzweise auch poetologisch reflektierte – Verwendung dieser Textverfahren ihn als einen Schriftsteller, der sich am avantgardistischen, modernen Pol des literarischen Feldes positioniert. Sie widerlegt seine allein an inhaltlichen Polemiken orientierte Einordnung als konservativen Modernefeind, denn sein Frühwerk bis einschließlich Der letzte Mensch zeigt die unverständlichen Züge der Klassischen Moderne im Allgemeinen und des Expressionismus im Besonderen, ihre Texturen begegnen an diversen Stellen und unter verschiedenen Aspekten. Am deutlichsten und programmatischsten tritt dies in der bereits erwähnten van GoghPassage aus Das Ende des Impressionismus zutage, die ich zugleich als implizitpoetologisches Modell des Letzten Menschen gelesen habe.57 Das darin diagnostizierte Abhandenkommen einer Gesinnung „hinter den Worte[n] und Handlungen“ lässt diese als unverständliche, durch nichts motivierte Äußerungen erscheinen. Auch die van Gogh untergeschobenen Alternativen, die auf dieses unumstößliche Phänomen reagieren, formulieren genau jene Verfahren, die Baßler als Paradigmen der Unverständlichkeit ausgibt: Es war nötig: sie entweder anders zu sehen als sie wirklich waren (also zu halluzinieren), oder sie außerhalb der menschlichen Kausalität und Erfahrung zu stellen: Dieser van Gogh mußte wahnsinnig werden.58

Die literarischen Versuche, die verständliche – sprich: literarisch allzu vertraute – Wirklichkeit durch eine ‚ganz andere‘, autonom für sich stehende und ohne logisch konsistente Strukturen oder hermeneutische Bezüge auskommende Wirklichkeit zu ersetzen, experimentieren mit „sämtliche[n] Alternativen [...], die der Zeit und besonders der Boheme nach 1900 zur überkommenen Wirklichkeit einfielen: Rausch, Traum, Wahnsinn, Artistik, Religion, Philosophie etc.“59 Besonders beliebt sind dabei die (simulierten) Diskurse des Wahnsinns oder des halluzinierenden ‚Anders-Sehens‘, also jene zwei Alternativen, vor die Picard van Gogh stellt. Freilich erweisen sich die beiden Wege nicht wirklich als Gegensatz. Vielmehr antizipiert das halluzinierende Sprechen das, was als Ziel der UnverständlichkeitsExperimente gelten kann und ebenso emphatisch beschworen wird wie unerreichbar bleibt: die Schaffung eines Kunstwerks, das ohne jeglichen Bezug zu bekannten Sinn56 57 58 59

Kurtz, Rudolf: „Programmatisches“, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste, I. Jg. (1910), Nr. 1, S. 2–3, hier: S. 2. Vgl. oben S. 177. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 71. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 80.

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strukturen und Kontexten auskommt oder diese zumindest aufbricht und damit – in Picards Worten – „außerhalb der menschlichen Kausalität und Erfahrung“ steht. Ähnlich formuliert es Carl Einstein, wenn er ein neues „totales Kunstwerk“ beschreibt: „Der totale Gegenstand absorbiert jeden psychologischen Verlauf, der auf ihn hinzweckt, als auch [sic!] jede Kausalität.“60 An den Diskurs des wahnsinnigen Subjekts, dessen Rede und Handlung der Kontrolle durch das Bewusstsein entgleiten, erinnert Picards Schilderung zunehmend unverständlicher und ihrer Artikulationskraft (im doppelten Sinne) beraubter Worte, die als eine akustische Textur beschrieben werden: Der Mund ist nun bei dem neuen Wesen in die Breite ausgezogen [...]. Die Worte rutschen aus diesem breiten Munde, bevor sie noch zu Ende gesprochen sind. Der Mund ist nicht mehr wie beim Menschen eine geschlossene Form, die das Wort klar bildet und nicht eher von sich weggibt, bis das Wort geschlossen und klar ist wie der Mund selber; die Buchstaben rutschen ab aus dem breiten Munde, der sie nicht halten kann, sie rutschen weiter vom Munde weg und treffen sich erst im Rutschen zu einem Worte, vielleicht!61

Allerdings verbleibt Picard hier auf der Ebene der beschreibenden Darstellung, ohne dass die akustische Textur im und als Schrifttext – zumindest annäherungsweise – nachvollzogen wird. Als einen solchen zumindest annäherungsweisen Nachvollzug einer akustischen Textur ließe sich jedoch eine andere Stelle lesen: Die Körper warten immer noch auf das Zeichen zu enteilen. Sie sprechen nur, um zu zeigen, daß sie noch nicht davongelaufen sind. [...] Das ist gar keine Sprache mehr: die Silben am Ende sind schon ganz abgefallen, die Modulation ist vereinfacht, das Sprechen klingt nur mehr wie ein einziger, einfacher Ton. Es ist wie ein einziges Antworten: ja, ja, ja ... auf das Anrufen, ob man noch da sei.62

Die narrative Anlage des Letzten Menschen lässt sich nicht in eine Erzählung paraphrasieren63; sie sperrt sich gegen die hermeneutischen Rekonstruktionen einer Verstehensstruktur, indem sie zum einen die Brüche zwischen den typographisch voneinander abgesetzten Textabschnitten offenlässt, die ohne orientierende und dem Text Kohärenz verleihende thematische oder kommentierende Übergänge aufeinander folgen. Zum anderen erweisen sich viele dieser isolierten Passagen als in sich unverständliche Texte – sie bilden, in den Worten Carl Einteins, „Blöcke von Irrationalem“ und zeichnen sich durch eine „Gewalt der Gesichte“ aus: [E]ndlich wagt man wieder einem zwanghaften Geschehen sich zu unterwerfen, jenseits des beengt Kausalen. Gleichwie das Wunder den mechanischen Ablauf schockhaft und unerklärbar 60 61 62 63

Einstein, Carl: „Totalität. Psychologische Anwendung“, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, IV. Jg. (1914), Nr. 22, Sp. 476–478, Sp. 476. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 146f. Picard: Der letzte Mensch, S. 30. Die „Paraphrase-Probe“ ist laut Baßler ein hilfreiches Mittel, um Texte auf Unverständlichkeit zu überprüfen. „[W]as paraphrasierbar ist an einem Text, soll als Struktur, was nicht paraphrasierbar ist, als Textur bezeichnet werden. Eine solche Paraphrase-Probe hat sich als eine Art Lackmus-Test für Verständlichkeit/Unverständlichkeit bewährt.“ (Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 15)

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unterbricht, so werden aus dem visionären Geschehen Blöcke von Irrationalem in die Wirklichkeit geschleudert. Allzu lang waren Person und Schauen vernünftig verengt worden, und der willensmäßige Abergläubische fürchtete die Gewalt der Gesichte64.

Einen solchen „Block von Irrationalem“ stellt auch eine Vision Veronikas aus Der letzte Mensch dar, die ich im Folgenden zunächst wiedergeben und dann analysieren werde: Veronika sagte zu mir: Ich sah einen Menschen: der war imstande, sich vorwärts zu bewegen, obwohl er gar keine Beine hatte. Was ist das für ein Wesen, das aussieht wie ein Mensch und keine Beine hat und doch gehen kann? Wäre es ein Mensch, so hätte er nicht gehen können, er wäre auf seinen Stümpfen am Wege gehockt, und ein großer schwarzer Hund wäre wie ein Karussel rings um den Hockenden herumgegangen. Warum kann er jetzt gehen und, – wo hat er das kleine weiße Spitzerchen, das jetzt um ihn herumtrippelt, getauscht gegen den großen schwarzen Hund?65

Diese kurze Passage steht zwischen zwei Textabschnitten, in denen es um die Flucht und den Raub von Köpfen geht. Sie bildet also – auch wenn das für einen grotesken Text ja nichts Außergewöhnliches darstellt – einen Text-Block, der sich bereits aufgrund seiner inkonsistenten und lückenhaften narrativen Strukturierung, durch die „Blockade jener hochintegrativen, oft ‚organisch‘ genannten Relation von Teilen und Ganzem“66 einer hermeneutischen Lektüre entzieht. Doch vor allem die narrative Binnenlogik erweist sich als unverständlich, insofern sie sich einem strukturierenden Verstehen erzähllogisch widersetzt, wie der folgende Versuch, sie hermeneutisch zu deuten,67 zeigt – indem er fehlschlägt. Zunächst sieht der Textabschnitt aus wie der Versuch, eine Antwort auf eine zwar eigenartige, aber durchaus verständliche Frage („Was ist das für ein Wesen, das aussieht wie ein Mensch und keine Beine hat und doch gehen kann?“) zu finden. Dies zeigt zumindest die von Baßler vorgeschlagene Probe auf Verständlichkeit, die paraphrasierende Wiedergabe:68 „Um welche Art von Wesen handelt es sich bei jemandem, der aussieht wie ein Mensch, keine Beine hat und sich doch fortbewegen kann?“ Als mögliche Bedeutung ließe sich hier vom historischen Leser etwa die Referenz auf die zahlreichen ‚Kriegskrüppel‘ einsetzen. Logisch konsistent lässt sich auch noch der Beginn der nachfolgenden Suche nach einer Antwort lesen – „Wäre es ein Mensch, so hätte er nicht gehen können“ – denn nur Menschen mit Beinen können „gehen“; und dass Menschen ohne Beine, von einem Hund umkreist, am Wegrand hocken, deckt sich durchaus mit Erfahrungen aus der 64 65 66 67

68

Einstein, Carl: „Georges Braque“: in: Carl Einstein, Werke. Bd. 3. 1929–1940, Wien, Berlin: Medusa Verlag, 1985 [1934], S. 177–180, hier: S. 327. Picard: Der letzte Mensch, S. 48. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 12f. Dass eine solche Analyse recht ungelenk wirkt, liegt in der Natur der Sache, lässt sie sich doch freiwillig ins Bockshorn jagen, indem sie trotz besseren Wissens den vom Text ausgelegten Irrwegen nachgeht. Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 15.

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Weimarer Nachkriegszeit und insbesondere ihren literarischen oder bildkünstlerischen Produkten, entspricht also der Erwartungshaltung des Rezipienten. Doch warum wäre im Falle, dass es sich um einen Menschen handelt, ausgerechnet „ein großer schwarzer Hund [...] wie ein Karussel rings um den Hockenden herumgegangen“? Die logische Notwendigkeit („wäre, ... so hätte ...“), die hier postuliert wird, mutet bereits ein wenig eigentümlich an. Hier mag man vielleicht noch deutend ergänzen, dass ein großer schwarzer Hund als Verweis auf soziale Kontexte Bedeutung transportiert, zumal in Opposition zu dem im folgenden auftauchenden „kleine[n] weiße[n] Spitzerchen“: Große schwarze Hunde passen eher zu einem vermutlich verarmten ‚Kriegs-Krüppel‘ als ein – weißes – Zierhündchen wie ein Spitz. Spätestens der letzte Absatz macht deutlich, dass die scheinbar rationale Struktur von Frage und Antwort jedoch ins Leere zielt: Denn die logische Schlussfolgerung, dass es sich also nicht um einen Menschen handelt – auch dies wäre ja im Gesamtzusammenhang des Letzten Menschen noch anschlussfähig –, spielt für das Ende der Passage gar keine Rolle mehr. Die die Textpassage einleitende Frage nach der Fortbewegungsart des Wesens ohne Beine verliert im letzten Absatz jegliche strukturierende Funktion: Die Frage wird aufgenommen „Warum kann er jetzt gehen“, aber sofort fallen gelassen zugunsten einer neuen Frage, die aus der bisherigen Struktur und dem von ihr motivierten Erwartungshorizont vollkommen herausfällt und die inhaltliche Kohärenz endgültig zerstört; sie zielt nicht auf die zu erwartende Erklärung – paraphrasiert: „Warum tippelt ein kleiner weißer Spitz statt des zu erwartenden großen schwarzen Hundes um ihn herum“ –, sondern auf den Ort eines Tauschgeschäftes, von dem bisher gar nicht die Rede war – „wo hat er das kleine weiße Spitzerchen, das jetzt um ihn herumtrippelt, getauscht gegen den großen schwarzen Hund?“. Das Motiv69 dieser abschließenden Frage lässt sich weder aus der vorangegangenen Struktur ableiten noch aus sonstigen literarischen oder sozialen Kontexten – es ist unverständlich. Dass der Absatz bedeutungsgenerierende Sinnstrukturen auflöst, zeigt bei näherer Betrachtung schon die einleitende Verwendung der Lexeme „sich vorwärts bewegen“ und „gehen“. Die scheinbar ernsthafte Suche nach einer Erklärung markiert im ersten und dritten Satz den Ausdruck „sich vorwärts bewegen“ als differenzierte Bedeutung für eine Fortbewegungsart ohne Beine, die eben nicht „gehen“ ist. Doch der zweite Satz verwendet genau diesen Ausdruck für die Fortbewegung des Wesens, das „keine Beine hat und doch gehen kann“. Die gesamte im Lexem „sich vorwärts bewegen“ angelegte sinnstrukturierende Logik – dass nämlich nicht gehen kann, wer keine Beine hat – wird damit ad absurdum geführt. Diesem Beispiel ließen sich andere Texturen der „Unverständlichkeit“ hinzufügen; so begegnet immer wieder die strukturelle Inkonsistenz von apokalyptischen Visionen, 69

Vgl. zum ‚Motiv‘ als einem Textelement, das sich den spezifischen Regeln der literarischen Komposition und der ihrer narrativen Logik verdankt Sklovskij, Viktor: Theorie der Prosa, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1966 [1925], S. 33.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

die ‚unmotiviert‘ in eine oder mehrere Fragen auseinanderlaufen, ohne dass die Logik dieser Fragen sich aus dem Vorangehenden ableiten ließen.70 Dass die Unverständlichkeit eines Textes seine materiale Seite, die Textur, hervortreten lässt, zeigt sich bei Picard ebenfalls – auch wenn es sich nicht um experimentelle Prosa oder stark texturierte Texte handelt. So lassen sich die zahlreichen in die Visionen eingestreuten „vielleicht“ und „als ob“ ebenso als Texturierungen interpretieren wie die Indexikalisierungen, die die hermeneutische Undurchdringlichkeit der „Stelle“, an der „irgend etwas [ist], was nicht ist wie bei einem Menschen“71, oder des Momentes, in dem es ist „als ob schon irgend einer einmal befohlen habe, dass man für einen Augenblick aufhöre, auszusehen wie ein Mensch“72 markieren. Sie verbinden die für die „Entdeckung der Textur“ maßgebliche Emphase der „Tiefe“ mit deren Irritationspotential: Je ostentativer die Oberflächen unverständlicher Texturen den hermeneutischen Blick auf irgendwelche ihnen zugrundeliegenden Bedeutungen versperren, desto eindringlicher oft gerade die Suggestion einer Tiefe dieser Bedeutungen. Allerdings erweist sich die Qualität dieser Tiefe in den meisten Fällen als irritierend unbestimmte Größe73.

Als eigenes Textverfahren tritt diese Folge inkohärenter, teilweise in sich irrationaler Blöcke besonders deutlich hervor im Kontrast zu der höchst einfachen Sprache, die für die auf den Seiten 159 – 179 eingeschobene himmlische Kosmologie verwendet wird. Schon die ersten Seiten, die diese Kosmologie einleiten, zeichnen sich aus durch kurze, einfach strukturierte, nicht oder kaum verschachtelte Sätze, das Stilmittel einer oft identischen Wiederholung und eine klare, leicht nachvollziehbare Logik; diese Merkmale kennzeichnen die gesamte Passage und verleihen ihr eine geradezu extreme Verständlichkeit: [D]ie Sterne hielten die Vertikale des Menschen fest: die Vertikale, um die herum der Mensch gebaut war, wurde von den Sternen festgehalten. Diese Vertikale, um die herum der Mensch gebaut war, gehörte den Sternen; es war die Linie, die die Sterne auf die Erde fallen ließen, damit die Erde von den Sternen berührt würde.74 70

71 72 73

74

Ein Beispiel: „Oft ist es mir, als seien die Gesichter schon lange davongelaufen. Die paar Gesichter, die ich sehe, sind nur so hingestellt, diese müssen bleiben, aber hinter diesen paar Gesichtern laufen tausend andere davon. Diese Gesichter sind hingestellt wie eine Mauer, hinter der die anderen entfliehen. Kennt man sie, diese starren Mauer-Gesichter?“ (Picard: Der letzte Mensch, S. 34, ähnlich: ebenda, S. 35, 37f., 39, 41f., passim). Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 9. Hervorhebungen K. L. Baßler: „Oberflächen“, S. 203. Auch Wolfgang Iser weist darauf hin, dass das „als ob“ die Schwelle zwischen Lüge und Vorhandenem markiert, an der das „Erdichtetete“ transzendiert wird – so wie das Verstehen die Textur transzendiert zur Bedeutung: „Es war daher auch nicht von ungefähr, daß man die Dichtung in ihrer Geschichte bisweilen als Lüge brandmarkte, weil es das, wovon sie redete, nicht gab, wenngleich sie sich ihrerseits so präsentierte, als ob das von ihr Erdichtete vorhanden sei.“ (Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 5, Hervorhebung K. L.) Picard: Der letzte Mensch, S. 160.

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Wie in den unverständlichen grotesken Visionen begegnet auch hier im weiteren Verlauf der Darstellung eine Alternativfrage: Fest ist der Mensch um die Linie der Sterne gebaut! Ist er von den Sternen gebaut, damit die Sterne durch ihn sicher die Erde berühren, – oder ist er von der Erde gebaut, damit die Erde durch ihn sicher die Sterne berühre?75

Doch hier verzweigt sich der Text durch die Frage bezeichnenderweise nicht wie an anderer Stelle in zwei inkohärente Richtungen, ohne dass die Frage aufgelöst würde. Zwar fällt keine Entscheidung für eine der Optionen, doch wird mit der Antwort – „Er ist gebaut um des einen willen: daß Erde und Sterne sich durch ihn berühren“76 – die Alternative als obsolet zurückgewiesen, die Schilderung ergibt einen versteh- und paraphrasierbaren Sinn: Der Mensch ist um eine Vertikale herum gebaut, die ihn mit den Sternen verbindet. In welche Richtung diese Verbindung verläuft, ist nicht von Belang, entscheidend ist die Berührung. Auch die sich anschließende, typographisch abgesetzte Passage führt die Verständlichkeit fort. Sie beginnt mit den Worten „Veronika besann sich lange“ – schon dies markiert einen Gegensatz zu der „Fülle der Gesichte“, die in einer geistig kaum nachvollziehbaren „höchste[n] Gedrängtheit und Präzision“77 vorbeiziehen. Im folgenden zitiert Veronika aus einem Brief Matthias Claudius’, eines Dichters, der vor allem für seine einfache, klare Sprache und seine ‚Volksnähe‘ bekannt war. Angesichts des schroffen Gegensatzes zu den vorangehenden und nachfolgenden unverständlichen Texturen könnte man hier sogar davon sprechen, dass unter dem Vorzeichen der Unverständlichkeit nun auch diese naiv anmutende extreme Verständlichkeit den Text nicht mehr verschwinden lässt. Diesen Eindruck hinterlässt jedenfalls die Erstlektüre des Letzten Menschen, bei der die himmlische Kosmologie derart anachronistisch anmutet, dass auch sie zur Textur im engeren Sinne wird – zu einer historisierenden Textur oder zu einem „simulierenden Historismus“ 78. Den Letzten Menschen zeichnet aber vor allem jene Textur aus, deren „Entdeckung“ Baßler historisch dem Expressionismus zuordnet: die „Ich-Textur“79. Die Texturierung des Ich meint dabei genaugenommen die des sprechenden Subjekts – also der Instanzen des Autors und des auktorialen resp. personalen Erzählers. Sie versucht, das Paradox der radikalen Unverständlichkeits-Programmatik und ihrer Forderung nach einer ganz anderen Wirklichkeit einzulösen – und scheitert zugleich an ihm: Zur unlösbaren Aporie wird das Problem der referenzlosen Simulation [...] vor allem auf der Produzentenseite: wenn der Autor nicht selber die ‚Technik der Trance‘ beherrscht, mittels derer man das absolut Andere empfängt, wie kann er solche Zustände simulieren ohne Referenz 75 76 77 78 79

Ebenda, S. 161. Ebenda. Döblin: „An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm“, S. 17. Vgl. hierzu Baßler et al.: Historismus und literarische Moderne, S. 29ff. Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 79–107.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

auf das, was er vorgängig als Merkmale von Wahn, Traum oder Rausch erkannt hat? Letzlich [sic!] geht die Forderung eben doch nicht nach Simulation, sondern nach form- und gesetzgebender Wirklichkeit des ganz Anderen.80

Diese Aporien der Ich-Textur begegnen in Picards Verschränkung von Apokalypse und Groteske, in der die expressionistischen Affinitäten zur gewaltsamen Entscheidung und zum Unverständlichen zusammengeführt werden. Wenn nach Derrida die Apokalypse in dem Augenblick beginnt, in dem „man nicht mehr weiß, wer spricht und wer schreibt“81, dann schlägt sich in der apokalyptischen Sprechsituation genau jene Unmöglichkeit einer Vision nieder, „mittels derer man das absolut Andere empfängt“ (Baßler). Was die Ich-Texturen auszeichnet, ist also die nicht nachvollziehbare Verbindung zwischen dem schreibenden resp. erzählenden Subjekt, dessen Sinnes-Wahrnehmungen und der dargestellten Welt. Indem immer mehr Texte darauf verzichten, das Subjekt der Visionen wie in der phantastischen Literatur üblich durch einen narrativen Rahmen oder Kommentar zu bezeichnen, wird dessen Status unverständlich. Dem visionären, nicht-realistischen Geschehen korrespondiert ein visionäres, nichttraditionelles Subjekt. Der Text hält zwischen beiden die Schwebe, indem er zwar die Konventionen des Erzählens formal einhält (ein Ich erzählt ein Geschehen), dabei aber nicht mehr auf eine ‚normale‘ Wirklichkeit rekurriert: weder begegnet hier ein normales Subjekt verwundert einer phantastischen Welt, noch wird das Subjekt als nicht-normales (wahnsinniges, träumendes, berauschtes) eingeführt, wodurch seine unkonventionelle Sicht der Objektwelt erklärbar würde.82

Solche Ich-Texturen begegnen bei Picard in verschiedenen Zusammenhängen: So bleibt etwa unklar, wie sich die Visionen, die einem „Ich“ oder „Veronika“ zugeordnet werden, zu jenen Textpassagen verhalten, die nicht aus einer personalen, sondern einer auktorialen Perspektive geschildert werden. Eine Erklärung, die die auktorial geschilderten grotesken „Blöcke von Irrationalem“ auf ein wahnsinniges, berauschtes, träumendes oder religiöses Subjekt zurückführen würde, findet sich nicht, die Passagen gewinnen dadurch eine eigentümliche und autonome Objektivität. Es gibt keine narrative Rahmung der ‚Gesichte‘ [...]. Dieser Wegfall des konventionellen Rahmens bedeutet vor allem die Auflösung des ordnenden Erzählsubjekts und damit den Schritt von der strukturierten phantastischen Ich-Erzählung zu einer neuartigen Ich-Textur.83

Und auch die akustische Apokalypse am Ende des Letzten Menschen lässt sich als IchTextur – oder genauer: als Autor-Textur – lesen: Die Verkündigung des endgültigen Todes des Menschen lässt als mögliches Subjekt dieser Worte allein den Phonographen übrig; doch da dieser kein Subjekt im traditionellen Sinne ist, das in der Lage wäre, seine eigenen Worte zu verschriftlichen – wer ist dann das Autor-Subjekt des Schrift80 81 82 83

Ebenda, S. 80. Hervorhebung im Original. Derrida: Apokalypse, S. 71. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 85. Ebenda, S. 88.

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textes? Und wenn dieses nicht der Phonograph ist, sondern ein menschliches oder menschenähnliches Wesen, was hat es dann mit der verkündeten apokalyptischen Wirklichkeit vom Tode des Menschen auf sich? Nicht zufällig macht Baßler als „Chiffre für den Kollaps der Subjekt-ObjektKonstellation in diesen Texten [...] das semantisch polyvalente Wort ‚Gesicht‘“84 aus; denn „erstens steht es als Synonym für ‚Erscheinung‘, zweitens für das, was erscheint, ein Antlitz [...], und drittens bezeichnet ‚Gesicht‘ den Sinn, der die Erscheinung wahrnimmt, den Gesichtssinn des Ich, seine Augen, die im Text eine so unklare Rolle spielen“85. Besonders an der Rolle des visuellen Gesichtssinns und der Augen macht sich nach Baßler die zunehmend unverständliche Relation von Subjekt und Objekt fest. „Die Augen gewinnen dabei ein Eigenleben, das vom Ich ähnlich abgelöst und dem Leser ähnlich rätselhaft erscheint wie die Eigendynamik der Objekte“86 – die Worte, mit denen Baßler ein Gedicht Heinrich Schaefers interpretiert, würden auch die eigenartigen Defigurationen der Augen in Picards Der letzte Mensch präzise beschreiben. Und schon 1916 hatte Picard sich ja intensiv mit der visuellen Wahrnehmung, dem „Gesichtssinn“, beschäftigt. Die impressionistische Inszenierung des Blicks setzt eine Sinnes-Wahrnehmung in Szene, die einen bleibenden Sinn unmöglich macht. Die Sinnesorgane leiten nach dem Zentralorgan weiter, was sie empfangen; es haftet nichts in ihnen: Rasch und leicht fangen alles sie auf und werfen sie alles wieder ab. Darum war es wichtig, ein Erlebnis überhaupt nur in den Sinnesorganen abspielen zu lassen. [...] Es musste dem Impressionismus daran liegen, zwar das Sinnesorgan rasch zu ergreifen, dann aber die Funktion des Sinnesorganes so zu komplizieren, daß wegen der Kompliziertheit die Funktion allein wichtig erschien. Darum wurde das gewünschte Farbenbild nicht direkt vom Gemälde an die Netzhaut abgegeben.87

Die Bilder werden zu ‚optischen Texturen‘, die den Blick auf das Medium zurückwerfen und „den ‚Interpreten [...] auf ihre Textur, auf den Stoff, aus dem sie gemacht sind, auf das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind‘ verweisen“88. So verliert das „Zentralorgan“ seine Funktion als Instanz, durch die das Subjekt Orientierung und Kontinuität gewinnt; und damit wird auch die Objektwelt zum kontingenten Fluss purer Impressionen, in denen sich der „Sinn“ verliert: Das Zentralorgan sollte so funktionieren, als ob es ein Sinnesorgan wäre: Rasch und leicht sollte es alles auffangen und alles wieder abwerfen. Wie ein Hund, an dem der ganze Fluß zu hängen scheint, brauchte man sich nur ein wenig zu schütteln, und – man war nirgends gewesen. [...] Die Gemälde waren gleichsam vorgeschobene Teile der Sinnesorgane. Hier geschahen die Vorstufen des Sehaktes; im Auge wurde er vollendet. Sobald aber der Beschauer im geringsten sei84 85 86

87 88

Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 83. Ähnliches lässt sich bei Picard allerdings auch für die Ohren, die Stimme und den Gehörsinn nachweisen, die in seiner akustischen Apokalypse ja wie oben betont die SubjektObjekt-Konstellation verwirren. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 16ff. Baßler et al.: Historismus und literarische Moderne, S. 32.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

nen Standpunkt veränderte, zerfiel die gewonnene Farbeneinheit wieder in ihre Komponenten. Einen Lidschlag – mehr brauchte es nicht.89

Die impressionistischen Gesichte verwirren die Subjekt-Objekt-Relation, indem sie die Wahrnehmung in einer physiologischen Endlosschleife gefangen halten. „Man war ergriffen, dauernd ergriffen. Man merkte nicht, daß diese Ergriffenheit rein physiologisch war. Aber da sie im Physiologischen nie zu Ende kam, kam man gar nicht dazu, mehr zu wollen.“90

5.2 Gesichte im Kontext (II). Picards Frühwerk im Angesicht des Expressionismus Picard als Expressionist? Nach der kontextualisierenden Analyse von poetologischen Verfahren und Texturen des Letzten Menschen soll nun in einem weiteren Schritt vom Text hin zu den Kontexten seine thematische Positionierung im literarischen und intellektuellen Feld untersucht werden. In den Kapiteln 5.2 und 5.3 möchte ich zeigen, dass die frühen Picard’schen Schriften – von dem 1914 erschienen Der Bürger über Das Ende des Impressionismus (1916), Expressionistische Bauernmalerei (1918), den Aufsatz „Expressionismus“ (1919) und Mittelalterliche Holzfiguren (1920) bis hin zu Der letzte Mensch von 1921 – den Versuch darstellen, in das literarische Feld über die herrschende Avantgarde des Expressionismus einzutreten. All diese Veröffentlichungen zeichnen sich durch einen deutlichen expressionistischen Einschlag aus. Mit einer gewissen Vorsicht kann Picard bis 1921 durchaus als ‚Expressionist‘ bezeichnet werden. Diese Bezeichnung soll meiner eingangs geäußerten Absicht, gerade jene Heterogenität des Picard’schen Werkes herauszuarbeiten, die sich festen Schubladen entzieht, nicht entgegenstehen. So wie der Expressionismus eine in sich heterogene, z. T. höchst ambivalente literarische Bewegung darstellte, so verstehe ich die Qualifizierung eines Schriftstellers als Expressionisten nicht als einen Akt, der weitere Fragen erübrigt, sondern vielmehr eine Vielzahl neuer Fragen aufwirft: Welche expressionistisch beeinflussten Positionen zeichnen ihn aus, von welchen distanziert er sich – und vor allem: Auf welche Weise geschieht dies? Jedenfalls erscheint mir die Charakterisierung seiner bis 1921 erschienen Schriften als vom Expressionismus zumindest beeinflusst wesentlich angemessener als die pauschale Etikettierung als „Kulturpessimisten vom Schlage eines Ortega y Gasset“91 oder als „Au89 90 91

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 16ff. Ebenda, S. 20. Blankenburg, Martin: „Der Seele auf den Leib gerückt. Die Physiognomik im Streit der Fakultäten“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physgiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 280–301, hier: S. 296.

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toren der konservativen Physiognomik der zwanziger Jahre“92, auch wenn Picard dem Expressionismus durchaus kritisch, hier und da auch ablehnend begegnet. Besonders seine Auseinandersetzung mit expressionistischen Topoi wie der Großstadt, dem Krieg oder dem technisch-industriellen Fortschritt, aber auch seine institutionellen Kontakte zu Verlagen lassen seinen – letztlich gescheiterten – expressionistischen Versuch deutlich erkennen. Oder, um es in den Begriff des swerving zu fassen: Der Expressionismus stellt als beherrschende Avantgarde eine Kraftlinie des Feldes dar, die eine starke Anziehungsoder Gravitationskraft auf den Verlauf der Picard’schen (Lauf-)Bahn ausübt. Der Weg vom Bürger über die kunstkritischen Schriften bis hin zum Letzten Menschen ist ohne die Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen zwischen Picards Texten und den literarischen Praktiken des Expressionismus nicht zu erklären. Dabei dominieren in stilistischer Hinsicht (Kap. 5.1), aber auch was die Wahl der Themen und Topoi (Kap. 5.3) sowie die Publikationsorte, d. h. die Verlage und Zeitschriften (Kap. 5.4) anbelangt, die vom Expressionismus ausgeübten Anziehungskräfte. Auch wenn sich diese Dominanz etwa durch den Einfluss symbolistischer Texturen (s. o. S. 283) oder expressionismuskritischer Positionierungen als komplex erweist, lässt sich hier eine deutlich Annäherung der Bahn an expressionistische Positionen nachweisen. Dass Picard zum Expressionismus jedoch immer auch eine gewisse Distanz eingehalten hat, zeigt am deutlichsten jener gerade auch für den Expressionismus wichtige Bereich der literarischen Praktiken, den persönliche Kontakte und die Zugehörigkeit zu Kreisen und Gruppen ausmachen (Kap. 5.4). Umgekehrt schlägt sich diese Distanz auch in der Rezeption der Picard’schen Frühschriften durch literarische Kreise – in diesem Falle: die Expressionismus-Forschung – nieder. Letztere ignoriert Picard mit einer bedeutsamen Ausnahme fast vollständig, und zwar bereits seit ihren Anfängen (Kap. 5.2). Um Picards Laufbahn und die in seinen frühen Schriften vollzogenen swerves nachvollziehen zu können, soll zunächst kurz skizziert werden, in welcher Lage sich das literarische und intellektuelle Feld befinden, als Picard im Jahr 1914 mit Der Bürger erstmalig als Schriftsteller in Erscheinung tritt. Beide Felder stehen unter dem Einfluss der expressionistischen Bewegung. Sie nimmt innerhalb der konkurrierenden ästhetischen Strömungen die Position der jungen Avantgarde ein und gewinnt im Rahmen der relativen Autonomie des intellektuellen Feldes zunehmend eine beherrschende Stellung gegenüber den weiterbestehenden ehemaligen, aber überholten Avantgarden bzw. Arrièregarden (Impressionismus, Symbolismus, Ästhetizismus, Realismus, Naturalismus) sowie dem heteronomen Pol der Heimatkunst, der völkischen Literatur, den klassizistischen oder religiösen Strömungen (wie etwa der katholischen Literaturbewegung). 92

Schmölders und Gilman: „Vorwort“, S. 8. Letzteres ist schon deswegen nicht sehr glücklich, weil Picard in den „zwanziger Jahre[n]“ überhaupt nur zwei Bücher schreibt, die in ihrer literarischen Position weit auseinander liegen: Den Letzten Menschen von 1921 und Das Menschengesicht von 1929. Möchte man diese beiden physiognomischen Hauptwerke verbinden, so ließe sich dies allenfalls mit dem Schritt vom Expressionismus des Letzten Menschen hin zum Nachexpressionismus des Menschengesichts tun. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 345f.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Auf jungen Autoren, die mit dem Anspruch auftreten, als literarische Avantgarde ernstgenommen zu werden, lastet also ein hoher Druck, expressionistisch zu schreiben. Der Ausweis, sich auf der Höhe der Zeit zu befinden, modern – und das heißt, zumindest bis 1918, expressionistisch beeinflusst – wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, stellt die Eintrittsbedingung für das Spiel um die Literatur dar; denn nur durch ein soziales „percipi, ein Wahrgenommenwerden [...], welches als positives oder negatives symbolisches Kapital wirkt“93, tritt der literarisch Tätige ein in die ‚Existenz‘ als Autor. Und dieses Wahrgenommenwerden – sofern es nicht durch die feldexternen heteronomen Instanzen des Marktes erfolgt – kann nur durch eine der verschiedenen Avantgarde-Fraktionen des autonomen Poles erfolgen, im besten Fall durch die herrschende Avantgarde. Im Falle der expressionistischen Bewegung tritt ihr Herrschaftsanspruch in geradezu klassischer Weise auf den Plan der (Literatur- und Kunst-)Geschichte. Indem sie die Überwindung und das Ende der ihr vorangehenden Avantgarde – des Impressionismus – verkündet, gewinnt sie zugleich ihr eigenes Profil durch die negative Bezugnahme auf Eigenschaften, die der zu beerbenden Avantgarde zugeschrieben werden, oder durch Schlagworte, die ihr entwendet werden. Kaum jemand hat diese Praxis der Negation so prägnant zum Ausdruck gebracht wie Kurt Hiller, einer der wichtigsten Wegbereiter des Expressionismus, der den Begriff 1911 auch als erster in die Literatur importierte. In „Die Weisheit der Langenweile“ heißt es: Den Impressionismus schreibt längst niemand mehr auf ein Panier. [...] Man stellt sich unter ihm heut weniger einen Stil vor als eine unaktive, reaktive, nichts-als-ästhetische Gefühlsart, der man als allein bejahbar eine wieder moralhafte entgegensetzt (Gesinnung; Wille; Intensität; Revolution); und man neigt dazu, den Stil, den diese neue Gefühlsart erzeugt, wegen seiner konzentrierten Hervortreibung des voluntarisch Wesentlichen Expressionismus zu nennen.94

Auch Picard greift in seiner Kritik des Impressionismus Begriffe auf, die den Diskursen des Impressionismus selbst entstammen. So bezieht sich etwa die Kritik der „Reizsamkeit“ als eines an der Oberfläche verbleibenden Wahrnehmungsphänomens auf die kulturgeschichtlichen Schriften Karl Lamprechts, der mit der „Reizsamkeit“ ähnlich wie Simmel die Auswirkungen des modernen gesellschaftlichen (Großstadt-)Lebens auf die Individuen bezeichnet hatte. Die früheren Kritiker des Impressionismus haben auch versucht, Gemeinsames aus der Vielgestaltigkeit herauszustellen. Sie hoben aber das Gemeinsame nur ab von der Oberfläche, die ihnen mikroskopisch oder reizsam oder momentphotographiert erschien. Sie sahen in der Methode schon das Prinzipielle. Sie frugen nicht weiter, warum man sich so ausdrückte. Diese Theoretiker nahmen etwas Sekundäres, den Sinnen Auffallendes, Impressionistisches für das 93 94

Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 175. Hiller, Kurt, Die Weisheit der Langenweile. Eine Zeit- und Streitschrift, 1913, zit. n. Anz, Thomas und Michael Stark (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart: Metzler, 1982, S. 37.

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Wesen selber. Diese Kritiker waren selber Impressionisten. (Lamprechts ‚Reizsamkeit‘ ist nur ein Steckbrief, mit der Kennzeichnung des augenscheinlichen Hauptmerkmals, mit der leisen Verdächtigung, – zu der es der Impressionismus gerade noch bringt – die in dem Wort Reizsamkeit liegt.)95

Picard bezeichnet Lamprecht und Simmel als die Philosophen des Impressionismus. Und in der Tat markiert Lamprecht insbesondere mit der Einbeziehung von Psychologie und Neurologie in die Geschichtsschreibung eine moderne historiographische Position, die ihr künstlerisches Pendant im Impressionismus findet: den Wechsel von den biologischen Leitparadigmen (Vererbung, Milieu), die etwa den Naturalismus beeinflussten, hin zu den psychologischen Paradigmen (Gefühl, Seele, Nerven), wie sie in Symbolismus, Ästhetizismus, Décadence und Impressionismus hineinwirken. Deutlich wird damit aber auch, dass der mit Simmel und Lamprecht verbundene Diskurs um die vielfältigen Sinneseindrücke, die „Mannigfaltigkeit“ (Picard) des modernen Lebens und die davon ausgehenden sozialen Probleme für den Expressionismus keineswegs irrelevant waren. Seine Analyse gleicht der des Impressionismus, doch er erhebt den Anspruch, über das Konstatieren, Registrieren oder Beklagen der Phänomene hinauszugehen und sie damit zu überwinden. Die dabei einzusetzenden Mittel teilt Picard – zumindest bis 1921 – mit Hiller und zahlreichen anderen Exponenten des frühen Expressionismus: Geist, Wille, Moral, Werte, Einheitsbildung, Bejahung; was Hiller die „Hervortreibung des voluntarisch Wesentlichen“ nennt, heißt bei Picard „Wille zur Verkleinerung des Chaos“96. Auffallend ist in diesem Zusammenhang der Begriff der „Gesinnung“. Von Hiller noch als „moralhafte Gefühlsart“ dem Impressionismus entgegengesetzt, wird die „Gesinnung“ von Picard dem Impressionismus zugeschrieben, nimmt aber eine komplexere und ambivalentere Bedeutung an: In ihr lässt sich jenseits der Emphase ein differenzierteres Bild des Impressionismus lesen, denn die Gesinnung steht – als Versuch, „die zahllos gewordenen und darum unkontrollierbaren Objekte der Außenwelt wenigstens mit einem Blicke, oberflächlich, zu übersehen“97 – auf halbem Wege zwischen dem nur „reaktiven“ Versuch, Einheiten zu bilden und der Gewinnung wesenhafter Entitäten, wie der Expressionismus sie sich aufs „Pannier“ schreibt. Der Impressionist synthetisiert wohl eine Anzahl von Erscheinungen in ein System. [...] Die Systemform im Impressionismus wirkt nicht mehr weiter bestimmend, regulierend für die Art der neuen Erfahrung. Das ist charakteristisch für den Impressionismus: Nicht daß er im allgemeinen dem Systematischen widerstrebt, sondern wie er es benützt. Er erlebt in ihm nicht den Zwang zur Einheit einer Anschauung gegenüber der Mannigfaltigkeit. Es dient ihm bloß zur Vereinfachung, um viele Dinge in Beziehung zu vereinen.98

95 96 97 98

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 10. Picard, Max: „Expressionismus. Ein Vortrag“, in: Alfred Wolfenstein (Hrsg.), Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, Berlin: S. Fischer Verlag, 1919, S. 329–338, hier: S. 337. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 11. Ebenda, S. 57.

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Die hier geführte kritische Auseinandersetzung mit der „Mannigfaltigkeit“ und ‚Beliebigkeit‘ der Erscheinungen, die Picard nicht nur in der impressionistischen Kunst ausmacht, sondern als generelles Merkmal moderner Lebenswelten darstellt, findet sich in Ansätzen bereits in seinem frühen Aufsatz über „Individuum und Organisation“ – wenngleich unter anderen, nämlich politischen Vorzeichen. So könne die Gewohnheit ein Geschehnis der Außenwelt unter einem Reichtum an Gesichtspunkten, das heißt Obervorstellungen zu betrachten für die Organisierung des einzelnen ein ungünstiges Moment sein. Wer die Einzelheiten einer an sich politischen Angelegenheit bald dieser bald jener Obervorstellung unterordnet, der wird sich nur ungern unter die einzige Obervorstellung einer bestimmten politischen Organisation zwängen. Dazu kommt noch, daß, wenn man ein Ereignis unter den verschiedensten Gesichtspunkten überdenkt, man an dem einzelnen jeweils nur leicht festhält und sich darum nicht sehr dafür einsetzt.99

Bei den z. T. ja bereits erwähnten Werken Picards handelt es sich nur zum Teil um literarische Versuche im engeren Sinne: Während Der Bürger, Der letzte Mensch und „Expressionismus“ literarische Produkte im engeren Sinn darstellen – sie lassen sich zwischen Lyrik, Prosa und literarischem Essay verorten – , handelt es sich im Falle von Das Ende des Impressionismus, Expressionistische Bauernmalerei und Mittelalterliche Hozfiguren um kunstkritische Schriften. Doch lassen sich auch letztere zum literarischen Feld zählen. Denn häufige Überschneidungen zwischen kunstkritischem und literarischem Diskurs sind nicht nur ein generelles Merkmal der modernen Avantgarden100, sondern zeichnen ganz besonders die expressionistische Bewegung aus, die bekanntermaßen zahlreiche Versuche unternimmt, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstdisziplinen zu überschreiten und zu verwischen. Picards Anspruch bleibt weit hinter den Idealen zurück, auf die das Schlagwort vom ‚Gesamtkunstwerk‘ oder Kurt Schwitters Forderung, „nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein“101, zurückgehen. Doch seine kunstkritischen Essays folgen der zeitgenössischen Strömung der ‚Kunstschriftstellerei‘, die – unter Berufung auf Friedrich Schlegel – an die Stelle der kritischen wissenschaftlichen Distanz ein künstlerisch-literarisches Nacherleben der Bildkunst setzt und sich dabei den panartistischen Bestrebungen des Expressionismus verpflichtet fühlt.102 Wenngleich Picards Poetologien und Texturen, vor allem aber die in diesem Kapitel zu behandelnden thematischen und institutionellen Positionierungen eindeutig Merkmale des Expressionismus aufweisen, so bleibt seine Beziehung zum Expressionismus aber ambivalent, z. T. auch widersprüchlich: Insbesondere die beiden Texte, die den Expressionismus im Titel tragen – die Expressionistische Bauernmalerei und der „Ex99

Picard: „Individuum und Organisation“, S. 111. Hervorhebungen im Original gesperrt. Vgl. hierzu oben S. 61f. 100 Vgl. hierzu Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 320. 101 Schwitters, Kurt, „Merz“, 1921, zit. n. Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002, S. 150. 102 Vgl. hierzu auch unten die Ausführungen über Picard und Wilhelm Hausenstein, S. 297ff.

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pressionismus“-Essay – erweisen sich als kritische bis distanzierte Analysen des Expressionismus.103 Dem stehen jedoch zahlreiche andere Aspekte gegenüber, die eindeutig Züge der expressionistischen Avantgarde tragen – wie etwa die Etablierung einer eigenen Positionierung als Negation des Bürgers (in Der Bürger) und des Impressionismus (in Das Ende des Impressionismus) – oder die Poetologien und Texturen des Letzten Menschen, die zu der von Picard selbst geäußerten Kritik expressionistischer Wahrnehmung und ihres Pathos’ schlicht im Widerspruch stehen. Picards widersprüchliche Haltung zum Expressionismus mag dazu beigetragen haben, dass sein Name aus der Literaturgeschichte des Expressionismus weitgehend verschwunden ist – rechtfertigen lässt sich dieses Verschwinden damit aber nicht. Denn zu eindeutig sind die Anklänge an den Expressionismus, mit denen er seine analytische Distanz immer wieder performativ (poetologisch, textuell), thematisch oder sozial unterläuft. Dies gilt umso mehr, als die jüngere Expressionismus-Forschung in ihrem Bestreben, den Expressionismus aus seiner Gleichsetzung mit humanistischem Pathos oder literarisch anspruchslosen Verkündigungen des ‚Neuen Menschen‘ zu lösen, auf die im Vergleich zu anderen Avantgarden fließenden Grenzen des Expressionismus hingewiesen hat. Zuletzt und am deutlichsten haben Thomas Anz und Michael Stark herausgearbeitet, dass der Expressionismus eine literaturgeschichtlich kaum einzugrenzende, höchst heterogene Bewegung war, deren Identifizierung mit einem bestimmten Kreis von Autoren den Blick eher verstellt als schärft. Die gängigen Bezeichnungen übersehen laut Anz, dass das vom Begriff Ausgeschlossene in vielen Aspekten dem Expressionismus auch gleicht. Sogar ein Autor wie Thomas Mann, den niemand als expressionistisch bezeichnen würde [...], stand diesem in den zehner Jahren weniger fern, als es scheint. Das gilt auch für Karl Kraus und für Stefan George und seinen Kreis.104

Dazu kommt, dass die häufige Gleichsetzung des Expressionismus mit der historischen Epoche 1910–1920 die komplexe und umkämpfte Situation des literarischen Feldes verschleiert. Das ‚expressionistische Jahrzehnt‘ war gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, war die Zeit auch eines noch keineswegs abgeschlossenen Naturalismus, eines weiter wirksamen Ästhetizismus, eines epigonalen Klassizismus oder auch der antimodernen Heimatkunst.105

Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ oder „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“106, ist allerdings keinesfalls ein Charakteristikum alleine des Expressionismus. Sie 103

Vgl. hierzu unten S. 251ff., 256ff. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 9f. 105 Anz, Thomas: „Expressionismus“, in: Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegac (Hrsg.), Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt am Main: Athenäum, 1987, S. 142–152, hier: S. 132. 106 Vietta und Kemper: Expressionismus, S. 15f. Der von Anz verwendete Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ ist – ohne dass dies allerdings erwähnt wird – von Vietta/Kempers „Ungleich104

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

ist vielmehr Eigenschaft und Bedingung moderner kultureller Felder mit ihrer dynamischen Spannung zwischen autonomen und heteronomen Polen, zwischen arrivierten und neuen Avantgarden sowie kommerziellen Nicht-Avantgarden. Anz’ Folgerung, der „Expressionismus ist eine Konstruktion der Literaturgeschichtsschreibung“107, greift daher zu kurz, obgleich sie nicht völlig falsch ist. Jede Avantgarde hat ihren historischen Ort inmitten einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ und ist insofern immer auch „eine Konstruktion der Literaturgeschichtsschreibung“ – ebenso ist der Expressionismus aber auch eine Konstruktion der literarischen Praktiken zwischen 1910 und 1925. Wenn Anz die vereinheitlichende Zusammenfassung der literarischen Praktiken einer Zeit, wie sie der Epochen-Begriff vornimmt, kritisiert, so ist ihm zuzustimmen; „als eine ‚Epoche‘ der deutschen Literaturgeschichte kann der Expressionismus nur in eingeschränktem Sinn gelten.“108 Schränkt man jedoch den Sinn dahingehend ein, dass der Expressionismus die ‚Epoche‘ prägt, lassen sich die Jahre 1910 bis 1925 durchaus unter dem Vorzeichen des Expressionismus zusammenfassen: Er stellt zumindest bis 1918/19 die herrschende Avantgarde dar, insofern es ihm zukommt, die vorangegangenen Avantgarden des Impressionismus und Ästhetizismus zu deklassieren und als herrschende Avantgarde abzulösen; insofern es seine Themen und Verfahren sind, an denen sich die Mehrzahl der jungen Autoren orientiert; und insofern es eben diese Themen und Verfahren sind, die es für die nachfolgende Generation (oder jüngere Expressionisten, die kein ‚Selbst-Plagiat‘ betreiben wollen) wiederum zu verneinen gilt. Letztere Aufgabe wird neben dem Dada vor allem die „Neue Sachlichkeit“ übernehmen, deren nüchtern und rational auftretenden „Verhaltenslehren der Kälte“ (Lethen) empirische Realitäten und desillusionierte Blicke konstruieren, wo der Expressionismus den visionären Geist und pathetische Utopien oder Apokalypsen beschwor. Festzuhalten bleibt, dass der Expressionismus definitorisch nur schwer zu fassen ist, auch wenn dies weniger der „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ zuzuschreiben ist, als vielmehr den im Vergleich zu anderen Avantgarden (etwa dem George’schen Ästhetizismus) geringen Bemühungen, sich als kohärente Bewegung zu inszenieren und dem Ungleichen als eine Gruppe gegenüberzutreten. Das zeigen u. a. die fehlende Schulen-Bildung sowie der Umstand, dass die Bezeichnung „Expressionismus“ nur sehr beschränkt als Selbstbezeichnung verwendet wurde. Die meisten „Expressionisten“ sperren sich – im Namen einer aktiven, das Subjektive der Konstruktionen betonenden Programmatik – gegen Etikettierungen (die berühmten „Ismen“109) oder rechnen sich anderen Bewegungen zu (Fauvismus, Futurismus, Dada). „Expressionisten“ werden sie – wenn überhaupt – erst zeitigkeit des Gleichzeitigen“ abgeleitet; und letzterer geht zurück auf Ernst Blochs Erbschaft dieser Zeit. 107 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 9. 108 Anz: „Expressionismus“, S. 132. 109 Bekannt ist Döblins an Marinetti gerichtete Abgrenzung: „Bringen Sie Ihr Schaf ins Trockne. Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus.“ (Döblin: „Futuristische Worttechnik“, S. 15)

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spät oder durch die Rezeption bzw. die Expressionismus-Forschung. Auch die zeitgenössischen Versuche, den Expressionismus theoretisch zu fassen und programmatisch zu fixieren, zeichnen sich dadurch aus, dass sie höchst vage, begrifflich sehr unpräzise und ohne definitorischen Anspruch auftreten. Zudem klafft eine Lücke zwischen expliziten theoretischen Formulierungen und jener impliziten theoretischen Arbeit, die sich in Lyrik oder Prosa-Texten vollzieht und die die expliziten programmatischen Arbeiten oft übertrifft, was Innovationspotential, Pointiertheit und Reflexionsniveau anbelangt. Oft lassen sich Essay und Fiktion kaum voneinander trennen – die für den frühen Expressionismus wichtigen Formen von Kurz-Essay oder Manifest etwa greifen ausgiebig auf literarische Verfahren der expressionistischen Prosa oder Lyrik zurück, wie etwa auf den parataktischen Stil, das Pathos oder die Unverständlichkeits-Texturen. 110 All dies ist zu bedenken, wenn von Picard als einem „Expressionisten“ die Rede sein soll. Er gehört keiner Schule an; sowohl literarisch als auch was seine sozialen Kontakte betrifft, steht er ebenfalls dem Symbolismus nahe;111 seine Texte changieren zwischen Lyrik, Prosa und Essay, zwischen Literatur und Kunstkritik; und er selbst hat sich nie als „Expressionisten“ bezeichnet (was jedoch für zahlreiche ‚Expressionisten‘ ebenfalls gilt).

Picards Rezeption in der Expressionismus-Forschung In beinahe allen größeren und wichtigen Übersichten, Standardwerken und Bibliographien der Expressionismusforschung tauchen Picards frühe Schriften nur sehr vereinzelt auf oder fehlen ganz. Paul Raabe, der in drei umfangreichen Bibliographien ein unerlässliches Hilfsmittel der Expressionismusforschung erstellt hat,112 erwähnt lediglich den in der Erhebung erschienenen Aufsatz „Expressionismus“113. Erklärt der Umstand, dass die beiden ersten der drei Bibliographien ausschließlich Zeitschriften, Jahrbücher, Sammelwerke und Reihen erfassen, das Fehlen von Picards übrigen Schriften aus einer inneren Logik 110

Vor allem Der Sturm hat die Literarisierung des Kurz-Essays entscheidend befördert: „Man macht sich bei den Gründlichen unbeliebt, wenn man eine Frage in einigen Seiten, statt in einigen Schinken, erledigt.“ (Hiller, Kurt: „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie und seine Überwindung durch die Restitution des Willens“, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste, II. Jg. (1911), Nr. 59, S. 468–470, hier: S. 2) 111 Vgl. hierzu Kap. 5.4, S. 281ff., 288ff. 112 Raabe, Paul (Hrsg.): Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910–1921, Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 1964; Raabe, Paul (Hrsg.): Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des deutschen Expressionismus. 1910–1925, Nendeln: Kraus-Thomson, 1972; Raabe, Paul (Hrsg.): Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bibliographisches Handbuch, Stuttgart: Metzler, 1985. 113 Picard: „Expressionismus. Ein Vortrag“.

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heraus, so zeigt die Nichterwähnung Picards in dem 1985 veröffentlichten bibliographischen Handbuch Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus an, dass Picards Wirken als expressionistischer Schriftsteller von der Forschung weitgehend vergessen wurde. Auch wenn – wie weiter unten zu zeigen sein wird – Picards Beitrag zum Expressionismus und insbesondere seine institutionelle Verflechtung mit dessen wichtigsten Verlagen und Zeitschriften eher gering war, so ist seine Rolle doch nicht vollständig zu vernachlässigen und die Verweigerung eines Platzes in einer ebenso nüchternen wie umfassenden bibliographischen Bestandsaufnahme stellt ein nicht zu rechtfertigendes Manko dar. Zumal sein erstes Werk, Der Bürger, im „Verlag der Weißen Bücher“ und damit bei einer literarischen Institution erschien, deren Zeitschrift Die Weißen Blätter zu den wichtigsten und einflussreichsten Periodika des Expressionismus zählte. So wird Der Bürger auch an ebenso einschlägiger wie prominenter Stelle beworben: Nicht nur in den Weißen Blättern, sondern auch auf den ganzseitigen Anzeigen des „Verlags der Weißen Bücher“, die das aktuelle Verlagsprogramm etwa in der Aktion bekannt machten.114 Und dass Wolfenstein Picards Essay mit dem prestigeträchtigen Titel „Expressionismus“ in Die Erhebung abdruckt, bezeugt, dass einschlägige Kreise des Expressionismus Picard durchaus als Autoren aus dem eigenen Umfeld wahrnahmen. Die mangelnde bibliographische Erfassung durch Raabe mag mit dafür verantwortlich sein, dass Picard in Vietta/Kempers Standardwerk Expressionismus115, das den literaturwissenschaftlichen Expressionismus-Diskurs seit den siebziger Jahren mitgeprägt hat, nicht erwähnt wird. Auch in den Forschungsberichten von Brinkmann (1980)116 und Korte (1994)117 taucht Picards Name nicht auf. Lediglich die von Thomas Anz und Michael Stark angestoßene Forschung erwähnt Picard, und zwar im Zusammenhang mit der expressionistischen Rezeption Husserls und der Phänomenologie. Doch auch hier beschränkt sich die bibliographische Erfassung (in der Dokumentation Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920118 und dem Übersichtswerk Literatur des Expressionismus) auf den bereits bei Raabe verzeichneten Aufsatz „Expressionismus“ aus Wolfensteins Jahrbuch Die Erhebung sowie eine kurze Erwähnung des Bürgers119. 114

Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, Nummern 26, 27, 28, 36/37, 38/39, 40/41, 43/43, 44/45 des Jahrgangs 1914 sowie 1/2, 3/4, 5/6 des Jahrgangs 1915. 115 Vietta und Kemper: Expressionismus. 116 Brinkmann, Richard: Expressionismus. Internationale Forschung zu einem internationalen Problem. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderband, Stuttgart: Metzler, 1980. 117 Korte, Hermann: „Abhandlungen und Studien zum literarischen Expressionismus 1980–1990“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 19. Jg. (1994), S. 225–279. 118 Anz und Stark (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910– 1920. 119 Ebenda, S. 169.

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Picards eindeutig unter expressionistischem Vorzeichen verfasste Werke Der Bürger, Mittelalterliche Holzfiguren, Expressionistische Bauernmalerei, Das Ende des Impressionismus und Der letzte Mensch – man beachte nur die Titel, angesichts derer sich eine weitere Begründung fast erübrigt – sind in ihrer Zugehörigkeit zur expressionistischen Bewegung bisher so gut wie nicht erfasst und weitgehend unbekannt. Das Fehlen Picards in literaturgeschichtlichen Standardwerken zum Expressionismus reicht allerdings weiter zurück bis in die Zeit vor dem Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg. Das Vergessen des ‚Expressionisten Picard‘ setzt bereits mit dem ersten großen Werk zur Literaturgeschichte des Expressionismus ein, mit Albert Soergels 1925 erschienenem 2. Band aus der Reihe „Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte“, Im Bann des Expressionismus. Schon in diesem ersten, immerhin fast 900 Seiten starken Rückblick auf den Expressionismus taucht Picard nicht (mehr) auf. Dass Picard jedoch durchaus als Expressionist wahrgenommen werden konnte, belegt seine Erwähnung in einem weiteren, höchst wichtigen Beitrag zur frühen ExpressionismusForschung, Georg Lukács’ 1934 in der Zeitschrift Internationale Literatur erschienenem Aufsatz „Über Größe und Verfall des Expressionismus“120. Und gerade der Umstand, dass Picard hier nicht fehlt, hat seiner Rezeption ebenfalls im Wege gestanden. Zwar ist Lukács’ These vom mehr oder minder unausweichlichen Münden des Expressionismus in den Faschismus schon im Rahmen der sich daran anschließenden ‚Expressionismusdebatte‘ als zu einfach kritisiert worden (etwa von Bloch), doch bis in die siebziger Jahre übte sie einen starken Einfluss auf den literaturwissenschaftlichen Diskurs zum Expressionismus aus. Lukács ‚adelt‘ Picard einerseits dadurch, dass er ihn mit Worringer, Pinthus und Hiller zu den wichtigsten Theoretikern des Expressionismus macht121; in Picards „Expressionismus“-Aufsatz sieht er gar den „Gipfelpunkt der idealistischen Verzerrung“122, die „die Expressionisten [als] die dichterischen Sprachrohre“123 einer revolutionär gesinnten, aber über das Spontane und Gefühlshafte nicht hinausgehenden „Massenbewegung“ betreiben. Zwei Aspekte der expressionistischen Ideologie greift Lukács dabei besonders heraus, und beide illustriert er mit einer Passage aus Picards „Expressionismus“-Essay. In seiner Kritik der expressionistischen Polemik gegen die Relativismen des Impressionismus verfalle der Expressionismus einem idealistischen Streben, das von der ‚objektiven‘ oder ‚realen Wirklichkeit‘ (um deren Rettung es Lukács geht) absieht und zur Abstraktion und zur Verallgemeinerung führt: 120

Lukács, Georg: „‚Größe und Verfall‘ des Expressionismus“: in: Georg Lukács, Werke. Bd. 4. Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied und Berlin: Hermann Luchterhand Verlag, 1971 [1934], S. 109–149. 121 Vgl. ebenda, S. 137, 143. 122 Ebenda, S. 131. Allerdings treibt laut Lukács „[d]er eigentliche Theoretiker des Expressionismus, Kurt Pinthus, [...] diese Abstraktion womöglich noch weiter“ (ebenda). 123 Ebenda, S. 130.

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Die ‚reinste Höhe‘ der Abstraktion erreichen sie, indem sie ‚dem‘ Krieg überhaupt ‚den‘ Menschen gegenüberstellen. [...] Damit wird die Frage des Kampfes gegen den Krieg vom Schlachtfeld des Klassenkampfes auf das private Gebiet der Moral geschoben. Die falsche Weltanschauung, die unrichtige Moral sind die wirklichen Ursachen des fürchterlichen Menschheitszustandes der Gegenwart.124

Und als Beleg führt er an: So stellt z. B. Max Picard impressionistische und expressionistische Weltanschauung einander gegenüber: ‚Durch den Impressionismus hat sich der Mensch der Verantwortung enthoben ... Statt des Gewissens für ein Ding braucht man nur das Wissen um seine Beziehungen.‘ (Expressionismus, in der Anthologie ‚Die Erhebung‘ S. 329/30) Und er fährt fort: ‚Diese Beziehungshaftigkeit hat erst den langen Krieg ermöglicht. In allen Dingen ist schon alles enthalten, in allen Dingen ist auch schon der Krieg, und aus allen Dingen kann Krieg herangezogen werden, und überallhin kann Krieg wieder sich hineinverziehen und von neuem bezogen werden. Und so hin und her. Mars, der Einzelne, ist nichr mehr, daß man ihm begegnen und fassen [sic!] kann; er stirbt jeden Tag in tausend Dinge hinein und lebt jeden Tag aus tausend Dingen wieder zusammen.‘125

Der zweite Aspekt der Lukács’schen Kritik hängt eng mit dieser dem Expressionismus vorgeworfenen abstrahierenden und verallgemeinernden Abwendung von der Wirklichkeit zusammen: Beide Tendenzen implizieren einen „subjektiven Idealismus [...], der mit dem Anspruch auf Objektivität auftritt“126 und sich in der „schöpferischen Methode“ ausdrückt. Indem wir erneut auf diese Äußerungen von Worringer, Pinthus, Picard hinweisen, führen wir noch eine Stelle von Max Picard an, an der die Anwendung der erkenntnistheoretischen Methode (Vordringen zum ‚Wesen‘) auf die schöpferische Praxis deutlich sichtbar wird. ‚Der Expressionist‘, sagt Picard, ‚... ist pathetisch, damit es scheint, als ob er niemals mitten unter den Dingen mitreagiert hätte, sondern als ob er erst mit einem großen Schwung von weit her sich habe zu den Dingen schleudern müssen, und weil mit diesem Schwung des Pathos die Dinge aus dem Wirbel des Chaos eingefangen werden können. Das Pathos aber allein genügt nicht, ein Ding aus dem Chaos zu fixieren. Man muß ein Ding noch verwandeln, als ob es niemals mit den anderen Dingen des Chaos in Beziehung gewesen wäre, damit es von ihnen nicht mehr anerkannt wird und nicht mehr auf sie reagieren kann. Man muß abstrakt sein, typisieren, damit das Erreichte nicht wieder ins Chaos zurückgleitet.‘127

Die anschließende Lukács’sche Analyse dieses Picard-Zitats unterschlägt jedoch, dass Picard an dieser Stelle den Expressionismus durchaus mit einer gewissen Distanzierung beschreibt – die dargestellte pathetische Methode ist deutlich markiert als oberflächliche („es scheint“, „als ob“) Methode „des Expressionisten“. Und auch die These „Das Pathos aber allein genügt nicht, ein Ding aus dem Chaos zu fixieren. Man muß ein Ding noch verwandeln“ mißversteht Lukács, wenn er in ihr Picards eigene Position sieht. Die nachfolgende, in drei Punkte gegliederte Interpretation des Picard-Zitats geht daher 124

Ebenda, S. 131. Ebenda. 126 Ebenda, S. 137. 127 Ebenda. Hervorhebung durch Georg Lukács. 125

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zumindest partiell an ihrem Gegenstand vorbei. Denn wie eine ausgiebigere Lektüre, etwa die des Letzten Menschen oder des Bürgers, gezeigt hätte, fasst Picard keineswegs „die Wirklichkeit von vornherein als ‚Chaos‘, also als etwas Unerkennbares, Unerfaßbares, ohne Gesetze Existierendes auf [...]“128, wie Lukács ihm vorwirft. Dies zeigen etwa die himmlische Kosmologie des Letzten Menschen129 oder die ImpressionismusKritik aus Das Ende des Impressionismus130, die ja durchaus eine objektive Wirklichkeit jenseits des Chaos postulieren – wenn auch mit ganz anderen politischen und philosophischen Motiven als Lukács... Und auch die beiden anderen Kritikpunkte Lukács treffen das Anliegen, das sich u. a. in Der letzte Mensch ausdrückt, nur zum Teil: [Z]weitens, daß die Methode zum Erfassen des ‚Wesens‘ (hier ‚Ding‘ genannt), die Isolierung, das Zerreißen, das Vertilgen aller Zusammenhänge, deren gesetzloses Gewirr eben das ‚Chaos‘ ausmacht, sein muß; und drittens, daß das ‚Organ‘ dieser ‚Wesens‘-Erfassung, die Leidenschaft, hier etwas von vornherein Irrationales, dem Verstandesmäßigen starr und ausschließend Gegenübergestelltes ist.131

Was Lukács Picard vorwirft, gilt allenfalls für die Text-Intention der grotesk-unverständlichen Texturen des Letzten Menschen, er vernachlässigt dabei andere Textpassagen aus diesem oder sonstigen Werken ebenso wie die dahinterstehende Autor-Intention. Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass Picards Versuch, sich eine Position im Umkreis der expressionistischen Avantgarde zu erwerben, weitgehend ohne Erfolg geblieben ist, was seine literaturgeschichtliche Rezeption betrifft. Und dies ist, wie etwa das Fehlen in Soergels Literaturgeschichte zeigt, nicht allein auf die Kritik Lukács’ zurückzuführen. Picards Swerving durch die Risiken und Unwägbarkeiten des literarischen Feldes erweist sich im Rückblick nicht als abwegiger Umweg, sondern als umwegiger Abweg. Dafür sind zum einen werkimmanente Faktoren verantwortlich: Picards widersprüchliche bis ablehnende Haltung zum Expressionismus132 sowie der nicht zu leugnende Befund, dass seine Schriften literarisch an vielen Stellen dem Gang der avantgardistischen Dinge hinterher laufen und erst eine recht mühsame Lektüre interessante Facetten seines Frühwerks hervortreten lässt. Daneben sind aber auch zwei externe Faktoren von Bedeutung, die zugleich Ursache und Wirkung des ausbleibenden Erfolgs darstellen: die geringe institutionelle Anbindung Picards an Verlage, Zeitschriften und literarische Gruppen133 sowie der späte 128

Ebenda. Vgl. hierzu oben S. 28ff. 130 Vgl. hierzu unten S. 252f. 131 Lukács: „‚Größe und Verfall‘ des Expressionismus“, S. 137f. 132 Aber auch andere Autoren, die als Expressionisten gelten (wie Döblin oder Sternheim), treten ja spätestens ab 1918, oft schon früher in Widerspruch zu ihren ehemaligen expressionistischen Positionen. 133 Vgl. hierzu unten Kap. 5.4. 129

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Eintritt Picards in die expressionistische Strömung. Die meisten, nämlich fünf der sechs frühen Werke Picards erscheinen zwischen 1916 und 1921 – am Ende des ‚expressionistischen Jahrzehnts‘ und zu einer Zeit, in der die ersten deutlichen Hinweise auf das Ende des Expressionismus und damit die ersten abwertenden Tendenzen laut werden: Abgesänge auf den Expressionismus von einflussreichen Autoren und Kritikern schießen in den kommenden Jahren wie Pilze aus dem Boden. Picards kunstkritischer Abgesang auf den Impressionismus mutet dagegen recht anachronistisch an – besonderes Aufsehen jedenfalls erregt das „Ende des Impressionismus“ nicht in einer Zeit, in der etwa der mit Picard seit 1918 befreundete Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein bereits das Ende der nachfolgenden Avantgarde ausruft: „Der Expressionismus ist bereits in dem Moment seiner historischen und sachlichen Vollendung angekommen; der Pendel hat durchgeschwungen“134. All diese Faktoren, die zum Vergessen Picards in den Literaturgeschichten des Expressionismus beigetragen haben, ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass sein Fehlen eine Leerstelle der Expressionismus-Forschung darstellt, der es entgegenzuwirken gilt. Und dies umso mehr, als gerade seine eigentlich expressionistischen Werke – Der Bürger und vor allem Der letzte Mensch – von der Forschung fast vollkommen ignoriert wurden.

5.3 Gesichte im Kontext (III). Positionen, Themen und Ambivalenzen expressionistischer Zivilisationsdarstellungen Als literarische Avantgardebewegung ist der Expressionismus für die feldtheoretische Forschung ein Gegenstand von besonderem Interesse, weil er den Kampf um die relative Autonomie des Feldes nicht nur als implizite Auseinandersetzung verhandelt – in der feldimmanenten Opposition zwischen den Autonomieansprüchen der Avantgarde und der Marktorientierung des heteronomen Poles –, sondern auch in expliziter Form durch zwei konträre Positionen innerhalb der Avantgarde selbst: In einem Expressionismus-internen Streit um die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers resp. Künstlers treffen Anhänger und Gegner eines engagierten Intellektuellen bzw. einer ‚Aktion‘ und ‚Tat‘ verpflichteten Kunst aufeinander. Das expressionistische Jahrzehnt knüpft dabei an die vorangehenden Avantgarden an. Die Figur des autonomen Künstlers und Literaten wird in Deutschland von keinem anderen so emphatisch und zugleich publikumswirksam durchgesetzt wie von Stefan George. Nicht zufällig stammt die Übersetzung der Mallarmé’schen Formel des „l’art pour l’art“ als „Kunst für die Kunst“ aus seiner Feder, auch wenn der George-Kreis 134

Hausenstein, Wilhelm: „Vom Expressionismus in bildender Kunst“, in: Die neue Rundschau, XXIX. Jg. (1918), Nr. 7, S. 913–930, hier: S. 927.

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keineswegs eine exakte Übertragung der französischen Bohème-Kultur in die deutsche Literaturlandschaft darstellt. Mit George und seinem Freund, Bewunderer und späteren Gegner Hofmannsthal ist jedenfalls auch in Deutschland die Rolle des autonomen Künstlers mit seinen Attributen der Melancholie, der zwischen Weltabgeschiedenheit und Weltekel liegenden Pose, der sozialen Unverständlichkeit und Realitätsenthebung etabliert, und zwar sowohl textintern als auch durch soziale und mediale Inszenierungen.135 Diese ‚asoziale‘ Position ist entscheidend für ein Verständnis der im Expressionismus geführten Auseinandersetzungen um die Beziehung des Schriftstellers zur Gesellschaft. In ihr finden sich auf der einen Seite Befürworter eines sozial engagierten, aktivistischen Literatentums, für die das Schreiben immer auch politische „Tat“ ist136, auf der anderen Seite expressionistische Autoren, die sich bei aller Distanz zur ästhetizistischen oder symbolistischen Position dem Anspruch des ‚l’art pour l’art‘ verpflichtet fühlen. Es wäre allerdings verkürzt, im Eintreten für eine Literatur mit politischem Anspruch einfach einen Rückfall in eine heteronome Definition des literarischen Feldes zu suchen.137 Denn das neue Bild des Künstlers, das die aktivistische Fraktion entwirft, artikuliert sich nicht nur als Absetzung vom feldexternen, nicht-intellektuellen und kunstfernen ‚Bürger‘, sondern auch als Gegenbewegung zur avantgardistischen Vorgängergeneration, zur Dekadenz der französischen Bohème, zu den „reaktiven“ Impressionisten und Ästhetizisten, zur melancholischen Affirmation des Hofmannsthal’schen ‚Literaten unter der Treppe‘. Und wenn Literatur sich selbst den Anspruch stellt, aus der Gesellschaft heraus zu schreiben und in die Gesellschaft hinein zu wirken, bedeutet das keinesfalls den Verzicht auf die Innovation des eigentlichen ‚Wesens der Literatur‘, die einher [geht] mit der Konstruktion spezifischer Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien der natürlichen und sozialen Welt [...] das heißt mit der Erarbeitung eines genuin ästhetischen Wahrnehmungsmodus, der die Grundlage des ‚schöpferischen Akts‘ in die Darstellung und nicht in das Dargestellte verlegt und seine Geltung vollends im Vermögen erlangt, die niederen oder vulgären Objekte der modernen Welt zu ästhetisieren.138

Gerade der Anspruch, politisch aufzurütteln und gesellschaftlich zu schockieren, geht einher mit der Forderung nach literarisch innovativen Textverfahren wie der Montage massenmedialer Dokumente, neuen Formen des Pathos oder auch dem Verzicht auf ‚klassische‘ Techniken, die dem literarischen Kunstwerk überzeitliche Gültigkeit verleihen sollen, zugunsten schneller Verfahren, die sich den Massenmedien ebenso ver135

Vgl. hierzu Blasberg: „Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik“. Als Vorbild galt dabei Heinrich Manns berühmter Essay, der von den deutschen Literaten in der Nachfolge ihrer französischen Vorbilder „Geist und Tat“ fordert: „Die Zeit verlangt und ihre Ehre will, daß sie endlich, endlich auch in diesem Lande dem Geist die Erfüllung seiner Forderungen sichern, daß sie Agitatoren werden, sich dem Volke verbinden gegen die Macht, daß sie die ganze Kraft des Wortes seinem Kampf schenken, der auch der Kampf des Geistes ist. Ihre Vornehmheit sollte nicht Selbstkultus sein“ (Mann, Heinrich: „Geist und Tat“: in: Heinrich Mann, Essays, Hamburg: Claassen, 1960 [1910], S. 5–240, hier: S. 14). 137 Auch wenn feldexterne Faktoren nicht ohne Einfluss auf diese Entwicklung sind, siehe unten S. 210f. 138 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 215. 136

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danken wie sie zu ihnen in Konkurrenz treten: Ein gedrängter, parataktischer Satzbau und Stil wird zum Markenzeichen dieser neuen Schreibtechnik.139 Die Forderung nach ‚Tat‘ und ‚Aktion‘ ist also als feld- und avantgardeinterne Distinktionsstrategie zu beurteilen, die das moderne Autonomie-Paradigma keineswegs aufgibt. Dass die gesellschaftliche Wirkung, die die politische Fraktion des Expressionismus reklamierte, nicht mit dem Ziel einherging, soziale und kulturelle Zustände realistisch oder naturalistisch abzubilden, drücken auch solche zentralen Schlagworte wie ‚Geist‘ und ‚Abstraktion‘ aus, über die die expressionistische ‚Tat‘ oder ‚Aktion‘ ihren Weg zu nehmen hatten. Doch im Expressionismus finden sich auch Parteigänger einer Position, die einer Hinwendung des Schriftstellers zur gesellschaftlichen Realität und einem sozialen Auftrag der Kunst widerspricht. Franz Werfel wird zum Sprachrohr dieser Position, als es 1916/17 zur öffentlichen Austragung des Streites mit Kurt Hiller, dem Aktivisten und Herausgeber des Ziel-Jahrbuches, kommt. Hiller nimmt Werfels anti-aktivistische Kritik, die in dem Aufruf gipfelt „Ich kann gar nicht beschreiben, wie kontradiktorisch für mich die Begriffe Poesie und Politik sind!“140, trotz ihrer Gegnerschaft zu seinem eigenen Standpunkt in das Ziel-Jahrbuch auf. Im Verlauf der über eine längere Zeit geführten Auseinandersetzung kommt es zu mehreren Wortgefechten, in denen Hiller u. a. Werfels Berufung auf das Christentum den Hinweis entgegensetzt, das ja auch letzteres ein aktives soziales Engagement in der Welt gebiete. Die politische Opposition innerhalb des Expressionismus ist zugleich auch eine zeitliche bzw. generationelle. Äußerten sich Gesellschaftsbild und -analyse des frühen Expressionismus oft in zivilisationskritischen und kulturpessimistischen Positionen, die in vielem Melancholie und Weltekel der Vorgängeravantgarden aufnahmen und fortführten, so tritt dem eine Fraktion entgegen, die zunehmend eigene politische Utopien und Konstruktionen entwirft. Und es bedeutet keinen Rückfall in den Mythos von Literatur als Abbild der Gesellschaft, wenn man festhält, dass die feldexternen Geschehnisse militärischer, politischer und wirtschaftlicher Natur hierbei eine zentrale Rolle spielen: Vorkrieg, Erster Weltkrieg, Besatzung, Revolutionen, Republikgründung, Nachkriegswirtschaft und Demontage.141 Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass gerade das expressionistische Jahrzehnt 139

Wohlgemerkt: Selbstbild und Anspruch des Literaten der „Tat“ entspringen zuallererst der illusio des literarischen Feldes – nicht der politischen Realität: Auch die emphatischen, zwischen Verachtung und aufrichtiger Zuwendung zu feldexternen Schichten schwankenden und feldextern adressierten Texte bleiben zumeist unverständlich. 140 Werfel, Franz: „Brief an einen Staatsmann“, in: Kurt Hiller (Hrsg.), Das Ziel. Jahrbuch für geistige Politik. Bd. I, München, Berlin: Müller, 1916, S. 91–98, hier: S. 95. 141 Insbesondere der 1. Weltkrieg ist ein extrem einflussreicher Faktor, der als feldexternes Ereignis Einfluss genommen hat auf die Prozesse innerhalb der kulturellen Felder, ohne sie zu determinieren; er ist darüber hinaus auch als literarischer Gegenstand (von den Beschwörungen der Vorkriegsphase, über die kriegsbegeisterten oder pazifistischen Pamphlete der ersten Kriegstage und -wochen bis hin zu den essayistischen, lyrischen oder epischen Bearbeitungen der zwanziger Jahre) zu einem feldinternen Ereignis geworden, indem er durch Transformationsarbeiten in künstlerische Praktiken und Diskurse übersetzt und in ihnen bearbeitet wurde.

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auch von dem direktesten aller externen Eingriffe in das literarische Feld geprägt war – der staatlichen Zensur, die in den Kriegsjahren besonders mächtig war. Zu warnen ist allerdings vor einer allzu strikten Aufteilung in einen frühen, experimentellen, kulturpessimistischen Expressionismus und einen späteren, konventionellen und engagierten Expressionismus. Im Bemühen, die pauschale Gleichsetzung des Expressionismus mit dieser Spätphase und ihren politisch-religiösen Visionen des ‚Neuen Menschen‘ in Frage zu stellen, haben Vietta/Kemper zu Recht auf das hohe analytische Reflexionsniveau des frühen Expressionismus hingewiesen. Ein differenziertes Bild des Expressionismus berücksichtigt, daß die expressionistische Beschwörung eines ‚neuen Menschen‘ nicht isoliert werden kann aus dem Spannungsfeld der Epoche, insofern sie selbst nur eine Re-aktion ist auf die ebenfalls und vor allem in der frühen Phase des Expressionismus zur Darstellung kommende schwere Strukturkrise des modernen Ich.142

Allerdings wird dabei leicht übersehen, dass zahlreiche frühe Texte eine emphatische Aufbruchstimmung durchzieht, während auch späte Texte ambitionierte und interessante Darstellungen kultureller und gesellschaftlicher Krisenphänomene betreiben: Die zeitliche Aufteilung des Expressionismus in eine metaphysikkritische Frühphase und einen messianischen Spätexpressionismus ist zu schematisch. Sie wird den Ambivalenzen, die sowohl die historischen Konstellationen als auch die einzelnen Werke durchziehen, nicht gerecht. Picards Der letzte Mensch ist dafür – nicht nur was den Titel betrifft – eines von vielen Beispielen, wie die in der textnahen Lektüre kritisierte Gleichsetzung von Erneuerung und Groteske sowie von Ende und Apokalypse zeigt. Die geheimen Austauschbeziehungen, die sich auf formaler Ebene zeigen, sind auch für die historischen Kontexte zu beachten, deren Diskurse oft hochgradig ambivalent sind. Diese Ambivalenz – auf die die Expressionismus-Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten verstärkt hingewiesen hat – bildet den Rahmen für das vielbeschworene „O Mensch“-Pathos, mit dem der Expressionismus oftmals identifiziert wurde, und sie verdeutlicht zugleich seine Modernität. Bei näherer Betrachtung lässt sich diese Ambivalenz auch als literarischer Ausdruck von „Spannungen zwischen ästhetischer und zivilisatorischer Moderne“143 verstehen. Denn anders als etwa der Futurismus, aus dem die Bewegung wichtige Impulse erhielt, beziehen zahlreiche expressionistische Künstler und Autoren eine dezidiert antizivilisatorische oder zumindest eine zwischen Faszination und Skepsis schwankende Position, ohne deswegen pauschal antimodern zu sein. Nach Anz umfasst die zivilisatorische Moderne soziokulturelle Entwicklungsprozesse, die sich seit dem Jahrhundert der Aufklärung rapide beschleunigt haben: Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion massenkommunikativer Prozesse und 142 143

Vietta und Kemper: Expressionismus, S. 18. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 19.

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die Bürokratisierung, die funktionale Ausdifferenzierung eines immer komplexeren gesellschaftlichen Systems, die Entzauberung tradierter Mythen und die kritische Überprüfung metaphysischer Gewissheiten, die fortschrittsgläubige Ausweitung der rationalen Verfügungsgewalt über die äußere Natur und, im sozialpsychologischen Bereich, den Zwang des zivilisierten Subjekts zur Disziplinierung der eigenen Natur, des Körpers und der Affekte.144

Die ästhetische Moderne dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass sie die zivilisatorische Moderne zwar auf der thematischen Ebene oft ablehnt, sie jedoch keinesfalls ignoriert, sondern sich intensiv mit ihr beschäftigt; ihr Movens liegt gerade in der Abarbeitung an Phänomenen der zivilisatorischen Moderne. Die Trennlinie zwischen modernen und antimodernen Ästhetiken verläuft nicht zwischen Befürwortern und Gegnern der zivilisatorischen Moderne, sondern zwischen ihren ablehnenden, kritischen oder affirmativen Interpretatoren und den Ignoranten145: Die ästhetische Modernität [...] besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich, im Unterschied zur völkisch-nationalen Literatur, zur Heimatkunstbewegung, zur katholischen oder neuklassischen Literaturbewegung um 1900, den zivilisatorischen Modernisierungsprozessen thematisch und formal zu stellen versucht, sie nachdrücklich in sich aufnimmt – und gleichzeitig gegen sie opponiert.146

Als einen solchen ästhetisch modernen Versuch einer Moderne-Rezeption bei gleichzeitiger Opposition gegen die zivilisatorische Moderne lässt sich auch Picards Frühwerk verstehen. Wie seine expressionistischen Zeitgenossen sucht er die Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Moderne: Der technische Fortschritt erregt seine angstvolle Ablehnung wie seine Faszination, es begegnen sich bei ihm Apokalypse und ‚Neuer Mensch‘, die verzweifelten Einheits-Beschwörungen speisen sich aus einer genauen Beobachtung und Darstellung fragmentierter Realitäten. Inhaltlich arbeitet sich diese Auseinandersetzung an verschiedenen Themenkomplexen ab; drei von ihnen sind für Picard ebenso zentral wie für die expressionistische Literatur insgesamt: Es handelt sich erstens um das Thema der modernen Zivilisation im engeren Sinne, das sich mit Schlagworten wie Großstadt, Industrialisierung und 144

Ebenda, S. 18. Die ästhetische Modernität ändert nichts daran, dass die thematischen Positionen auch der ästhetisch modernen Fraktion des Kulturpessimismus häufig mit konservativen, demokratiefeindlichen Einstellungen einhergehen oder in solche münden. Insbesondere die darin liegenden politischen Gefahren – die von einer naiven Unterschätzung des Nationalsozialismus über distanzierte Sympathie bis hin zur Befürwortung reichen oder sich in der emphatischen Begeisterung vieler Avantgarde-Autoren für den 1. Weltkrieg äußern – sind bekannt: Dass die „Faschisierung des Subjekts“ nicht erst mit der sogenannten ‚Machtergreifung‘ einsetzt, sondern sich in großen Teilen bereits in den zwanziger Jahren vollzieht und dabei innerhalb der „entgegenarbeitende[n] Gesellschaft“ (Ian Kershaw, zit. n. Schmölders: Hitlers Gesicht, S. 10) gerade auch deren Intellektuelle beigetragen haben, zeigen u. a. Haug, Wolfgang Fritz: Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. Die Ideologie der gesunden Normalität und der Ausrottungspolitiken im deutschen Faschismus, Berlin: Argument, 1986; Zapata Galindo, Martha: Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat, Hamburg: Argument, 1995. 146 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 18. 145

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Mechanisierung, moderne Architektur, Massengesellschaft und -medien umreißen lässt; zweitens um das damit zusammenhängende Phänomen des (Welt-)Krieges; und drittens um die Sehnsucht nach Einheit und Gemeinschaft, Wesenhaftigkeit und metaphysischer Tiefe, verbunden mit der Klage über den Verlust kultureller, politischer und semiotischer Gewissheiten – eine Sehnsucht, die sich allgemein als Suche nach komplexitätsreduzierenden Antworten auf das Gefühl der Orientierungslosigkeit angesichts zunehmend komplexer sozialer Konfigurationen beschreiben lässt.

Die Großstadt Insbesondere die Darstellungen der modernen Großstadt zeigen, dass das expressionistische Ringen mit den Moderne-Phänomenen nicht in eine nüchtern-sachliche Bestandsaufnahme mündet – als eine solche inszeniert sich erst die nachfolgende Avantgarde-Generation der Neuen Sachlichkeit. Der Expressionismus dagegen lässt in seine Wirklichkeits-Beschreibungen elementare und vitalistische Deutungsmuster einfließen. So wendet sich etwa der schriftstellerische Blick auf die Großstadt von der extensiven Beschreibung soziologischer, biologischer und technischer Details ab. Dargestellt wird die Stadt in subjektiven Gesichten – in Visionen, die „die übermächtige Großstadt mit Göttern und Dämonen, deren urwüchsige und vitale Vernichtungsgewalt angsterregende, doch auch berauschende Qualitäten hat“147, beleben. Auch in Picards Der letzte Mensch erscheint die Großstadt als Raum, in dem sich elementare Kräfte und Gewalten begegnen, kreuzen und bekämpfen – und schließlich durcheinandergeraten. Die geordnete Kosmologie, in der die Schöpfung und ihre Wesen (Menschen, Bäume, Tiere etc.) durch die vertikale Linie der Sterne festgehalten und dadurch an ihrem jeweiligen Ort gesichert werden, strukturiert auch den architektonischen Raum der traditionellen Stadt. Der die mittelalterliche Stadt prägende und ihr Orientierung verleihende Dom stellt eine bauliche Entsprechung zum Bauplan der Schöpfung dar. In ihm manifestiert sich die elementare Kraft der Sternenlinien: Sieh’: wie in dem Dome sich die Linien der Sterne sammeln! Sie ruhen in dem Dome aus von ihrer weiten Reise, sie prüfen sich im Ruhen, ob sie auch nichts vergessen haben von den Sternen während der weiten Reise von den Sternen her bis in den Dom. Sie haben nichts vergessen von den Sternen. Es ist, als ob die Sterne bei ihnen im Dome selber wären und mit ihnen im Dome ruhten.148

Der als architektonische Antwort auf die nach unten gesandten Sternenlinien nach oben ausgerichtete Turm des Domes sichert nicht nur die transzendente Orientierung der Stadt nach oben, indem er sie an einer hierarchischen Struktur ausrichtet, er gewährleistet auch Ausgleich und Vermittlung zwischen den Dynamiken, die sich in der Stadt ereignen. 147 148

Ebenda, S. 104. Picard: Der letzte Mensch, S. 167.

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Sieh’ den Turm des Domes. Er ist entgegengeschickt den neuen Linien, die von den Sternen noch fallen werden in den Dom. Es ist als ob man fürchte, daß die Linien der Sterne sich verirren; der Turm geht den neuen Linien entgegen und geleitet sie in den Dom. Sieh’ den Turm! Es ist, als ob er mit seinen Glocken alle Linien der Sterne zu sich rufe, alle, nicht nur die verirrenden. Alle geleitet er sicher in den Dom. [...] Der Mensch aber ist ruhig im Dom: er braucht sich nicht zu bewegen, der Dom sammelt statt seiner die Sternenlinien, er trägt sie statt seiner in die Ebene der Erde.149

Die Sammlung und das Zur-Ruhe-Kommen im Dom lassen die irdische Sphäre im Himmlischen ruhen. Diese zugleich bewegliche und stabilisierende Kraft der Picard’schen „Sternenlinie“ besitzt ihren Gegenspieler in jenen Kraftlinien, die in dem GroßstadtRoman der Weimarer Zeit, Döblins Berlin Alexanderplatz, die Dynamiken der (Groß-)Stadt zu destabilisierenden, chaotischen, den Menschen (Franz Biberkopf) vom ‚geraden Weg‘ abbringenden elementaren Größen werden lassen: Er prüfte seine Schritte und das schöne, feste, sichere Pflaster. Aber dann glitten seine Blicke im Ruck die Häuserfronten hoch, prüften die Häuserfronten, versicherten sich, daß sie stillstanden und sich nicht regten, trotzdem eigentlich so ein Haus viele Fenster hat und sich leicht vornüber beugen kann. Das kann auf die Dächer übergehen, die Dächer mit sich ziehen; sie können schwanken. Zu schwanken können sie anfangen, zu schaukeln, zu schütteln. Rutschen können die Dächer, wie Sand schräg herunter, wie ein Hut vom Kopf. Sind ja alle, ja alle schräg aufgestellt über den Dachstuhl, die ganze Reihe lang.150

Auch bei Picard wird das Ruhen der ‚Stadt‘ und ihrer architektonischen Struktur in einer geordneten Kosmologie kontrastiert durch das Auseinanderfallen des nach vertrauten geometrischen Gesetzen geordneten Raumes sowie die Technisierung der ihn durchziehenden Dynamiken und Fortbewegungsarten. Und wie bei Döblin geht die Zerstörung dieser Kosmologie von der Großstadt mit ihren industriellen Bauten und technischen Einrichtungen aus – sie ist nicht nur das Symbol des kosmologischen Auseinanderbrechens, sondern auch dessen Schauplatz: Die große Stadt ist das Symbol einer Welt, in der die Linie der Sterne nicht mehr ist. Sieh’ die Kamine dieser großen Stadt! Die Kamine sind überall, wo einmal die Sternenlinien waren. Sie sind hineingestellt in jenen Raum, aus dem die Sternenlinien weggetrieben worden waren. Der Raum, der leer war, weil die Sternenlinie aus ihm weggetrieben, wurde mit den Kaminen ausgefüllt! [...] Sieh’ die Kamine, sieh’ sie genau an: oben sind sie offen und innen hohl! Es ist, als ob sie warten auf die Sternenlinien, sie warten, daß die Sternenlinien in die Kamine fallen151.

Die architektonischen Formen der Großstadt und ihrer Industriebauten entpuppen sich bei Picard als hinterlistig getarnte Werke von „Dämonen, deren urwüchsige und vitale Vernichtungsgewalt angsterregende [...] Qualitäten hat“152. Die Ausrichtung der Kamine an der Senkrechten – die ja an die Vertikale der Dome und ihrer Türme erinnert – 149

Ebenda, S. 167f. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005 [1929], S. 131. Ähnlich ebenda, S. 95, 225. 151 Picard: Der letzte Mensch, S. 184. 152 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 104. 150

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erweist sich dabei wieder als Täuschung; sie sind nur scheinbar Ersatz für oder Reminiszenz an die Sternenlinie. In Wahrheit stellen sie Fallen dar, denn: Die Kamine sind nicht hingestellt, den Sternenlinien zu helfen, wenn sie zurückkehren, sondern sie sollen die Sternenlinien verderben! Sie sind hingestellt, daß die Sternenlinien in sie hineinfallen und von ihnen gefangengehalten werden in dem hohlen Raume, sie sollen gefangengehalten werden, bis sie verbrannt sind.153

Wie bei Döblin die Fassaden und Dächer den in der Großstadt vereinzelten Menschen feindlich bedrängen, verselbständigt sich auch Picards Stadt zu einer elementaren Macht, die gegen die himmlischen Instanzen der Sterne gerichtet ist und den urbanen Raum in den Schauplatz eines kosmischen Kampfes verwandelt: Wie eine Festung gegen die Sterne ist die Stadt gebaut! Die Stadt ist überall geschützt, daß sie nicht von den Sternen getroffen werde. Die Dächer der Häuser liegen über den Häusern als eine starre Platte, von der die Sterne abprallen. [...] Man schob die Dächer der Häuser ineinander, daß nur noch Lücken zwischen den Dächern sind, gegen den Feind zu wachen: So späht die Stadt durch die Lücken der Dächer gegen den Himmel, ihren Feind! Die Sterne können nicht in die Stadt hinein durch die Lücken fallen: Drähte und Eisennetze zwischen den Lücken fangen sie ab!154

Nicht nur die technischen Infrastrukturen der Großstadt (die aufgespannten „Drähte und Eisennetze“), auch moderne Methoden des Hausbaus und des Verkehrs unter Tage werden zum Teil des kosmologischen Kampfes: Schon fangen sie an, unter der Erde die Häuser sich zu bauen, damit der Boden der Erde sie noch deckt gegen die Sterne. Sie graben sich in die Erde, sie wohnen in Tunnels, Züge fahren unter der Erde, alles geschieht unter der Erde, immer ferner ist alles von den Sternen.155

Die moderne Flachdachbauweise sowie die Konstruktion von mehrstöckigen Hochhäusern erscheinen ebenfalls als Symptome einer tiefgreifenden Veränderung städtischer Topologien und Dynamiken: Wer wird sich wundern, wenn eines Tages auch die Stockwerke nicht mehr an den Häusern übereinander gebaut sein werden? Eines Tages werden auch die Stockwerke eines neben das andere sich stellen, eines wird neben das andere sich stellen, damit, nebeneindergestellt [sic!] die Stockwerke der Häuser sich weithin ausstrecken können der Eilenden [der Stadt, K. L.] nach156.

So werden die modernen Architekturtechniken des Flachdachbaus und der Konstruktion vielstöckiger Hochhäuser als Folgen ein und desselben Mechanismus gedeutet, als Beschleunigung und Ausdehnung in die Breite. Die von Picard geteilte konservative bis reaktionäre Kritik an der modernen Flachdacharchitektur157 und der funktionalen Bau153

Picard: Der letzte Mensch, S. 184f. Ebenda, S. 185. 155 Ebenda, S. 186. 156 Ebenda, S. 194. 157 Ein besonders prominentester und einflussreichster Gegner des modernen Flachdachs war Paul Schultze-Naumburg, der Heimatschutzbewegung und Rassenphysiognomik miteinander vereinte. 154

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weise, wie sie das Neue Bauen vertrat, geht weit über die Grenzen des architekturinternen Diskurses hinaus, stehen in ihr doch auch bevölkerungs- und biopolitische Positionen zur Diskussion. Über Paul Schultze-Naumburg fand die Artikulation von Heimatschutz und Rassentheorie später, vermittelt über Institutionen wie den Deutschen Bund Heimatschutz, die Architektenvereinigung Block (beide von Schultze-Naumburg mitbegründet) und den Kampfbund für deutsche Kultur, Eingang auch in die Architekturund Bevölkerungs-Politik des Nationalsozialismus.158 Das „Ausstrecken“ in die Fläche „der Eilenden nach“ ist jedoch nicht – wie die Ausbreitung der vertikalen Sternenlinie, die von den Domen in die horizontale „Ebene der Erde“ ‚getragen‘ wird – ein langsamer und geordneter Übergang. Die Bewegung des Abfalls von der Vertikalen geht mit einer ungebremsten Beschleunigung einher, die nicht mehr durch die vertikale Bewegung entschleunigt wird. Die Stadt wird zum dämonischen Wesen, das ungebremst in die Ferne und Breite drängt und ihre Bauten einer immer größer werdenden Beschleunigung unterwirft: Es ist, als ob die Stadt so sehr vorausgeeilt wäre, damit die Häuser sich ausstrecken nach ihr, die Stadt ist vorausgeeilt, damit die Stockwerke der Häuser nicht mehr übereinander gebaut bleiben in der Höhe, die Stockwerke der Häuser sollen in die Horizontale auseinandergezogen werden: Stockwerk neben Stockwerk.159

Als wahnwitzig und sinnentleert entpuppt sich diese in die Horizontale mündende Beschleunigungsbewegung spätestens, wenn Picard mutmaßt: „Ach, man wird noch die Steine herausnehmen aus den Stockwerken und Stein neben Stein stellen, damit die Reihe der Steine noch weiter hinausreiche nach der Stadt!“160 Auch die Bewegungsformen des Menschen unterliegen einem ähnlichen Wandel: Den alten „Menschen“ zeichnet eine langsame, eher passive Art der Fortbewegung aus. Es war, als ob diese Menschen sich nicht selber bewegten, sondern als ob sie nur von der Bewegung der Gestirne inwendig in ihnen sich mitbewegen ließen. Langsam war der Gang dieser Menschen, weil der Gang der Gestirne langsam war.161 So vertritt er etwa in seiner Schrift Flaches oder geneigtes Dach? die These, „wie der Mensch ein Gesicht hat, aus dem seine Seele herauszublicken scheint und in dem der des Lebens Kundige zu lesen vermag, so hat auch ein jedes Haus eine bestimmte Physiognomie. Die menschlichen Physiognomien lassen sich unterscheiden nach Rassen, aber innerhalb der einzelnen Rassen ist dem Ausdruck wiederum ein ungeheuer breiter Spielraum gesetzt. Soweit sich Vergleiche überhaupt fruchtbar durchführen lassen, ist ein ganz ähnliches auch bei den Häusern der Fall“ (SchultzeNaumburg, Paul: Flaches oder geneigtes Dach?, Berlin: Seger & Cramer, 1927, S. 62). Daraus folgert er, nur das Steildach sei ein wahrhaft deutsches Dach, das Flachdach dagegen habe eine undeutsche Physiognomie. Vgl. ebenda, S. 9ff. 158 Vgl. hierzu Sauerländer, Willibald: „Vom Heimatschutz zur Rassenhygiene. Über Paul SchultzeNaumburg“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 32–50. 159 Picard: Der letzte Mensch, S. 194. 160 Ebenda. 161 Ebenda, S. 175.

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Aus der alten Figur der Ähnlichkeit von Mikrokosmos und Makrokosmos wird hier die Vorstellung einer ruhigen und harmonischen Bewegung, von Picard als „Gang“ oder „Bahn“ bezeichnet, abgeleitet. Doch erweist sich dieses metaphysische Modell der Analogie als zeitlich überlebt, es wird abgelöst von einer rein physikalischen StoßBewegung: Das Wesen bewegt sich nur noch im Stoß, nicht mehr in der Bahn. Bald bewegt es sich langsam, bald eilend, die Bewegung ist nicht mehr geschlossen wie damals, als man sich nach dem Gestirne richtete, das Wesen bewegt sich jetzt gebrochen, schnellend wie eine Spirale.162

Als Symptom, an dem sich die Zerstörung der Sternenlinien und das Aufklaffen eines leeren Raums ablesen lässt, deutet Picard die moderne Luftschifffahrt: Wie hätten sonst Flugzeuge durch die Luft fahren können, wenn die Sternenlinie nicht zerrissen gewesen wäre? Die Luftschiffe fuhren durch die zerrissene Sternenlinie hindurch. Haben die Flugzeuge die Sternenlinie zerrissen? Ist die Sternenlinie ganz allmählich von den Flugzeugen zerrissen worden? Oder aber: war die Sternenlinie schon zerrissen und konnten sich darum die Flugzeuge getrauen, in der Luft durch die Sternenlinie zu fahren? [...] Es ist doch, als ob die Flugzeuge sich nicht selber trieben hoch in die Luft, es ist doch so, als ob sie angestoßen würden von dem leeren Raum der Luft; der Raum der Luft ist leer, seitdem die Linien der Sterne nicht mehr in ihm sind.163

Mit den Luftschiffen begegnet hier ein Motiv, das im historischen Kontext als Zeichen für den bevorstehenden Untergang der technischen Zivilisation durchaus geläufig ist. Bekanntlich hat Karl Kraus das Luftschiff – neben der Presse und dem Niedergang des Kaisertums – zum prominenten Symptom einer apokalyptischen Moderne gemacht: „Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt“164.

Besessene Körper Neben der Großstadt steht ein zweiter Themenkomplex im Fokus der expressionistischen Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Moderne: die technischen Fortschritte des Verkehrswesens und der industriellen Produktion. Nicht umsonst zählt der 162

Ebenda, S. 180. Ebenda, S. 183. 164 Kraus, Karl: „Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)“, in: Die Fackel, X. Jg. (1908), Nr. 261–262, S. 1–14, hier: S. 1. Sigurd Paul Scheichl hat darauf hingewiesen, dass das LuftschiffMotiv bei Kraus auch auf historische Ereignisse bzw. deren ausgiebige und dramatische Darstellung in der Presse zurückgeht: Eine damals sich ereignende „Serie von Luftschiffunfällen“ (Scheichl, Sigurd Paul: „Karl Kraus’‚Apokalypse‘. Satire im zeitgenössischen Kontext“, in: Német Filológiai Tanulmányok/Arbeiten zur deutschen Philologie, XX. Jg. (1991), S. 67–76, hier: S. 67) und insbesondere der durch einen starken Sturm verursachte Absturz eines Luftschiffs am 6. August 1908 in Echterdingen (vgl. ebenda, S. 67f.) haben bei Kraus offenbar nachhaltige Wirkung hinterlassen. In der späteren Ausgestaltung zu einem literarischen Motiv verknüpfen sich dann dokumentarische Beobachtung und Fiktion zum apokalyptischen Topos. 163

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italienische Futurismus, der für die Errungenschaften moderner Technik eine begeisterte Faszination entwickelte, zu den wichtigsten Impulsgebern der expressionistischen Bewegung. Allerdings unterscheidet sich der deutsche Expressionismus gerade dadurch vom Futurismus, dass die Faszinationskraft technischer Neuerungen hier zwar ebenso wirkt, aber überwiegend eine negative, angstbesetzte und abwertende Deutung nach sich zieht. Nicht nur die Großstadt, sondern auch industrielle Einrichtungen und moderne Verkehrsmittel wie das Auto figurieren als elementar-bedrohliche Schicksalskraft. Bei Alfred Döblin etwa schlägt – nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg – die Begeisterung für den Futurismus (z. B. aus dem Aufsatz über „Die Bilder der Futuristen“165) um in die Beschwörung von Schreckensszenarien. Und während die futuristische Begeisterung für das Auto in Filippo Tommaso Marinettis ebenso emphatischen wie berühmten Worten gipfelt, wonach ein „Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, [...] schöner [ist] als die Nike von Samothrake“166, ist es in Berlin Alexanderplatz ein Auto, das die beiden letzten Schläge des Schicksals gegen Franz Biberkopf herbeiführt.167 Und der Beginn des Buches figuriert das Schicksal selbst wohl nicht zufällig mit den Worten, Biberkopf werde „in einen regelrechten Kampf verwickelt mit etwas, das von außen kommt, das unberechenbar ist und wie ein Schicksal aussieht. Dreimal fährt dies gegen den Mann“168. Als einen ironisch-grotesken Kommentar zum futuristischen Kult des Automobils lässt sich auch Picards Anmerkung lesen: Immer, wenn ich ein Auto sehe, muß ich fragen: Wird so das neue Wesen sein? So ungefähr wie das Auto? Wird aus dem Auto das neue Wesen gemacht werden? Wartet das Auto nur noch darauf, daß ihm Auge, Ohr, Nase gemacht werden? Wartet das Auto nur noch auf sein Gesicht?169

Die Technik markiert zwar auch in der expressionistischen Deutung den historischen Wendepunkt zur Moderne. Der ‚Neue Mensch‘ erscheint jedoch nicht als perfektionierte Maschine, sondern als deren Überwinder, der den technischen Fortschritt zu ergänzen, dialektisch zu überschreiten oder zu zerstören hat. Dabei verläuft die Diskursivierung und Kritik des maschinellen Fortschritts entlang zweier Topoi, die beide bereits auf frühere Zeiten, vor allem auf die romantische Kritik zurückgehen: Kontrollverlust des Menschen und Fragmentierung seines Körpers.170 Zunächst verselbständigen sich die von den technischen Erzeugnissen in Gang gesetzten Prozesse und entziehen dem Menschen zunehmend die Verfügungsgewalt. In165

Vgl. hierzu oben Kap. 3.4, S. 103. Marinetti, Filippo Tommaso: „Manifest des Futurismus“, in: Christa Baumgarth (Hrsg.), Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1966 [1909], S. 26–27, hier: S. 26. 167 Vgl. Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 212, 344ff. 168 Ebenda, S. 11. Hervorhebung K. L. 169 Picard: Der letzte Mensch, S. 197. 170 Vgl. hierzu auch Anz: Literatur des Expressionismus, S. 118. 166

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folge dieser Verselbständigung macht dann die „Mechanisierung“ (Walter Rathenau) des Verkehrs und der industriellen Produktion den menschlichen Körper zum Teil der Maschine; er wird zum fragmentierten, seiner organischen Ganzheit beraubten Gebilde. Hermann Bahr fasst beide Entwicklungen in seiner Beurteilung der historischen Gegenwart zusammen: Kann wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinen Zweck sich selbst zu versäumen? hat Schiller gefragt. Dem Menschen dies wider seine Natur aufzudrängen ist der unmenschliche Versuch unserer Zeit. Sie macht ihn zum bloßen Instrument, er ist ein Werkzeug seines eigenen Werkes geworden, er hat keinen Sinn mehr, seit er der Maschine dient. Sie hat ihm die Seele weggenommen. [...] Wir leben ja nicht mehr, wir werden nur noch gelebt.171

Beide Topoi durchziehen Picards Werke aus der expressionistischen Zeit und deren groteske Poetologie, insbesondere den Letzten Menschen. Das Phantasma einer sich verselbständigenden Eigendynamik, die durch die Errungenschaften technischer Fortschritte in Gang gesetzt wird, schildert Picard in zahlreichen Variationen. Die nur scheinbare Herrschaft des Menschen über „seine[.] eigenen Werke[.]“ wird dabei als Farce entlarvt. So erfolgt etwa die Bewegung der Eisenbahnzüge unabhängig von menschlicher Steuerung: Die Eisenbahnzüge [...] tun so, als ob sie für richtige Menschen führen, als ob sie dem Mann mit der roten Mütze gehorchten, wenn er ihnen winkt, abzufahren. Sie würden aber auch ohne ihn abfahren; doch sie nehmen den Mann so hin: ihnen, den Zügen, zum Spaß hingestellt, zum Spaß hingestellt mit der roten Mütze, und nun, nun wollen sie ihm auch die Freude machen, so zu tun als ob sie ihm gehorchten, wenn er winkt.172

Der Kontrollverlust geht so weit, dass nicht nur die Steuerung der technischen Phänomene dem Menschen entzogen ist; sogar der Ausweg einer Vernichtung „seines eigenen Werkes“ durch Menschenhand ist ihm verwehrt.173 Die im Zuge des Weltuntergangs notwendige Zerstörung der technischen Erzeugnisse erfolgt zwar scheinbar durch den Menschen selbst, es ist, als ob wir gezwungen worden wären, die menschliche Form umzuhängen, weil das, was bei dem großen Untergang von den Werken des Menschen übriggeblieben ist, nicht anders noch gar vernichtet werden kann, als durch Menschen, die so aussehen wie Menschen.174

Doch erweist sich auch hier wieder das Humane als Trug; die Autonomie der Maschinen ist Zeichen seines Untergangs, ohne dass eine Rettung durch einen ‚Neuen Menschen‘, 171

Bahr, Hermann: Expressionismus, München: Delphin-Verlag, 1916, S. 122. Picard: Der letzte Mensch, S. 92f. 173 Bei Picard ist hier einiges von dem angelegt, was dann in den fünfziger Jahren von der technikkritschen Kulturphilosophie Günter Anders’ als Theorie der ‚prometheischen Scham des Menschen‘ angesichts der Unterlegenheit unter die von ihm erdachten und erbauten technischen Erzeugnisse entwickelt wird. Auf diese Affinität Picard/Anders hat auch Filk: „‚Was vorbeizieht, ist gleichgültig, wichtig ist nur, daß etwas vorbeizieht‘. Zum Gebilde der ‚medialisierten‘ Flucht in der Kulturphilosophie Max Picards“ hingewiesen. 174 Picard: Der letzte Mensch, S. 91. 172

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der diese Herrschaft der Technik ergänzt, vervollkommnet oder zerstört, in Aussicht stünde. Nur weil die technische Apokalypse ein menschlich nicht fassbares gespenstisches Phantasma ist, bleibt der trügerische Eindruck menschlicher Handlungen bestehen: Man ist gezwungen, die menschlichen Werke aufzubrauchen. Wie gespenstig wäre es, wenn die Werke des Menschen sich selber aufbrauchten, ohne daß ein Wesen bei ihnen wäre, das so aussieht wie ein Mensch, wenn sie sich selber aufbrauchten, immer kleiner und kleiner würden oder sonstwie plötzlich verschwänden, ohne daß man wüßte, warum! Wie gespenstig wäre das! [...] Darum darf es so scheinen, daß ein Wesen nötig ist wie ein Mensch, um die Dinge aufzubrauchen, es darf so scheinen!175

Dieses furchterregende Phantasma eines verselbständigten, dem Einfluss menschlicher Subjekte entzogenen Gebildes wird nicht nur auf den modernen Verkehr oder die industrielle Produktion projiziert. Es nimmt im frühen 20. Jahrhundert solch unterschiedliche Bereiche wie die Psychologie des Unbewussten, das Kino oder die Frage nach dem juristischen (Rechts-)Subjekt zum Gegenstand: Wie Stefan Andriopoulos gezeigt hat, wird der „besessene Körper“176 auch in der Hypnose, bei der Definition einer juristischen ‚Körperschaft‘ und auf der Leinwand zum (tendenziell) vollständig von einer externen Macht beherrschten und gelenkten Objekt, das seiner Eigenkontrolle und Handlungsverfügung beraubt ist und der Befehlsgewalt einer triebhaften, institutionellen oder diffusen Macht unterliegt. Diese „besessenen Körper“ sind zugleich Wiedergänger aus der Vergangenheit177 und Gespenster aus der Zukunft, die an den wissenschaftlichen Leerstellen fortschrittsorientierter Theorien der Vernunft, der SubjektAutonomie, der Technik oder des Wohlstands auftauchen.178 Picard verknüpft in seinem „Expressionismus“-Aufsatz diese Gespenster mit dem von Freud prominent gemachten „Unheimlichen“179, dem ein Prozess der Verdrängung zugrunde liegt: Niemals hat es etwas Unheimlicheres, Gespenstigeres gegeben als diese Reaktivität, die sich mit den Formen des wahrhaften aktiven Lebens maskiert. Es ist wie in der kleinen Stadt von Heinrich Mann, in dieser kleinen Stadt der größten Reaktivität: unendlich wird gekämpft und unendlich versöhnt, unendlich gehaßt und unendlich geliebt. Aber am Ende heißt es: es sei ja gar nichts geschehen.180

175

Ebenda, S. 92. Vgl. hierzu Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos. 177 „Der Autonomiegewinn durch neuzeitliche Rationalität generiert neue Abhängigkeiten. Die von der zivilisierten Vernunft erfolgreich entzauberten Gespenster, Dämonen und mythischen Urgewalten kehren in verwandelter Form zurück.“ (Anz: Literatur des Expressionismus, S. 118) 178 Vgl. hierzu auch Andriopoulos, Stefan: „Die Laterna Magica der Philosophie. Gespenster bei Kant, Hegel und Schopenhauer“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 80. Jg. (2006), Nr. 2, S. 173–211. 179 Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“: in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917–1920, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999 [1919], S. 227–268. 180 Picard: „Expressionismus“, S. 331. 176

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Im Letzten Menschen mutieren sämtliche Tätigkeiten zum „Gespenstern“, ein reger Austausch vollzieht sich zwischen einer Lebenswelt, in der die Maschinen noch als (Verkehrs-)Mittel zum Zweck erscheinen, und einer Gespenster-Welt, die sich als die erschreckend reale und zugleich übermächtige transzendente Wirklichkeit der industriellen Revolution entpuppt: Fabriken pfeifen, Züge pfeifen! Es ist doch nicht möglich, daß man auf dieses Pfeifen so eilen würde, nur um in den Fabriken und an den Maschinen zu stehen, oder mit dem Zug ein Stück Weges zu fahren! Es muß doch etwas viel Wichtigeres sein, weshalb man auf das Pfeifen so eilt, etwas viel Wichtigeres, als an den Maschinen zu stehen und mit dem Zug zu fahren! Ist es nur die Fabrik, die ruft, und der Zug, der ruft: oder ruft es aus jener andern Welt, deren Gespenster wir sind? Ruft es, daß es wieder Zeit ist in jene Welt hineinzugespenstern? Pfeift es, weil es nun Zeit ist, andere abzulösen, die aufhören dürfen, Gespenster zu sein, und ist es nun Zeit für uns, die Eilenden, an Stelle der Abgelösten, Gespenster zu sein? Schon kommen sie müde aus Fabrik und Zügen, sie sind jetzt entlassen, sie dürfen jetzt ausruhen vom Gespenstern.181

Mit einer solchen Metaphysik der Maschinen-Gespenster steht Picard nicht allein. Sie findet sich ebenso in Ernst Jüngers Der Arbeiter182 wie in Fritz Langs Metropolis183, um zwei besonders bekannte Beispiele für eine utopische resp. bedrohliche Wendung des Phantasmas zu nennen. Jüngers Buch und Langs Film drehen sich um eine Frage, die auch Picards Letzten Menschen durchzieht: [M]üssen wir uns am Ende nach dem Muster der Maschinen umformen, um in der Form der Maschinen Gespenster zu sein? Und sind wir eben dies: Übergang, Übergang vom Gespenst, das ausgesehen hat wie ein Mensch, zum Gespenst, das aussehen wird wie eine Maschine? 184

Auch Jünger und Lang verhandeln diese Frage wie Picard – am Gesicht: Für Jünger tritt in der Maskenhaftigkeit, die bei Männern einen metallischen [...] Eindruck erweckt, ein sehr einschneidender Vorgang zutage [...], an Stellen, an denen der spezielle Arbeitscharakter zum Durchbruch kommt, sei es als Gasmaske, mit der man ganze Bevölkerungen auszurüsten versucht, sei es als Gesichtsmaske für Sport und hohe Geschwindigkeiten, wie sie jeder Kraftfahrer besitzt, sei es als Schutzmaske bei der Arbeit im durch Strahlen, Explosionen oder narkotische Vorgänge gefährdeten Raum185,

181

Picard: Der letzte Mensch, S. 102. Bei Picard gespenstert es nicht allein in der Industrie- und Verkehrstechnik, sondern auch in den Systemen der Politik (vgl. ebenda, S. 93) und der Finanzen: „Sieh, das Geld, es könnte sich selber zählen, es braucht die Wesen nicht, um sich von ihnen zählen zu lassen. Wie gespenstig wäre das: dieses Geld, das sich selber zählt! Es wäre zu gespenstig! Darum erlaubt das Geld, es muß es erlauben, daß es von den Wesen gezählt wird, es erlaubt, daß sie so eifrig an ihm zählen, als ob sie in jedem Augenblick zur Abrechnung gerufen würden. Sie tun so, als ob sie wirklich imstande wären, das Geld zu zählen, aber, sie tun doch nichts anderes, als daß sie die Zahlen einer ungeheuren Kontrollmaschine nachsprechen, die vor ihnen aufgestellt ist und ihnen die Zahlen vorsagt.“ (ebenda, S. 93) 182 Jünger: Der Arbeiter. 183 Lang, Fritz (Regie): Metropolis, Universum-Film AG (UFA), 1927. 184 Picard: Der letzte Mensch, S. 102f. 185 Jünger: Der Arbeiter, S. 117.

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Und in einer Schlüsselszene aus Langs Metropolis gehen die Gesichtszüge der Maria – sie steht mit ihrem Geliebten Freder Fredersen, dem Sohn des Herrschers über die Maschinenstadt Metropolis, für den noch handlungsfähigen letzten Menschen, der am Ende sich selbst und die arbeitende Bevölkerung von Metropolis vor dem Untergang retten wird – auf das maschinelle double Marias über (Abbildung 2): Dessen unheimlicher Maschinenkörper mit menschlichem Antlitz – ein „Gespenst, das ausgesehen hat wie ein Mensch“ – folgt dem Willen des Bösewichts Rotwang und stiftet die Arbeiter – die in Metropolis als ohnmächtige Objekte vorgeführt werden, die unentwegt „eilen […], nur um in den Fabriken und an den Maschinen zu stehen“ – zur Revolte und zur Zerstörung des überlebenswichtigen maschinellen Herzens der Stadt an.

Abbildung 2: Still aus Metropolis (Regie: Fritz Lang), 1927. Jüngers und Langs Gesichte zeigen, dass das Phantasma des „besessenen Körpers“ sich oft an einzelnen Teilen und Gliedmaßen des menschlichen Körpers manifestiert. Dieser Tendenz folgen auch die zahlreichen Schilderungen fragmentierter und von unkontrollierten Bewegungen erfasster Körperteile, die Picard oft direkt mit der Wirkung technischer Errungenschaften verbindet: Ich sah einen Menschen am Telephon sprechen: es war, als ob der Mund in jedem Augenblick vom Gesicht weg am Draht in die Ferne eilte hin zu jenem Gesicht, von dem er geraubt war; als ob der Mund nun von der Ferne her zu sich selber spräche, her in dieses Gesicht. Von seiner eigenen Ferne sprach er zu sich an das Gesicht, an dem er war und doch nicht war, von der Ferne sprach er in seine eigene Leere hinein, – dann, als er aufhörte, am Telephon zu sprechen, dann war es, als ob der Mund am Draht rasch wieder zurück an das Gesicht eilte.186 186

Picard: Der letzte Mensch, S. 44.

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Die Entstehung menschlicher Augen – als Kontrollorgan für die mechanisierte Produktion von immenser Wichtigkeit – gleicht mehr und mehr der industriellen Fertigung und Lieferung von Einzelteilen: Nun müssen die Kinder die Augen liefern. Nun werden die Kinder wie eine Maschine benützt, daß sie die Augen liefern. Man zeugt die Kinder nur: nicht damit Kinder seien, sondern damit an ihnen Augen geliefert würden. Nur weil es nicht möglich ist, daß ein Auge anders entsteht als an einem Körper mit Armen, Beinen usw., nur darum, notgedrungen, sind die Kinder noch ganz, mit Armen, Beinen usw. [...] Ach, am liebsten wäre es den Wesen, wenn die Augen statt am ganzen Körper der Kinder nur an Gestellen geliefert würden. Es ist ihnen auch, als ob sie gar nicht den Körper der Kinder zeugten, sondern nur die Augen; es ist, als ob vor der Zeugung schon die Gestelle vorhanden wären, in die hinein sie nur die Augen zeugten.187

Ähnliche Phänomene der Fragmentierung und Mechanisierung von Körperteilen finden sich u. a. in Georg Kaisers Gas-Dramen, die ein besonderes Augenmerk auf die Verkopplung einzelner Körperteile mit der industriellen Maschinerie richten188, oder in Leonhard Franks Die Kriegswitwe: Man spricht von Zivilisation. Ist das Zivilisation, daß ganz Europa schon vor dem Kriege ein einziger großer Fabriksaal war, in dem nicht Menschen lebten, sondern Maschinen automatisch sich bewegten? Maschinen aus Fleisch und Blut, die nicht mehr denken, keine Meinung haben, keine Erinnerung mehr daran haben, daß sie einmal Menschen waren, sondern wie die Maschinen aus Stahl, die sie bedienen, betrieben werden.189

Die trügerische Menschenähnlichkeit der „Maschinen aus Fleisch und Blut“, denen die Erinnerung „daran [...], daß sie einmal Menschen waren“, abhanden gekommen ist, erinnert hier frappierend an Picards Wesen, die aussehen, „als ob sie Menschen wären“190 und von denen es heißt, dass sie „sich nicht mehr erinnern können, wie ein Mensch aussehen muß“191. Dabei wird der Verlust der Erinnerung an das Humane bei Picard noch einmal gesteigert, wenn sogar jegliche Erinnerung an die dem Menschen lediglich ähnlichen „Wesen“ aus dem Gedächtnis verschwindet: 187

Ebenda, S. 53. Vor allem Hand, Fuß und Auge gehen dabei immer wieder eine Verbindung ein mit Hebel, Schaltblock und Sichtglas. So klagt etwa eine Frau über den Tod ihres erst kurz zuvor geehelichten Mannes, der bei einer Explosion in der Fabrik stirbt: „Hochzeit ist ein Mal – und der Triebwagen rollt immer. Vorwärts – und rückwärts – rückwärts – vorwärts – der Mann rollt mit. Der Mann rollt mit – weil der Fuß an ihm ist. Bloß sein Fuß ist wichtig – der tritt den Schaltblock – auf Stillstand und Antrieb – tritt und tritt und tritt schon ohne Mann, der mitrollt. Wenn nur nicht der Fuß so fest an dem Mann wäre! Der Mann könnte leben – aber sein Fuß hält ihn auf dem Triebwagen, der vorwärts und rückwärts rollt – tagein tagaus mit dem Manne am Fuß! – Kam nicht die Explosion? Warum verbrannte mein Mann? Warum der ganze Mann? Nicht allein der Fuß, der nur wichtig war von meinem Mann?“ (Kaiser, Georg: Gas, in: Georg Kaiser, Stücke, Berlin: Henschelverlag, 1972 [1918], S. 129–272, hier: S. 162). 189 Frank, Leonhard: Die Kriegswitwe, in: Leonhard Frank, Der Mensch ist gut. Novellen, München: Nymphenburger Verlag, 1964 [1918], S. 22–66, hier: S. 48. Hervorhebung K. L. 190 Picard: Der letzte Mensch, S. 9. 191 Ebenda, S. 15. 188

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Veronika sagte zu mir: Eines Tages wird es sein, daß wir uns nicht einmal mehr erinnern können an das Wesen, das wie ein Mensch hat aussehen dürfen. [...] Es ist, als ob wir schon tot wären. Sieh’ die Bilder im Kino: sind sie die Erinnerung an das Leben vor unserem Tod? Es ist mir, als ob uns im Kino das Leben vor unserm Tode gezeigt würde. Wir sind tot und sitzen im Kino vor der Leinwand: wir warten auf den Stühlen, sitzende Tote, die wissen wollen, wie es vor unserm Tode war.192

Schließlich verliert sich die Erinnerung selbst und wird zur technisch abgekoppelten Eigendynamik, die sich als akustische Aufzeichnung einer (Ton-)Spur auch medial vollständig von humaner oder menschenähnlicher Erinnerung ablöst: Die Stimme des Phonographen, die den Tod des Menschen verkündet, verfügt mit seiner aufgezeichneten Toten-Stimme über das einzige Zeugnis menschlicher Existenz. Mit dieser medialen Abkopplung geht jedoch ein totaler und endgültiger Verlust der Erinnerung einher: Das „kugelige Wesen“ nämlich, zu dem der Mensch und das menschenähnliche Wesen transfiguriert wurden, zeigt keine Reaktion auf das Vernehmen dieser Stimme – es kann nicht erinnern und wartet lediglich, „bis der Phonograph noch einmal krächzt: der Mensch ist tot, – dann dreht es sich über die blumenleere Wiese weiter.“193 In diesem phantasmatischen Gesicht erreicht die Entmenschlichung der Welt einen point of no return: In der Abspaltung der Stimme als akustische Spur und dem vollständigen Verschwinden von Erinnerungsprozessen werden der Kontrollverlust und die Fragmentierung des Menschen radikal zu Ende gedacht.

„Weil sie dem Kommando zu bleiben nicht mehr gehorchen“. Kriegsgesichte(r) Im Titel von Franks Die Kriegswitwe klingt ein Themenfeld an, das mit den Schreckensszenarien eines industriell besessenen und technisch fragmentierten Körpers aufs Engste verbunden ist und das auch Picard ausgiebig und in expressionistischer Manier bearbeitet: die Auseinandersetzung mit dem Krieg. Das historische Ereignis des Ersten Weltkriegs hat wie kaum ein anderes die Literatur des späten Expressionismus und dessen antizivilisatorische Haltung geprägt.194 Die gewaltige destruktive Kraft der modernen Kriegswaffen ist – neben anderen Motiven – in die apokalyptischen Szenarien eingeflossen, in die der Expressionismus den technischen Fortschritt oft münden lässt. Sie ist ein entscheidender Katalysator für die Intensivierung der technikfeindlichen frühexpressionistischen Kulturkritik – die, wie bereits dargestellt, auch auf die technische Revolutionierung von Verkehrswesen, Stadtarchitektur und Industrie zurückgeht – zu den Technikapokalypsen der Weimarer Zeit. 192

Ebenda, S. 16. Hervorhebung im Original gesperrt. Ebenda, S. 204. 194 „Es war wesentlich das Zerstörungspotential der neuen Kriegsmaschinen, das die expressionistische Technik-Kritik forciert hat.“ (Anz: Literatur des Expressionismus, S. 119) 193

Gesichte im Kontext (III)

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Auch in Picards Schriften, insbesondere in Der letzte Mensch, nimmt der Krieg einen breiten Raum ein.195 Die grotesken Formen, die die Gesichter und Körper der verschiedenen gespenstischen „Wesen“ annehmen, werden nämlich auch auf die grotesken Defigurationen zurückgeführt, denen die Kriegsgeschehnisse den menschlichen Körper unterwerfen: Die Textpassage etwa, in der zum ersten Mal ein Gespenst begegnet – „Einmal stand in der Reihe neben mir ein Gespenst, das einen Körper hatte, als ob es ein Wesen wäre so wie ich!“196 –, in der das Groteske endgültig in die vertraute Wirklichkeit einbricht und das, „was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt“197, stellt einen unmittelbaren Zusammenhang her zum GasKrieg: Und dann: erinnerst du dich an die Wesen, die in den Schützengräben von den giftigen Gasen getötet worden waren? Sie sahen nicht mehr aus wie Menschen, aber trotzdem waren sie immer noch da: die Toten, die Hand am Gewehr und über das Gewehr nach einem Ziel sehend.198

Dass der Erste Weltkrieg metaphorisch nicht nur als ‚Gespenst des Krieges‘, sondern auch als ‚Krieg der Gespenster‘ wahrgenommen wurde, zeichnet seine literarische wie alltägliche (Nicht-)Verarbeitung aus. Der ‚gespenstische Kamerad‘ stellt ein verbreitetes Bild dar, das auch die räumlich und zeitlich vom Maschinenkrieg und von den mit ihm einhergehenden traumatischen Todes- und Tötungserfahrungen Entfernten intensiv bemühen: Die Trauernden in der Heimat haben einen Menschen verloren. Aber für sie gibt es keinen Leichnam, an dem die Trauer ihren sichtbaren Bezug fände und von dem in Leichenzeremonien Abschied genommen werden könnte. [...] Die Mischung aus Unsicherheit und Hoffnung bildet einen Ansatzpunkt für die Vorstellung der toten Soldaten, die mit uns leben. In den späteren Kriegs- und Freikorpsromanen werden die durch den Tod entstandenen Lücken oft nicht gefüllt. Die Kameraden marschierten nicht nur im Geist, sondern als Geister mit.199

Wenn Picard also die zu Beginn des Letzten Menschen noch völlig kontextfreie Rede von den Wesen, „die heute nicht mehr so aussehen [müssen] wie Menschen“200, zwei Sätze später im zeitgeschichtlichen Kontext des Gas-Krieges wiederholt, dann stellt dieser ‚Realismus‘ die literarisch-fiktive Groteske keineswegs in Frage. Vielmehr er195

Picard selbst war als Schweizer Staatsbürger nicht zum Wehr- bzw. Kriegsdienst verpflichtet (die Schweiz machte zwar mobil, griff aber nicht aktiv in den Krieg ein). Er praktizierte während des Ersten Weltkriegs als Arzt, u. a. in München, daneben fallen seine ersten literarischen und kunstkritischen Schriften (Der Bürger 1914, Das Ende des Impressionismus 1916, Expressionistische Bauernmalerei 1918) sowie die Kontakte zu Münchner Literatur-Kreisen in diese Zeit. 196 Picard: Der letzte Mensch, S. 11. 197 Vgl. Kayser: Das Groteske, S. 198f. 198 Picard: Der letzte Mensch, S. 11. Hervorhebung K. L. 199 Hüppauf, Bernd: „‚Der Tod ist verschlungen in den Sieg‘. Todesbilder aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit“, in: Bernd Hüppauf (Hrsg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein: Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Hanstein, 1984, S. 55–91, hier: S. 64f. 200 Picard: Der letzte Mensch, S. 9.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

weist sich hier, dass gerade der „groteske Realismus“ (Bachtin) – die Darstellung der Wahrnehmungsverwirrung im Erleben der „vertrauten Wirklichkeit“ – das Groteske auszeichnet: „Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat“201. Dass sich Picards groteske Fiktionen dabei als höchst ‚reale‘ Figuren entpuppen, entspricht jener grotesken Poetologie, die der wohl wichtigste Grotesken-Autor des Expressionismus 1919 formuliert: Der Groteskenschreiber ärgert und schockiert den fast unausrottbaren Philister in uns, der sich, aus Vergeßlichkeit, mitten in der Karikatur des echten Lebens ahnungslos wohlfühlt, dadurch, daß er die Karikatur bis in das Groteske eben übertreibt, solange, bis es gelingt, ihn aus dem nur gewähnten Paradies seiner Gewöhnlichkeiten zu vertreiben202.

Auch bei Mynona ist also das Groteske bereits als „Karikatur“ ins „echte Leben“ eingebrochen. Und auch bei ihm findet sich wie bei Picard der Gegensatz zwischen einer grotesk-apokalyptischen Kosmologie des Untergangs und der Erinnerung an eine vom Vergessen bedrohte himmlische Kosmologie. Ahnungslosigkeit und Erinnerungsverlust lassen für „den fast unausrottbaren Philister in uns“ das „echte Leben“ hinter der „Karikatur“ verschwinden; es bedarf des Sehers, um ihn „aus dem nur gewähnten Paradies seiner Gewöhnlichkeiten zu vertreiben“ und die Wahrheit aufzudecken: Der groteske Humorist speziell hat den Willen, die Erinnerung an das göttlich geheimnisvolle Urbild des echten Lebens dadurch aufzufrischen, daß er das Zerrbild dieses verschlossenen Paradieses bis ins Unmögliche absichtlich übertreibt.203

Wenn hier die Rede ist vom Ersten Weltkrieg als einem wichtigen Faktor für die literarischen Praktiken des Expressionismus, so ist dies nicht – oder jedenfalls nicht allein – im Sinne einer literarischen Reaktion auf die Kriegsgeschehnisse zu verstehen. Die Reduktion des Themenfeldes Krieg-Technik-Apokalypse auf eine reine Abbildung oder die nachgängige Verarbeitung der Weltkriegserfahrung in der Literatur greift zu kurz. Die expressionistische Diskursivierung des Krieges verläuft nicht nur über eine Rezeption und Erinnerung des historischen Ereignisses „Erster Weltkrieg“, sondern auch über dessen emphatische Antizipation in den literarischen und künstlerischen Figurationen des Krieges als universale anthropologische Gestalt. Dass die diskursiven Partizipationen am Krieg, die in den berühmten Ideen von 1914204Ausdruck fanden, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs wissenschaftlich, literarisch und künstlerisch bereits präfi201

Kayser: Das Groteske, S. 198. Mynona: „Die Groteske“, S. 148. 203 Ebenda, S. 147. Der apokalyptische Ruf zur Entscheidung und die mit ihm einhergehende Zerstörung anderer Texte (vgl. hierzu oben S. 142f.) finden sich ebenfalls in Mynonas Definition der Groteske: „Der Groteskenmacher ist davon durchdrungen, daß man diese Welt hier, die uns umgibt, gleichsam ausschwelen muß, um sie von allem Ungeziefer zu reinigen; und er wird zum Kammerjäger der Seelen [...], die Groteske [ist] der Prüfstein, der offenbart, wie nah oder wie fern man dem Echten noch mit seiner Seele sei.“ (ebenda, S. 148) 204 Vgl. Kjellén, Rudolf: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive, Leipzig: Hirzel, 1915. 202

Gesichte im Kontext (III)

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guriert und weitgehend ausgearbeitet waren, macht deutlich, dass die Gesichter des Krieges – um den Titel eines 1924 erschienenen Buches205 von Franz Carl Endres frei zu zitieren – mehr (ver-)bergen als narrative Erinnerungsarbeit. Eva Horn hat gezeigt, dass sich in der „anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs“206 eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Kultur der Aufklärung und der Gesellschaft der zivilisatorischen Moderne verdichtet. Es handelt sich um eine Figur, deren gemeinsamer Nenner das Gefühl eines Aufbruchs, einer zugleich nationalen und individuellen Erneuerung ist. So wird der Krieg zum Befreiungsschlag: er erscheint als das Ende einer kulturellen und gesellschaftlichen Krise, die sich nun im Rausch des nationalen Gemeinschaftsgefühls und der Reinigung zu verflüchtigen scheint. Und es ist diese Krise, genauer: die Diagnose der Moderne als Krise, deren Rhetorik erst jetzt, scheinbar retrospektiv und vom Moment ihrer Lösung her schauend, ihre prägnanteste Form bekommt.207

Picards groteske Schilderungen des Kriegs intervenieren in diesen Diskurs um die Krise der Kultur und die Anthropologisierung des Krieges. Und sie positionieren sich dabei, wie ich im folgenden zeigen werde, nicht nur gegen den Krieg, sondern auch gegen seine Überhöhung zur anthropologischen Figur, wie sie von Befürwortern, aber auch Gegnern des Krieges208 vorgenommen wird. Die beiden wichtigsten Symptome, aus denen die „Diagnose der Moderne als Krise“ gestellt wird, sind die Individualisierung des Bewusstseins sowie die Spezialisierung und Ausdifferenzierung der sozialen Funktionen – jene Freiheiten des modernen Subjekts also, die die Aufklärung als Errungenschaften und Fortschritte gefeiert hatte, die nun aber als Phänomene der individuellen und gesellschaftlichen Desintegration beklagt werden. Freilich zielt die Erneuerung nicht auf die Abschaffung, sondern auf die Steigerung und Versöhnung moderner Errungenschaften. Die unterschiedlichen Figurationen der militärischen Auseinandersetzung zu einem Anthropologicum ‚Krieg‘ stimmen darin überein, dass letzterer nicht als historisch zu erklärendes Ereignis mit spezifischen politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren gefasst wird, das – insofern es auf ebendiese Lebensumstände zurückführbar ist – durch Aufklärung und Änderung dieser Umstände auch zu überwinden oder zu vermeiden ist. Vielmehr soll der Krieg als elementares und ahistorisches Phänomen das von dem Verfall der Kultur bedrohte ‚Wesen‘ des Menschen retten und mit sich selbst versöhnen. In den Schriften Ernst Jüngers begegnet es immer wieder, dieses tierisch-triebhafte ‚Wesen‘, schlummernd auf den bequemen, gewirkten Teppichen einer polierten, gefeilten, geräuschlos ineinandergreifenden Zivilisation, verhüllt in Gewohnheit und gefällige Formen, doch wenn des 205

Endres, Franz Carl: Das Gesicht des Krieges, Leipzig: Oldenburg, 1924. Horn, Eva: „Krieg und Krise. Zur anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs“, in: Gerhart von Graevenitz (Hrsg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1999, S. 633–655. 207 Ebenda, S. 633. 208 „Die Überzeugung, daß der Krieg ein Anthropologicum ist, eine dem Menschen wesentliche Gegebenheit [...], teilt die kulturtheoretische Kriegsapologie ausgerechnet mit der Kriegskritik des sogenannten wissenschaftlichen Pazifismus.“ (ebenda, S. 645) 206

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung; nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler in der ganzen Unabhängigkeit seiner entfesselten Triebe.209

Der solcherart beschworene Krieg birgt das Versprechen, den in seiner fragmentierten subjektiven Wahrnehmungswelt wie in seiner zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung und Spezialisierung gespaltenen Menschen der modernen Zivilisation wieder zur ‚Einheit Mensch‘ zu machen.210 In den „Selbstentwurf einer Kultur, deren interne Aporien der Krieg zugleich sichtbar machen und lösen sollte“211, geht insbesondere die Hoffnung ein, dass der Krieg die in ihr Gegenteil umgeschlagenen Auswüchse der Moderne durch geschichtlichen Fortschritt überwindet und die Kultur ‚reinigt‘ resp. – im Sinne der medizinischen ‚Krisis‘ – ‚heilt‘ – und sei es um den Preis des Lebens selbst. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf eine Denkfigur zurückgegriffen, die die internen Widersprüche der aufgeklärten Kultur ‚abspaltet‘, ihre negativen Aspekte als ‚Zivilisation‘ zu äußeren Widersprüchen umdeutet und diese auf den Feind projiziert. Letzterer lässt sich dann, so die Hoffnung, durch den Kampf gegen den nationalen Gegner, aber auch gegen den ‚Feind im Inneren‘ – dazu werden all jene erklärt, die für eine rationalistisch organisierte Kultur und Gesellschaft stehen, wie der Bürger, der Händler, der aufgeklärte oder positivistische Wissenschaftler – bezwingen. Ziel ist die (Wieder-)Gewinnung eines von vielen auch so bezeichneten ‚Neuen Menschen‘: [D]er Neue Mensch ist einer, der wieder heimisch ist in der Kultur, die er hervorbringt, er erlebt und er gliedert sich ein in eine Großstruktur (der Kultur, der nationalen Volkswirtschaft, der Gemeinschaft, der Technik), die seine Eigenheit zugleich steigert und auflöst. Dieser integrale und integrierte Mensch von 1914 ermöglicht damit ein Heraustreten aus den Paradoxien der Moderne, die der freie, gleiche und brüderliche Mensch von 1789 überhaupt erst geschaffen hat.212

Der Prototyp dieses Neuen Menschen ist der Soldat, der Kämpfer, Krieger, Held; sein Einsatzgebiet reicht jedoch über das militärische Schlachtfeld hinaus: So schreibt Thomas Mann 1914, daß es der schlechteste Künstler nicht sei, der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne. Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung; Systematik; das strategische Grundlagen schaffen, weiter bauen und vorwärts dringen mit ‚rückwärtigen Verbindungen‘ [...] im Kampf mit dem zähen Widerstand der Materie; Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben ‚Sicherheit‘ heißt [...], die Gewöhnung an ein gefährdetes, gespanntes, achtsames Leben; Schonungslosigkeit gegen sich selbst, moralischer Radikalismus, Hingebung bis aufs Äußerste, Blutzeugenschaft, voller Einsatz aller Grundkräfte Leibes und der Seele213. 209

Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin: Mittler, 3. Aufl., 1928 [1922], S. 6. Die Figur greift damit paradoxerweise genau jene „Anthropologie des Ganzen Menschen“ auf, die am Anfang der zu überwindenden Krise der Moderne stand. Vgl. hierzu Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. 211 Horn: „Krieg und Krise“, S. 633. 212 Horn: „Krieg und Krise“, S. 642. 213 Mann, Thomas: „Gedanken im Kriege“, in: Die neue Rundschau, XXV. Jg. (1914), Nr. 11, S. 1471–1484, hier: S. 1473. 210

Gesichte im Kontext (III)

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Insbesondere Ernst Jüngers Beitrag zur Anthropologisierung des Krieges führt dieses „siegende kriegerische Prinzip“ der literarischen wie militärischen „Organisation“ beispielhaft vor – auch wenn seine Schriften erst in der zweiten Hälfe der zwanziger Jahre literarische und politische Wirkung entfalteten.214 Jüngers Frontkämpfer ist der literarische Autor-Held, der das Phantasma eines das menschliche Fassungs- und Handlungsvermögen übersteigenden ‚Materialkrieges‘ in den Stahlgewittern215 literarisch ausbreitet und zugleich implizit zu beherrschen vorgibt: Nicht nur die militärischen Qualitäten, die den von ihm beschriebenen neuartigen Frontsoldaten auszeichnen, sondern auch sein literarischer ‚Kampf‘ erweisen ihn als Überwinder der modernen Verselbständigung technisch-zivilisatorischer Mechanismen.216 Dass diese Leistung nicht die gewöhnlicher Soldaten, sondern nur die eines ganz neuen Typus des Kämpfers, des modernen Landsknechts217, sein kann, der primitiven Instinkt mit hochentwickelter technischer Funktion vereint und als der sich der Stoßtruppführer Jünger selbst inszeniert, liegt auf der Hand.218 Er bietet dem scheinbar übermächtigen Materialkrieg die Stirn. Denn auch für Jünger ist [d]er Kampf der Maschinen [...] so gewaltig, daß der Mensch fast ganz davor verschwindet. [...] Und doch: hinter allem steckt der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn. Er jagt aus ihnen Geschosse, Sprengstoff und Gift. Er erhebt sich in ihnen als Raubvogel über den Gegner. Er hockt in ihrem Bauche, wenn sie feuerspeiend über das Schlachtfeld stampfen. Er ist das gefährliche, blutdürstige und zielbewußteste Wesen, das die Erde tragen mußte.219 214

Wie Liebchen, Gerda: Ernst Jünger. Seine literarischen Arbeiten in den zwanziger Jahren. Eine Untersuchung zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur, Bonn: Bouvier, 1977, betont, geht sein Einfluss bis 1925 nicht über den eines militärischen Fachwissenschaftlers hinaus. Vgl. auch Volmert, Johannes: Ernst Jünger. ‚In Stahlgewittern‘, München: Wilhelm Fink Verlag, 1985, S. 10ff. 215 Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Hannover: Selbstverlag, 1920. 216 Der „doppelte Zug des Textes – beschreibend die historische Einzigartigkeit dieser Kriegführung in ihrem Durchschlagen aller menschlichen Wahrnehmungs- und Belastbarkeitsgrenzen zu erfassen und zugleich heroisch die Metaperspektive eines davon in letzter Konsequenz unangetasteten Beobachters einzunehmen – ist immer wieder als die spezifische Ästhetisierungsleistung Jüngers gefeiert worden. Die Stahlgewitter führen ein souverän durch die Kriegslandschaft sich bewegendes, wahrnehmendes, handelndes und Entscheidungen treffendes Subjekt vor, das den verschütteten Blick des Grabenkämpfers, die Handlungsunfähigkeit des einfachen Soldaten und die Immobilität des Stellungskriegs zwar beschreibt und als die spezifische Erfahrung dieses Krieges hervorhebt, aber in seiner eigenen Perspektive der Entmächtigung durch den Krieg nicht wirklich unterworfen ist“ (Horn: „Krieg und Krise“, S. 650f.) 217 Vgl. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 54ff. 218 Diese Stilisierung des Soldaten zum „Landsknecht“ geht nicht allein auf den literarischen und philosophischen Mythos zurück: Die Figur des Landsknechts wirft Jünger zunächst in den Fachdiskurs der Militärtaktik ein, an dessen Kreise seine Schriften sich zunächst wenden. In seiner Tätigkeit für den an ein Fachpublikum gerichteten Mittler-Verlag steht er für eine „Neue Linie“, die den Soldaten der Zukunft als einen jungen Elitekämpfer entwirft, der sich durch einen extremen emotionalen Drill auszeichnet und dem der Kampf zum Lusterlebnis wird. Vgl. hierzu Volmert: Ernst Jünger. ‚In Stahlgewittern‘, S. 11. 219 Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 112.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Der Jünger’schen Landsknechts-Figur, die „eine[r] gesunde[n], kräftige[n] Rasse, die den Kampf um des Kampfes Willen liebt“220, entstammt, und ihren „Stahlgestalten [...], deren starkes Wollen sich in geballtem, zielbewußtem Energiestoß entlädt“221, steht bei Picard eine alles andere als willensstarke und souveräne Figur soldatischen Daseins gegenüber: ein Söldner. Zwar ist – militärhistorisch gesehen – auch der Landsknecht ein Söldner.222 Doch während Jünger insbesondere die hohe Disziplin, die kriegstechnische Spezialisierung und die Grausamkeit, die den als Söldnern angeworbenen Landsknechten zugeschrieben wurde, für seinen neuen Typus aufgreift, tritt bei Picard eine andere Wesensart des Söldners zutage, für die letzterer ebenfalls als Sinnbild steht: Käuflichkeit und Fremdbestimmung. Sieh’, jetzt führen die Dinge untereinander Krieg mit Hilfe des Wesens, das so aussehen darf wie ein Mensch! Die Dinge halten sich das Wesen als einen Söldner, der für sie schießt.223

Während bei Jünger die Wahrnehmung des Krieges ebenso wie die militärische Handlungsfähigkeit zwar durch das Material beherrscht wird, aber letztlich doch durch ein souveränes menschliches bzw. soldatisches Wahrnehmungs-Subjekt gerettet werden kann, nehmen bei Picard „die Dinge“ selbst die Position des distanzierten Beobachters ein: „Sie [die Dinge, K. L.] stehen um ihren Söldner herum und schauen zu, wie er für sie den Krieg führt und, zuschauend, warten sie, wie die Wesen den Kampf für sie entscheiden.“224 Wie die Götter Homers thronen die Dinge souverän über dem Kriegsgeschehen. Und wie in der Ilias entpuppt sich auch im Letzten Menschen die vermeintliche Handlungsfähigkeit der Söldner („den Kampf für sie [zu] entscheiden“) als Schein: Wie an anderer Stelle auch erscheinen die Wesen lediglich, um den Schein des Menschlichen aufrechtzuerhalten. Der dahinter sich vollziehende Verlust der Handlungsfähigkeit tritt jedoch bald zutage und reicht bis in die zentralen ‚Handlungen‘ des Krieges – das Töten und mehr noch das Sterben: Die beim Einbruch des Grotesken auftretenden Gespenster, die „Wesen, die in den Schützengräben von den giftigen Gasen getötet worden waren“ und „nicht mehr aus[sahen] wie Menschen, aber trotzdem [...] immer noch da“225 waren, begegnen später noch einmal; an ihnen manifestiert sich eine neue, unheimliche Form des menschenähnlichen Un-Wesens – ein Nicht-mehrDasein, das nicht das Sterben und nicht der Tod ist: Der Soldat, der in den Schützengräben die giftigen Gase eingeatmet hatte, so daß sein Herz aufhörte zu schlagen, der Soldat, der aber auch dann, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, noch immer aufrecht kniete, die Hand am Gewehr haltend, und zu zielen schien – geschah 220

Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 76. 222 Für Jünger hebt der „Landsknecht“ die Unterscheidung in Freiwillige und Söldner auf: „Es gibt nur zwei Soldaten: den Söldner und den Freiwilligen. Der Landsknecht war beides zugleich.“ (Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 56) 223 Picard: Der letzte Mensch, S. 96. 224 Ebenda. 225 Ebenda, S. 11. 221

Gesichte im Kontext (III)

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hier bei diesem Soldaten etwa dieses ‚plötzlich nicht mehr da sein‘, dieses ‚plötzlich verschwunden sein‘?226

Die an dieser Stelle zunächst auffallend realistische Darstellung wirkt gerade aufgrund ihres Realismus besonders grotesk und unheimlich – der Soldat ist ein echtes Gespenst, das in die vertraute Wirklichkeit einbricht und diese zu einer unheimlichen macht: „Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat. [...] Das Grauen überfällt uns so stark, weil es eben unsere Welt ist, deren Verläßlichkeit sich als Schein erweist.227 Dieser dem Realen entstammende letzte Mensch bricht mit den anthropologischen Figurationen des ‚Neuen Menschen‘, wie ihn Jünger & Co. propagieren, und weißt dessen Humanität und Handlungsfähigkeit als Täuschung aus. Sichtbar wird dies in jenem zweiten Hauptgeschäft des Krieges, das mit dem Töten unmittelbar verbunden ist – dem Sterben: Die Wesen aber sind nicht imstande, eines durch das andere zu sterben in diesem Krieg der Dinge untereinander, so wie die Menschen starben, einer durch den andern, im Krieg der Menschen untereinander; sie wären nicht imstande im Krieg der Dinge zu sterben, wenn nicht die Dinge von Zeit zu Zeit eine Granate oder ein Gas in die Wesen hineinjagen würden, damit es so aussieht, als ob die Wesen auch in diesem Kriege sterben dürfen.228

Dass der Krieg keinen Bruch mit der technischen Zivilisation zugunsten elementarer Kräfte oder einer anthropologischen Erneuerung darstellt, sondern wie kein anderes Phänomen ihren Mechanismen unterworfen ist, zeigen die Topoi der maschinellen Verselbständigung sowie der Mechanisierung und Fragmentarisierung menschlicher Körper, die ja auch Picards Auseinandersetzung mit den industriellen Verkehrs- und Produktionsformen prägen. Sie gewinnen im Zusammenhang mit der Waffentechnik eine besondere Schärfe. Das Phantasma des Material-Kriegs, der sich verselbständigt und damit menschlicher Kontrolle und Wahrnehmung entzieht, begegnet auch bei Picard: „Wie furchtbar aber wäre dies: wenn die Dinge den Krieg führen würden ohne die Wesen, wenn die Kanonen selber gegen die Dome schössen, oder gar die Dome gegen die Kanonen!“229 Damit erteilt Picard in seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Krieg jener Anthropologisierung des Krieges eine Absage, „die den Krieg nicht denken kann, ohne über den Menschen nachzudenken, und die umgekehrt ihr Wissen vom Menschen privilegiert vom Phänomen des Krieges abzuleiten sucht.“230 Picards ausgeprägter Hang zum Anthropologisieren spart gerade den Krieg aus. Der Krieg ist „kein Krieg zwischen den Menschen, es ist ein Krieg zwischen den Dingen, die vom Krieg der Menschen her übriggeblieben sind.“231 Zwar teilt er die anti-zivilisatorische Kulturtheorie 226

Ebenda, S. 89. Vgl. Kayser: Das Groteske, S. 198f. Hervorhebung K. L. 228 Picard: Der letzte Mensch, S. 96f. Hervorhebung im Original. 229 Ebenda, S. 97. 230 Horn: „Krieg und Krise“, S. 634. 231 Ebenda, S. 96. 227

232

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

vom Verfall, ja Untergang der Moderne – der Krieg wird in diesem Zusammenhang aber nicht als Hoffnungszeichen oder Therapeutikum, Krisis oder historischer Bruch gedeutet, sondern als Symptom von Ausweglosigkeit und beschleunigtem Verlust des ‚Menschen‘. Der „Selbstwiderspruch der Kultur [...], der von deren Wesen unabtrennbar ist“232, wird durch den Krieg weder historisch überwunden und geheilt – am Ende der Apokalypse steht allein das Ende –, noch nach außen projiziert, um sie einer deutschen, künstlerischen oder sonst irgendeiner Kämpferfigur entgegenzusetzen. Dies wird deutlich, wenn Picard nicht nur der souveränen Handlungsfähigkeit des Kriegshelden eine Absage erteilt, sondern auch die mit ihm verknüpften Utopien einer erneuerten somatischen und gesellschaftlichen Ganzheit als Farce bloßstellt. Klaus Theweleit hat herausgearbeitet, dass die doppelte Vorbild-Funktion des soldatischen Mannes für den ‚Neuen Menschen’– als körperlich „integrales“ und sozial „integriertes“ (Horn) Individuum – sich in den Gestalten des „Körperpanzers“ und der „Truppe“ artikuliert. Der auf Drill und Schmerz antwortende „Körperpanzer“ dient dabei der (Wieder-)Gewinnung einer Einheit von Wahrnehmung, Wille und Handlung, wie sie dem ‚Neuen Menschen‘ in den militärischen Disziplinaranstalten und durch den Krieg zuwachsen soll: Das eigene Selbst ist besetzt lediglich als zuverlässigstes Teil der Maschine. Seine Rede von nun an: die Maschine soll laufen, je schneller desto besser, an mir soll es nicht liegen, wenn sie nicht läuft... Und merkwürdig: für sich selbst ist das Teilchen dadurch, daß es Teilchen wurde, zu einem Ganzen geworden, zu einem untergeordneten Ganzen, sicher, aber auch zu einem übergeordneten. Es hat genau bestimmte Funktionen, ganz bestimmte Kupplungen zu anderen Teilen; seine ehemalige Funktionsvielfalt ist dahin. Mit der Vielfalt muß etwas nicht gestimmt haben, ihre Möglichkeit muß bedrohlich gewesen sein, denn das Teilchen ist gerne Ganzes geworden in der Ganzheitsmaschine.233

Dieser nach außen hin abgeschlossene und undurchdringliche „Körperpanzer“ gliedert sich zugleich perfekt in den Kollektivkörper der „Truppe“ ein: Die einzelnen Glieder der Soldaten sind wie von ihrem Leib abgetrennt und zusammengefügt zu neuen Ganzheiten. Das Bein des einzelnen hängt funktionell mehr mit dem Bein des Neben232

Simmel, Georg: „Der Krieg und die geistigen Entscheidungen“: in: Georg Simmel, Gesamtausgabe. Band 16, hrsg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999 [1917], S. 7–58, hier: S. 40. 233 Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Bd. 2. Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990, S. 152ff. Theweleit erklärt den Körperpanzer sozialpsychologisch mit der psychoanalytischen Funktion der aggressiven Internalisierung der sozialen Unterdrückung, die in den emotionalen Eruptionen des Jünger’schen Helden resp. Textes das gelegentlich sich öffnende Ventil findet, dessen sie bedarf. „Flüsse beginnen zu fließen, der Blutstrom in den Texten und ihr Wortstrom beim Schreiben. Hier fühlen sie sich gefordert, hier wollen sie große Literatur schreiben, vor allem an diesen Stellen: den Leser überschwemmt mit der Gewalt ihres Ausbruchs, seine Gedanken und Gefühle hinreißen in den Wasserfällen der Wortkaskaden, in ihn eindringen, daß ihm das Blut in den Ohren rauscht. Was ihnen an Sprachmaterial zur Verfügung steht, hier wird es ins Gefecht geschickt, ins Gefecht um einen Platz in der Literaturgeschichte der Ewigkeit.“ (ebenda, S. 183f.)

Gesichte im Kontext (III)

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manns zusammen, als mit dem Rumpf, an dem es sitzt. Dadurch entstehen innerhalb der Maschine neue Ganzheitsleiber, die nicht mit einzelnen menschlichen Leibern identisch sind.234

Denn die soldatische Disziplinierung integriert die Körper-Integrale zu perfekt ineinander greifenden Teilchen – [a]usgerechnet in der vollkommenen Funktionalisierung des Einzelnen auf einen übergeordneten Zweck erfährt der Soldat die Überwindung des ‚Dualismus zwischen dem Individuum als Selbstzweck und dem Individuum als Glied des Ganzen‘.235

Auch hier sind Jüngers Darstellungen exemplarisch: Den kurzen, emotional aufgeladenen Ausbrüchen kriegerischer Handlungen stehen lange Passagen gegenüber, die den ebenfalls höchst bedeutsamen, weil für die disziplinarische Einpassung in die Truppe notwendigen „Alltag“ schildern: Die Maschine Truppe produziert zunächst sich selbst; sich selbst als Ganzheit, die dem einzelnen Soldaten einen neuen Körperzusammenhang verleiht [...]. Sie produziert einen Ausdruck; den von Geschlossenheit, Stärke, Exaktheit, [...] der der Erhaltung anderer mann/männlicher Ganzheitsgebilde dient, der ‚Nation‘ etwa. [...] [S]ie braucht nicht erst ‚die‘ Front zu erreichen, sie produziert die Front, sie ist die Front. Setzt sie sich in Bewegung, verschiebt sie die Grenze. Front und Grenze gehören zu ihr auch im Frieden. Ihr Daseinszustand ist Krieg. Sie hat immer eine Grenze zu verteidigen (die eigene), eine Front vorzuschieben. [...] Im Frieden richtet sich die Front sehr stark gegen das Innere, gegen die Einzelteile der Maschine selbst.236

Der kriegerische Körperpanzer Jünger’scher Prägung bringt damit (wieder) zusammen, was die zivilisatorische Moderne fragmentiert: somatische und soziale Einheiten.237 Ganz anders entwirft Picard den Soldatenkörper: Bei ihm treibt der Krieg die Fragmentierung und Mechanisierung der individuellen Körper auf die Spitze, wenn der Verlust von Ganzheit und Innerlichkeit der Körper und insbesondere der Gesichter als Hinausgeschossenwerden beschrieben werden: Einmal, bei dieser großen Flucht aus dem Innern, muß das ganze Gesicht durchlöchert gewesen sein, damit das Innere durch das Gesicht fliehen konnte. Sieh’, wie die Haut sich über das Leere spannt, sie hat über die Löcher wachsen müssen, aus denen das Innere geflohen ist! Leer, wie ausgeschossen, erscheinen die Gesichter, es ist nichts mehr darin. Es scheint, daß das, was in den Gesichtern war, hinausgeschossen wurde von innen her.238

Nicht die Hoffnung auf Restitution von souveräner Beobachtung, sondern das endgültige Versagen menschlicher Wahrnehmung angesichts der modernen Militärtechnik veranschaulicht Picards Vision, in der Augen zu Maschinengewehr-Mündungen und der Blick zum Feuer werden:

234

Ebenda, S. 155. Horn: „Krieg und Krise“, S. 636. 236 Theweleit: Männerphantasien. Bd. 2, S. 155ff. 237 „Der Begriff der ‚Einheit‘ [...] trägt dabei einen Doppelsinn: Einheit als Rechengröße und Einheit als Ganzheit, die sich von einem anderen abgrenzt.“ (Horn: „Krieg und Krise“, S. 634, Fußnote 8) 238 Picard: Der letzte Mensch, S. 35f. 235

234

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Die Höhlen der Augen sind wie Löcher, durch die geschossen worden ist. Die Augen getrauen sich nicht, sich zu öffnen, sie haben immer noch Angst, sie wissen immer noch nicht, ob sie bleiben dürfen, oder ob auch sie noch aus dem Gesicht geschossen werden. Sie fürchten, es sei schon ein Schuß bereit, mit dem auch sie hinausgeschossen werden sollen. Es ist, als ob im Innern der Körper ein Maschinengewehr aufgestellt wäre, das die Augen hinausschießt239.

Auch hier werden Körper und Waffe eins – ihre Verschmelzung zeugt jedoch nicht Lust, sondern Angst: eine Angst, die weiß, dass im Krieg das Töten des anderen und das eigene Sterben eins sind. Wie das Gas zählt auch das Maschinengewehr zu den wichtigsten militärischen Neuerungen des Ersten Weltkriegs. Und wie jenes geht es als Figur in Picards Letzten Menschen ein: [J]edesmal, wenn das Maschinengewehr ein Gesicht weggeschossen hat, ist wieder ein neues Gesicht da. Es ist, als ob für jedes Gesicht, das vom Maschinengewehr weggeschossen wurde, immer wieder ein neues Gesicht heranschießt; das Maschinengewehr wird nie damit fertig werden wegzuschießen, es wird nie aufhören zu schießen.240

Lassen die grotesken Gesichte(r) des letzten Menschen sich als Umsetzungen des Döblin’schen Diktums lesen, wonach in „höchster Gedrängtheit und Präzision [...] ‚die Fülle der Gesichte‘ vorbeizuziehen“241 hat, so gehen sie hier noch über die Gedrängtheit hinaus – sie werden ‚abgefeuert‘: „Alle diese Gesichter wollen immer diesem Maschinengewehr nahe sein. Alle diese Gesichter wollen darum Gewalt, Gewalt.“242 An zahlreichen Stellen des Letzten Menschen fliegen die defigurierten, körper- oder augenlosen Gesichte(r) in einer Bewegung durch den Raum, die an auf dem Schlachtfeld umherfliegende Geschosse erinnert: Während „wohl irgendwo in der Ferne Körper ohne Köpfe [warten], daß Köpfe auf sie fliegen“, sieht man „[m]anchmal [...] neben sich einen Kopf vorbeijagen, nur einen Kopf: wie wenn er geschossen worden wäre, jagt er vorbei“243. Die Verselbständigung der Technik zu einer unheimlichen und unendlichen Bewegung von identischen Wiederholungen, wie sie die Phonographen-Stimme am Ende des Letzten Menschen besiegelt, deutet sich hier bereits an, wenn die Entblößung, Entsubjektivierung und Fragmentierung des Körpers an ihr militärisches Ende gelangt – apocalypse now: Bald wird auch das letzte Auge aus dem Gesicht hinausgeschossen sein. Dann wird der Körper, in den das Maschinengewehr gestellt war, auseinanderfallen, – nun steht das Maschinengewehr allein, es ist alles schon hinausgeschossen, aber es schießt immer noch wie aus Gewohnheit weiter.244 239

Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. 241 Döblin: „An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm“, S. 17. 242 Picard: Der letzte Mensch, S. 36. 243 Ebenda, S. 25. 244 Ebenda, S. 36. 240

Gesichte im Kontext (III)

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Auch hier liefert Picard das Gegenmodell zu Jüngers hybriden „Stahlgestalten“245: „Was wären diese eisernen, gegen das Universum gerichteten Waffen, wenn unsere Nerven nicht mit ihnen verflochten wären, und wenn es nicht unser Blut wäre, das an jeder Achse zischt?“246 In ihrer organischen Einheit mit dem Mensch bleibt die automatisierte Feuerwaffe bei Jünger auf das Humane angewiesen, wo bei Picard Körper und Maschinengewehr „auseinanderfallen“ und letzteres ohne menschliches Zutun weiterschießt. Doch nicht allein die Fragmentierung des individuellen Soldatenkörpers wird den Ganzheitsversprechen des ‚Neuen Menschen‘ entgegengestellt. Picards Darstellung des Krieges konterkariert auch die Integration des Soldaten in das Kollektiv der „Truppe“, die den individuellen Körperpanzer zur Ganzheitsmaschine vereint247 und von der jene ungehemmte Bewegung destruktiver Aggression ausgeht, in der sich die angestaute Gewalt Bahn bricht. Dort ist ja der Feind, dort sitzt ja der Mensch, und gleich werden wir bei ihm sein! Diese Erkenntnis erfüllt uns mit einer wilden, rasenden Lust, es ist, als ob alles, was sich reißend gespannt und gespeichert hat, plötzlich einen Ausgang sähe, und sich in purpurfarbige und scharlachrote Abgründe stürzte wie ein tosender Wasserfall. Schnell, nur schnell, jetzt muß getötet werden!248

Auch bei Picard ergreift die Einzelkörper ein unwiderstehlicher Bewegungsdrang‚ in dem sich somatische wie soziale Dynamiken ebenfalls wie zu einem Sog verbinden – in entgegengesetzter Richtung allerdings, nicht der des Feindes, sondern der Flucht. [A]lle Teile des Körpers wollen nahe an dem Gelenke sein, weil sie am Gelenke losgelassen werden zu entfliehen; jeder will der erste sein, der entfliehen kann, sie rücken zusammen, sie schieben sich zusammen [...]. Schon sind die Teile des Körpers bereit zu entfliehen. Sieh’ jenes Auge! Es ist nur darum am Kopfe, weil es vorgeschickt ist zu schauen, wohin der Kopf eilen kann, es muß am Kopf ausschauen249.

Das Gesicht trägt hier die Züge einer militärischen Einheit, die nur widerstrebend und durch Befehlsgewalt verbunden bleibt: Schon gibt es Gesichter, die nur wie durch ein Kommando noch zusammengehalten werden können. Nase, Auge, Ohr würden schon jetzt wegeilen, wenn ihnen nicht befohlen würde, zu halten. Schon gibt es Gesichter, in denen Kinn oder Nase ein wenig mehr als die anderen Teile des Gesichts vorgerückt sind, oft sind sie schon fast aus dem Gesichte gerückt, weil sie dem Kommando zu bleiben nicht mehr gehorchen.250

245

Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 76. Jünger, Ernst: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht, Berlin: FrundsbergVerlag, 4. Aufl., 1929 [1925], S. 84. 247 „Im Kampfe selbst löst sich die Formation auf. Die Makromaschine zerlegt sich in ihre Einzelteile. Jetzt können die durch den Drill von außen funktionalisierten Teile des Ganzen des soldatischen Leibes zeigen, daß sie im Prinzip funktionieren, wie die ganze Maschine selbst.“ (Theweleit: Männerphantasien. Bd. 2, S. 158) 248 Jünger: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht, S. 139. 249 Picard: Der letzte Mensch, S. 24ff. 250 Ebenda, S. 31. 246

236

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Die vielbeschworene soldatische Kameradschaft – die „Maschine Truppe“ – entpuppt sich als List eines ‚Willens zur Desertion‘: Freundschaft, Brüderschaft ist zwischen allen Köpfen oben auf den Körpern. Keiner getraut sich mehr, dem andern Feind zu sein, weil er fürchtet: der Feindliche würde ihm verbergen, wann es Zeit sei, vom Körper zu enteilen, er würde heimlich enteilen und ihn allein oben auf dem Körper sitzen lassen.251

Das Freund-Feind-Schema versagt nach innen wie nach außen und nur das Kommando erfüllt noch die Aufgabe, einen notdürftigen Zusammenhalt zu bewerkstelligen. Doch ist diese (Gesichts-)Einheit lediglich ein Zusammenhalten auf verlorenem Posten, um es in der hier nahegelegten militärischen Ausdrucksweise zu fassen. Weder Befehl noch Kameradschaftsmaskerade vermögen das gegenseitige Sich-Belauern und das Bestreben, der erste Fliehende zu sein, auf Dauer zu unterdrücken. Darum mühen sie sich ab, einander freundlich zu tun, damit in der Nähe sie einander beobachten können, ob einer für sich allein bewahre, wann es Zeit sei, vom Körper zu enteilen. Sie mühen sich so sehr ab, freundlich zu sein, daß sie müde davon werden und plötzlich dann anfangen, einander zu beschimpfen.252

Picard deutet den Krieg nicht als elementare anthropologische Kraft, die dem Verfall der Kultur entgegenwirkt, sondern als Medium des Untergangs und Symptom eines allgemeinen Sinn- und Werteverlustes. Der Erste Weltkrieg ist nicht Ort der Auferstehung eines ‚Neuen Menschen‘ und nicht Medium einer ‚Anthropologie des Ganzen Menschen‘, das die Moderne mit sich selbst versöhnt. Er ist der Schauplatz des Untergangs des „Letzten Menschen“, ja mehr noch: Er ist das Medium des unausweichlichen Verschwindens alles Humanen und Menschenähnlichen; in ihm verselbständigt sich die moderne (Kriegs-)Technik zur maschinellen Apokalypse. Sucht man nach einer Position, die der Picard’schen nahe kommt, so stößt man auf Karl Kraus – den ebenfalls eigentümlichen und widersprüchlichen Einzelgänger, der in vielem expressionistisch schrieb und sich doch der Vereinnahmung durch eine ‚Richtung‘ widersetzte – und sein seit 1917 auszugsweise in der Fackel erschienenes, erst 1922 in Buchform veröffentlichtes „Weltkriegsdrama“ Die letzten Tage der Menschheit. „[U]nmöglich, zerklüftet, heldenlos“253 erteilt Kraus’ „Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfällt“254 dem heroischen ‚Neuen Menschen‘ eine Absage. Auch Kraus konstruiert den Krieg als Gegensatz zu jener anthropologischen Figur, die die Hoffnung auf den Ganzen Menschen (wieder-)erstehen lässt. Er stellt ihn als ein Phänomen dar, das allein aus der historischen Gegenwart heraus zu begreifen ist: „Dieser Krieg wirkt aus den Verfallsbedingungen der Zeit. Er ist die eigentliche Realisierung des Status quo.“255 251

Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 30f. 253 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit, München: Kösel-Verlag, 1957 [1926], S. 9. 254 Ebenda, S. 681. 255 Kraus, Karl: „o. T.“, in: Die Fackel, XVII. Jg. (1915), Nr. 406–412, S. 97, hier: S. 97. 252

Gesichte im Kontext (III)

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Wie Picard figuriert Kraus den Krieg nicht als Überwinder der zivilisatorischen Moderne, ihrer Krisen und Widersprüche, sondern als ihren Höhepunkt, der aber voll und ganz dem zivilisatorischen Wesen folgt – in Kraus’ knappem, pointierten, doppeldeutigen Witz: Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel.256

Seine Opposition speist sich – auch dies eine Gemeinsamkeit mit Picard – aus einem religiösen Schöpfungsglauben und einer ebenfalls konservativen Werte-Orientierung. Macht Picard seine antizivilisatorische Position fest an der Großstadt, der Industrie, dem Krieg (Schützengräben, Gas, Maschinengewehr), den modernen Medien, v. a. Kino und Photographie,257 und dem Fehlen gesellschaftlicher Hierarchien, so manifestiert sich der Verfall bei Kraus in ähnlichen Phänomenen: mit Vorliebe in den industriellen Errungenschaften der Luftschifffahrt, den Kriegsmaschinen sowie dem Giftgas, der Macht und Phrasenhaftigkeit der Presse (v. a. seines Lieblingsgegners, der „Neuen Freien Presse“) und der schwindenden Macht des Kaisers. Doch steht dieser thematisch z. T. konservativen Zivilisationskritik eine höchst progressive literarische Praxis gegenüber: Kraus’ Zitat- und Montagetechnik macht aus Die letzten Tage der Menschheit aufgrund ihres dokumentarischen Gestus’ – 60 Prozent des Textes bestehen aus Zitaten – einen Text, der gerade nicht wie so manche Antikriegsliteratur dem hilflosen Versuch verfällt, die Unfassbarkeit der Kriegsrealität abzubilden. Kraus’ ästhetische Transformation der Zitate durch Montage bricht nicht nur mit der Monoperspektivität auktorialer Erzähler- und Autor-Subjekte und ihrer vermeintlichen Souveränität, sie geht auch hinter die Ereignisse zurück und dekonstruiert durch die Konfiguration ‚realer‘ Textausschnitte zu Mehrdeutigkeiten oder semantischer Leere den Zynismus, Sarkasmus und (Un-)Sinn der Kriegsphraseologien. Dabei erscheinen die Personen des Menschheits-Dramas, die diese ‚Kriegswahrheiten‘ verkünden, wie in Der letzte Mensch als entindividualisierte Typen, als eigenartige ‚unwesentliche Wesen‘: So heißt es im Vorwort, dass „Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht“258 werden. Kraus’ 256

Kraus, Karl: „In dieser großen Zeit“, in: Die Fackel, XVI. Jg. (1914), Nr. 404, S. 1–2, hier: S. 5. Allerdings finden sich schon in dem frühen, 1914 in den Sozialistischen Monatsheften erschienen Aufsatz „Individuum und Organisation“ erste Ansätze einer kritsch-ablehnenden Haltung gegenüber den modernen Massenmedien (hier noch der Zeitung), die Picard aus einer gemäßigt sozialistischen Position heraus entwickelt: „Und wenn gewisse politische Parteien ihren Parteiangehörigen das Lesen politisch andersartiger Zeitungen verbieten, so geschieht das auch mit psychologischer Berechtigung. Denn die Zeitung entspricht mit ihrem vielgestaltigen Inhalt, dessen Teile sich ohne innern Zusammenhang lose aneinanderreihen, durchaus dem traumhaften Denktypus der Ermüdung. Und da die Zeitungen gewöhnlich abends, also im Zustand der Ermüdung, gelesen werden, so können sich leicht fremdartige und nicht gewünschte Assoziationen einschleichen.“ (Picard: „Individuum und Organisation“, S. 110) Vgl. hierzu oben S. 60f. 258 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 9. 257

238

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Subjekte sind damit ähnlich wie Picards kernlose Hüllenwesen radikal moderne, weil entsubjektivierte Subjekte.259 Und hier wie dort wird der Untergang auf einen Trug zurückgeführt, der Verlust des Menschlichen durch Beibehaltung seiner äußeren Formen kaschiert: Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist; deren tragischer Konflikt als der der Welt mit der Natur tödlich endet. Ach, weil dieses Drama keinen anderen Helden hat als die Menschheit, so hat es auch keinen Hörer! Woran aber geht mein tragischer Held zugrunde? [...] Er zerbricht an der Lüge: die Wesenlosigkeit, an die er den alten Inhalt seines Menschentums verloren hat, in den alten Lebensformen zu bewähren.260

In der vielleicht wichtigsten Passage der Letzten Tage, dem Monolog der 54. Szene des V. Aktes („Der Nörgler am Schreibtisch“) legt Kraus seinem alter ego – dem „Nörgler“ – eine Poetologie in den Mund, die der des Letzten Menschen höchst ähnlich ist. Die dramatis personae erscheinen dabei als sezierte, fragmentierte und dissoziierte Defigurationen, die die literarische Hand des Visionärs zu neuen Figuren formt – zu KörperGesichten: Den Seher der grotesken Realität, des Wahnsinns des Krieges, trifft die Anklage der zum Untergang Verdammten, daß ich noch lebe, der Augen hatte, die Welt so zu sehen und dessen Blick sie so getroffen hat, daß sie wurde wie ich sie sah. [...] Nicht euern Tod – euer Erlebnis will ich rächen an jenen, die es euch aufgebunden haben! Ich habe sie zu Schatten geformt, die sie sind und die sie in Schein umlügen wollten! Ich habe ihnen das Fleisch abgezogen! Aber den Gedanken ihrer Dummheit, den Gefühlen ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit gab ich die Körper und lasse sie sich bewegen.261

Und auch bei Kraus ist – wie bereits seine Rede vom Drama, das „keinen Hörer“262 habe – das Eintreten der Apokalypse ein akustisches Phänomen, begleitet vom Auftritt einer Phonographen-Stimme, die als Erinnerungsspur ins Leere läuft: „Hätte man die Stimme dieses Zeitalters in einem Phonographen aufbewahrt, so hätte die äußere Wahrheit die innere Lügen gestraft und das Ohr diese und jene nicht wiedererkannt.“263 Erst Auge und Ohr des Nörglers fassen die Stimmen zum Gesicht zusammen und lassen damit ihren „Grundton“ hervortreten: Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb für alle Zeiten [...], damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt, und hätte er selbst für alle Zukunft der Verbindung mit einem Menschenohr entsagt.264

259

Wo Picards „letzter Mensch“ im Schauspieler seinen Prototyp hat, der alles darstellen kann und schließlich nicht(s) mehr ist, weil Realität und Fiktion durcheinandergeraten, begegnen in Die letzten Tage der Menschheit „Operettenfiguren [,die] die Tragödie der Menschheit spielten“ (ebenda). 260 Ebenda, S. 671. 261 Ebenda, S. 670–80. 262 Ebenda, S. 671. 263 Ebenda, S. 681. 264 Ebenda.

Gesichte im Kontext (III)

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Hier ist die Wiederholung, das Zitat – auch wenn es unerhört bleibt – alles andere als eine unendliche identische Wiederholung, wie sie der Phonograph symbolisiert: Die hier mitschwingende Poetologie des Kraus’schen Zitierens ist eine mühsame MosaikArbeit, ein kulturelles Konfigurieren von Gesichte(r)n.265 Was Die letzten Tage der Menschheit von Der letzte Mensch unterscheidet, ist allerdings die bei Kraus immer wieder aufblitzende moralische Mahnung, die in den scheinbar unaufhaltsamen Untergang Momente einstreut, die innehalten lassen und den Eindruck der Unaufhaltsamkeit zur Disposition stellen. So wirkt etwa das am Ende des Dramas einer „Stimme Gottes“ zugeschriebene „Ich habe es nicht gewollt“266 mehrfach gebrochen und vieldeutig: Es wurde bereits dem Sohn des „Kommerzienrats Wahnschaffe“ in den Mund gelegt, als dieser Krieg spielt. Dessen Name wiederum – „Willichen“ – verweist auf die Quelle des Zitats – den deutschen Kaiser Wilhelm II., der bekanntlich 1915 mit den Worten „Ich habe es nicht gewollt“ seinen eigenen Beitrag zum Ausbruch des Krieges leugnete. Die Frage nach der Schuld und damit nach möglicherweise bestehenden anderen Handlungsoptionen lässt das vermeintlich Unausweichliche des Untergangs im Text selbst als fragwürdig erscheinen – im Gegensatz zum Letzten Menschen, wo zumindest der Vorwurf ethischer Verantwortungslosigkeit oder leerer Gesinnungshaftigkeit, der in Der Bürger oder Das Ende des Impressionismus noch erhoben wurde, nicht mehr oder zumindest nicht explizit begegnet. Kraus’ (Anti-)Kriegs-Drama ist in weiten Teilen keine groteske Apokalypse, sondern die satirische Apokalypse267 jenes von Benjamin beschworenen „großen Typus des Satirikers [...] mitten in einem Geschlecht, das sich anschickt, Tanks zu besteigen und Gasmasken überzuziehen, einer Menschheit, der die Tränen ausgegangen sind, aber nicht das Gelächter“268. Kraus’ Satire ist geprägt von einer expliziten, wertenden „Hu265

In diesem Sinne definiert Kraus seine literarische Technik als „Einschöpfung“: Am Beispiel des Gedichts „Nach zwanzig Jahren“, in das er ein nicht markiertes Hamlet-Zitat eingefügt hatte, verdeutlicht er das Schöpferische seines ‚Plagiats‘: „Nun wird es gewiß mehr Leute geben, denen das Zitat bekannt ist [...], als solche [...], die verstehen werden, daß mein Gedanke geradezu von dieser Voraussetzung lebt, also darin seinen Wert hat, daß er ein Plagiat ist. Wäre dies nicht der Fall, so wäre der Gedanke wertlos und ich hätte mir bloß ein Schmuckstück angeeignet, das meinen eigenen Besitz beschämt. Aber der Gedanke beruht nicht in den zwei Zeilen, sondern eben darin, daß sie nicht von mir sind, und in der Stelle, an der sie nun stehen, [...] [und] daß von keinem Shakespeare hier etwas stärkeres Neues gefunden werden könnte als dieses Shakespeare-Zitat, aber nicht als Inhalt, sondern weil es ein Zitat ist. Der künstlerische Wert dieser Einfügung besteht in der selbstverständlichen Deckung mit den noch zu bezeichnenden Themen und die originale Leistung in der Weglassung der Anführungszeichen.“ (Kraus, Karl: „Vom Plagiat“, in: Die Fackel, XXIII. Jg. (1921), Nr. 572–576, S. 61–63, hier: S. 61f.) 266 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 770. 267 Vgl. Timms, Edward: Karl Kraus. Apokalyptic satirist. 2 Bde., New Haven, London: Yale University Press, 1986. 268 Benjamin, Walter: „Karl Kraus“: in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002 [1931], S. 200–229, hier: S. 218.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

manität [...], die sich an der Zerstörung bewährt“269. Das belegen auch die Die Letzten Tage der Menschheit durchziehenden Kommentare – die Monologe und Dialoge des Nörglers sowie der Epilog – und die damit einhergehende Orientierung der Rezeption.270 Und doch münden Die letzten Tage der Menschheit in eine Apokalypse, die über das Satirische hinausgeht; wie Picard greift Kraus wiederholt auf die Apokalypse-Tradition zurück271. So auch hier: Als gewollter oder diktierter „Fluch einer Imagination, die mich befähigt hat, die nie gehörten Dialoge der ‚Letzten Tage der Menschheit‘ wort- und klanggetreu abzuschreiben“272 rücken Die letzten Tage wieder in die Nähe des Letzten Menschen. Wenn am Ende die Marsbewohner auftreten, dann ist das Ende des Menschen eingetreten, darüber gibt es keinen Zweifel. Die Eindeutigkeit und Gewalt der apokalyptischen Entscheidungsstruktur bricht in der Verurteilung und Vernichtung der Menschheit durch die Marsbewohner hervor – und doch trägt es schon fast Züge der Derrida’schen Apokalypse-Dekonstruktion273, wenn diese grotesken Wesen verkünden, die Erde mit Bomben belegt zu haben, „damit doch auf eurer noch hoffenden Erde nun endlich der endliche Endsieg mal werde, und damit sich dagegen kein Widerspruch regt“274. 269

Ebenda, S. 229. „Der Leser glaubt, daß ich ‚über‘ etwas schreibe. Er ahnt gar nicht, wie recht er hat. Besonders, wenn ich über ihn schreibe.“ (Kraus, Karl: „Der Leser“, in: Die Fackel, XXIII. Jg. (1921), Nr. 572–576, S. 74–75, hier: S. 76) 271 So stellt auch Kraus seinem „Apokalypse“-Brief von 1908 ein Motto aus der Joh.-Offb. (Offb 2,7) voran, das auf die apokalyptische Entscheidungssituation, die Trennung von Überwindern und Überwundenen anspielt: „Den Überwinder will ich genießen lassen von dem Lebensholze, das in meines Gottes Paradiese steht.“ (Offb. 2,7, zit. n. Kraus: „Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)“, S. 1) Zahlreiche Zitate aus der Offenbarung des Johannes und Anspielungen auf ihre Figuren fließen in Kraus’ Zeitdiagnose ein: Er metaphorisiert die Presse zur „Großen Hure“ und den deutschen Kaiser zum apokalyptischen Reiter: „Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. ‚Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und daß sie sich einander erwürgen‘“ (ebenda, S. 4). Die drei letzten Sätze des Zitats kehren in identischer Form wieder im Monolog des Nörglers aus den Letzten Tagen der Menschheit (Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 677)). Und im „Apokalypse“-Gedicht von 1920 treten ‚menschenähnliche Wesen‘ auf, in denen unschwer die politischen Machthaber zu erkennen sind, die die Menschheit in Krieg und Untergang führen: „[D]ie Menschen, die/ nicht von den Wassern sterben, drängen zu/ und werden immer mehr; ihr Antlitz ist/ der Menschen Antlitz, doch sie haben Haare/ wie Weiberhaare und die Zähne sind/ wie die der Löwen und sie haben Schwänze/ den Schlangen gleich und Köpfe haben sie,/ zu schaden.“ (Kraus, Karl: „Apokalypse“, in: Die Fackel, XXII. Jg. (1920), Nr. 546–550, S. 78–80, hier: S. 78) Das Gedicht endet mit einem weiteren Apokalypse-Zitat („Und wieder strömt des Lebens lautrer Strom,/ und an den Ufern grünt des Lebens Holz“ (ebenda, S. 80)). Vgl. zur Apokalypse bei Kraus auch Kunne, Andrea: „Karl Kraus und die Apokalypse. Der biblische Text und seine Funktion im zeitgeschichtlichen Kontext“, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, 25. Jg. (1994), Nr. 1, S. 321–346. 272 Kraus, Karl: „Wiener Musik im Ausland“, in: Die Fackel, XXXIV. Jg. (1932), Nr. 876–884, S. 123– 125, hier: S. 125. Hervorhebung K. L. 273 „[D]as Ende ist nah, doch die Apokalypse ist von langer Dauer“ (Derrida: Apokalypse, S. 75). 274 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 769. 270

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Picards Der Letzte Mensch und Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit gelangen – vielleicht in beiden Fällen gegen die Autorintentionen275 – zu einer Position, die den Krieg in die Figuren einer Apokalypse fasst: An deren Ende steht kein neuer Sinn und auch kein alter, sondern lediglich die Sinn- und Wesenslosigkeit der gegenwärtigen Welt und ihres unweigerlichen Untergangs. Groteske wie Apokalypse werden von beiden gleichermaßen dazu eingesetzt, die „Figur des 1. Weltkriegs“ zu bearbeiten. Beide Texte brechen mit den Einheitsversprechen, wie sie expressionistische Ansätze aus den 1910er Jahren (und nicht zuletzt Picards kunstkritische Schriften) kennzeichnen, und setzen an die Stelle des expressionistischen Aufbruchs- und Neuer-Mensch-Pathos – mit gleichermaßen expressionistischen Mitteln – Orientierungslosigkeit und Untergang. Und wenn bei Picard „Schutzleute und Bankherren, Mörder, Bürger, Verliebte, Kaiser, Narren, Erfinder, Huren, alle [...] in die große Kugel hineingefügt“276 werden, dann lässt sich das auch als grotesk-apokalyptische Kritik an den Einheitsutopien lesen, die den Ersten Weltkrieg als Beginn eines nationalen Zusammenwachsens „zum Klumpen“ feiern, wie – ganz ohne ironische oder groteske Untertöne – in A. J. Wincklers Gedicht Furor Teutonicus: Da – Aus Walzwerk und Hochofen und Häfen und Schacht/ wälzt es heran mit furchtbarer Macht,/ [...] Da – Aus Kaufläden und Hörsaal, Amt, Klinik, Kontor,/ Aus Palast und Banken bricht es hervor/ millionenhaft steigt es – Sie sind’s! Es beginnt!/ [...] Wir haben uns wieder, wir sind vereint,/ mit Gott und Kaiser hinaus in den Feind!/ Zerstampft ist, was uns hadernd getrennt,/ wir sind ein einziges Element,/ ein Volk, mein Volk, zum Klumpen geballt277.

„Herkunft der Abstraktion aus der Bewegtheit“. Picards kunstkritische Schriften In Picards zwischen 1916 und 1920 erschienenen kunstkritischen Schriften – Das Ende des Imprssionismus (1916), Expressionistische Bauernmalerei (1918), „Expressionismus“ (1919) und Mittelalterliche Holzfiguren (1920) – lassen sich zwei Auseinandersetzungen verfolgen: Zum einen findet sich darin eine Beschäftigung mit zeitgenössischen Positionen aus dem Feld der Kunstkritik. Zum anderen greift Picard in diesen Schriften auch philosophische und psychologische, insbesondere wahrnehmungstheoretische Diskurse auf; dabei rezipiert er u. a. die Husserl’sche Phänomenologie sowie die 275

„[D]as dissonante Thema des Krieges forderte Kraus eine Vielfalt der Perspektiven ab, die den seiner Veranlagung nach monologisch ansetzenden Moralisten förmlich zur offenen Dramaturgie trieb.“ (Buck, Theo: Vorschein der Apokalypse. Das Thema des ersten Weltkriegs bei Georg Trakl, Robert Musil und Karl Kraus, Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 2001, S. 74) 276 Picard: Der letzte Mensch, S. 200. 277 Winckler, A. J.: „Furor Teutonicus!“, in: Walther Eggert Windegg (Hrsg.): Der deutsche Krieg in Dichtungen, München: Beck, 1915, S. 15–16, hier: S. 15f.

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Psychoanalyse. Diese beiden Stränge einer kunsttheoretischen Auseinandersetzung sind keineswegs als Gegensätze zu begreifen. Die Kunstkritik des frühen 20. Jahrhunderts ist ein oft von Philosophen, Literaten oder Künstlern betriebenes Gewerbe, insbesondere dort, wo sich die anti-akademische, avantgardistische Fraktion der sogenannten ‚Kunstschriftstellerei‘ gegen traditionelle Formen und Inhalte der Kunstkritik und Kunsttheorie wendet und dabei eine Offenheit für aktuelle Entwicklungen nicht nur in den Künsten, sondern auch in anderen Disziplinen an den Tag legt. Eine umfassende Geschichte der Kunstkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts liegt bis jetzt nicht vor, geschweige denn eine feldtheoretische Darstellung.278 Ich werde daher – anhand dreier bedeutender Protagonisten – einen kurzen und fragmenthaften Überblick über die Bewegungen in diesem Feld vorausschicken, bevor ich versuche, Beziehungen zwischen Picards kunstkritischer Positionierung und den zeitgenössischen Kontexten zu ziehen. Das Feld der Kunstkritik besitzt eine in manchem homologe Struktur zu dem der Kunstproduktion, insofern sich wichtige kunstkritische Positionen als Parteigänger, Wegbereiter oder Unterstützer der verschiedenen bildkünstlerischen Avantgarden verstehen lassen. Zugleich weist das Feld der Kunstkritik aber auch Eigenheiten auf, die es von dem Feld der Kunstproduktion unterscheiden. Das zeigt sich etwa darin, dass die Kunstkritiker noch stärker als die Künstler unter dem heteronomen Einfluss der Politik stehen – und das heißt bis zum Ende der wilhelminischen Ära unter dem Einfluss einer ‚von ganz oben‘ angeordneten, konservativen und deutsch-nationalen Politik: Bekanntlich hat sich Wilhelm II. selbst für einen in Kunstfragen kompetenten Kritiker gehalten, der die Suche nach der Eigenheit deutscher Kunst zum Programm erhob. Dieses – nicht allein von ihm verfolgte Bestreben – bildete einen der beiden einflussreichsten Pole des Feldes. Daneben gab es einen zweiten, autonomen Pol, der für die Unabhängigkeit der Kunst und Kunstkritik von den Zwängen der Staatspolitik kämpfte und dessen Vertreter zumeist eine progressive, den modernen Avantgarden verpflichtete Position vertraten. Auch wenn die starke Einflussnahme der Wilhelminischen Kunstpolitik es diesen Kunstkritikern nicht einfach machte, so besaß ihre Position doch Macht, Einfluss und ausreichende Unterstützung, wie etwa der berühmte ‚Kampf um die Kunst‘ bewies, der sich an dem Ankauf von Vincent Van Goghs Bildnis Mohnfeld durch die Bremer Kunsthalle entzündete.279 278

Verschiedene Arbeiten zur Kunstkritik, insbesondere zu den deutsch-französischen Beziehungen in Sachen Kunsttheorie und -kritik, sowie Monographien zu einzelnen Künstlern oder Kritikern liefern aber wertvolle Orientierung. Vgl. Holleczek, Andreas und Andrea Meyer (Hrsg.): Französische Kunst – deutsche Perspektiven, 1870–1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, Berlin: Akademie Verlag, 2004; Fleckner, Uwe: Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie, Berlin: Akademie Verlag, 2006; Pfisterer, Ulrich (Hrsg.): Klassiker der Kunstgeschichte. Band II. Von Panofsky bis Greenberg, München: C.H.Beck, 2008. 279 Der als ‚Bremer Kunststreit‘ berühmt gewordenen Auseinandersetzung liegt ein Aufruf des Kunstkritikers Carl Vinnen zugrunde, der sich gegen die Bevorzugung französischer Kunstwerke in der Ankaufspolitik deutscher Sammlungen richtete – auch wenn Vinnen selbst die Vorbildfunktion der

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Vereinfacht lässt sich das Feld zumindest bis 1914 anhand einer doppelten Opposition begreifen. Die konservative Ablehnung avantgardistischer Künstler und Gruppen zugunsten einer traditionellen, akademischen Malweise artikuliert sich zumeist als Ablehnung französischer Malerei zugunsten einer ‚deutschen Kunst‘: Frankreich bzw. Paris als Heimat fast aller modernen Avantgarden (vom Realismus über den Symbolismus und den Impressionismus bis hin zum Futurismus und Kubismus) galten den konservativen deutschen Kunstkritikern politisch wie ästhetisch als Negativmodell. Zwar konnte man die institutionelle Förderung und Ausbildung der Maler an der Pariser École des beaux-arts als vorbildlich akzeptieren, zugleich machte man darin aber oft den Grund für die dem Oberflächlichen, dem rein Sinnlichen verhaftete und gekünstelte französische Kunst aus. Deutsche Kunst dagegen sollte dem ‚Wesenhaften‘ und ‚Wahren‘ zum Ausdruck verhelfen.280 Dagegen galten den progressiven Vertretern der Zunft insbesondere der französische Impressionismus mit seiner von der Akademie sich abwendenden Pleinair-Malerei sowie die in Frankreich gebildeten Sezessionen als Vorbild, das auch in Deutschland zu akzeptieren war, wollte man nicht aus chauvinistischen Motiven die modernen Entwicklungen der Kunst aufs Spiel setzen. Erst mit dem Aufkommen des Expressionismus als einer vor allem in Deutschland angesiedelten, wenngleich dem französischen Fauvismus in manchem verwandte Avantgarde-Bewegung finden sich auch bei avantgardistisch orientierten Kunstkritikern Positionen, die die Suche nach Geist, Seele und ‚Wesen‘ als spezifisch deutschen Beitrag zur modernen Entwicklung avantgardistischer Kunstformen konstruieren. Die Gleichsetzung moderner mit französischer Kunst wird dadurch gelockert, wenngleich stereotype nationale Wertungsmuster (französisch = technisch gekonnt/gekünstelt/ oberflächlich; deutsch = ausdrucksstark/wesenhaft/tiefgründig) auch in der Folge ihren Einfluss behielten. 1916, als Picard seine erste kunstkritische Schrift veröffentlicht, umfasst das Feld der Kunstkritik – neben dem heteronomen Pol einer konservativen Kunstkritik im Dienste der nationalen ideologischen Propaganda – drei wichtige avantgardistische Positionen, die den autonomen Pol bilden und sich anhand der einflussreichen Namen von Julius Meier-Graefe, Wilhelm Worringer und Carl Einstein skizzieren lassen.

französischen Avantgarden für die künstlerische Moderne keineswegs leugnete. Seinen Anliegen verschafft Vinnen gemeinsam mit anderen Autoren und Künstlern in der 1911 veröffentlichten Textsammlung Protest Deutscher Künstler Ausdruck. Gegen diese Protestschrift bezieht ein kurz darauf als Im Kampf um die Kunst veröffentlichter Sammelband Stellung, in dem neben anderen Künstlern und Kritikern Franz Marc, Wassily Kandinsky und Wilhelm Worringer die französische Kunst verteidigen und den Protest der ‚Deutschen Künstler‘ als antimodern zurückweisen. 280 Vgl. hierzu Gaehtgens, Thomas W.: „Zur Rezeption der französischen Moderne in Deutschland von 1870 bis 1945“, in: Holleczek, Andreas und Andrea Meyer (Hrsg.): Französische Kunst – deutsche Perspektiven, 1870–1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, Berlin: Akademie Verlag, 2004.

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Julius Meier-Graefe ist – nicht zuletzt durch seine seit 1904 veröffentlichte Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst281 – der wohl einflussreichste Kunstkritiker der Jahrhundertwende und als Wegbereiter einer unabhängigen, den modernen nicht-akademischen Avantgarden zugewandten Kunstschriftstellerei von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Meier-Graefes Position galt (und gilt immer noch) als impressionistische Kunstkritik. Dieses Urteil stützt sich nicht nur auf seine Wertschätzung impressionistischer Kunst, sondern auch auf seine – von anderen Autoren – oft als ‚impressionistisch‘ qualifizierte, an der konkreten Anschauung und spontanen Empfindung orientierte Methode. Dabei ist jedoch Meier-Graefes Einstellung zum Impressionismus keineswegs einheitlich, sondern recht komplex und ambivalent. Insbesondere unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs und der neuen Strömungen in der Kunst verstärken sich in Meier-Graefes Schriften die abwertenden und kritischen Töne nicht nur gegenüber den jungen Avantgarden des Expressionismus und Kubismus (denen er zeitlebens ablehnend gegenübersteht), sondern auch gegenüber dem Impressionismus und selbst von ihm hochgeschätzten Künstlern wie Edouard Manet. Weil Meier-Graefes Darstellungen und Bewertungen des Impressionismus nicht nur für fast alle wichtigen Kunstkritiker des frühen 20. Jahrhunderts von entscheidendem Einfluss waren, sondern sich auch in Max Picards Impressionismus-Bild niederschlagen, sollen sie hier erläutert werden. Die Vorbildfunktion des Impressionismus sieht Meier-Graefe in dem Streben nach einem Ausgleich zwischen dem historischen Erbe (insbesondere der Klassik sowie der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts) und der Verarbeitung der eigenen geschichtlichen Gegenwart, sowie in der Suche nach einer idealen Einheit zwischen wahrgenommener Welt und den autonomen Gesetzen der Bildkomposition, vor allem deren Farbgestaltung – des ‚Malerischen‘. In diesem Bemühen um eine Versöhnung von Gegenstand und Kunstwerk sieht Meier-Graefe das Ideal aller Kunst. Beispielhaft ist ihm dabei das Werk Edouard Manets, dem es gelinge, sich dem realistischen Blick in seine historische Wirklichkeit zu stellen und doch diese nicht einfach nur wiederzugeben, sondern im Kunstwerk zu einer neuen Harmonie zwischen Gegenstand und autonomer Bildgestaltung zu finden. Manet giebt das Höchste, was Kunst geben kann: Ruhe. […] Wir haben diese Ruhe nur in den Alten, aber da erscheint sie zuweilen mehr Erstarrung; es war, als ob sie nur durch Ausschluss des unmittelbaren Lebens, in der weltfernen Stille der Dome möglich sei. Sie verlor sich immer mehr, je mehr die Mannigfaltigkeit unserer immer materielleren Interessen in der Kunst zum Bilde wurde und der Lärm des Alltags in den Tempel zog, der sonst nur feierlicher Würde gedient hatte. Und nun auf einmal einer, der gerade aus diesem immer lebendigeren Alltag auch eine Feierlichkeit, auch eine Würde gewinnt; der die Banalität in eine klare aber durchaus materielle Atmosphäre taucht, die das Geringste zu stiller Erhabenheit wandelt. Einer, der der Seele nicht 281

Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. In drei Bänden, München: Piper, 1904ff. Die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst erscheint in mehreren Auflagen, wobei die beiden ersten Auflagen von 1904 und 1915 jeweils in der darauffolgenden Auflage stark überarbeitet und zum Teil inhaltlich ganz neu ausgerichtet werden.

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durch das Gemüt, sondern durch das Auge, nur durch das Auge, giebt. Was wir von der Malerei, von diesem Zwitterding, von dem wir nicht wissen, für wen und für was es da ist, verlangen, zu verlangen uns einbilden, was es uns heute sein kann, in der hastenden, jagenden SekundenGegenwart mit ihren blitzschnellen Bildern, ihren gedrängten Empfindungen, deren unvermittelte, sich überstolpernde Folge unsere Aufnahmeapparate, die gleichzeitig noch Rechenschaften aller möglichen Art, selbst die Nahrung darin finden sollen, zu übermenschlichen Funktionen treibt, das hat diese Kunst verstanden.282

Dem Leser Picards dürften hier die Gemeinsamkeiten von Topoi und Diktion ins Auge fallen. Das Impressionismusbild Meier-Graefes ist jedoch wie bereits angedeutet ambivalenter, als es zunächst erscheinen mag. Die negativen Urteile über einzelne Künstler wie über die gesamte Strömung vermehren und intensivieren sich in den Jahren um den Ersten Weltkrieg – und diese Entwicklung spart selbst das hochgeschätzte Vorbild Manet nicht aus. Insbesondere dessen Spätwerk wirft er – wie zuvor bereits Monet, Pissarro und anderen impressionistischen Künstlern – vor, sich ans Dekorative und die rein visuelle Sensation zu verlieren und dabei den Gegenstand sowie die historischen Ideale im wahrsten Sinne des Wortes ‚aus den Augen zu verlieren‘. In der zweiten Auflage der Entwicklungsgeschichte findet sich die Rede von der Ruhe der Manet’schen Kunst, die sonst „nur in den Alten“ und „in der weltfernen Stille der Dome“ zu finden sei, nicht mehr. Ganz im Gegenteil konstatiert Meier-Graefe beim späten Manet die Symptome einer impressionistischen Rastlosigkeit: Manets Doktrin hatte ein einziges Wort: Geschwindigkeit. Den Eindruck so schnell wie irgend möglich auf die Leinwand bringen, gleichviel woher er kommt, gleichviel was daraus wird. Schießen ohne zu zielen. Gelingt’s, so ist es gut; gelingt es nicht, fängt man von neuem an. Sonst nichts. […] Zwischen Auge und Hand soll kein Hindernis stehen, nicht einmal das Bewußtsein.283

Das wohl bekannteste und einflussreichste kunstkritische ‚Manifest‘ des Expressionismus ist Wilhelm Worringers Dissertationsschrift Abstraktion und Einfühlung284. Obwohl sich Worringer eigentlich eher als Kunsthistoriker mit mittelalterlicher Kunst beschäftigt, wird seine Schrift – nicht zuletzt aufgrund der Rezeption durch die Künstlergruppe um Wassily Kandinsky und Franz Marc – als Programmschrift des aufkommenden Expressionismus verstanden. Und in der Tat bezieht sich die – auch von Picard aufgegriffene – Polarisierung von „Einfühlung“ und „Abstraktion“, in denen Worringer zwei grundlegende Prinzipien des Kunstschaffens sieht, unübersehbar nicht nur auf historische Stile, sondern auch auf den Gegensatz der zeitgenössischen Avantgarden: Die „Einfühlung“ gilt ihm als Kunstprinzip historischer Epochen, die ihrer Lebenswelt positiv gestimmt und vertrauensvoll gegenüberstehen. Ihre Kunst zielt auf Nachahmung und Verinnerlichung der vorge282

Meier-Graefe, Julius: Manet und sein Kreis, Berlin: Bard, Marquardt & Co., 19042 [1903], S 16f. Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. In drei Bänden. II. Band, München: Piper, 19152 [1904], S. 271. 284 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München: R. Piper & Co. 1908 [1907]. 283

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fundenen Naturgesetze; sie ist daher rational orientiert. Die künstlerische Tendenz zur „Einfühlung“ ist deutlich nicht nur auf die Antike und die Renaissance gemünzt, sondern auch auf den Impressionismus und die französische Kunst. Dagegen zielt das Ideal der „Abstraktion“ auf die sogenannte ‚primitive Kunst‘ sowie den Expressionismus, in denen Worringer Ausdrucksformen von Kulturen und Gesellschaften ausmacht, die von Unruhe und Furcht gegenüber ihrer Welt geprägt sind. Worringers Präferenz gilt der Abstraktion. In einem der wenigen Texte, in denen er sich zur Kunst seiner Zeit äußert, sieht Worringer – wie Picard285 – den Impressionismus nicht als Aufbruch in die Moderne, sondern als letztes Stadium einer über Jahrhunderte gepflegten akademischen Tradition, die den Idealen der klassischen (romanischen) Antike verpflichtet ist und gegen die eine ganz anders geartete Kunstauffassung sich in den neuesten Entwicklungen Bahn bricht: Das Wort von der Sackgasse des Impressionismus wurde geprägt, und im Bewusstsein, alle Möglichkeiten der Intensivität und Intimität der künstlerischen Wirkung ausgeschöpft zu haben, wurden Fragen laut nach einer neuen Extensivität und Monumentalität der künstlerischen Ausdruckssprache. Ein über die Bescheidenheit der Natur Hinausgehen, ein Übergreifen auf stärkere, vom Natürlichkeitsgefühl losgelöste, mehr abstrakt geartete Ausdrucksbereiche war die naheliegende Folge dieser Erstarkung der neuen Gesinnung. Ein neuer Spiritualismus der Kunst wurde in seinen ersten verworrenen Anfängen sichtbar. Es ist die Wandlung, die man mit krassen Schlagworten als den Umschlag des Impressionismus in den Expressionismus gekennzeichnet hat.286

Ein dritter wichtiger Kunstkritiker, der vor allem für die Durchsetzung des Kubismus und später des Surrealismus steht, ist Carl Einstein.287 Seine in Schreibstil und Inhalt äußerst progressiven Beiträge zur Kunstkritik und Kunstgeschichte werden in den zwanziger Jahren eine für die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst tonangebende Bedeutung erlangen, sie stehen damit im Feld der Kunstkritik für die aufstrebende Avantgarde. Einsteins Präferenz gilt, sowohl was die Künstler als auch was den Stil der eigenen Darstellung betrifft, dem Expressionismus und insbesondere dem Kubismus sowie (ab den zwanziger Jahren) dem Surrealismus. Für Einstein liegt die Aufgabe der Gegenwartskunst in der Konstruktion einer eigenen, autonomen Gesetzen folgenden Welt, die über das Kunstwerk hinausgreift und selbst zu einem neuen Weltbild, ja einer neuen, gesellschaftlich wirksamen Lebenswirklichkeit werden kann. Erst in diesem Sinne gewinnen für ihn ‚Welt‘ und ‚Gegenstand‘ Bedeutung, was er an dem Werk des von ihm äußerst geschätzten Paul Klee erläutert. [B]ei Klee handelt es sich nicht um gegenstandslose Malerei, sondern gerade um Umgekehrtes, nämlich um die Einführung neuer Gestalten und Gegenstände, und zwar nicht als Kombination, sondern auf Grund frei erfindender, seelischer Prozesse. […] Letzten Endes besteht der wichtige 285

Vgl. unten S. 254f. Worringer, Wilhelm: „Künstlerische Zukunftsfragen“, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe, XIV. Jg. (1916), Nr. 5, S. 259–26, hier: S. 260. 287 Vgl. zu Einstein Fleckner, Uwe: Carl Einstein und sein Jahrhundert. 286

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Teil des geschichtlichen Ablaufes nicht in Wiederholung, sondern Zerstörung des Gegebenen und Hervorbringung des Neuen, obwohl die konservierende Anstrengung bei weitem die Fähigkeit zu tatsächlicher Produktion übertrifft; eine Tatsache, die uns Kunst geradezu als reaktionär erscheinen läßt. Ich bin mir bewusst, mit dieser Einschätzung des imaginativen Efforts in Deutschland wie in Frankreich eine Perspektive der Nähe zu geben, denn später wird man verbindende Stufen und Übergänge hineinsehen; eine Folge der gegenseitigen Anpassung von Bild und Welt.288

Zwar vollziehe erst der Kubismus den entscheidenden Schritt hin zur Darstellung der künstlerischen Raum- und Bewegungserfahrung, mit dem die Kunst sich der traditionellen Unterwerfung unter die Gegenständlichkeit und idealistische Schönheitsideale entledigt. Doch im Unterschied zu Meier-Graefes zunehmender Abwertung des Impressionismus sieht er bereits in diesem den Aufbruch in die Moderne, weil hier der Bruch mit der akademischen Tradition vollzogen wird und die Loslösung einer autonomen Bildkomposition von ihren Inhalten einsetzt. Hatten die Impressionisten den Gegenstand als farbig sich bildende Einheit behandelt, so deuteten ihn die Kubisten als funktionale Vorstellungssumme, die konstruktiv frei behandelt wird, da man die Momente der Sichtenfolge wählte und wertet. Löste man früher das Motiv in ein Spiel von Farbflecken auf, so gibt man jetzt die konstruktive Synthese der Sichten, die ein Volumen integrieren. Schon die farbige Zerlegung der Impressionisten überschritt ein naiv summierendes Sehen, dies Ergebnis vielfältiger Anpassung. Hier wie dort ist die klassische Auffassung eines dauernden, fertigen Gegenstandes aufgegeben, das subjektiv Funktionale wird dargestellt. Vor dem impressionistischen Bild vollzieht der Betrachter die Synthese der Farbteile, im kubistischen wird ihm die Synthese der räumlichen Bewegungsvorstellung fertig geboten, die er dann vielleicht analytisch zergliedert, um die neue Konzeption zu begreifen.289

Kritisiert wird der Impressionismus von Einstein allerdings wegen der in ihm herrschenden allzu starken Konzentration auf die Farbgestaltung und der Vernachlässigung der Raumkonstruktion zugunsten einer zweidimensionalen Flächigkeit der Bildkomposition. Erst im Kubismus werde die Einheit zwischen Bild und konventioneller Wirklichkeit […] gesprengt. Die Bilder waren nicht mehr Metaphern einer diktierenden Wirklichkeit und somit keine Fiktion mehr, sondern selber Zeichen unmittelbarer menschlicher Wirklichkeit. Die psychische Leistung war gesteigert dank der bewußten Einbeziehung der Bewegungserinnerungen und gleichzeitig dank dem Betonen der halluzinativen Erfindung.290

Dieser Überblick über das Feld der Kunstkritik ermöglicht die nun folgende Darstellung und Kontextualisierung der Picard’schen Kunstkritik, die alles andere als systematisch verfährt: Er erweist sich darin – wie andere Kunstkritiker auch – als ein Vertreter der nicht-akademischen, eher literarisch-essayistisch verfahrenden ‚Kunstschriftstellerei‘. 288

Einstein, Carl: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Fannei & Walz, 19963 [1926], S. 243. Auch Einstein unterwirft sein Werk für die dritte Auflage von 1931 einer deutlichen Revision. 289 Ebenda, S. 109. 290 Ebenda.

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Picard als ‚Kunstschriftsteller‘ Picards Interesse an der Kunst gilt vor allem deren Entwicklung und dem Verhältnis der verschiedenen aktuellen Avantgarden und Stile, weniger einzelnen Künstlern und noch seltener einzelnen Kunstwerken. Seine Schriften behandeln zugleich aber auch Themen, die über die Bildende Kunst hinaus in Literatur, Philosophie oder Psychologie Gegenstand der zeitgenössischen Diskussion sind. Eines dieser Themen zieht sich wie ein roter Faden durch Picards Arbeiten zur Kunst: die Auseinandersetzung mit der Einheit. Und immer spielt dabei die Diagnose verlorener Einheit(en), oft auch die Beschwörung wiederzugewinnender Einheit(en) eine wichtige Rolle. Insofern die Frage nach der Einheit – oder anders ausgedrückt: nach der Spannung zwischen Einheit und Fragmentierung, Einfachheit und Mannigfaltigkeit oder Komplexität – sowohl ein in der Bildkunst, deren Theorie und Kritik vielfach verhandeltes Thema ist als auch ein allgemeiner Topos der expressionistischen Bewegung, lassen sich anhand dieser Frage zum einen die disparaten und unzusammenhängenden kunsttheoretischen Schriften Picards verfolgen und in einen Zusammenhang bringen. Zum anderen erlaubt sie, Verbindungen zum übrigen Picard’schen Werk sowie zu den Kontexten des kunsttheoretischen Feldes, aber auch des literarischen, philosophischen oder psychologischen Diskurses herauszustellen. Letztere erweisen sich für Picards Kunstschriftstellerei ebenso wie für zahlreiche Kunstkritiker seiner Zeit als wichtige Bezugsquellen. Bevor ich auf verschiedene Aspekte aus Picards kunstkritischen Schriften näher eingehe und die Verbindungen zu den Kontexten der Kunstkritik, Philosophie und Psychologie aufzeige, möchte ich kurz einen Überblick über die zentralen Punkte der Picard’schen Kunstschriftstellerei geben. Wie bereits angedeutet, finden sich darin zwei Auseinandersetzungen: zum einen die mit den kunstkritischen Kontexten im engeren Sinne, zum anderen die mit philosophischen und psychologischen Wahrnehmungstheorien. Die erstere erfolgt bei Picard vor allem anhand einer Gegenüberstellung der feldbeherrschenden Avantgarden des Impressionismus und Expressionismus. Zwar gibt er dem Expressionismus eindeutig den Vorrang gegenüber dem Impressionismus, den er einer z. T. ‚vernichtenden‘ Kritik unterwirft, ohne seine Verdienste zu unterschlagen. Er bleibt jedoch auch gegenüber dem Expressionismus in kritischer Distanz und entwickelt daraus einen Ansatz der ‚bewegten Anschauung‘, der – auch in kunsttheoretischer Hinsicht – durchaus innovatives Potential besaß. Die im engeren Sinne kunstkritischen Beobachtungen sind dabei eingebettet in die breiter gefasste Beschäftigung mit wahrnehmungsästhetischen und -theoretischen Problemen, die auf philosophische und psychologische Theorien wie die Phänomenologie Husserls und die Freud’sche Psychoanalyse zurückgreift. Und erst vor diesem Hintergrund lässt sich Picards Kunstkritik verstehen. Weil sie zudem oft assoziativ und wenig systematisch angelegt ist, bietet es sich an, die Darstellung anhand des Spannungsver-

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hältnisses zwischen dem Topos der ‚Einheit‘ und dem, was Picard als „Mannigfaltigkeit“291 bezeichnet, vorzunehmen. Dieses Spannungsverhältnis zieht sich wie ein Leitmotiv durch die verschiedenen Arbeiten zur Kunst. Immer wieder laufen die kunstkritischen, ästhetischen und wahrnehmungspsychologischen Auseinandersetzungen auf den Gegensatz zweier Pole zu, die mit Schlagworten wie ‚Einheit‘, ‚Wesenhaftigkeit‘ oder ‚Einfachheit‘ vs. Komplexität, ‚Chaos‘, Orientierungslosigkeit oder Fragmentierung beschrieben werden. Picard greift damit eines der zentralen Probleme des Expressionismus und seiner Erkenntniskritik auf. Das innovative Potential des bildkünstlerischen Expressionismus speist sich, wie das des literarischen Expressionismus auch, zu einem nicht unerheblichen Teil aus seinem gespaltenen Verhältnis zur zivilisatorischen Moderne: Einerseits fasziniert von den Erscheinungen der Zeit, wendet er sich ihnen beobachtend und ihrem Rhythmus, ihren Formen nachspürend zu; andererseits deutet er die Erfahrungen zumeist jedoch – und zwar nicht erst nach dem Weltkrieg – als Krisen-, Untergangs- oder Zerfallserscheinungen. Diese gespaltene Position geht u. a. zurück auf eine Erkenntniskritik, die als literarisches oder bildkünstlerisches Pendant der philosophischen Vernunftkritik gelten kann, wie sie sich in nihilistischer, vitalistischer oder phänomenologischer Ausrichtung in den Jahrzehnten um 1900 formiert. Dass diese erkenntniskritische Leistung in der Expressionismus-Rezeption langezeit verdeckt wurde von dem pathetischen Expressionismus, der oft als Reaktionsbildung auf sie folgt, haben Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper292 schon in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich gemacht. Die in diesem Zusammenhang immer wieder konstatierte Erfahrung eines Verlustes von überkommenen Einheiten und Bindungen, der in unterschiedlichen Formen – als metaphysische, erkenntnis- und wahrnehmungstheoretische, semiotische oder soziale Krise – zutage tritt, bündelt Franz Werfel 1914 in der Aktion zu einer Zeitdiagnose, in die sich bereits Klagetöne mischen: Schriftsteller und Philosophen haben in all diesen Jahren behauptet, daß die unwiederholbare Gestalt dessen, was wir unsere Zeit nennen, gerade in ihrer scheinbaren Gestaltlosigkeit, in ihrer Vielfalt, Verwirrung, Unauflöslichkeit, in ihrem tödlichen Neben- und Gegeneinander enthalten sei. Das war ein Notschluß, die Selbstberuhigung eines Kranken, der seinen Zustand, weil er eben knapp noch am Leben ist, gelten läßt. [...] Wer von uns allen um die Wende der Zeit Geborenen hat sich nicht ein wenig als Gespenst gefühlt!? Wir sind alle hineingestellt in eine fürchterliche Unübersehbarkeit, der Reichtum der Einsichten und Organismen trug Verzweiflung und Wahnsinn in uns hinein, wir stehen machtlos der Einzelheit gegenüber, die keine Ordnung zur Einheit macht, es scheint, das ‚Und‘ zwischen den Dingen ist rebellisch geworden, alles liegt unverbindbar auf dem Haufen, und eine neue entsetzliche Einsamkeit macht das Leben stumm.293 291

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 9. Vgl. Vietta und Kemper: Expressionismus. 293 Werfel, Franz: „Aphorismus zu diesem Jahr“, in: Die Akion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 4. Jg. (1914), Nr. 48/49. Sp. 902f. 292

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Ähnliche Klagen finden sich bei vielen expressionistischen Autoren, doch gehen die daraus gezogenen Konsequenzen und Lösungsansätze in zwei unterschiedliche Richtungen. Ein Großteil der expressionistischen Bewegung bleibt nicht bei der Diagnose von „Unüberschaubarkeit“ und „entsetzliche[r] Einsamkeit“ stehen. Über die Beschreibung der Orientierungslosigkeit angesichts der komplexen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungswelten hinausgehend entwerfen sie neue ganzheitliche Ontologien und ‚Weltbilder‘. In den Gesichten ihrer physiognomischen „Weltanschauungsessayistik“294 kommen die mit einer kontingenten und komplexen Wirklichkeit einhergehenden Sehnsüchte nach komplexitätsreduzierenden ‚Einheiten‘, nach ‚Wesenhaftem‘, zum Ausdruck. Ausgang aus oder zumindest Orientierung in dem ‚Chaos‘ der Moderne verspricht dabei die Berufung auf eine aktive und höchst subjektive Sinn-Schöpfung, die ihre Einheitsutopien im Medium einer emotionalen, zuweilen pathetischen Wahrnehmung stiftet. Der Expressionismus glaubt an das Allmögliche. Er ist die Weltanschauung der Utopie. Er setzt den Menschen wieder in die Mitte der Schöpfung, damit er nach seinem Wunsch und Willen die Leere mit Linie, Farbe, Geräusch, mit Pflanze, Tier, Gott, mit dem Raume, mit der Zeit und mit dem eigenen Ich bevölkere.295

Huebners vom Menschen ausgehende Sinn-Schöpfung setzt der Komplexität und Mannigfaltigkeit moderner Lebenswelten klare und einfache Ordnungen – „Linie, Farbe, Geräusch, [...] Pflanze, Tier, Gott“, „Raum[.]“, „Zeit“ und „Ich“ – entgegen. Und sein Zitat macht deutlich, dass diese Reaktionsbildung auf die fragmentierte Wirklichkeitswahrnehmung der zivilisatorischen Moderne und ihrer künstlerischen, philosophischen oder gesellschaftlichen Protagonisten oft Transzendenz und Immanenz gleichermaßen beschwört – der „Expressionismus glaubt an“ und setzt „den Menschen wieder in die Mitte der Schöpfung“. Auch utopistische und archaisierende Geschichtsentwürfe können eklektizistisch miteinander verbunden werden – der Expressionismus ist „Weltanschauung der Utopie“ und setzt den Menschen „wieder in die Mitte der Schöpfung“. Auch Max Picards kunstkritische Schriften stellen einen Versuch dar, aus der „fürchterliche[n] Unübersehbarkeit“ herauszutreten und nachzuweisen, dass die Zeit „in ihrer Vielfalt, Verwirrung, Unauflöslichkeit, in ihrem tödlichen Neben- und Gegeneinander“296 eben nur scheinbar gestaltlos sei. Die Kunst ist ihm dabei ein Weg, nicht mehr 294

Als solche bezeichnet Peter Sloterdijk „eine Haupttendenz der Weimarer Versuche, die ‚eigene‘ Zeit physiognomisch-geschichtsphilosophisch zu deuten, [...] die Neigung, Gegenwart im Sinne eines totalen Historismus als phänomenologisch einheitlichen Block aufzufassen, bei dessen Betrachtung durch die Polymorphie der Phänomene hindurch die Einheit des Stils mehr erzwungen als erkannt werden soll; so will sich eine schöngeistige Auffassung von Geschichte als purer ‚Kultur‘Geschichte selbst bestätigen. Auf diese Weise vollzieht ein semi-konservatives Bildungsbürgertum seine scheinbare Anpassung an ein meist selbstherrlich vereinseitigtes und in der Regel politik- und soziologieblindes ‚Bild‘ der Moderne“ (Sloterdijk: „Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik“, S. 318f.). 295 Huebner, Friedrich Markus: „Der Expressionismus in Deutschland“, 1920, zit. n. Anz, Literatur des Expressionismus, S. 8. 296 Werfel: „Aphorismus zu diesem Jahr“, Sp. 902f.

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„machtlos der Einzelheit gegenüber“297 zu stehen. Erst später, in dem 1921 erschienenen Der letzte Mensch lässt Picard die Diagnose eines Orientierungsverlustes nicht mehr umschlagen in Forderungen nach Einheit, Sinn und Wesenhaftigkeit, sondern steigert die Komplexität – bei aller Klage – zum grotesken, am Ende gar absurden Weltuntergang. Dennoch sind Picards frühe Versuche, die Brüche der Moderne nicht nur zu konstatieren, sondern auch zu überwinden, keineswegs uninteressant. Insbesondere in Das Ende des Impressionismus (1916) und im „Expressionismus“-Aufsatz (1919) entwirft er nämlich ein durchaus differenziertes Bild sowohl des ‚überwundenen‘ Impressionismus’ als auch des daraus hervorgegangenen Expressionismus. Picards Position als expressionistisch zu bezeichnen, wäre verkürzt. Denn einerseits gesteht er das Bemühen um eine Versöhnung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit in Ansätzen bereits dem Impressionismus zu, sieht den Expressionismus aber einen Schritt weiter. Andererseits verortet er beide Strömungen in einem grundlegenden Dilemma, das er als Charakteristikum moderner Wahrnehmungsprozesse versteht. Dieses Argumentationsmuster entwickelt er anhand zweier Gegenstände: Zum einen sucht er in seiner Auseinandersetzung mit den ‚naiven‘ oder ‚primitiven‘ Kunstformen der Expressionistischen Bauernmalerei sowie der Mittelalterlichen Holzfiguren nach einer von der modernen Wahrnehmung radikal verschiedenen, ganz anderen Form des Weltbezugs, die sich durch eine ursprüngliche, nicht erst sekundäre oder konstruierte Form der Einheit auszeichnet. Zum anderen unternimmt er eine kritische Analyse des impressionistischen sowie des expressionistischen Umgangs mit den Mechanismen der psychischen, sinnlichen und affektiven Wahrnehmung: Die nervöse ‚Reizsamkeit‘, das Modell der Synästhesie sowie die Rolle des Pathos’ bilden die drei wichtigsten Punkte dieser Auseinandersetzung, aus der Picard eine durch Husserl und die Phänomenologie inspirierte Theorie der bewegten (inter-)subjektiven Wahrnehmung entwickelt. Sie birgt auch in kunstkritischer Hinsicht innovatives Potential, wird in Picards späteren Werken (insbesondere in Das Menschengesicht) in literarischer Form weiterentwickelt und rückt zunehmend ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie des Gesichts. „Man kann gar nicht sagen, was eines ist“. Das Ende des Impressionismus und der „Expressionismus“-Aufsatz Die vier Kunstschriften Picards lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: Während Das Ende des Impressionismus und der „Expressionismus“-Aufsatz sich mit den zeitgenössischen künstlerischen Avantgarden auseinandersetzen – und zwar ausschließlich in Textform –, präsentieren die ‚primitivistischen‘ Modelle der Expressionistischen Bauernmalerei und der Mittelalterlichen Holzfiguren zwei Gegenmodelle zu den aktuellen Entwicklungen der Kunst, die jeweils vor allem in ausführlichen Bildteilen und Tafeln zum Ausdruck kommen. 297

Ebenda.

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In den beiden erstgenannten Werken attestiert Picard sowohl dem Impressionismus als auch dem Expressionismus ein Schwanken zwischen der Darstellung und der Reduktion von Komplexität, zwischen Fragmentierung und Einheit, zwischen Orientierungsverlust und subjektiver Wirklichkeitskonstruktion. Für ihn stellen beide künstlerischen Strömungen den Versuch dar, jene allgegenwärtige „Mannigfaltigkeit“298 zu bearbeiten, die sich in der Wahrnehmung materieller wie sozialer Lebenswelten manifestiert. „Chaos“299 und „Mannigfaltigkeit“ der Dingwelt resultieren dabei – so seine Diagnose – nicht aus einem Mangel an Beziehungen, sondern aus deren Allgegenwart und Beliebigkeit, „jedes Ding soll rasch aus irgend einer Beziehung herauswachsen und ebenso rasch wieder in irgend eine andere Beziehung verschwinden.“300 Picard schildert den Impressionismus als Symptom einer rastlosen Gegenwart; der impressionistische Künstler sei nicht in der Lage, sich der allgegenwärtigen Geschwindigkeit und Beliebigkeit zu entziehen – eine Diagnose, wie sie ähnlich auch Meier-Graefe gestellt hatte: Ich glaube, es war Liebermann, der dem Impressionismus den Titel einer Weltanschauung zuerkannte. In Wirklichkeit ist er ein Verfahren. Die moderne Weltanschauung bediente sich seiner, weil es rationell und billig ist. […] Schnell sehen und das Gesehene schnell notieren, wurde die Regel. Sehen, nichts weniger als betrachten; sehen mit einem möglichst empfindlichen Auge.301

Die Geschwindigkeit dient dem Impressionismus, um – so Picard – das ständige Entstehen und Verschwinden der unzähligen Relationen nachzuahmen, die sowohl die Dingwelt als auch die Welt der Psyche und des Sozialen bestimmen. Der positivistisch orientierten Wissenschaft und ihren Techniken des statistischen Vergleichs kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Eine physiognomische Bemerkung: Die Fähigkeit, auf ein Ding mit der Beziehung zu einem anderen zu antworten, diese Reaktion geht am raschesten vor sich, wenn sie nicht für ein spezielles Ding, sondern für den Durchschnitt einer Gesamtheit von Dingen bereit ist. Dieser Durchschnitt ist eine Mittellage, ein Optimum, von dem es sich am raschesten zu jedem speziellen Ding gelangen läßt. Die Psyche ist also dauernd in einer mittleren Spannung, und diese Haltung der Psyche Aller immer in einer mittleren Spannung zu allem hin bewirkt die Gleichheit des Gesichtsausdrucks bei allen. Alle tendieren zu allem, und darum sieht auch einer aus wie alle. Ein Gelehrter sieht heute aus wie ein Bankdirektor und ein Bankdirektor wie ein Dichter heute und ein Dichter wie ein Stratege. [...] Alle lassen sich miteinander vertauschen.302

Die Austauschbarkeit und das (Ver-)Gleichen „Aller“ artikulieren sich soziologisch als Phänomen der Masse, in der die Einheiten nur noch numerisch, nicht mehr ontologisch definiert sind: „Man spürt die Sinnlosigkeit der vielen Einzelnen und konstatiert sie darum zum ersten Male als Masse.“303 298

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 9. Picard: „Expressionismus“, S. 332. 300 Ebenda, S. 331. 301 Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. II. Band, S. 398f. 302 Picard: „Expressionismus“, S. 330. 303 Ebenda. 299

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Der Impressionismus begegnet nun dieser Wirklichkeit, indem er sich an der optischen Erfassung der ineinandergleitenden, ebenso mannigfaltigen wie beliebigen Beziehungen abarbeitet, das Entstehen und Auflösen ihrer Verbindungen verfolgt, um so die zahllos gewordenen und darum unkontrollierbaren Objekte der Außenwelt wenigstens mit einem Blicke, oberflächlich, zu übersehen304,

wie es 1916 in Das Ende des Impressionismus heißt. Dabei blendet der Impressionismus jedoch den Prozess der Übertragung der wahrgenommenen Wirklichkeit in die „Gesinnung“ aus, so dass das künstlerische Programm nicht als produktive Ausdrucks-, sondern als reine Registrierungsleistung des Sinnenapparates erscheint: Der Impressionismus gebärdete sich so, als ob er nichts anderes als die bloße Erscheinung auszudrücken hätte, damit die Gesinnung nicht gestellt werden konnte, um derentwillen man an der Oberfläche blieb. Der Impressionismus mußte sich so gebärden, als ob er gar keine Gesinnung hätte. Die Gesinnung sollte hinter der Sinnenfälligkeit versteckt sein.305

Für Picard ist der Begriff der impressionistischen „Gesinnung“ insofern zentral, als er mit ihm die Ambivalenz der impressionistischen Versuche markiert, ‚Einheit‘ wiederzugewinnen. Hinter diesem schillernden Begriff steckt Alois Riegls Begriff des ‚Kunstwollens‘: Gegen ein idealistisches und ahistorisches, alle Zeiten überdauerndes Verständnis des Kunstschaffens – wie es insbesondere die akademische Kunsttheorie weiter pflegte – betonte Riegl, dass Kunst immer aus ihren historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen heraus geschaffen werde und daher nur in Verbindung mit diesen zu verstehen sei. Dieser Ansatz übte im frühen 20. Jahrhundert einen maßgeblichen Einfluss auf fast alle Vertreter einer nicht-akademischen Kunstkritik aus – Worringer etwa wendet ihn auf die expressionistische Aufbruchsbewegung an, die er ebenfalls als ‚Gesinnung‘ bezeichnet.306 Picard wirft dem Impressionismus vor, seine historische Wirklichkeit unreflektiert in seine „Gesinnung“ zu übernehmen. Einerseits gelinge es ihm zwar, die ungeheure Mannigfaltigkeit und Fragmentierung der Zeit zumindest phänomenal abzubilden und einzufangen. Andererseits geschehe dies jedoch um den Preis einer vollständigen Unterwerfung unter die Wahrnehmungsmechanismen und Erkenntnismethoden der Umwelt: Der Impressionismus erfasse die Phänomene nicht gemäß ihrem ‚Wesen‘ (das für Picard metaphysisch begründet ist), sondern nur als Netz von Beziehungen. Eine Zeit, die nicht glaubt, traut auch der Erscheinung nicht. Die Erscheinung noch soll Beziehungen haben. Die Erscheinung selber hält man nicht wert, sondern nur das an ihr, was sich auf andere Erscheinungen bezieht: Nur dieses Motorische benützt man von der Erscheinung: Die Erscheinung dient dazu, um an ihr die anderen Erscheinungen aufzurollen.307

304

Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 11. Ebenda, S. 15. Hervorhebungen im Original. 306 Vgl. oben S. 246. 307 Ebenda, S. 14. Hervorhebung im Original gesperrt. 305

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Picards Impressionismus-Kritik entfaltet den Begriff der (impressionistischen) „Gesinnung“ nun in einer Weise, die das impressionistische Verfahren als ambivalente Leistung darstellt. Diese gründet zwar auf einer Selbsttäuschung, stellt aber zumindest insofern ein Verdienst dar, als die impressionistische Darstellungsweise das zu ihrer eigenen Überwindung notwendige Material bereitstellt. Picard bescheinigt dem Impressionismus eine zumindest in Ansätzen aktive und subjektive, wenngleich sich selbst nicht zugängliche Konstruktion der Wirklichkeit: Die verwirrende „Mannigfaltigkeit“, die sowohl die Dingwelt als auch deren Wahrnehmung kennzeichnet, führt er auf eine aktive Tat des Impressionisten zurück; denn um impressionistisch zu bleiben, mußte man die Objekte der Außenwelt zahllos werden lassen, damit es schien, als ob man nur gerade Zeit für die Oberfläche hätte.308

Damit macht Picard den Impressionismus einerseits für die Vervielfachung der Beziehungen selbst verantwortlich; dabei bescheinigt er ihm andererseits aber auch, dass er nicht nur die Vielheit der Sinneseindrücke registriert und als „Reizsamkeit“309 auf den Begriff gebracht, sondern auch nach Wegen zur Einheit gesucht habe. Eine Wendung gegen das allzu Mannigfaltige ist also im Impressionismus bereits angelegt – und zwar im Versuch, die Impression zur Einheit des Systems zusammenzufassen: „Der Impressionist synthetisiert wohl eine Anzahl von Erscheinungen in ein System.“310 Nur erweist sich die impressionistische Synthese nicht als wahre Einheit; ihr fehlt das Zwingende, die Kraft, um eine „neue Gefühlsart“311 zu konstruieren, deren Fehlen Hiller als Manko des Impressionismus ausmacht, wenn er 1913 dem Expressionismus die „konzentrierte[.] Hervortreibung des voluntarisch Wesentlichen“312 aufs Pannier schreibt. Bei Picard heißt es: Die Systemform im Impressionismus wirkt nicht mehr weiter bestimmend, regulierend für die Art der neuen Erfahrung. Das ist charakteristisch für den Impressionismus: Nicht daß er im allgemeinen dem Systematischen widerstrebt, sondern wie er es benützt. Er erlebt in ihm nicht den Zwang zur Einheit einer Anschauung gegenüber der Mannigfaltigkeit. Es dient ihm bloß zur Vereinfachung, um viele Dinge in Beziehung zu vereinen.313

Das Scheitern der impressionistischen „Gesinnung“ resultiert daraus, dass er sich seines eigenen Verfahrens nicht bewusst wird – das stellt ihn als eine bloß sinnliche und rein reaktive Bewegung bloß. Picard greift damit ein verbreitetes kunstkritisches Argumen308

Ebenda, S. 13. „Lamprechts ‚Reizsamkeit‘ ist nur ein Steckbrief, mit der Kennzeichnung des augenscheinlichen Hauptmerkmals, mit der leisen Verdächtigung, – zu der es der Impressionismus gerade noch bringt – die in dem Wort Reizsamkeit liegt.“ (ebenda, S. 10, Hervorhebung im Original gesperrt) Vgl. zu Karl Lamprecht und seinem Begriff der ‚Reizsamkeit‘ ausführlich unten Kap. 6.1, S. 314ff. 310 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 57. 311 Hiller: Die Weisheit der Langenweile, zit. n. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 155. 312 Ebenda. 313 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 57. 309

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tationsmuster auf: So sah auch Meier-Graefe in der „Hingabe des schöpferischen Organs an die Physiologie“314 und „in der willkürlichen Beschreibungsmethode des Impressionismus, in dem passiven Hinhalten des Auges“315 nicht nur eine „Gefährdung des Gemeinwesens“316, sondern auch den Grund für das Scheitern des Impressionismus als Kunst. Dieses Scheitern offenbart sich für Picard in dem Moment, in dem die „Gesinnung“ des Impressionismus aufgedeckt wird – eine Tat, die allein seinem Überwinder möglich ist, der ‚Sinn‘, ‚Gesinnung‘ und ‚Wesen‘ als Einheit zu begreifen in der Lage ist. Der Impressionismus falle dadurch in sich zusammen, weil nun deutlich werde, dass ihm durchaus ein ‚Wesen‘ zukommt: Er verbirgt das Prinzip hinter der Erscheinung, die „Gesinnung [...] hinter der Sinnenfälligkeit“: Der Impressionismus hört nicht auf, solange die Gesinnung nicht aufhört, aus der er hervorgeht. Es liegt im Wesen des Impressionismus, die Gesinnung zu verdecken. In diesem Buche ist die Erscheinung vom Impressionismus abgedeckt worden. Seine Gesinnung ist aufgezeigt worden. Man vertreibe jetzt diese Gesinnung. Oder man habe den Mut, zu ihr zu stehen. In beiden Fällen sind wir am Ende des Impressionismus.317

Picards Analyse des Impressionismus schwankt zwischen einer Verurteilung als rein reaktive Kunst und einer Würdigung als aktive, wenngleich ‚oberflächliche‘ Sinnsuche (die allerdings zugleich kritisiert wird, weil sie ihre Prinzipien, die „Gesinnung“, verbirgt). Dabei lässt Picard – anders als Simmel und der von ihm beeinflusste Diskurs vom überreizten modernen Geistesleben – die Nervosität von den Menschen selber ausgehen: Diese Zeit war nervös hastend aber nicht infolge der allzuvielen Erlebnisse. Sondern mit Hilfe dieser Hast wollte man sich eine Vielheit von Erlebnissen schaffen. Diese Zeit wollte nervös reizbar sein: Sie variierte ein Erlebnis in allen Abstufungen der Affekte damit aus einem Erlebnis eine Vielheit von Erlebnissen entstünde.318

Dass Picard hier die impressionistische Nervosität und „Reizsamkeit“ als eine aktive und schöpferische, wenn auch ihrer selbst nicht einsichtige Praxis deutet, zeigt sich besonders deutlich, wenn er ihr die Wahl einer sehr simplen Alternative entgegensetzt: Die Ausdehnung der Objektwelt hing doch nur vom Menschen ab. Man hätte sie einfach beschränken können, dann wäre man nicht auf den Impressionismus angewiesen gewesen.319

314

Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. III. Band, München: Piper, 1915, S. 469. 315 Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. II. Band, S. 423. 316 Ebenda. 317 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 76. 318 Ebenda, S. 43. Hervorhebungen K. L. 319 Ebenda, S. 11.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Einfache Beschränkungen. Mittelalterliche Holzfiguren und Expressionistische Bauernmalerei Überträgt man die vermeintliche Naivität dieser Alternative in eine kunsttheoretische Perspektive, so findet sie ihr durchaus ernstzunehmendes und bedeutsames Pendant in der expressionistischen Faszination für Formen der Naiven Kunst bzw. im Primitivismus. Picards Beitrag zu dieser kunstgeschichtlich wichtigen Strömung besteht aus zwei Publikationen, in denen er historische Modelle als Vorbilder für die zeitgenössischen Expressionisten präsentiert: die Mittelalterlichen Holzfiguren320 und die Expressionistische Bauernmalerei321. Picard setzt sich in diesen beiden Werken mit künstlerischen Wahrnehmungsformen und Weltbildern auseinander, wie sie in den vormodernen Holzskulpturen und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe ausgestorbenen volkstümlichen Hinterglasmalerei322 zum Ausdruck kommen. Weil die Mittelalterlichen Holzfiguren ohne Textteil auskommen, bezieht sich meine Darstellung im Folgenden auf das zweite der beiden Bücher. Die einfach anmutenden, oft religiöse Inhalte darstellenden Bilder der Hinterglasmalerei (vgl. Abb. 3 und 4) – die Picard als Expressionistische Bauernmalerei bezeichnet – stammen aus einer Tradition, die im 16. Jahrhundert einsetzt und ihren Höhepunkt im 18. und 19. Jahrhundert erlebt. Picards ‚expressionistisches‘ Interesse an der Hinterglasmalerei erfreut sich der Gesellschaft zeitgenössischer Avantgarden: Ein auf diese Tradition zurückgehendes Bild ziert das Frontispiz eines der wichtigsten Beiträge zum aufkommenden Expressionismus, des Almanachs Der Blaue Reiter.323 Es handelt sich um eine im Original verschollene, vermutlich von Gabriele Münter handkolorierte Umzeichnung eines Spiegelbildes, die den Heiligen Martin und den Bettler darstellt (vgl. Abb. 5); die Motivik und der Stil dieses Werkes stimmen mit denen der Hinterglasmalereien aus Picards Expressionistische Bauernmalerei überein (vgl. Abb. 3, 4 und 5). Der Blaue Reiter und der darin propagierte spirituell-geistige Expressionismus stellen sowohl für die künstlerische Produktion als auch für Kunstkritik und -theorie eine äußerst einflussreiche Inspirationsquelle dar. Verschiedene Umschlagsentwürfe324 für dieses Sammelwerk zeigen deutlich, dass sie von dem vermeintlich volkstümlichen Vorbild der Hinterglasmalerei 320

Picard, Max: Mittelalterliche Holzfiguren, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag, 1920. Picard: Expressionistische Bauernmalerei. 322 Vgl. hierzu Brückner, Wolfgang: Hinterglasmalerei, München, Würzburg: Bayer. Blätter für Volkskunde, 1976: „Das Bemalen von Glas […] durch kalten Farbauftrag auf Flachglas, den der Bildträger Glas zugleich schützen und darum abdecken muß, die Malerei also nur von hinten bewahren und wirken lassen kann, […] nennen wir Hinterglasmalerei.“ (ebenda, S. 69) 323 Kandinsky, Wassily und Franz Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter, München: Piper, 1912. 324 Vgl. Lankheit, Klaus (Hrsg.): Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe, München: Piper, 1965, S. 317ff. Insbesondere das auffallende Motiv des mantelartigen Umhangs taucht bei Kandinsky wiederholt auf. 321

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Abbildung 3: Die Flucht nach Ägypten, Hinterglasmalerei eines unbekannten Künstlers, aus: Max Picard: Expressionistische Bauernmalerei, München: Delphin Verlag, 1918, Titelseite.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Abbildung 4: Der heilige Martin und der Bettler, Hinterglasmalerei eines unbekannten Künstlers, aus: Max Picard: Expressionistische Bauernmalerei, München: Delphin Verlag, 1918, o.S. (S. 39). inspiriert sind. Gleiches gilt möglicherweise auch für Wassily Kandinskys Gemälde Der Blaue Reiter von 1903, welches den Sammelausstellungen sowie dem Almanach seinen Namen gab und – wenngleich gegen den Willen der beteiligten Künstler – im Nachhinein zur Bezeichnung für die Münchner Künstlergruppe um Kandinsky, Münter und Marc wurde. Neben Münter und Kandinsky praktizierten auch das Ehepaar Marc, August Macke und Heinrich Campendonck zeitweise mit großer Begeisterung die Hin-

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Abbildung 5: Der heilige Martin und der Bettler, kolorierte Strichätzung nach einer Hinterglasmalerei, vermutlich von Gabriele Münter, aus: Wassily Kandinsky, Franz Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter, München: Piper, 1912, Frontispiz.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

terglasmalerei.325 Im Blauen Reiter sind zahlreiche weitere volkstümliche Hinterglasmalereien abgebildet.326 Von dieser ‚naiven‘ und anderen ‚vergessenen‘ oder ‚primitiven‘ Kunstrichtungen wie der vormodernen und außereuropäischen Kunst versprachen sich moderne Kunsttheoretiker und Künstler Fortschritt und Befreiung von den zivilisatorischen Beengungen der Moderne. Und auch der Expressionismus hat solche Kulturformen ausgiebig studiert und für die eigene Produktion fruchtbar gemacht. Auf der Suche nach dem ‚Anderen‘ der Zivilisation versprach man sich dabei von der historischen Alterität präzivilisatorischer Zeiten, von der geographischen Alterität des Fremden oder der ontogenetischen und generationellen Alterität des Kindes Anregungen und Aufschlüsse für eine Erlösung von der modernen Mannigfaltigkeit und Selbstentfremdung: An die Stelle der ‚Wilden‘ konnten im Diskurs des Primitivismus im nächsten Augenblick der Heidebauer oder der Fabrikarbeiter, der Zigeuner oder der Geisteskranke, das Kind oder der Ostjude treten. Das Modell, in dem Alterität formuliert wurde, blieb gleich. [...] Dieses Modell erlaubt es [...], unter der Maskerade der modernen Massen der westeuropäischen Großstädte den elementaren Bestand der ‚Urhorde‘ zu entdecken.327

Zwar irrten Kandinsky und seine Mitstreiter ebenso wie Picard, wenn sie die Hinterglasbilder zu direkt dem Bauerntum entstammenden Zeugnissen ‚einfacher Kunst‘ erklären: Die zumeist anonymen Künstler, die diese Bilder schufen, entstammten vielmehr bürgerlichen Schichten und waren professionelle (z. T. noch in Zünften organisierte) Kunsthandwerker, die eine berufliche Ausbildung im Bereich der Glasverarbeitung und -veredelung erfahren hatten. Stilistisch stand die Hinterglasmalerei unter dem Einfluss der höfischen und sakralen Kunst.328 Als sie im 19. Jahrhundert zu einer wirtschaftlich recht erfolgreichen Mode wurde, zog dies eine zum Teil fast industrielle Fertigung nach sich.329 Keineswegs handelte es sich um ‚naive‘ Kunst, wie Picard annimmt: Bauern, die im Sommer Zäune und Häuser anstrichen, haben im Winter diese Bilder gemalt. […] Die Hinterglasbilder sind das Volkslied in der Geschichte der Malerei.330

Dass diese Einschätzung wie der gesamte Primitivismus-Diskurs vorwiegend auf Projektionen beruhte, die historischen Irrtümern aufsaßen, ändert allerdings nichts daran, dass diese Projektionen kunsthistorisch große Bedeutung erlangten. 325

Vgl. hierzu Salmen, Brigitte: Der Almanach ‚Der Blaue Reiter‘. Bilder und Bildwerke in Originalen, Murnau: Schloßmuseum Murnau, 1998, S. 87ff. 326 Vgl. Kandinsky und Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter, S. 4, 11, 12, 30, 32, 78f., 101, 111, 113, 125. 327 Lethen, Helmut: „Masken der Authentizität. Der Diskurs des ‚Primitivismus‘ in Manifesten der Avantgarde“, in: Hubert van den Berg und Ralf Grüttemeier (Hrsg.): Manifeste. Intentionalität, Amsterdem: Atlanta, 1998, S. 248. 328 Vgl. Brückner: Hinterglasmalerei, S. 69f. 329 „[W]ir [haben] es in der Mehrzahl nicht mit Werken einzelner bekannter Künstler zu tun […], sondern hauptsächlich mit Produkten größerer Werkstätten, ja – nach dem Ausstoß an Stückzahlen gemessen – zum Teil mit ausgesprochenen Bilderfabriken.“ (ebenda, S. 70) 330 Picard: Expressionistische Bauernmalerei, S. 77.

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Die Figur des Bauern, auf die Picard in Expressionistische Bauernmalerei ‚zurückgreift‘, vereint in sich den ‚sozialen Anderen‘ des Bürgers, das ‚historisch Andere‘ der Moderne (als eine Kultur, die noch den Gesetzen vormoderner Produktions- und Gemeinschaftsformen folgt) und das ‚topographisch Andere‘ der Stadt. Die expressionistischen Bauernmaler stehen für Picards Vorstellung von einer einfachen Beschränkung331, die er dem impressionistischen Willen zur Mannigfaltigkeit entgegensetzt. Die auf die bäuerliche Alltagskultur projizierten Attribute der Naivität – Einfachheit, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Unwissenheit, Ruhe – entdeckt Picard auch in der Kunst der Hinterglasmalerei: Diese Bauernmaler aber sind von Anfang an bei Gott. Sie wissen nichts vom Zusammenhang der Dinge untereinander. Sie wissen nur vom Zusammenhang eines Dinges mit Gott. Sie benützen Gott nicht darum, weil er vieles von ihnen wissen muß. Sie müssen das Wissen nicht rechtfertigen, sie haben es gar nicht. Sie wollen nichts von den Dingen wissen, weil ein Ding nur vom anderen weiß und nichts von Gott.332

Die von Picard ausgemachte direkte und unvermittelte (bzw. allein über Gott, den Einen, vermittelte) Beziehung zur Welt und ihren Objekten, die die bäuerliche Weltwahrnehmung auszeichne, erlaubt eine Verantwortung für die einzelnen Dinge und steht damit in Kontrast zu der modernen Wahrnehmung, die nur vermittelt über ein unendliches Netz von ungesicherten Beziehungen abläuft: Durch die Isolierung der Objekte waren diese Bauernmaler für jedes einzelne isolierte Objekt verantwortlich. Es war unmöglich, ein Objekt durch die Beziehung auf ein anderes zu sichern. Die Dinge sind so getrennt, daß kein Teil des einen vom nächsten ergänzt werden kann. Jedes Ding stand allein vor ihnen, unbehütet von den andern Dingen. Gott sollte die Dinge behüten, nicht die Dinge einander.333

Was die künstlerischen Darstellungen dieser „isolierte[n] Objekte“ ‚expressionistisch‘ erscheinen lässt, ist das Nicht-Wissen um die perspektivische oder physiologische Konstruktion, die die Vielzahl von räumlichen und sinnlichen Beziehungen zu einer Einheit werden lässt. Diese Menschen kümmerten sich also nicht um das, was die Dinge hätte in Beziehung bringen können, um das Licht z. B. und den Raum. Niemals hätten sie, wie die Impressionisten, das Licht zwischen die Dinge gestreut, damit sie von einem Ding leicht zum andern fänden. Niemals hätten sie den Raum perspektivisch zu schauen versucht. Nicht weil sie es nicht gekonnt hätten, sondern weil sie nicht wollten, daß ein Ding im dreidimensionalen Raum sei, in dem es niemals so allein ist wie in der Ebene.334

In der radikalen Direktheit des Dingbezugs, die aus dieser ‚primitiven‘ Erfassung der Dingwelt resultiert, geht die Bauernmalerei sogar über die Versuche der modernen 331

Vgl. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 11. Picard: Expressionistische Bauernmalerei, S. 19f. Hervorhebung im Original durch Kapitälchen. 333 Ebenda, S. 21f. 334 Ebenda, S. 22. 332

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Expressionisten-Generation hinaus, die Dinge qua Abstraktion aus ihrer allzubeliebigen Verflochtenheit zu lösen: Sie brauchten nicht erst das Beziehungshafte und das Beziehungslose in der Erscheinung von einander zu trennen, um zur Abstraktion zu gelangen. Denn sie abstrahierten nicht erst das Beziehungslose, sie sahen es primär. Nur uns – nicht den Bauernmalern – erscheinen diese Bilder expressionistisch, abstrahiert, aus einen Zusammenhang gelöst. Nur wir meinen, das Beziehungslose sei nicht anders als durch Abstraktion zu gewinnen. [...] Weil wir auch vor den Bauernbildern das Beziehungslose zuerst in Beziehung setzen und es dann wieder aus dem Zusammenhang abstrahieren, darum nennen wir diese Malerei expressionistisch. Aber nur in der Mechanik der Abstraktion, die für das Verstehen des Bauernbildes erst der moderne Beschauer, für das Entstehen des modern-expressionistischen Bildes schon der Künstler selber leisten muß, erscheinen beide Malereien verwandt.335

Wenn Picard den (Worringer’schen) Begriff der Abstraktion hier als nachgängige Leistung des Betrachters bzw. schöpferischen Akt des Künstlers deutet, in beiden Fällen aber die „Mechanik der Abstraktion“ darauf zurückführt, dass „wir [...] das Beziehungslose zuerst in Beziehung setzen und es dann wieder aus dem Zusammenhang abstrahieren“, dann erklärt er damit die vermeintlich konträren Weltauffassungen des Impressionismus und des (modernen) Expressionismus zu letztlich verwandten Versuchen, die moderne Mannigfaltigkeit künstlerisch zu verarbeiten und zu bewältigen. Zwar unterscheiden sich beide Versuche in ihren Mitteln, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es sich bei diesen Mitteln um sekundäre Bearbeitungen einer für das moderne Subjekt primären In-Bezug-Setzung allen Seins handelt. „Der Expressionist ruft darum laut und ist pathetisch“. Picards Ästhetik und Aisthetik moderner Kunst Indem er die Affekte, das Nervöse und Pathetische als Medien der Kunst begriff, führte der Expressionismus die vom Impressionismus begonnene Auseinandersetzung mit den modernen Theorien der Psyche sowie der sinnlich-affektiven Wahrnehmung fort. Picards kunstkritische Schriften greifen diesen Zusammenhang auf: Insofern er die Verhaftung des Impressionismus an das positivistisch-psychologische Kalkül zu überwinden vermag, geht der Expressionismus Picard zufolge auch hier einen Schritt weiter. Im „Expressionismus“-Aufsatz von 1919 heißt es: Der Expressionist ist also nicht psychologisch, aber er ist psycho-analytisch. Das ist kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Psychologie läßt von einem Ding auf tausend Dinge gleiten, die Psycho-Analyse geleitet von tausend Dingen zu einem. Sie sammelt tausend zerstreute Erlebnisse, bis sie sich in eine Reihe ordnen und schließlich zu einem einzigen Erlebnis hinführen. Dieses einzige Erlebnis erstrebt man, nach ihm orientieren sich alle andern; das Chaos aber ist kleiner geworden, weil tausend Erlebnisse aus ihm gesichtet und aus der Zerstreutheit um ein einziges Erlebnis gruppiert wurden.336 335 336

Ebenda, S. 23. Hervorhebungen im Original durch Kapitälchen. Picard: „Expressionismus“, S. 336. Hervorhebungen im Original gesperrt.

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Die Psychoanalyse – von Picard in späteren Schriften, v. a. dem Einbruch in die Kinderseele337 vehement bekämpft – wird hier vor allem aufgrund ihrer Abkehr vom positivistischen Paradigma zum Vorbild des Expressionismus. Mit dieser Absage vollzieht die „Psycho-Analyse“ auch den Schritt hin zu einer aktiven, weil an der gefühlshaften Kraft des ‚Erlebnisses‘ ausgerichteten Konstruktion der Wirklichkeit – sie „geleitet“, „sammelt“, „erstrebt“, „(ge-)sichtet“ und „gruppiert“ – während die Psychologie lediglich gleiten „läßt“. Doch nicht nur in der (psycho-analytischen) Gruppierung von Ereignissen und Erlebnissen um einen Bedeutungskern herum drückt sich die expressionistische Sehnsucht nach Einheit aus; sie artikuliert sich auch als Einheit der Sinne: Nicht zufällig erfährt das Stilmittel der Synästhesie im Expressionismus eine besondere Wertschätzung. Sein häufiger Einsatz etwa in der Literatur oder der Bildkunst wertet die akustische und haptische Wahrnehmung gegenüber der visuellen auf; damit geht oft eine besondere Wertschätzung der Musik, Bildhauerei und Architektur einher. Wassily Kandinsky, einer der vehementesten Verfechter der Integration der Künste zum modernen Gesamtkunstwerk, ist der wohl bekannteste Impulsgeber einer synästhetischen Kunsttheorie; in diesem Zusammenhang werden etwa farbige Klänge, die er auf ‚Seelenvibrationen‘338 zurückführt, zu bevorzugten Kommunikationsmedien der Kunst. Dem Impressionismus dagegen wirft Picard – wie andere – vor, den Sehsinn zu privilegieren oder sogar zu isolieren: Es kam vor allem darauf an, das Sinnesorgan möglichst rasch zu ergreifen. Darum fehlte z. B. auf den impressionistischen Bildern alles Ablenkende, Anekdotische. Es fehlte selbst jede Gelegenheit für eine Beteiligung eines anderen Sinnes als des Auges. Das impressionistische Bild bot sich so augenfertig wie nur möglich dar [...]. Dem Auge selbst war es so leicht als möglich gemacht, sich einzuhängen und damit auch, wie es der Impressionismus wollte, sich wieder auszuhängen.339

Die isolierte und passive Funktion des Sehorgans – die „intensive Ergriffenheit eines einzigen Sinnesorgans, des Auges, bei einem Ausschluß der anderen Sinne“340 – macht 337

Picard: Einbruch in die Kinderseele. „Der musikalische Ton hat einen direkten Zugang zur Seele. Er findet da sofort einen Widerklang“ (Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, München: R. Piper & Co Verlag, 1912, S. 50). Daraus leitet Kandinsky „die tiefe Verwandtschaft der Künste überhaupt und der Musik und Malerei insbesondere“ (ebenda, S. 51) ab; und „der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste (=Form) zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß“ (ebenda, S. 54). Darin klingt nicht nur die Nähe zu zeitgenössischen Diskursen der Esoterik an; Kandinskys ‚Seelenvibrationen‘ erinnern auch an frühere mehr oder weniger exoterische Ansätze einer Wahrnehmungstheorie, die von Resonanzen und Schwingungen eines Seelenorgans, der Nervenübergänge oder auch einer Hirnhöhlenflüssigkeit ausging und die Gefühle über Schwingungen in Sinneswahrnehmungen übersetzte. Vgl. hierzu Welsh, Caroline: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2003. 339 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 17. 340 Ebenda, S. 24. Hervorhebungen im Original gesperrt. 338

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

eine konstruierende Tätigkeit des Geistes überflüssig. Ohne Anreiz zu einer schöpferischen Integrationsleistung, zu einer echten, synästhetischen Produktivität wird die kreative Leistung des Künstlers zur Täuschung und ihre Distinktionskraft zur Farce: Diese rein physiologische Schöpfung auf der Netzhaut täuschte vor, daß man produktiv sei. Man leistete etwas, man leistete ständig etwas, man war andauernd produktiv. Das Ergebnis der Pseudoproduktivität: Das Netzhautbild gehörte einem Kunstwerk an. Daß diese Pseudoproduktivität mit dem Material eines Kunstwerkes vor sich ging, erhöhte die Sicherheit der Täuschung. Jeder hielt sich für produktiv, in jedem war ein verborgener Künstler, der vor dem Gemälde seine Schöpferfähigkeit wahrnahm.341

Wo „alle anderen Sinne außer dem Auge frei von einer Affektion“342 sind, werde eine schöpferische Komposition im Rezipienten unmöglich; dagegen rege insbesondere das Hören von Kunst – und zwar auch auf der Leinwand des Malers – die geistige Aktivität an, die der Expressionismus zum Ziel echter Kunst erklärte. „Am meisten widerstrebte das Musikalische dem impressionistischen Relativismus“343, und so werden dessen Fragmentierung und Kurzlebigkeit besonders deutlich in der Darstellung eines Instruments: Sobald die visuelle Synthese durch die Netzhaut vollzogen ist und auf dem Wege der Erinnerung auch die akustische Sinnessphäre ergriffen werden könnte, zerfällt das Instrument wieder durch den Abbau des Netzhautbildes: Das Märchen von der Geige ohne Ton.344

Die intensive Beschäftigung mit akustischen345 und synästhetischen Phänomenen, die in Das Menschengesicht und in Picards späteren Werken346 noch stärker ins Zentrum seiner Reflexionen rücken wird, knüpft auch an diese frühen expressionistisch inspirierten Versuche an, die Verschiedenheit der Kunstdisziplinen und die unterschiedlichen sinnlichen Wahrnehmungsprozesse synästhetisch zu integrieren. Neben der in Theorie und Praxis hochgeschätzten Synästhesie gehört das Pathos zu den hervorstechenden Methoden und Stilmitteln des Expressionismus. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass „[d]as stereotype Verdikt über das ‚hohle‘, ‚übersteigerte‘ oder ‚überspannte‘ Pathos [...] eine differenziertere Rekonstruktion des Pathos-Begriffs lange verhindert“ hat, und dass solche Verdikte Bewertungsmustern aus dem Umkreis der klassischen Ästhetik [...] verhaftet sind. Das neue Pathos der Expressionisten ist hingegen erst in den Kontexten von Umwer341

Ebenda, S. 21f. Ebenda, S. 23. 343 Ebenda, S. 66. 344 Ebenda, S. 23. 345 Eine Aufwertung des Akustischen zeichnet ja auch die Schlusspassage des Letzten Menschen aus, die den Weltuntergang mit dem Ertönen der Phonographen-Stimme „Der Mensch ist tot“ besiegelt und damit die Apokalypse in eine ‚akustische Vision‘ der Endzeit auslaufen lässt. Vgl. hierzu oben S. 156ff. 346 Picard: Die Welt des Schweigens; ders.: Wort und Wortgeräusch, Hamburg: Furche-Verlag, 1953. 342

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tungen des Pathetischen angemessen zu verstehen [...]. Erst hier wird das Pathetische von dem Zwang entbunden, nur im Wechselspiel mit ästhetischer und ethischer Distanz auftreten zu dürfen.347

Auf diese „Umwertung“ des Pathetischen zielt auch die Erweiterung der Mittel seines rhetorischen Repertoires – wie Hyperbeln oder Exklamationen – um das Stilmittel der „extremen sprachlichen Verknappung“348. In seinem „Expressionismus“-Aufsatz, der sich neben der Bildkunst auch Literatur und Poesie widmet, setzt sich Picard explizit mit dem expressionistischen Pathos auseinander und deutet das Pathos als einen ambivalenten Versuch, der Komplexität moderner Wirklichkeiten Einheit abzugewinnen: Die Verwendung von Leiden(-schaft) ziele auf die subjektiv-schöpferische Komplexitätsreduktion durch ebenjenes „voluntarisch Wesentliche“ (Hiller), das der Expressionismus dem Impressionismus entgegenhält. Einerseits wird dabei Picards kritische Distanz zum Expressionismus und zu dessen Weltverhältnis so deutlich wie an keiner anderen Stelle seines Frühwerks, andererseits zeugt die Passage jedoch – bei aller Kritik – von seiner Wertschätzung des expressionistischen „Blick[s] ins Chaos“. Und zugleich entwickelt Picard hier eine phänomenologische Konzeption der bewegten Wahrnehmung, die sich insbesondere für das spätere Menschengesicht als wichtig erweisen wird und mit der Picards kunstkritische Reflexion ein durchaus innovatives Niveau andeutet. Der Aufsatz setzt mit der aus Das Ende des Impressionismus bekannten Impressionismus-Kritik ein: Die Dinge im Impressionismus sind in so enger Beziehung untereinander, daß man ein Ding gar nicht isolieren kann, man kann gar nicht sagen, was eines ist, es ist immer schon von dem anderen dabei.349

Dieses impressionistische Weltverhältnis äußert sich nicht nur in der perspektivischen Konstruktion der Malerei, sondern auch in der Sphäre der Dichtung und Wortkunst Indem der Impressionist die Beziehungsgeflechte unter den Dingen hervorhebt, vernachlässigt er die Hinwendung zum einzelnen Ding zugunsten der mannigfaltigen und beliebigen Austauschbeziehungen, „damit sie von allem und zu allem gerufen werden können“350. An diesem Punkt nun lässt Picard den Expressionismus als eine Gegenbewegung ansetzen, die den Dingen wieder zu einem Namen verhilft – wobei schon die Eingangsbemerkung einen distanzierten bis ironischen Unterton trägt: In der expressionistischen Zeit soll ja alles anders sein. Aus dem Chaos, in dem die Dinge kaum einen Namen haben, damit sie von allem und zu allem gerufen werden können, aus diesem na347

Anz: Literatur des Expressionismus, S. 160. Vgl. hierzu auch Stücheli, Peter: Poetisches Pathos. Eine Idee bei Friedrich Nietzsche und im deutschen Expressionismus, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien: Lang, 1999, der in diesem Zusammenhang den Einfluss von Nietzsche und Aby Warburg auf die veränderten Wertungen und Formen des Pathetischen herausgearbeitet hat. 348 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 163. 349 Picard: „Expressionismus“, S. 329. Hervorhebung im Original gesperrt. 350 Ebenda, S. 332.

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menlosen Chaos ruft der neue, expressionistische Mensch das Ding heraus zu sich. Er ruft die Dinge bei ihrem Namen an: Du Wald, sagt er, und du Stadt, damit der Wald und die Stadt sich aus dem Chaos wieder auseinander ordnen.351

Dass das vermeintlich diametral entgegengesetzte Weltverhältnis von Impressionismus und Expressionismus so gegensätzlich nicht ist, führt Picard am Beispiel der jeweiligen Literaturkritik aus: In ihren Interpretationen eines Gedichtes von Walt Whitman manifestiere sich der gesamte Gegensatz zwischen Impressionismus und Expressionismus – und zwar als Gegensatz zwischen der unendlich fortgleitenden komplexen Bewegung der Signifikantenketten und der subjektiven Einheits-Schöpfung durch den Ruf bzw. das Hören des Namens: Du Missisippi [sic!], singt Walt Whitman; die Impressionisten haben nur das alles verbindende Du gehört, und Lublinski [der Literaturkritiker Samuel Lublinski, K. L.] nennt Whitman in seinem Ausgang der Moderne einen urwüchsigen Impressionisten. Du Mississippi, singt Walt Whitman; die Expressionisten hören nur den isolierenden Namen Mississippi, und Whitman ist ihnen ein Künstler des Expressionismus.352

Picard gibt dem Expressionismus den Vorzug vor dem Impressionismus, insofern ersterer das Chaos nicht wie letzterer affirmativ nachvollzieht oder sogar vergrößert, sondern ihm entgegenzutreten versucht. „Der Expressionist liebt Whitman, weil durch den Anruf die Dinge aus dem Chaos heraus fixiert werden.“353 Doch neigt der Expressionist zum Übermaß des Pathos: Er „ruft aber die gleichen Worte lauter als sie Walt Whitman gerufen, denn es ist für ihn eine größere Not, vom Chaos gehört zu werden als für Walt Whitman.“354 Der leidende oder leidenschaftliche Ruf des Expressionismus wendet sich gegen das Chaos – doch er bleibt wie der Impressionismus letztlich in der passiven Reaktion auf die Not gefangen und täuscht sich über seine eigene hilflose Verwobenheit in das Chaos der Welt hinweg: Der Expressionist ruft darum laut und ist pathetisch, nicht aus einem primären Lebensgefühl heraus, sondern aus Zwang. Er ist pathetisch, damit es scheint, als ob er niemals mitten unter den Dingen mit reagiert hätte, sondern, als ob er erst mit einem großen Schwung von weit her sich habe zu den Dingen schleudern müssen, und weil mit diesem Schwung des Pathos die Dinge aus dem Wirbel des Chaos eingefangen werden können.355

In seinem übergroßen Bestreben, dass – wie Picard zu Beginn seines „Expressionismus“-Aufsatzes ironisch angemerkt hatte – nur „ja alles anders sein“ solle, erweist sich der Expressionist als dem Chaos letztlich ebenso verfangen wie der Impressionist. Und all seine stilistischen und theoretischen Versuche, es zu bannen, werden dann zu verräterischen Überreaktionen: 351

Ebenda. Hervorhebung im Original gesperrt. Ebenda. Hervorhebungen im Original gesperrt. 353 Ebenda. 354 Ebenda. 355 Ebenda, S. 332f. Hervorhebung K. L. 352

Gesichte im Kontext (III)

267

Das Pathos aber allein genügt nicht, ein Ding aus dem Chaos zu fixieren. Man muß ein Ding noch verwandeln, als ob es niemals mit den anderen Dingen des Chaos in Beziehung gewesen wäre, damit es von ihnen nicht mehr anerkannt wird und nicht mehr auf sie reagieren kann. Man muß abstrakt sein, typisieren, damit das Erreichte nicht wieder ins Chaos zurückgleitet. Man drückt also so viel Leidenschaftlichkeit in ein Ding hinein, bis es fast auseinanderbricht und das Ding sich nur damit abgeben kann, die Spannung des eigenen Bruches zu bewahren356.

Der impressionistischen Preisgabe der Dinge (und ihrer Namen) an das Beliebige der allgegenwärtigen Beziehungsgeflechte ebenso wie ihrer übermäßigen, gewaltsamen Fixierung und Isolierung qua expressionistischem Pathos357, Typus und Abstraktion setzt Picard nun ein Weltverhältnis der ‚bewegten Anschauung‘ entgegen, das eine Rezeption phänomenologischer Theorien offenbart. Er beruft sich dabei explizit auf Edmund Husserls Logische Untersuchungen: ‚Wir wollen uns nicht mehr mit einem symbolischen Wortverständnis zufrieden geben,‘ sagt Husserl. ‚Bedeutungen, die nur von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt von irgend welchen – belebt sind, können uns nicht genug tun.‘358

Picard rückt die Phänomene der „Anschauung“ und der „Bewegung“ ins Zentrum seiner Ästhetik. Und dabei unternimmt er einen Versuch, die polaren Schemata hinter sich zu lassen, in denen er impressionistische wie expressionistische Kunst(kritiken) verfangen sieht. Dieser Ansatz zu einer eigenen Ästhetik geschieht eher implizit, und zwar im Zuge einer Kritik an der expressionistischen Typus-Bildung und an Worringers Entgegensetzung von Abstraktion und Einfühlung. So kritisiert Picard den expressionistischen Drang zum Typisieren, indem er die vom Expressionisten unterschlagene Prozesshaftigkeit der Typenbildung aufdeckt: [M]an statuiert Typen. Wie bei Marionetten spürt man, wenn die Bewegung beginnt, auf einmal, plötzlich, gerade als ob die Bewegung nicht mehr im Ding selber wäre, sondern als Ding von außen hinzukommen müsse, gerade als ob es hier zwei Dinge wären: Typus und Bewegung. Bewegung und Ding sind getrennt. Man kann nun gleich ein Ding ohne Bewegung haben [...], man benützt die Verschwendung der Leidenschaft, die Abstraktion, die Typisierung nur, um aus dem Chaos das Bewegte in die Ruhe zu isolieren.359

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Abstraktion. Auch sie wird vom Expressionismus als ein bewegter Vorgang der „Anschauung“ verkannt:

356

Ebenda, S. 333. Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine Kritik, die einen von Picard selbst exzessiv betriebenen Stil trifft. 358 Picard: „Expressionismus“, S. 335. Das leicht veränderte Zitat stammt aus Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Halle: Max Niemeyer, 1901, S. 5f., wo Husserl in der Einleitung die für sein gesamtes Denken zentrale Forderung nach einem phänomenologisch-intuitiven Sprach- und Zeichengebrauch entwickelt. 359 Picard: „Expressionismus“, S. 333. 357

268

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

So sehr ist man jetzt bestrebt zu fixieren, daß man sogar die Herkunft der Abstraktion aus der Bewegtheit zu verbergen sucht. Man sucht zu verbergen, daß die Abstraktion aus der Anschauung des Chaos entstanden ist.360

Die Fixierung auf das binäre Schema Abstraktion vs. Einfühlung, in dem die Begriffe sich gegenseitig in ihrer Beziehung zum Wesen des Gegenstands sichern sollen, unterschlägt das Bemühen um die anschauende Erfassung und Konstruktion der Welt ebenso wie die sprachliche Bewegung hin zum Begriff. Darum konstruiert man zum Begriff der Abstraktion den polaren Begriff der Einfühlung. Anstatt daß sich ein Gefälle von der Anschauung des Chaos hin zur Abstraktion bewegt, fixieren sich die polaren Begriffe Abstraktion und Einfühlung. Das bewegte Vorstellungsgebilde soll in ein fixiertes verwandelt werden.361

Wie genau ein solches „Gefälle“ zu „einem bewegte[n] Vorstellungsgebilde“ sich formt, führt Picard nicht aus – noch nicht.362 Zur Untermauerung seiner phänomenologisch inspirierten Expressionismus-Kritik beruft sich sein Aufsatz lediglich auf einen geistesverwandten Sinn-Sucher: ‚Es gibt gar kein Ding,‘ sagt Mynona, ‚sondern immer erlebt ein positives Ding sein negatives. Das Geheimnis liegt aber präzis in einer Mitte, welche so lebt, daß sie das positive und negative paralysiert‘363.

Picards Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Bewegung“ eröffnet allerdings noch einen weiteren Horizont seines Essays: Dass nämlich die „Bewegung“ durchaus auch politisch konnotiert ist, legen eine Bemerkung Picards zur Revolution und der unmittelbare Kontext seines Aufsatzes nahe. Picard kritisiert – mit Nietzsche und im Anschluss an seine Kritik des Pathos – das expressionistische Verständnis des Revolutionären als zutiefst ordnungsliebend und damit als unrevolutionär: [Die] Tendenz zur Orientierung im Chaos, Fixierung des Chaos ist so groß, daß sie dieses Paradox geschaffen hat: Das Revolutionäre [...] wird nicht mehr [...] als das ungeheuer Bewegte und ungeheuer Bewegende erlebt, sondern eben paradox: fixierend-orientierend. Denn durch die revolutionäre Plötzlichkeit sieht man die Dinge aus dem Chaos angezogen und um die Explosion in bestimmte Distanz gruppiert: Fixierung. Orientierung. Also dieses Paradox geschieht dem Revolutionären im Expressionismus: Es wird nicht um des dionysischen Rausches willen erlebt, sondern um der apollinischen Gestaltung willen, in die sich der Rausch ordnet.364

Eine vergleichbare Figuration der Revolution zu einer dionysischen Kraft, zu einer das Historische transzendierenden Bewegung des ‚Immer Neuen‘ findet sich auch in Alfred Wolfensteins Einleitung zum Erhebungs-Jahrbuch, in dem Picards „Expressionismus“Aufsatz erscheint: 360

Ebenda. Ebenda. 362 Vgl. zu einem solchen ‚bewegten Gefälle‘ die später in Das Menschengesicht entwickelte ‚Wellentheorie‘ des Gesichts (unten S. 360ff.). 363 Ebenda, S. 334. 364 Ebenda, S. 336f. Hervorhebung im Original gesperrt. 361

Gesichte im Kontext (III)

269

Wenn die Welt anders ist als zuvor, so muß es bedeuten, daß unser Menschentum sich verändert hat. Denn aus uns kommt sie, vor dem Menschen schwebende, immer neu schwingende Welt. Was Wirklichkeit genannt wird, ist schon ihre Erstarrung, die Ruhe schon, zu der er sich setzt.365

Auch Wolfenstein setzt dabei auf eine Bewegungsfigur, die nicht einfach als binäre Entgegensetzung zum Bestehenden zu denken ist, weil sie diesem sonst letztlich verhaftet bliebe. „Das Neue“, das seinen Aufsatz betitelt, ist ein Feuer, dessen Form nicht die noch stehenden dunklen von ihm umloderten Konturen nachzieht: Sein frei auf der eigenen Röte in der Luft Schweben bleibt, obwohl es sich in alle bestehenden Dinge brennt, zugleich darüber eine freie unangepaßte Feuerform.366

Eine entscheidende Rolle für die revolutionäre „Befreiung, die nun nicht wieder ruhen will“367, misst Wolfenstein dem Künstler zu. Dessen revolutionäre Aufgabe ist – Gesicht: Seht den wahrhaft neuen Künstler und den wertenden Verkünder des geistigen Worts nun zugehörig der Fülle der Menschen sich bewegen, im unbeirrten Gefühl, daß aus der gemeinsamen Wurzel die gleiche Kraft jedem Menschenantlitz zuströmt.368

Zwar bleibt es Autoren wie Carl Einstein vorbehalten, solche Gesichte für die Kunstkritik zu entwerfen. Der Stellenwert der aktiven und autonomen Konstruktion von künstlerischer Wirklichkeit aus den Raum- und Bewegungserfahrungen des Künstlers, die ihrerseits zu eigenen Weltbildern und Welten heranreifen können ist bei Einstein systematisch ausgebildet, während Picard auf ihn nur hindeutet. Und auch der Rückgriff auf die radikal anderen Weltbilder der ‚primitiven‘ Kunst erfolgt bei Einstein nicht wie bei Picard aus einer metaphysisch-religiösen ‚Weltanschauung‘ heraus. Zumindest Ansatzpunkte zu einer innovativen Ästhetik der ‚bewegten Anschauung‘ lassen sich aber in Picards kunstkritischen Schriften finden. Dabei schwingt in der ‚Bewegung‘ auch der Aspekt eines aller Fixierung und „apollinischen Gestaltung“ sich widersetzenden Impulses mit, der das künstlerisch „Revolutionäre […] als das ungeheuer Bewegte und ungeheuer Bewegende“ auch politisch konnotiert: Einsteins Diktum, „[s]chauend ändert man Menschen und Welt“369, speiste sich ja ebenfalls aus einem politisch inspirierten ‚revolutionären‘ Kunstverständnis. Und kann man die grotesk-apokalyptischen Gesichte aus Picards Der letzte Mensch nicht als gleichermaßen literarisch wie kunstkritisch lesbare Figuren verstehen, die „das ungeheuer Bewegte und ungeheuer Bewegende“ darzustellen versuchen, ohne dem Paradox der gleichzeitigen „Fixierung des Chaos“ zu verfallen?370 365

Wolfenstein, Alfred: „Das Neue“, in: Alfred Wolfenstein (Hrsg.): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, Berlin: S. Fischer Verlag, 1919, S. 1. 366 Ebenda. 367 Ebenda, S. 3. 368 Ebenda, S. 5. 369 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 92. 370 Dass Picard aus einem religiös motivierten Non-Konformismus heraus auch Sympathien für dezidiert linksgerichtete Intellektuelle hegen konnte, zeigt etwa seine Bewunderung für Simone Weil (vgl. Fußnote 491, S. 298).

270

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

5.4 Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen Neben den poetologisch-stilistischen und thematischen ‚Kon-Texten‘ bilden auch solche ‚Kontexte‘ die Kraftlinien des literarischen Feldes, die nicht genuin oder zumindest nicht ausschließlich als Texte angelegt sind: Kontakte zu Gruppen und Institutionen verschaffen dem Schriftsteller das soziale Kapital, ohne das seine literarischen Leistungen sich nicht in kulturelles Kapital transformieren. Praktiken wie Freundschaften oder Bekanntschaften zu anderen Künstlern, Verlegern oder Kritikern, die Etablierung und Pflege der Beziehungen zu wichtigen, mehr oder weniger feststehenden literarischen Institutionen oder das Werben um Anerkennung durch Konsekrationsinstanzen (Preise oder Stipendien) bilden jenen gesellschaftlichen Rahmen, dessen Einfluss die Literaten wie ihre Kritiker zwar im Namen der Feldautonomie permanent verleugnen und bekämpfen, der jedoch auf die Konjunkturen des Feldes entscheidend einwirkt: Obgleich die Kämpfe innerhalb des literarischen (usw.) Feldes von diesen in ihrem Prinzip (das heißt in den sie bestimmenden Ursachen und Gründen) weitgehend unabhängig sind, hängt doch ihr glücklicher oder unglücklicher Ausgang stets von der Entsprechung ab, die sie mit externen Kämpfen (solchen innerhalb des Macht-Feldes oder des sozialen Feldes in seiner Gesamtheit) verbinden können371.

Die Pflege sozialer Kontakte, sei es in textlicher (zumeist brieflicher) Form, sei es durch persönliche Begegnungen, Besuche und Gespräche, ist ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht, das Unhappy Swerving des Literaten auf eine erfolgreiche Bahn zu führen; wird diese Pflege – wie etwa im Falle Max Picards – vernachlässigt, so droht ein ‚unglücklicher Ausgang‘. Zwar zeichnet sich das literarische Feld gerade dadurch aus, dass sein Institutionalisierungsgrad im Vergleich zu anderen Feldern gering ist; die Anerkennungsmechanismen verlaufen selten und meist erst in der späten literarischen Laufbahn – wenn der abwegige Umweg des Swerving sich bereits aufgrund anderer, eher informeller Kräfte als zielführend erwiesen hat – über im engeren Sinne institutionalisierte Titel, Preise und Gratifikationen. Doch gerade die informellen Praktiken der sozialen Anerkennung, wie die Vergrößerung des Bekanntheitsgrades, die Beförderung durch einflussreiche Feldakteure wie berühmte Schriftsteller oder Kritiker und das ‚Weitergereicht-Werden‘ an und durch anerkannte Gruppen oder Personen greifen erst, wenn ein Autor ein ausreichendes Maß der Anbindung an diejenigen Instanzen erreicht, die aus seiner literarischen Praxis gedruckte und vervielfältigte Produkte machen – kurz: die den Autor zum Text machen und als solchen in Zirkulation versetzen.

371

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 400. Hervorhebungen im Original.

Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen

271

Die Verlagslandschaft In gesteigertem Maße gilt dies für das expressionistische Jahrzehnt. Denn zu den wichtigsten Distinkionsmerkmalen, mit denen der Expressionismus sich schmückt, gehört die Etablierung einer neuen, modernen Form medialer (Gegen-)Öffentlichkeit: Die historische Leistung des literarischen Expressionismus besteht nicht so sehr in der Zahl und Qualität von ‚Meisterwerken‘ einzelner Autoren, sondern eher in der kollektiven Produktivität, mit der er die massenmedialen Möglichkeiten seiner Zeit ausschöpfte372.

Was die expressionistische Inszenierung eines „subkulturellen Publikationsstils“373 auszeichnet, sind die Schnelllebigkeit von literarischen Erzeugnissen, das in die aktuellen Ereignisse hineingreifende Schreiben ‚am Puls der Zeit‘, die Pose von Tempo und Geschwindigkeit schriftstellerischen Tuns, die sich – trotz der oft vehementen bis hasserfüllten Ablehnung des journalistischen Gestus – ebendiesem annähert und bis in die Aufmachung, typographische Gestaltung und die Materialverwendung der Zeitschriften hineinreicht. Albert Ehrenstein bringt den Distinktionswert der einfachen Aufmachung, die einen schnellen Druck sowie einen billigen Verkaufspreis bei geringen Auflagen ermöglicht, auf den Punkt, wenn er schreibt: [D]ie kleinen Literaturblätter, die sich infolge der Indolenz des Publikums eine zahlungsfähige Moral und Ausstattung leider nicht gestatten können, stehen himmelhoch über den großen, dicken Schmalzrevuen, diesen Organen unserer Neunzigjährigen374,

d. h. der deklassierten Avantgarden und ihres bürgerlichen Lesepublikums, die die feldspezifische Wahrnehmung nach dem Muster des biologischen Alterns fasst. Der neuen, ‚jungen‘ Ästhetik dagegen entspricht u. a. die Ersetzung der Frakturtypen durch die moderne Antiqua, wie sie der Sturm einführte. Dass Picards Wirken im Umkreis der expressionistischen Bewegung kein großer Erfolg beschieden war und diese Phase seiner literarischen Tätigkeit recht schnell und bis heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dürfte wohl in starkem Maße mit seiner geringen Bindung an Verlage, Zeitschriften und andere literarische Institutionen sowie an die oft um diese herum sich bildenden Gruppen zusammenhängen. Und wo er Bindungen einging, erwiesen diese sich als von zu kurzer Dauer oder die Partner als zu zweitrangig, um Picard in der zwischen 1910 und 1920 äußerst bewegten und unübersichtlichen literarischen Landschaft avantgardistischer Publikationen eine prominente Stellung zu verschaffen. Dies gilt es im folgenden zu rekonstruieren. Beherrscht wurde die literarische Landschaft von zwei Zeitschriftenriesen, die damals wie heute für die Bewegung des Expressionismus stehen: Der 1910 erstmals verkaufte, von Herwarth Walden gegründete Sturm und die seit 1911 erscheinende Aktion, 372

Anz: Literatur des Expressionismus, S. 40. Ebenda, S. 42. 374 Ehrenstein, Albert: „Paul Zechs Gedichte“: in: Albert Ehrenstein, Werke, Bd. 5. Aufsätze und Essays, hrsg. v. Hanni Mittelmann, Göttingen: Wallstein, 2004 [1913], S. 37–40, hier: S. 42f. 373

272

Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

die unter der Leitung von Franz Pfemfert stand, überragten alle anderen bei weitem. Sie waren, nicht nur dem selbsterklärten Anspruch nach, sondern auch was Auflagenstärke (bis zu 30.000 (Sturm) bzw. 7.000 (Aktion)) und Renomée betraf, die dominierenden und konkurrierenden Blätter der Zeit. Von der Ausrichtung unterschieden sie sich insofern, als sich Waldens Sturm zum ‚Primat der Kunst‘ bekannte, während Pfemferts Aktion sich vor allem auch als anti-bürgerliches politisches Organ verstand, als überparteiliches Sammelbecken „der Großen Deutschen Linken“375 vom Anarchismus über den Aktivismus bis zum Marxismus. Doch über diese Unterschiede hinweg – die ihre Dominanz qua Konkurrenz verstärkten – zeichnen die beiden Zeitschriften sich durch das Gemeinsame aus, das sie dem literarischen Feld aufprägten. In ihnen manifestierte sich der Bruch mit dem Vorangegangenen auch institutionell: Beide, Pfemfert und Walden, hatten ihre Zeitschriften im eigenen Verlag gegründet und gewannen damit eine editorische Freiheit, die sie in ihren vorhergehenden Funktionen bei verschiedenen, auch anderen literarischen Positionen verpflichteten Verlagen nicht besessen hatten. Und beide wirkten stilbildend durch den Raum, den sie zeitgenössischen Werken der Bildkunst (und Plastik) in ihren Ausgaben einräumten. So avancierten Der Sturm und Die Aktion zu Zentren von losen, aber ungemein wichtigen „Medienverbünden“, die sich in Form etwa von Leseabenden, Ausstellungen, Buchreihen oder informellen Diskussionen um die Zeitschriften herum ansiedelten: Junge Autoren, Künstler und Galeristen bilden Gruppen und Zirkel, gründen Zeitschriften und bauen, wenn finanzielle Mittel und organisatorische Möglichkeiten vorhanden sind, Medienverbünde auf. Die Zeitschriften bilden dabei den Kern der Avantgardekultur376.

Der Zutritt zu diesen Medienverbünden war vor allem für die Neulinge im Feld – etwa die jungen Berliner Avantgarden (van Hoddis, Blass, Hiller) aus dem Kreis des „Neopathetischen Cabarets“ und des „Neuen Clubs“ – von größter Bedeutung. (Fast) alle wichtigen Autoren veröffentlichen in Sturm oder Aktion, zahlreiche in beiden. Rudolf Blümners Ausspruch, wonach „alle Künstler, die eine führende Bedeutung für den Expressionismus haben, an einer Stelle vereint sind. Dies ist Der Sturm“377, ist nicht nur anmaßendes Eigenlob378, sondern durchaus zutreffend, insbesondere wenn man die Aktion in die Aussage mit einschließt. „Omins disitinctio est negatio“: Die herausragende Bedeutung dieser beiden Leuchttürme der literarischen Landschaft ist auch für Picards schriftstellerisches Swerving wichtig – gerade weil er es auf keine einzige Veröffentlichung in Sturm oder Aktion 375

Pfemfert, Franz: „Note“, in: Die Aktion. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, 1. Jg. (1911), Nr. 1, Sp. 24, hier: Sp. 24. 376 Haefs, Wilhelm: „Zentren und Zeitschriften des Expressionismus“, in: York-Gothart Mix (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7: Naturalisms. Fin de siècle. Expressionismus. 1890–1918, München, Wien: Carl Hanser Verlag, 2000, S. 651–652, hier: S. 437. 377 Blümner, Rudolf: Der Sturm. Eine Einführung, Berlin: Verlag Der Sturm, 1917, S. 1. 378 Blümner gehört zum engsten Mitarbeiter-Kreis des Sturm.

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bringt. Aus Blümners Anmerkung lässt sich daher im Umkehrschluss folgern, dass Picard keine führende Bedeutung für den Expressionismus hatte. Weil er auch in anderen einschlägigen Blättern nicht vertreten ist, fehlt ihm jene „enge ‚Bindung zwischen Kommunikator und Kommunikant mit einem hohen Maß an Identifikation‘“379, die die expressionistischen Medienverbünde auszeichnete. Weder in den übrigen großen Avantgarde-Zeitschriften (wie Die Fackel, Die Weißen Blätter oder Das neue Pathos) noch in einem der unzähligen kleinen Blätter erscheinen Beiträge von ihm. Seine literarische Produktion beschränkt sich auf die fünf zwischen 1916 und 1921 erschienenen Monographien und einen Essay. Und lediglich in zwei Fällen kommt es dabei zu einem Kontakt mit literarischen Institutionen aus der ersten Reihe des Expressionismus: Seine Erstveröffentlichung Der Bürger erscheint im „Verlag der Weißen Bücher“ und der „Expressionismus“-Essay in Alfred Wolfensteins Jahrbuch Die Erhebung. Im Lepiziger „Verlag der weißen Bücher“ erscheint die nach dem Sturm und der Aktion drittwichtigste Zeitschrift des Expressionismus, Die Weißen Blätter. Ihr Einfluss ist dem der beiden anderen nicht vergleichbar, doch veröffentlichen hier Autoren von großer Bedeutung: Walter Hasenclever – zugleich Lektor des Kurt Wolff Verlags, der die Weißen Blätter 1917/18 herausgibt und bereits vorher Einfluss auf sie besaß –, Gottfried Benn, Heinrich Mann und Franz Kafka. Der „Verlag der Weißen Bücher“ (später umbenannt in „Verlag der Weißen Blätter“) ist also durchaus eine vielversprechende Adresse für Picards Erstlingswerk. Er entwickelt sich schnell zu einem innerhalb des Expressionismus führenden Verlag mit einem guten Namen. Und immerhin gewährt ihm der Einfluss des Kurt Wolff Verlags eine wenn auch marginale Präsenz in der Aktion, in deren Anzeigenteil Der Bürger mehrfach auftaucht: In den Nummern 26, 27, 28, 36/37, 38/39, 40/41, 43/43, 44/45 des Jahrgangs 1914 sowie 1/2, 3/4, 5/6 des Jahrgangs 1915 weist eine eigene Anzeige auf der Innenseite des Titelblatts auf das Erscheinen des Buches hin, anfangs mit einem Text, der Picards Werk anpreist als Darstellung „der Naturgeschichte des Bürgers [...], in welchem sein Verfasser in prägnantester Weise den Typus ‚Bürger‘ formuliert und ins scharfe Licht seines kühlen wissenschaftlichen Witzes rückt“380. Doch Picard schafft es nicht, auf den Druck seines Erstlings in der Frühzeit des Verlages – der „Verlag der Weißen Bücher“ war erst 1913 gegründet worden – weitere Veröffentlichungen im selben Hause folgen zu lassen. Die Aufnahme des „Expressionismus“-Essays in Alfred Wolfensteins Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung ist die wohl bedeutendste Beteiligung Picards an einem expressionistischen Projekt. Nicht umsonst wird dieser Aufsatz neben dem Ende des Impressionismus bis in die Gegenwart seine bekannteste Arbeit aus der Frühzeit bleiben – Georg Lukács zitiert sie in seinem Aufsatz über „Größe und Verfall des Expressionismus“ ebenso wie Thomas Anz in seiner Literatur des Expressionismus oder Paul Raabe im Index Expressionismus. 379 380

Haefs: „Zentren und Zeitschriften des Expressionismus“, S. 438. „Verlagsanzeige“, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 4. Jg. (1914), Nr. 36/37, S. 743.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Weitere wichtige Anthologien oder expressionistische Reihen jedoch erscheinen ohne Beiträge Picards, so etwa Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung, die 1920 äußerst einflussreich auf den Expressionismus zurückblickt. Dass Picards apokalyptische Literatur weder hier noch in Franz Werfels ebenfalls vom Kurt Wolff Verlag veröffentlichter Buchreihe „Der jüngste Tag“ Aufnahme fand381 – darf ex negativo als weiterer Beleg für Picards mangelnde Anbindung an die tonangebenden Medien und Institutionen der Zeit gelten. Die literarische Produktion Picards, die zwischen 1914 und 1921, also in der Zeit des Expressionismus, entsteht, passt sich – bei aller Nähe zu dessen thematischen und poetologischen Problemen – nicht in die avantgardistischen Medien-Formate ein, die sich vor allem an Zeitschriften und Reihen-Bänden orientieren: Das ist auch darauf zurückzuführen, dass er sich weitgehend dem schnelllebigen Kurzformat der expressionistischen Lyrik oder Kurzprosa, dem journalistischen oder essayistischen Gestus sowie dem „subkulturellen Publikationsstil“ verweigert, der „Bücher in rascher Abfolge mit meist geringem Umfang und Preis in relativ kleiner Auflage“382 bevorzugt. Stattdessen schreibt Picard kunstkritische Monographien und einen fiktionalen Groteske-Essay (so ließe sich vielleicht Der letzte Mensch gattungsmäßig verorten). Wie aber steht es um deren Positionierung, welches Gewicht und welche Orientierung besaßen die Verlage, die Picards Monographien publizierten? Generell lässt sich das Verlags-Profil des Picard’schen Frühwerks folgendermaßen zusammenfassen: Seine Schriften werden von recht jungen Häusern herausgegeben, deren Gründung meist erst wenige Jahre zurückliegt und die sich der modernen, avantgardistischen Literatur – wenn auch nicht unbedingt dem Expressionismus – verschrieben haben: Verlag der Weißen Bücher, Piper Verlag, Delphin Verlag, Eugen Rentsch und E. P. Tal. Picards Positionierungen im strategisch unübersichtlichen VabanqueSpiel des expressionistisch dominierten literarischen Feldes erweisen sich im historischen Rückblick nicht als Fehlgriffe (so entwickelte sich mit dem Münchner DelphinVerlag und insbesondere dem Eugen-Rentsch-Verlag eine längerfristige Zusammenarbeit), aber auch nicht als besonders glücklich. Dazu kam der häufige Verlagswechsel: Alle fünf Monographien erschienen an unterschiedlichen Orten. Picards Verlage verzeichnen zwar im weiteren Verlauf ihrer Geschichte durchaus einen gewissen Erfolg und führen z. T. auch wichtige Autoren in ihrem Programm. Doch sie gewinnen erst allmählich an Bedeutung, ohne wirklich einflussreich zu werden. Zum Zeitpunkt der jeweiligen Veröffentlichung Picards handelt es sich jedenfalls – mit Ausnahme vielleicht des Piper Verlags – um Verlage aus der zweiten Reihe, deren Gewicht sich nicht mit dem vergleichen lässt, das die ebenfalls sehr jungen, aber rasch 381

Mangels Material lässt sich nicht erhellen, warum Picard als Autor von Beiträgen mit eher kulturpessimistischen und antidemokratischen Positionen ausgerechnet in dem Erhebungs-Jahrbuch erschien – dessen Herausgeber Wolfenstein für einen zwar religiös gefärbten, aber vor allem entschieden politischen und revolutionären Aktivismus stand. 382 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 42.

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aufsteigenden Verlags-Neugründungen wie der „Verlag Der Sturm“ und der „Verlag der Wochenschrift Die Aktion“, die Häuser A. R. Meyers, Kurt Wolffs, Ernst Rowohlts oder der Verlag der Weißen Bücher (später Verlag der Weißen Blätter), oder auch die Verlage Gustav Kiepenheuer und Richard Weißbach innerhalb der expressionistischen Avantgarde besaßen.383 Nachdem die erste kurze Monographie, der von allen Schriften Picards am deutlichsten expressionistische Züge tragende Bürger, mit dem „Verlag der Weißen Bücher“ einen vielversprechenden Verlag gefunden hatte, bricht der Kontakt zu diesem Haus ab. Grund hierfür mag die wechselvolle Geschichte des letzteren sein – der Verlag der Weißen Bücher und sein ab 1918 auch namengebendes Flagschiff Die weißen Blätter ändern zwischen 1913 und 1921 mehrfach Ort, Besitzer und Verlagsleitung384. Dazu kommen der Umzug Picards in den Süden Deutschlands, aber sicher auch die ausbleibende Resonanz auf die Veröffentlichung des Bürgers bzw. das Nicht-in-ErscheinungTreten Picards auf der schnelllebigen Bühne der expressionistischen Avantgarde. Das folgende Werk, Das Ende des Impressionismus, das erste kunstkritische und zugleich das erste längere Buch Picards, erscheint 1916 im Münchner Piper Verlag.385 1904 von Reinhard Piper gegründet, zeichnet sich dieser Verlag durch ein recht buntes, uneinheitliches Programm aus, dessen Autorenpalette von Buddha oder Dostojewski über altbayrische Autoren bis zu Arno Holz und Christian Morgenstern reicht. Durchaus von Bedeutung ist um 1916 das Kunstprogramm von R. Piper & Co.: Zu erwähnen ist hier vor allem der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, der als Kritiker großen Einfluss auf die künstlerische Avantgarde ausübt.386 1911 erscheint Kandinsky/Marcs Der Blaue Reiter bei Piper; auch Wilhelm Worringer und Wilhelm Hausenstein tragen zu dem kunstkritischen Renommee des Verlages bei. Eng miteinander verflochten sind die beiden Verlage, die 1918 die Expressionistische Bauernmalerei und 1920 die Mittelalterlichen Holzfiguren herausbringen – der Münchner Delphin-Verlag und der seit 1910 zunächst ebenfalls in München, ab 1920 in 383

Vgl. hierzu Haefs: „Zentren und Zeitschriften des Expressionismus“, Raabe (Hrsg.): Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910–1921. 384 1913 von Erik-Ernst Schwabach gegründet, wurde der „Verlag der Weißen Bücher“ schon seit 1914 von Kurt Wolff betreut, der ihn 1917 ganz übernahm. Dazwischen liegt der Umzug des Verlags-Flagschiffs in die Schweiz – die Weißen Blätter erscheinen auf Betreiben des Herausgebers René Schickele 1916/17 bei Rascher. Ab 1918 werden Die Weißen Blätter dann im umbenannten „Verlag der Weißen Blätter“ erscheinen; hinter letzterem verbirgt sich Paul Cassirer, der 1919 dann offen als Verleger der Weißen Blätter auftritt. Vgl. Raabe (Hrsg.): Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910–1921, S. 47f.; Arnold, Sven: Das Spektrum des literarischen Expressionismus in den Zeitschriften ‚Der Sturm‘ und ‚Die weißen Blätter‘, Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang, 1998. 385 Vgl. zur Geschichte des Piper Verlags Ziegler, Edda: 100 Jahre Piper. Die Geschichte eines Verlags, München: Piper, 2004. 386 Vgl. hierzu ausführlich oben, S. 244f.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

der Schweiz (Erlenbach bei Zürich) ansässige Eugen Rentsch Verlag. Letzterer übernahm in der Zeit des Ersten Weltkriegs die Leitung des Delphin-Verlags, als dessen Inhaber, Richard Landauer, aufgrund des Kriegseinsatzes die Geschäfte in andere Hände legen musste. In der Folge erscheinen verschiedene Werke unter beiden Verlagsnamen.387 Der 1911 von Landauer gegründete Delphin-Verlag ist jung und bringt u. a. auch Themen und Autoren aus dem weiteren Umkreis des künstlerischen und literarischen Expressionismus heraus: Ein breit gefächertes Verlagsprogramm mit Spezialisierung auf moderne Kunst und junge Literatur weisen den Delphin-Verlag als ‚Publikumsverlag‘ aus, obwohl sich seine Titelzahlen neben denen der großen Verlage wie R. Oldenbourg äußerst bescheiden ausnehmen.388

Dabei genoss insbesondere die gehobene Ausstattung der Kunstbücher einen guten Ruf: U. a. brachte der Delphin-Verlag 1912 die „Sema“-Mappe der gleichnamigen Münchner Künstler-Gruppe um Paul Klee, der neben anderen Egon Schiele, Karl Caspar und Alfred Kubin angehörten, heraus. Dass der Delphin-Verlag durchaus als eine expressionistische Option galt, zeigen seine Kontakte zu Johannes R. Becher. Wie dieser gegenüber dem Verleger Heinrich F. S. Bachmair äußert, bleiben bei der Suche nach einem neuen Verleger, der u. a. seinen Gedichtband An Europa herausbringen soll, aus einem Kreis von fünf Verlagen Fischer, Wolff und der Delphin-Verlag als engere Wahl übrig.389 Es fehlen dem Delphin-Verlag jedoch die klangvollen Namen, die die Aufmerksamkeit der Avantgarde-Kreise auf ihn und seine (noch) unbekannten Schriftsteller lenken könnten. Dementsprechend verwundert es kaum, dass sich Zeugnisse einer Rezeption der Expressionistischen Bauernmalerei nur im Münchner Umfeld nachweisen lassen – dem engeren Wirkungskreis Picards und des Delphin-Verlages: Wahrscheinlich auf Betreiben Rilkes geht ein „Vortrag über Hinterglasmalerei“390 zurück, den er im gut frequentierten Salon von Dora König hält und bei dem Picard über die Bauernmalerei referiert.391 Immerhin ist die Expressionistische Bauernmalerei mit zwei weiteren Auflagen Picards erfolgreichstes Frühwerk: Die zweite Auflage erscheint 1918, die dritte 1922, ebenfalls im Delphin-Verlag. 387

Vgl. Rentsch, Lore: „70 Jahre Eugen-Rentsch-Verlag – und ein Abschied“, 70 Jahre Eugen-RentschVerlag – und ein Abschied: 1910–1980, Erlenbach-Zürich, Konstanz: Eugen Rentsch Verlag, 1981, S. 7–39, hier: S. 10f. 388 Schier, Barbara: „Der Delphin-Verlag Dr. Richard Landauer“, in: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens, 162. Jg. (1995), Nr. 2, S. 51–60, hier: S. B51. 389 Vgl. Kühn-Ludewig, Maria (Hrsg.): Johannes R. Becher – Heinrich F. S. Bachmair. Briefwechsel 1914–1920, Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang, 1987, S. 110. 390 Koenig, Hertha: Hinter den Kulissen eines Lebens. Rilke, Heuss und Heidegger zu Besuch auf Gut Böckel. Lebenserinnerungen, Bielefeld: Pendragon Verlag, 2004, S. 213. 391 Vgl. hierzu ausführlich unten S. 285f.

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Der Rentsch-Verlag wird vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu dem Verlag, mit dem Picard an engsten verbunden ist und der einige seiner Werke neu auflegt. Die frühe Zusammenarbeit beschränkt sich jedoch auf die Mittelalterlichen Holzfiguren – deren Publikation noch in München vorbereitet wird, bevor Rentsch wie Picard in die Schweiz geht – sowie auf die zweite Auflage von Das Ende des Impressionismus, die 1920 bei Rentsch erscheint. Eine Liste von namhaften Autoren, die im Rentsch-Verlag Erstauflagen publizieren, ist recht kurz: Wilhelm Fraenger (1921), Hausenstein (1920) sowie El Lissitzky/Hans Arp (1925) sind mit je 1 Werk vertreten.392 Hinzu kommt Rudolf Kassner, der aber erst durch Vermittlung Picards und auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg für Rentsch schreibt. Auch das wichtigste Frühwerk Picards, Der letzte Mensch, wird von einem Verlag publiziert, der jung, ambitioniert und modern ausgerichtet ist – und wie die anderen von zweitrangiger Bedeutung bleiben wird: dem E. P. Tal & Co.-Verlag, der 1919 von dem später zum Protestantismus konvertierten jüdischen Verleger Ernst Peter Rosenthal gegründet wurde.393 Bei E. P. Tal erscheinen unter anderen Werke von Hermann Hesse, Romain Rolland, Stefan Zweig, Carl Hauptmann, Maurice Maeterlinck und Ernst Toller, sein Programmspektrum reicht also über den Expressionismus hinaus. Die Verbindung Picards zum Tal’schen Verlagshaus führt über dessen stillen Teilhaber, den Schweizer Carl Seelig, einen einflussreichen Unterstützer zahlreicher Schriftsteller. Picard gilt als Vertrauter Seeligs.394 Und Picard ist es auch, der Seelig zur Aufnahme eines aussichtsreichen Autoren drängt, mit dem E. P. Tal eine Zeitlang in Vertragsverhandlungen steht: Robert Musil. Doch scheitert dieses Unternehmen schließlich, nicht zuletzt aufgrund von Differenzen zwischen Seelig und Tal. Diese Differenzen gehen vor allem auf ihre unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Expressionismus zurück, und dies wiederum zeigt, wie vorsichtig eine solche Etikettierung zu verwenden ist. Denn Tals Unternehmen möchte zwar der jungen Literatur ein Forum bieten, doch ist Seelig erklärter Gegner des Expressionismus, den er politisch-moralisch verabscheut und ästhetisch wie wirtschaftlich für beschränkt und unbedeutend hält: „Die Herren um die ‚Aktion‘ herum sind für einen ehrlichen Menschen ein Ekel und solches Gewäsch kauft niemand.“395 Seine Haltung manifestiert sich u. a. im Streit mit Tal um eine für das Jahr 1919 (in dem E. P. Tal auch den Letzten Menschen herausbringt) geplante Lyrik-Anthologie, die Seelig als „verfehlt“ ablehnt: Ehrenstein [den Tal als Herausgeber für seinen Gedichtband gewinnen möchte und den Seelig davon abzubringen versucht, K. L.] würde eine solche Anthologie nicht machen oder, wie er selbst sagt, nur unter seinem Gesichtspunkt: also ‚expressionistisch‘. Ein solches Buch wird 392

Vgl. Rentsch: „70 Jahre Eugen-Rentsch-Verlag“, S. 97ff. Auf seinen 1909 zu „E. P. Tal“ umgeänderten Namen geht auch der Verlagsname zurück. Vgl. zur Geschichte des E. P. Tal-Verlags Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Band II. Belletristische Verlage der Ersten Republik. 394 Vgl. ebenda, S. 428. 395 Seelig an Tal, 28.7.1919, zit. n. ebenda, S. 426. 393

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

niemand kaufen, denn diese Art von Lyrik interessiert nur eine gewisse Clique und in einem Jahr wird nicht soviel Gutes und Bleibendes gedichtet, daß diese Sammlung ein Bedürfnis wäre.396

Umso erstaunlicher liest sich angesichts des vehementen Seelig’schen Anti-Expressionismus die Reihe der für den Band anvisierten Autoren. Sie umfasst Tal zufolge u. a. „Werfel, Ehrenstein, Becher, [...] Goll, Klabund, [...] Heym, Nadel, Loerke, Wolffenstein [sic!], Trakl, [...] Benn, Blass“397! Am 11. 8. fügt Tal beschwichtigend hinzu: „Anthologie: an eine nur expressionistische Anthologie habe ich [...] nie gedacht. Eine große Anzahl der Autoren, die ich dort aufzählte, sind keine Expressionisten.“398 Hier wird deutlich, dass die Expressionismus-Forschung von Raabe über Vietta bis zu Anz zurecht vor einer allzu einheitlichen und engen Kategorisierung expressionistischer Autoren warnt. Dass der Gedichtband letztlich nicht erscheint und auch die von Picard angeregte Zusammenarbeit mit Musil scheitert, war wohl – auch ökonomisch – eine Fehlentscheidung; jedenfalls mangelte es aber dem E. P. Tal’schen Programm an avantgardistischem Potential, um Picards Letzten Menschen in den Kreisen ebenjener „Clique“ Aufmerksamkeit zu verschaffen, in denen das Werk durchaus hoffen konnte, Gehör zu finden. In die Reihe der Picard’schen Verleger reiht sich schließlich auch der S. FischerVerlag ein, in dem allerdings keine Monographie, sondern Picards „Expressionismus“Essay bzw. das Jahrbuch Die Erhebung erscheint. Zweifellos ein großer und bereits älterer Verlag (gegründet 1886), bleibt S. Fischer in einer gewissen Distanz zum Expressionismus (wenn auch nicht zu allen seinen Protagonisten) und springt erst spät, etwa mit der Erhebung oder der Reihe Dichtungen und Bekenntnisse aus unserer Zeit, die seit 1919 in zahlreichen Bänden erschien, auf den expressionistischen Zug auf – zu einem Zeitpunkt, als „die Verleger versuchen, sich auf die Mode gewordene Literatur [des Expressionismus, K. L.] einzustellen und ihre eigenen Autoren in der Formulierung einer Schriftenreihe zusammenzuschließen“399. S. Fischer verfügt also in dem engeren Kreise der jungen Avantgarde nur über ein eingeschränktes wenn nicht gar negatives Ansehen; zudem ist Picards „Expressionismus“-Essay ja nur ein Beitrag unter anderen. Dass der Essay – wie seine Erwähnung von Lukács über Raabe bis hin 396

Seelig an Tal, 7.8.1919, zit. n. ebenda. Tal an Seelig, 1.8.1919, zit. n. ebenda. 398 Tal an Seelig, 11.8.1919, zit. n. ebenda, S. 427. 399 Raabe (Hrsg.): Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910– 1921, S. 193. Auch Haefs, Wilhelm: „Nachexpressionismus. Zur literarischen Situation um 1920“, in: Bernhard Gajek und Walter Schmitz (Hrsg.), Georg Britting (1891–1964). Vorträge des Regensburger Kolloquiums 1991, Frankfurt am Main, Regensburg: Lang/Buchverlag der Mittelbayerischen Zeitung, 1993, S. 74–98, hier: S. 80, sieht Die Erhebung als Ausnahme: „Gewiß [...] brachte der S. Fischer Verlag expressionistische Autoren, doch selten exponiert und erst recht nicht programmatisch, sieht man von Wolfensteins Jahrbuch Die Erhebung einmal ab“. 397

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zu Anz beweist – dennoch als bekanntester Beitrag Picards zum Expressionismus gelten muss (obwohl etwa Der Bürger oder Der letzte Mensch literarisch ungleich ‚expressionistischer‘ sind), macht deutlich, welchen maßgeblichen Einfluss Verlage und ihre programmatischen Strategien auf Rezeption und Werdegang eines Schriftstellers ausüben. Neben den großen Verlags- und Zeitschriftengründungen stellt auch die Etablierung avantgardistischer Buchreihen eine wichtige Neuerung der literarischen „Medialisierungsstrategien“ dar.400 Insbesondere Kurt Wolffs „Der jüngste Tag“ schafft es, das von älteren Reihen wie Reclams Universal-Bibliothek oder der Insel-Bücherei etablierte „zeittypische Reihenkonzept des Billigbuches für die Medialisierung bislang unpublizierter Avantgardeliteratur“ zu erweitern und damit „den Jüngsten Tag im Bewußtsein von Kritikern und Literaten als Ausweis eines dezidiert intellektuellen Habitus durchzusetzen“.401 Doch auch zu diesem Format – das seinen Monographien ja durchaus offengestanden hätte – fanden Picards Texte keinen Zugang. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Picards Monographien – mit Ausnahme des frühen Der Bürger, von dessen Stil und Thematik sich Picard schon bald abwendet und dem kein literarischer Erfolg beschieden ist, weil er im Chor gleichlautender, aber besser positionierter, bereits über eine gewisse Bekanntheit verfügender Rufer schlicht übertönt wird und dieses Manko auch nicht durch eine außergewöhnliche literarische Qualität oder Innovativität ausgleichen kann – in Verlagen erscheinen, die weder zur Zeit der Picard’schen Publikationen noch in der unmittelbar darauffolgenden Zeit zu jenen Häusern gehören, die den literarischen Diskurs prägen und die einem Namenlosen allein kraft ihres ‚Namens‘ – der wiederum auf die ‚Namen‘ ihrer Autoren oder der von ihnen etablierten Reihen zurückgeht – Gehör verschaffen können.402 Von entscheidender Bedeutung für den geringen Erfolg Picards und eng mit dem zweitrangigen Verlagsprofil seiner Werke zusammenhängend ist auch die Tatsache, dass sich Picard den kurzen, einfachen und schnellen Medienformaten verweigert, über die sich der Expressionismus als subkulturelle Avantgarde inszeniert.

400

Vgl. hierzu Mix, York-Gothart: „Kulturelles Kapital für 20, 50 oder 80 Pfennige. Medialisierungsstrategien Leipziger Verleger in der frühen Moderne am Beispiel der ‚Universal-Bibliothek‘, der ‚Insel-Bücherei‘ und der Sammlung ‚Der Jüngste Tag‘“, in: Archiv für Kulturgeschichte, 82. Jg. (2000), Nr. 1, S. 191–210. 401 Ebenda, S. 207. Mix wendet sich auch gegen den Mythos vom a priori zum Scheitern verurteilten expressionistischen Verleger: „[N]icht so sehr die sich auch einstellenden Verkaufserfolge, sondern das erworbene Renommee, das sich bald in Sozialkapital ummünzen ließ“ (ebenda, S. 208) belegen, „daß die These, die Modernen seien auf dem Literaturmarkt auf eine Mauer der Ablehnung gestoßen, so nicht haltbar und als Form der Selbststilisierung zu werten ist“ (ebenda, S. 209). 402 Kraft eines noch sehr jungen ‚Namens‘ freilich, der sich selbst dem wagemutigen und riskanten Wechselspiel verdankt, in dem sich ‚namenlose‘ Autoren und ‚namenlose‘ Verlage aufgrund geschickter oder glücklicher Ausnutzung kultureller Konjunkturen und Allianzen gegenseitig ‚Namen‘ verleihen.

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Bekanntschaften und Gruppen-Mitgliedschaften Nicht allein, was den Kontakt zu literarischen und verlegerischen Institutionen betrifft, verfügt Picard über ein eher dürftiges soziales Kapital: Auch die nicht-institutionellen privaten Kontakte und Freundschaften sind spärlich und werden nicht gerade sorgsam gepflegt. Die Beteiligung an literarischen Zirkeln und Gruppierungen, wie sie alle modernen Avantgarden und ganz besonders die expressionistische Bewegung schätzen, meidet Picard eher als dass er sie sucht. Die wenigen Verbindungen zu bedeutsamen Literaten – so, wie sie sich aus dem aktuellen Forschungsstand und Quellenmaterial rekonstruieren lassen – reichen nicht aus, um Picard Zugang zu jenen einflussreichen expressionistischen Medienverbünden und Netzwerken zu verschaffen, die sich gerne in der Form einer regen Diskussionsgemeinschaft inszenieren. Picard besitzt durchaus Kontakte zu Autoren von höchstem literarischem Ansehen. Enge bis freundschaftliche Verbindungen bestehen dabei allerdings zu zwei bedeutsamen Schriftstellern, die gerade nicht dem engeren Kreis des Expressionismus angehören: Rainer Maria Rilke und Rudolf Kassner. Beide sind – weniger biologisch, als literarisch – Angehörige einer älteren Generation und werden eher der symbolistischen bzw. ästhetizistischen Literatur zugerechnet, auch wenn insbesondere ersterer nicht ohne Einfluss auf expressionistische Autoren war.403 Picards Münchner Zeit 1918/19 ist die Phase, in der sich am ehesten von einer wenn auch losen Anbindung an eine literarische Gruppe sprechen lässt: Er lernt den Kreis um Rilke und Kassner kennen, die sich wie er in München aufhalten und u. a. den literarischen Salon der Dora König frequentieren; überliefert ist etwa, dass Picard dort im Winter 1918/19 einen Vortrag über Hinterglasmalerei hielt, der sich auf seine Arbeiten zur Expressionistischen Bauernmalerei bezog. 404 Die aus Briefwechseln und späteren Erinnerungen stammenden Schilderungen dieser Zeit erlauben die Rekonstruktion eines Bildes, das sowohl eine gewisse freundschaftliche Verbundenheit zwischen Picard, Kassner und Rilke erkennen lässt (von der jedoch später nicht viel übrigbleiben wird), als auch Picards Schüchternheit und sein mangelndes Geschick, was die Erschließung sozialer Netzwerke betrifft. Und dort, wo sich die Gelegenheit ergibt, das soziale Kapital zu nutzen und die Anerkennung als Literat auch jenseits der textuellen Praktiken voranzutreiben, mangelt es Picard an Engagement. Vieles deutet darauf hin, dass er die Figur des schüchternen Einzelgängers – die ja dem Schriftsteller durchaus gut zu Gesicht stehen konnte – nicht als soziale Figur inszenierte und kommunizierte, wie dies bei anderen Literaten der Fall war. 403

Anz: Literatur des Expressionismus, betont, dass „Rilkes 1910 erschienener ‚Roman‘ Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge [...] der expressionistischen Moderne nicht nur zeitlich nahe“ (ebenda, S. 184) steht, sondern auch hinsichtlich Gattungspoetik, Thematik, Kommunikationskrise und Leitdifferenzen. 404 Vgl. Koenig: Hinter den Kulissen eines Lebens, S. 209, 213.

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„Die Figur, nicht eines Heiligen, aber gleichsam einer Nebenperson aus einer heiligen Legende“. Picards Bekanntschaft mit Rainer Maria Rilke Rainer Maria Rilke und Picard lernen sich 1917/18 in München kennen und offenbar schätzen sich die beiden, wie aus verschiedenen biographischen Dokumenten405 hervorgeht: Nach mehreren persönlichen Begegnungen kommt es daraufhin zu einem allerdings nicht sehr regen Briefwechsel.406 In den verschiedenen Sammlungen der Briefwechsel Rilkes sind vier Briefe (je zwei von Picard an Rilke und zwei von Rilke an Picard) erhalten407: Sie lassen sich als Hinweis auf eine gewisse freundschaftliche Vertrautheit und Wertschätzung lesen, aus der heraus sich Rilke für Picard einsetzt. Zugleich spiegelt sich in ihnen Picards Schüchternheit, seine mangelnde Fähigkeit, sich Zugang zu literarischen Gruppen zu verschaffen, und schließlich auch seine dadurch mitbedingte mangelnde Anerkennung als Schriftsteller. Die Freundschaft zwischen Picard und Rilke erlebt ihre engste Phase zwischen 1918 und 1921, insbesondere als Rilke im Winter 1919/20 unter dem Eindruck der politischen Ereignisse, der Ermordung des von ihm geschätzten Kurt Eisner und der antiintellektuellen Stimmung München verlässt und sich nach Locarno ins Schweizer Tessin begibt, das zu dieser Zeit bereits Wohnort Picards ist. Bezeugt sind Begegnungen zwischen Rilke und Picard (im Dezember 1919408 und im Februar 1920409) und Besu-

405

Vgl. ebenda, Rilke, Rainer Maria: Briefe an Schweizer Freunde. Eine Auswahl, hrsg. v. Rätus Luck, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990. 406 Zu vermuten ist, dass es sich bei Picards Briefen eher um Postkarten handelte, für die er eine besondere Vorliebe hegte: „Postkarten [waren] das Kommunikationsmittel par excellence für seinen schriftlichen Verkehr mit Freunden und Bekannten. Stapelweise lagen sie neben seiner Schreibmaschine, immer trug er auf längeren Spaziergängen oder Reisen welche bei sich, obwohl er sie in letzterem Fall auch gerne mit Ansichtskarten wechselte. Diese Postkarten wurden bis an den Rand vollgetippt oder ganz mit seiner feinen, wie gestochenen Handschrift gefüllt“ (Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 191). 407 Es handelt sich um die Briefe von Rilke an Picard vom 19. Mai 1921 (Rilke, Rainer Maria: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, hrsg. v. Rätus Luck, Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag, 1994, S. 219) und vom 12. November 1926 (ebenda, S. 513), den als Kopie Rilkes für Nanny Wunderly-Volkart erhaltenen Brief von Picard an Rilke vom 13. Mai 1921, der Rilkes Brief vom 19. Mai 1921 vorausgeht (Rilke, Rainer Maria: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Im Auftrag der Schweizerischen Landesbibliothek und unter Mitarbeit von Niklaus Bigler besorgt durch Rätus Luck, Bd. I, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1977, S. 459f.) sowie einen weiteren Brief von Picard an Rilke aus dem Mai 1921, den Rilke ebenfalls für Nanny Wunderly-Volkart kopiert (ebenda, S. 442); auf einen weiteren Brief von Picard an Rilke lässt sich aus dem Rilke-Brief von 1926 schließen. Offenbar gibt es weitere, nicht erhaltene oder verschollene Briefe zwischen Picard und Rilke. Vgl. Rilke: Briefe an Schweizer Freunde, S. 403, Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, S. 543, 1178. 408 Rilke berichtet in verschiedenen Briefen an Nanny Wunderly-Volkart von diesen Begegnungen. Vgl. Rilke an Nanny Wunderly-Volkart, 11. Dezember 1919 (Rilke: Briefe an Nanny WunderlyVolkart, S. 26). 409 Vgl. Rilke an Nanny Wunderly-Volkart, 11. Februar 1920 (ebenda, S. 149).

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

che des Ehepaars Picard bei Rilke (am 6. Januar410) sowie Rilkes bei den Picards (am 28. Januar 1920411). Der Briefwechsel von 1921 zeigt Rilkes Wertschätzung für Picard, ja eine gewisse Zuneigung zu ihm – auch wenn hier Rilkes generelle Tendenz zu einem mit starker persönlicher Emphase operierenden Briefstil mitzubedenken ist. Möglicherweise stoßen gerade Picards zurückgezogenes und schüchternes Auftreten, seine einzelgängerische Art und seine Abneigung gegen die lauten Inszenierungspraktiken der zeitgenössischen Avantgarde, die ansonsten seine Anbindung an wichtige und einflussreiche Kreise verhinderten, bei Rilke, „dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke“412, auf Sympathie. Dass Picard und Rilke durchaus persönlich vertraut waren, zeigt Rilkes Schluss eines Briefes an Picard vom 19. Mai 1921: Er übermittelt „[d]ie aufmerksamsten Grüße für Ihre Frau, deren Gesundheit sich in Italien hoffentlich recht befestigt hat, und Michelchen [gemeint ist Picards Sohn Michael, K. L.] den Auftrag, er möge mich nicht vergessen.“413 Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt erstreckt sich der freundschaftliche Austausch auch auf das Literarische. Rilke lobt Picards Werke: Neben einer positiven Erwähnung des Vortrags über Hinterglasmalerei414 zeigt sich Rilke – wenig verwunderlich – vor allem beeindruckt von Picards Der letzte Mensch, dem „Buch, dem ich die letzten Tage auf Berg fast ohne Unterbrechung – und in reiner Unterwerfung – gehört habe“415. Er schreibt: Daß und wie sehr Ihr Buch mich angeht, muß ich Ihnen das versichern? Es ist ein erstaunliches, ein unaufhaltsames, ein furchtbares Buch: als ich es erst, Seiten um Seiten, mir entgegenjagen sah, in einem Sturm, der aus einem schon eröffneten Jüngsten Gericht herüberblies, da ertrug ichs fast nicht länger, und immer fragte ich mich mit Sorge: wie wird er zu dieser Bewegung die Wind-Stille schaffen, (die doch irgendwann kommen mußte)?416

Was Rilke an dem Buch hervorhebt, ist freilich nicht dessen expressionistisch anmutende Seite, sein ästhetisch modernes, zwischen Groteske und Apokalypse schwanken410

Vgl. Rilke an Nanny Wunderly-Volkart, 6. Januar 1920 (ebenda, S. 86f.): „Heute kommen Picards zu mir; die Eltern des kleinen Vögelchens, das so schräge Grüßli hat, von denen ists tröstlicher zu erzählen. Aber dafür muß ich Athem holen. Die Frau war Ärztin, mußte den Beruf sein lassen, da sie krank wurde, – man sieht ihrs nicht an, sie ist jung, dunkel, der Typus gewisser pompejanischer Bilder: Frau, in der die schöne Matrone vorgebildet ist. Er (aus lauter Güte ebenfalls sein ärztliches Wissen nicht ausübend, weils ihm das Nicht-helfen-Können zu oft ins Bewußtsein stellte –) gebürtig aus Schopfheim im Badischen, nahe an Basel“. 411 Vgl. Rilke an Nanny Wunderly-Volkart, 30. Januar 1920, ebenda, S. 137. 412 Freud, Sigmund: „Lou Andreas Salomé“: in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Band 16. Werke aus den Jahren 1932–1939, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999 [1937], S. 270, hier: S. 270. 413 Rilke an Picard, 19. Mai 1921 (Rilke: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, S. 221). 414 Vgl. Koenig: Hinter den Kulissen eines Lebens, S. 209. 415 Rilke an Picard, 19. Mai 1921 (Rilke: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, S. 219). 416 Ebenda, S. 219f. Hervorhebung im Original.

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des Leiden am zivilisatorischen Fortschritt, das „furchtbare“, den „Sturm“ und das „schon eröffnete[.] Jüngste[.] Gericht“, sondern die Sehnsucht nach der „Wind-Stille“, die sich in der – auch ästhetisch – eher marginalen himmlischen Kosmologie ausdrückt: Und, ja, wie mächtig, wie gewaltig kam sie dann, in ihrer Art, in den Seiten von der SternenLinie: wirklich, die Stille zu diesem Sturm. Gott hat Sie unerhört mit Gnade überfallen in diesen wunderbaren Seiten, mein Lieber. Später, je mehr ichs bedachte, erkannte ich auch, wie wunderbar Andrang und Last des Buches getragen ist von den aufrecht hingestellten Neutralitäten (insofern Gott neutral ist) dieses Liebes-Gesprächs mit Veronika; hier ist seine Kunst, in der unerhört geheimen Vertheilung und Aufstellung dieser schlanken Säulen: durch sie wird das Buch proportioniert, sie sind wie die Maaßstriche in seinem leidenschaftlichen Verlauf –. Ich weiß, lieber Picard, daß Sie mir große Ehre erwiesen haben, in dem sie jene Zeilen aus dem Stundenbuch anführten, und, seltsam, eigentlich bevor ich den Abschluß las, der zu ihnen hinführt, dacht ich, schreckhaft, – wie lange, wie lange scheint es mir, daß dies geschrieben wurde!417

Ein beredter Mund weist hier darauf hin, dass die himmlische Kosmologie – und nicht nur im direkten Rilke-Zitat418 – symbolistische Einflüsse offenbart: Sternen-linien, Stille, Gott als „aufrecht hingestellte Neutralität“, Liebes-Gespräch und eine „unerhört geheime Vertheilung und Aufstellung dieser schlanken Säulen“ – eine prägnantere Aufzählung inzwischen zum Klischee erstarrter symbolistischer Motive (nicht umsonst erscheint es Rilke „lange [...], daß dies geschrieben wurde“) lässt sich kaum erstellen. Dass Rilke das Buch offenbar tatsächlich schätzte, zeigt die Bitte aus einem Brief vom 22. August 1921 an Nanny Wunderly-Volkart: „Wäre Ihr Exemplar [des Letzten Menschen, K. L.] für ein paar Wochen verfügbar, ich wollte daß Mme K. es läse –, und das meine ist mir noch nicht zurückgekommen.“419 Umgekehrt versichert Picard Rilke seiner Verehrung im Brief vom 13. Mai 1921 mit der Frage: „Und darf ich Sie auch darauf aufmerksam machen, daß Sie der einzige der heute Lebenden sind, den ich citiert habe?“420 Rilkes Anerkennung äußert sich jedoch nicht allein in der sozial wenig bedeutsamen Versicherung „reiner Unterwerfung“. Im Wissen um eine von Picard geplante ParisReise setzt er sich bei dem wichtigen und einflussreichen Freund André Gide für Picards Buch ein und erkundigt sich in einem Brief an Gide vom 10. Dezember 1921: Haben Sie ein Buch erhalten, das sich ‚Der letzte Mensch‘ betitelt? Darüber zu reden ist schwierig, mir wäre es lieb, Sie läsen es eines Tages. Obwohl es anklagt, beschwört es auch (und mit welcher Kraft!) – obwohl es erbarmungslos scheint, geschieht es aus einem Übermaß an Barm417

Ebenda, S. 220. Hervorhebung im Original. Das Rilke-Zitat wird von Picard weder einem Autor noch einem Werk zugewiesen, wie dies auch bei anderen Zitaten häufig geschieht; durch den vorangehenden Satz Picards nimmt es sich daher eher wie ein Gebet aus: „Wie lange, lange muß es her sein, daß bei den Menschen einmal einer betete: ‚O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod,/Das Sterben, das aus jenem Leben geht,/Darin er Liebe, Sinn und Not.“ (Picard: Der letzte Mensch, S. 90) Das Zitat stammt aus dem dritten Teil des Stundenbuches, dem Buch von der Armut und vom Tode (Rilke, Rainer Maria: Werke. Band I.1. Gedicht-Zyklen, hrsg. v. Rilke-Archiv, Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1966, S. 103). 419 Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, S. 542. 420 Picard an Rilke, 13. Mai 1921, zitiert nach der Kopie Rilkes, die er einem Brief an Nanny WunderlyVolkart vom 20. Mai 1921 beilegt: ebenda, S. 442f. 418

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

herzigkeit. Es ist ein Buch, das ein wenig Linie von Jean Paul und vor allem Matthias Claudius fortsetzt, die seither verlassen wurde (eine Richtung, die, wäre sie fortgesetzt worden, zu einem ganz anderen Deutschland geführt hätte).421

Gide nimmt diesen Hinweis zur Kenntnis und fragt seinerseits, ob er sein neuestes Buch – die Morceaux choisis – neben Kassner, George und Rilke selbst auch an Picard schicken solle: „(Und meinen Sie, daß es auch Herrn Picard interessieren würde?)“422 Zugleich vermeldet er aber auch: Nein, sein Buch habe ich nicht erhalten; aber was Sie mir über ihn sagen, ist dazu angetan, daß ich ihn sehr herzlich empfangen werde, wenn er nach Paris kommt. Ich mache sogleich Madame Mayrisch [Aline Mayrisch, Ehefrau des Stahlindustriellen Emil Mayrisch, die Gide und andere Intellektuelle förderte, K. L.] auf sein Buch aufmerksam.423

Gide bestätigt mit der Nachricht vom Nicht-Erhalt des Buches, was Rilke bei der Ankündigung des geplanten Paris-Besuchs Picards bereits angedeutet hatte: Ich erzähle Ihnen dies alles, weil Herr Picard die Absicht hatte, ein paar Tage in Paris zu verbringen. Man hatte ihm geraten, Ihnen sein letztes Buch zu schicken oder zu bringen, und ich habe ihn schlankweg dazu ermutigt. Ich betone: ermutigt –: denn er ist von der heiligen Schüchternheit jener, deren Mut sich auf ewig in einem großen inneren Kampfe aufbraucht.424

Rilkes Worte von der „heiligen Schüchternheit“ treffen wohl recht genau die Wirkung, die Picards Selbst-Inszenierung als Schriftsteller bei zahlreichen Zeitgenossen und Kollegen hervorrief. Offenbar nimmt Piard – auch wenn dies keineswegs als bewusste Entscheidung für eine absichtsvolle Inszenierung geschehen sein muss – die Klischees des ‚weltfernen Dichters‘ allzu wörtlich. Diesem Bild fügt sich auch ein 35 Jahre später entstandener Bericht Wilhelm Enzincks aus dem Schweizer Leben Picards ein: Immer trug er alte hohe Bergschuhe; Hose und Jacke hingen ihm formlos um den Körper. Wie ein Landstreicher bewegte er sich durch die schmalen Straßen von Caslano und Neggio, in den Bergen oder am Luganer See entlang, an dessen Ufern er fast sein ganzes Leben lang wohnte. [...] Schon seit Jahren einsamer Witwer, wurde er von Guiseppina, einer alten Tessiner Haushälterin, alle zwei Tage versorgt; oft aber hatte ich Gelegenheit zu sehen, welchen Anblick die moderne Küche bot, wenn sie einmal nicht hatte kommen können. Zwischen schmutzigen Tellern und Tassen lagen dann Manuskript- und Notizblätter auf der Chromspüle, die überall Flecken und Lachen aufzeigte von dem Kaffee, den er andauernd selbst auf italienische Art zubereitete, indem er ihn in einer kleinen Espressomaschine kochte und dann selbstverständlich überkochen ließ. Verirrte Brotkrusten oder ein halb ausgeschälter Räucherbückling gehörten ebenfalls zu den ständigen Elementen eines solchen Küchenstillebens. In seinen alten abgetragenen Kleidern 421

Rilke an Gide, 10. Dezember 1921 Rilke und Gide: Briefwechsel 1909–1926. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Renée Lang, S. 130. Dass Rilke auf Jean Paul hinweist, erweist ihn als Kenner nicht nur der Literatur, sondern insbesondere der literarischen Physiognomik: Vgl. zu Jean Pauls Kritik der Lavater’schen Physiognomik sowie zu seiner Entpuppungs- und ErlösungsMotivik oben Fussnote 171, S. 161 sowie Kap. 5.1, S. 178ff. 422 Gide an Rilke, 19. Dezember 1921 (ebenda, S. 131). 423 Gide an Rilke, 19. Dezember 1921 (ebenda). 424 Rilke an Gide, 10. Dezember 1921 (ebenda, S. 130).

Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen

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erschien Picard wie ein Baum in seiner Rinde; in seinem Einsiedlerhaushalt war er ganz er selbst, und diese Atmosphäre umgab ihn immer, auch wenn er in literarischen oder akademischen Kreisen erschien, um eine Lesung oder einen Vortrag zu halten. Auf dem Gebiet der Eleganz hatte er schon fast Übermenschliches geleistet, wenn seine Bergbauernschuhe unzweideutig geputzt waren, sein Oberhemd, wenn auch nicht gebügelt, so doch weiß und sauber war und seine Krawatte sich ordentlich gebunden gab und ihm nicht wie eine verwirrte Seilschlinge um den Hals hing.425

Wohlgemerkt: Das Bild vom „Landstreicher [...] in seinem Einsiedlerhaushalt“, dessen „Bergbauernschuhe unzweideutig geputzt“ sind und damit verraten, dass er der melancholischen Bedrohung durch die „verwirrte Seilschlinge um den Hals“ gerade mal wieder entgangen ist, ist keineswegs gleichbedeutend mit mangelndem sozialen Kapital oder gesellschaftlichem Außenseitertum. Höchst erfolgreiche Schriftsteller wie George oder Hofmannsthal ließen ja gerne (Selbst-)Bilder des weltentrückten Dichters zirkulieren; sie taten dies jedoch durch höchst eingreifende und sozial wie medial geschickte, durchaus weltzugewandte Inszenierungspraktiken426, während Picard offenbar seit seiner Übersiedlung ins Tessin und insbesondere nach dem Tod seiner Frau Margarethe (die 1927 sehr jung an einer seit langem festgestellten Tuberkulose-Erkrankung stirbt) dieses Bild zunehmend in Lebenswirklichkeit umsetzte. Eine Schilderung Rilkes gibt diesen Mangel an literarischer Selbstinszenierung wider, indem sie Bewunderung mit unterschwelliger Disqualifikation und Ausgrenzung mischt: [W]ir lieben ihn. Er ist das genaue Gegenteil eines Literaten, ja vielleicht ist er nicht einmal ein Schriftsteller. Es ist der leidende Mensch.427

Eine Anekdote, die Picards Schüchternheit und soziale Unbeholfenheit ebenso wie die freundschaftliche soziale (Be-)Förderung durch Rilke überliefert, gibt Hertha König – ebenfalls mit Rilke und Dora König bekannt, aber trotz der Namensgleichheit nicht mit letzterer verwandt – nach der Schilderung Picards wieder: In diesem Hause König bei Doras Eltern, sollte Picard damals jenen Vortrag über Hinterglasmalerei halten, den Rilke vor der ersten Begegnung erwähnt hatte. Er stand, so erzählte mir Picard, mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt, neben dem Lehnstuhl der alten Frau König. Er müsse vorgehen, drängte sie, alle geladenen Gäste seien versammelt und erwarteten seinen Vortrag. Max Picard aber sagte ein entschiedenes ‚Nein‘. Er gehe nicht. Es gab ein längeres Hin und Her. Da zog jemand die Luft durch die Nase und schnupperte. Der brenzliche [sic!] Geruch kam vom Ofen. Picard mußte sich umdrehen. In seine Hose war ein größeres Loch gebrannt. Sein entschiedenes ‚Nein‘ triumphierte. Plötzlich, so schilderte er, kam eine unbeschreiblich zarte Hand – wem sie gehörte, wußte er nicht; diese Hand strich langsam über seinen Ärmel hinüber 425

Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 190f. Vgl. Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1998; Blasberg: „Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik“. „Inszenierung“ impliziert hier nicht notwendigerweise eine kalkulierte Entscheidung, sondern einfach das Wirken zumeist unbewusster Dispositionen in der Begegnung mit der sozialen Wirklichkeit eines Feldes. 427 Rilke an Gide, 10. Dezember 1921 (Rilke und Gide: Briefwechsel 1909–1926, S. 130). 426

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und er – trotz seines ‚Ich gehe nicht‘ konnte nicht anders als diesem sanften Ziehen folgen – bis zum Podium hin. Und der Vortrag gelang. Es war Rilkes Hand gewesen.428

Beide Schilderungen zeigen deutlich, dass Picards „heilige Schüchternheit“ nicht allein auf der Ebene des sozialen Imaginären wirkte – dass sie höchst erfolgreich sein kann, zeigt sich ja auch an Rilke selbst –, sondern darüber hinaus in die sozialen Praktiken performativ hineinregierte.429 Und auch dass Picard die Zurückgezogenheit der Schweizer Berge immer seltener und höchst ungern verließ, dürfte nicht allein der schweren Krankheit seiner Frau Margarethe geschuldet sein, die wiederholt als Motiv für Picards Übersiedlung ins Tessin angegeben wird: „Einsiedler von Caslano und Neggio, wie er manchmal nach seinen beiden Wohnorten im schweizerischen Kanton Tessin genannt wurde“.430 Die sprechendsten Zeugnisse der zunehmenden sozialen und literarischen Marginalisierung Picards sind aber jene Briefe Rilkes, die er an andere enge Freunde schickt. In ihnen kommt eine Ambivalenz zwischen Zuneigung und herablassender Attitüde zum Ausdruck, die die Beziehung Rilkes zu Picard kennzeichnet. So schreibt er am 15. Januar 1918 an die Fürstin von Thurn und Taxis: „Mit Kassner zusammen ... sehe ich zuweilen einen Dr. Picard, den einfachsten, rührendsten Menschen von der Welt, der Ihnen gut gefallen würde“431. Und in dem bereits erwähnten Brief an Gide heisst es Ende 1921: Herr Max Picard (badischer Abstammung und Mediziner übrigens), ist der einfachste, der treuherzigste Mensch, den ich kenne. Kassner und ich bringen ihm eine zärtliche Hochachtung entgegen und mehr sogar: wir lieben ihn. Er ist das genaue Gegenteil eines Literaten, ja vielleicht ist er nicht einmal ein Schriftsteller. Es ist der leidende Mensch, und sein Leiden hat den Vorzug, daß es von einer furchtbaren Genauigkeit ist.432

Die Rede von der furchtbaren Genauigkeit des Picard’schen Leidens – die wohl auch auf die zurückliegende Lektüre des Letzten Menschen zurückgeht – erfasst dessen literarischen Anspruch und bringt die Poetologie des „grotesken Realismus“ im Sinne Bachtins bzw. das Kayser’sche „Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat“433 auf den Punkt. Hier spricht Rilke als literarischer Kritiker über Picard. Doch diese Ebene der Anerkennung von Literat zu Literat wird – das deuten die vorangehenden Sätze bereits an – zunehmend zurücktreten; was bleibt, ist die freundschaftliche Zuneigung zum „Menschen“, nicht jedoch zum „Schriftsteller“ oder gar „Literaten“ Max Picard. 428

Koenig: Hinter den Kulissen eines Lebens, S. 213. Auch Michael Picard schildert seinen Vater als schüchternen Menschen: „Er war zugleich zurückhaltend und scheu, eigentlich ein einsamer Mensch“ (aus einem mündlichen Vortrag, wiedergegeben in: Picard, Gabriel: „Mensch und Leben“, in: Picard, Max, Der alte Fluss. Über Zeit, Alter und Jenseits, herausgegeben von Gabriel Picard und Volker Mohr, Schaffhausen: Loco Verlag, 2007, S. 16). 430 Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 190. 431 Rilke an Gide, 10. Dezember 1921 (Rilke und Gide: Briefwechsel 1909–1926, S. 130f.). 432 Rilke an Gide, 10. Dezember 1921 (ebenda, S. 130). 433 Vgl. Kayser: Das Groteske, S. 198f. Hervorhebung K. L. 429

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Der Briefwechsel von 1926, eineinhalb Monate vor Rilkes Tod, bestätigt diese Einschätzung. Rilke schreibt darin in recht persönlichem Ton über das Leiden an seiner Krankheit – er litt seit 1923 an den Symptomen einer Leukämie, die allerdings erst im November 1926 diagnostiziert wurde: Mein lieber Max Picard, Ihr Brief hat mich zu Herzen angeredet: Sie haben vielleicht recht, auch ich empfinde es irgendwie als einen Irrthum, in dieser leidenden Lage anzustehen. Seit es mir, am Ausgang meiner Jünglingszeit, gelang, über die Nöthe einer überladenen Kindheit hinweg, zu meiner eigentlichen Natur mich zu beziehen, war ein eigenthümlich lebendiger Einklang hergestellt, der mich (unter anderem) ermächtigt hat, während mehr als zwanzig Jahren, in wieviel wechselnden Verhältnissen und Klimaten, ohne Arzt auszukommen.434

Rilke schildert Picard im weiteren das Zerbrechen eines „tief erprobten Einverständnis[ses]“ zwischen seinem Geist und seinem Körper. Während „alles, was mir in meiner Arbeit gelang, nicht aus einem einseitigen Auf- und Fortschwung im Geiste hervorgegangen ist, sondern aus einer unbeschreiblichen Zustimmung des Geistes zu meinem Körper, der ihn genau, so glücklich, so unerschöpflich bediente“435, hat die Krankheit dieser glücklichen Harmonie ein Ende bereitet: Niemand wird je erklären können, was dieses reine Ineinandergreifen meines Daseins hat verstören dürfen: soviel steht fest, daß ich Tag und Stunde nennen kann, da, von einem Augenblick zum andern, als ob ein Pakt abgelaufen sei, meine reinste Sicherheit mir gekündigt schien: plötzlich, im Ablauf einer einzigen Minute, war ich mit Allem, was ich bin, auf eine schiefe Ebene gestellt.436

Rilke schreibt „[d]as alles, im Vertrauen, Ihnen, dem Freund (und schließlich auch dem Arzt) auf seine treu besorgte Anfrage hin. Und alle herzlichsten Grüße!“437 – in einem Ton, der persönliche Vertrautheit ausdrückt; doch es ist der „leidende Mensch“ – „sein ärztliches Wissen nicht ausübend, weils ihm das Nicht-helfen-Können zu oft ins Bewußtsein stellte“438 –, der hier adressiert wird, nicht der Schriftsteller-Kollege. Auch wenn zu bedenken ist, dass Rilke sich infolge des nahenden Todes zunehmend auf persönliche Dinge und seltener auf Literatur bezieht – die persönliche übertrifft auch hier die literarische Wertschätzung bei weitem. Was auch deswegen kaum verwundert, weil Picard seit dem Letzten Menschen keine literarischen Produktionen mehr verfasst hat. Dass Rilkes Wertschätzung eher dem „Menschen“ als dem Schriftsteller Picard galt und ihm die gelegentlich einfältige, in der Außendarstellung ungeschickte Art Picards als der intellektuellen ‚Größe‘ abträglich erschien, deutet sich schon in einer Schilderung aus dem Brief vom 6. Januar 1920 an Nanny Wunderly-Volkart an. Darin zieht er eine Parallele zwischen Picards äußerer Erscheinung, dem Eindruck, den seine Selbst434

Rilke an Picard, 12. November 1926 Rilke: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, S. 513. 435 Rilke an Picard, 12. November 1926 (ebenda). 436 Rilke an Picard, 12. November 1926 (ebenda). 437 Rilke an Picard, 12. November 1926 (ebenda, S. 514). 438 Rilke an Wunderly-Volkart, 6. Januar 1920 (Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, S. 86f.).

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Inszenierung hinterlässt, und seiner Stellung im literarischen Feld. In einer physiognomisch-poetischen, aber vielleicht umso treffenderen Form bündelt er die Empfindungen für Picard, die zwischen Bewunderung und Verächtlichmachung seiner heilig-einfältigen Person – oder genauer: „Nebenperson“ – schwanken: ein großes fast großartiges Haupt auf einen kurzen einfältigen Körper gestellt –: die Figur, nicht eines Heiligen, aber gleichsam einer Nebenperson aus einer heiligen Legende: ein kleines Männchen, aus Herzholz gemacht, außen kindlich bemalt und innen wahrscheinlich vergoldet.439

Es bleibt dennoch festzuhalten, dass eine literarische Wertschätzung Picards durch Rilke bis 1921 sehr wohl bestanden hat und Rilke sich für Picard – etwa bei Gide – einsetzte.440 Profit hat Picard aus diesem sozialen Kapital jedoch kaum geschlagen. Projektive Identifikationen. Max Picard und Rudolf Kassner Eine wichtige Bekanntschaft, die ebenfalls auf die Zugehörigkeit zum Münchner Kreis um Rilke zurückgeht, entwickelt sich zwischen Picard und Rudolf Kassner. Die beiden lernen sich Ende 1917 durch die Vermittlung Rilkes kennen,441 der dadurch entstehende Kontakt wird bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand haben. Doch trägt die Beziehung zwischen Picard und Kassner zunehmend ambivalente Züge, die sich insbesondere in der späteren Phase zu zuweilen recht bösartigen und abfälligen Äußerungen über den jeweils anderen verdichten. Darin machen sie sich gegenseitig den Vorwurf einer nicht-literarischen Gesichtslektüre und damit eines Rückfalls in die Lavater’sche Physiognomik. Dass es sich dabei jedoch um einen wechselseitigen Vorwurf handelt, dürfte nicht allein ein Hinweis auf die Gefahren der physiognomischen Versuchung sein, sondern auch ein Indiz dafür, dass Picard und Kassner als die beiden wichtigsten literarischen Physiognomiker der Zeit in einem sozialen Konkurrenzverhältnis standen. Kassner und Rilke kennen sich bereits seit 1907, doch stellt die Münchner Zeit zwischen 1915 und 1918 die wohl engste Phase ihrer Freundschaft dar. Zahlreiche Kritiker haben in Kassner Rilkes engsten männlichen Vertrauten gesehen und sich dabei auf Rilke selbst gestützt. Dieser beschreibt den zwei Jahre älteren Schriftsteller-Kollegen in einem Brief an Lou Andreas-Salomé als „eigentlich der einzige Mann, mit dem ich etwas anzufangen weiß, – vielleicht besser so: der einzige, dem es einfällt, aus dem Weiblichen in mir ein klein wenig Nutzen zu ziehn“442. Dabei gehen literarischer und 439

Rilke an Wunderly-Volkart, 6. Januar 1920 (ebenda, S. 87). So ist auch die oft zitierte Widmung des 1923 in Muzot verfassten Gedichtes Für Max Picard an den Freund als Beweis einer persönlichen wie literarischen Wertschätzung zu interpretieren. 441 Vgl. Picard, Max: „Erinnerungen an München 1917“, in: Alphons Clemens Kensik und Daniel Bodmer (Hrsg.), Rudolf Kassner zum achtzigsten Geburtstag. Gedenkbuch, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1953, S. 78–80, hier: S. 78ff.; Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 199. 442 Rilke an Lou Andreas-Salomé, 7. Februar 1912, in: Rilke, Rainer Maria: Briefe. Erster Band. 1897–1914, Wiesbaden: Insel Verlag, 1950, S. 356. Dass diese Zuneigung Rilkes einem (versteckten) homoerotischen Begehren von Seiten Kassners antwortet – wie Claudia Schmölders es vermu440

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persönlicher Austausch Hand in Hand: Klaus E. Bohnenkamp weist nach, wie sich in Rilkes Briefen die Sprache, in der er Kassners literarische Produktion beschreibt, mit derjenigen deckt, die die Freundschaft der beiden in Worte fasst.443 Der in Selbstzweifel sich kleidende Rilke hebt den Eindruck von Stabilität und Selbstgewissheit hervor, den die Person Kassners wie seine Schriften auf ihn ausüben.444 In der Tat sind es wohl die Gegensätze, die Kassner und Rilke aneinander binden: Sowohl die beeindruckende Selbstkontrolle, die körperliche Strenge und Beherrschtheit Kassners445 – in der sich das Leiden an einer frühen PoliomyelitisErkrankung und am Niedergang vertrauter gesellschaftlicher Ordnungen zugleich artikulieren und nach innen verlagern –, als auch Rilkes ostentativ inszenierter Zweifel an der eigenen Identität sind nicht nur von Picard, sondern auch von zahlreichen Zeitgenossen bezeugt und dürfen daher als sozial objektivierte Tatsachen der (inszenierten) gesellschaftlichen Wirklichkeit gelten. Die Dreierkonstellation Rilke-Kassner-Picard gibt nun eine neue Facette des sozialen Verhaltens- und Beziehungsspektrums Picards zu erkennen. Er nimmt eine Zwischenstellung zwischen beiden ein: Entspricht einerseits seine in größeren öffentlichen Gruppen an den Tag gelegte „heilige Schüchternheit“ (Rilke) eher der Außenwirkung, wie sie Rilke ausübte, so wird andererseits mehrfach berichtet, dass er im kleinen Kreis durchaus zu einem recht harschen, selbstgewissen und entschiedenen Auftreten neigen konnte.446 Auch Picards Werk zeichnet sich ja nicht allein durch ein zurückhaltendes tet (vgl. Schmölders, Claudia: „Physiognomik des Sohnes. Rudolf Kassner, eher psychoanalytisch betrachtet“, in: Gerhard Neumann und Ulrich Ott (Hrsg.), Rudolf Kassner. Physiognomik als Wissensform, Freiburg: Rombach, 1999, S. 163–193) – ist Spekulation. 443 Vgl. Bohnenkamp, Klaus E. (Hrsg.): Rainer Maria Rilke und Rudolf Kassner. Freunde im Gespräch. Briefe und Dokumente, Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag, 1997, S. 34. Auch in den frühen Briefen Rilkes an Picard finden sich in Rilkes Darstellung der Persönlichkeit Picards literarische Spuren der Bücher über religiöse Malerei (Mittelalterliche Holzfiguren, Expressionistische Bauernmalerei) oder des Letzten Menschen, so etwa in der Beschreibung als „kleines Männchen, aus Herzholz gemacht, außen kindlich bemalt und innen wahrscheinlich vergoldet“ oder als „der leidende Mensch [...] von einer furchtbaren Genauigkeit“. 444 Vgl. den Brief von Rilke an Lou Andreas-Salomé, 7. Februar 1912, in: Rilke: Briefe. Erster Band. 1897–1914, S. 357: „[D]aß alle Widerstände ihm in einer Hemmung zusammentreffen: das verschafft ihm eine Konzentration und eine Beruhigtheit, es kann ihn, sozusagen, nichts vom Rücken anfallen“. 445 Picard berichtet im Gedenkbuch zu Kassners 80. Geburtstag von ihrer ersten Begegnung: „Als ich Rudolf Kassner zum ersten Mal in seiner Wohnung an der Herschelstraße sah, vergaß ich ganz und gar, daß er Bücher geschrieben habe. Das war ein mediatisierter Fürst aus der Zeit von 1806, aber einer, der sich die Entthronung selber befohlen und der sie nur angenommen hatte, weil er sie sich selber befohlen hatte.“ (Picard: „Erinnerungen an München 1917“, S. 80) Und Rilke sieht Kassner ähnlich als „mit einer Überlegenheit ausgestattet, die den Anschein von Überhebung nicht völlig vermeiden kann“ (Rilke an Eva Cassirer, 2. Januar 1914, in: Bohnenkamp (Hrsg.), Rainer Maria Rilke und Rudolf Kassner, S. 67). 446 So schildert Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, Picard einerseits als „die Arme am Leib herabhängend, in der Haltung des Hilflosen und auch ein wenig des Schuldigen“, als „der

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Urteil aus: Ohne einer Theorie der direkten Entsprechung von Werk und Autor das Wort zu reden, sei darauf hingewiesen, dass Der letzte Mensch zwischen apokalyptischer Entscheidungs-Gewalt und einer eigentümlichen Selbst-Rücknahme des Urteils schwankt. Dieser psychologisierende bis physiognomisierende Umweg mag hilfreich sein, um die Ambivalenz der Bekanntschaft zwischen Kassner und Picard zu ergründen. Aus ihrer Frühzeit sind nur wenige Zeugnisse erhalten, wie etwa der Gruß Picards an Kassner, den er Rilke in einem Brief aus dem Mai 1921 mitgibt447, oder Rilkes Ankündigung an Picard vom 19. 5. 1921, „daß ich Kassner dort [in Böhmen, wohin Rilke zu reisen erwägt, K. L.], bei unseren gemeinsamen Freunden [...] wiedersehen werde“448. 1927 widmet Kassner Picard die Buchfassung der Hochzeit zwischen Himmel und Hölle449, eines Werkes, das er für besonders gelungen hielt und bei dessen Niederschrift er „fort an ihn [den kurz zuvor verstorbenen Rilke, K. L.] gedacht habe“450. Dass zwischen Picard und Kassner dennoch eine recht enge, über eine lose Bekanntschaft hinausgehende Verbundenheit bestanden hat, lässt sich aus späteren Rückblicken schließen – und zwar am evidentesten ex negativo, aus Zeugnissen wie Picards Ausspruch in einem Gespräch aus den späten vierziger Jahren mit Willem Enzinck, der Picard kurz nach dem 2. Weltkrieg kennenlernt: „Ich mag ihn [Kassner, K. L.] nicht mehr.“451 Das „nicht mehr“ verrät eine Enttäuschung, die wohl aus einer ehemals bestehenden Zuneigung herrührt. Aus den zumeist rückblickenden Äußerungen Kassners und Picards gegenüber Dritten lässt sich ein Konkurrenzverhältnis rekonstruieren, in dem die anfängliche wechselseitige Sympathie, die sich aus Wohlwollen des Älteren für den Jüngeren und dessen Bewunderung für den arrivierten „Fürst[en]“ und „souveräne[n] Schriftsteller“452 speist, mehr und mehr durch ein Konkurrenzverhältnis und entsprechende Abgrenzungsversuche, ja gegenseitige Disqualifikationen, abgelöst wird. Weder Kassner noch Picard scheuen dabei vor abfälligen Bemerkungen über den jeweils anderen zurück, die von thematischer Kritik bis zur persönlichen Beleidigung reichen: So mokiert sich Kassner über Picards kulturhistorischen Relativismus, seinen kleine Mann, den ich mir aufgrund eines Porträtfotos so viel größer vorgestellt hatte“ (ebenda, S. 194), doch erwähnt er andererseits auch „eine Naturgewalt aus den tiefsten Schichten des menschlichen Vulkans, der Max Picard gelegentlich auch sein konnte“ (ebenda, S. 203). 447 „Grüßen Sie den Herrn Kassner, ich hatte im Sinn, im Juni wenigstens für 8 Tage nach Wien zu kommen, vielleicht hätte ich Sie dann in Wien gesehen, aber ich bringe die Energie für die Reise nach Wien wohl nicht mehr auf, so gerne ich Sie gesehen hätte.“ (Picard an Rilke, Mai 1921, zitiert nach der Kopie Rilkes, die er einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 26. Mai 1921 beilegt, in: Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, S. 460) 448 Rilke an Picard, 19. Mai 1921 (Rilke: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, S. 220). 449 zuerst in: Frankfurter Zeitung, 6., 8. und 9. März 1927. 450 Kassner an die Fürstin Bismarck, zit. n. Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 199. 451 Ebenda, S. 201. Hervorhebung im Original. 452 Picard: „Erinnerungen an München 1917“, S. 80.

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Versuch, die Geschichte aus kulturellen Epocheneinheiten zu konstruieren und gleichzeitig zu überschreiten. Neben dieser inhaltlichen Kritik findet sich auch eine abwertende Beurteilung des literarischen Stils. So wirft Kassner Picard vor, dass dieser manchmal „mit höchster dichterischer Potenz [schreibe], andererseits sei seine Sprache von einer gewissen Neigung zum Schnörkel bedroht“.453 Und geradezu herablassend klingt es, wenn sich Kassner in einem Gespräch mit Enzinck im Rückblick äußert über die anfänglichen Selbstzweifel des literarisch ‚Jüngeren‘ sowie über seine naive Äußerung des Wunsches, schriftstellerische Anerkennung zu finden: Max Picard! wiederholte Kassner, – er hatte damals in der Münchener Zeit ein paar Bücher veröffentlicht über expressionistische Bauernmalerei und mittelalterliche Holzfiguren. Ich weiß noch, wie er auf einem gemeinsamen Spaziergang stehenblieb und mich fragte: – glauben Sie, daß ich einmal ein großer Schriftsteller werde?454

Enzinck fügt denn auch hinzu: „Inzwischen hat er es wohl ziemlich weit in dieser Richtung gebracht! meinte ich auf diese Erinnerung, die mir doch leicht boshaft vorkam, antworten zu müssen.“455 Umgekehrt spart auch Picard nicht mit Kritik und zuweilen bösartigen Kommentaren. Enzinck merkt an: Was mir [...] auffiel, [...] war eine gewisse Zurückhaltung, ein Mangel an spontaner Äußerung, zu der Picard, zwar anders als Kassner, aber genau so intensiv, grundsätzlich imstande war. Von Picard aus kam es eigentlich nie zu einem richtigen Gespräch über Kassner, so wie das bei Letzterem wohl der Fall hinsichtlich Picards war.456

Als es dann doch einmal zu einem Gespräch mit Picard über Kassner, „dem peinlichsten Gespräch, das ich je mit Picard geführt habe“457, kommt, diagnostiziert Picard bei Kassner „ein Manko in der Mitte des Menschen“458, ja mehr noch: „Kassner ist lieblos, er ist ein Mensch ohne Liebe, ohne jede wirkliche Beziehung zum Mitmenschen.“459 Dieses harte persönliche Urteil wirkt sich auch auf die Kritik des literarischen Verdienstes aus: Kassner habe „einige sehr schöne Bücher geschrieben [...], ‚Buch der Erinnerung‘ und ‚Umgang der Jahre‘, aber in seinen anderen, letzteren, da ist das wie ein Gebirge, von dem man die Spitzen abrasiert hat, es sind nur Spitzen, aber das Massiv fehlt“460. Das Gespräch mit Enzinck endet in einem heftigen Gefühlsausbruch Picards: Enzinck konfrontiert ihn mit dem Vorwurf, seine Schilderung Kassners entbehre selbst der Liebe. 453

Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 199. Ebenda. 455 Ebenda. 456 Ebenda, S. 200. 457 Ebenda. 458 Ebenda, S. 201. 459 Ebenda, S. 202. 460 Ebenda. 454

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Ich zitiere einen der schönsten Sätze eines Schriftstellers namens Max Picard: ‚Der Mensch darf den Menschen nur erkennen, wenn der Erkennende für den Erkannten die Liebe bereit hält.‘ Ihr Urteil stimmt nicht mit diesem Anspruch überein.461

Daraufhin reagiert Picard sehr emotional: Ja! ja! schrie er laut und schrill, mit der geballten Faust gestikulierend. – Ja, und nochmals ja, da haben Sie recht, aber was kann ich machen, Sie haben recht, da versage ich! – Nach diesem fast wilden Ausbruch kam mir seine Gestalt auf einmal noch kleiner vor, als sie war, und als ob er diesen meinen Eindruck intuitiv registrierte, stahl er sich schnell und linkisch in die Küche462.

Was hier zum Ausdruck – oder besser: zum Ausbruch – kommt, ist wohl nicht nur auf die charakterliche Ambivalenz der Beziehung zurückzuführen. In die anfängliche freundschaftliche oder zumindest wohlwollende Beziehung zwischen dem literarisch Arrivierten und dem Neuling mischt sich zunehmend ein Konkurrenzverhältnis, in das Picard und Kassner als die beiden wohl wichtigsten literarischen Physiognomiker geraten. Beide gefallen sich in der Eigen- und Fremdbeschreibung als visionäre ‚Seher‘ von Gesichte(r)n – und dieser ja traditionell mit Exklusivität erhobene Anspruch muss fast zwangsläufig zu einer Abgrenzung gegenüber dem anderen führen. Diese Abgrenzung erfolgt zum einen als inhaltliche Differenzierung: Während Kassners Sehertum die Einbildungskraft ins Zentrum rückt und deren Freiheit auf sein berühmtes Paradoxon gründet, werden Picards Gesichte(r) immer stärker von einer Sehnsucht nach religiös-metaphysischer Geborgenheit getragen, was ihn – laut Kassner – dazu verleitet, „daß er in seinen Büchern das Wort Gott zu oft einsetzte“463. Doch in dieser divergierenden thematischen Positionierung schlägt sich auch eine (homologe) soziale Konkurrenz nieder. In die zuweilen aggressive gegenseitige Diffamierung spielt noch etwas hinein – ein Vorgang, den man psychoanalytisch beschreiben könnte als eine projektive Identifikation, die ungelöste Selbstwidersprüche der eigenen physiognomisch-literarischen Praxis abspaltet und auf den anderen projiziert. Darauf deutet schon die scharfsinnige Bemerkung Enzincks hin, dass es dem Menschenkenner Picard an Liebe mangele. In diesem Vorwurf schwingt ein Dilemma mit, das schon Lavater zum Verhängnis wurde: Als „Kunst zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe“464 angetreten, wird die physiognomische Methode schon bald von seinen Kritikern bloßgestellt als ein zutiefst misanthropisches Unternehmen. Was die Physiognomik unter dem Deckmantel der Menschenliebe betreibt, stellt sich performativ als Stillstellung und Verurteilung, ja Verdammung, Mortifizierung und sadistisches Sezieren der angeblich geliebten Objekte dar.465 461

Ebenda. Ebenda. 463 Ebenda, S. 199. 464 So lautet bekanntermaßen der volle Titel seiner Physiognomischen Fragmente. 465 Darauf haben nicht erst heutige Kritiker der Physiognomik (wie Martin Blankenburg, Willibald Sauerländer oder Claudia Schmölders) hingewiesen, sondern höchst gekonnt bereits Lichtenberg, Jean Paul u. a. 462

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Und noch ein zweites physiognomisches Dilemma wird in der Auseinandersetzung zwischen Picard und Kassner als projektive Identifikation ‚verarbeitet‘: Beide erheben den Anspruch, die falschen Eindeutigkeiten und Gewissheiten der Lavater’schen Physiognomik zu überwinden – am entschiedensten geschieht dies in Kassners Postulat von der Freiheit der menschlichen Einbildungskraft und seinem „große[n] Paradox jeder Physiognomik, daß der Mensch nur so sei, wie er aussehe, weil er nicht so aussieht, wie er ist“466. Doch wie Claudia Schmölders konstatiert, klaffen paradoxer Anspruch und praktische Umsetzung der physiognomischen Deutung bei Kassner weit auseinander. Denn seltsam genug wird das physiognomische Paradox zwar häufig zitiert, aber nie eingelöst. Ich habe nur eine einzige Menschenbeschreibung gefunden, in der ausdrücklich ein ‚Verbrechergesicht‘ von einem sanften Charakter falsifiziert wird. In aller Regel sieht Kassner das Innenleben der Figur im Äußeren ohne Widerspruch; und die wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel David Hume und Edward Gibbon, die häßlich aussehen, aber ein imposantes Lebenswerk hinterlassen, werden nach kurzer Überlegung auch im Werk für häßlich gehalten. [...] Der Lehrsatz vom Paradoxen der menschlichen Erscheinung steht unvermittelt zwischen hochgespannter Poetik und krudester physiognomischer Praxis [...]. Auch Kassners Arbeit bleibt vielmehr Gedächtniskunst, ars memoriae. Alles, was er zu den abgebildeten Personen [...] sagt, ist schon bekannt, soll nur sichtbarlich memoriert werden statt im Buchstabensumpf zu verschwinden. Aber das merkt er nicht.467

Was Claudia Schmölders hier für Kassner konstatiert, lässt sich auch auf Picard übertragen: Ein ganz ähnlicher Widerspruch zwischen Anspruch und Praxis findet sich nämlich in Picards physiognomischen Schriften, etwa dem Menschengesicht. Dort heißt es einerseits: ‚Wer Physiognomik studieren will, studiere die Zusammenschicklichkeit der konstituierenden Gesichtsteile... Alles ist länglich, wenn es der Kopf ist. Alles runder, wenn dieser rund ist‘, sagt Lavater. Das ist falsch. Alles kann länglich sein, wenn es der Kopf ist, aber es braucht nicht so zu sein. Die Gestalt des Menschen ist gebaut nicht nur nach dem Prinzip der Entsprechung, sondern: zwischen die Entsprechung hinein stellt sich oft ein Überraschendes468.

Wird damit das Lavater’sche (Ver-)Sprechen einer buchstäblichen Gesichtslektüre gebrochen, das sich auf die Entsprechung von Außen und Innen, körperlichen, seelischen und heilsgeschichtlichen Veranlagungen beruft, so veranschaulicht das Beispiel des Gesichts Cäsars andererseits – trotz aller literarischer Transformationsarbeit – die perfekte Entsprechung von äußerer Form, biographischem Werdegang und historischer Mission: 466

Kassner: Zahl und Gesicht, S. 16. Schmölders: „Die konservative Passion. Über Rudolf Kassner, den Physiognomiker“, S. 1137f. „Ihren Gipfel erreicht die argumentative Inkonsequenz dort, wo Kassner die Idee des Paradoxen im Begriff der Rasse auflöst. Zwar könne man sich häßliche Individuen mit schönem Geist vorstellen, nicht aber eine ganze Rasse. ‚Je mehr ein Volk Volk, eine Rasse Rasse ist, um so näher ist es dem Geheimnis der Identität, um so glücklicher ist es‘, konnte man 1919 bei ihm lesen.“ (ebenda, S. 1138) 468 Picard: Das Menschengesicht, S. 64. Hervorhebungen im Original. 467

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Das Profil bewegte sich nicht heftiger in die äußere Welt, als dem Maß an Welt entsprach, das schon im Gesicht war. Und so war Cäsars Leben wie sein Gesicht: Cäsar ging nicht weiter in die äußere Welt hinaus, als sie zuvor in ihn hineingegangen war.“469

Generell seien [d]ie Profile der römischen Männer der Republik [...] wie abgesteckte Linien, von denen der Vorstoß in die Welt beginnt. Wie Angriffe auf die Welt sind sie, wie Kriegsmaschinen, mit denen die Welt angegriffen werden soll, stehen manche Gesichter da. [...] Diese Gesichter haben nicht nur die Macht, die Erde in ihr Imperium zu zwingen, sie sind das römische Imperium selber, das Maß des Imperiums ist in ihnen.470

Wie Kassner beim Physiognomieren sein eigenes Postulat von der Freiheit der Einbildungskraft unterläuft, verliert sich in Picards Cäsar-Lektüre mehr und mehr das Mögliche und Überraschende, das sich „zwischen die Entsprechung hinein stellt“. Aber das merkt auch er nicht! Diese Verblendung der beiden Seher ist vielleicht so „seltsam“ nicht – immerhin geht nicht nur das (Ver-)Sprechen der physiognomischen „Menschenliebe“, sondern auch das der physiognomischen Freiheit auf Lavater zurück.471 Jedenfalls steht bei Picard und Kassner der mangelnden Selbstreflexion eine recht scharfe und aufmerksame Wahrnehmung der Verblendung des jeweils anderen gegenüber. In seiner Physiognomik, die drei Jahre nach Picards Das Menschengesicht und wie diese im DelphinVerlag erscheint, bemängelt Kassner Picards zu statische Aufteilung des Gesichts in Profil- und Frontalgesicht: Max Picard findet allgemeiner, zu allgemein vielleicht, wenn auch in der schönsten Sprache, im Profil die Bewegung, das Schreiten unseres Wesens auf der Bahn des Lebens gleichsam, während für ihn die Frontalansicht die Station bedeute, auf der wir halten, das Sein, das Halt oder, wie man das nennen will, was da in unser Werden oder in unsere Bewegung einschneidet. In beiden Interpretationen scheint mir eines nicht genügend berücksichtigt: das Dialektische des Geistes, das sich von selbst versteht dort, wo Geist eine autonome Welt oder überhaupt eine Welt bedeutet und mehr als ein Mittel oder eine Vermittlung zwischen uns und den Gegenständen unserer Sinneswahrnehmungen, Gefühle usw. So ist mancher Mensch erst im Profil zu sich selbst, zur Ruhe gekommen, friedvoll, ja demütig, während seine Frontalansicht unruhig, gestört, gereizt, aufgerissen erscheint. Es liegt hier die Umkehrung des von Picard fixierten Verhältnisses vor.472

Und in diesem Sinne kritisiert er Picards ‚Cäsar-Lektüre‘ – mit dem Seitenhieb, dass Picard höchst naiv dem idealisierenden Trug einer künstlerischen Praxis aufgesessen sei: Max Picard rühmt an der Büste Julius Caesars im Konservatorenpalast den sanften Übergang vom Profil zur Frontalansicht. Dazu ist zu sagen, daß jener Künstler, der den Kopf des großen 469

Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 57f. 471 Hatte Lavater doch die Freiheit zur Veränderung und zur Besserung des Menschen nicht nur postuliert, sondern mit der Einbindung der Bonnet’schen Lehre von den „präformierten“, aber doch entwicklungsfähigen „Keimen“ in seinen Fragmenten auch theoretisch zu begründen versucht. 472 Kassner, Rudolf: Physiognomik, München: Delphin-Verlag, 1932, S. 109. 470

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Menschen aus dem Marmor hieb, diesen Übergang, dieses Gleiten von den Büsten der Götter her hatte und daß es darum der ganzen antiken Skulptur geläufig geworden war und sich als eines der Mittel der Idealisierung oder Divinisierung des Menschlichen erwies.473

Eine solche kurzsichtige Verwechslung einer kulturellen Form mit einer vermeintlichen Natur stellt den wohl schlimmsten Faux-pas einer jeden Lavater-kritischen oder literarischen Physiognomik dar.474 Besonders pikant aber ist, dass Kassner Cäsar in der Auseinandersetzung mit Picard als Beispiel für eine „von Grund aus unfanatische Seele“475 deutet. Deren hervorstechendes Merkmal ist die Tendenz, (nur) sich selbst im anderen zu sehen: Sah er [Cäsar, K. L.] sich darum im anderen, was wir soeben als das Zeichen einer unfanatischen Seele angegeben haben? Wir kennen schon den Wunsch, den er in jenem Briefe an Cicero ausspricht: sich selber gleich bleiben. Vielleicht ist das der Ausdruck des vollkommenen Tatmenschen dafür, daß er sich im anderen sehe, und hat dieser keinen anderen und kann ihn nicht haben.476

Cäsars projektive Identifikation, „daß er sich im anderen sehe“, sowie sein beschränkter und Freiheit verunmöglichender Wunsch nach Selbst-Identität – „sich selber gleich bleiben“ – bilden das genaue Gegenteil dessen, was einen physiognomischen Seher im Sinne Kassners auszeichnet – ein geistiges Armutszeugnis, das bei genauer Lektüre des Gesamtzusammenhangs auch auf den Seher Cäsars zurückfallen muss, auf Picard! Noch deutlicher wird freilich Picard. Im Gespräch mit Enzinck wirft er Kassner vor, „ohne jede wirkliche Beziehung zum Mitmenschen [zu sein]“477. Auch Picard reiht Kassner in die Reihe der physiognomisch Verblendeten ein, bezichtigt ihn der projektiven Identifikation, der gewaltsamen Unterwerfung menschlicher Objekte unter seine Regeln sowie der physiognomischen Freiheitsberaubung: „Er vergleicht die Bilder vom Menschen, die er hatte, mit dem jetzigen Zustand. Wenn’s stimmt, ist für ihn alles in Ordnung, aber er erlaubt dem Menschen nicht, er selbst zu sein.“478 Diese Äußerungen sprechen eine deutliche Sprache, die auf ein über persönliche Differenzen hinausgehendes literarisches Konkurrenzverhältnis weist. Hatte Picard aus der Beziehung zu Rilke sozial nicht profitieren können und wurde er von diesem immer weniger als Literat ernstgenommen, so scheiterte seine Verbindung zu Kassner möglicherweise aus entgegengesetzten Gründen: Die Konkurrenz der beiden um die Vormacht im Feld der literarischen Physiognomik führte dazu, dass sie sich vielleicht ein wenig zu ernst nahmen. 473

Ebenda, S. 113f. Bekanntlich geht auch diese Verwechslung auf Lavater zurück; Lichtenberg nutzte sie dankbar für seine ebenso beißend-vernichtende wie ironische Kritik an Lavater. Vgl. hierzu Sauerländer, Willibald: „Überlegungen zu dem Thema Lavater und die Kunstgeschichte“, in: Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, VIII. Jg. (1989), S. 15–30. 475 Kassner: Physiognomik, S. 114. 476 Ebenda. 477 Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 202. 478 Ebenda. 474

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Verbindungs-Linien. Max Picard und Wilhelm Hausenstein Eine für Picard sehr wichtige Begegnung findet 1918 in München bei Alexander von Bernus, dem recht eigenwilligen Dichter, Alchimisten, Erben und Goethe-Nachfahren,479 am Rande eines Vortrags von Picard über Bauernmalerei statt.480 Bei diesem Anlass lernt Picard den Schriftsteller und Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein kennen, der ebenfalls zum Rilke-Kassner-Kreis gehört und mit Rilke 1914 über die Malerin Lou Albert-Lasard bekannt geworden war. Zwischen Picard und Hausenstein entsteht eine enge Freundschaft, die bis zu Hausensteins Tode währt und wohl die langandauerndste und beständigste unter Picards persönlichen Bekanntschaften ist.481 Sie ist belegt durch eine große Anzahl von Briefen; im Nachlass Hausensteins finden sich 127 Briefe von ihm an Picard (der die meisten Briefe allerdings nicht aufgehoben hat) und 1326 Briefe von Picard an Hausenstein; sie stammen aus der Zeit von 1918 bis 1957.482 Die Briefe Hausensteins an Picard sind neben den Briefen an Gattin, Tochter und Benno Reifenberg die intimsten. Die beiden Freunde pflegen einen temperamentvollen Gedankenaustausch, der von gesundheitlichen Ratschlägen über wirtschaftliche und politische Debatten bis zu ästhetischen, philosophischen und theologischen Problemen reicht483.

Es finden sich jedoch – mit einer wichtigen Ausnahme – kaum Hinweise darauf, dass aus der engen Freundschaft auch eine Förderung Picards durch Hausenstein erfolgt – immerhin hat dieser sich 1918 bereits einen Namen als Kunstschriftsteller gemacht. Er verfügt über gute Kontakte zur Frankfurter Zeitung und den Münchner Neuesten Nachrichten, zum Forum und zu den Weissen Blättern, mit dessen Herausgeber René Schickele er befreundet ist. Ein Versuch Hausensteins, Picard eine dieser Verbindungen zugute kommen zu lassen, lässt sich allerdings aus einem Brief Rilkes an Nanny WunderlyVolkart vom 22. August 1921 rekonstruieren: Darin berichtet er erzürnt von der Ablehnung einer Rezension Hausensteins für die Frankfurter Zeitung und fügt dem Brief eine Kopie des ablehnenden Schreibens bei: 479

Der Kreis um Rilke unterhielt mehrere Bekanntschaften zu Gestalten aus Kreisen des Okkultismus, wie etwa zu Alexander Schuler. Vgl. Bohnenkamp (Hrsg.), Rainer Maria Rilke und Rudolf Kassner, S. 112. 480 Vgl. Sulzer, Dieter: Der Nachlaß Wilhelm Hausensteins. Ein Bericht. Mit einem unveröffentlichten Essay, Briefen und einer Erinnerung von Paul Frank, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, 1982, S. 15. 481 Vgl. zur Beziehung Picard-Hausenstein auch Werner, Johannes: Wilhelm Hausenstein. Ein Lebenslauf, München: Iudicium Verlag, 2005. Hausenstein ist es auch, der die – wissenschaftlich eher mit Vorsicht zu genießende, weil recht undistanzierte – Festschrift zu Picards 70. Geburtstag als Herausgeber vorbereitet (Hausenstein und Reifenberg (Hrsg.): Max Picard zum siebzigsten Geburtstag); sie wird nach Hausensteins Tod 1957 von Benno Reifenberg fertiggestellt. 482 Vgl. Sulzer: Der Nachlaß Wilhelm Hausensteins, S. 50, 81, 88. 483 Ebenda, S. 50.

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[D]ieses schrieb, Sie werdens errathen, ein Redakteur der Frankfurter Zeitung an Wilhelm Hausenstein, der eine, offenbar sehr schätzende Abhandlung über Picard’s Letzten Menschen diesem Blatt angeboten hatte.484

An Rilkes wütender Reaktion jedenfalls zeigt sich erneut seine Wertschätzung des Letzten Menschen: Kann man einem Buch blinderes Unrecht thun, – dies, dies, dieses Schrein, dies Entsetzen eines Anschauenden, das alles andere ist als ‚müde‘, für das ‚müde Bekenntnis eines Aestheten‘ zu nehmen!? Das geht so weit weg von der Wirklichkeit, daß man meint, es könne nicht ehrlich sein, sondern nur eine Form, eine rathlose Form der Ausrede. Und diese optimistische Fürsorge einer Zeitung! Und hinter allem doch eine Art schlechtes Gewissen und der Verdacht, das nun schlechtgemachte Buch, könne am Ende doch stärker sein, als alles ‚Vertuschen‘ und alle Vorsicht! Das schrieb ich auch P., hinter diesem Verschweigen seines Buches stünde das Eingeständnis von dessen Macht und die Furcht zuletzt vor seinem unabwendlichen fürchterlichen Rechthaben.485

Darüber, ob die Ablehnung seiner Rezension Hausensteins zukünftiges Engagement für Picard negativ beeinflusste, lässt sich nur spekulieren. Erst viel später lassen sich zwei Veröffentlichungen Picards in der Frankfurter Zeitung nachweisen: 1930 ein Text über „Das zerfallende Objekt“ 486, der im Wesentlichen Thesen aus dem Menschengesicht wiederholt sowie 1931 eine Verurteilung der Graphologie487. Hausenstein selbst wird ebenfalls erst 1930 das Versäumte nachholen und einen lobenden Beitrag über Picard in einer einflussreichen Zeitschrift publizieren, der Neuen Rundschau.488 Von Bedeutung für Picard ist jedoch das kunstkritische Werk Hausensteins. Dabei ist der persönliche wie fachliche Austausch mit Hausenstein gerade auch deswegen interessant, weil sich dessen Positionen politisch in vielerlei Hinsicht von denen Picards unterscheiden. Eine Nähe in kunstkritischer Hinsicht besteht zwischen Picard und Hausenstein schon, bevor sie sich persönlich begegnen: Beide betreiben Kunstkritik als literarische Praxis, als ‚Kunstschriftstellerei‘, die sich dem akademischen Zugriff auf Kunstwerke verweigert und die Tradition einer künstlerisch-poetischen Wiedergabe bzw. eines dichterischen Nachempfindens von Bildkunst wiederbeleben möchte. Als junge, avantgardistisch auftretende (und oft der aktuellen Avantgarde im Bereich der Bildkunst nahestehende) Bewegung tritt die Kunstschriftstellerei, zu deren bedeutendsten frühen Protagonisten neben den Schlegel-Brüdern Autoren wie Goethe, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Ludwig Tieck gehören, seit dem frühen 19. Jahrhundert mit dem Anspruch auf, das Feld der Kunstkritik gegen die akademische Tradition zu revolutio484

Rilke an Nanny Wunderly-Volkart, 22. August 1921, Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, S. 542. Ebenda. 486 Vgl. den Wiederabdruck Picard, Max: „Das zerfallende Objekt“: in: Ders., Wie der letzte Teller eines Akrobaten. Eine Auswahl aus dem Werk, Sigmaringen: Thorbecke, 1988 [1930]. 487 Picard, Max: „Graphologie“, in: Frankfurter Zeitung, März 1931. 488 Vgl. Hausenstein, Wilhelm: „Max Picard“, in: Die neue Rundschau, XXXXI. Jg. (1930), Nr. 10, S. 574–576. 485

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

nieren. Ihre Attribute (Anti-Akademismus, Homologie zur Entwicklung im Feld der Kunst, (partielle) Negation vorangehender Kunsttheorie und -kritik, Anknüpfen an frühere, ‚vergessene‘ Klassiker) weisen sie als Avantgarde im Sinne Bourdieus aus. Die Kunstschriftstellerei beruft sich auf das Schlegel’sche Diktum, nach dem Poesie [...] nur durch Poesie kritisiert werden [kann]. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch seine schöne Form, [...] hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst489.

Hausenstein ist wie Picard erst auf Umwegen zur Kunst gekommen, hat jedoch nach Abschluss seines Jurastudiums auch Kunstgeschichte studiert. Und seine Kunstschriften gewinnen recht schnell Anerkennung: Die bildende Kunst der Gegenwart, die vor allem den Anspruch der Vermittlung moderner Kunst an Bevölkerungsschichten jenseits der einschlägigen Kunst-Kreise erhebt, wird zwischen 1914 und 1923 dreimal aufgelegt, sein 1919 erstmals erschienenes Über Expressionismus in der Malerei erscheint 1920 bereits in sechster Auflage. Hausenstein gehört zudem zu den ersten, die für Reinhard Pipers neugegründeten Münchner Verlag schreiben, und profitiert nun seinerseits von diesem Kontakt und dem raschen Erfolg der kunstkritischen Reihe bei Piper, in der 1916 ja auch Picards Das Ende des Impressionismus erschienen ist. In die soziologische und ökonomiehistorische Ausrichtung der Hausenstein’schen Kunsttheorie fließt auch sein politisches Engagement ein: Eifriger Verfechter der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, kündigt er 1919 die seit 1907 bestehende Mitgliedschaft in der SPD und sieht sich selbst „auf dem Sprung, Kommunist zu werden“490. Die zu dieser Zeit bereits bestehende Freundschaft zu Hausenstein ist damit ein weiterer Beleg dafür, dass Picard trotz seines in den Werken immer wieder anklingenden politischen Konservativismus in der politischen Gemengelage der Zeit durchaus auch Kontakte zu sozialistischen oder kommunistischen, zuweilen sogar revolutionär gesinnten Kreisen unterhält (1914 war sein Aufsatz über „Individuum und Organisation“ in den Sozialistischen Monatsheften erschienen, die politisch der gemäßigten sozialistischen Position des Revisionismus nahestanden; Wolfensteins Erhebung zielt dagegen politisch in eine revolutionäre sozialistische Richtung).491 Hausensteins Position innerhalb der Kunstkritik zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Außer durch die literarisch verfahrende kunstschriftstellerische Darstellung unterscheidet er sich auch durch die Hinwendung zu den modernen Strömungen der Gegen489

Schlegel, Friedrich: „Kritische Fragmente“, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Abt. 1. Kritische Neuausgabe. Bd. 2. Charakteristiken und Kritiken, Paderborn: Schöningh, 1967 [1797], S. 147–164, hier: S. 162. Für die frühe Kunstschriftstellerei ist hier mitzubedenken, dass die beschränkten Möglichkeiten der graphischen Reproduktion von vorbildlichen Kunstwerken den Weg über das – künstlerische – Wort gewissermaßen zur Notwendigkeit machten, um das ästhetische Urteil medial zu vermitteln. 490 zit. n. Sulzer: Der Nachlaß Wilhelm Hausensteins, S. 15. 491 Auch später wird er etwa die christlich-marxistische Philosophin Simone Weil als „heiligmäßige Gestalt“ (Buchmayr, Friedrich: „Max Picard und das ‚apokalyptische‘ Denken“, in: Stimmen der Zeit, 213. Jg. (1995), Nr. 11, S. 782–784, hier: S. 783) verehren.

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wartsmalerei und den Anspruch, diese kunstpolitisch zu befördern, vom akademischen Mainstream der Kunstkritik. Beide – Kunstschriftstellerei und Moderne-Befürwortung – gehen u. a. auf die Bekanntschaft mit dem bis 1910 einflussreichsten Kunstkritiker, Julius Meier-Graefe, zurück; anders als dieser vollzieht Hausenstein jedoch auch noch den Schritt vom Impressionismus zum Expressionismus mit. Bemerkenswert ist vor allem Hausensteins kunst- und stilsoziologisches Interesse, in dem sich auch seine politische Orientierung artikuliert. Zwar setzt er, wie viele andere Zeitgenossen, mit einer formanalytischen Bestimmung des Einzelkunstwerks ein. Er geht jedoch weit darüber hinaus und strebt eine theoretische Historisierung und Soziologisierung des Kunstwerks an, die nicht bei den gesellschaftlichen Vorbedingungen des Kunstschaffens stehenbleibt, sondern auch das Kunstwerk selbst als soziale Praxis begreift: „Indem er den Reflex sozialer Bedingungen im Kunstwerk selbst aufsuchte, betrat er mit einer Stil- bzw. Formsoziologie, die er auch theoretisch fundieren wollte, Neuland.“492 Mit dem äußerst progressiven Vorhaben einer wirtschaftsgeschichtlich und kulturhistorisch informierten Soziologie der Kunststile – dem er erstmals 1908 in seinem Buch Der Bauern-Bruegel nachgeht – ist er seinen Zeitgenossen voraus und kritisiert etwa Worringers Ansatz einer „Kunstwissenschaft als Menschheitspsychologie“493 als Ideologie. Hausensteins Kunstsoziologie verdiente eine eingehendere Betrachtung: Insbesondere seine Berücksichtigung des in der Kunst ausgetragenen „Kampfes“ und die historisch relativierende Stilsoziologie nehmen Probleme vorweg, wie sie Bourdieu formuliert hat. So heißt es im Vorwort zur Bildenden Kunst der Gegenwart, die in der von Karl Lamprecht494 herausgegebenen Sammlung Das Weltbild der Gegenwart erscheint: „Im Hintergrund spielen polemische Energien mit: man lebt in einer Zeit, in der gekämpft wird, in einer Zeit, in der man mit Dingen, mit Personen und mit sich selber streitet“495. Und im ersten Kapitel „Das historische Gesichtsfeld der Gegenwart“ schildert Hausenstein den auch von Bourdieu analysierten Prozess der Avantgardebildung als eine zunehmende Ausdifferenzierung des Stils, die zu einer „Reinigung des Feldes“ von externen Einflüssen führt: „Die Kunst der letzten Epoche ist die Katastrophe des Naturalismus und der Sieg des Stils“496. Doch in konsequenter Historisierung nimmt Hausenstein diese Formel zugleich wieder zurück, „weil die Begriffe Naturalismus und Stil in ihren historischen Verkörperungen immer sehr relativ sind“497. Zugleich erinnert er daran, dass das Spiel der künstlerischen Differenzen erst durch den Willen zur kunstkritischen Distinktion als Stil-System konstruiert wird: 492

Sulzer: Der Nachlaß Wilhelm Hausensteins, S. 55. Worringer, Wilhelm: Formprobleme der Gotik, München: Piper, 1911, S. 10. 494 Zu Lamprecht ausführlich unten S. 314ff. 495 Hausenstein, Wilhelm: Die bildende Kunst der Gegenwart. Malerei. Plastik. Zeichnung, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 2. Aufl., 1920 [1914], S. IX. 496 Ebenda, S. 1. 497 Ebenda. 493

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Picards Gesichte im Kontext des literarischen Feldes

Je mehr wir geschichtlich vom Impressionismus abrücken, desto weniger empfinden wir die naturalistischen Elemente, die er enthielt, und desto mehr empfinden wir zuzeiten den abstrakten und tätigen Stilgedanken, den das impressionistische ‚Farbenkomma‘, die impressionistische Fleckenmalerei gebracht hat.498

Bei aller soziologischen und historischen Relativierung klingt jedoch in Hausensteins Kunstkritik eine Suche nach dem Transzendenten an, nach einer religiösen Versicherung, die das Politische in sich aufnimmt: Wie Picard gelten daher auch ihm die Kunst des Mittelalters als Vorbild sowie die Klassiker der ruhigen Linie: [...] Wir lieben sie, weil ihre wundervolle Gelassenheit einem ausschließlich ans Malerische gewöhnten Zeitalter ein uraltes und edles, aber lange vergessenes Mittel künstlerischer Vergeistigung, künstlerischer Abstraktion wiederbrachte – den Strahl der Linie.499

Diese expressionistisch beeinflusste Suche nach religiöser Transzendenz – auch Picard schätzte ja den „Strahl“ der ‚(Sternen-)Linie‘ und seine Ruhe – verbindet Picard und Hausenstein über ihre zunächst unterschiedlichen politischen Einstellungen hinweg: Während Picard der Demokratie skeptisch bis ablehnend begegnet, ist Hausenstein trotz seiner konservativ anmutenden Liebe zu den „Klassikern der ruhigen Linie“ auch in religiösen Dingen eifriger Vertreter einer sozialistischen Fortschrittsidee. Die lässt ihn „an die Möglichkeit einer neuen Religiosität in der Kunst [...] glauben, ohne daß wir deshalb an der Zukunft der Demokratie verzweifeln müßten. Noch immer waren Religionen und Stile das Gedicht der Gesamtheit, nicht der Einzelnen.“500 Letzteren kommt aber die Aufgabe einer Avantgarde zu, deren Funktion Hausenstein zwischen einem Bürger’schen und einem Bourdieu’schen Avantgardeverständnis ansiedelt: Das religiöse Weltbild der Zukunft wird heute nur dem Künstler zur Ahnung, nicht dem Volk. [...] Dichtungen sind Dichtungen; sie laufen vor dem Zeitalter einher, durch das sie bestimmt sind, und finden voraus ihre Gläubigen.501

Die zunehmende Wendung hin zum Religiösen geht bei Hausenstein schließlich einher mit der Abkehr von Expressionismus, Revolution und Sozialismus und endet bei ihm 1940 ebenfalls mit dem Übertritt zum Katholizismus (im Unterschied zu Picard vom Protestantismus, nicht vom Judentum).502 Festzuhalten bleibt, dass die Beziehung PicardHausenstein sich im Gegensatz zu den Kontakten mit Rilke und Kassner mit zuneh498

Ebenda. Ebenda, S. 16. 500 Ebenda, S. 23. 501 Ebenda. Hervorhebung K. L. 502 Hausensteins Weg führt – auch in der Zeit des Nationalsozialismus – nicht ins Ausland; er gerät allerdings mehrfach in Auseinandersetzung mit dem Regime; so etwa als er sich weigert, jüdische Künstler aus seiner Kunstgeschichte zu tilgen, und daraufhin 1936 aus der „Reichsschrifttumskammer“ ausgeschlossen wird, oder als seine Frau Margot als Jüdin ausgewiesen werden soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg beruft Adenauer Hausenstein 1950 zum Generalkonsul und später zum ersten Botschafter der BRD in Paris. 499

Gesichte im Kontext (IV). Picards Verbindungen zu Institutionen und Gruppen

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mender Länge persönlich wie thematisch intensiviert; insbesondere in der ersten Phase ergeben sich jedoch auch aus der Freundschaft zu Hausenstein keine sozialen Vorteile für Picard, die ihm Zutritt zu verlegerischen Institutionen oder Zeitungen verschaffen.

6 Austauschverhältnisse. Picard zwischen den drei Kulturen

Sowohl Picards kunstkritische als auch seine im engeren Sinne literarischen Frühschriften stehen nicht nur im Austausch mit den Kontexten des literarischen Feldes. In ihnen zirkulieren – wie in anderen Werken der expressionistischen und modernen Avantgarden – auch Diskurse und Praktiken literaturexterner Wissensfelder. Der Weg vom Text des Letzten Menschen hin zu seinen Kon-Texten und sozialen Praktiken soll daher nun in einem weiteren und letzten Schritt – nach der Analyse der Texturen und Poetologien, der thematischen Kontexte sowie der sozialen Beziehungen – über das literarische Feld hinausführen und die Horizonte von Soziologie, Kulturgeschichte und Historismus (Kap. 6.1) sowie der Medizin, Rassenhygiene und Schönheitschirurgie (Kap. 6.2) erkunden. Dabei wird sich zeigen, dass Austauschbeziehungen zwischen jenen Disziplinen, die den theoretisch-methodischen Rahmen meiner Arbeit bilden – Soziologie, Geschichtswissenschaft und Literatur –, auch auf der Ebene des historischen Gegenstandes eine eminent wichtige Rolle zukommt: Die zeitgenössischen Versuche, ein neues Geschichtsbild zu entwerfen und Geschichte zu verlebendigen, die im Spannungsfeld zwischen ‚altem Historismus‘ und den aufkommenden Sozial- und Kulturwissenschaften unternommen werden, werfen ein Licht auch auf Picards Schriften. Im Rückgriff auf literarische Metaphern und Figuren aus den Lebenswissenschaften (wie die Figuren des Körpers oder des Gesichts) soll der Geschichte buchstäblich ein ‚Gesicht‘ gegeben werden. Von Picards Werk aus lassen sich Spuren verfolgen, die seine Position als die eines Literaten im Schnittpunkt der „drei Kulturen“ erweisen. Unter diesem Begriff hat Wolf Lepenies – in Erweiterung des C. P. Snow’schen Konzepts der „zwei Kulturen“1 – die historischen Verlaufslinien nachgezeichnet, denen die Herausbildung der Sozialwissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert folgte. Sein Modell lässt sich sowohl mit Bourdieus Feld-Theorie als auch mit Greenblatts Rede von der „Zirkulation sozialer Energie“ verbinden. Dabei betreibt Lepenies nicht nur selbst Soziologie als eine literarische Praxis. Er leitet diese methodische Position auch historisch ab als eine Option, die in den Auseinandersetzungen und akademischen Kämpfen der Weimarer Zeit wur1

Snow, Charles Percy: The two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press, 1960.

Körpergeschichten

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zelt, in der „prekäre[n] Situation der Soziologie als einer Art ‚dritter Kultur‘ zwischen den Naturwissenschaften auf der einen, den Geisteswissenschaften und der Literatur auf der anderen Seite“2. Der Umstand, dass die Sozialwissenschaften in eine „Deutungskonkurrenz“ hineingeboren werden, prägt ihre Entstehung und Entwicklung und führt zu ihrem „Schwanken zwischen einer szientifistischen Orientierung, die auf eine Nachahmung der Naturwissenschaften hinausläuft, und einer hermeneutischen Einstellung, die das Fach in die Nähe zur Literatur rückt.“3 Insbesondere die geschichts- und sozialwissenschaftlichen Entwicklungen der Kulturgeschichte, des Kulturprotestantismus und der Historismuskritik, sowie seine Verbindungen zum und Tätigkeiten im naturwissenschaftlichen Feld der Medizin weisen Picard als Denker aus, der zwar gegen die modernen Entwicklungen opponiert, dies jedoch – wenn auch nicht durchgehend – auf der Höhe und in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Reflexion.

6.1 Körpergeschichten. Die Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft bei Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht Die Positionierung der Sozialwissenschaft als einer „dritten Kultur“ zwischen Literatur und (Natur-)Wissenschaft verläuft über Prozesse der Felddifferenzierung, die der entstehenden Soziologie eine relative Autonomie verschaffen; ein Netz von Anleihen, Abgrenzungen, Bündnissen und Feindschaften ermöglicht die allmähliche Errichtung einer Grenzlinie, die der Soziologie ein eigenes ‚Gesicht‘ verleiht. 4 Die Abgrenzungsdynamiken produzieren dabei nicht nur Trennungen zwischen den Wissenstraditionen der Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaft, sondern auch innerhalb dieser drei ‚Wissenschaftskulturen‘. Zugleich verlaufen die nach innen und nach außen zielenden Differenzierungsprozesse über Praktiken und Strategien, in denen die performative Wirkung der Positionsnahmen oft quer zu ihren emphatischen Aussagen liegt. Feindschaft und subtile Bewunderung gehen Hand in Hand, und Versuche vernichtender Kritik und Ablehnung stärken oft die Positionierungsversuche der Gegner: „In Deutschland beförderten die Anti-Soziologen die Soziologie, und die Soziologen selbst gehörten zu den schärfsten Kritikern ihrer Disziplin.“5 Es ist die politische und soziale Rückständigkeit Deutschlands, die in Verbindung mit wissenschaftshistorischen Eigenwegen zu einer spezifischen Konstellation führt: Neben der aufsteigenden Naturwissenschaft – an der sich etwa in Frankreich die Soziologie vornehmlich orientiert – behaupten die historischen Wissenschaften und die Geis2 3 4 5

Lepenies: Die drei Kulturen, S. IX. Ebenda, S. I. Nicht umsonst erfreut sich das Gesicht auch als soziologische Metapher großer Beliebtheit. Lepenies: Die drei Kulturen, S. 310.

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Austauschverhältnisse. Picard zwischen den drei Kulturen

tesgeschichte im Kaiserreich eine besonders einflussreiche Stellung im wissenspolitischen Gefüge. Dabei erschwerten die starke Orientierung der Historiographie an Rankes Schule, ihre Privilegierung der Politischen Geschichte sowie ihre (verehrende) Darstellung von Geschichte als individuelle Groß-Taten einzelner Personen ein Bündnis von Historischer Wissenschaft und Soziologie gegenüber den Naturwissenschaften. Aber auch die dritte gewichtige Wissenstradition, die lebensphilosophische Geistesgeschichte – die in ihrer gegen die exakten Methoden der Naturwissenschaften gerichteten antiszientistischen Haltung als Verbündete und Erbin, durchaus aber auch als Gegnerin der vom Neukantianismus beeinflussten Ranke-Schule auftritt – erblickt in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen eher einen Gegner, dem der naturwissenschaftliche Stallgeruch des Exakten und Statistischen anhaftet. So kommt es, dass in Deutschland die Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen durch eine ausgesprochen schroffe Konfrontation vorangetrieben wird. Keinesfalls verhinderte die oft sehr polemische Auseinandersetzung jedoch, dass es zu geheimen Korrespondenzen kam; die Vertreter soziologischer Disziplinen ebenso wie ihre Widersacher aus Wissenschaft, Literatur und Bildkunst waren in Deutschland, nicht anders als in Frankreich, durch eine Deutungs-Konkurrenz verbunden – diese war aufgrund der spezifischen Konstellation lediglich gezwungen, durch sublimere Kanäle zu verlaufen, und dadurch in ihrer Widersprüchlichkeit besonders frappierend. Beispiele hierfür sind etwa die Ansprüche des George-Kreises, in seiner ostentativ zur Schau gestellten Weltabgewandtheit und Asozialität zugleich prophetische Wirkung in der Gesellschaft zu erlangen.6 Umgekehrt können bei einem aufgeklärten Soziologien wie Max Weber nicht nur die George’schen Gedichte durchaus aufschlussreich sein; auch die Selbstinszenierung des George-Kreises als weltfremde Elite lässt sich in soziologische Erkenntnis übersetzen, wenn Weber „darauf hin [weist], daß die George’sche Lyrik die ihr adäquate soziale Umwelt in der modernen Großstadt fand und deren Produkt war.“7 So findet George direkte Erwähnung in Webers Ausführungen zur charismatischen Herrschaft und zum 6

7

„Der Schriftsteller als Diener seiner Gesellschaft: das war die Verneinung der geistigen Freiheit, in einer Zeit da die ‚Gesellschaft‘ nicht mehr der Träger des Geistes, nicht mehr ein [sic!] von einem ‚Gott‘, einer einheitlichen Grundkraft, durchwaltete leibhafte Weltordnung war, sondern ein Netz von Beziehungen, Zwecken und Interessen. Die sogenannte ‚Mechanisierung‘ ist das Zurücktreten der Götter aus der Zeit.“ (Gundolf, Friedrich: George, Berlin: Georg Bondi, 1920, S. 4) Die moderne, mit den rationalen Wissenschaften assoziierte Netz-Metapher verdeutlicht, wie das antiwissenschaftliche und anti-soziologische Pathos des George-Kreises sich schließlich selbst performativ unterläuft. Gerade in der Vehemenz der Ablehnung manifestiert sich eine Macht sozialer Konkurrenzkämpfe, die auch die Sprache der Georgianer durchdringt: Der Gegensatz von mythisch-geheimnisvoll anmutender, einheitlich „durchwaltete[r] leibhafte[r] Weltordnung“ und dem rational geprägten Netz von Beziehungen, Zwecken und Interessen speist sich aus einem Diskursfeld, das das Ringen um die Sozialwissenschaften und ihre Errungenschaften bereits in sich aufgenommen hat. Der Anti-Soziologe spricht eine „Sprache, deren Pathos die Nähe zu den Befunden der Soziologen nicht verbergen konnte“ (Lepenies: Die drei Kulturen, S. 314). Lepenies: Die drei Kulturen, S. 346.

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„reinen Charisma“, das gerade in der programmatischen Unwirtschaftlichkeit seine Basis in einer wirtschaftlichen Voraussetzung, dem Rentnertum, hat, bei dem „die Enthebung aus den Wirtschaftskämpfen durch Begrenzung der im eigentlichen Sinn Berufenen auf ‚wirtschaftlich Unabhängige‘ (also: Rentner) als das Normale gilt (so im Kreise Stefan Georges, wenigstens der primären Absicht nach).“8 Die Entwicklung der Soziologie zur eigenständigen Disziplin vollzieht eine entscheidende Wendung, als sie sich mit Simmel für die geisteswissenschaftlichen Ansätze der Lebensphilosophie und damit auch für die Literatur öffnet. Beide bereichern die Soziologie durch die Fähigkeit eines ‚impressionistischen‘ Verstehens, einer Vertiefung ins Detail, durch die kritische Haltung zur Rationalität, die auch aufgeklärte Denker wie Weber beeinflusst, und durch die Aufmerksamkeit für das Veränderliche und Prozessuale des gesellschaftlichen Lebens, das durch literarische Verfahren nicht nur verfälscht, sondern auch als widerständige und unnahbare Wirklichkeit sichtbar gemacht werden kann. Von einer eigenständigen „Dritten Kultur“ lässt sich wohl erst sprechen, als die Sozialwissenschaft die geisteswissenschaftlichen und rationalistischen Traditionen, Lebensphilosophie und Naturwissenschaft, so zu verbinden vermag, dass aus ihnen etwas Neues entsteht, das sich nicht unter das naturwissenschaftliche oder geistesgeschichtliche Paradigma unterordnen lässt. Der Weg bis dahin ist gekennzeichnet durch ein Schwanken zwischen fragmentarischer, analysierender Beobachtung und der Suche nach vereinheitlichender Sinnstiftung und Kultur-Synthese, wie es sich in der vielbeschworenen Rede von der ‚Krise des Historismus‘ verdichtet. Und ebendiese Krise des Historismus hat sich auch dem Picard’schen Frühwerk eingeprägt: Mit Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht rezipiert er drei ihrer wichtigsten und innovativsten Theoretiker. Picards Austauschbeziehungen mit den Sozialwissenschaften zeigen sich am deutlichsten in seinen kunstkritischen Schriften. So wird etwa in Das Ende des Impressionismus die Entstehung des Impressionismus als eine Reaktionsbildung auf ein sozialund wirtschaftshistorisches Manko gefasst: „Der Mensch dieser Zeit konnte seine Arbeitsleistung nicht auswirken sehen. Er sah sie verschwinden in dem unübersehbaren Gewirr der Arbeitszergliederung.“9 Deutlich zeigt sich hier der Einfluss soziologischer Zeitanalysen, wie sie etwa Simmel und Émile Durkheim entwickelt hatten: In seiner Philosophie des Geldes hatte Simmel die zunehmende Differenzierung der Vergesellschaftungsformen für eine Selbst-Entfremdung des Menschen verantwortlich gemacht, die über die rein geistigen (Hegel) bzw. ökonomischen (Marx) Entfremdungsprozesse noch hinausgehend eine umfassende Entfremdung diagnostiziert. Simmel sieht insbesondere die „Arbeitsteilung als Ursache für 8 9

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1956 [1921], S. 142. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 29.

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das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“10 und versteht darunter das Zurückbleiben der Erfassung, Verarbeitung und Beherrschung menschlicher Kultur (der „Vergegenständlichung des Geistes“) hinter den in ihr produzierten Erzeugnissen: [D]ie Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen11.

Phänomene wie die Kunst des Impressionismus reagieren – so zumindest die soziologische Perspektive – auf dieses „Auseinandertreten“ und verschaffen so dem von seinen Arbeitsprodukten entfremdeten Menschen ein als integral empfundenes Erlebnis von Arbeit. Dieses Erlebnis täuscht ihn jedoch über die gesellschaftlichen Zustände hinweg, verbleibt in der Kunstsphäre und wirkt nicht in die Gesellschaft hinein. Gerade darin erweist sich die Kunst auch für Picard als Teil des Problems, nicht als dessen Lösung: Diese Zeit, die mit Endergebnissen überschüttet wurde, war froh, wenigstens vor einem Gemälde sich an der Entstehung eines Ereignisses abarbeiten zu dürfen. Hier durfte man doch endlich auch den ganzen Ablauf eines Vorgangs erleben. Man sollte meinen: Nach diesem umschlossenen Erlebnis vor der Kunst müßte der Mensch dieser Zeit gegen eine Gesellschaftsordnung rebellieren, die das Erlebnis seiner Arbeit fragmentierte. Aber diese Zeit war ja froh, daß sie mit der Arbeit nicht fest verknüpft war; sie wollte überhaupt mit nichts fest verknüpft sein.12

Anders als Picards abfällige Rede über den „Repräsentant[en] der impressionistischen Philosophie Simmel“13 suggeriert, blieb dieser aber keineswegs bei der affirmativen Analyse einer zunehmenden Komplexität, Verallgemeinerung und individuellen Freiheit bei gleichzeitig wachsender sozialer Abhängigkeit und Bindungslosigkeit stehen. Vielmehr sah auch Simmel in der durch das allgemeine Geldäquivalent beförderten Bindungslosigkeit und der Beliebigkeit der Werte eine „Tragödie der Kultur“14 heraufziehen.

Ernst Troeltsch und die „Krise des Historismus“ Verfolgt man im Sinne des New Historicism die Spuren der Zirkulation von Wissen über die vermeintlich undurchlässigen Mauern sozialer Felder hinweg, so zeigt sich, dass der Einfluss kultursoziologischer und -historischer Ansätze auf Picards Schriften sich nicht allein auf die Rezeption Simmels und nicht allein auf die Darstellung einzelner Phänomene wie der Arbeitsteilung oder des modernen Großstadtlebens beschränkt. 10 11 12 13 14

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Berlin: Duncker & Humblot, 1900, S. 502. Ebenda, S. 505. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 29. Picard: „Expressionismus. Ein Vortrag“, S. 335. Simmel, Georg: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“: in: Georg Simmel, Philosophische Kultur, Leipzig: Alfred Kröner Verlag, 1919 [1911], S. 223–253.

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Das Welt-, Menschen- und Geschichtsbild, das Picards „Weltanschauungsphysiognomik“ (Sloterdijk) trägt, verdankt wichtige Impulse den zeitgenössischen Versuchen, die Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive neu auszurichten. Insbesondere die Suche nach Einheit und Sinn in der Geschichte bzw. ihren historischen Epochen ist ein Problem, das von seinen frühen Schriften bis in spätere Werke immer wieder auftritt und um das seine Ausführungen wiederholt kreisen. Am präzisesten bezeichnet das um 1920 äußerst schillernde Schlagwort von der ‚Krise des Historismus‘ dieses geheime Zentrum des Picard’schen Schreibens; und der Ausdruck weist zugleich auf den Geschichtstheoretiker hin, aus dessen Wirken Picard wichtige Elemente seines Geschichtsbildes bezieht: Ernst Troeltsch, der als Professor für Systematische Theologie in Heidelberg unterrichtet und bei dem Picard zwischen 1912 und 1914 Vorlesungen besucht.15 Für Troeltsch äußert sich die „Krise des Historismus“ in zwei Dimensionen: Das „Scheltwort des Historismus“16 markiert zum einen die in der fachinternen wie außeruniversitären Öffentlichkeit grassierende Skepsis und Ablehnung gegenüber einer an rationalen Methoden und positivistischen Techniken ausgerichteten historischen Wissenschaft – „die allgemeine heutige Rebellion gegen die Wissenschaft überhaupt [...], in der sich die Enttäuschung einer leidenden, dem intellektuellen Fortschritt nicht mehr trauenden Menschheit Luft machte“17. Zum anderen aber ist auch die fachspezifische Diskussion in eine Krise geraten: Die vom Historismus ausgelöste strenge Historisierung des Wissens um die geschichtlichen Geschehnisse und Entwicklungen löst das historische Denken aus den überzeitlichen Gewissheiten metaphysischer Welterklärung. Die Geschichtsschreibung wird modern, indem sie sich aus dem Zugriff anderer (theologischer und philosophischer) Disziplinen befreit und sich zu einer autonomen Wissenschaft ausdifferenziert: Nur geschichtliche Phänomene können Geschichte erklären. Der Historismus bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten [...]. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstliche 15

16 17

Als Überblick zu Troeltsch: Graf, Friedrich Wilhelm: „Einleitung“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Ernst Troeltschs ‚Historismus‘, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 9–22; Hübinger, Gangolf: „Ernst Troeltsch – Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft, 30. Jg. (2004), Nr. 2, S. 189–219. Troeltsch, Ernst: „Die Krisis des Historismus“, in: Die neue Rundschau, XXXIII. Jg. (1922), Nr. 6, S. 572–590, hier: S. 572. Ebenda, S. 572f.

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Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet.18

Für Troeltsch sind diese moderne Autonomiegewinnung der Geschichtswissenschaft und das von ihr vermittelte vernunftorientierte Weltbild Errungenschaften, hinter die es nicht zurückzufallen gilt. Die Auseinandersetzung mit ihrer „Krisis“ oder dem „Problem“, das sie darstellen, kann nur von ihr ausgehend stattfinden. Doch worin besteht dieses „Problem“? Troeltsch entwickelt seine Darstellung aus den Folgen, welche der aufgeklärte Bruch mit dem metaphysischen Geschichtsdenken nach sich zieht. Die bereits angeklungene Metapher des „Werdens-Flusses“ aufnehmend, konstruiert er ein modernes Weltbild, in dem die Vervielfachung der historischen Bezüge den Zusammenhalt der Phänomene und Dinge untereinander nicht verstärkt, sondern auflöst und in dem sich der Mensch – wie bei Picard – einem „Welt-Chaos“ gegenüber sieht, angesichts dessen er die Orientierung zu verlieren droht. Wo der Weltbezug früheren Zeiten als verlässlich erschien, erweist er sich in der Moderne nicht nur als kontingent und zeitlich begrenzt, sondern auch als historische illusio: Das geistige Leben ist nicht mehr Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, [...] sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden. Das sind dann die jeweiligen größeren oder kleineren individuellen historischen Gebilde, die sich der geschichtlichen Selbsterkenntnis mit so viel Liebe und Hingebung als Mutterboden des eigenen Daseins erweisen, aber bei jeder Überschau von höher genommenem Augpunkt aus als treibende, sich bildende und wieder auflösende Erzeugnisse des Stromes darstellen. Der tiefere innere Zusammenhang dieses Stromes selbst mit den bewegenden und im Einzelfalle formenden geistigen Kräften bleibt dabei dunkel, da die Historie ebenso wie die Naturwissenschaften den Zusammenhang mit der Philosophie grundsätzlich gelöst hat und autonom mit eigenen Mitteln das Werden und seine Gebilde erforschen will.19

Zu diesen der Geschichtswissenschaft „eigenen Mitteln“ gehört die entwicklungsgeschichtliche Ausrichtung, die die zunehmend detaillierteren quellenkritischen Befunde in Entwicklungs-Zusammenhänge stellt und auf das Ideal einer allgemeinen Verknüpfung dieser Zusammenhänge in einem Bild des Menschheitswerdens grundsätzlich losgehen muß, obwohl die Häufung der kritischen und sachlichen Forschung gleichzeitig dieses Ideal immer unmöglicher macht und den Meistern des Faches verbietet.20

Mit der Folge, dass sich anstelle der Meister größere und kleinere „Dilettanten und Improvisatoren“21 der Sache annehmen: Troeltsch erwähnt Nietzsche, Spengler und H. G. Wells, die er eher den größeren unter den Dilettanten zuordnet. 18 19 20 21

Ebenda, S. 573. Ebenda, S. 573f. Ebenda, S. 576. Ebenda.

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Was der in Detailstudien sich ausdifferenzierenden Geschichtswissenschaft damit entgleitet, ist das Problem der Darstellung. Denn auch die immer mannigfaltigeren Details, aus denen Geschichte geschrieben wird, sind nicht historische Realität, sondern Repräsentation – ein winziger Ausschnitt der völlig unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge, die sich zuletzt ihrerseits aus Komplikationen unendlich vieler psychischer Einzelvorgänge und ihrer Zusammenhänge mit Natur und Körper zusammensetzen. Es haben also alle in die Historie eingehenden Tatsachen für sie wesentlich repräsentative oder stellvertretende Bedeutung.22

Der Historismus muss also zugleich die Komplexität der Analysen steigern und Synthesen bilden – und sein Dilemma besteht darin, dass ersteres das Bemühen um letzteres ständig unterläuft: Faßt man [...] Tendenzen und Allgemeinheiten ins Auge, so sind sie überhaupt nicht exakt, sondern nur intuitiv und verstehend als Sinneinheiten erfaßbar. Diese Sinneinheiten sind unbegrenzbar verschieden und jedesmal individuell gefärbt, verlangen also eine ungeheure Empfänglichkeit und Kongenialität, Lebens- und Sachkenntnis des Historikers, sobald er einen größeren Zusammenhang bearbeitet23.

Diese Aufgabe wird jedoch zunehmend unbewältigbar, so dass „das immer mehr sich zerteilende Spezialistentum, das um der Exaktheit willen immer kleinere und gleichgültigere Gegenstände bearbeitet“24, mehr und mehr aufgibt, was unmöglich erscheint und doch zugleich unumgänglich ist: „die eigentliche Aufgabe der Historie, an die Synthese großer Entwicklungszusammenhänge heran[zu]gehen“25. Hier zeigt sich der Einfluss Simmels, den Troeltsch rezipiert. Insbesondere dessen lebensphilosophisch-geistesgeschichtliche Orientierung sowie die Affinität zum Literarischen als Modus historischer oder soziologischer Darstellung fließen in Troeltschs Theorie ein. Erschwert wird die Aufgabe einer historischen Synthese zudem vom zunehmenden Einfluss soziologischer Theorien auf die Geschichtswissenschaften. (Politische) Ökonomie, technische Entwicklung und juristische Organisation machen die „gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens“26 aus und erhöhen die zu bewältigende Komplexität: Das Spiel und Widerspiel ökonomisch-sozialer, geistig-kultureller und politisch-rechtlicher Elemente wird in jedem Einzelfall eines großen Kulturzusammenhangs eine jedesmal besonders zu lösende Aufgabe. Die großen religions- oder philosophiegeschichtlichen Durchblicke werden in ihrer Geradlinigkeit unmöglich27.

22 23 24 25 26 27

Ebenda, S. 578. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 580. Ebenda, S. 581. Hier nimmt Troeltschs Darstellung vorweg, was Elias’ Theorie der gesellschaftlichen „Figuration“ später ausführt, die dieser als „das sich wandelnde Muster, das die Spieler als Ganzes miteinander bilden“ (Elias: Was ist Soziologie?, S. 142) beschreibt und in der ja dem Mo-

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Schließlich kommt die „Erschütterung des ethischen Wertsystems“28 hinzu: „Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward Parole und neue Werttafeln gab es im Grunde nicht. Damit entfiel der Historie das Steuer, mit dem sie den ungeheuren Lebensstrom befahren konnte.“29 Unter Berufung auf Max Webers Rede von „Polytheismus“ und „Anarchie“ der Werte führt Troeltsch in beinahe expressionistischer Diktion aus: Alles kämpft gegen alles: die Kultur und der Fortschritt, die Skepsis und das Ästhetentum gegen die Christlichkeit, vor allem gegen den lange Zeit mit der Kultur identifizierten Protestantismus; die Realisten, Modernen, Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysischen und apollinischen Erneuerer der Antike gegen Christentum und Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen Imperialismus und Krieg, Kampf für Nation, Staat, Krieg und Realpolitik, für eigenständig nationale oder für internationale und pazifistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen Wirtschaft!30

Troeltsch selbst sucht nun den Ausweg aus der von ihm konstatierten „Krisis des Historismus“ in der „Bildung einer gegenwärtigen Kultursynthese aus den historischen Erbstücken“31. Dabei scheiden radikaler Wissenschaftshass und Ranke’scher Rationalismus für ihn ebenso als Lösungsversuche aus wie eine „völkische“ Begrenzung auf die eigene nationale Geschichte und deren gefühlsbetonte Betrachtung oder eine „Rückkehr zur kirchlichen Autorität“32. Und so bleibt nur der Ausweg, „der für den wissenschaftlich gesinnten Menschen allein in Betracht kommt: eine neue Berührung von Historie und Philosophie“33. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zu einem status quo ante – der Historismus bleibt die Herausforderung, der es sich bejahend zu stellen gilt: Denn es geht nicht darum, die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen zu imprägnieren. Diese wird vielmehr bleiben müssen wie sie ist, und nur in ihrer Themenstellung und ihren Gegenständen dem Bedürfnis nach dem Großen, Bedeutenden und Wirksamen mehr Rechnung tragen müssen. Dagegen muß die allgemeine Weltanschauungsbedeutung und der Bildungsertrag der Historie neu durchgedacht und neu befestigt [werden]34.

Die „Kultursynthese“ versucht also, Antworten zu geben auf die ungeheure Sehnsucht nach Zusammenfassung des historischen Lebens zu einheitlichen Kräften und Zielen, nach einer gegenseitigen Durchdringung der historischen Werte zu einem geistigen und lebendigen Ganzen35.

28 29 30 31 32 33 34 35

ment des Spiels ebenfalls eine wichtige Rolle zukommt, weil es den Wechsel von Organisation und „in jedem Einzelfall“ zu untersuchender Bewegung modelliert. Troeltsch: „Die Krisis des Historismus“, S. 582. Ebenda, S. 583. Ebenda. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, S. IX. Troeltsch: „Die Krisis des Historismus“, S. 587. Ebenda, S. 588. Ebenda, S. 589. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, S. 5.

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Besonders aufschlussreich für Picards Rezeption der Historismus-Debatte in ihrer Troeltsch’schen Bearbeitung sind die etwas kryptischen Andeutungen, mit denen „Die Krisis des Historismus“ endet: Troeltsch prognostiziert – trotz seiner Ablehnung einer restaurativen kirchlichen Autorität – „eine starke Neukräftigung des Katholizismus“36 und hält es für „möglich, daß uns auf dem Kontinent eine mittelalterliche Rückbildung bevorsteht“37. Den (Kultur-)Protestantismus, aus dem Troeltsch theologisch ja selbst hervorgeht, sieht er eher als Teil des Problems denn als Beitrag zu dessen Lösung: „Ihn trifft die geistige und politische und soziale Krisis am schwersten.“38 Auch die Schlusssätze geben seinem Bekenntnis zur rationalen Wissenschaft einen überraschend religiösen Anstrich. Es gelte, dem Leben und seiner, die moderne Welt nicht allein, aber grundsätzlich mitbestimmenden Selbstdarstellung als Geschichte im Vertrauen zur Vernunft und Wissenschaft uns hin[zu]geben. Das ist Glaubenssache, wie es das mittelalterliche Dogma, solange es naiv war, auch gewesen ist.39

Picards literarische Auseinandersetzung mit den Problemen des Historismus übernimmt die Ambivalenzen der historischen Ansätze. Wie Troeltsch hält er am Historismus insofern fest, als er versucht, historische Epochen im Sinne des Historismus „geschichtlich“ aus sich selbst heraus, , d. h. aus ihren politischen, kulturellen und materiellen Umständen darzustellen. Zugleich sollen sie aber – im Sinne der Kultursynthese – durch den Bezug auf ein Sinn-Zentrum vereinheitlicht werden. Diese – geschichts- und kulturtheoretisch progressive – Verbindung von Analyse und Synthese zeichnet auch Picards Geschichtsdenken aus. Er führt die vielfältigen Phänomene, die „Mannigfaltigkeit“ der Zeit, auf ein historisches Spezifikum zurück, das ihnen allen gemeinsam ist und sie hervorruft: Die Mannigfaltigkeit des impressionistischen Ausdruckes als Mittel einer ganz bestimmten menschlichen Gesinnung darstellen, also: die Erscheinung weniger wichtig nehmen als ihren Sinn, das heißt über den Impressionismus theoretisieren.40

Und trotz seines religiösen Einschlags geht Picards Geschichtsverständnis dabei nicht von unveränderlichen und in alle Ewigkeit verbürgten metaphysischen Gewissheiten aus,41 sondern sieht – wie Troeltsch – gerade im Verlust einer religiösen und transzendenten Zuversicht das Merkmal der Epoche: „Der Impressionismus ist die Ausdrucksform einer Zeit, die nichts glaubt.“42 36 37 38 39 40 41 42

Troeltsch: „Die Krisis des Historismus“, S. 588. Ebenda, S. 589. Ebenda, S. 588. Ebenda, S. 590. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 9. Eine solche Position bezieht er erst mit dem 1929 erschienenen Das Menschengesicht. Ebenda, S. 12. Die in späteren Werken immer stärker werdende Betonung des zerstörerischen Unglaubens taucht bereits hier auf. Mit Titeln wie Die Flucht vor Gott oder Hitler in uns selbst wird Picard immer mehr zu dem religiös-konservativen Denker, als der er nach dem Zweiten Welt-

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Dem wird als Kontrast ein Weltbild entgegengehalten, das von den Komplexitäten der Moderne noch nicht berührt ist und das Picard wie Troeltsch im Mittelalter verortet, wenn er etwa seinen Mittelalterlichen Holzfiguren ein Motto von Jean Paul voranstellt: Im Mittelalter stand die Religion, wie in der Nacht der Himmel, näher der Erde und glänzend darüber gebreitet, indes uns Gott, wie am Tage die Sonne, nur einmal als Schlußstein des Himmelsgewölbes erscheint.43

Picards Blick auf Zeitphänomene der Moderne wie das Kino und die Großstadt, die Vielfalt der Reize und die Betonung des Beziehungshaften in der künstlerischen Darstellung bleibt jedoch – bei aller Skepsis und Kritik – der Beobachtung von Details und den sie begleitenden Wahrnehmungsprozessen verhaftet. Als „Geschichtsphilosophie“ im Sinne Troeltschs zielt Picards ‚Weltanschauungsphysiognomik‘ nicht auf eine veränderte historische Analyse, sondern auf einen neuartigen Entwurf der Repräsentation historischer Befunde ab. Und hier freilich unterscheidet er sich von Troeltsch. Denn wo dieser die Bildung von kollektiven, durch Konsens zu erreichenden und Konsens stiftenden Sinnstrukturen und normativen Orientierungen anstrebt, die zwar an die Tradition anknüpfen, aber relativ bleiben, geht es Picard um die Restaurierung einer göttlichtranszendenten Weltordnung, die als kosmologischer Grund unter den Schichten historisch relativer Zeitalter verschüttet liegt bzw. unterzugehen droht. Dass Picard sich trotz dieser religiösen Abkehr vom relativistischen Paradigma dennoch im Sinne Troeltschs an der Krisis des Historismus abarbeitet, bestätigt kein geringerer als Troeltsch selber. Denn der Rezeptions- und Zirkulationsprozess zwischen Troeltsch und Picard verläuft auch in umgekehrter Richtung: So erwähnt Troeltsch in seinem späten Hauptwerk Der Historismus und seine Probleme44 Picards ein Jahr zuvor erschienenes Buch Der Letzte Mensch. Und zwar geschieht dies gleich zu Beginn – in der zweiten Fußnote des Eingangs-Kapitels – und an der höchst prominenten Stelle, an der er sein eigenes Problem – die Ambivalenz von historischem Orientierungsverlust und der Notwendigkeit einer neuartigen, orientierenden, dennoch auf gründliche Wissenschaft aufbauenden Geschichtsphilosophie – mit Bezug auf die aktuelle Situation exponiert: Weltkrieg und Revolution wurden historischer Anschauungsunterricht von furchtbarster und ungeheuerster Gewalt. [...] Da schwankt der Boden unter den Füßen und tanzen rings um uns die verschiedensten Möglichkeiten weiteren Werdens45.

43 44 45

krieg bekannt geworden und heute in Erinnerung geblieben ist. Eine solche Position vermag nach dem Krieg Anschluss zu finden an die Diskurse der fünfziger Jahre, in denen Erklärungsmuster christlicher Provenienz – wie etwa das der „Unsittlichkeit des Nationalsozialismus“ und des „Werteverfalls“ – eine wichtige Rolle spielen konnten. Sie erlauben den christlichen Kirchen die Rückeroberung institutionalisierter Deutungsmacht bei gleichzeitigem Ablenken von eigener Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen. Picard: Mittelalterliche Holzfiguren, S. 5. Das leicht veränderte Zitat stammt aus: Paul, Jean: Levana oder Erziehungslehre, Braunschweig: Friedrich Vieweg, 1807, S. 133. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Ebenda, S. 6.

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Troeltsch konstatiert, dass insbesondere die Jugend „ihr eigenes Lebensschicksal aus diesem Chaos wird formen müssen“ und dass „nur die Lebendigen, Beweglichen, Schwärmerischen oder philosophisch Erregbaren von ihm in voller Kraft ergriffen werden.“46 Letztere jedoch ermahnt Troeltsch zur Vorsicht und zur Unterscheidung zwischen Analyse und Synthese. Um nicht einem Schwärmertum stattzugeben, das „den Drang zum Vollen und Ganzen [...], der uns allerdings unentbehrlich ist“47, in die Analyse hineinträgt, gilt es zu verteidigen, was an wissenschaftlichen Standards erreicht ist: „Der Ernst und die Sachlichkeit, die Gründlichkeit und Ehrlichkeit der deutschen Wissenschaft wird dauernd einer der Pfeiler unserer geistigen Weltstellung und ein Ausdruck unserer Art sein.“48 Und an dieser Stelle nun spricht er Picards Buch exemplarische Qualitäten zu, denn in einer an dieser Stelle eingefügten Fußnote heißt es: In die letzten Tiefen dieser Kritik sieht man in dem Büchlein von Max Picard, Der letzte Mensch, Wien und Zürich 1921.49

Dieses Lob eines Buches, dessen grotesk-apokalyptische literarische Kaskaden selbst bei Freunden Picards (wie etwa Rilke oder Frank Thiess) Verwirrung und zögernde bis ablehnende Reaktionen hervorriefen, aus dem Munde eines Historikers wie Troeltsch verwundert zunächst. Doch ein abschließender Verweis auf zwei Aspekte seiner Kultursynthese wirft ein Licht darauf, warum ihm Der letzte Mensch so exemplarisch erschien: Das primäre Ziel der Geschichtserkenntnis ist – bei allem Festhalten Troeltschs an der Rationalität der einzelwissenschaftlichen Methoden – das „Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie“50. Die konstruktive Zusammenschau der gesammelten Befunde zielt auf eine rhetorische Verlebendigung des toten Buchstabens durch geschichtsphilosophische Figuren und Gesichte, auf eine historische Prosopopoiia wissenschaftlicher Darstellung. Troeltsch rückt den Geschichtsphilosophen in die Nähe des Dichters und greift damit auf, was Simmel vorgeschwebt hatte, als er vom Historiker schreib, dass „sich seine Thätigkeit der dichterischen [nähert], ohne durch die Freiheit, die diese in der Gestaltung des Erzählten hat, anders als graduell von ihr unterschieden zu sein“51. Und die Metaphorik, in die Troeltsch den problematischen Verlust der Sinngehalte und den Ruf nach einer Kultursynthese fasst, mag erklären, was ihn an Picards Visionen so faszinierte: das „Gesicht“ als zwischen komplexer Mannigfaltigkeit, grotesker Fragmentierug und synthetisierender Einheit schillernde Figur. Schon 1909 hatte er beklagt: 46 47 48 49 50 51

Ebenda. Ebenda, S. 7. Ebenda. Ebenda. So die Überschrift des 1. Kapitels seines Der Historismus und seine Probleme. Simmel, Georg: „Die Probleme der Geschichtsphilosophie“: in: Georg Simmel, Gesamtausgabe. Band 2. Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung. Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), hrsg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989 [1892], S. 297–421, hier: S. 322.

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Die Lage ist ernst, ernst für den Protestantismus, dessen Kirchentum [...] um nichts geringeres kämpft als um das seinem zerstückelten und erstarrten Körper entfliehende große Leben, ernst auch für die moderne Gesellschaft [...]. Das Ideal, das die Alten und das Mittelalter vor sich hatten, der Gedanke einer einheitlichen, von religiösem Geist erfüllten Kultur, ist vorläufig in weiter blauer Ferne der Vergangenheit, und seine Erneuerung [...] vorläufig in mindestens ebenso blauer Ferne der Zukunft.52

Daraus wird 1923 die Forderung, mit der Kultursynthese dem ideologischen Gehalt einen neuen soziologischen Leib zu schaffen und den soziologischen Leib mit einer neuen und frischen Geistigkeit, einer neuen Zusammenfassung, Anpassung und Umbildung der großen historischen Gehalte zu beseelen.53

Karl Lamprecht Auf der Suche nach einem „soziologischen Leib“ der Geschichte befand sich zu gleicher Zeit auch ein anderer Historiker, aus dessen Werk Picards Frühschriften wichtige Anstöße erfahren: Karl Lamprecht (1856 – 1915). Zwar gilt Lamprecht Picard als Theoretiker des Impressionismus und damit als zutiefst kritikwürdig. Doch sollte die vehemente Ablehnung nicht über den starken Einfluss hinwegtäuschen, den Lamprecht auf Picard ausübte: Der Begriff der ‚Reizsamkeit‘, den Picard für seine Auseinandersetzung mit dem Impressionismus übernimmt, prägt nicht nur seine kunstgeschichtlichen Analysen, sondern seine gesamte Auseinandersetzung mit den Topoi von Oberfläche und Tiefe, Komplexität und Einheit, Sinn und Sinnestätigkeit. Die Bedeutung Lamprechts für Picard zeigt sich schon daran, dass ersterer (wie Simmel und Husserl) zu jener Handvoll Wissenschaftler und NichtLiteraten gehört, die Picard in seinen frühen Werken namentlich zitiert: Die früheren Kritiker des Impressionismus haben auch versucht, Gemeinsames aus der Vielgestaltigkeit herauszustellen. [...] Diese Kritiker waren selber Impressionisten. (Lamprechts ‚Reizsamkeit‘ ist nur ein Steckbrief, mit der Kennzeichnung des augenscheinlichen Hauptmerkmals, mit der leisen Verdächtigung, – zu der es der Impressionismus gerade noch bringt – die in dem Wort Reizsamkeit liegt.)54

Dass aus den Arbeiten Lamprechts allerdings mehr als nur eine „leise Verdächtigung“ in Picards Schriften einging, zeigt eine nähere Betrachtung des Lamprecht’schen Wer-

52

53 54

Troeltsch, Ernst: „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“, in: Paul Hinneberg (Hrsg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Teil I, Abteilung IV,1. Die Geschichte der christlichen Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion. 2., stark vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin und Leipzig: Verlag von B. G. Teubner, 1909 [1906], S. 431–755, hier: S. 742f. Hervorhebung K. L. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, S. 771. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 10.

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kes55. Dieses erhob, vor allem mit seiner breit angelegten Deutschen Geschichte – zwischen 1891 und 1909 in 12 Bänden mit 16 Teilbänden und 2 Ergänzungsbänden erschienen –, den Anspruch, „neben der politischen Entwicklung vor allem auch die Entfaltung der Zustände und des geistigen Lebens zur Darstellung“56 zu bringen und unternahm damit einen frühen, in seiner Progressivität bis heute aktuellen Versuch, eine „Kulturgeschichte“ zu etablieren: Den politischen Fragen treten die der Kultur ebenbürtig, wenn nicht überragend, zur Seite. Es wird der ernstliche Versuch gemacht, die gegenseitige Befruchtung materieller und geistiger Entwicklungsmächte innerhalb der deutschen Geschichte klarzulegen.57

Mit der Erweiterung der Historiker-Perspektive auf die „Gesamtentfaltung der materiellen wie geistigen Kultur“58 tritt er damit dem Historismus Ranke’scher Prägung mit seiner zumeist einseitigen Ausrichtung auf Politische Geschichte entgegen; insbesondere seine Einbeziehung von Kunst und Kultur (und zwar, zumindest in Ansätzen, nicht nur einer ‚high culture‘, sondern auch der ‚niederen‘ Alltagskultur) sowie der Erkenntnisse der zeitgenössichen Psychologie weist Parallelen zu späteren Ansätzen der Kulturwissenschaft sowie zu den zeitgleich entstehenden Schriften Simmels auf. Zugleich nimmt Lamprecht einiges vorweg, was auch Troeltschs „Kultursynthese“ auszeichnet: Die Gleichbehandlung geschichtlicher Epochen und der Versuch, historische Ereignisse, aber auch künstlerische Ausdrucksformen und Stile aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, mit einem nüchternen und genauen Blick auf das Detail zu analysieren und zu relativieren, ist auch Lamprecht oberstes Gebot. Zugleich ordnet er die materiellen und geistigen Produkte einer Zeit spezifischen kulturellen Kontexten zu und subsumiert diese jeweils unter eine vereinheitlichende und kulturprägende Bewegung: So teilt Lamprecht die Geschichte der Neuzeit (seit der Renaissance) in die Phasen des „Individualismus“ und des „Subjektivismus“ ein. Privilegiert ersterer das Individuum, das zwar aus der traditionellen Unterordnung individueller Differenzen und Eigenheiten unter umfassende Weltbilder (etwa religiöser Art) gelöst wird, aber einer allgemeinen Vernunft, Rationalität oder Verstandestätigkeit unterworfen bleibt, setzt zweiterer das Subjekt radikal frei – „in noch ganz anderem Sinne, als die individualistischen Jahrhunderte eine seelische Freiheit der Einzelperson gekannt hatten.“59 Schillers Figur des Karl Moor – der „nur dieses mein Selbst getreu“ bleibt – gibt für Lamprecht „das erste Wort, die Losung gleichsam der neuen Zeit“60 aus, des subjekti55 56 57 58 59 60

Vgl. zu Lamprecht Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984. „Ankündigung des Verlags“, in: Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte. Erster Band, Berlin: R. Gaertners Verlagsbuchhandlung, 1891. Ebenda. Ebenda. Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte. Achter Band. Erste Hälfte. Zeitalter des subjektiven Seelenlebens, Freiburg im Breisgau: Verlag von Hermann Heyfelder, 1906, S. 24. Ebenda.

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vistischen Zeitalters. Auch für Lamprecht wird der Dichter zum Vorbild für Kultursoziologie und -geschichte: Was hier, im Momente revolutionären Emporbrechens der neuen Zeit emphatisch betont wird, blieb ruhiger, ständiger und tiefster Ausdruck des ganzen Zeitalters. Und eben in dem Punkte der religiösen Freiheit des einzelnen, dem höchst und letzthin entscheidenden, werden schon früh die ganzen Folgerungen des neuen Seelenlebens gezogen.61

Von diesem Befund ausgehend avanciert der von Picard zitierte Begriff der „Reizsamkeit“ bei Lamprecht zum Zentrum seines kulturgeschichtlichen Ansatzes. Er steht nämlich für eine theoretische Neuausrichtung und Profilierung seiner Kulturgeschichte, die von der Beschäftigung mit der künstlerischen Moderne ausgeht und seinen ursprünglichen Entwurf zur Deutschen Geschichte modifiziert. In den ersten Bänden taucht die „Reizsamkeit“ nur vereinzelt und als für das subjektivistische Zeitalter spezifischer Begriff auf: Dabei weist diese neue Zeit, soweit sie bisher verlaufen ist, der älteren Zeit analoge Einzelphasen der Entwicklung auf: der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts entspricht die Reizsamkeit der siebziger und achtziger Jahre des neunzehnten62.

Die „Reizsamkeit“ bezeichnet hier einen Aspekt der jüngsten Vergangenheit und der gegenwärtigen Geschichte, die Lamprecht zur zweiten Periode des subjektivistischen Zeitalters zusammenfasst. In dem umfangreichen zweibändigen Ergänzungswerk wird dann die zweite subjektivistische Periode insgesamt zur „Periode der Reizsamkeit“; die behandelten (kunst-) historischen Phänomene werden alle in Bezug gesetzt zur „Reizsamkeit“ als der „gemeinsame[n] Grundlage der Phantasiethätigkeit wie der Weltanschauung und der Wissenschaft: – des modernen Seelenlebens überhaupt.“63 In mancherlei Hinsicht Simmels Ausführungen in „Die Großstädte und das Geistesleben“ verwandt, verweist die Reizsamkeit auf eine Vielzahl von neuartigen ‚Reizerlebnissen‘, denen die Kultur der Moderne den Menschen aussetzt: Man vergegenwärtige sich die neuen Welten, die im Erblühen anderer spezifisch ästhetischer Kulturen entstanden sind, die Welt der Ritterzeit des 12. Jahrhunderts etwa und die der Kultur seit etwa 1750, und man ziehe die Unsumme von Vergleichen mit der Gegenwart, die sich alsbald aufdrängen, um den ganzen Umschwung zu empfinden. Was aber war die innerste Bewegungsursache dieses Umschwungs? An dieser Stelle unserer Übersicht [also fast ganz am Ende der Deutschen Geschichte, K. L.] kann es mit einem Worte ausgedrückt werden: die Reizsamkeit, die ins Schöpferische umgesetzte Fähigkeit bewußter Perzeption neuer, bis dahin wesentlich vorstellungslos gebliebener innerer Reizergebnisse. Diese Reizergebnisse liegen, genauer betrachtet, zwischen der vollen alten Vorstellung und der bloßen nervösen Reizung; sie haben 61 62 63

Ebenda, S. 24f. Ebenda, S. 87. Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband. Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 4. Aufl., 1922 [1902], S. XXI.

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von beiden etwas, jedenfalls fehlt niemals das sinnliche Element. Hervorgerufen werden sie durch Spannungen und vornehmlich durch eine ganze Reihe solcher hintereinander, eine Reihe, die man wohl am besten als Schwebung bezeichnen kann64.

Als aktive, „ins Schöpferische umgesetzte Fähigkeit“ umfasst die Reizsamkeit die Bewusstseins-, Phantasie- und Ausdruckstätigkeit des Künstlers, sie ist eine über die Reizergebnisse vermittelte ästhetische Darstellung oder Repräsentation des Ahnungsvollen, des unklar Erwartenden, des sehnsuchtsvollen Dranges ins Neue, Dämmernde, Unheimliche, Ungeheure, Symbolische, Mystische, im Falle stärkerer Erregtheit die unbestimmte Empfindung der Angst, der Furcht und verwandter Gefühle. Sollen nun diese Zustände der Unlust aufhören [...] so bedarf es ihrer selbstthätigen Auslösung durch die Phantasie dessen, der ihnen unterworfen ist, und diese Auslösung erfolgt in der Art, daß sich der bloße, beinahe rein nervöse Reizvorgang nun mit gegenständlicherem Inhalte anfüllt.65

Die Kunstströmung, die diesen Anforderungen der Reizsamkeit entspricht und sie gestaltet, ist der Impressionismus, dessen alle Gattungen durchdringender und verbindender Siegeszug die zweite Periode des subjektivistischen Zeitalters als Einheit ausweist: [I]ndem so alle Darstellungsmittel der modernen Kunst auf die Nerven, und auf die Nerven fast allein hinweisen, führen sie zum ersten Male grundsätzlich und ausgedehnt in das Gebiet der Phantasiethätigkeit jene merkwürdigen Erscheinungen ein, die zuerst unter dem Namen der audition colorée bekannt wurden: die gegenseitige Vertretung der spezifischen Sinneswerkzeuge, das Prickeln auf der Haut beim Anhören von Tönen, die Tonassoziation bei Aufnahme von Farben, kurz die ungewöhnliche Erregung der Sinne bei nicht für sie spezifischen Sinnesreizen. Es ist eine Kunst, der das Seelenleben nur aus Aktualitäten zu bestehen scheint: diese, die ohne Unterlaß aufeinander folgenden Sensationen, die Webungen, Wallungen, Spannungen, Schwebungen, die kleinsten noch eben erkennbaren und jetzt erst völlig aufgedeckten Momente der psychologischen Kontinuität sind das Material ihrer Formgebung. Daher die Wiedergabe der Erscheinungswelt im Flimmer der Impressionen, mag es sich um Bildnerei oder Malerei, um Erzählungskunst oder Drama handeln.66

Obwohl Picard die von Lamprecht angeführten synästhetischen Qualitäten des Impressionismus vehement bestreitet,67 erkennt man hier unschwer die Quelle der Picard’schen Darstellung des Impressionismus: Als eine „Kunst, der das Seelenleben nur aus Aktualitäten zu bestehen scheint“ (Lamprecht) zielt sie auf möglichst kurze und ständig wechselnde physiologische Nervenreize ohne bleibende Wirkung ab – [d]ie Sinnesorgane leiten nach dem Zentralorgan weiter, was sie empfangen; es haftet nichts in ihnen: Rasch und leicht fangen alles sie auf und werfen sie alles wieder ab. Darum war es wichtig, ein Erlebnis überhaupt nur in den Sinnesorganen sich abspielen zu lassen. [...]. Es kam vor allem darauf an, das Sinnesorgan möglichst rasch zu ergreifen68.

64 65 66 67 68

Ebenda, S. 386. Hervorhebung K. L. Ebenda, S. 387. Ebenda, S. 388. Vgl. hierzu oben S. 263f. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 16f.

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Die „ohne Unterlaß aufeinander folgenden Sensationen“ Lamprechts lässt Picard in eine physiologische Endlosschleife münden: „Man war ergriffen, dauernd ergriffen. Man merkte nicht, daß diese Ergriffenheit rein physiologisch war.“69 Diese Denkfigur einer neurologisch-physiologischen Endlosschleife findet nicht nur Eingang in Picards kunstkritische Schriften, sie präfiguriert auch die akustisch-mediale Endlosschleife der Phonographen-Stimme, in die Der letzte Mensch mündet: Und [...] so hört jetzt das kugelige Wesen aus dem großen Phonographen eine Stimme krächzen: der Mensch ist tot. Das kugelige Wesen wartet dann, bis der Phonograph noch einmal krächzt: der Mensch ist tot, – dann dreht es sich über die blumenleere Wiese weiter.“70

Und hatte nicht ein anderer Kunstkritiker, Hermann Bahr, ebenfalls den Impressionisten zu einem die Welt lediglich aufzeichnenden Grammophon erklärt? „Impressionismus, das ist der Abfall des Menschen vom Geiste, Impressionist ist der zum Grammophon der äußeren Welt erniedrigte Mensch“.71 Picards Einschätzung Lamprechts als eines auch in der Methode impressionistischen Denkers der Reizsamkeit kann sich dabei auf Lamprecht selbst berufen: Das Buch der Geschichte des Subjektivismus [...] liegt noch nicht aufgeschlagen vor uns; es können keine Erinnerungen mobil gemacht werden; ins Unbekannte hinein gleichsam ist zu zeichnen. Und so wird die Darstellung stärker einer gleichsam impressionistischen Methode folgen müssen: über den Einzelheiten werden vor allem die charakteristischen Massenerscheinungen entscheidend und breit hervortreten.72

Doch für Lamprecht ist die „Reizsamkeit“ nicht allein als Charakteristikum des subjektivistischen Zeitalters bzw. seiner zweiten Periode bedeutsam. Sie avanciert in den Ergänzungsbänden seiner Deutschen Geschichte mehr und mehr zum Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung der historischen Wissenschaften. Die Ergänzung der herkömmlichen Politischen Geschichte um allgemeine Aspekte der Kultur, wie sie das Hauptwerk der Deutschen Geschichte ursprünglich in Angriff nahm, wird im Ergänzungswerk rückblickend als noch nicht ausreichend kritisiert. Lamprecht erläutert, dass „sich im Verlauf der Arbeit des letzten Jahrfünfts der Plan des ganzen Werkes doch einigermaßen umgestaltet“73 habe – und skizziert in vielsagender Metaphorik das Projekt einer ‚Körpergeschichte‘, das für den enorm angewachsenen Umfang der letzten Bände der Deutschen Geschichte verantwortlich sei: Die Zahl der ursprünglich vorgesehenen Bände hat sich für die neuere und neueste Zeit als unzulänglich erwiesen. Würde sie eingehalten, so würde sich wohl ein Gerippe der Darstellung er-

69 70 71 72 73

Ebenda, S. 20. Picard: Der letzte Mensch, S. 204. Bahr: Expressionismus, S. 124. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Achter Band. Erste Hälfte. Zeitalter des subjektiven Seelenlebens, S. 24. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband. Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung, S. VII.

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zielen lassen, mehr aber nicht. Es liegt jedoch im Interesse des Lesers wie des Autors, daß gerade die neueren Zeiten auch mit Nerven und Muskeln vorgeführt werden.74

Damit deutet Lamprecht nichts Geringeres an als eine Orientierung der gesamten Kulturgeschichte – nicht nur der jüngsten Vergangenheit – an wahrnehmungstheoretischen und physiologischen Fragestellungen. Mit einer Emphase, die sich von seinem sonstigen Duktus auffallend abhebt, führt er dementsprechend in der Einleitung zum 1906 erschienenen ersten Teilband des achten Bandes der Deutschen Geschichte aus: Soll es aber dem Historiker, der nichts vermag als zu erzählen, nicht vergönnt sein, in besonderen Augenblicken seiner Epopöe einmal inne zu halten und hinter den Vorhang zu schauen, auf den er die bunten Bilder des Lebens fallen läßt? Soll er nicht eine Wißbegier pflegen dürfen, die fragt, was denn eigentlich der Inhalt dieser Vorgänge sei und welches die Mittel, durch deren Wirkung sie hervorgezaubert werden.75

Und er fährt fort: Die erste Frage, die sich solcher Wißbegier darböte, möchte wohl die sein, in welcher Weise denn eigentlich die einzelnen Kulturzeitalter innerlich miteinander zusammenhängen. Und da ließe sich denn wohl sagen: es wirke sich in ihnen eine wachsende Intensität des Seelenlebens aus.76

Hatte Lamprecht betont, die Geschichte und insbesondere die des gegenwärtigen subjektivistischen Zeitalters sei „ins Unbekannte hinein [...] zu zeichnen“77, so scheint sich ihm dieses „Unbekannte“ nun plötzlich zu erhellen. Zwar ließen sich historische Phänomene nie ganz aufklären. Das tiefste Leben ist in der Geschichte für uns gleich unerkennbar wie in der Natur. Ein lebendiges Blatt bildet unter dem Einflusse von Licht Zucker, ein totes nicht. Warum? Es ist ein Geheimnis für Weise wie für Toren.78

Doch ein wenig scheint sich dieses Geheimnis für Lamprecht gelüftet zu haben, wenn er sein reiztheoretisches Modell geschichtlichen Wandels zusammenfasst: „Ein neues Zeitalter des Seelenlebens bildet sich aus einfachen Vorgängen verstärkter Reizaufnahme bis zur Höhe seiner Vollendung.“79 Die in der „Reizsamkeit“ herausgearbeitete Bedeutung wahrnehmungsphysiologischer Phänomene für die Kulturgeschichte wird – bei aller Skepsis – zu dem Paradigma, an dem sich kulturhistorische Fragen und Narrationen zu orientieren vermögen: Du suchst wohl seine Bedingungen oder Ursachen auf: warum aber das geschichtliche Leben diesen Bedingungen oder Ursachen gerade diese und keine anderen Wirkungen folgen läßt: 74 75 76 77 78 79

Ebenda. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Achter Band. Erste Hälfte. Zeitalter des subjektiven Seelenlebens, S. 78. Ebenda. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 78f. Ebenda.

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wirst du es je ergründen? Und so bleibt als Rest wohl nur der bescheidene Versuch, den Verlauf der Intensitätszunahme menschlichen Seelenlebens innerhalb großer Gemeinschaften zu beschreiben – zu erzählen. Und da ließe sich, provisorisch, aus den geringen Anfängen vergleichender und universaler und nicht bloß nationaler Erforschung dessen, was man mit vollem Rechte menschliche Kulturgeschichte nennen mag, etwa folgendes sagen. Als primitives, zusammenfassendes Element des Seelenlebens kann ein konkretes, rein anschauliches Selbstbewußtsein angenommen werden, als ein Ganzes von Gefühlstatsachen, deren jede zur Identität zwischen Subjekt und Objekt verdichtet ist. Der in einem solchen konkreten Selbstbewußtsein vorhandene Bestand von Empfindungen, Reflexen, Funktionen des sogenannten automatischen Handelns, aus denen erst Vorstellungen, Urteile, Gemütsbewegungen, Willensakte erwachsen, wird dann, eben in diesem Prozesse des Anwachsens, im Laufe der aufeinander folgenden Kulturzeitalter steigend in Verstandes- und Vernunftbewußtsein umgesetzt.80

Am Ende kommt dann die „Reizsamkeit“ gewissermaßen ‚zu sich‘ – und die Skepsis schlägt um in Fortschrittsglauben: Und diese Umsetzung erneuert sich im Verlaufe des Seelenlebens jeder menschlichen Gemeinschaft so lange, bis eine gewisse Leerung des Urbestandes erreicht und statt dessen erkennendes Bewußtsein eingetreten ist.81

Dass Lamprecht Erkenntnissen der Wahrnehmungsphysiologie solche Aufmerksamkeit schenkt und ihnen eine Rolle im Zentrum historischer Erklärungen zumisst, ist bemerkenswert. Lamprecht stützt sich auf neuro-psychologische Befunde auch, wenn er die These von der radikalen Freisetzung des Subjekts weiterentwickelt zu einer Erklärung für Wahrnehmungsphänomene der Kultur des 20. Jahrhunderts: „Freiheit und Selbständigkeit der Individuen aber hieß zugleich deren Verschiedenheit.“82 Diese Verschiedenheit der Individuen voneinander beruht auf innerer Differenzierung und Mannigfaltigkeit – aufgedeckt durch Beobachtungen der neueren Psychologie, die mit etwa 13 000 unterscheidbaren Qualitäten der Empfindungen arbeitet und damit die unendliche Verschiedenheit der Individualitäten aus dem ungeheuren System der Kombinationen und Permutationen solcher Qualitäten und der ihnen zugrunde liegenden Lebensprozesse zu erklären gestattet.83

Ebendiese „Kombinationen und Permutationen“ aber ermöglichen bei Picard dem impressionistischen Denker, die Dinge und Wahrnehmungen durch Vervielfältigung immer zahlreicher und komplexer werden zu lassen und sich so in ein Netz der Relationen zu verlieren. „Durch den Impressionismus hat sich der Mensch der Verantwortung enthoben. Die Dinge im Impressionismus sind in so enger Beziehung untereinander, daß man ein Ding gar nicht isolieren kann“.84 Und auch wenn Picard die Zahl etwas geringer ansetzt als Lamprecht, gelten ihm die „Beobachtungen der neueren Psychologie, die

80 81 82 83 84

Ebenda, S. 79. Ebenda. Ebenda, S. 26. Ebenda. Picard: „Expressionismus“, S. 329.

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mit etwa 13 000 unterscheidbaren Qualitäten der Empfindungen arbeitet“, als Paradigma: „Die Psychologie läßt von einem Ding auf tausend Dinge gleiten“.85 Dem Spiel der Reizsamkeit, ihren „Kombinationen und Permutationen“, geht Lamprecht auch auf soziologischer Ebene nach, wo es sich einerseits in der Herausbildung der (kommunistischen) ‚Masse‘, andererseits in künstlerischen Gegenbewegungen, wie etwa der romantischen Kunst oder Dichtung manifestiert: Man wollte nichts mehr wissen von der Masse, von den ‚Vielzuvielen‘, man schrie nach ‚Riesennaturen‘, und ein Geniekultus brach herein [...]. Zugleich fühlte man sich erdrückt von der Überlieferung der Jahrhunderte und den übergroßen Massen neuer Reize der Gegenwart, wie ein ‚Fossil‘ und wie ein ‚Zermalmter‘, und die Literatur begann ‚die Abhängigkeit des Menschen von Zeit und Umgebung, mit einem Worte: die völlige Unfreiheit des Menschen‘ zum Mißfallen mancher Kreise zu erörtern.86

Ganz ähnlich konstatiert Picard einen Zusammenhang zwischen zunehmender gesellschaftlicher Mannigfaltigkeit, Masse und dem im „ungeheuren System der Kombinationen und Permutationen“ verlorengegangenen Sinn einzelner Individuen: Man spürt die Sinnlosigkeit der vielen Einzelnen und konstatiert sie darum zum ersten Male als Masse.87

Doch nicht nur auf soziologischer, auch auf individualpsychologischer Ebene kommt der Mannigfaltigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Die „Beobachtung der Mannigfaltigkeit der Einzelseele in sich“88 führt Lamprecht schließlich zu einer Theorie fragmentierter und uneinheitlicher Subjekte. Das Entscheidende war dabei, daß im subjektivistischen Menschen mehr wie früher an sich unvereinbare Eigenschaften in derselben Person nebeneinander stehen und als solche erkannt wurden. [...] Das Endergebnis dieser außerordentlichen Differenzierung war dann, daß mit der Empfindung auch das Urteil so abschattiert wurde, daß nicht bloß Gemütszustände, sondern auch Wahrheiten subjektiv und schwankend erschienen; und eine auf so besonderem Boden aufgebaute Einseitigkeit, ja Bizarrerie des Charakters mußte als moderne Erscheinung gelten. Kein Charakter aber konnte unter diesen Umständen mehr als ganz gut oder als ganz böse betrachtet werden89.

Was Lamprecht hier skizziert, wird in den fragmentierten Subjekten des Expressionismus, die Vietta/Kemper unter den Begriff der „Ichdissoziation“90 fassen, eine weitere Zuspitzung erfahren. Damit wird deutlich, dass Lamprechts Bedeutung über die eines „Theoretikers des Impressionismus“ hinausging. Auch der Expressionismus gestaltete 85 86 87 88 89 90

Ebenda, S. 336. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Achter Band. Erste Hälfte. Zeitalter des subjektiven Seelenlebens, S. 56f. Picard: „Expressionismus“, S. 330. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Achter Band. Erste Hälfte. Zeitalter des subjektiven Seelenlebens, S. 26. Ebenda, S. 27. Vietta und Kemper: Expressionismus, S. 30ff.

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ja Lamprechts überreizte „Bizarerie[n] des Charakters“ literarisch aus – und als eine ebensolche „Bizarrerie“ lässt sich auch der Der Letzte Mensch mit seinen dissoziierten und fragmentierten Gesichten begreifen, deren grotesk-apokalyptische „Wahrheiten subjektiv und schwankend erschienen“. Und so verwundert es nicht, dass ein des Impressionismus so wenig verdächtiger Literat wie Kurt Pinthus Lamprecht zu seinen wichtigsten Lehrern zählt: Wir, die aus den Schulen der Provinzen kamen, ersehnten uns Welt und Unendlichkeit und mußten statt Weltweisheit die quälenden Probleme der Erkenntnistheorie anhören, in den Geisteswissenschaften die zum Examen nötigen Spezialgebiete traktieren. Da trat, während wir noch zagten, rasch ein beweglicher Graukopf in den Hörsaal, spazierte auf dem länglichen Katheder hin und her und sprach knappe Sätze, deren Folge oft durch einen knallartig hervorgestoßenen Nasenlaut unterbrochen wurde; er wandte ein Filzhütchen in den Händen wie ein Zauberer spielerisch hin und her, legte den Hut hin, setzte sich sorglos auf den heiligen Kathedertisch, sprang dann auf, betrachtete, einen längeren Satz bildend, versunken seine Finger, packte dann plötzlich mit beiden Händen die Kante seines Tisches und beugte sich weit ins Auditorium hinein: geheimnisvoll und prophetisch Ergebnisse, Erkenntnisse verkündend, die Licht und Befreiung unserem unruhigen und wirren Bewußtsein gaben. [...] Nicht die Tatsache, sondern der Mensch erschien als das Wesentliche.91

In Pinthus’ Erinnerungen wird Lamprecht zum Seher, der vom Denkgebäude bis hin zur Sprachmarotte als Vorreiter des Expressionismus erscheint und dem er als „Schüler“ und „Erbe“ mehr als nur die „leise Verdächtigung“92 zu verdanken zugibt, die Picard Lamprecht zugesteht. Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass Lamprechts geschichtstheoretische Entfaltung der Reizsamkeit auch Picards Schriften Leben verlieh – vielleicht nicht als das „Gerippe der Darstellung“, aber doch in Form von „Nerven und Muskeln“93.

6.2 „Am Körper festgehalten“. Picard und die Medizin Das Auftreten ‚schreibender Ärzte‘ innerhalb der expressionistischen Bewegung ist ein bekanntes Phänomen: Die bedeutendsten expressionistischen Literaten, die Medizin studiert und auch praktiziert haben, sind sicherlich Alfred Döblin und Gottfried Benn. Dass die Erfahrungen des Arztberufes insbesondere bei Benn in das literarische Werk eingegangen sind, ist ebenfalls bekannt.94 Auch Max Picard ist – zumindest eine Zeit lang – schreibender Arzt. Zwischen dem Abschluss seines Medizinstudiums 1911 und der Niederlegung seiner ärztlichen Tätigkeit 91 92 93 94

Pinthus, Kurt: „Lamprecht und sein Erbe. Von einem seiner Schüler“, Berliner Tageblatt, 20.5.1915. Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 10. Lamprecht: Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband. Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung, S. VII. Vgl. hierzu zuletzt Homscheid, Thomas: Zwischen Lesesaal und Lazareth. Der medizinische Diskurs in Gottfried Benns Frühwerk, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005.

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1918 tritt er verschiedene Arztstellen an: Nach seiner Promotion arbeitet er 1912 zunächst am Städtischen Krankenhaus Frankfurt und an der Berliner Charité. Er wird Assistenzarzt an der Universitätsklinik Heidelberg und hat damit Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere in der Medizin, bevor er bis 1918 in München als selbstständiger Arzt praktiziert.95 1918 kehrt er allerdings dem medizinischen Beruf den Rücken, zieht sich ins Schweizer Tessin zurück und wird sich fortan ganz der Schriftstellerei widmen. Als Grund für diesen professionellen wie geographischen Rückzug wird der schlechte Gesundheitszustand seiner Frau Margarethe, geb. Goldstrom, angeführt,96 die – ebenfalls Ärztin – an einer schweren Krankheit leidet, an der sie 1927 früh verstirbt. Doch auch Picards zunehmende Abneigung gegen die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin, die von ihm selbst kolportiert wird, dürfte diese Entscheidung zumindest erleichtert haben. Picards frühe Schriften von Der Bürger (1914) bis Expressionistische Bauernmalerei (1918) fallen damit in eine Zeit, in der er (Kunst-)Schriftsteller und Arzt in Personalunion ist. Diese Phase einer doppelten Feldzugehörigkeit – zum literarisch-intellektuellen und zum medizinisch-naturwissenschaftlichen Feld – weist Parallelen zum Werdegang Benns auf, der sich im gleichen Zeitraum wie Picard zwischen beiden Feldern bewegt. Und bei beiden gehen von dieser Tätigkeit wichtige Impulse für das literarische Werk aus: Picards Figuren des körperlichem Verfalls aus dem Letzten Menschen bearbeiten ebenso wie die weitaus bekannteren Texte Benns – etwa die Novelle Gehirne aus dem „Rönne-Zyklus“ oder das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ – die Erfahrungen aus der medizinischen Praxis, indem sie diese literarisch zu Symptomen kultureller Krisen transfigurieren. Benn und Picard verbinden die grotesken Körperdarstellungen und die Polemik gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften, deren Positivismus und Rationalismus beide im Zuge ihrer Positionierung im literarischen Feld zunehmend ablehnen. Doch diese Profilierung des Literaten auf Kosten des Mediziners ist weit ambivalenter als dies in den Selbst- und Fremddarstellungen zumeist erscheint. Michael Ansel hat das kohärente Benn-Bild, wie es u. a. Benn selbst in seinen autobiographischen Schriften Lebensweg eines Intellektualisten (1934) und Doppelleben (1950) entwirft, gebrochen und ein differenzierteres Bild seiner Stellung zur und in der Medizin gezeichnet, das er in vier Etappen einteilt.97 95

96

97

Vgl. zum Werdegang des Mediziners Picard: Hausenstein und Reifenberg (Hrsg.): Max Picard zum siebzigsten Geburtstag, S. 97f., Art. „Picard, Max“: in: Franz Lennartz, Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik. Bd. III, Stuttgart: Kröner, 1984, S. 1328–1331, hier: S. 1328; Buchmayr: „Max Picard und das ‚apokalyptische‘ Denken“ und Kloeden, Wolfdietrich: „Picard, Max“, in: Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz (Hrsg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. VII. Patocka, Jan bis Remachus, Herzberg, 1994, Sp. 561–565. Vgl. Bosch: „Lebensdaten Max Picards“, S. 299 oder den Brief von Rilke an Picard, 19. Mai 1921 (Rilke: Briefe an Schweizer Freunde. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, S. 221): „Die aufmerksamsten Grüße für Ihre Frau, deren Gesundheit sich in Italien [sic!] hoffentlich recht befestigt hat“. Vgl. zum Folgenden Ansel: „Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Benns zwischen 1910 und 1933/34. Ein Rekonstruktionsversuch auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie“.

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Die im Zuge seiner literarischen Kanonisierung oft übersehene erste Phase zwischen 1912 und 1914 zeigt Benn als jungen Mediziner, der gleichermaßen erfolgreich wie der positivistischen Naturwissenschaft gegenüber bejahend eingestellt ist, ja eine „geradezu emphatische Wissenschaftsgläubigkeit“98 an den Tag legt. Sein gegen den Willen des Vaters durchgesetztes Medizinstudium beendet er 1912 (im gleichen Jahr wie Picard) mit der Dissertation, und seine Untersuchung über „Die Ätiologie der Pubertätsepilepsie“ von 1911 wird mit einem Preis ausgezeichnet. Damit steht ihm die Möglichkeit offen, eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Dies ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, sich den herrschenden – und das heißt empirisch-positivistischen – Methoden der Medizin zu unterwerfen. Dass Benn dies durchaus tut, zeigt sich nicht nur in seiner praktischen Tätigkeit als Arzt, sondern gerade auch in seinen frühen literarischen Äußerungen, etwa über den bekannten dänischen Autor und Naturwissenschaftler Jens Peter Jacobsen: In seinem Gespräch rühmt die Person des Thom, daß „Jacobsens Kunst mit seinen naturwissenschaftlichen Neigungen ganz sonderbar eng zusammenhängt“99. Erst 1914, mit dem „Ithaka“-Essay, tritt Benns Wende zum Irrationalismus und zum Rausch des Dionysischen hervor, in Gestalt etwa seiner beißenden Kritik an rationaler naturwissenschaftlicher Forschung. Auch unter dem Einfluss des Weltkriegs, für den er den darwinistischen Monismus und seine deterministische Ausrichtung verantwortlich macht, postuliert er eine autonome, schöpferische Sphäre der Kunst, aus der er in seiner Arbeit über „Das moderne Ich“ seinem Berufsstand zuruft: Meine Herren Kollegen, die Sie jetzt Medizin studieren sollen, Kommilitonen, die Sie sich anschicken, die naturwissenschaftlichen Fächer zu beforschen, [...] meine Damen und Herren und alle Jugend, die antritt, in Laboratorien und Instituten, die Binde von Sais zu lüften, ich will Mißtrauen säen in Ihre Herzen gegen Ihrer Lehrer Wort und Werk [...] und Ekel vor einem Handwerk, das nie an eine Schöpfung glaubte.100

Für Benn geht diese Saat aus Misstrauen und Ekel auf, wenn sie im „modernen Ich“ den Glauben an eine autonome Schöpfung wieder wachsen lässt: „Sie dürfen sich erschaffen, Sie sind frei“101. Doch pikanterweise ist auch Benns „medizinisches Ich“ frei, weiterhin in der Forschung zu schaffen: Es geht von 1914 bis 1916 in Brüssel einer Tätigkeit als Oberarzt und später als Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus nach, bevor es 1916/17 als Assistenzarzt an der Berliner Charité wirkt. Benn bleibt also hier als unbekannter, d. h. im Sinne des medizinischen Feldes ‚beherrschter‘ Wissenschaftler der Herrschaft des empirischen Positivismus unterworfen. Ansel betont, dass 98

Ebenda, S. 257. Benn, Gottfried: „Gespräch“: in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. IV. Szenen und Schriften, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990 [1910], S. 13–19, hier: S. 16. 100 Benn, Gottfried: „Das moderne Ich“: in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. III. Essays und Reden, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1989 [1920], S. 29–46, hier: S. 29. 101 Ebenda, S. 39. 99

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die miteinander unvereinbaren feldspezifischen Beiträge Benns keineswegs zu seinem Glaubwürdigkeitsverlust im jeweils anderen Feld führten. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens verfügten sowohl das wissenschaftliche als auch das literarische Feld zum Zeitpunkt von Benns Eintritt in sie über eine relativ hohe Autonomie und absorbierten deshalb wegen ihrer stabilen Feldgrenzen und wegen der in ihnen ablaufenden verdichteten Kommunikation die Wahrnehmungsperspektive der in ihnen Agierenden stark. Zweitens muß man Benn vergleichsweise bescheidene Position in beiden Feldern berücksichtigen102.

Erst 1917 entscheidet sich Benn gegen die akademische Laufbahn und damit gegen die (natur-)wissenschaftliche Karriere; er eröffnet in Berlin eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Die damit einhergehende finanzielle Absicherung sichert ihm auch literarische Unabhängigkeit und leitet eine dritte Phase ein, in der sich seine Kritik an den Naturwissenschaften relativiert. So ist es zu erklären, dass er einerseits im literarischen Feld Anerkennung findet – und zwar obwohl oder gerade weil er es sich leistet, gegen die dominierende Auffassung zu opponieren. Seine Opposition richtet sich sowohl gegen den heteronomen Pol des literarischen Feldes, als auch gegen die zwischen 1920 und 1930 herrschende Avantgarde der Neuen Sachlichkeit, der er „eine grundsätzlich optimistische, technisch-melioristische Weltanschauung [...] [mit] einer erklärten Neigung zur Freude und Helle, einer überraschenden Bejahung des Lebens, eines unerwarteten Glaubens an Erkenntnis“103 unterstellt. Andererseits differenziert sich seine frühere Wissenschaftsschelte in dieser Zeit zunehmend: Neben die weiterhin gehegte vehemente Ablehnung der traditionellen aufgeklärten Wissenschaft tritt eine Wertschätzung neuerer wissenschaftlicher Ansätze – etwa aus der Ethnologie, Psychoanalyse, Embryologie oder Paläontologie. Auf diese Disziplinen beruft er sich, um seine von Nietzsche beeinflusste Theorie verdrängter archaischer Triebmuster zu begründen. Benns vierte Phase beginnt 1933. Sie ist gekennzeichnet durch sein Agieren auf einem dritten Feld, dem der Politik: Im Zuge seiner politischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus – er wird zwar als exponierter Expressionist angefeindet, verteidigt aber zugleich seinen Sitz in der nun nationalsozialistisch dominierten Dichterakademie und damit seinen Einfluss auf die Literaturpolitik – beruft er sich auf die Modernität der Naturwissenschaft, um seine eigene literarische Tätigkeit zu verteidigen. Gegen die antimodernen Positionen innerhalb des an die Macht gelangten Nationalsozialismus verteidigt er den Expressionismus (und damit sich selbst): Man könne diesem nicht die Identität mit seiner Zeit bestreiten, auch mit deren unangefochtenen Leistungen [...]: er war die komplette Entsprechung im Ästhetischen der modernen Physik und ihrer abstrakten Interpretation der Welten, die expressive Parallele der nichteuklidischen Mathematik104. 102

Ansel: „Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Benns“, S. 269. Benn, Gottfried: „Zur Problematik des Dichterischen“: in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. III. Essays und Reden, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1989 [1930], S. 83–96, hier: S. 84. 104 Benn, Gottfried: „Bekenntnis zum Expressionismus“: in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. III. Essays und Reden, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1989 [1933], S. 261–274, hier: S. 269. 103

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Was ihn auszeichne – „Kälte des Denkens, Nüchternheit, letzte Schärfe des Begriffs, [...] Härte des Gedankens“ – ist nun auch politisch geboten. Und „wer nicht durch die naturwissenschaftliche Epoche hindurchgegangen war, konnte nie zu einem bedeutenden Urteil gelangen, konnte gar nicht mitreifen mit dem Jahrhundert“105. Erst 1934 wird die Differenz zur nationalsozialistischen Kulturpolitik unüberwindbar und Benn geht auf Distanz zu ihr. Das Verhältnis Benns zu Naturwissenschaft und Medizin war also keineswegs kohärent und durchgängig von Verachtung geprägt: Sein schriftstellerischer Werdegang und seine Identitätsfindung als Autor folgen nicht einer geradlinigen und von einmaligen bewussten Entscheidungen gelenkten Bahn, sondern einem umwegigen, im Vergleich zu Picard aber wesentlich erfolgreicheren Swerving – das sich im Falle Benns vielleicht auch als ‚Herumeiern‘ übersetzen ließe.

Zwischen Positivismus und Rassenhygiene. Picards Dissertation und das Problem der Lues Auch Picards Verhältnis zur Naturwissenschaft und zur modernen, d. h. empirischpositivistischen Medizin ist weit weniger kohärent, als dies seine vehemente Ablehnung rationalistischer und positivistischer Methoden – etwa in Das Ende des Impressionismus, „Expressionismus“ oder Der letzte Mensch – vermuten ließe. Bis 1918 übt er den Arztberuf aus,106 und in dieser Zeit bewegt sich seine Bahn im gesellschaftlichen Raum zwischen Positionierungen als Arzt und wissenschaftlicher Mediziner einerseits, als Kunstkritiker und Literat andererseits hin und her. Aufschluss über seine Position im medizinischen Feld gibt seine 1912 veröffentlichte Dissertation. Sie erweist sich als eine Schrift, die sich den wissenschaftlich dominierenden Paradigmen der Zeit unterwirft – und nur so ist es auch zu erklären, dass er es zu einer Stelle an der Heidelberger Universitätsklinik brachte, die ihm die Aussicht auf die höheren Weihen einer wissenschaftlichen Karriere eröffnete. Die Dissertation trägt den Titel Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage107. Picard setzt sich in ihr mit dem Zusammenhang zwischen einer Erkrankung an Lues (so lautet die damals gängige Bezeichnung der Syphilis) und einer späteren, in der Regel zum Tod führenden Paralyse, einer als Psychose eingestuften zunehmenden geistigen Verwirrung, auseinander. Dass die Lues zu dieser Form der Paralyse führen kann, steht in 105

Benn, Gottfried: „Lebensweg eines Intellektualisten“: in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. II. Prosa und Autobiographie, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984 [1934], S. 355–394, hier: S. 312. 106 Und noch 1965 auf seinem Sterbebett bezeichnet er sich als „Arzt“. Vgl. Koenig: Hinter den Kulissen eines Lebens. Rilke, Heuss und Heidegger zu Besuch auf Gut Böckel. Lebenserinnerungen, S. 225. 107 Picard, Max: Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage, Freiburg im Breisgau: Albert-LudwigsUniversität, Medizinische Fakultät, 1912.

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der zeitgenössischen Diskussion außer Frage.108 Strittig sind jedoch die möglichen Faktoren, die aus einer syphilitischen Infektion eine Paralyse entstehen lassen, sowie die Frage, ob sich mit statistischen Methoden aus der Zahl der an Paralyse erkrankten bzw. verstorbenen Patienten auf die Gesamtzahl der in einer bestimmten Region an Syphilis erkrankten Personen zurückrechnen lässt. Mit diesen beiden Diskussionspunkten setzt sich Picard in seiner Untersuchung auseinander. Als Ausgangspunkt seiner Arbeit und zugleich als deren kritisch widerlegte Referenz-Studie, präsentiert Picard eine Untersuchung, die kurz zuvor ebenfalls an der Freiburger Universität erstellt worden war und insbesondere in Kreisen der aufstrebenden Rassenhygiene für Aufmerksamkeit gesorgt hatte: Der Aufsatz „Über die Verbreitung der Lues, speziell in Berlin, und ihre Bedeutung als Faktor des Rassentodes“109 erscheint 1910 in dem von Alfred Ploetz geleiteten Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, der wichtigsten Zeitschrift der deutschen Rassenhygiene.110 Der Autor der Studie, Fritz Lenz, gehört zu ihren Wegbereitern. Und er sollte bald – gemeinsam mit Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer, Eugen Fischer und Erwin Baur – zu einer ihrer Hauptfiguren werden: Mit den beiden letztgenannten machte er Freiburg zu einem Zentrum der rassenhygienischen Bewegung und mit ihnen veröffentlichte er 1921 das Standardwerk der sich wissenschaftlich etablierenden Rassenhygiene, den „BaurFischer-Lenz“111; 1923 wurde er in München zum ersten Professor für Rassenhygiene berufen. Innerhalb des begrifflich oftmals diffusen rassenanthropologischen und rassenhygienischen Diskurses steht Lenz – allerdings noch nicht in seiner Dissertation – für einen Standpunkt, der sich von der langezeit eifrig betriebenen Suche nach einer wissenschaftlich und empirisch abgesicherten biologischen Definition des Rasse-Begriffs verabschiedete und die Rasse zu einem in erster Linie geistig-seelischen Phänomen erklärte. Die Ansicht, daß die Anthropologie sich nur mit dem Körperlichen zu beschäftigen habe, ist durchaus unberechtigt. Gewiß ist das Seelische nicht mit dem Zirkel meßbar; aber das kann kein Grund sein, die Beschäftigung mit den seelischen Rassenunterschieden überhaupt als unwissenschaftlich abzulehnen.112

Folgenreich ist diese Position, weil sie den Rasse-Begriff und die rassenhygienischen Wissensbestände sowohl für eine kulturwissenschaftliche Rezeption als auch für die 108

Picard belegt dies unter Verweis auf das psychiatrische Standardwerk von Emil Kraepelin: Vgl. Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Verlag von Johann Ambrosiues Barth, 7. Aufl., 1904 [1883], S. 374. 109 Lenz, Fritz: „Über die Verbreitung der Lues, speziell in Berlin, und ihre Bedeutung als Faktor des Rassentodes“, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 7. Jg. (1910), Nr. 3, S. 306–327. 110 Vgl. zur Rassenhygiene Weingart, Peter, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, insbesondere S. 188ff. 111 Baur, Erwin, Eugen Fischer und Fritz Lenz: Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, Bd. 1, München: J.F.Lehmanns Verlag, 3. Aufl., 1927 [1921]. 112 So Lenz in: ebenda, S. 575.

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politische Funktionalisierung öffnet: Denn wenn die Erfassung der Rasse „immer bis zu einem gewissen Grade willkürlich bleibt“113, bedarf die Rassenhygiene nicht nur des wissenschaftlich genauen Beobachters, sondern auch des darüber hinausschauenden, auf das Geistige gerichteten Blicks des ‚Sehers‘, der nicht Gesichter, sondern Gesichte erfasst.114 In seiner frühen Arbeit von 1910, die die Ergebnisse seiner Dissertation vorstellt, beschäftigt Lenz die Lues oder Syphilis als ein wichtiger Faktor des drohenden „Rassentodes“. Zu diesem Zweck versucht er den Anteil der Luetiker an der Berliner Bevölkerung durch eine Extrapolation der Paralyse-Fälle zu ermitteln. Als Phänomen einer „negativen Selektion der Tüchtigen“115 stellt die Lues nämlich nicht nur ein Problem für die Praxis, sondern auch für die theoretischen Grundlagen der Rassenhygiene dar: Die unterschiedlichen Richtungen dieser zwischen Medizin und Sozialpolitik angesiedelten Wissenschaft eint das ‚eugenische‘ Anliegen, die ‚Gesundheit‘ eines über das Einzelindividuum hinausgehenden sozialen Körpers (einer Nation, Population oder Rasse) zu erhalten oder zu steigern. Dabei setzen Diagnose bzw. Therapie an zwei Polen an: Während eine ‚positive Eugenik‘ die Vermehrung besonders tüchtiger, gesunder, leistungsfähiger – sprich: gewünschter – Individuen fördert, versucht die ‚negative Eugenik‘ die Träger unerwünschter Eigenschaften von der Zeugung von Nachkommen abzuhalten oder diese zumindest einzuschränken. Unter Berufung auf Darwin (und unter Absehung von dessen Hinweis auf die Sonderrolle menschlicher Kultur) wird nun ein Naturzustand postuliert, der genau diese Auslese umsetzt, also die Vermehrung des Erwünschten, Gesunden, Starken privilegiert, ‚Degeneration‘ und ‚Entartung‘ dagegen an der Weitergabe ihrer Merkmale hindert. An dieser Stelle des Theoriegebäudes taucht die Lues als Problem auf: Denn anders als Epidemien wie etwa die Tuberkulose, die eine „negative Selektion der konstitionell minderwertigen Elemente einer Bevölkerung bewirken“116 und somit dem eugenischen Prozess entspreche, bedrohe die Übertragung der Lues durch sexuelle Kontakte besonders solche Individuen, die sich „durch robuste Konstitution, durch günstige soziale Stellung, durch geistige Regsamkeit und manche andere Vorzüge, beim Weibe auch durch Schönheit, d. h. durch rassige Gesundheit“117 auszeichnen und deren Fortpflanzung der eugenischen Theorie nach ja eigentlich von Natur aus privilegiert ist. „Statt 113

Darauf weist Lenz in der vierten Auflage des Baur/Fischer/Lenz hin: Baur, Erwin, Eugen Fischer und Fritz Lenz: Menschliche Erblehre und Rassenhygiene, Bd. 1, München: J.F.Lehmanns Verlag, 4. Aufl., 1936, S. 714. 114 Lenz’ Position geht ihrerseits zurück auf die Rezeption Arthur de Gobineaus und die Arbeiten Karl Ludwig Schemanns, der Gobineaus eher literarische Rassentheorie in Deutschland bekannt machte. In diese Traditionslinie lassen sich auch die germanistischen Versuche einer völkischen Literaturwissenschaft einordnen, wie sie von Eugen Dühring und Adolf Bartels vertreten wurden. Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 8.2, S. 418ff. 115 Lenz: „Über die Verbreitung der Lues“, S. 307. 116 Ebenda. 117 Ebenda, S. 308.

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der positiven Selektion der Tüchtigen tritt deren Elimination oder negative Selektion ein“118. Hier muss die theoretische Rassenhygiene eine Erklärung finden und sie setzt dafür eine Argumentationsfigur ein, die die Kultur oder Zivilisation als widernatürlichen Faktor ausmacht. Und auch Lenz sieht bei der Ausbreitung der Lues die einschlägigen Ursachen für den drohenden „Rassentod“ am Werk: die „Kultur“ im allgemeinen und die „demokratische Wertung“119 im speziellen, die Großstadt Berlin, die Prostitution. [B]ei höherer Kultur bedingen jene Eigenschaften, welche im Kampf um die höhere soziale Stellung nützlich sind, eine ganz erhebliche Schlechterstellung ihrer Träger in jenem metaphorischen Kampfe, der zwischen den Stämmen des Keimplasmas hinsichtlich ihrer Beteiligung an den kommenden Generationen statthat und der über Leben und Tod der Familien und Keimplasmastämme entscheidet.120

Lenz’ Verweis auf Weismans Theorie der Keimplasmastämme belegt übrigens, dass er hier noch ganz im Sinne einer biologistischen Rassenhygiene argumentiert; erst 1917 erfolgt seine Wende hin zu einer Theorie der Rasse als willkürlicher Kategorie. Doch Lenz’ allzu eifriges Bemühen, Berlin auch numerisch zum Sammelbecken aller zivilisatorischen Laster zu machen, lässt seine Studie zumindest aus der Perspektive der statistischen Wissenschaft scheitern. Und selbst den von seinen „Grundgedanken“ angetanen Herausgebern des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie erscheinen Lenz’ Befunde überpüfungsbedürftig: Anmerk. der Red.: Wir haben dieser Arbeit wegen ihrer originalen Grundgedanken gerne Raum gegeben, müssen uns aber dagegen verwahren, daß wir mit ihren speziellen rechnerischen Ausführungen, die zu einer so enorm hohen Zahl von Syphilitikern in Berlin führen, einverstanden sind. Wir werden uns bemühen, eine Beleuchtung der Ziffern von fachmännischer Seite folgen zu lassen.121

Diese Distanzierung erstaunt wenig, kommt Lenz doch in seinen Berechnungen auf eine Quote, deren Überzeugungskraft höchstens literarisch ist – er errechnet aus den an Paralyse verstorbenen Syphiliskranken einen Anteil der männlichen Luetiker an der Berliner Gesamtbevölkerung von 112 Prozent! Dass das Phantasma des Rassentodes qua Syphilis hier das rechnerische Vermögen getrübt haben dürfte, ist kaum zu übersehen. Und auch Lenz’ späteres Eintreten für eine ‚willkürliche‘ Rassenhygiene nimmt vielleicht von hier ihren Ausgang... Picard nun überprüft anhand von statistischem Material Lenz’ Hypothesen und Berechnungen für den Freiburger Raum in der Zeit zwischen 1880 und 1900 und kommt dabei – unter weitgehender Weglassung von Lenz’ rassenhygienischen Theoriebausteinen und unter nüchterner Anwendung wenngleich sehr einfacher statistischer Methoden – 118

Ebenda, S. 306f. Ebenda, S. 307. 120 Ebenda, S. 306f. 121 „Anmerk. d. Red.“, in: ebenda, S. 306, Fußnote 1. 119

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zu einem aus den Paralyse-Fällen hochgerechneten, stark angestiegenen Anteil der Syphilitiker von 10,9% der männlichen Bevölkerung. Eine solche Zahl liegt weit über dem für eine katholisch-ländliche Region zu erwartenden Anteil und geht auf einen ungewöhnlich starken Anstieg der Paralyse-Fälle zurück. Ein vergleichender Blick Picards in die Personen-Register der Freiburger Psychiatrien zeigt, dass der prozentuale Anteil der Luetiker an dem gesamten Patienten-Aufkommen im Vergleichszeitraum dagegen konstant bleibt. Da jedoch letzteres, also die Gesamtzahl der aufgenommenen Patienten, einen starken Anstieg aufweist, ist von einer gestiegenen Zahl von registrierten Paralyse-Fällen auszugehen. Und damit erweist sich die für die Gesamtbevölkerung errechnete hohe Zahl als fehlerhaft. Sie basiert auf einer erhöhten Zahl von erfassten Patienten122 und damit auf als Vergleichsbasis ungeeigneten, weil nicht repräsentativen statistischen Erhebungen123: [D]ie einfache Erklärung ist die: In dem Zeitraum, für welchen wir dies hohe Resultat erhalten haben, sind gegenüber früheren Jahren überhaupt viel mehr psychisch Kranke in die Freiburger Anstalt aufgenommen wurden. [...] Als Ursachen für diese Veränderung sind hauptsächlich zwei Dinge anzuführen: Einmal sind die Aufnahmebedingungen in die Anstalt viel freiere geworden, und zweitens hat sich die Scheu des Publikums vor den Irrenanstalten im Vergleich zu früher wesentlich vermindert.124

Dies nutzt Picard, um seine Hypothese in den Raum zu stellen: Er bezweifelt, dass der Anteil der Luetiker an der Bevölkerung – wie von Lenz angenommen – aus den Paralyse-Fällen berechnet werden kann; und zwar, weil der hierfür entscheidende Faktor – der die Häufigkeit angibt, mit der Syphilitiker an Paralyse erkranken, und den unterschiedliche Autoren zwischen 1,1% und 4,67% ansiedeln – zahlenmäßig nicht zu bestimmen ist. In der anschließenden Diskussion untermauert Picard seine These, indem er eine Vielzahl möglicher Einflussgrößen prüft, die eine paralytische Entwicklung der Lues begünstigen oder gar auslösen können: Faktoren wie die körperliche Belastung der Arbeit auf dem Lande, sonstige Traumata, mögliche Mutationen des Erregers oder individuelle Dispositionen sind nach Picard als Ursachen einer paralytischen Entwicklung der Lues nicht auszuschließen. Picard hebt jedoch hervor, dass für praktisch alle diese Faktoren eine tatsächliche Wirkung nicht eindeutig oder ausreichend nachgewiesen ist. 122

Diese Beobachtung einer stark ansteigenden Zahl von Aufnahmen in die psychiatrischen Anstalten bestätigt Blasius, Dirk: ‚Einfache Seelenstörung‘. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945, Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 68f. 123 Etwas widersprüchlich hatte Picard einleitend allerdings das genaue Gegenteil behauptet: „Während Lenz von der Zahl der Todesfälle an Paralyse ausging, nehmen wir die Zahl der klinisch diagnostizierten Paralysefälle zur Grundlage der Statistik. Für die Richtigkeit des Ergebnisses macht das nichts aus. Denn bei dem Verlaufe der Krankheit ist die Feststellung der diagnostizierten Paralysefälle von derselben Bedeutung für die Rechnung wie die Zahl der Todesfälle an Paralyse.“ (Picard: Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage, S. 5, Hervorhebungen im Original gesperrt) 124 Ebenda, S. 13.

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Besonders intensiv beschäftigt er sich mit dem möglichen Einfluss des Alkoholismus. Dies ist deswegen interessant, weil gerade das Problem des Alkoholismus und der erbitterte Kampf dagegen eines der zentralen Anliegen fast aller wichtigen Protagonisten der frühen Rassenhygiene darstellt: Schon die beiden ersten wichtigen Rassenhygieniker, Ploetz und Schallmayer, sahen im Alkoholismus „eine Hauptquelle, wahrscheinlich sogar die Hauptquelle der fortschreitenden Entartungserscheinungen unserer Tage“.125 In den zahlreichen rassenhygienischen Gesellschaften und Geheimbünden war dementsprechend der Alkoholgenuss verpönt, z. T. auch explizit per Satzung verboten.126 Doch der Kampf gegen den Alkoholismus geht weit über den engen Kreis der Rassenhygiene hinaus. Und in diesem Zusammenhang ist Emil Kraepelin zu erwähnen, der für Picard nicht nur in der Alkoholismus-Frage der wichtigste Gewährsmann ist. Kraepelins Abscheu gegen den Alkohol drückt sich in seinen Schriften immer wieder in leidenschaftlichen Tiraden aus, die den verderbenden und kulturzersetzenden Einfluss seines Genusses, den „furchtbare[n] Betrug ganzer Völker durch dieses Gift“127, ausmalen. Es ist jedoch vor allem eine andere Leidenschaft, die Kraepelins 1883 erstmals erschiene Psychiatrie zu einem der dominierenden und für die Psychiatrie der Zeit zentralen Standardwerke macht: Sein Kampf um die Verfeinerung der diagnostischen Kategorien, mit denen die klinische Psychiatrie seelische Störungen erfasste. Picards wiederholte Orientierung an Kraepelins Positionen macht deutlich, dass er sich den medizinischen Standards der Zeit unterwirft. Denn Kraepelin vereint in seinem Werk die Paradigmen, die das medizinisch-psychiatrische Feld um 1910 beherrschen: die anatomische und neurophyisiologische Hirnforschung, die klinische Diagnostik sowie die zunehmend an Einfluss gewinnende ‚soziale Psychiatrie‘ des nationalen Volkskörpers. Als ältestes dieser Paradigmen weist die Hirnforschung ins 19. Jahrhundert zurück. Sie hatte die moderne naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychiatrie mitbegründet und übte ihren Einfluss unvermindert aus. Auch wenn Kraepelin ihr gegenüber als Neuerer wirkte, blieb die Hirnpsychiatrie für ihn ein einflussreicher und zentraler Bestandteil der Psychiatrie. Epoche gemacht hat Kraepelin jedoch mit der Einführung seiner differenzierten klinischen Diagnostik. Er setzte der herkömmlichen Einheitsklassifizierung schwerer psychischer Erkrankungen als ‚einfacher Seelenstörung‘ eine auf empirischer Beobachtung beruhende differenzierte Systematik entgegen, die sich an den klinischen Symptomen und der Heilungs-Prognose orientierte. Es ist selbstverständlich, dass der gleiche Krankheitsvorgang je nach seiner Schwere zu völliger Heilung, zu leichterer oder zu tiefgreifender, dauernder Schädigung führen kann, aber wir sind durch die mannigfachsten Erfahrungen zu der Auffassung berechtigt, daß sich die Besonderheit 125

Schallmayer, Wilhelm: Vererbung und Auslese im Leben der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, Jena: Fischer, 1903, S. 154. 126 Vgl. Weingart, Kroll und Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 193ff. 127 Kraepelin, Emil: Alkohol und Seelenleben, Lausanne: Alkoholgegnerverlag, 1919, S. 3.

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eines Krankheitsvorganges mehr oder weniger deutlich in bestimmten Eigentümlichkeiten des durch ihn erzeugten Siechtums ausdrücken wird. Trägt doch der epileptische und der senile, der paralytische und der alkoholische Schwachsinn seine ganz besonderen Züge, die uns seinen Ursprung verraten, auch wenn wir zunächst von dem Grundleiden gar keine Kenntnisse haben.128

Wegweisend wurde insbesondere seine Aufteilung der endogenen Psychosen in die vermeintlich unheilbare dementia praecox (in diese Kategorie der unheilbaren Krankheiten ordnete er auch die Paralyse ein) und die manisch-depressiven und affektivpsychotischen, in Zyklen verlaufenden und heilbaren Erkrankungen. Kraepelins bereits erwähnter leidenschaftlicher Kampf gegen den Alkoholismus weist schließlich auf das dritte psychiatrische Paradigma, das mit seinem Namen verbunden ist: die sozial- oder rassenhygienische Sorge um „die Erhaltung der geistigen und sittlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit unseres Volkes“129. Auf Kraepelin beruft sich Picard auch in der kritischen Auseinandersetzung mit Richard von Krafft-Ebings Theorie kultureller Entartung und dessen These, „die geistliche und gemütliche Ueberanstrengung des Kulturlebens sei es, die den Syphilitiker zur Paralyse disponiere“.130 Zwar hält Picard kulturelle Faktoren als Auslöser der luetischen Paralyse durchaus für möglich; doch er verweist gegen Krafft-Ebings einseitige These auf Kraepelin, der auch frühere Zeiten unter dem Einfluss von „nicht minder geringen psychischen Erschütterungen für die Zeitgenossen wie unsere jetzige Kultur“131 stehen sieht. Auch sein Doktorvater, Alfred Hoche, gebe laut Picard „die Schädlichkeiten, die die moderne Kultur im Gefolge hat, zu, diesen rastlosen Daseinskampf mit seinen fortgesetzten psychischen Traumen“132, stelle diesen jedoch „die Förderung unserer Gesundheit durch moderne Errungenschaften“133 zur Seite. 128

Kraepelin, Emil: „Fragestellungen der klinischen Psychiatrie“, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 28. Jg. (1905), S. 573–590, hier: S. 581. 129 Kraepelin, Emil: „Ein Forschungsinstitut für Psychiatrie“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 7. Jg. (1916), Nr. 32, S. 1–38, hier: S. 1f. Auch wenn Kraepelins wissenschaftliches Interesse in der Hauptsache nicht der Rassenhygiene galt, so gab es doch zunehmend Überschneidungen. Insbesondere seit der Berufung seines Schülers Ernst Rüdin zum Leiter der Abteilung für Genealogie und Demographie innerhalb der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München äußerte sich Kraepelin im Sinne der Rassenhygiene: „Klar auf der Hand liegt es, daß unsere Gesittung der natürlichen Auslese, die nur die Tüchtigsten erhält und zur Fortpflanzung zuläßt, wirksam entgegenarbeitet. Alle die zahlreichen Schöpfungen menschlichen Mitleids, die darauf abzielen, auch das Leben der Kranken, Schwachen, Untauglichen nach Möglichkeit zu erhalten und menschenwürdig zu gestalten, haben ohne Zweifel die unerfreuliche Folge, daß sich unserem Nachwuchse dauernd ein breiter Strom minderwertiger Keime beimischt, der eine Verschlechterung der Rasse bedeutet.“ (Kraepelin, Emil: „Ziele und Wege der psychiatrischen Forschung“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 9. Jg. (1918), Nr. 42, S. 169– 205, hier: S. 196) 130 Picard: Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage, S. 20. 131 Ebenda. 132 Ebenda, S. 21. 133 Ebenda.

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Bekannt geworden ist Alfred Hoche allerdings gerade durch seine Bemühungen um die Einschränkung und Begrenzung dieser „Förderung“. Er zählt nicht zum engeren Kreis der Rassenhygiene-Bewegung, sondern hat vor allem mit seinem 1920 veröffentlichten Buch über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens Berühmtheit erlangt: In dem gemeinsam mit dem Juristen Karl Binding verfassten Werk tritt er entschieden für die gezielte Ermordung Geisteskranker ein, die er u. a. als „Ballastexistenzen“ bezeichnet. Dass dabei stärker ökonomisch als erbbiologisch argumentiert wird, erklärt u. a., warum die Rassenhygieniker die von Hoche und Binding geforderte „Euthanasie“ ablehnten – mit einer Ausnahme: Fritz Lenz.134 Im Zuge seiner Diskussion der zahlreichen möglichen Faktoren, die aus einer Luesinfektion eine Paralyse entstehen lassen, geht Picard auch auf die Frage einer Disposition qua Rasse ein. Dabei distanziert er sich einerseits von rassenhygienischen Vorstellungen. Im Sinne seiner eigenen Argumentationslinie, die für eine Differenzierung und Komplexifizierung des Zusammenhangs zwischen Lues und Paralyse plädiert, attestiert er auch der „Rassedisposition“135 einen ungeklärten Status: Ueber all diese Fragen wissen wie [sic!] aber nichts bestimmtes und Kraepelin weist sogar darauf hin, die nähere Betrachtung lehre, ‚dass auf der einen Seite bei stammverwandten Völkern die grössten Unterschiede herrschen, dagegen ganz verschiedene Rassen dasselbe Verhalten gegenüber der Paralyse zeigen. So sehen wir Slaven, Romanen, Abessinier, Türken, Indier, Neger, Malaien selten erkranken‘. Darum meint Kraepelin, dass die Paralyse in irgend einem ursächlichen Zusammenhang mit den allgemeinen Lebensverhältnissen stehe, wie sie in Mitteleuropa herrschen.136

Andererseits zeigt sich hier, dass rassenhygienische und entartungstheoretische Versatzstücke aus seinem Freiburger Umfeld nicht nur in seine ausführliche Darstellung des Alkoholismusproblems eingeflossen sind. Denn Picard will nicht ausschließen, dass vielleicht ein Unterschied bestände zwischen reinrassigen und Mischvölkern, insofern bei den letzteren durch die Mischung möglicherweise diejenige Komponente des Keimplasmas, welche die Widerstandskraft des Körpers gegen den luetischen Affekt bedeutet, geschwächt worden sein könnte137.

Und an einer anderen Stelle, an der er Kraepelins Theorie „einer Stoffwechselerkrankung, die sich als Bindeglied zwischen Lues und Paralyse einschiebt“138, diskutiert, ergänzt Picard diese Theorie durch eine rassenhygienische Hypothese, nach der verschieden ‚gesunde‘, d. h. allgemein mehr oder weniger zu Krankheiten neigende Körper nicht nur die Individuen einer Rasse unterscheiden, sondern auch ganze Rassen. Diese Position ist – ebenso übrigens wie Picards Hinweis auf die „Unterschiede [...] zwischen reinrassigen und Mischvölkern“ hinsichtlich ihrer spezifischen „Widerstandskraft [...] 134

Vgl hierzu Weingart, Kroll und Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 526. Picard: Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage, S. 23. 136 Ebenda, S. 24. 137 Ebenda. 138 Ebenda, S. 27. 135

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gegen den luetischen Affekt“ – selbst unter überzeugten Rassenhygienikern keineswegs von Beginn an Konsens gewesen.139 Umso konsensstiftender war allerdings von Anfang an das Beispiel, das Picard für eine solche besonders krankheitsanfällige Rasse anführt: [A]uf Grund der Kraepelin’schen Theorie können wir uns auch sehr wohl vorstellen, dass von vornherein in manchen Menschen die Disposition zu dieser Stoffwechselerkrankung, wie überhaupt zu anderen derartigen Erkrankungen, vorhanden ist, wie zum Beispiel für die jüdische Rasse eine erhöhte Disposition zu Diabetes, Gicht und Fettsucht angenommen wird. Und während einige Autoren diese besonders von Beadles für London festgestellte Tatsache erklären mit der Neigung dieser Rasse zu schweren Erkrankungen des Nervensystems, so könnte man demnach auch versucht sein, sie zurückzuführen auf ihre allgemeine Grunddisposition zu Stoffwechselanomalien.140

Die Gesamtargumentation – dies sei ausdrücklich betont – folgt jedoch insgesamt nicht der rassenhygienischen Theorie, sondern dem positivistisch-statistisch-physiologischen Mainstream der damaligen Medizin. Die Fülle der von ihm diskutierten möglichen Faktoren – vom Alkoholismus über kulturelle Überanstrengung, Gesellschaftsunterschiede bis hin zur „Rassedisposition“ – bündelt Picard in einer nach Schaffers „Formel für die Entstehung exogener Krankheiten“141 gebildeten Gleichung: Paralyse = Syphilis und Hilfsursachen / (

W.)142

Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Formel für eine exakte mathematische Berechnung, sondern für eine grafische Darstellung von Einflussgrößen: Unter den Hilfsursachen wird der Einfluss äusserer schädigender Faktoren auf den Körper verstanden. W bedeutet die Widerstandskraft des Körpers, die durch günstige Einflüsse vermehrt und durch Schädlichkeiten vermindert wird, was eben durch bezeichnet ist [...] Zugleich aber erkennen wir wieder die Schwierigkeiten unserer Berechnung, da in der Form sich nur 2 Faktoren, die Zahl der Luesfälle und die der Paralyse, rechnerisch ausdrücken lassen.143

Picards Konklusion lautet dementsprechend: Uebersehen wir zum Schluss die grosse Anzahl der in Frage kommenden, mitbestimmenden Momente, die aus einer Paralyse eine Lues [sic!] machen können, so erkennen wir wohl, dass bei einer derartigen Vielgestaltigkeit der Bedingungen die Verhältnisse an verschiedenen Orten sehr verschieden sein müssen. Rufen wir uns die für die Paralyse nach Schaffer aufgestellte Formel [...] noch einmal ins Gedächtnis zurück, so überblicken wir jetzt besser, wie mannigfaltig und wie variabel die Grössen der Gleichung sind. [...] An einem Orte wird ein viel höherer Prozentsatz Luetiker paralytisch werden wie an einem anderen, wo die Hilfsmomente auch andere sind. Das ist denn umgekehrt wieder auch bei der Bestimmung der Luetiker aus der Anzahl der Paralytiker in Betracht zu ziehen. Diesen Prozentsatz den jeweiligen Verhältnissen entspre-

139

Vgl. Weingart, Kroll und Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 91f., 101. Picard: Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage, S. 27. 141 Ebenda, S. 22. 142 Ebenda, S. 27. 143 Ebenda, S. 22f. 140

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chend festzusetzen, wird schwer sein, ja wohl beinahe unmöglich, denn die vorgeführten accidentellen Momente lassen sich zahlenmässig nicht ausdrücken.144

In seiner medizinischen Dissertation widerlegt Picard also eine statistische Methode mit ihren eigenen statistischen Mitteln und mit einer rational geführten Diskussion einer Vielzahl möglicher Einflussfaktoren, die zahlenmäßig nicht zu fassen sind. In gewissem Sinn präfiguriert dieses Vorgehen seine literarisch-expressionistischen Ansätze: Mit Mitteln der (zivilisatorischen) Moderne wird die Moderne widerlegt oder ad absurdum geführt! Und es ist wohl kein Zufall, dass die für Picards Dissertation zentrale Denkfigur in seiner Impressionismus-Schrift wieder auftaucht: Seine Berufung auf die „Vielgestaltigkeit der Bedingungen“, die hier gegen eine zahlenmäßige Erfassung angeführt wird, der Hinweis darauf, „wie mannigfaltig und wie variabel die Grössen der Gleichung sind“145, und der daraus gezogene Schluss, eine statistische Berechnung der Luetiker aus den Paralyse-Fällen sei „wohl beinahe unmöglich, denn die vorgeführten accidentellen Momente lassen sich zahlenmässig nicht ausdrücken“146, gehorchen genau jener zu überwindenden ‚Gesinnung‘, die er vier Jahre später als „Mannigfaltigkeit des impressionistischen Ausdruckes“147 kritisiert: Die Erscheinung selber hält man nicht wert, sondern nur das an ihr, was sich auf andere Erscheinungen bezieht: [...] Die Erscheinung dient dazu, um an ihr die andern Erscheinungen aufzurollen. Das Idealerlebnis dieser Zeit ist: Eine Erscheinung in so viele Beziehungen zu bringen, daß man durch sie die ganze Welt gewinnt.148

Festzuhalten bleibt zugleich aber auch, dass Picard in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zwar die medizinische Methode kritisiert, sich ihr dabei aber unterwirft, indem er die im medizinischen Diskurs herrschenden Methoden der Statistik, des Empirismus sowie des hirnanatomischen und -physiologischen Paradigmas anwendet. Der Nachweis, dass die Ursachen für einen Ausbruch der paralytischen Erkrankung zahlenmäßig nicht zu fassen, weil komplex und multikausal sind, stellt jedenfalls das rationallogische kausale Weltbild der Medizin keineswegs in Frage.

Nasen. Groteske Figuren zwischen Ästhetischer Chirurgie und Kriegsmedizin Das Problem der Lues, mit dem Picard sich in seiner Dissertationsschrift auseinandersetzt, weist über die engere psychiatrisch-medizinische Themenstellung hinaus auf zwei Entwicklungen der zeitgenössischen Medizin, die als Figuren oder Gesichte sich ebenfalls in seinen literarischen Texten wiederfinden lassen: Die Rede ist von den Neuerungen der Gesichts- und Kieferchirurgie bzw. der Prothetik in der (Vor-)Kriegsmedizin 144

Ebenda, S. 27. Ebenda. 146 Ebenda. 147 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 9. 148 Ebenda, S. 14. Hervorhebung im Original. 145

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einerseits und von der Geburt einer modernen Schönheitschirurgie andererseits. Das prominente Körperteil, das die Lues-Frage mit den beiden anderen Entwicklungen verbindet und von dem auch in Picards Der letzte Mensch die grotesken und unerhörten Defigurationen der menschlichen Form ausgehen ist – die Nase. Wie diese im besten Sinne anekdotischen ‚Verbindungslinien‘ zwischen Lues, Nase, Kriegsmedizin und Schönheitschirurgie verlaufen und inwiefern dies für Picards Der letzte Mensch relevant ist, zeichnet dieses Kapitel nach. Zu den zum Klischee erstarrten Bildern von der Weimarer Zeit gehören nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Dauerkrisen, sondern auch das einer Gesellschaft omnipräsenter ‚Kriegskrüppel‘. Es wird befördert insbesondere durch die expressionistische Darstellung von im Krieg entstellten Körpern bei Dix, Grosz u. a. Doch es sind gerade die Gesichtsverletzungen, die in der medialen und alltäglichen Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar bleiben – und damit ein groteskes, verstörendes Potential bereithalten.149 Während die Erfolge der Rehabilitationsmedizin einer breiteren Öffentlichkeit vor allem anhand von Glieder-Prothesen dargestellt werden, die die Kriegsverletzten als in das Arbeits- und Gesellschaftsleben re-integrierte, weil funktionstüchtige Körper inszenieren und aus den Soldaten ‚Neue Menschen‘ machen, bewirken die Gesichtsverletzungen neben der funktionalen vor allem eine ästhetische Stigmatisierung, die medizinisch und medial weitaus schwieriger zu überwinden ist. Gerade auf dem Gebiet der Gesichtstraumata gibt es umfangreiche Untersuchungen und Studien über die Verletzungsfolgen moderner Waffen- und Geschosstechnik, sowie rehabilitationsmedizinische Versuche, diesen zu begegnen. Sie sind keineswegs eine Folge des Weltkriegs, sondern setzen bereits vorher ein. Vorreiter sind hier die Gesichts- und Kieferchirurgie, die etwa in Person des Wiener Zahnarzts und Kieferchirurgen Julian Zilz großangelegte Sammlungen aus Gipsbüsten, Wachsmoulagen und photographischen wie zeichnerischen Abbildungen erstellt hatte.150 Das Ausmaß und die potentielle ästhetische Schockwirkung der vom Krieg ‚zerstörten‘ Gesichter blieb allerdings vorwiegend auf medizinische Dokumentationen beschränkt, die zwar theoretisch öffentlich zugänglich, de facto aber lediglich einem engen Kreis von Fachmedizinern bekannt waren. Dies belegt eine Reaktion wie die von Kurt Tucholsky auf die in Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege! abgebildeten Gesichtsverletzungen: Wenn Kurt Tucholsky in der Weltbühne schrieb, daß es ‚keine Publikation [gibt], die etwas Ähnliches an Grausamkeit, an letzter Wahrhaftigkeit, an Belehrung böte‘, so hätte ihn erstens ein Blick in die medizinische Fachliteratur belehrt, daß es noch wesentlich grausamere Ver149

Darauf hat Hagner, Michael: „Verwundete Gesichter, verletzte Gehirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Wiemarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 78–95 hingewiesen. 150 Vgl. hierzu, insbesondere zu Zilz ebenda, S. 81ff.; zur Sichtbarkeit im Krieg erlittener Gesichtsverletzungen Tatar, Maria: „Entstellung im Vollzug. Das Gesicht des Krieges in der Malerei“, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte Köln: DuMont, 2000, S. 113–130.

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stümmelungen gab als die bei Friedrich abgebildeten; und zweitens zeigt sich gerade in Tucholskys Entsetzen, daß solche Bilder auch auf der Seite der Linken keineswegs allgemein bekannt waren beziehungsweise daß sie eine ganz andere Reaktion hervorriefen als die in der bildenden Kunst der Weimarer Republik dargestellten Gesichts- und Gliedmaßenversehrten.151

Als Mitarbeiter der Heidelberger Universität gehörte Picard zum kleinen Kreis von Fachmedizinern, denen solche wissenschaftliche Literatur zugänglich war; es ist also denkbar, dass er solche Bilder und Objekte kannte. Und vor diesem Hintergrund lassen sich die Defigurationen und Gesichte des Letzten Menschen auch als literarische Bearbeitungen von Picards medizinischen Erfahrungen lesen – denn selbst wenn eine direkte Kenntnisnahme nicht stattgefunden hat: Die soziale Energie der im literarischen Text zirkulierenden Figuren verdankt sich ja nicht notwendigerweise einer direkten Quelle, sondern dem kulturellen Potential, das machtvollen Objekten und Praktiken innewohnt und das ihnen erlaubt, auch in weit entfernten Feldern Resonanzen zu entfalten. Ein solcher ‚Resonanzeffekt‘152 ergibt sich aus einer (Re-)Lektüre des Letzten Menschen im Kontext des soeben Ausgeführten. Die grotesken Defigurationen setzen an der Nase ein – „[s]chon sieht man Nasen wie abgebrochen aufhören mitten in ihrer Linie“153 –, um von dort aus den Rest des Gesichts zu erfassen. Dabei steigern sich die Entstellungen der Gesichter bis hin zu einer grotesken Fratze, die stark an die Verunstaltungen der Zilz’schen Wachsmoulagen, Gipsabdrücke und Abbildungen erinnert: Niemals sah man je an den Gesichtern der gleichen Generation so verschiedenartige Nasen Augen, Ohren: große Nasen, winzig kleine, halbe Augen, doppelten Mund. Niemals sah man am Gesicht des gleichen Einzelnen so verschiedenartig die Nase, das Auge, das Ohr. Sieh’ dort jenes Gesicht! Unter einer sehr hohen Stirn ist ein winziges Auge und ein fast doppelter Mund reicht bis hin zu einem halben Ohr! [...] Sieh’ jenes Auge! Es ist nur ein halbes Auge, es hört in der Mitte auf.154

Wir erinnern uns: Nicht zufällig ging ja die groteske Darstellung des Letzten Menschen von einer Schilderung jener Kriegserfahrungen aus, die die Rehabilitationsmedizin unsichtbar machen möchte. Und dann: erinnerst du dich an die Wesen, die in den Schützengräben von den giftigen Gasen getötet worden waren? Sie sahen nicht mehr aus wie Menschen, aber trotzdem waren sie immer noch da.155

Schließlich liest sich auch der Hinweis auf die Angst vor der leeren Augenhöhle und darauf, dass jemand „in der Zeitung annoncierte, daß er fünftausend Dutzend künstliche Augen zu exportieren habe, – vielleicht hat dieser mit den künstlichen Augen die Höh151

Hagner: „Verwundete Gesichter, verletzte Gehirne“, S. 85. Vgl. hierzu Lichau, Karsten, Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf: „Anregungen“, in: Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hrsg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München: Fink, 2009, S. 11–32. 153 Picard: Der letzte Mensch, S. 17. 154 Ebenda, S. 19f. 155 Ebenda, S. 11. 152

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len ausgefüllt!“156, wie eine literarische Vision, die mit einem Wissen um aktuelle rehabilitations-medizinische Praktiken, Entwicklungen und Herausforderungen aufgeladen ist. Die vom Krieg verunstaltete Nase ist jedoch in der Zeit um den Ersten Weltkrieg nicht die einzige Figur, in der das Riechorgan als stigmatisierendes Körperteil auftritt und zugleich zum medizinischen (Operations-)Objekt wird. Wie Sander L. Gilman gezeigt hat,157 verdankt auch die moderne Ästhetische Chirurgie entscheidende Impulse der Nase – genauer: der vom Antisemitismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dankbar aufgegriffenen, aus antijudaischen Diskriminierungsdiskursen früherer Jahrhunderte entstammenden ‚jüdischen Nase‘. Die Karriere der Nase als soziales Stigma reicht dabei historisch weit zurück und über die ‚jüdische Nase‘ hinaus: Seit dem frühen 16. Jahrhundert war eine deformierte Nase das körperlich sichtbare Diskriminierungszeichen der Syphilis-Infizierten. Die fortschreitende Ausbreitung des Erregers führte nämlich häufig zur Zerstörung von Knorpel und Schleimhaut der Nasenwand und infolgedessen zum deutlichen Einsinken des gesamten Organs. Die verunstaltete Nase macht in den Augen der Öffentlichkeit sichtbar, was unter Übertretung der moralischen Grenze zumeist im Unsichtbaren geschieht: die Infektion mit dem Krankheitserreger durch sexuelle Promiskuität. Dieser Zusammenhang ist Picard infolge seiner Beschäftigung mit der Lues sicher bekannt gewesen. Doch spielt die durch die Lues verursachte Nasendeformation für die zeitgenössischen Versuche, stigmatisierende Nasen durch medizinische Techniken zum Verschwinden zu bringen, nur eine untergeordnete Rolle. Die ‚syphilitische Nase‘ wird nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die ‚jüdische Nase‘ nicht nur als soziales Stigma, sondern auch als legitimierendes Paradigma der Ästhetischen oder SchönheitsChirurgie abgelöst. Letztere stand traditionell unter dem Verdikt, kein körperliches Leiden zu bekämpfen, weswegen ihr die Anerkennung als medizinische Disziplin oft verwehrt wurde. Zur Verteidigung ihrer ärztlichen Reputation diente langezeit der Verweis auf das soziale Leid, das die Syphiliskranken auch nach ihrer Heilung aufgrund ihrer verunstalteten Nasen traf. Mit diesem Legitimations-Muster – der Verhinderung eines durch soziale Diskriminierung ausgelösten Leidens – argumentierte nun auch der Berliner Arzt Jacques Joseph, als er 1904 die Ästhetische Chirurgie revolutionierte und die Entwicklung zur modernen Schönheitschirurgie einleitete: Er berichtet von der zunehmenden Diskriminierung jüdischer Jungen und junger Männer, deren Nase dem antisemitischen Klischee der ‚Judennase‘ (‚Hakennase = jüdische Nase‘) entsprach (Joseph erwähnt in diesem Zusammenhang, dass auch nicht-jüdische Besitzer auffälliger Nasen zu Opfern der Diskrimierung werden). 156 157

Ebenda, S. 21f. Vgl. zum Folgenden Gilman, Sander L.: Making the Body beautiful. A cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton: Princeton University Press, 1999.

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Der Wunsch, seinen Patienten diese leidvollen Erfahrungen zu ersparen, führt Joseph zu einer neuen Operationsmethode: Denn die herkömmliche chirurgische Technik, die zwar die Nasenrücken begradigen konnte, dabei aber deutlich sichtbare Narben hinterließ, verfehlte ihr eigentliches Ziel. Sie konnte nicht verhindern, dass die Stigmatisierung in der Narbe weiterhin einen optischen Anknüpfungspunkt fand. Joseph entwickelte daher eine Technik, die den Nasenrücken von innen her reduzierte, so dass die neue Nase keine von außen sichtbaren Narben aufwies.158 Sander L. Gilman bringt Josephs Tätigkeit in Zusammenhang mit der ‚jüdischen Mimikry‘, dem den Juden nachgesagten Hang zur täuschenden Nachahmung.159 Unter dieses Phänomen reiht er nicht nur Josephs medizinische Versuche ein, an der Nase die täuschende Nachahmung einer Norm-Körpergestalt zu erreichen. Auch Josephs eigene Biographie zeichnet sich durch den Versuch aus, die Stigmata ‚des Juden‘ unsichtbar werden zu lassen: Joseph hieß ursprünglich Jakob Joseph; der Namenswechsel zu Jacques Joseph verbindet den Arzt und seine Patienten in der Sehnsucht, durch eine veränderte Sichtbarkeit sozial ‚unsichtbar‘ zu werden: „[His] patients needed to become (in)visible to ‚pass‘. And Joseph had learned that only (in)visibility left his patients ‚happy‘“160. Es ist durchaus möglich, dass Picard Kenntnis von der Arbeit Jacques Josephs besaß: Seine Studienzeit in Berlin fällt in die Zeit, als Joseph mit seinen Neuerungen den Widerstand der Ärztezunft erregte und schließlich eine eigene Praxis gründete. Und nicht nur als Jude, sondern auch aufgrund seiner Beschäftigung mit der Lues/Syphilis und ihren Folgen dürfte Picard die Problematik der stigmatisierenden Nase geläufig gewesen sein; eine gewisse Aufmerksamkeit für neuartige Entwicklungen auf dem Gebiet der ästhetischen Nasenchirurgie darf also vorausgesetzt werden. Doch auch wenn sich eine direkte Verbindung zwischen Picard und Joseph nicht nachweisen lässt – es fällt schwer, den im Letzten Menschen beschriebenen Versuch einer Refiguration der defigurierten Nase nicht als Spur der ‚jüdischen Mimikry‘ einer normalen Nase zu lesen: Sieh’ jene Nase: sie weiß auch nicht mehr, wie sie ihr Ende erreichen soll. Es ist, als ob sie wie ein Schüler bei einer andern Nase absähe, wie es weitergeht. Man sieht die Stelle noch, wo sie nicht mehr gewußt hat, wie es weitergeht, sie zittert immer noch, weil sie es hier nicht gewußt 158

„‚[H]ardly visible‘ was not sufficient. Even the slightest scar was enough to evoke a visual memory of the too-big nose. The invisibility of the patient hinged on the elimination of the scar“ (ebenda, S. 133). 159 Vgl. zur Mimikry Cha: Humanmimikry. Poetik der Evolution. 160 Gilman: Making the Body beautiful, S. 133. In diesem Bestreben nach sozialer (Un-)Sichtbarkeit überschreitet Joseph die Grenzen des medizinischen Feldes: Als (kunst-)historisches Vorbild für seine normierende „Nasenplastik“ (so der Titel der wohl wichtigsten Darstellung seiner Forschungen: Joseph, Jacques: Nasenplastik und sonstige Gesichtsplastik. Nebst einem Anhang über Mammaplastik, Leipzig: Kabitzsch, 1931) gilt ihm neben Dürer und Leonardo (vgl. ebenda, S. 9f.,12,22) Johann Gottfried Schadows rassistischer „Kanon des Gesichts“ (ebenda, S. 10). Das Beispiel für ein „[s]chönes Gesichtsprofil mit griechischen und römischen Profilmerkmalen“ (ebenda, S. 25) aber findet er nicht in der Kunst, sondern in der Realität – bei seiner Frau (die keine jüdischen Vorfahren besitzt)!

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hat. Dann aber geht es plötzlich weiter: so regelmäßig, so genau, so nur irgend einer andern Nase folgend geht plötzlich die Nase weiter, als ob sie gar nichts anderes wolle denn dieses: die Nase, bei der sie abgesehen hat, wie es weitergeht, richtig wiederholen. Es ist ihr gar nicht wichtig, Nase zu sein; sie will nur richtig wiederholen.161

Was hier mitschwingt, ist das antisemitische Klischee vom wesenlosen Juden: der Wille zur reinen Wiederholung anstelle eines ‚Willens zum Sein‘. Ein weiterer anekdotischer Berührungspunkt zwischen Josephs medizinischen und Picards literarischen Praktiken ist die Aufmerksamkeit für eine verräterische Zäsur, die sich im Gesicht manifestiert und im Abweichen von der Linie ihren Träger verrät: Sieh’ jenes Gesicht: Es scheint, daß an dieser Stelle die Linie des Gesichts anhält, es scheint, daß sie nicht mehr weiterzugehen weiß. Dann aber biegt sie auf einmal rasch um. Sieh’ wie sie rasch um biegt! Will sie die Zeit des Anhaltens einholen? Es scheint, daß eine andere Linie, mit der sie sich verbinden muß, schon weitergegangen ist, während sie selber anhielt. Sie muß diese Linie einholen.162

Die Angst, abzuweichen und durch verräterische (Nasen-)Linien zum öffentlich stigmatisierten Gesicht zu werden – sie verbindet Josephs Patienten mit Picards Letztem Menschen: Sieh’ wie das Gesicht nervös wird, weil es Angst hat, das nicht mehr einzuholen, was es mit dem Anhalten versäumt hat! Schon sieht man Nasen wie abgebrochen aufhören mitten in ihrer Linie.163

Gestützt wird diese Lektüre der de-/refigurierten Nase aus dem Letzten Menschen als jüdische Mimikry durch einen weiteren Text. Denn bereits in Das Ende des Impressionismus findet sich die Figur der jüdischen Mimikry, einer besonderen ‚impressionistischen‘ Anpassungsfähigkeit der Juden an die ihnen fremde Umwelt: Am besten schlug der Impressionismus dem Juden an. Der Jude hatte der fremden Umwelt durch die einfache Anschauung nicht näherkommen können. Der Verstand sollte die einfache Anschauung sprengen und die Teile in so viele Beziehungen setzen, daß auch der fremde Jude Verwandtes finden konnte. (Darum mußte es kommen, daß der Jude den Verstand so sehr überschätzte.)164

Die Verbindung von Judentum und Impressionismus artikuliert die antisemitischen Klischees des übersteigerten jüdischen Intellekts mit der Ort- und Rastlosigkeit des ‚ewigen Juden‘ und seiner fehlenden Wesenhaftigkeit, der alles und damit zugleich nichts fremd ist: Was aber bis jetzt nur Ersatz gewesen war und Not in der Fremde, das galt im Impressionismus als eigentliches Wesen. Die impressionistische Welt war voller Beziehungen, es gab kein Fremdes mehr. [...] Die jüdische Sehnsucht ließ sich von dem expansiven Impressionismus mittragen. Der Jude brauchte sich nicht mehr dreimal am Tage besonders nach dem Osten aufzustellen, – er war überall unterwegs dahin.165

161

Picard: Der letzte Mensch, S. 18. Ebenda, S. 17. 163 Ebenda. 164 Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 64. 165 Ebenda, S. 64f. 162

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Das Beliebige und Beziehungshafte des Impressionismus erlaubt der jüdischen Mimikry, ihre Tarntechnik zu entfalten, auszubreiten und in der (eigentlich fremden) Umwelt aufzugehen – wären da nicht die „Rassemäßigen“, die weiterhin nach den verräterischen Stigmata der Körper suchen: „(Aber die Rassemäßigen hielten den Juden am Körper fest, da sein Geist schon längst auf dem Exodus war.)“166 Wie prophetisch dieser Satz war, konnte Picard wohl kaum ahnen: Noch im besetzten Nizza fahndeten die „Rassemäßigen“ mit physiognomisch geschulten Suchtrupps nach Juden167 – und hielten manchen von ihnen „am Körper fest, da sein Geist schon längst auf dem Exodus war“.

166 167

Ebenda, S. 65. Hans Blumenberg gibt diese Information von Serge Klarsfeld weiter in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.1990, zit. n. Schmölders: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, S. 133.

Teil III: Das Menschengesicht

Nach den Gesichten. Vor dem Angesicht

„Das Schweigen um den Mund herum ist wie das Siegel, das vor jedes Wort gesetzt ist, ehe der Mund es öffnet.“1 Dieser Satz aus Picards Das Menschengesicht bündelt vieles von dem, was das 1929 erschienene Buch auszeichnet und deutet auch auf seine Positionierung im Verhältnis zu den vorangehenden Schriften hin. In dem Satz klingen zwei Phänomene an, die für den Übergang von Picards expressionistisch beeinflusstem Frühwerk zum Menschengesicht aufschlussreich sind und als Orientierung und erste Annäherung an das Werk dienen sollen, dessen nähere Betrachtung dann mit einer textnahen Analyse einiger Passagen und poetologischer Verfahren einsetzt. In der Rede vom Schweigen um den Mund und „das Siegel, das vor jedes Wort gesetzt ist“, deutet sich zum einen eine Veränderung, ja ein Bruch zur Poetologie und zum Stil des vorangegangenen Werkes an: Ließ Der letzte Mensch seine verstörenden, grotesk-apokalyptischen ‚Gesichte‘ in einer uneinheitlichen, zerrissenen Form, in einem expressionistische Züge tragenden parataktischen Stil „[i]n höchster Gedrängtheit und Präzision vorbei[...]ziehen“2, so wird Das Menschengesicht von einer mystisch angehauchten und einer religiösen Ästhetik verpflichteten Sprache getragen, die alles Experimentelle, Schroffe oder Fragmentierte vermeidet. Dieser Bruch mit allem ‚Gebrochenen‘ kennzeichnet auch die thematische Dimension des Menschengesichts. Die Auseinandersetzung mit den Kontexten eines religiös geprägten Schreibens mit traditionellen Bezügen wird sowohl für die textnahe Analyse des Menschengesichts als auch für seine Einbettung in die Diskurse des literarischen Feldes sowie die Beschäftigung mit den Austauschbeziehungen zur Theologie eine zentrale Rolle einnehmen. Was in der Wut des Ansturms grotesk sich überschlug, hat sich jetzt wieder besonnen. [...] Das Neue ist noch da. Aber es ist nicht mehr freche Freude an sich aufbäumenden Gesten. Es ist eine innere Kraft. Durch einen Brennspiegel sammelnd, raffend, konzentrierend. [...] Einfachheit und Klarheit der alten Meister3, 1 2 3

Picard: Das Menschengesicht, S. 40. Döblin: „An Romanautoren und ihre Kritiker“, S. 17. Britting, Georg: „Der Maler und Graphiker Josef Achmann“: in: Georg Britting, Sämtliche Werke. Bd. 1. Frühe Werke. Prosa, Dramen, Gedichte 1920–1930, hrsg. v. Walter Schmitz und Ingeborg Schuldt-Britting, München: Süddeutscher Verlag, 1987 [1921], S. 128–133, hier: S. 132.

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Nach den Gesichten. Vor dem Angesicht

schreibt 1921 Georg Britting, der wie Picard einen gemäßigten Expressionismus verlässt und zu einem „Magischen Realismus“ wechselt; seine Worte, die auf den befreundeten Maler Josef Achmann gemünzt sind, lassen sich auf die Situation der Künste im allgemeinen und auch auf das literarische Feld übertragen. Wilhelm Haefs hat die literarische Position des Magischen Realismus als Phänomen des „Nachexpressionismus“ gedeutet: Diesem geht es programmatisch um die Rückgewinnung des Gegenstandes, um Natur und Form, um die Zusammenfügung und Re-Konstruktion der durch die avantgardistische Literatur vermeintlich zerstörten Sprache. Es geht ihnen [den nachexpressionistischen Positionen, K. L.] um die Wiederherstellung des Vertrauens in Sprache und von Ich-Identität als Voraussetzung dichterischer Produktivität, um die Wiedergewinnung einer Schöpfungspoetik. Es sind dies natürlich Positionen, die nicht neu sind.4

Picards Siegel, das nicht nur vor die „durch die avantgardistische Literatur vermeintlich zerstörte[.] Sprache“, sondern „vor jedes Wort gesetzt ist“, steht für eine solche ehrfurchtsvolle „Wiederherstellung des Vertrauens in Sprache“. Doch das „Schweigen um den Mund“, das andauert, bis schließlich sein Siegel gebrochen wird, setzt auch die Peripetien des Literaten Max Picard in ein akustisches Bild: Acht Jahre vergehen zwischen dem Erscheinen von Der letzte Mensch und dem Menschengesicht, acht Jahre, in denen die literarische (Lauf-)Bahn eine entscheidende Richtungsänderung erfährt und einen großen Bogen vollführt – eine Bewegung des literarischen Swerving. In diesem Falle, das sei ebenfalls vorausgeschickt, ist der Umweg weniger abwegig als in den früheren Schriften: Dem Menschengesicht ist ein gewisser, wenn auch nicht andauernder Erfolg beschieden, noch im Jahre seines Erscheinens erlebt es zwei weitere Auflagen. Elemente, die schon in den frühen Werken von Gewicht sind – wie das Gesicht, die Rede von Gott oder die Krise des Historismus –, werden in der langen Zeit des Schweigens im Verhältnis zueinander neu geordnet und gewichtet. Von diesen Gewichtsverlagerungen und literarischen Kurven, durch die Picards Kurs und seine Positionierungen eine entscheidende Richtungsänderung erfahren, soll dann im Anschluss an die Analyse der Figuren und Textverfahren die Rede sein.

4

Haefs: „Nachexpressionismus. Zur literarischen Situation um 1920“, S. 79.

7 „Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Picards Das Menschengesicht ist die bekannteste seiner vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Schriften und das Hauptwerk seiner literarischen Physiognomik: Es stellt wie kein anderes das Gesicht ins Zentrum, greift dabei manche Aspekte auf, die bereits in Der letzte Mensch auftauchen, zeichnet sich jedoch durch neue Perspektiven und Positionierungen aus. Dies erweist sich insbesondere an Picards Verwendung paradoxer Figuren. Der letzte Mensch ist von paradoxen Spannungen durchzogen, die den Text zwischen Groteske und Apokalypse schwanken lassen und ihm seine Dynamik sowie seinen unzugänglichverstörenden Charakter verleihen, weil sie nicht aufgelöst werden. Das Menschengesicht treibt dagegen ein literarisches Spiel mit Paradoxien, das anderen literarischen Motivationen und Verfahren folgt. Die Spannung zwischen einer auf die göttliche Schöpfung gegründeten kosmologischen Ordnung und deren weltlichem Zerfall bildet wie im Letzten Menschen das Leitmotiv, auf das Picards Schreiben immer wieder zurückkommt. Den metonymischen Leitgegensatz bilden dabei das „Menschengesicht“ als Gottes Ebenbild und das „Menschengesicht heute“, das die Zeichen eines historischen Niedergangs der irdischen Sphäre trägt, die Picard in seiner Gegenwart beobachtet. Schon ein genauer Blick auf die terminologische Unterscheidung in „Menschengesicht“ und „Menschengesicht heute“ ist aufschlussreich für die Richtung, die Picard nun einschlägt. In Der letzte Mensch schlug sich die Spannung zwischen der transzendenten Ordnung und der Bedeutung der immanenten Welt figurativ nieder in der Unterscheidung zwischen dem „Gesicht des Menschen“ – das der göttlichen Kosmologie zugehörig war – und dem „Gesicht des Wesens“, das die grotesk-apokalyptischen Züge von Niedergang, Täuschung und Auflösung trägt: Wie kann das Gesicht dieses Wesens so wie das Gesicht des Menschen unabhängig und stolz sein, denn es war nicht wie das Gesicht des Menschen von der Ewigkeit her ein ganzes Gesicht, das Gesicht dieses Wesens wird erst ein ganzes Gesicht, indem es die Teile, die ihm fehlen, von einem andern Gesicht nimmt. [...] Das Gesicht des Menschen aber ist ruhig. Es hat alle Bedingungen, ein Gesicht zu sein in sich selber, es hat sie von der Ewigkeit her.5

5

Picard: Der letzte Mensch, S. 68.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Das „Gesicht des Menschen“ und das „Gesicht des Wesens“ stehen sich hier noch unversöhnlich gegenüber. 1929 aber ist das Gesicht der Gegenwart, so sehr es auch von Krise und Untergang gezeichnet sein mag, ein Menschengesicht: Das „Menschengesicht heute“ steht zwar nach wie vor im Gegensatz zum „Menschengesicht“ und wird durchweg negativ konnotiert, aber es bleibt doch immer noch „Menschengesicht“. Diese Verschiebung der metaphorischen bzw. metonymischen Terminologie präfiguriert eine Wandlung: Mit Das Menschengesicht erfolgt eine inhaltliche wie stilistische Neupositionierung. Liefen die expressionistischen Gesichte des Letzten Menschen auf die düstere Vision einer undifferenzierten Kugel hinaus, die den Untergang ins bedeutungslose Nichts symbolisiert, so hofft Das Menschengesicht auf die Rettung, die in der Gottesebenbildlichkeit des „Menschengesichts“ verbürgt ist: Die Gesichter heute sind sehr zerrissen, aber so zerrissen vermag kein Gesicht zu sein, daß die Einheit des Gesichtes zerstört wird. Die Einheit, – das ist Gottes Zeichen im Gesicht, und Gottes Zeichen ist immer noch stärker als alle andere menschliche Zerrissenheit.6

Es liegt nahe, das Menschengesicht als Antwort auf den Letzten Menschen und auf das Unverständnis oder „Frösteln“7 zu betrachten, mit dem selbst nahe Bekannte und Freunde auf das Werk reagiert hatten. So jedenfalls lässt sich eine Passage aus dem zweiten Kapitel lesen, in der es heißt: Das Menschengesicht heute ist nicht mehr wie am Anfang des Geschlechtes, es ist wie am Ende. Als seien sie die letzten, so stehen die Gesichter da; das Gros ist geflohen. Wie Nachzügler sind sie, die die Flucht der anderen decken. Eine Nachhut, die sich opfert, das sind die Gesichter heute. Und darum, weil sie als die letzten blieben, bereit, sich zu opfern, darum sind sie vielleicht noch da, sie dürfen vielleicht noch da sein, wenn die ersten, die neuen Menschen geschaffen werden, und manchmal scheint es, als würden aus ihnen, gerade aus ihnen selber, die ersten neuen Menschen.8

Die Motive von Flucht9 und Nachhut, sowie der Verwandlung der letzten Menschen zu einem neuen Wesen tauchten bereits in Der letzte Mensch auf. Und bis in die Diktion hinein (das „vielleicht, ... vielleicht“, die parataktische Wiederholung von Satzpartien) zitiert sich Picard hier selbst. Doch an die Stelle des „neuen Wesens“ treten hier „neue Menschen“; und die zunächst stark an den Letzten Menschen erinnernde Passage erscheint in einem anderen Licht, wenn er fortfährt: Das Menschengesicht kann nicht vergehen; denn das Menschengesicht gehört nicht der werdenden endlichen Welt an, sondern der unendlich seienden. Das Gesicht steht so seinshaft da, als ob 6 7 8 9

Picard: Das Menschengesicht, S. 60f. So Frank Thiess in seinem an Picard adressierten „Brief über die Bildende Kunst“ (Thiess: Das Gesicht des Jahrhunderts. Briefe an Zeitgenossen, S. 156). Picard: Das Menschengesicht, S. 22. Das Motiv der Flucht, das im Letzten Menschen vor allem im Zusammenhang mit der Figur des Ersten Weltkriegs begegnete, erfährt im späteren Werk eine Umdeutung zu einem theologischen Topos. Vgl. hierzu ausführlich unten in Kap. 9.1 die Abschnitte über Kierkegaard (S. 431ff.) und Die Ungeborgenen (S. 440ff.).

„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

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es nie geworden wäre, als ob es nicht nur bei ihm kein Werden gäbe, überhaupt nirgends scheint es ein Werden mehr zu geben, das Werden ist zum Stehen gebracht vor dieser Seinshaftigkeit. Gott wird nicht, sondern er ist.10

Was an dieser Stelle erfolgt, ist eine Wende innerhalb des Picard’schen Gesamtwerks, eine Abkehr von den textuellen, begrifflichen und thematischen Brüchen früherer Werke: Verläuft in Der letzte Mensch ein radikaler Riss zwischen der himmlischen Kosmologie und der Demiurgie des „Furchtbare[n]“11, so werden Ewigkeit und Untergang nun übereinander geschoben und gegeneinander durchlässig. Aus dieser Perspektive erscheinen die letzten Gesichter nun nicht mehr als die gespenstischen Hüllen für die furchtbaren Wesen des Endes, als Monster, die den grotesk-apokalyptischen Zerfall anzeigen und verwirklichen – sie werden vielmehr zu Zeichen der Hoffnung. Als „Nachhut“ des letzten Menschen ist das Gesicht zugleich Vorhut des „neuen Menschen“, aus dem monströsen Dämon wird eine heilige Figur. Und doch verrät der Text noch ein Schwanken, dem wir schon im Letzten Menschen begegneten. Die von Picard beschworene unerschütterliche „Seinshaftigkeit“ des Gesichts, die alles Werden zum Stehen bringt, sie tritt literarisch im Modus des Scheins auf: Das Gesicht steht so seinshaft da, als ob es nie geworden wäre, als ob es nicht nur bei ihm kein Werden gäbe, überhaupt nirgends scheint es ein Werden mehr zu geben.12

Die Emphase, mit der die Ewigkeit des Menschengesichts beschworen wird, übertönt jedoch mehr und mehr das Klagelied, das seinen Zerfall betrauert: Endete Der Letzte Mensch mit der „krächzenden“ Phonographen-Stimme, die die Erinnerung an den wie „in einem Museum [...] ausgestellten Menschen“13 als Tonspur ohne Adressat bewahrt und seinen Tod in unendlicher Wiederholung verkündet, so klingt es wie ein (Glaubens-)Bekenntnis, das gegen diese Phonographen-Stimme anspricht, wenn Picard acht Jahre später verkündet: Heute aber glauben wir: nie steht ein Menschengesicht bloß als eine Erinnerung da, Erinnerung, daß das Ebenbild Gottes einmal in allen Gesichtern war. Ein Menschengesicht ist mehr als bloß eine Erinnerung an etwas, das gewesen ist, das letzte Menschengesicht ist immer noch ein Zeichen für etwas, das ist und immer sein wird. Das letzte Menschengesicht mit dem Ebenbild Gottes ist da wie am ersten Tag und wie das erste einer neuen Reihe.14

Das Übergewicht der im „Menschengesicht“ verbürgten transzendenten „Seinshaftigkeit“ gegenüber Zerfall und Zerrissenheit des „Menschengesichts heute“ wird jedoch nicht allein inhaltlich beschworen. Auch die formale Komposition des Menschengesichts folgt einem anderen Verfahren als die grotesk-unverständlichen Texturen des Letzten Menschen. 10 11 12 13 14

Picard: Das Menschengesicht, S. 22. Picard: Der letzte Mensch, S. 134, passim. Ebenda. Hervorhebungen K. L. Picard: Der letzte Mensch, S. 204. Picard: Das Menschengesicht, S. 31.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Die Textstruktur der Kapitel wird geprägt durch die Verwendung dualer Kategorien: Ferne und Nähe, Geben und Nehmen, Hoheit und Demut, Innen und Außen, Ewigkeit und Gegenwart sind nur einige der Gegensatzpaare, die dem Text Gestalt verleihen. Doch entscheidend für die Poetologie des Menschengesichts ist die Art und Weise, in der diese Paare sich verbinden, das Wie ihrer Verknüpfung. Denn Picard konfiguriert seine Gegensatzpaare zu einem Gefüge, in dem die vermeintlichen Antagonisten sowohl untereinander als auch mit anderen Gegensatzpaaren in Wechselwirkung treten. Dies sei im Folgenden an einem Beispiel aus dem Kapitel über „Die Eigenschaften des Ebenbildes“ verdeutlicht, in dem ein transzendentes und ein irdisches Paar von Eigenschaften aufeinander treffen, „Klarheit“/„Geheimnis“ und „Indiskretes“/„Trübes“: Das Menschengesicht früher war wunderbar klar wie Gottes Klarheit. [...] Alles war klar in diesem Gesicht. Kein Strahl, der von ihm in die Welt gehen wollte, wurde im Nebel des Gesichts zurückbehalten.15

Dieser Klarheit steht zunächst das göttliche Geheimnis gegenüber – oder genauer: Es steht dahinter, denn [d]as Menschengesicht stand so klar da, als sei alles Geheimnis verurteilt worden, hinter der Klarheit versteckt zu bleiben. Da steht nun das Geheimnis hinter der Klarheit, wartend, daß es an die Reihe komme, im Gesicht zu sein.16

Doch eigentlich ist auch dies noch ungenau: Denn das Menschengesicht zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm der den Begriffen innewohnende Gegensatz gar kein Gegensatz ist. Im Rückgriff auf Leibniz’ Lehre der Wahrnehmungstypen und Erkenntnismerkmale, die die von Descartes getroffene Unterscheidung in die vier Stufen der verworrenen, dunklen, deutlichen und klaren Erkenntnis17 problematisiert und differen15 16 17

Ebenda, S. 28. Ebenda. Während die Klarheit die Stärke meint, mit der eine Empfindung ins Bewusstsein dringt und dort verbleibt, bezeichnet die Deutlichkeit das Maß, mit dem ein Gegenstand der Erkenntnis von anderen unterschieden ist. Wie die Verworrenheit den Gegensatz zur Deutlichkeit bildet, so die Dunkelheit zur Klarheit: „Unsere einfachen Vorstellungen sind klar, wenn sie ebenso sind, wie die Gegenstände selbst, von denen man sie empfängt, und dieselben mit allen zu einer wohlgeordneten Empfindung oder Wahrnehmung erforderlichen Umständen darstellen oder darstellen können. Wenn das Gedächtnis sie auf diese Art bewahrt, so sind es in diesem Falle klare Vorstellungen, und in dem Maße, als es ihnen an dieser ursprünglichen Genauigkeit fehlt, oder sie, sozusagen, von ihrer ersten Frische verloren haben und mit der Zeit getrübt und verwelkt sind, in dem Maße sind sie dunkel. […] Ich nenne also eine Vorstellung klar, wenn sie genügt, etwas zu erkennen und zu unterscheiden; wie ich z. B., wenn ich eine ganz klare Vorstellung von einer Farbe habe, nicht eine andere für die von mir gemeinte nehmen werde, und wenn ich eine klare Vorstellung von einer Pflanze habe, sie von andern ähnlichen unterscheiden kann; sonst ist die Vorstellung dunkel. Ich glaube, daß wir von den sinnlichen Dingen nicht vollständig klare Vorstellungen haben. […] So wie eine klare Vorstellung diejenige ist, von welcher der Geist eine volle und evidente Wahrnehmung der Art hat, wie er sie von einem äußeren Objekt empfängt, das auf ein richtig gestimmtes

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ziert, überführt Picard den Gegensatz zwischen der Kategorie der klaren und deutlichen, d. h. den Prinzipen des rationalen, logisch-begrifflichen Denkens verpflichteten Erkenntnis und dem Drang zur Erfassung eines Ganzen in eine paradoxe Einheit. Nach Leibniz ist dieser Gegensatz für die menschliche Wahrnehmung nicht zu überwinden. Durch die Kraft der ästhetischen Repräsentation vermag sie aber die Unmöglichkeit einer vollständig klaren und deutlichen, d. h. analytischen Erkenntnis der Einzelteile einer komplexen Wahrnehmung und ihrer zugleich vollkommenen, das Ganze erfassenden Erkenntnis in der Vorstellung der Schönheit oder Adäquatheit zu versöhnen. In Anspielung auf diese philosophische Tradition löst Picard das scheinbar widersprüchliche Paar Klarheit/Geheimnis in ein Paradox auf, das die scheinbare Unversöhnlichkeit der Differenzen transzendiert und zu einer harmonischen Einheit transfiguriert: Das Menschengesicht ist klar und geheimnisvoll zugleich, so wie Gottes Wesen auch ist: klar und geheimnisvoll zugleich.18

Immer wieder überführt Picard nun solche vermeintlich gegensätzlichen Begriffspaare aus der Statik des Gegensatzes in eine harmonisch bewegte Spannung; an die Stelle der expressionistisch dissoziierten Unverständlichkeits-Texturen mit ihren schroffen und statischen „Blöcken“ tritt dabei eine harmonisch-paradoxe, in ihrer Mystizität zwar ebenfalls unzugängliche, aber traditionellere Textur: Man sieht hinter der Klarheit das Geheimnis andrängen. Manchmal scheint es, als ob das Geheimnisvolle, ungeduldig im Warten, die Klarheit vorantreibe, – und so wird das Gesicht durch das Geheimnis noch klarer.19

Das gottesebenbildliche „Menschengesicht“ zeichnet sich also durch eine paradoxe Versöhnung seiner gegensätzlichen Eigenschaften aus. Ganz anders dagegen das „Menschengesicht heute“: Einerseits ist in ihm – auch sprachlich – das „Menschengesicht“ bewahrt, und dies ist ein höchst entscheidender Gegensatz zum Letzten Menschen. Dort blieb den ‚Wesen‘ der Gegenwart lediglich ein „Gesicht“, das auch in der Begriffsbildung nicht mehr mit dem Humanen assoziiert wurde. Andererseits steht das „Menschengesicht heute“ zugleich als Gegenbegriff zum „Menschengesicht“; und so stellen die Eigenschaften des ersteren die negativ konnotierte Entsprechung zu den Attributen des letzteren dar: Die meisten Menschengesichter heute haben das Geheimnis nicht mehr. Wo einmal das Geheimnis war, ist jetzt das Trübe. Und wo es sich aufdeckt, ist es nicht klar, sondern indiskret.20

18 19 20

Werkzeug gehörig wirkt, ebenso ist eine deutliche Vorstellung diejenige, wo der Geist einen dieselbe von jeder anderen Vorstellung unterscheidenden Unterschied bemerkt, und eine verworrene Vorstellung diejenige, welche man nicht hinlänglich von einer anderen, von der sie verschieden sein soll, unterscheiden kann.“ (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig: Meiner, 2. Aufl., 1904 [1756], S. 248f., Hervorhebungen im Original) Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Die Eigenschaften des „Menschengesichts heute“ werden also zunächst einmal bestimmt als das Trübe, das nicht das Geheimnis ist, und als das Indiskrete, das nicht Klarheit ist. Doch nicht allein die Differenz ihrer einzelnen Glieder zum jeweiligen Gegenüber (Trübes versus Geheimnis, Klarheit versus Indiskretes) unterscheidet das Gegensatzpaar „Trübes“/„Indiskretes“ von dem aus „Klarheit“ und „Geheimnis“, sondern auch die Verschiedenheit ihrer jeweiligen internen Beziehung. Die ‚Textur‘ des „Menschengesichts heute“ wird nämlich nicht allein durch die begriffliche Unterscheidung dem ‚reinen‘ Menschengesicht entgegengesetzt, sondern vor allem durch das Fehlen einer harmonisierenden Austausch-Bewegung, die seine inneren Spannungen und Gegensätze – nämlich die zwischen Trübe und Indiskretion – verbinden könnte. Das Trübe und das Indiskrete stehen – ganz anders als die Klarheit und das Geheimnis – unverbunden nebeneinander. Sie lösen einander ab, ohne sich dabei wie im Falle von Klarheit und Geheimnis gegenseitig mitzuteilen oder ‚voranzutreiben‘. Die höchst unterschiedliche Konfiguration der Eigenschaften zu Paaren äußert sich auch am Textkörper: Bewegt sich die Darstellung des „Menschengesichts“ über 26 Zeilen hin, in denen Klarheit und Geheimnis auch im Text harmonisch aufeinander zubewegt und zu einer Einheit versöhnt werden, bleibt es bei der Schilderung des „Menschengesichts heute“ bei den oben zitierten dreieinhalb Zeilen. Damit stehen nicht nur das Trübe gegen die Klarheit und das Indiskrete gegen das Geheimnis, sondern Trübheit und Indiskretion als ein unversöhnlicher Gegensatz gegen die Harmonie von Klarheit und Geheimnis. Das Fehlen des Ausgleichs und der Dynamik steht für die fehlende Ganzheit, die das „Menschengesicht heute“ prägt. Die internen und externen Konfigurationen gegensätzlicher Begriffspaare bilden also eine textuelle Struktur, die vier verschiedenen Mustern folgt: dem zum harmonischen Paradox versöhnten Gegensatz göttlicher Attribute des Menschengesichts (Klarheit und Geheimnis), der Entgegensetzung transzendenter und irdischer Attribute (Klarheit versus Indiskretion, Geheimnis versus Trübes), dem unversöhnten Gegensatz irdischer Attribute (Trübes/Indiskretes) sowie der jeweils unterschiedlichen rhetorischen Entfaltung der Begriffspaare: Versöhnung durch textuelle Verflechtung versus unversöhnliche Zerrissenheit, markiert durch sprachliche Knappheit.

7.1 Raum und Zeit des Menschengesichts Eine harmonische Bewegung, wie sie die Rede von Klarheit und Geheimnis des „Menschengesichts“ nicht nur konstatiert, sondern als Textbewegung performativ vollzieht, zeichnet auch die im Folgenden näher betrachteten Theorien von Raum und Zeit des „Menschengesichts“ aus.

Raum und Zeit des Menschengesichts

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Die Räume des Menschengesichts. Von interfacialen, innerfacialen und interstellaren Perspektiven Was den Raum anbelangt, so gehorchen sowohl der interfaciale Raum zwischen den Menschengesichtern als auch der Raum des einzelnen Menschengesichts dem soeben rekonstruierten Modell eines nicht-statischen, aber harmonischen Ausgleichs. Der interfaciale Raum zeichnet sich einerseits durch Distanz und Abstand aus: Die Menschengesichter früher waren durch das Göttliche voneinander distanziert. [...] Früher stand jedes Gesicht in einem Abstand vom anderen, ja, es stand wie allein für sich da, es war, als ob es nur mit Gott zusammenhinge und nicht mit den anderen Menschengesichtern.21

Doch „das Göttliche“ hebt die Vereinzelung der Menschengesichter nicht nur auf, indem es mit jedem einzelnen in Zusammenhang steht, sondern stiftet zugleich mit der Distanzierung auch die Verbundenheit unter den Menschengesichtern. Deutlich wird dabei, dass der harmonische Ausgleich der paradoxen Konstruktionen allein durch die Intervention einer transzendenten Instanz zu denken ist: Gott schaute von einem Gesicht zum anderen, wie es mit seinem Bilde vor ihm stand, und im Blick Gottes, der von einem zum anderen ging, wurden die Gesichter miteinander verbunden. In dem Raum zwischen zwei Menschengesichtern war also der Blick des Schöpfers selber. Durch den Blick des Schöpfers waren die Gesichter miteinander verbunden, und so wurde der Mensch auch mit den anderen Geschöpfen der Erde verbunden, daß Gottes Blick immer im leeren Raum zwischen zwei Geschöpfen war. Kein Mensch hätte sich getraut, dort etwas hinzustellen, wo Gottes Blick selber sich hingestellt hat.22

Auch hier also haben wir es mit Gesichten zu tun: Erst durch den transzendenten Blick wird der „leere[.] Raum zwischen zwei Geschöpfen“ zum interfacialen Raum – und erst durch diesen verbindenden Blick werden Gesichter zu „Menschengesichtern“. Wo dieser transzendente Blick dagegen fehlt, schlagen – gemäß des oben skizzierten Modells – „Abstand“ und „Distanz“ in „Lücke“ und „Einsamkeit“ sowie „Verbundenheit“ in „Indiskretion“ um: Wo aber der Mensch nicht mehr durch das Göttliche distanziert wird, hält er sich nahe an einen anderen, zu nahe: er wird indiskret. [...] Heute ist Gott vertrieben aus dem Raum zwischen den Geschöpfen. Es ist eine Lücke zwischen den Geschöpfen, die mächtigste Lücke: Gott ist nicht mehr zwischen ihnen. Der Mensch hat sich in den Raum gestellt [...]. Die Geschöpfe werden auseinander gesprengt durch den Menschen, sie werden zum ersten Mal einsam.23

Wie den interfacialen, so kennzeichnet auch den innerfacialen Raum eine harmonische Ausgleichsbewegung. Das Menschengesicht besteht zunächst aus drei Flächen: 21

22 23

Ebenda, S. 20f. Diese direkte Verbindung jedes einzelnen Gesichts mit Gott erinnert an die unmittelbare Beziehung jedes einzelnen Dings zu Gott, wie sie Picard in der Expressionistischen Bauernmalerei ausmacht. Vgl. hierzu oben S. 261. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 20f.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Die vorderste Fläche ist die Stirnfläche. Dann kommt, etwas zurückliegend, die vordere Wangenfläche. Die dritte Fläche wird von den seitlichen Wangenflächen gebildet.24

Doch das Gesicht geht nicht im Flächenhaften auf, denn [d]as Menschengesicht ist Gottes Ebenbild, und Gottes Ebenbild läßt sich nicht wie eine Fläche bloß vorne aufsetzen, so, als hätte im Vorbeigehen jemand wie nebenbei die Fläche hingestreift, und als könne ebenso leicht jemand die Fläche wieder wegstreifen. [...] Darum ist das Menschengesicht keine Fläche, sondern ein Körper. Es ist ein Körper, der in drei Flächen aufgebaut ist.25

Diese Konfiguration von Stirnfläche, vorderer und seitlicher Wangenfläche macht das Gesicht zum Körper und weist zugleich über dessen Grenzen hinaus auf die Verbindung des Gesichts mit anderen Körpern. Der Blick eines Betrachters wird durch den körperhaften Aufbau des Gesichts empfangen, abgemildert und erst allmählich in die Tiefe geleitet. Dadurch erfährt auch die Bewegung des Gesichts in der vierten, zeitlichen Dimension eine Mäßigung: [E]in Eindruck, der von außen kommt, [dringt] nicht auf einmal in das Gesicht ein, sondern er geht langsam hin über die drei Flächen, er verteilt sich allmählich über sie. So wird das Gesicht durch einen Eindruck von außen nicht aufgeschreckt und unruhig. [...] Man sieht das Gesicht in der Richtung der Perspektive an, man sieht langsam von der Stirnfläche über die vorderen und seitlichen Wangenflächen in die Tiefe des Gesichts hinein. Die Tiefe aber entspricht der Ferne. Durch die perspektivische Gestalt ist die Ferne in das Gesicht hineingebaut.26

Die Dimension von Tiefe und Ferne ist nicht allein im Sinne der geometrischen, sondern auch der religiösen Perspektive zu begreifen: Die Ferne ist zugleich eine transzendente Dimension,27 und so wird das Menschengesicht zum Schauplatz der paradoxen Berührung mit dem Unnahbaren: Der Blick des Betrachtenden wird über die Ferne des Gesichts hinausgeführt in die große allgemeine Ferne. Es ist, als ob man durch die Ferne des Gesichts bis zur Ferne Gottes sehen könnte. Dann aber, wenn der Blick aus dieser Ferne langsam wieder zum Gesicht zurückkehrt, dann ist es, als sei auf dem Wege von jener großen Ferne in die Nähe des Gesichts auch Gott auf einmal nahe gekommen.28

Die Eigenschaften des Menschengesichts fügen sich so zu einem komplexen und doch einfachen Geflecht: Hier etwa berühren sich nicht nur Ferne und Nähe, sondern auch die harmonische Bewegtheit des innerfacialen Raumes (Ferne und Nähe) mit der des interfacialen Raumes (Abstand und Verbundenheit). 24 25 26 27

28

Ebenda, S. 33. Ebenda. Ebenda, S. 33f. Zur historischen Bedeutung der ‚Tiefe‘ und ihres Schwindens bzw. Umschlagens in die Fläche im Zusammenhang mit der Umstellung hermeneutischer Topiken durch das ‚Neue Sehen‘ vgl. oben Kap. 5.1, S. 172ff. Hatten die „Wesen“ aus Picards Der letzte Mensch noch ebendieses Schwinden einer ‚Tiefe‘ oder eines ‚Wesenskernes‘ vorgeführt, feiert die ‚Tiefe‘ in Das Menschengesicht – und nicht nur dort, wie wir weiter unten (vgl. S. 444) sehen werden – fröhliche Urstände. Picard: Das Menschengesicht, S. 34.

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Folgt man der Kette von ineinander und miteinander verflochtenen Eigenschaftspaaren weiter, so führt die Bewegung des harmonischen Ausgleichs der Gegensätze vom somatischen in den sozialen Raum hinaus: Schon die Überschrift des Kapitels über die „Hierarchie des Menschengesichts“ weckt Assoziationen an traditionelle Topoi der Physiognomik, die den Körperbau mit dem Raum der Herrschaftsverhältnisse in Zusammenhang bringen. Die „Hierarchie“ artikuliert sich zunächst als eine innerfaciale Ordnung, „das einzelne Gesicht, jedes Gesicht in sich, ist hierarchisch geordnet, wenn es ein wahres Menschengesicht ist.“29 Doch von hier ausgehend breitet sich die Hierarchie Schritt für Schritt über den gesamten sozialen Körper aus: „Die Kraft der Ordnung im wahren Gesicht wirkt sogar über das Gesicht hinaus.“30 Versinnbildlicht wird die kosmische Bedeutung der hierarchischen „Ordnung im wahren Gesicht“ durch die bereits aus dem Letzten Menschen bekannte Figur der Sternenlinie sowie durch die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, Schädel und Himmelsgewölbe. Die Stirn und das „Gewölbe des Schädels“ als oberste Glieder des Gesichts vermitteln die an den Sternenlinien ausgerichtete Hierarchie der göttlichen Schöpfung ins Gesicht: Die menschliche Gestalt unter dem Gewölbe des Himmels, – sie erwartet die Sterne, daß sie herunterkommen auf die Erde zu ihr, sie streckt sich ihnen entgegen, hoch hinauf hält sie das Gewölbe des Schädels: einen kleinen Himmel hält die menschliche Gestalt den Sternen entgegen, damit sie zu Hause seien an ihm wie am großen Himmel. Die Sterne schicken ihre Strahlen herunter zum Menschen, gerade hält die Stirne sich ihnen entgegen, und die Strahlen der Sterne lassen sich an ihr herunter.31

Die Entsprechung von Gesicht und Kosmos erinnert an das paracelsische Denken der Ähnlichkeit von Mikrokosmos und Makrokosmos bzw. Makranthropos32; entfaltet wird diese die Dinge verbindende Beziehung der aemulatio33 durch eine doppelte Metapher: Die Analogie von „Gewölbe des Himmels“ und „Gewölbe des Schädels“ wird weitergeführt durch die Metapher, die den Schädel als „kleinen Himmel“ fasst, und diese doppelte Entsprechung (Gewölbe – Gewölbe, Himmel – Himmel) wird aufgenommen in der Wendung „damit sie zu Hause seien“, die in ihrer Gebäude-Semantik die „Gewölbe“-Metapher aufgreift. Wieder werden die Pole der Wahrnehmungskategorien – hier die Hierarchie von oben und unten – nicht antagonistisch gegeneinander gesetzt, sondern verweisen, indem sie sich einander mitteilen, auf eine sie übersteigende Ordnung des Göttlichen: 29 30 31 32 33

Ebenda, S. 109. Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 168. Eine Abbildung des Paracelsus findet sich im Bildteil des Menschengesichts, S. 80 rechts Vgl. hierzu auch Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995 [1971], S. 50: „Die aemulatio [...] durchläuft schweigend die Räume der Welt, jedoch wird die von ihr durchmessene Distanz nicht durch ihre subtile Metapher annulliert. Sie bleibt sichtbar“.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Die Gesichter sind hierarchisch geordnet gemäß dem Grad ihres Anteils am Göttlichen. Aber die Hierarchie scheidet die Gesichter nicht voneinander. Das geringste und das größte Gesicht ist [sic!] in der gleichen Hierarchie verbunden, alle gehören zusammen.34

Diese hierarchische Zusammengehörigkeit der Menschengesichter äußert sich in ihrer Anordnung gemäß eines Rangs, den die Gesichter aufgrund ihrer Nähe zum Göttlichen einnehmen: „Ein geringes Gesicht ist neben einem größeren, es geht über die Gesichter hin wie über Stufen, allmählich bis zum letzten größten Gesicht, bis zu Gott.“35 Die Hierarchie beruht hier auf einer Abstufung nach ‚Größe‘ im Sinne von (heils-)geschichtlicher Bedeutung. Picard reiht sich damit ein in die zeitgenössische Suche nach einer Rangordnung von Gesichtern, wie sie etwa auch das Projekt einer „Nationalen Porträtgalerie“36 – allerdings im Sinne einer politischen (Heils-)Geschichte – betreibt. Am oberen Ende der Hierarchie stehen die ‚großen‘ Personen, zu denen die übrigen bewundernd aufschauen wie zu einem „Denkmal des Göttlichen“37. Die Unantastbarkeit und Unumkehrbarkeit der göttlichen Hierarchie wird dabei analog gesetzt mit der Unumkehrbarkeit der durch sie ausgeübten theologischen Herrschaft über politische wie epistemologische Ordnungen: Das Menschengesicht war nur auf das Eine bezogen, auf Gott. Es war eindeutig. [...] Am Menschengesicht früher war nicht zu deuteln. So war das Gesicht. So mußte das Gesicht sein. Es war nichts Forschendes im Gesicht. Das Gesicht war dogmatisch.38

Die Analogie von Gesichts- und Gesellschaftsform wird sichtbar am Zerfall der Hierarchien, den die zeitgenössischen Phänomene des politischen Parlamentarismus sowie der Ausdifferenzierung und dogmatischen Unbestimmtheit der Wissenschaften mit sich bringen: Das Menschengesicht heute ist auf alle bezogen. Es ist vieldeutig. Nicht einmal dies ist eindeutig: daß es nur Gesicht und nichts anderes sein könnte. Manchmal scheint es, daß es nur provisorisch oder wie durch Zufall Gesicht sei. [...] Das Gesicht heute [...] ist forschend, es muß sich erst selber bestimmen.39

Die „Kraft der Ordnung im wahren Gesicht“40, von der die göttliche Herrschaft ja ausgehen soll, erweist sich allerdings als recht starr. Ihr fehlt die von Picard so oft beschworene somatische wie literarische Bewegtheit des Menschengesichts: Um das Menschengesicht früher war das Schweigen, das um alles Bewiesene ist: jenes Schweigen, das jedesmal eintritt nach dem Satz: quod erat demonstrandum. Dieser Satz wurde nicht vom Gesicht gesprochen, – so sehr war das Gesicht schon Nachweis Gottes.41 34 35 36 37 38 39 40

Picard: Das Menschengesicht, S. 107. Ebenda. Vgl. zu diesem Projekt als zeitgenössischen Kontext der politischen Artikulation von Gesicht und ‚Rang‘ Schmölders: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, S. 11ff. Picard: Das Menschengesicht, S. 107. Ebenda, S. 108. Hervorhebung im Original Ebenda. Ebenda, S. 113.

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Das Schweigen, von dem Picard sagt, es sei „vor jedes Wort gesetzt [...], ehe der Mund es öffnet“ – hier wird es auf einmal hinter das Wort gesetzt, ohne dass dieses dadurch eine Mitteilung oder Bewegung erfährt. Das Menschengesicht als ‚Wortgesicht‘ dagegen – mit dessen vermeintlich überwundener Buchstäblichkeit ja auch Kassner seine Probleme hatte42 – würde auf ein nicht-dogmatisches Neben- und Miteinander in Wissenschaft und Politik verweisen, das nicht umhin kann, immer wieder auf die sprachliche Vermittlung des Wortes zurückzugreifen. Dem Wort aber kommt in der politischen wie somatischen Hierarchie Picards ein niederer Rang zu: Das „Gesicht heute [...] ist nur Wort, [...] das ganze Gesicht ist nur eine Pause vor dem Wort, das ganze Gesicht ist konzentriert um den Ort, wo das Wort entsteht: um den Mund.“43 Ein befremdlicher Satz – und aus dem Mund eines literarischen Physiognomikers, der Picard dennoch bleibt, ein performativer Selbstwiderspruch.

Zeitlichkeit und Ewigkeit des Menschengesichts Wie andere Kategorien, so stehen sich auch die beiden Sphären der (irdischen) „Zeit“ oder „Zeitlichkeit“ und der (transzendenten) „Ewigkeit“44 im Menschengesicht zunächst gegenüber. Dabei ist die Ewigkeit nicht im Sinne einer unendlich ausgedehnten Zeitlichkeit, als Inbegriff aller Zeit oder deren telos zu denken: Zeitlichkeit und Ewigkeit stehen als Dimensionen quer zueinander, und sind auch im Unendlichen nicht ineinander überführbar. Picard begreift die Ewigkeit als eine von außen in die Zeit einbrechende göttliche Instanz, die jede Zeitlichkeit radikal suspendiert: Wenn Gott aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit käme, so würde die Zeit Gott, der auf sie zugeht, Platz machen, sie würde auseinanderweichen, es wäre ein Riß im Ablauf der Zeit, und dort wo die Zeit auseinandergerissen ist, in der Mitte, erschiene Gott in seiner Gegenwärtigkeit: die Zeit steht still.45

Das Menschengesicht aber in seiner Gottesebenbildlichkeit kann die Ewigkeit in sich tragen: Manchmal ist es, als lebe ein solches Menschengesicht gar nicht in der Zeit; es ist, als komme es in jedem Augenblick von neuem aus der Ewigkeit und zersprenge die Zeit in jedem Augenblick.46

41 42 43 44

45 46

Ebenda, S. 108. Hervorhebungen im Original. Vgl. Schmölders: „Die konservative Passion. Über Rudolf Kassner, den Physiognomiker“. Picard: Das Menschengesicht, S. 114. Zum Verhältnis von irdischer „Zeit“ bzw. „Zeitlichkeit“ und transzendenter „Ewigkeit“ vgl. insbesondere die Kapitel „Die Gegenwärtigkeit des Menschengesichts“ (ebenda, S. 120ff.) und „Die Zeit und der Raum des Menschengesichts“ (ebenda, S. 138ff.). Ebenda, S. 127. Zu den theologischen Implikationen dieses Ewigkeits-Modells und seine Nähe zu dem radikal eschatologischen Denken Franz Rosenzweigs vgl. unten Kap. 9.4, S. 484ff. Ebenda.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Hier begegnet erneut die bereits aus der Darstellung des Raumes47 bekannte Ausgleichsbewegung, durch die vermeintliche Gegensätze sich berühren, aneinander teilhaben und so im Menschengesicht zu einer paradoxen Harmonie vereint werden: Es kommt zu einer Begegnung der vermeintlichen Gegensätze von „Zeitlichkeit“ und „Ewigkeit“ in der „Gegenwärtigkeit“. Der Mensch lebt auf der Erde in der Zeit, er wächst, er entwickelt und vollendet sich in der Zeit. Aber als einziges von allen Wesen vermag er sich herauszuheben aus ihrem Ablauf. Wenn der Mensch ganz und gar gegenwärtig ist, wenn er sein ganzes Wesen in den einen Augenblick der Gegenwärtigkeit zusammenzuziehen vermag, dann ist er herausgehoben aus der Zeit [...] an jener Stelle, wo die Zeit und die Ewigkeit sich begegnen, und das eben ist die Gegenwärtigkeit.48

In Anspielung auf die Erzählung von der Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch, in der sich Gott Moses zu erkennen gibt und zugleich seine Unsichtbar- und Unnahbarkeit demonstriert, fasst Picard diese „Gegenwärtigkeit“ als ein ebenso anziehendes wie zerstörerisches Moment: Die Zeit, sie steht still, wenn die Ewigkeit sie trifft. Sie verbrennt in ihr, und darum strahlt das Gesicht, wenn es gegenwärtig ist.49

Die „Gegenwärtigkeit“, verstanden nicht als punktueller oder umgrenzter Ausschnitt einer linear ablaufenden Zeitlichkeit, in der Gegenwart als Differenz zu Vergangenheit und Zukunft gebildet wird, sondern als Herausgehobensein aus jeglicher Zeit, ist das irdische Signum der Gottesebenbildlichkeit des Menschengesichts und seiner wie auch immer entfernten Herkunft aus der Ewigkeit. Was die Ewigkeit für Gott ist, nämlich das Gelöstsein aus der Zeit, das bedeutet die Gegenwärtigkeit für den Menschen: auch das Gelöstsein aus der Zeit; zwar nicht das dauernde wie bei Gott, nur das augenblickshafte, aber das Augenblickshafte als abgesprengtes Teilchen der Ewigkeit: Und das eben ist die Gegenwärtigkeit des Menschen: Atom der Ewigkeit.50

Die die Zeit suspendierende Gewalt der Ewigkeit ist von solcher Kraft, dass sie sogar noch von der „Gegenwärtigkeit“ des Ebenbilds weitergegeben werden kann: „Manchmal, wenn ein Menschengesicht plötzlich gegenwärtig vor einem steht, ist es als halte auch vor der Gegenwärtigkeit dieses Menschengesichts die Zeit still.“51 So kann auch ein irdisches Phänomen wie die Begegnung, in der sich zwei Menschengesichter berühren und dabei gegenwärtig werden, zum Ebenbild der göttlichen Ewigkeit werden, oder genauer: zum Ebenbild der Berührung von Ewigkeit und Zeit in der „Gegenwärtigkeit“, die nicht ein Zeitpunkt, sondern das Verlassen der Zeitlichkeit ist. Zwar bricht die göttliche Ewigkeit von außen in die Zeit ein und suspendiert diese; doch kann auch die Zeit Spuren des Göttlichen in sich tragen. Picards Konstruktion der 47 48 49 50 51

Vgl. oben S. 353. Ebenda, S. 120. Ebenda. Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 127.

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Zeitlichkeit verdammt diese nicht als einen mechanischen Gegensatz zur Ewigkeit, sondern lässt sie – gemäß dem Modell der harmonischen Versöhnung der Gegensätze – durch die mögliche Gegenwärtigkeit (nicht: Gegenwart) an der Ewigkeit teilhaben. Möglich ist diese Begegnung von Ewigkeit und Zeit nur als ein „Wunder“. Und der Ort dieses Wunders ist das Menschengesicht: [D]as Menschengesicht kommt aus der Ewigkeit, und die Ewigkeit bedarf nicht der Zeit, damit etwas wird. Aber das ist das Wunder: das Menschengesicht kommt aus der Ewigkeit, und trotzdem ist Zeit im Menschengesicht.52

Das Menschengesicht ermöglicht Begegnung – nicht nur im interfacialen Blick, sondern auch als Berührung von Ewigkeit und (verfließender) Zeit; denn das Menschengesicht ist wie zweimal gemacht; einmal von der Ewigkeit her, und von der Ewigkeit her erscheint es so: plötzlich, unerwartet, überfallend, und dann erscheint es wie noch einmal von der Erde her gemacht: langsam wachsend in der Zeit.53

Die der Zeit verliehenen Qualitäten der Langsamkeit, der Ruhe und des Rhythmus sind jene „Atome der Ewigkeit“, durch die dem Menschengesicht Gegenwärtigkeit möglich wird: Die durch die aemulatio gestifteten Ähnlichkeiten zwischen Auge und Sonne, Mund und Mond lassen das Gesicht mit den mikro- und makrokosmischen Rhythmen des Wachstums und des Aufgehens der Gestirne in Verbindung treten: Gesät in die Fläche und wunderbar unter seiner eigenen Sonne aufgegangen, so ist das Auge da. Immer noch wenn ein Auge sich öffnet, ist es, als gehe es unter seiner eigenen Sonne auf. Es ist, als werde es größer jedesmal, wenn es aufgeht. Der Mund aber: wie der Mond wächst er rot und langsam aus der Fläche des Gesichts.54

Immer ist dabei die (irdische) Zeit Bedingung für die Begegnung mit der Ewigkeit, wie sie in diesen langsamen und harmonischen Rhythmen erscheint: „Nur wo Zeit ist, da ist auch Rhythmus.“55 Dass Picard die irdische Zeitlichkeit als ruhigen Fluss und rhythmischen Verlauf, und nicht als per se unvereinbaren linearen Gegensatz zur himmlischen Ewigkeit entwirft, wird nicht zuletzt deutlich, wenn er den Verfall des Menschengesichts schildert. Dieser nämlich drückt sich keineswegs als Hervortreten eines mechanisch-linearen Zeitverständnisses aus. Statt des naheliegenden und zeitgenössisch höchst beliebten Abgesangs auf die mit dem technischen Fortschritt identifizierte lineare Zeitdimension findet sich bei Picard ein anderes Modell: Im „Menschengesicht heute“ manifestiert sich nicht ein Überhandnehmen der linearen Zeitachse. Was Picard beklagt – und zwar in einer durchaus mathematisch-rationalistischen Diktion – ist das vollständige und gewaltsame Verschwinden der vierten Dimension zugunsten der drei übrigen Dimensionen, des Raumes:

52 53 54 55

Ebenda, S. 138. Ebenda. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 147.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

In dem Menschengesicht heute ist keine Zeit mehr. Die Zeit ist daraus wie weggerissen. Der Mensch steht nur noch im Raume. Wenn die Zeit die vierte Achse ist auf dem räumlichen Achsenkreuz, so ist diese vierte Achse hier nicht nur weggenommen, sondern weggerissen worden.56

7.2 Eine Wellentheorie des Gesichts Ihren Höhepunkt erreicht Picards Streben nach harmonischen Ausgleichsbewegungen und paradoxer Einheit in den Kapiteln „Die Beschreibung des Gesichts“ (S. 33–45) und „Profilgesicht und Frontalgesicht“ (S. 46–58). Picard entwickelt hier ein Modell, das ich als ‚Wellentheorie des Gesichts‘ bezeichne und – ähnlich wie die van Gogh’sche Poetologie des Letzten Menschen aus Das Ende des Impressionimus57 – in meiner folgenden Lektüre als eine ‚implizite Poetologie‘ (Erdbeer) des Menschengesichts interpretieren werde: Die Wellentheorie des Gesichts birgt zugleich auch eine Wellentheorie der Sprache, insofern sich die in die Wellenmetapher gefasste Bewegung harmonischen Austauschs – das legt Picard selbst nahe – fruchtbar machen lässt für eine Theorie der Textbewegungen, wie sie textorientierte Literaturtheorien (etwa bei Paul de Man, Matthias Buschmeier/Till Dembeck oder Bettine Menke) entwerfen. Weil ich mit de Man aber ebenfalls das Scheitern der Bemühungen um einen harmonischen Ausgleich und der ihnen innewohnenden Sehnsucht nach einem Transzendieren des Textes herausarbeite, handelt es sich bei meiner Interpretation der Picard’schen Wellentheorie als implizit-poetologisches Textmodell um eine dekonstruktivische Lektüre. Die Entfaltung der ‚Wellentheorie‘ erfolgt in zwei unterschiedlichen Versionen, von denen die zweite Variante aus dem Kapitel „Profilgesicht und Frontalgesicht“ besonders anschaulich ist, weil sie selbst als eine wellenartige Textbewegung inszeniert wird. Diese Wellenbewegung werde ich in der folgenden textnahen Analyse nachzeichnen. Picard unterscheidet zunächst zwischen „Frontalgesicht“ und „Profilgesicht“ und weist ihnen den Gegensatz von Ruhe und Bewegung zu: Von vorne gesehen, im Frontalen, ist das Gesicht des Menschen statisch, passiv, ruhend; im Profilgesicht aber dynamisch, aktiv.58

Dabei steht das Frontalgesicht für die Ordnung des ‚Seins‘; ihm kommt daher ein Vorrang bei der Wesensbestimmung zu: Das menschliche Gesicht stellt sich wesentlicher im Frontalen dar als im Profil. Das Wesentliche hält sich im Frontalen auf [...]. Im Frontalgesicht ist die Welt des Menschen noch ohne Auftrag, in die äußere Welt hineinzugehen, sie ist einfach da.59

56 57 58 59

Ebenda, S. 144. Vgl. hierzu oben S. 177. Picard: Das Menschengesicht, S. 46. Ebenda, S. 46f.

Eine Wellentheorie des Gesichts

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Im Profilgesicht dagegen „bricht die Welt des Menschen aus dem bloßen Dasein auf, sie bewegt sich“60. Und erst der Tod hebt den Vorrang des Frontalgesichts gegenüber dem Profilgesicht auf; im Gesicht eines toten Menschen erscheint das Profil am weitesten nach vorne gerückt. Es ist, als hätte es den letzten Sprung nach vorwärts getan. Sicher und ruhig steht es ganz vorne. Das frontale Gesicht überwiegt jetzt nicht mehr im ganzen Gesicht, [...] es hat sich gleichsam hinter das Profilgesicht gestellt, das ganze Gesicht ist im Tode mehr ein Profilgesicht geworden.61

Die transzendente Richtung dieses „letzten Sprung[s]“, der die im Profilgesicht liegende Bewegung „nach vorwärts“, den Aufbruch aus dem „bloßen Dasein“, vollendet, zeigt sich besonders deutlich in den Gesichtern der Heiligen: „Die Heiligen haben alle das gleiche Profil, denn sie gehen alle in der gleichen Richtung zu Gott“.62 Am anderen Ende dieser nach vorne ausgerichteten Hierarchie stehen „die Kinder“ und „der Neger“, deren Gesichter allein das ruhende Moment des Frontalgesichts beherrscht. Ihre unfertigen oder fehlenden Profile variieren den in primitivistischen, exotistischen und rassistischen Diskursen zirkulierenden Topos der naiven Oberfläche ohne ‚Tiefe‘: „Die Profile der Kinder sind wie noch nicht fertig, sie fangen kaum an, Profile zu sein, sie sind nur wie Markierungen, an denen das Profil später errichtet werden soll.“63 Das Kind ist noch nicht in die Geschichte eingetreten und daher lediglich vorübergehend ohne Profilgesicht, weil noch eingeschlossen in seine innere Welt; diese drängt jedoch „schon an gegen die äußere Welt, sie drängt an gegen die Stelle, wo das Profil, der Weg nach außen, einmal sein wird“64. Dagegen wird das Gesicht des „Negers“ durch einen grundlegenden Mangel an Geschichte markiert: So ist das Gesicht des Negers kaum bewegt. Es ist ruhend, es ist da. Das Negergesicht ist ganz und gar fest in dem Raum, in den es sich gestellt hat. Hier hat es den Raum abgesteckt, schwarz abgesteckt, hier war es, hier ist es und bleibt es.65

Helmut Lethen hat diese Stelle des Menschengesichts gegen den Vorwurf des Exotismus und Rassismus verteidigt: So sei die Kraft zu betonen, mit der Picards Blick den zeitgenössischen Kolonial-Diskurs genauso abwehrt, wie die Tendenz der Physiognomik im 19. Jahrhundert, alles zu dechiffrieren. Die ‚Schwärze‘, die Picard betont, bildet den Gegenpol zur Transparenz, die entstehen soll, wenn die Naturzeichen, die die Physiognomik lesen lernt, restlos entziffert werden können. [...] Aber die Unleserlichkeit ist für Picard nicht beängstigend, das Negerantlitz spiegelt in seiner Schwärze weder das ‚Herz der Finsternis‘ oder das ‚innere Afrika‘ des Unbewußten, noch ist es Indiz 60 61 62 63 64 65

Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 47f. Hervorhebung K. L. Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 48. Ebenda. Ebenda, S. 49.

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„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

für Levy-Buhls ‚prälogische Mentalität des Primitiven‘. Er mutet diesem Antlitz auch nicht die metaphysischen Werte zu, die der damals populärste deutsche Afrikaforscher, Leo Frobenius, ihm zumutet.66

Lethen relativiert also die Exotismen des Picard’schen „Negergesicht[s]“, indem er Picard einen weder angstbesetzten noch allmächtigen Blick ins Antlitz des „Negers“ bescheinigt. Doch was seinen Einwand betrifft, es sei Picard „auch nicht daran gelegen, dem Neger in der Hierarchie der Rassenkunde einen niederen Rang einzuräumen“67, so ist ihm zu widersprechen. Denn das Auftreten des „Negergesicht[s]“ in direkter Gegenüberstellung zum Heiligenprofil etabliert nicht nur eine (heils-)geschichtliche Hierarchie, die die Gesichter in unterschiedliche Nähe zur Transzendenz rückt. Die Figur des Heiligen steht auch – wie ich weiter unten ausführen werde68 – für eine gesellschaftliche Rangordnung, die die Menschen als Glieder des ‚Leibes Christi‘ konstruiert und damit als einen politischen Körper zugleich der irdischen Herrschaft unterwirft. Insbesondere im Kontrast zum Profilgesicht der Heiligen wird die Geschichtslosigkeit des „hier war es, hier ist es und bleibt es“ deutlich abgewertet. Schwarze Heilige – die es ja durchaus gab, wie bildliche Darstellungen etwa des hl. Mauritius in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Sakralkunst belegen69 – wären mit Picard undenkbar. Dem „Menschengesicht“ jedoch entgleiten an dieser Stelle auf einmal seine universalistischen Züge. Es wird zum „Gesicht des europäischen Menschen“, das sich durch den harmonischen Austausch zwischen Frontalgesicht und Profilgesicht, die bereits bekannte paradoxe Verflechtung und Versöhnung ihrer Gegensätze, auszeichnet: Im Gesicht des europäischen Menschen ist es so: das Profilgesicht, das dynamische, wird durch die Ruhe des Frontalgesichts im Maß gehalten. Aber dem Frontalgesicht wird auch geholfen durch das Profilgesicht; seine Ruhe würde erstarren, wenn es durch die Bewegung des Profilgesichts nicht gerüttelt würde. [...] In manchen Gesichtern ist ein solches Einverständnis zwischen Frontal- und Profilgesicht, daß man den Unterschied zwischen dem bewegten Wesen des einen und dem unbewegten des anderen gar nicht merkt [...]: es ist, als ruhe das Profilgesicht aus im Frontalgesicht, ehe es anfängt, sich zu bewegen.70

An dieser Stelle nun setzt Picards ‚Wellentheorie‘ des Gesichts ein. Wo Das Menschengesicht eben noch die hässlichen Züge des Rassismus zeigte, folgt eine der literarisch gelungensten und kunstvollsten Passagen des Picard’schen Werkes: Wie an zahlreichen anderen Stellen prallen auch hier politisch-kulturelles Klischee und literarische Originalität recht unvermittelt aufeinander. Dadurch entsteht eine ambivalente Leseer66 67 68 69

70

Lethen: „Masken der Authentizität. Der Diskurs des ‚Primitivismus‘ in Manifesten der Avantgarde“, S. 232. Ebenda. Vgl. hierzu ausführlich unten S. 466f. Vgl. hierzu Hucker, Bernd Ulrich: „Der ‚schwarze Heilige‘. Mauritiusverehrung im Kloster Ebstorf“, in: Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke (Hrsg.), Kloster und Bildung im Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 197–228. Picard: Das Menschengesicht, S. 49f. Hervorhebung K. L.

Eine Wellentheorie des Gesichts

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fahrung, die dem kritischen Leser die interessierte Hinwendung zu Picards Schriften und die Wiederentdeckung ihrer zwischen Stereotypen und Ressentiments verborgenen Reichtümer immer wieder schwer werden lässt. Die ‚Wellentheorie‘ beginnt, wie es sich für eine Welle gehört, ganz langsam und fast unbemerkt, um sich erst dann in einer wellenartigen, langsam ansteigenden Bewegung aufzubauen: Wie ein Ruheplatz für das sich bewegende Profilgesicht ist das Frontalgesicht. Und eine solche Ruhe geht vom Frontalgesicht noch in die Bewegung des Profilgesichtes hinein, daß es ist, als habe sich das Profilgesicht selber in das Frontalgesicht hinübergelegt, nein, hinübergewiegt. Aber auch sonst, wo nicht ein solches Einverständnis ist, fängt die Profilfläche nicht plötzlich und schroff, sondern vorsichtig und allmählich an, sich nach vorn zu bewegen. Am seitlichen Rande, am Ohr, ist die Profilfläche noch fast ruhig. Langsam, als ob sie noch von der Ruhe der Frontalfläche in sich herüberströmen lasse, langsam fängt die Bewegung an71.

Indem die Metapher des „Hinüberwiegens“ eine wellenartige Bewegung nur vage konnotiert, inszeniert sie rhetorisch das langsame Ansteigen einer Welle, das die auf der thematischen Ebene beschriebene Bewegung des Gesichts als Textbewegung verdoppelt. Die Wellenmetaphorik entsteht – schon bei ihrem Einsetzen durch das Wort „hinübergewiegt“ – selbst aus einer fast unmerklichen rhetorischen Bewegung, die sich in der Folge zur Welle aufbaut: Der Satz läuft zunächst auf das „HinübergelegtWerden“ hin, doch dann wird diese metaphorische Textbewegung durch die Interjektion „nein“ zum „Hinübergewiegt-Werden“ (es ist, als habe sich das Profilgesicht selber in das Frontalgesicht hinübergelegt, nein, hinübergewiegt“). Indem das „Nein“ zur Linie wird, an der sich die semantischen ‚Flächen‘ der Worte „hinübergelegt“ und „hinübergewiegt“ berühren und ineinander übergehen, erfasst die Wellenbewegung auch das Wort. Die drei darauffolgenden Sätze reihen eine Kette von weiteren, immer stärker werdenden Wellen-Konnotationen aneinander: In vier Termen – „nicht plötzlich und schroff, sondern vorsichtig und allmählich“, „noch fast ruhig“, „langsam fängt die Bewegung an“ und „herüberströmen“ – lässt Picard parallel zum beschriebenen langsamen Ansteigen der Gesichtswelle eine Welle von Tropen im Text entstehen. Kann „plötzlich und schroff“ noch durchaus als naheliegende Charakterisierung eines Profils gelten, so steigert sich die Metaphorizität über die Ausdrücke „vorsichtig und allmählich“ und „herüberströmen“ immer mehr. Auch semantisch formiert sich der Text „allmählich“ zur Welle: Lassen die Ruhe und Langsamkeit nur entfernt an eine Welle denken, wird mit dem Bild des „Herüberströmens“ die Assoziation deutlicher. Beide Bewegungen – die rhetorische der Tropen und die semantische der Beschreibungen – treffen sich schließlich, wenn sich der Text über eine weitere Steigerung – das sich zusammenfassende Wasser – bis zum metaphorischen Vergleich mit der „Welle“ auftürmt: 71

Ebenda, S. 50.

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[D]ann, wie das Wasser sich zusammenfaßt, allmählich zu einer Welle, so geht die Bewegung über die Fläche der Wangen hin, bald ein wenig zurück sich haltend, bald wieder einen Anlauf nehmend, bis die Höhe der Profillinie erreicht ist, die entlang der Stirn, der Nase, dem Mund und dem Kinn läuft.72

Die Welle ist nun voll ausgebildet und kann sich – auch als Trope – weiter fortbewegen: Hier trifft die Welle der einen Seite die Welle, die von der anderen kommt, beide schlagen zusammen und halten sich aneinander; eben in der Profillinie halten sie sich.73

Und weiter wächst die Wellenmetapher, indem sie dem Verlauf der Welle bis hin zum Verebben folgt, zu einer vollständigen Wellentheorie des Gesichts heran: Die Welle schlägt nun von der Profillinie langsam wieder über die Wangenfläche nach der Seite zurück, sie verebbt wieder allmählich in die Frontalfläche, und so geschieht ein schönes Hin und Her zwischen Frontal- und Profilfläche.74

An dieser Stelle nun möchte ich innehalten, um eine Lektüre vorzuschlagen, die die Wellentheorie des Gesichts nicht nur als implizite Poetologie des Picard’schen Menschengesichts versteht, sondern auch als implizit-poetologischen Beitrag zu einer Theorie bewegter Texte. Denn die Poetologie des Menschengesichts erweist sich über das Picard’sche Werk hinaus als anschlussfähig: Sie lässt sich fruchtbar machen für eine Theorie der literarischen „Textbewegungen“, wie sie verschiedene literaturwissenschaftliche Ansätze mit vorwiegend eng am Text orientierter Ausrichtung entworfen haben. Die in diesem Zusammenhang zentrale Frage, ob die Bewegtheit von Texten ausschließlich als Effekt einer bestimmten Rezeptionshaltung zu beschreiben ist – in diesem Falle wäre die Rede von textueller Eigenbewegung unzutreffend oder zumindest überzogen –, oder ob sich auch an den Texten selbst Strukturen angeben lassen, denen die Erzeugung dieses Effekts zuzurechnen ist75,

haben zuletzt Matthias Buschmeier und Till Dembeck aufgegriffen. Sie bejahen die Frage – trotz einer gewissen skeptischen Zurückhaltung und bei gelegentlich widersprüchlichen Argumentationen – und gehen davon aus, dass es durchaus „eine der Schrift inhärente Spannung zwischen Bewegung und Fixierung gibt“76. Dies führen sie u. a. auf die linearen Strukturen eines Textes und die Flexibilität seines parataktischen ‚Gewebes‘ zurück. So sei jedem Text mit seiner Linearität immer schon ein habituell gewordenes dynamisches Moment eingeschrieben [...]. Es zeigt sich allerdings, daß jeder Bruch mit der Linearität eines Textes wiederum eine Eigenbewegung des Textes erkennbar werden läßt: So ermöglicht es die bloße Konstellativität des Textes, die beispielsweise durch das Layout des gedruckten Textes, also 72 73 74 75 76

Ebenda. Hervorhebung K. L. Ebenda. Ebenda. Buschmeier und Dembeck: „Textbewegung?“, S. 9. Ebenda, S. 12.

Eine Wellentheorie des Gesichts

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durch die Anordnung von linearen Textsegmenten im Zweidimensionalen erzeugt wird, mehrere lineare Verkettungen zugleich in den Blick zu nehmen. Beobachten läßt sich so eine Überlagerung unterschiedlicher Möglichkeiten der Verkettung von Zeichen, die in der simultanen Wahrnehmung eine Art Oszillieren des Textes induziert.77

Das Modell läuft darauf hinaus, die Eigenbewegung des Textes nicht in einer autonomen Dynamik des Textes zu verorten, sondern in einer relationalen Dynamik, in der „Spannung zwischen Bewegung und Fixierung“, die einen Text auszeichnet. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist aber insbesondere ein Hinweis von Buschmeier und Dembeck: „Offenkundig geht das Verhältnis von Bewegung und Fixierung nicht schlicht in einem Antagonismus auf.“78 Von hier aus lässt sich ein Zusammenhang herstellen zur Picard’schen Poetologie des (Wort-)Gesichts: Diese zeichnet sich ja ebenfalls durch eine wellenartige Bewegung aus, in der die vermeintlichen Gegensätze aufeinander zu bewegt werden und „das Verhältnis von Bewegung und Fixierung nicht schlicht in einem Antagonismus auf [geht]“. Das wellenartige „Hin und Her“, das den Gegensatz von Frontalgesicht und Profilgesicht zu einer harmonischen Bewegung vereint, lässt sich unschwer als Modell für die mehrfach variierte literarische Technik des paradoxen Ausgleichs von Gegensatzpaaren lesen: Wie die Wellenbewegung des Gesichts Profil- und Frontalfläche in der gemeinsamen Profillinie aneinander teilhaben lässt, so überführt auch die rhetorische Bewegung des Picard’schen Textes die Gegensätze in eine paradoxe Harmonie, in der sie – wie oben am Beispiel von „Klarheit“ und „Geheimnis“ gezeigt – einander berühren. Picard fasst nicht nur das Menschengesicht sondern auch das „Gesicht der Sprache oder [...] des Wortes“79 als eine Figur, deren Elemente in ständiger Bewegung sind, sich berühren und aneinander teilhaben. Als eine Theorie der Textbewegung lassen sich auch Paul de Mans Arbeiten zur Rhetorik und zur Trope verstehen. Dabei bildet de Mans dekonstruktivistisches Modell zwar einen Gegenpol zur Harmonie der Picard’schen Textbewegung: So verdeutlicht de Man – etwa in seiner Rilke-Lektüre – die unüberwindlichen Brüche und das Scheitern der Sehnsucht nach harmonischem Ausgleich und Transzendenz der Textbewegungen. Dennoch oder gerade deswegen bietet de Man Ansätze, auf die sich meine Lektüre der Wellentheorie des Gesichts als einer Wellentheorie des ‚Wortgesichtes‘ oder der (poetischen) Sprache berufen kann. Nicht umsonst galt ein besonderes Interesse de Mans jener Trope, die Gesichter und Gesichte kurzschließt und beide dadurch mit Leben erfüllt: 77

78 79

Ebenda, S. 17. Hervorhebungen im Original. Dass Buschmeier und Dembeck hier wie an anderen Stellen immer wieder auf die Rezeptionsebene zurückgeworfen werden (das „Oszillieren“ wird in der „Wahrnehmung“ induziert) und damit „die Rede von textueller Eigenbewegung unzutreffend oder zumindest überzogen“ erscheint, wie sie selbst schreiben, zeigt die Schwierigkeiten ihres Versuchs. Ebenda, S. 12. Kassner: Physiognomik, S. 87.

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Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, eine Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poein, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben.80

Der Prosopopoiia, so de Man, „geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration“.81 Doch die Gemeinsamkeiten zwischen Picards Wellentheorie und de Mans Auseinandersetzung mit der Trope im allgemein und der Prosopopoiia im besonderen reichen weit über diese noch oberflächliche Parallele hinaus: De Man entwickelt nämlich im weiteren Fortgang seiner Ausführungen zur Prosopopoiia eine Theorie rhetorischer Bewegung und textueller Übergänge, die interessante Parallelen zu meiner poetologischen Lektüre der Wellentheorie aufweist. De Man erarbeitet seine Bemerkungen zur Prosopopoiia anhand einer Lektüre der Wordsworth’schen Essays upon Epitaphs; diese folgen einem konsistenten System aus Gedanken, Metaphern und Sprachstil, das zu Beginn des ersten Essays angekündigt und dann konsequent durchgeführt wird. Es ist ein System der Vermittlungen, das die radikale Distanz eines Entweder-Oder-Gegensatzes in einen Prozeß unwandelt, der gestattet, die Bewegung von einem Extrem zum anderen über eine Reihe von Transformationen zu durchlaufen, welche die Negativität der ursprünglichen Beziehung (beziehungsweise das Fehlen einer Beziehung) unversehrt lassen. Man bewegt sich, ohne jedes Zugeständnis, von Tod oder Leben zu Leben und Tod.82

Dieser „Reihe von Transformationen“ geht de Man insbesondere auf der rhetorischen Ebene nach: Aus rhetorischer Sicht gesehen sind die Essays upon Epitaphs eine Abhandlung über die Überlegenheit der Prosopopöie [...] über die Antithese [...]. Was Fragen des Stils und der Erzählweise angeht, so zeigt sich hier die Prosopopöie auch als Kunst des unmerklichen Überganges83.

Das bei Wordsworth ausgemachte „System der Vermittlungen, das die radikale Distanz eines Entweder-Oder-Gegensatzes in einen Prozeß unwandelt“ nutzt also als Textverfahren die rhetorische „Kunst des unmerklichen Überganges“. Betrachten wir uns unter diesem Aspekt den Beginn der Picard’schen Wellentheorie des Gesichts noch einmal, so stoßen wir auch hier auf ein solches Verfahren. Die Wellenmetaphorik war ja schon bei ihrem Einsetzen durch das Wort „hinübergewiegt“ selbst aus einem fast „unmerklichen“ rhetorischen „Übergang“ entstanden: Lief der Satz zunächst auf ein „Hinübergelegt-Werden“ hin, so wurde diese metaphorische Textbewegung dann selbst durch die Interjektion „nein“ zum „Hinübergewiegt-Werden“. („Und eine solche Ruhe geht vom Frontalgesicht noch in die Bewegung des Profilge80 81 82 83

de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“, S. 140. Ebenda. Ebenda, S. 138. Hervorhebungen im Original. Ebenda, S. 140. Hervorhebung K. L.

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sichtes hinein, daß es ist, als habe sich das Profilgesicht selber in das Frontalgesicht hinübergelegt, nein, hinübergewiegt.“84) Indem das „Nein“ zur Linie des „unmerklichen Überganges“ wird, an der sich die Worte „hinübergelegt“ und „hinübergewiegt“ berühren und ineinander übergehen, erfasst die Wellenbewegung auch das Wort. Was de Man im weiteren und unter Verwendung von Zitaten aus Wordsworth’ Essays schreibt, ließe sich ebenfalls aus einer poetologischen Lektüre der Picard’schen Wellentheorie des Gesichts entwickeln: Die schrittweisen Transformationen geschehen derart, daß die ‚Gefühle ..., obwohl sie einander entgegengesetzt scheinen, in einer anderen und feineren Beziehung zueinander stehen als der des Kontrastes‘. Der Stil des Epitaphs ist von den ‚nichtssagenden Antithesen‘ der Satire weit entfernt, ihn kennzeichnen vielmehr ‚sanfte Abstufungen oder sachte Übergänge zu verwandten Eigenschaften‘, gleitende Verschiebungen, die sich allein ‚innerhalb des Umkreises von ruhig nebeneinander stehenden Eigenschaften bewegen‘.85

Im Lichte einer poetologischen Lektüre der Wellentheorie lassen sich dann auch Picards Ausführungen zu einem klassischen Topos der Physiognomik – dem Geiz – an eine Theorie der Text- oder Sprachbewegungen anschließen. Die Wellentheorie erklärt nämlich den Geiz als das Fehlen jener „sanften Übergänge“ und flexiblen Austauschbeziehungen, wie sie die Gesichtswellen hervorbringen. In der ersten Variante seiner Wellentheorie aus dem Kapitel über „Die Beschreibung des Gesichts“ hatte Picard nämlich das Gesicht nicht in zwei (Profil- und Frontalfläche), sondern in drei Flächen aufgeteilt: Stirnfläche, vordere und seitliche Wangenfläche. Auch in dieser Version aber hatte er die Flächen durch Wellenbewegungen verbunden und das Gesicht durch Linien geordnet, die durch die sich überschneidenden Wellen gebildet werden. Diese Linien sind jedoch selbst nicht starr und fixiert, sondern bewegt: In der faltigen Linie, die den äußeren Rand des Nasenflügels mit dem Mundwinkel verbindet, begegnen sich die Wellen, die Wellen vom Mund und die von der Wangenfläche. Aber es ist nicht festgesetzt, daß die Wellen genau in dieser Linie sich begegnen, es ist hier keine schematische Grenze, sondern die Linie ändert jeden Augenblick den Ort, wo sie Wangen und Mundwellen sich begegnen läßt.86

Die drei Flächen des „Menschengesichts“ stehen auch hier in einem harmonischen Austausch und haben aneinander teil: Die Wellen der Wangen und die Welle des Mundes strömen also einander entgegen. Doch sie stoßen einander nicht, sie begegnen sich freundlich, sie geben und sie nehmen voneinander. Ein Austausch ist dort, wo sie sich treffen. Das Menschengesicht ist charakterisiert durch dieses Geben und Nehmen, durch diesen Austausch überall. Jeder Teil des Gesichts gibt den anderen Teilen von seiner Bewegung, und gerade dort, an den Übergängen, wo ausgetauscht wird, wie hier an der Nasen-Mundfalte, dort ist das Gesicht am lebendigsten.87 84 85 86 87

Picard: Das Menschengesicht, S. 50. de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“, S. 140. Picard: Das Menschengesicht, S. 39. Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 40. Hervorhebung K. L.

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Die Störung eines solchen Austauschs bricht die wellenartige Bewegtheit und Lebendigkeit des Gesichts, was den Geiz und seine verkniffenen Züge hervorruft: Oft geschieht es, daß das Gesicht hier eingezogen und verkniffen ist. Der Mund in einem solchen Gesicht versucht, seine Wellen für sich zu behalten, er will sie nicht von sich wegschicken. Es ist ein kleinlicher, rechnender Mund, der das tut, und darum ist er eingezogen. Und die Falte, die von den Nasenflügeln gegen die Mundwinkel verläuft, ist bei diesen engen und geizigen Menschen sehr tief. Es ist, als sei dort an jener Stelle, wo die Wellen von der Fläche des Mundes und die Wellen von der Wange sich treffen, es ist, als sei beim Geizigen dort eine Kontrolle: es geht hier genau zu, es wird an dieser Stelle alles geprüft, was hin- und hergeht.88

Die Exaktheit und Genauigkeit des Geizigen, der auf der schematischen Grenze beharrt, lassen sich poetologisch als Figuren der Antithese lesen, die laut de Man der Prosopopoiia als „Kunst des unmerklichen Übergangs“ entgegengesetzt und unterlegen sind. Und in diesem Sinne verweisen auch Picards Ausführungen zum Geiz auf die Unterlegenheit des Schematischen und Exakten gegenüber dem Bewegten – sie äußert sich in einem lauten Lachen der Seele, die für eine semiotische „Fülle“ steht: Der Geizige, – wenn er einen Geizigen charakterisieren müßte, er wäre sparsam, er würde ihm nur ein einziges Zeichen machen, eben jene tiefe Falte zwischen Nase und Mundwinkel. Die Seele aber ist nicht sparsam, auch beim Geizigen ist sie in der Fülle: überall macht sie das Zeichen des Geizes. Jedoch der Geizige, er reißt auch die vielen Zeichen des Geizes, die die Seele in seinem Gesicht gemacht hat, sofort an sich und behütet sie wie einen Schatz, – da lächelt die Seele, wie sie sieht, daß der Geizige sogar die Zeichen des Geizes hütet, sie lächelt, ja, jetzt lacht sie sogar laut, der Geizige erschrickt und fast läßt er die Zeichen des Geizes, die er gesammelt hat, fallen.89

Zwar greift Picard mit seiner Vorliebe für die Gesichtslinien (das Profil oder die Verbindung Nasenflügel-Mundwinkel) jene physiognomische Tradition auf, die das Gesicht auf Linien zu reduzieren und dadurch Charakter und Schicksal zu dechiffrieren versucht. Diese Tradition reicht von Lavaters obsessiven Versuchen, im Schattenriss die Linienschrift des Gesichts zu entschlüsseln90 über Camper und Gall bis zu den Rassenphysiognomiken eines Carl Heinrich Stratz91. Doch Picards ‚Wellentheorie‘ der Profil- und Gesichtslinien unterscheidet sich von all diesen dechiffrierenden Lektüren der Linienschrift: Sie steht für eine ‚Literarisierung der Physiognomik‘92 – denn gerade als Linien-Schrift ist das Gesicht nicht festgeschrieben und daher nicht eindeutig entzif88 89 90

91 92

Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 41f. „Was kann weniger Bild eines ganz lebendigen Menschen seyn, als ein Schattenriß? Und wie viel sagt er! Wenig Gold, aber das reinste! In einem Schattenrisse ist nur eine Linie; keine Bewegung, kein Licht, keine Farbe, keine Höhe und Tiefe; kein Auge, kein Ohr, kein Nasenloch, keine Wange, nur ein sehr kleiner Theil von der Lippe; und dennoch, wie entscheidend bedeutsam ist er!“ (Lavater, Johann Kaspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. II, Leipzig und Winterthur: Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie, 1776, S. 43). Vgl. etwa Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes, Stuttgart: Enke, 1901. vgl. hierzu oben S. 19ff.

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ferbar wie bei Lavater & Co. Wie für das gesamte Menschengesicht gilt auch für seine Linien, dass „Klarheit und Geheimnis“ zugleich darin liegen. Damit ist das Gesicht allen Versuchen einer semiotischen Fixierung entzogen. Picards Wellentheorie des Gesichts erschöpft sich allerdings nicht in einem reinen „Hin und Her“ zwischen den Gegensatzpaaren, sie beschreibt nicht eine ewig gleiche, periodische Bewegung. Die zwischen den Gesichtsflächen verlaufende harmonische Wellenbewegung ist zugleich der Schauplatz, an dem eine transzendente Instanz interveniert, welche die paradoxe Harmonie der Picard’schen Gegensatzpaare erst ermöglicht.93 Denn gerade auf dem Höhepunkt der Gesichtswelle vollzieht sich eine Wandlung, die den in der Bewegung sich treffenden Gegensatz von Frontalgesicht und Profilgesicht transzendiert: Wunderbar ist nun, wie die Profil-linie nicht einfach das annimmt, was ihr die Welle von der Fläche zubewegt, sondern, sie überträgt das, was ihr flächig zubewegt wird, sie überträgt das Flächige ins Lineare. Die Profillinie ist nicht bloß äußerster Rand der Fläche, nicht bloß ihr letzter Rest, sondern sie ist etwas ganz Neues [Hervorhebung K. L.]: in ihr ist der Rhythmus der Fläche ins Lineare verwandelt.94

Am Schnittpunkt der Bewegung, an dem die Gesichtswelle – metaphorisch gesprochen – bricht, richtet sich die Bewegung in eine andere Dimension: Denn der Rhythmus der Bewegung verläuft nicht mehr von den Seiten nach vorne zu, wie in der Profil-fläche, er verläuft jetzt von oben nach unten, von der Stirnmitte über die Nase abwärts in der Profil-linie95.

Dass diese Dimension nicht allein geometrisch „etwas ganz Neues“ meint, liegt auf der Hand: Die Linie, die „von oben nach unten“ verläuft, ist bei Picard – schon in Der letzte Mensch – das Medium einer transzendent-hierarchischen Ordnung, die den gesamten Kosmos von oben nach unten durchläuft – die „Sternenlinie“96. 93

94 95 96

Sucht man nach außerliterarischen Kontexten einer solchen ‚Wellentheorie‘, so sind es weniger die zeitgenössischen Auseinandersetzungen der theoretischen und angewandten Physik – in denen ja ebenfalls die Welle eine höchst brisante Metapher darstellt – sondern populärwissenschaftliche Diskurse zwischen Esoterik und Literatur, die ähnliche Denkfiguren entwickeln: Als Beispiel ließen sich anführen Moeller, Max: Die Wellen, die Schwingungen und die Naturkräfte, Braunschweig: Vieweg, 1926; Dominik, Hans (Hrsg.): Wellen, Werke, Wunder. Ein Buch des Wissens für das deutsche Haus, Berlin: Universitas, 1926 oder Kraemer, Hans (Hrsg.): Quellen und Wellen im Dienste der Kultur. Das Wasser und seine Kräfte im Dienste der Menschheit, Berlin: Bong, 1918. So fordert etwa Julius Hart in seinem das letztgenannte Werk einleitenden Aufsatz über „Das Wasser in Kultus und Mythus“ die Rückbesinnung auf Goethes „Wassermythusdichtung im zweiten Teile seines ‚Faust‘. [...] [S]ein Wassermythus stellt da etwas wie eine Verbindungsbrücke her, auf der wir aus der Welt unseres heutigen naturwissenschaftlichen Denkens herübergelangen können zu den Naturanschauungen und Entwickelungslehren der primitiven Menschheit und ihren Wassermythen und Wasserkulten“ (Hart, Julius: „Das Wasser in Kultus und Mythus“, in: Hans Kraemer (Hrsg.), Quellen und Wellen im Dienste der Kultur. Das Wasser und seine Kräfte im Dienste der Menschheit, Berlin: Bong, 1918, S. 1–32, hier: S. 1). Picard: Das Menschengesicht, S. 50f. Hervorhebungen, wo nicht anders vermerkt, im Original. Ebenda, S. 51. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 147f.

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Auch das Umschlagen der flächigen Wellenbewegung in die transzendente Linie lässt sich in Fortführung der poetologischen Lektüre als eine Bewegung des ‚Wortgesichts‘ interpretieren. Denn dort, wo das Gesicht ins Transzendente weist, offenbart sich auch die transzendente Herkunft der Worte: Es ist, als ob man an der Stelle, wo die Fläche sich plötzlich umwandelt in die Profillinie, noch das verwandelnde Wort hören könne, das Echo wenigstens dieses Wortes, das ein Zauberwort war. Denn nur durch ein Zauberwort hat diese Verwandlung so vollkommen gelingen können, und es scheint, daß sich das Ohr darum ein wenig von der Seite nach vorne neigt, wie um das Echo jenes Zaubertones noch zu hören.97

Dass sich eine literarische Bewegung zu einer den Text transzendierenden Mächtigkeit aufschaukeln kann, die „Gott“ genannt wird, jedoch die (eigene) Kunst und deren Meisterschaft meint, hat de Man in seinen Allegorien des Lesens anhand der Rilke’schen Poesie gezeigt. Wie Picards Wellenbewegung, so zeichnet sich auch die Textbewegung zahlreicher Rilke’scher Gedichte durch eine paradoxe Harmonie von Gegensätzen aus. So beschreibt etwa das Gedicht „Der Ball“ aus den Neuen Gedichten eine Flugbahn, deren Aufstieg, Höhepunkt und Fall sich als Welle verstehen lassen: Der Ball ist eine strikt deskriptive Version einer Totalisierung, die die widersprüchlichen Bewegungen von Flug und Fall einbegreift. [...] Die Umkehrung ermöglicht es, die Fallbewegung zu betrachten, als wäre sie ein Ereignis, das in gewissem Grade an dem freudigen Aufschwung der anfänglichen Flugbahn des Balls teilhat.98

Und in einem späteren Gedicht aus dem Jahre 1923 taucht das Ballmotiv – eines seiner beliebtesten und am häufigsten verwendeten Motive – erneut auf, diesmal in einem „Ballspiel für Götter“. Das Gedicht trug zunächst im Untertitel die Widmung „Für Max Picard“, die Rilke später zum Titel machte! Auch in einem Gedicht aus dem Stunden-Buch („Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz“99) entsteht Textbewegung aus der Spannung zwischen zwei Gegenpolen, hier gebildet von der sprechenden Stimme (dem „ich“) und dem Adressaten dieser Stimme (dem im Unklaren verbleibenden „du“); eine ähnliche Spannung besteht zudem zwischen dem Zwang der Äußerung und der durch das dichterische Können des „ich“ erreichten künstlerischen Freiheit: „Absicht des Textes ist nicht, die zwei getrennten Entitäten erneut zu vereinen, sondern eine spezifische Tätigkeit wachzurufen, die zwischen ihnen zirkuliert.“100 Am Schluss des Gedichts kommt die solcherart zirkulierende bzw. wachgerufene Textbewegung „zur Ruhe in den Zeilen ‘Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn/ und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.‚“101 Die Textbewegung ist hier vor allem eine akustische: „Es läßt sich unschwer erkennen, daß in dieser letzten Vers97

Picard: Das Menschengesicht, S. 51. de Man, Paul: Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 75f. 99 Rilke: Werke. Band I.1. Gedicht-Zyklen, S. 24. 100 de Man: Allegorien des Lesens, S. 61. 101 Rilke: Werke. Band I.1. Gedicht-Zyklen, S. 24. 98

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zeile streng genommen keine Silbe vorkommt, die nicht auf eine euphonische Wirkung abzielt“102. Auch Rilkes Text strebt damit auf einen harmonischen Ausgleich zu, wenn die Schlussworte des Gedichts „jede Klangwirkung in eine andere einfassen, so wie eine größere Schachtel ihrerseits eine kleinere fassen kann.“103 Und indem die Harmonie der ‚Euphonie‘ zur Euphorie wird, gewinnt der Text eine transzendente Dimension: Die Fertigkeit des Gedichts besteht in seiner Beherrschung der Lautdimension der Sprache. [...] Der ‘Gott‚, den die Gedichte durch eine Vielzahl von Metaphern und wechselnden Strophen umschreiben, entspricht der Mühelosigkeit, die der Dichter in seinen Reim- und Assonanztechniken erlangt hat. Es ist bekannt, daß diese Gedichte sehr rasch in einer Art Euphorie niedergeschrieben sind [...]; was die Gedichte rühmen, ist vor allem diese Euphorie.104

Hatte nicht Picards Wellentheorie die Transzendenzerfahrung ebenfalls auf eine ‚euphonische Euphorie‘ zurückgeführt? Es ist, als ob man an der Stelle, wo die Fläche sich plötzlich umwandelt in die Profillinie, noch das verwandelnde Wort hören könne, das Echo wenigstens dieses Wortes, das ein Zauberwort war. Denn nur durch ein Zauberwort hat diese Verwandlung so vollkommen gelingen können.105

An dieser Stelle ist jedoch auf eine zweite Dimension der Textbewegung hinzuweisen, die de Mans Rilke-Lektüre freilegt: Er verweist auf den Bruch, der bei Rilke zwischen dem textuellen bzw. akustischen Spiel der rhetorischen Figuren und der semantischen Ebene entsteht: In einigen seiner markantesten und reflektiertesten Gedichte nämlich lässt Rilke ‚durchblicken‘, dass der Umschlag von Euphonie in Euphorie – und damit in eine Erfahrung von Transzendenz – einer Täuschung, ja einer Lüge aufsitzt. Die Meisterschaft, die die Figuren in harmonische Bewegung versetzt, die Gräben zwischen Subjekt und Objekt, Ruhe und Bewegung überwindet und ihre Gegensätze transzendiert – sie ist nur dort erreichbar, wo die Sehnsucht nach einem Jenseits des Textes unerfüllt bleibt. Nach de Man fordert der Rilke’sche Text zwei Lektüren, die beide ebenso notwendig wie unvereinbar sind: eine erste „missionarische Lektüre“, die Ausdruck der Sehnsucht nach ebenjenem Jenseits der Signifikanten und Figuren ist, welches eine zweite, figurative Lektüre“ verneint und als Illusion darstellt – als „notwendige Abwesenheit eines verläßlichen Referenten [...] [und] Unfähigkeit der dichterischen Sprache, sich irgendetwas anzueignen, sei’s als Bewußtsein, als Objekt oder als eine Synthese von beidem. Von der Sprache der Figuration aus gesehen erscheint dieser Substanzverlust als Befreiung. Er löst das Spiel rhetorischer Umkehrungen aus und ermöglicht ihnen die Freiheit ihres Spiels, ohne durch die referentiellen Zwänge des Bedeutens behindert zu sein [...]. Eben diese Freiheit ermöglicht ihm 102

de Man: Allegorien des Lesens, S. 62f.: „Die wesentlichen Reime und Assonanzen (dulde stumm, wir dir, dunkel tun) sind durch Silben miteinander verbunden, die selber assonieren (und dulde) oder alliterieren (was wir)“ (ebenda, S. 63). 103 Ebenda. 104 Ebenda. 105 Picard: Das Menschengesicht, S. 51.

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[Rilke, K. L.] auch, eine neue Ganzheit anzudeuten, in der die Figuren sich gegenseitig vollkommen ergänzen, da die Ganzheit nicht irgendeine empirische oder transzendentale Wahrscheinlichkeit in Betracht zu ziehen hat, die mit dem Prinzip ihrer Konstitution in Konflikt geraten könnte.“106

In seinem späten „Reitergedicht“107 aus den Sonetten an Orpheus fasst Rilke die beiden poetischen Pole – Figur und Bedeutung, Text und Referenz oder Sprache und Semantik – in das Metaphernpaar von Reiter und Pferd; ihr Verhältnis erscheint dabei zunächst als eine harmonisch bewegte Einheit – um dann jedoch als Trugbild entblößt zu werden: „Und die zwei sind eins./ Aber sind sie’s? Oder meinen beide/ nicht den Weg, den sie zusammen tun?“108 Der Zweifel daran, dass der „Weg“ – poetologische Metapher für die parallele Bewegung von Signifikant und Referent – wirklich eine gemeinsame Bewegung ist, wird zur Gewissheit, wenn Rilke den „Reiter“ als Sternbild anspricht und damit deutlich macht, dass es sich um eine reine Figur handelt: „Auch die sternische Verbindung trügt“. Dieser Hinweis stellt alles, was erreicht wurde, in Frage und reduziert die einige Totalität auf eine bloße Sinnestäuschung, so trivial und trügerisch wie die optische Täuschung, die uns die chaotische Verteilung der Sterne im All so wahrnehmen lässt, als wären sie echte Figuren, echte, auf den Hintergrund des Firmaments gezeichnete Entwürfe. [...] Das an dieser unerwarteten thematischen Wendung Wichtigste ist, daß sie genau in dem Augenblick erfolgt, in dem der Text das Bewußtsein seiner sprachlichen Struktur feststellt und das Ereignis, das er beschreibt, als ein sprachliches bezeichnet.109

Diesen Bruch zwischen der „sprachlichen Struktur“ des Textes und dem „Ereignis, das er beschreibt“ vollzieht Picards Menschengesicht nicht – oder zumindest nicht als radikale, entmythologisierende und unwiderrufliche Einsicht in das Verfallensein an die Sprache: Zwar findet sich auch im Menschengesicht ein Bruch, doch wird dieser auf ein geschichtliches Phänomen eingegrenzt und verbleibt damit auf der Ebene des (historischen) Referenten. Die Wellentheorie erweist sich nämlich als eine implizite Poetologie auch dort, wo „Menschengesicht“ und „Menschengesicht heute“ auseinandertreten. Im „Menschengesicht“ werden die Gegensätze (Profilgesicht – Frontalgesicht, Klarheit – Geheimnis, Ruhe – Bewegung) durch das wellenartige Hin und Her transzendiert und zu einem harmonischen Zusammenhang und bewegten Ganzen verflochten. Diesem harmonischen Ganzen steht im „Menschengesicht heute“ ein anderes Gegensatzpaar gegenüber, dem die harmonische Verflechtung fehlt: Wo im „Menschengesicht“ die Profillinie den Ort der göttlichen Intervention bildet, die das „Menschengesicht“ an der transzendenten, von oben her gesandten Linie ausrichtet, findet sich im „Menschengesicht heute“ eine andere Linie. Sie führt in die Tiefe, den Abgrund. 106

de Man: Allegorien des Lesens, S. 79. Rilke, Rainer Maria: Werke. Band I.2. Gedicht-Zyklen, hrsg. v. Rilke-Archiv, Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1966, S. 493f. 108 Ebenda. Hervorhebung im Original. 109 de Man: Allegorien des Lesens, S. 85. 107

„Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“

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Beim Menschengesicht heute ist die seitliche Fläche des Gesichts kaum mehr verbunden mit der Profilfläche. Wohl bewegt sich die Fläche vom Ohr her auch nach vorne, sie stürzt sogar vorwärts, aber wie ohne Sinn stürzt sie. Sie hält nicht an [...], sie wartet nirgends, es kommt ihr auch nichts entgegen, und so stürzt die seitliche Fläche allein nach abwärts. Die seitliche Fläche bewegt sich nicht mehr hin zur Profillinie, sie geht an ihr vorbei, beide treffen einander nicht, und dort wo die Wangenfläche nach abwärts biegt, weg von der Profillinie, dort ist es wie ein Graben, eine Leere. Die seitliche Fläche und die Profillinie sind durch eine Leere getrennt.110

Wie bei Rilke lassen sich hier die „Leere“ und der „Graben“ als Verweis auf die Kluft zwischen Figur und dahinterliegendem Referenten lesen – und der Hinweis, dass die Bewegung „wie ohne Sinn“ nach vorwärts stürzt, konnotiert die „Leere“ und den „Graben“ als Abgründe des semantischen Trugs. Entscheidend ist jedoch, dass dieser Bruch zwischen Text und (semantischer) Tiefe allein das „Menschengesicht heute“ charakterisiert – er wird damit zum historischen Bruch. Als solcher aber verbleibt er auf der Ebene des Referenten und erscheint damit einer „messianischen Lektüre“ als überwindbar. Diese messianische Hoffnung Picards erinnert an Rilkes Sehnsucht nach „Wiedererlangung einer Sprache, die fähig wäre, die bleibende Präsenz des Seins über Tod und Zeit hinaus zu benennen“111 – doch anders als bei Rilke wird bei Picard diese Sehnsucht nicht gebrochen und zurückverwiesen auf die Ebene des Textes und seiner euphorisch-euphonischen Transzendenz-Bewegungen. Das Umschlagen von Picards Textwellen zielt auf einen transzendenten Referenten außerhalb des Textes, seine Sternenlinien leugnen die figurativen und rhetorischen Abgründe, über die sie gespannt sind. Picard weigert sich, das Gesicht auch als Figur des abgründigen Abweges zu enttarnen und den im Letzten Menschen zumindest angedeuteten Bruch mit „jede[m] Anspruch außertextueller Autorität“112 zu vollziehen. Die Poetologie des Menschengesichts und seiner Wellentheorie erneuert das Versprechen einer Einheit von Signifikant und Referent und bleibt damit hinter der Radikalität zurück, mit der andere Avantgardisten diese Einheit gegen alle Sehnsucht dekonstruieren.

7.3 „Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“. Die Menschengesichte der jüdischen Sprachmystik Die Spannung zwischen Text und Referent, die Das Menschengesicht als textimmanente Bewegung wie als implizite Poetologie zu transzendieren bzw. historisch zu verorten sucht, lässt sich auch auf eine ganz andere Tradition der „Textbewegungen“ zurückführen, in der diese Spannung eine zentrale Rolle einnimmt – die jüdische Sprach110

Picard: Das Menschengesicht, S. 52. Hervorhebungen K. L. de Man: Allegorien des Lesens, S. 83. 112 Ebenda, S. 82. 111

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mystik.113 Auch hier finden sich komplexe, sehr ambivalente Beziehungen zwischen kunstvollen Texten und göttlichen Referenten: Insbesondere der eine, transzendente Referent steht dabei als machtvolles Moment im Zentrum der Sprachbemühungen; nicht umsonst wird sein Name, ‚En-Sof‘, dem eigentlich ‚Nichts‘ entspricht, u. a. als ‚Der Eine ‘ übersetzt. An ‚En-Sof‘ entzündet sich die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von menschlicher Schrift und (göttlichem) Referenten, das in der Jüdischen Sprachmystik zumeist als ontologischer Bruch entworfen wird – was paradoxerweise ein äußerst schillerndes und komplexes Geflecht von textuellen Beschreibungen ebenjenes undarstellbaren Einen, bzw. seines Erscheinens als „wirkende Gottheit“114, nach sich zieht. Doch die Jüdische Sprachmystik kennt auch eine Tradition, die den Bruch vor allem historisch deutet: die lurianische Kabbala115 und ihre (heils-)geschichtliche Lehre vom Schevi113

Zur jüdischen Sprachmystik vgl. allgemein Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980; Scholem, Gershom: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Zürich: Rhein-Verlag, 1962; zur Sprachmystik als einer Theorie rhetorischer Sprache: Bloom, Harold: Kabbala. Poesie und Kritik, Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1989. 114 Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 31. 115 Als Kabbala werden verschiedene aus der Jüdischen Sprachmystik hervorgegangene Strömungen zusammengefasst, die sich durch verschiedene Aspekte einerseits von den mystischen Strömungen anderer Religionen und andererseits von den aufgeklärten oder philosophischen Richtungen innerhalb des Judentums unterscheiden, auch wenn Scholem gerade auf die jeweiligen Gemeinsamkeiten hinweist, die allzu oft übersehen wurden. Zu den spezifischen Eigenschaften der Kabbala gehört ein besonderes Verständnis der historischen Tradition, auch wenn geschichtliche Ereignisse natürlich wie in anderen Formen mystischer Religiosität auch hier als ewige Bilder ahistorisch gedeutet werden. Auch eine besonders intensive „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) attestiert schon Scholem der kabbalistischen Mystik; sie erweist die Trennung religiösen Denkens in philosophische oder abstrahierende und mystische oder spekulierende Formen als oft nur behauptete Differenz oder als lediglich historische Wahrnehmung und Wirkung. Tatsächlich stehen sich gerade im Judentum rationale Philosophie und Mystik näher als es scheint; „die Kabbala [ist] keineswegs als Gegenschlag gegen die philosophische Aufklärung entstanden, wohl aber ist es richtig, daß sie als Gegenschlag gegen diese Aufklärung gedient hat und wirkte“ (Scholem: Die jüdische Mystik, S. 26). Schließlich zeichnet sich die Kabbala auch durch ein besonderes Verhältnis zur Sprache aus. Anders als in der Philosophie, die die Sprache allegorisch auffasst, so dass „in einem unendlichen Netz von Bedeutungen und Korrelationen alles als Zeichen für alles dienen [kann], wobei aber doch alles innerhalb der Welt des Ausdrucks und der Sprache bleibt […], steht im mystischen Symbol [der Kabbala, K. L.] ein Ausdrückbares für etwas, was der Welt des Ausdrucks und der Mitteilung entrückt ist. [...] Das Symbol ist solcherart zwar auch Zeichen, aber nicht Zeichen allein“ (ebenda, S. 28f.). Auch historisch stellt die Kabbala einen eher vagen Rahmen dar, Philosophie und Mystik unterscheiden sich in ihren frühen Formen noch kaum, sie „stehen am Anfang, was allzu oft übersehen wird, nicht einmal in manifestem Konflikt miteinander. Im Gegenteil, der Rationalismus mancher ‚Aufklärer‘ hat noch oft eine mystische Note, [...] und der Mystiker stammelt, seiner eigenen Sprache noch nicht mächtig, in der Sprache der Philosophie“ (ebenda, S. 26). Als Kabbala im engeren Sinne gilt jene kulturell und politisch einflussreiche Bewegung, die im 12./13. Jahrhundert erstmalig und im Chassidismus des 20. Jahrhunderts letztmalig hervortritt.

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rath-ha-Kelim – dem Bruch der Gefäße. Den Spuren, die diese verschiedenen Traditionen und ihre Ambivalenzen in Das Menschengesicht hinterlassen haben, geht der folgende Abschnitt dieses Kapitels nach.

En-Sof und die sefiroth. Bruch und Harmonie, Bewegung und Enthaltung Die jüdische Sprachmystik speist sich schon seit ihren Anfängen aus der Spannung zwischen dem Unaussprechlichen der Gottes-Erfahrung – das sich inszeniert in Gesten des Schweigens, des Verstummens oder der mystischen Versenkung – und den zumeist sehr beredten und bildreichen Schilderungen dieser Erfahrung. Gershom Scholem, der mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Kabbala wie kein anderer für ihre historische wie systematische Erforschung steht, hat diese Spannung wie folgt beschrieben: Wie kann mystische Erkenntnis in Sprache ausgedrückt werden, wo sie sich doch auf eine Ebene bezieht, in der Ausdruck und Sprache versagen? Wie kann der innerlichste Vorgang, die Berührung des Menschlichen mit dem Göttlichen, durch Worte adäquat umschrieben werden? Und dennoch ist der unstillbare Drang der Mystiker, sich auszusprechen, allgemein bekannt.116

Beide Pole dieser paradoxen Spannung – Versagen der Sprache und sprachlicher Ausdruck – zeichnen sich dadurch aus, dass sie, indem sie über Gott als das Undarstellbare reflektieren, zugleich über das Darstellen, insbesondere über Schrift und Sprache und damit über sich selbst, nachdenken. Die verschiedenen Strömungen der jüdischen Mystik versenken sich als performative Sprechakte nicht nur in die Geheimnisse Gottes, sondern auch in die Geheimnisse von Sprache und Schrift-Wort – sie sind daher zugleich Sprachmystik. Die erzählende Tradition jüdischer Schriftauslegung – der Midrasch – bezieht ihre Spannung nicht allein aus dem Paradox von Undarstellbarkeit und Manifestation der Transzendenz, sondern auch aus deren Niederschlag als schriftliche und mündliche Offenbarung. Denn die Erzählung vom Empfang der Torah durch Moses berichtet von einer mündlichen Torah, die gleichbedeutend neben die schriftliche Torah tritt und damit auf ein Charakeristikum jüdischer Theologie verweist: Die göttliche Wahrheit enthüllt sich ebenso in den schriftlich fixierten Worten der Schrift wie in der mündlichen Weitergabe ihrer deutenden Interpretation – in den heiligen, zunächst nicht fixierten Intertexten der Halachah (der Gesetzeslehre und -kommentare) und Haggadah (der Tradition der erzählenden Schriftauslegung) sowie deren unendlich sich fortsetzenden Ausdeutungen.117

116 117

Ebenda, S. 16. „Even the halakhah does not derive its authority from an alleged literal meaning of the scriptures; its legal power is based upon the tradition that Moses received detailed instructions concerning ritual and ethical behavior and transmitted these orally to Joshua, from whom they were passed from generation to generation“ (Dan, Joseph: „Midrash and the Dawn of Kabbalah“, in: Geoffrey H.

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Die jüdische Schriftauslegung unterscheidet sich von der christlichen durch verschiedene Aspekte, die sich vor allem auf unterschiedliche Traditionsverläufe zurückführen lassen. Insbesondere die abweichenden Wege der Weitergabe und Übersetzung heiliger Texte haben dabei zu bedeutsamen Differenzen im Verhältnis zum Schriftmedium geführt: The possibility of using the totality of the text is created by the nature of the original Hebrew language of the Jewish scriptures. This is in marked contrast to the fact that Christians in the Middle Ages and modern times have usually had to use a translated text. [...] Such a text cannot preserve the sanctity of the shape of letters; at best, it can convey the ideonic meaning of the original.118

Während die christliche Oralität sich durch diese kulturhistorische Wendung auf die Bedeutungsebene verwiesen sieht und selbst hier – etwa durch den übersetzungsbedingten Verlust polysemantischer Dimensionen119 – Einschränkungen erfährt, baut die jüdische Schriftauslegung auf einem umfassend tradierten Textkorpus auf: Der literarische Reichtum jüdischer Theologie und jüdischen Sprachdenkens speist sich nicht zuletzt aus dieser „totality of the text“, seinen Texturen und lautlichen Dimensionen: Jewish preachers could use a total text, hermeneutically discussing not only the meaning of terms and words, but also their shapes and sounds, the te’amim (the musical signs added to the Hebrew words), the tagin (the small decorative additions to the letters), the frequency with which words and letters appear in a verse or a chapter, the absence of one of the letters from a biblical portion, the variety and number of divine names included in the text, the numerical value of letters, words, and whole verses, the possible changes of letters (etbash, temurah), the new words formed from the initial or final letters of a biblical section (notarikon), and the countless ways other than ideonic content and meaning by which the scriptures transmit a semiotic message.120

Joseph Dan macht darauf aufmerksam, dass dieser Umgang mit (heiligen) Texten die gesamte Tradition des Midrasch und damit die jüdische Theologie im Ganzen, keineswegs nur die jüdische Mystik auszeichnet.121 Diese bis in die Antike zurückreichende und kulturhistorisch verfestigte Eigenart jüdischer Schriftauslegung verbindet Picard in Das Menschengesicht mit einer anderen Hartman und Sanford Budick (Hrsg.), Midrash and Literature, New Haven, London: Yale University Press, 1986, S. 127–139, hier: S. 129). 118 Ebenda, S. 128. 119 „Many, probably most, of the verses in the Old Testament, for example, can be translated in more than one way, because there are at least several shades of meaning, and sometimes even complete obscurities, in the text. A translator has to choose between all possible interpretations and present one of them, losing in this way the richness, as well as (from a religious point of view) the profundity of the original.“ (ebenda, S. 129) 120 Ebenda, S. 128. 121 „It should be emphasized that these methods are in themselves not mystical, and any message, even the mundane or humorous, can be and was reached in these ways. This kind of midrashic treatment is completely neutral on possible meaning and was used in the Middle Ages and modern times (relying on sources originating from the ancient period) by every Jewish preacher and exegete, each according to his own preferences and tastes.“ (ebenda)

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hermeneutischen Tradition: der Physiognomik und ihrer Kunst des Lesens von Gesichte(r)n. Was Dan nämlich in Bezug auf die Sprachmystik als „totality of the text“ bezeichnet, ließe sich auch als sein ‚Gesicht‘ fassen – mit all den mimischen Feinheiten, Bewegungen, Obskuritäten und Mehrdeutigkeiten. Und es ist wohl kein Zufall, dass die Umstellungen der physiognomischen Hermeneutik im Rahmen des ‚Neuen Sehens‘122 entscheidende Impulse Denkern wie Simmel, Benjamin oder Kracauer verdankt, die (auch) vor dem Hintergrund der jüdischen Kultur schreiben. Denn das Gesicht spielt in der jüdischen Auseinandersetzung mit Schrift und Text eine äußerst prominenten Rolle: Schon sehr früh inszeniert die jüdische Sprachmystik die Spannung zwischen der Entrücktheit Gottes und seiner Offenbarung an den Menschen als sprachliche Unverfügbarkeit. Gott wird in seiner Undarstellbarkeit als rhetorisches Paradoxon gefasst – und genau dadurch nicht gefasst: Er ist zunächst einmal En-Sof, „ganz unerkennbar und jenseits der Repräsentation, alle Bilder von ihm sind bloße Hyperbeln. Da En-Sof keine Attribute hat, geschieht seine erste Manifestation notwendig als ajin (‚nichts‘).“123 Diese erste Manifestation als „nichts“, die bereits in sich ein Paradoxon bildet, emaniert nun aus sich heraus eine schillernde Vielfalt von Formen, Manifestationen und Attributen, die diese paradoxe Spannung – auch sprachlich – entfaltet. Die Schrift-Quellen, auf die sich die mystische Rede von der Unverfügbarkeit des En-Sof beruft, sind die kanonischen Texte der Dornbusch-Episode124 (2. Mose 3,1– 4,17) und der Vision des Ezechiel (Ez 1–3) vom himmlischen Thronwagen125, der mer122

Vgl. hierzu oben Kap. 5.1. Bloom: Kabbala, S. 20. 124 „Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, daß der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde./ Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt./ Als aber der HERR sah, daß er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich./ Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von den Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!/ Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. [...] Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt! und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?/ Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: ‚Ich werde sein‘, der hat mich zu euch gesandt.“ (2. Mose 3,2ff.) 125 „Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer, und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes Kupfer./ Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie Menschen./ [...] Und in der Mitte zwischen den Gestalten sah es aus, wie wenn feurige Kohlen brennen, und wie Fackeln, die zwischen den Gestalten hin- und herfuhren. Das Feuer leuchtete, und aus dem Feuer kamen Blitze./ Und die Gestalten liefen hin und her, daß es aussah wie Blitze./ Als ich die Gestalten sah, siehe, da stand je ein Rad auf der Erde bei den vier Gestalten, bei ihren vier Angesichtern./ [...] Aber über den Häuptern der Gestalten war es wie eine Himmelsfeste, wie ein Kristall, unheimlich anzusehen, oben über ihren Häuptern ausgebreitet,/ daß unter der Feste ihre Flügel gerade ausgestreckt waren, einer an dem andern; und mit zwei Flügeln bedeckten sie ihren Leib./ [...] Wie der 123

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kaba. Indem die Rede von En-Sof und all seinen schillernden Substituten die optische und haptische Unnahbarkeit der himmlischen Gestalt, wie sie in den beiden kanonischen Texten überliefert wird, von der sinnlichen auf die sprachliche Ebene überträgt, erscheint die metaphorische Rede von der göttlichen Figur auch als Poetologie der rhetorischen Figur bzw. ihres Ungenügens. Beide Texte werden dadurch in ihrer Kanonizität und Geltung bestätigt und zugleich erfolgreich transfiguriert – eine für die jüdische Sprachmystik charakteristische textuelle Bewegung. Doch wäre die jüdische Sprachmystik wohl weder als theologische noch als rhetorische Reflexion zu Bedeutung gelangt, wenn sie bei der ersten negativen Manifestation von En-Sof als „nichts“ stehen geblieben wäre. Sie lässt daher aus dieser ersten weitere Manifestationen hervorgehen, die dem göttlichen „nichts“ eine positive Reihe von göttlichen Attributen gegenüberstellen: Die zehn sefiroth entfalten aus En-Sof, der verborgenen Seite Gottes, seine wirkende Seite, die u. a. in Wort und Bild offenbarten Erscheinungen des göttlichen Wesens. Was genau die sefiroth sind, lässt sich – auch etymologisch – kaum sagen: Ursprünglich Bezeichnung für die zehn ‚Urzahlen‘, lassen sich die sefiroth auch als ‚Strahlen‘ oder ‚Schriften‘ deuten und werden im Mittelalter zu den höchst schillernden Gestalten, in denen sich die wirkende Gottheit in ihrer Rätselhaftigkeit manifestieren kann: Abraham Herrera zählt zu ihren Aspekten, dass sie Spiegel seiner Wahrheit und Repräsentationen seines Willens [sind]; Behältnisse seiner Kraft und Instrumente seiner Tätigkeit; [...] und zugleich auch die Bezeichnungen, Attribute und Namen jenes, der der Höchste von allem und die Ursache von allem ist; zehn unauslöschliche Namen; zehn Attribute seiner Majestät, zehn Finger seiner Hände, zehn Lichter, in denen er sich selber ausstrahlt, und zehn Gewänder, mit denen er bekleidet ist; zehn Visionen, unter denen er erscheint [...]; zehn Worte, durch die die Welt geschaffen wurde; zehn Geister, durch die sie bewegt und am Leben erhalten wird126.

Die zehn sefiroth als wirkende Seite der Gottheit sind jedoch nicht frei von der unaufhebbaren Spannung zwischen En-Sof und wirkender Gottheit: Obwohl Kether (Krone) als erste und höchste sefira der Absolutheit von En-Sof gegenübersteht, zeichnet sie sich durch das Attribut aus, ebenfalls Ajin („nichts“) und damit En-Sof zum Verwechseln ähnlich zu sein. Kether [...] ist kaum von En-Sof zu unterscheiden, außer als die erste Wirkung Seiner ersten Ursache. Aber obwohl sie Wirkung ist, ist Kether nicht ein Teil der Schöpfung, die Kether reflektieren, aber nicht absorbieren kann. Da sie keinem anderen Bild verglichen werden kann, muß sie `ajin, ein ‚nichts‘ genannt werden, ein Objekt des Fragens, das auch das Subjekt jeder Suche ist.127

Regenbogen steht in den Wolken, wenn es geregnet hat, so glänzte es ringsumher. So war die Herrlichkeit des HERRN anzusehen. Und als ich sie gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörte einen reden.“ ( Ez 1,4ff.) 126 Abraham Herrera, Scha‛ar ha-Schamajim [Die Himmelspforte], VII,4, zit. n. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 33. 127 Bloom: Kabbala, S. 24.

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Dieses Ineinander von En-Sof und sefiroth, Entrücktheit und (sprachlicher) Offenbarung, wird durch Textbewegungen ermöglicht, die die vermeintlich unversöhnlichen Gegensätze von Transzendenz und Immanenz zu einer paradoxen Harmonie verbinden und aneinander teilhaben lassen. Und an diesen Punkt kann eine Lektüre des Menschengesichts im Lichte der jüdischen Sprachmystik anknüpfen: Gleich zu Beginn des Menschengesichts motiviert ein vergleichbares mystisches Paradox die Beschreibungen des Menschengesichts und setzt so seine Textbewegungen in Gang: Gott zeigt sich im Menschen, der Mensch ist Gottes Ebenbild. Es ist unerforschlich, warum er sich zeigt. Er zeigt sich, und zugleich ist er die Unerforschlichkeit selber. Ein Mensch, der versuchte, unerforschlich zu sein, würde sich verstecken; er würde dadurch unerforschlich bleiben, daß er sich immer wieder versteckt. Aber Gott, Gott ist gerade dadurch unerforschlich, daß er sich zeigt, und je mehr er sich zeigt, desto unerforschlicher ist er. Das Menschengesicht ist das Ebenbild Gottes, und seine Unerforschlichkeit hat die Ursache in Gott.128

Die Gesichte(r) Gottes Noch deutlicher wird die Nähe des Menschengesichts zur Tradition jüdischer Sprachmystik allerdings, wenn wir uns jenen beiden Figuren zuwenden, die wie keine anderen die literarischen Spekulationen jüdischer Mystik zur Entfaltung bringen: dem Anthropomorphismus im allgemeinen und dem Gesicht im speziellen. Scholem hat darauf hingewiesen, dass in der jüdischen Tradition – und zwar nicht allein in deren spekulativen Strömungen – Wort und Körperbild als Medien der Offenbarung nicht so weit voneinander entfernt sind, wie es das oft zitierte Verbot der bildlosen Verehrung der Gottheit glauben machen will. Immer wieder nämlich wird die Frage nach dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, von Gotteswort und Menschenwort, auf die metaphorische Ebene des Anthropomorphismus übertragen. Und dadurch verdoppelt sich das Problem: Denn zum Dilemma wird dabei nicht nur die menschliche, sondern auch die vermenschlichende Rede von Gott, in der Bilder und Attribute des Menschen und seines Körpers in die Darstellung des Göttlichen eingehen. Scholem hat auf dieses Dilemma der vermenschlichenden Rede hingewiesen – und auch auf seine Unausweichlichkeit. Denn Kritik und theoretische Ablehnung des Anthropomorphismus – wie sie insbesondere von späten aufgeklärten philosophischen Strömungen des Judentums betrieben wurden – sind keineswegs gleichbedeutend mit seiner Überwindung. Die Dialektik dieses Verhältnisses [zwischen anthropomorphisierender Rede von Gott und deren Kritik, K. L.] ist unausweichlich. Sie ergreift, was nicht selten übersehen wird, nicht nur die eigentlich verkörpernden Aussagen über Gott, sie bezieht sich nicht weniger auf die Rede von einem sogenannten ‚Worte Gottes‘. [...] ‚Gott sprach‘ ist kein geringerer Anthropomorphismus als ‚Gottes Hand‘.129 128 129

Ebenda, S. 16. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 7. Hervorhebung K. L.

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Im Gegensatz zu den rationalen Schulen des Judentums zieht die jüdische Sprachmystik die Konsequenzen aus diesem Dilemma zumindest insoweit, als sie bereits in der Antike eine Tradition etabliert, in der sowohl das Wort als auch der Körper als Manifestationen Gottes auftreten – und zwar in einer sinnlich gebrochenen Gestalt, als akustisch offenbarter Name und als optische Vision der Menschengestalt. Die Gottheit hat also [...] eine mystische Gestalt, in der sie sich unter zwei Aspekten manifestiert: im Sichtbaren für den Visionär als Gestalt des Menschen auf dem Throne, die jenes höchste Urbild darstellt, in dessen Ebenbild der Mensch geschaffen wurde; im Hörbaren, mindestens dem Prinzip nach, als der Name Gottes, der sich in seine Elemente gliedert und in der Struktur des Namens die Struktur allen Seins vorwegnimmt.130

Auch hier also erscheint das sichtbare Gesicht zugleich als (Sprach-)Gesicht. Und doch versöhnt das „Ineinander des sinnlichen und des sprachlichen Anthropomorphismus“131 ihre Gebrochenheit nur scheinbar. Denn es gilt nicht zu vergessen, dass die kabod – der Begriff meint wörtlich in etwa „das Gewichtige“, und wird oft mit „Glanz der Herrlichkeit“ widergegeben, im griechischen als δόξα und im lateinischen als gloria – auch dieser vermenschlichten Gestalt Gottes das Fassungsvermögen menschlicher Sinne übersteigt; ihre volle Wahrnehmung würde letztere zerstören. Dass dies nicht nur für den Blick, sondern auch für das menschliche Gehör gilt, deutet Picard in seiner Rede vom „Zauberton“ an, in den die Wellenbewegungen der Gesichte(r) umschlagen – er ist nur als Echo vernehmbar: Picards Rede vom Ohr, das sich „ein wenig von der Seite nach vorne neigt, wie um das Echo jenes Zaubertones noch zu hören“132, zeugt von der zaghaften und zögernden Hinwendung zu den mystischen Anthropomorphismen. Und von deren Unausweichlichkeit. Die Sprach-Gesichte der jüdischen Sprachmystik und ihrer vermenschlichenden Rede von Gott wenden sich allerdings dem Gesicht nicht nur als Wort, sondern auch als Körperteil zu. In der jüdischen Schrift-Auslegung der Spätantike verbindet sich die Ezechiel-Vision vom himmlischen Thronwagen mit der Beschreibung der körperlichen Gestalt des (göttlichen) Geliebten aus dem Hohelied zur Rede vom Schi’ur Koma, in der die mystische Gestalt der Gottheit in verschiedenen Figuren ausgestaltet wird. Schi’ur Koma erscheint dabei unter zweierlei Aspekten: Entsprechend der Bedeutung von Koma, das als „Höhe“, „Wuchs“ oder als „Körper“ übersetzbar ist – weswegen Schi’ur Koma im Deutschen zumeist als „Maß der Höhe“ wiedergegeben wird –, finden sich Schilderungen, in denen die Größe des Schöpfers und seiner Glieder in ungeheuer großen Zahlen angegeben wird. Zugleich werden den Körper-Gliedern Geheimnamen in Form unverständlicher Buchstaben-Kombinationen beigegeben, wodurch in die quantitativen wie qualitativen Beschreibungen der göttlichen Gestalt die Spuren ihrer Unbeschreibbarkeit eingeschrieben werden: 130

Ebenda, S. 20f. Ebenda, S. 21. 132 Picard: Das Menschengesicht, S. 51. 131

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In Wirklichkeit versagen [...] alle Maße, und der Anthropomorphismus schlägt unvermittelt und paradox ins Spirituelle um [...]: ‚Das Aussehen des Gesichts ist wie das des Backenknochen, und beider Aussehen ist wie die Gestalt des Geistes, und die Form der Seele und keine Kreatur vermag sie [sc. die Gestalt] zu erkennen.‘133

Dieses paradoxe Phänomen des Schi’ur Koma wird in der mittelalterlichen Kabbala aufgegriffen und zu einem äußerst komplexen, ebenso verwirrenden wie assoziationsreichen ‚System‘ theologisch-literarischer Spekulationen ausgebaut: Insbesondere die einflussreichsten mittelalterlichen Quellen der sefiroth-Lehre, die Bücher des Bahir und des Sohar, verstärken die bereits früher angelegte enge Verbindung von Wortgestalt und Körpergestalt. Die sefiroth werden vor allem in drei symbolischen Formen ausgedeutet: in „der organisch wachsenden Gestalt des Baumes und des Menschen und in den Symbolen der göttlichen Namen“134. Das im 12. Jahrhundert in Südfrankreich entstandene Buch Bahir entwickelt die Vorstellung von den sefiroth zunächst in der Gestalt des Urmenschen, in der die unteren sieben sefiroth als die „sieben heiligen Formen Gottes“ gelten: zwei Hände, zwei Füße, Rumpf, Phallus und Kopf. Die drei oberen sefiroth, die geistigen Kräfte des Denkens, der Weisheit und der Einsicht, werden in den drei Kammern des Gehirns situiert. Im Sohar – der im 13. Jahrhundert entstand und nach und nach zum wichtigsten Werk der Kabbala emporstieg – ist der Mensch als vollkommenste aller Gestalten die wahre, vollendete Gestalt. Sie gewährleistet den Bestand der Welt, wogegen die ersten Welten [...] zerstört [wurden], weil diese wahre Gestalt des Menschen noch nicht ihre Vollendung erhalten hatte und das Gleichgewicht und die Harmonie, in der alles sich durch das Geheimnis dieser Gestalt erhält, noch nicht hergestellt war.135

In all diesen mystischen Ausgestaltungen der sefiroth, und zwar in ihren sprachlichen wie körperlichen Figurationen, bleiben jedoch die wirkende Gottheit und die verborgene Gottheit des En-Sof eines. Nach Moses Cordovero – neben Isaak Luria der zweite wichtige Erneuerer der Kabbala im 16. Jahrhundert – ist „in allen Stadien des Prozesses der Emanation und Schöpfung, in jeder Gestalt, die überhaupt denkbar ist, die gestaltlose Substanz von En-Sof unvermittelt, in ihrer ganzen Realität, gegenwärtig“136. Oder, um mit Scholem zu sprechen, dessen Worte die Scheu vor der anthropomorphisierenden Rede wie ihre Anziehungskraft selbst noch einmal aufblitzen lassen: [A]uch in dieser Zuwendung [der sefiroth, K. L.] zu uns, den Kreaturen hin, wohnt noch – ich hätte fast gesagt: in den Ritzen der Gestalt – das Ausdruckslose, das immer jeden Ausdruck begleitet, in ihn eintritt und sich aus ihm zurückzieht.137

133

Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 17. Das Zitat im Zitat stammt aus dem Buch Merkaba schelema, Jerusalem 1922, Bl. 37a. 134 Ebenda, S. 31. 135 Ebenda, S. 37f. 136 Ebenda, S. 34. 137 Ebenda, S. 33.

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Was Scholem in dieser Bemerkung performativ inszeniert, ist nichts anderes als die Fortführung der jüdischen Sprachmysik unter aufgeklärten Vorzeichen: Nicht nur die Spannung zwischen dem schlechthin „Ausdruckslose[n]“ und seiner „Gestalt“, auch das Zurücktreten des menschlichen Schriftwortes von den „Ritzen der Gestalt“ hinter die – nur angedeutete – wörtliche Rede („fast hätte ich gesagt“) führen die Bewegungen jenes unendlichen (Inter-)Textes fort, in denen sich die literarischen Spekulationen jüdischer Theologie entfalten. Dieses „Ausdruckslose“ ist es auch, das immer wieder hervorbricht aus den Ritzen des Picard’schen Textes – oder das vielmehr in ihnen reinszeniert wird. Die in seiner Wellentheorie zusammengefasste Poetologie – die in immer neuen Anläufen Gegensätze aufbaut und im Paradox transfiguriert – beschreibt eine Technik, die auch die mystischen Kataloge der Gottes-Attribute und ihre hermetischen Gesten auszeichnet. Das mit den göttlichen Paradoxien – En-Sof vs. sefiroth, Undarstellbarkeit, Absolutheit, Selbstbezug und Verborgenheit vs. Manifestation, Offenbarung und Wirken Gottes – betriebene mystisch-literarische Spiel der Kabbala entfaltet sich als eine schillernde und nicht stillzustellende Bewegung, die sich dem Ausdruckslosen anthropomorphisierend zuwendet, um sich im Moment höchster Annäherung abzuwenden – ohne damit jedoch dem Anthropomorphismus zu entgehen. Die unterschiedlichen Ausgestaltungen der sefiroth lassen dabei ein gewaltiges Netz von narrativen Spekulationen und anthropomorphen Figurationen entstehen. Und dabei genießt keine andere Figur eine Prominenz, die der des Gesichts vergleichbar wäre! Denn die für alle sefiroth-Lehren in ihrer Mannigfaltigkeit verbindende und verbindliche Annahme einer Einheit von verborgener und wirkender Gottheit schlägt sich nieder im Bild von der Gesichtswerdung und der facialen Zu- und Abwendung: In mehreren Motivkomplexen steht das Gesicht zum einen als Figur für die Verborgenheit des En-Sof – so etwa in der Rede von ‫י‬Anpin penima‫י‬in, dem „verborgenen Gesicht“ Gottes –, zum anderen aber auch für seine wirkende Seite. Vor allem aber sorgt das Gesicht dafür, das die jüdische Mystik nicht zur Häresie, zum Verrat am Monotheismus wird: Das Gesicht bewahrt die beiden so unvereinbaren Aspekte des En-Sof vor dem Auseinanderbrechen und damit vor dem Abweg in den Polytheismus, denn es steht zuallererst für ihre in den sefiroth zum Ausdruck kommende paradoxe Einheit: Die sefiroth sind die Potenzen, in denen sich die wirkende Gottheit konstituiert, in denen sie – in der Sprache der Kabbalisten gesprochen – ein Gesicht gewinnt. Das verborgene Gesicht Gottes, ‫י‬anpin penima‫י‬in, ist das uns zugewandte, in aller Verborgenheit dennoch eben damit in Gestalt eintretende Lebensmoment an Gott. Sein Leben äußert sich auf zehn Stufen, deren jede ihn zugleich verhüllt und offenbart.138

Die sefiroth als Manifestationen, die selber Gesichte(r) sind und dennoch das verborgene Gesicht wahren – in diese Kurzformel lässt sich das kabbalistische Gesicht fassen. 138

Ebenda, S. 32.

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Wenn es sich denn überhaupt fassen lässt – denn seine Kraft ist auch literarisch gewaltig: Nicht nur ‫י‬Anpin penima‫י‬in, auch die Motive von ‫י‬Arich ‫י‬Anpin und Se‛ir ‫י‬Anpin sowie die Fassungen verschiedener einzelner sefiroth als „Gesicht“ variieren die Figur des Gesichts. Was hat es nun mit diesen Variationen auf sich? Neben der Rede von ‫י‬Anpin penima‫י‬in, dem ‚verborgenen Gesicht‘, beschreibt die Kabbala eine weitere Gestaltwerdung Gottes, die die verborgenen und wirkenden Aspekte des En-Sof in eins fasst, als Gesicht: Der vielschichtige und polysemantische Begriff des Attika Kaddischa kann u. a. anthropomorph als „Heiliger Alter“ oder als „Heiliger Entrückter“ gedeutet werden139 und steht wie ‫י‬Anpin penima‫י‬in für die Einheit des Unvereinbaren. Diese höchste mystische Gestalt der Gottheit wird in den Idroth als die des ‚Langmütigen‘, ‫י‬Arich ‫י‬Anpin, beschrieben, welcher Terminus später auch im Sinne von ‚das große Gesicht‘ verstanden wurde. Er heißt auch ‚das weiße Haupt‘, Rescha chiwara. Sein Schädel und die Gehirnkammern darin, die Stirn und die Augen, die Nase und der Bart dieses Gesichts werden ausführlich beschrieben und damit Theologumena über die mystische Theologie verbunden. [...] Der Körper, der zum weißen Haupt gehört, wird indirekt vorausgesetzt, aber nicht beschrieben.140

Demgegenüber umfasst Se‛ir ‫י‬Anpin (der „Kurzmütige“ oder „Ungeduldige“) die bereits weiter dem Menschen zugewandten Momente – auch wenn natürlich die göttliche „Langmut“ und „Gnade“ von ‫י‬Arich ‫י‬Anpin die höchsten Attribute seiner Hinwendung zum Menschen darstellen: Se‛ir ‫י‬Anpin wird dementsprechend als das ‚kleine Gesicht‘ bezeichnet; zu ihm zählt neben den Eigenschaften der Strenge und Gerechtigkeit auch die dem Menschen offenbarte Form des Gottes-Namens, das Tetragramm ‫יהוה‬. Die problematische Gestalt des ‫י‬Arich ‫י‬Anpin, der ersten Sefira, wird zu eindeutigerer Gestalt, wo sie sich im Fortschritt der göttlichen Manifestation als Se‛ir ‫י‬Anpin darstellt. Dies heißt wörtlich: Gott als der ‚Kurzmütige‘, das heißt: der, in dem auch schon die Gewalten der Strenge und des Rechts neben die des reinen Erbarmens, des unendlich Spendenden treten. Diese Konfiguration von Sefiroth ist die eigentliche Gestalt Gottes und umfaßt alle die Momente an ihm, die in die aktive Wirkung eintreten.141

‫י‬Arich ‫י‬Anpin, das ‚Große Gesicht‘, fasst auch die drei oberen sefiroth (die gegenüber den anderen sefiroth ausgezeichneten, weil rein geistigen sefiroth Kether, Bina und Chochma) zusammen, während Se‛ir ‫י‬Anpin die sieben niederen sefiroth versammelt, 139

Nach Scholem handelt es sich um einen „Begriff, in dem sich das anschauliche Bild des Uralten und die Vorstellung des ganz Entrückten, Transzendenten, vereinigen. Denn ‛Attik heißt sowohl alt wie entrückt. Der Begriff des ‚Heiligen Alten‘, ‛Attika Kaddischa, schillert durchaus nicht zufällig in diesen beiden Bedeutungen und weist auf den Gott hin, der aus der Transzendenz in die Gestalt eintritt. [...] En-Sof, das in der höchsten Sefira erscheint oder, besser gesagt, sich verbirgt, ist in dieser Verbindung der Heilige Alte, das höchste Symbol, von dem hier die Rede ist, und in dem scheinbar sinnlichen Symbol verbirgt sich die Dialektik dieses Übergangs vom Gestaltlosen zur Gestalt“ (ebenda, S. 38f.). 140 Ebenda, S. 42. 141 Ebenda, S. 43.

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die in einem wesentlich direkteren Zusammenhang mit der Schöpfung stehen als die entrückten sefiroth des ‫י‬Arich ‫י‬Anpin. Harold Bloom hat darauf hingewiesen, dass diese sieben niederen sefiroth insbesondere mit dem Aspekt der Versprachlichung in Verbindung stehen: Im Gegensatz zu denen der oberen drei werden nämlich ihre „Konstruktionsprinzipien durch Analogie empfangen, und sind so beinahe identisch mit den Prinzipien der figurativen und poetischen Sprache.“142 In einer erneuten Wendung wird die von der Gesichts-Figur ausgehende Bewegung von Zu- und Abwendung nochmals auf eine weitere Ebene übertragen: Innerhalb der unteren, weltzugewandten Sphäre des Se‛ir ‫י‬Anpin, des kleinen Gesichts, werden einzelne sefiroth wiederum als ‚Gesichter‘ bezeichnet: etwa die fünfte sefira, Din (Strenge), als ‚hartes Gesicht‘, oder die sechste sefira, Tifereth (Gnade, Schönheit). Letztere steht gelegentlich sogar allein für das gesamte ‚kleine Gesicht‘, Gottes immanente Attribute. Die Ausdifferenzierung des ‫י‬Anpin penima‫י‬in in die Entgegensetzung von ‫י‬Arich ‫י‬Anpin und Se‛ir ‫י‬Anpin verläuft also mehrfach über die Figur des Gesichts. Diese schillernden literarischen Ausgestaltungen können ein aufgeklärtes Bedürfnis nach logischer Konsistenz und Komplexitätsreduktion gelegentlich arg strapazieren: Wenn etwa in den Idroth, einer der zentralen Stellen des Sohar, der ‚Heilige Alte‘ als ‚Haupt‘ beschrieben wird, dann schwebt dieses als ‚Großes Gesicht‘ über den unteren Manifestationen Gottes in den übrigen Gliedern des Körpers – die wohlgemerkt ja immer zugleich offenbar und verborgen sind. Das ‚Große Gesicht‘ transformiert hier die im ‫י‬Anpin penima‫י‬in zusammengefasste Spannung von Offenbaren und Verhüllen nochmals um eine Stufe und steht damit für den absoluten und verborgenen Pol des göttlichen En-Sof. In einer Volte, wie sie nur ein mystisches Denken zu produzieren vermag, ist dieses ‚Große Gesicht‘ dann zugleich aber auch Einheit und Inbegriff des All: Der Inbegriff aller dieser Dinge ist: der Alte der Alten und Se‛ir ‫י‬Anpin sind alles eins; alles war, alles ist, alles wird in ihm sein. Es findet an ihm keine Veränderung statt, hat nie stattgefunden und wird nie stattfinden. Er hat in diesen Formen Gestalt angenommen und so ist die Gestalt vollendet, die alle Gestalten in sich begreift, die Gestalt, die alle Namen in sich begreift, die Gestalt, in der alle anderen Gestalten erscheinen.143

An diesem Punkt verlassen wir nun die unendlichen Sprachspiele der mystischen Tradition, um uns Picards (Sprach-)Gesichte(r)n zuzuwenden. Insbesondere die Parallelen zu den Traditionen des ‫י‬Anpin penima‫י‬in, von ‫י‬Arich ‫י‬Anpin und Se‛ir ‫י‬Anpin sowie der verschiedenen sefiroth-Gesichter weisen nämlich den Weg zu einer Lektüre des Menschengesichts und seines harmonischen Ausgleichs von Paradoxien im Lichte der jüdischen Sprachmystik. Das Menschengesicht und seine anthropomorphisierende Rede über die Gottesebenbildlichkeit des Gesichts greift nicht nur die Inhalte der kabbalistischen Gesichte(r) auf, 142 143

Bloom: Kabbala, S. 25f. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 44.

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sie inszeniert zugleich auch jene Scheu vor dem Anthropomorphismus und seine gleichzeitige Anziehungskraft, die die jüdische Sprachmystik bis hinein in Scholems Darstellung durchzieht. Insbesondere die jeder Form der Hinwendung schon innewohnende Abwendung, wie sie aus der im Anthropomorphisieren sich einstellenden zu großen (und gefährlichen) Nähe zum göttlichen Antlitz resultiert, begegnet gleich am Anfang, in den Das Menschengesicht einleitenden Zeilen von der Begegnung zweier Menschengesichter: Ein Menschengesicht schaut ein anderes an, – es spürt, daß zugleich mit ihm die Ewigkeit das andere Menschengesicht anschaut, und sobald es das spürt, schließt es die Augen; es will nicht zugleich mit der Ewigkeit schauen. Doch kaum hat es die Augen geschlossen, so fühlt es, daß es nun selber von der Ewigkeit angeschaut wird, es ist ihm, die Lider würden durchsichtig, da die Ewigkeit darauf schaut. Es öffnet die Lider und schaut wieder auf das Menschengesicht gegenüber, und jetzt, jetzt scheint es ihm, die Ewigkeit sei mit ihrem Blick dort weggegangen, damit das Menschenauge sich getrauen kann zu schauen. Demütiger als zuvor schaut es nun hinüber zum Gesicht, von dem um seinetwillen Gottes Blick ist weggegangen.144

Den unendlichen Wechsel von ajin und sefiroth, vom Verbergen des En-Sof und seinen Manifestationen, den die kabbalistischen Schriften als Abfolge entfalten, fasst Picard in die Metapher des Rhythmus: Und so, in diesem Rhythmus, in dem bald das Menschengesicht sich versteckt vor der Ewigkeit, bald die Ewigkeit sich versteckt vor dem Menschengesicht, in diesem Rhythmus schaut Menschengesicht und Menschengesicht sich an.145

Und gleichen nicht die dynamischen Textbewegungen, durch die im mystischen Text En-Sof und die sefiroth einander enthalten und ineinander übergehen, jener Welle, die Picards implizite Poetologie des Wortes beschreibt – jener nicht zum Stillstand kommenden Bewegung des „Hin und Her“, durch die ein Wort in ein anderes „hinübergelegt, nein, hinübergewiegt“146 wird? Die wunderbare „Verwandlung“ der flächigen Wellenbewegungen in die ‚transzendente Dimension‘ der „Profillinie“ steht für ein Sprachdenken, das Scholem zu den fundamentalen Charakteristiken der Kabbala zählt: Als implizite Poetologie vollzieht der Umschlag von der flächigen Bewegung in eine mit dem Transzendenten verbundene Linie jene Wendung der Sprache ins Symbolische, die den Gegensatz zu einem allegorischen Verständnis der Sprache ausmacht. Letzteres zeichnet die philosophischen Strömungen der jüdischen Religion aus: In der Allegorie kann in einem unendlichen Netz von Bedeutungen und Korrelationen alles als Zeichen für alles dienen, wobei aber doch alles innerhalb der Welt des Ausdrucks und der Sprache bleibt. [...] Das, was in dem Zeichen, das zur Allegorie wird, aufleuchtet, stammt doch aus seiner eigenen Welt.147 144

Picard: Das Menschengesicht, S. 14f. Ebenda. 146 Ebenda, S. 50. 147 Scholem: Die jüdische Mystik, S. 28f. 145

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Dagegen setzte die Kabbala das Symbol, das sich weit über die Welt der allegorischen Bedeutungen erhebt [...]. Im mystischen Symbol wird eine Wirklichkeit, die in sich selbst, vom Menschen her gesehen, keinen Ausdruck hat, unmittelbar in einer anderen Wirklichkeit transparent. [...] Steht also in der Allegorie ein Ausdrückbares für ein anderes Ausdrückbares, so steht im mystischen Symbol ein Ausdrückbares für etwas, was der Welt des Ausdrucks und der Mitteilung entrückt ist [...]: es steht für etwas, was aus einer Schicht kommt und ihr zugehört, die ihr Gesicht, uns abgewandt, nach innen kehrt. Ein verborgenes Leben, das keinen Ausdruck hat, findet ihn im Symbol. Das Symbol ist solcherart zwar auch Zeichen, aber nicht Zeichen allein.148

In all seiner Gottesebenbildlichkeit verweist Picards „Menschengesicht“ immer auf das, was kein Ebenbild fassen kann – auf das, was als ‚Großes Gesicht‘ über allen kleineren Gesichte(r)n schwebt und was sich dennoch als ebenjenes ‚Großes Gesicht‘ in einem Akt unfassbarer Gnade und Zuwendung bereits unendlich herabgelassen hat: Es ist, als wäre in der Tiefe der Fülle ein großes gemeinsames Gesicht, das allen gemeinsam gehört. Von diesem gemeinsamen Gesicht kommen die einzelnen Gesichter her, und zu ihm gehen sie wieder zurück. Es ist, als steige das einzelne Gesicht jeden Morgen herauf aus dem gemeinsamen Gesicht in der Tiefe und als kehre es jeden Abend wieder zu ihm zurück. Dorthin, in die Tiefe des gemeinsamen Gesichts kehrt auch das einzelne Gesicht zurück im Tode.149

Picard rezipiert jedoch die Tradition nicht nur in der kabbalistischen Rede vom ‚Großen Gesicht‘. Das Menschengesicht (ver-)birgt auch die abgestuften und ‚abgemilderten‘ Konfigurationen, wie sie in den kabbalistischen Transformationen des Gesichts von ‫י‬Anpin penima‫י‬in über ‫י‬Arich ‫י‬Anpin und Se‛ir ’Anpin bis zu den einzelnen Gesichtern der niederen sefiroth, etwa Din, dem ‚harten Gesicht‘, oder Tifereth, der Gnade und Schönheit, stattfinden: Gott zeigt nicht sein urtümliches Wesen im Körper des Menschen, er mildert es in ein Bild [...]: das milde Bild Gottes ist im Menschen.150

Picard greift dabei insbesondere einen Aspekt der sefiroth-Lehre auf, der für die Gesamtheit der sefiroth gilt, aber vornehmlich in den Beschreibungen des Se‛ir ‫י‬Anpin und der als Gesichter bezeichneten niederen sefiroth entwickelt wird: Die einzelnen größeren und kleineren Teile der sefiroth, ja jede einzelne Sefora, ist mit allen anderen durch gegenseitige Relationen verbunden. Die verschiedenen sefiroth stehen untereinander im Austausch und haben aneinander teil – „die sefiroth [sind] weder Dinge noch Taten […], sondern eher relationale Ereignisse“151. Die Auftrennung in unterschiedliche Attribute wird dabei immer zugleich in einer höheren Einheit ‚versöhnt‘. Dieses relationale Prinzip manifestiert sich besonders deutlich in der sechsten sefira – Tifereth –, die ja oft auch für die Gesamtheit des der Schöpfung zugewandten ‚kleinen Gesichts‘ stehen kann. 148

Ebenda, S. 29. Picard: Das Menschengesicht, S. 51. Hervorhebung K. L. 150 Ebenda, S. 16. 151 Bloom: Kabbala, S. 23f. 149

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Tifereth ist das Prinzip der Vermittlung, das das ‚Oben‘ und das ‚Unten‘ am Baum versöhnt, und ebenso die rechte und die linke Seite, das Männliche und das Weibliche zusammenhält.152

Dieses kabbalistische Prinzip der Vermittlung und des harmonischen Ausgleichs geht auch in Picards Darstellung des Gesichts ein, in dem eine Wellenbewegung zwischen den verschiedenen Gesichtsflächen vermittelt: Dieses Hin und Her, dieses Geben und Nehmen ist überall im Gesicht. Es ist auch zwischen Mund und Auge, – die Wangenfläche vermittelt es. Das Auge weiß immer, was der Mund spricht, und es sucht das, was der Mund gesprochen hatte, zu wiederholen in der Art des Auges: es schaut tiefer, je tiefer der Mund sprach. Das Wort gräbt den See des Auges tiefer, und so erfährt der Mund die schöne Bestätigung durch das Auge.153

Die Wellentheorie entwirft das Gesicht als Ort des Austauschs und gegenseitiger Teilhabe: Die Wellen der Wangen und die Welle des Mundes strömen also einander entgegen. Doch sie stoßen einander nicht, sie begegnen sich freundlich, sie geben und sie nehmen voneinander. Ein Austausch ist dort, wo sie sich treffen. Das Menschengesicht ist charakterisiert durch dieses Geben und Nehmen, durch diesen Austausch überall.154

Picards Hinweis auf eine Verbindung im Gesicht, die nicht nur Vermittlung ist, sondern in der „[j]eder Teil des Gesichts [...] den anderen Teilen von seiner Bewegung“ gibt, greift zugleich ein anderes Motiv der kabbalistischen Überlieferung auf – die Lehre von den behinoth oder zinnoroth, die die Kabbala bereits im 13. Jahrhundert entwirft und derzufolge die sefiroth sich gegenseitig in sich spiegeln, so daß jede alle anderen ‚enthält‘. Komplexe Bahnmotive von sefiroth innerhalb sefiroth wurden eröffnet, und die Meditation über diese Bahnen wurde zur charakteristischen kabbalistischen Übung.155

Erst vor dem Hintergrund dieser rhetorischen Verbundenheit der einzelnen Aspekte der sefiroth wird verständlich, was das kabbalistische Modell von Ordnung und Harmonie ausmacht: Ordnung ist immer eine bewegte, lebendige Ordnung, in der sich das überbordende En-Sof Ausdruck verschafft, ohne sich zu erschöpfen. Und Harmonie bedeutet für den Kabbalisten Berührung, Verflechtung und gegenseitige Teilhabe der einzelnen sefiroth-Glieder, seien sie als Namen, Baum oder Gesicht vorgestellt. Die Sefiroth sind [...] nicht einfach eine Abfolge von zehn aufeinanderfolgenden, auseinander hervorgehenden Emanationen oder Äonen, sondern sie stellen im präzisen Sinne eine wohlstrukturierte Gestalt dar, in der auch nicht nur das Obere auf das Untere, sondern jeder Teil oder jedes Glied auf jedes andere wirkt. Geheime ‚Kanäle‘, Zinnoroth, verbinden die Sefiroth untereinander und weisen so darauf hin, wie die eine in die andere strahlt und zurückstrahlt. Die spe152

Ebenda, S. 26. Picard: Das Menschengesicht, S. 42. 154 Ebenda, S. 40. 155 Bloom: Kabbala, S. 31. Moses Cordovero konstruiert daraus dann im 16. Jahrhundert ein ganzes System, das die Beziehungen zwischen unterschiedlichen sefiroth durch ein zeitliches Modell der behinoth, der phasenweisen Entstehung auseinander, zu fassen versucht. 153

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zifische Natur jeder Potenz ist in sich wohlbegründet, aber jede hat zugleich auch im Sinne des eben Gesagten etwas von allen andern [...], denn das Ganze reflektiert sich in jedem Glied und wird eigentlich erst [...] in dieser unendlichen Reflexion zum Ganzen.156

Genau diese Vorstellung gegenseitiger Verbindung und Enthaltung greift Picards Menschengesicht auf, durch sie finden die Bewegungen der Glieder Eingang in eine „Reflexion zum Ganzen“. Das charakterisiert eben die göttliche Schöpfung; daß sie auseinandergelegt ist im Raum und zugleich wieder verbunden in ihm, und das charakterisiert auch das menschliche Gesicht: seine Teile sind auseinandergelegt, um sich sichtbar zu machen, aber sie hängen doch miteinander zusammen. Nirgends als im Menschengesicht ist es gelungen, an einem so kleinen Raum so vieles und so Verschiedenes deutlich zu zeigen: Auge, Nase, Mund, jedes einzelne ist so deutlich, als sei das Gesicht nur um dieses Einzelnen willen da, – und doch ist alles miteinander verbunden. So steht zum Beispiel das Auge über dem Mund: getrennt von ihm, aber verbunden durch ein Lächeln.157

Nur in der auf den Einen verweisenden Einheit und Ganzheit, in der „alles miteinander verbunden“ ist, kann das Teil, das Einzelne zu sich selbst, zu seiner Funktion kommen. Scholem spricht von dieser kabbalistischen Figuration, in der die Einheit des Mannigfaltigen sich ausdrückt, als „Bild der organischen Gestalt, in der alles an seinem rechten Orte steht und von dort erst im Verband des Ganzen die ihm gemäße Wirkung ausübt“158; und ebendiese kabbalistischen Behinoth prägen auch Picards Beschreibung jener Figur, die als das Bild der organischen Ganzheit gelten darf – des „Menschengesichts“: Weil alles miteinander verbunden ist, getraut sich das Einzelne ganz und gar, es selbst zu sein, das Auge ganz und gar Auge, der Mund ganz und gar Mund [...] – jeder Teil ist sicher, daß er an seine rechte Stelle geschickt worden sei, und daß eben an dieser Stelle das Auge nichts anderes tun solle als nur dies: recht ein Auge sein und der Mund: ein rechter Mund.159

Schevirath-ha-Kelim und das „Menschengesicht heute“ Finden sich kabbalistische Modelle einer bewegten Harmonie und einer mystischen Gestalt des Gesichts, wie sie insbesondere in der mittelalterlichen Kabbala und ihren beiden Hauptwerken, dem Bahir und dem Sohar, literarisch entfaltet werden, in Picards Beschreibungen des „Menschengesichts“ und in seiner Wellentheorie, so lassen sich ähnliche Parallelen ziehen zwischen seiner Darstellung des „Menschengesichts heute“ und einem späten Höhepunkt jüdischer Sprachmystik. Ein tiefer Riss, wie ihn Picards Blick auf seine historische Gegenwart und das „Menschengesicht heute“ konstatiert, 156

Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 36. Picard: Das Menschengesicht, S. 37. 158 Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 34. 159 Picard: Das Menschengesicht, S. 44. 157

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steht nämlich im Zentrum jener geschichtlichen Transformation der Kabbala in der Frühen Neuzeit, die ebenfalls als Reaktionsbildung auf einen großen Bruch gelesen werden kann: Die Rede ist von der lurianischen Kabbala. Sie hat ihre historischen Wurzeln im Umkreis und im Wirken vor allem von Isaak Luria (1534–1572). Ihr Ort ist nicht mehr, wie dies für die klassische Kabbala galt, Nordspanien oder Südfrankreich, sondern Safed in Palästina. Denn dieser zweite Höhepunkt kabbalistischer Weltdeutung ist eine Reaktion oder, um es psychoanalytisch auszudrücken – wie Harold Bloom, für den die lurianische Kabbala Ausgangspunkt seiner linguistisch-psychoanalytischen Verbindung zwischen Kabbala und Literaturwissenschaft ist – eine Reaktionsbildung auf die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492. Und dieser historische Kontext ist entscheidend für ihr Verständnis ebenso wie für die große Wirkung, die sie in folgenden Jahrhunderten gewann. Die Herausforderung, der sich die lurianische Kabbala im 16. Jahrhundert zu stellen hatte, war die Transformation der sefiroth-Lehre zu einer Kosmologie, die stärker als die mittelalterliche Kabbala imstande war, das Leiden an der Katastrophe des Exils zu deuten. Die Aufgabe, als die sich die Kabbala schon immer verstanden hatte – zugleich Empfang, Bewahrung und Transformation einer Tradition zu sein –, war für die ExilKabbalisten eine besonders dringliche: Wie macht man einen frischen, lebendig neuen religiösen Impuls in einer bedrängten und sogar katastrophischen Zeit der Unruhe passend, wenn man eine religiöse Tradition erbt, die bereits so reich und kohärent ist, daß sie neuen Offenbarungen oder Spekulationen nur sehr wenig Raum läßt?160

Die lurianische Kabbala löste dieses Problem, indem sie „nicht nur ein massives und abgeschlossenes Schriftwerk, sondern ein noch massiveres und intellektuell abgeschlossenes System aus jeder Art Kommentar und Interpretation“161 so rezipierte und interpretierte, dass sie ‚Kabbala‘ (wörtlich: ‚Empfang‘) blieb, zugleich aber von der Tradition durch ein hochkomplexes spekulatives und literarisches Gefüge abwich – durch eine Psychologie der Verspätetheit und mit ihr eine explizite rhetorische Reihe von Verfahren, um die Schrift und auch die empfangenen Kommentare ihren eigenen historischen Leiden und ihren eigenen neuen theosophischen Einsichten zugänglich zu machen. [...] Der Sohar ist scheinbar als Kommentar zur Schrift angelegt, wie die spätere Kabbala zu einem Großteil als scheinbarer Kommentar zum Sohar angelegt ist. Dem Genius des Revisionismus verdankt sich aber eine Abweichung, die so weit weg von den kanonischen Texten führte, daß sie manchmal die Stimmen der Väter sogar in ihr Gegenteil verkehrt162.

Das zentrale Moment dieser „Abweichung“ ist die lurianische Lehre vom Schevirath haKelim, dem ‚Bruch der Gefäße‘. Sie übernimmt die Lehre von den sefiroth, ihren weitreichenden Relationen und Emanationen, fügt jedoch in deren Kosmologie einen Bruch ein, der die gefallene, auf Erlösung hoffende Schöpfung ins Zentrum der Spekulationen rü160

Bloom: Kabbala, S. 29. Ebenda. 162 Ebenda, S. 30. Hervorhebung im Original. 161

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cken lässt. Entfaltet wird die Darstellung dieser gefallenen, ja gebrochenen Welt in der Lehre vom ‚Zimzum‘ (dem vollständigen Rückzug Gottes in sich selbst), vom ‚Schevirath-ha-Kelim‘ (dem Bruch der Gefäße) und vom ‚Tikkun‘ (dem Sammeln der Gefäße). Die Heilsgeschichte wird durch diese drei theologisch sehr gewagten Motive markiert, ohne dass dabei jedoch die irdische Zeit zu einer rein linearen wird; die lurianische Kosmogonie und Kosmologie durchzieht ein dreifacher Rhythmus von Kontraktion, Auseinanderbrechen und Wiederherstellen, ein Rhythmus, der in der Zeit immer gegenwärtig ist, auch dort, wo sie zum erstenmal die Ewigkeit durchstößt.163

In der Lehre vom Zimzum – das eigentlich ein Anhalten des Atems meint – deutet die lurianische Kabbala in einer schwer nachzuvollziehenden, weil sehr spekulativen und assoziativen mystischen Narration den Prozeß der Schöpfung als eine SelbstBegrenzung und einen Rückzug Gottes in sich selbst. Durch diesen Rückzug entsteht die Schöpfung als ein freier Raum, in dem jedoch ein Überrest des göttlichen Lichtes (reschimu) zurückbleibt. Dieser Rest mischt sich mit anderen Attributen des En-Sof, etwa mit Adam Kadmon (dem auf höchst komplizierte Weise aus dem reschimu hervorgehenden ‚Urmenschen‘), dem ersten Buchstaben des Gottesnamens (der zugleich das wirkende Prinzip der Schöpfung und eine andere Art Licht symbolisiert) sowie mit den Schalen oder Gefäßen (Kelim), die die Spannungen oder Kräfte, die von den Lichtern ausgehen, fassen sollen. Das oberste dieser Gefäße ist Adam Kadmon, aus dessen Haupt wiederum weitere Gefäße oder sefiroth entstehen, von denen jedoch nur die drei obersten – die ja zugleich das Große Gesicht der Tradition, ‫י‬Arich ‫י‬Anpin, bilden – die Kraft der Lichter auszuhalten vermögen. Die sechs folgenden sefiroth – im Sohar zum Se‛ir ‫י‬Anpin zusammengefasst – zerbrechen und werden zerstreut. Das dadurch entstehende Schevirath-ha-Kelim (der Bruch der Gefäße) wird, weniger von Luria als von seinen Schülern, als eine Katastrophe der Welt gedeutet, die sich auch als eine Katastrophe der Sprache verstehen lässt. Denn aufgrund der alten kabbalistischen Analogien zwischen den sefiroth als Hülle, Gefäße, Gesichter und Schriften „könnte man dies [interpretieren] als eine Kraft des Schreibens, die zu stark war, stärker als es die ‚Texte‘ der unteren sefiroth aushalten konnten.“164 Vor diesem Hintergrund nun lassen sich auch Picards zerbrochene Gesichter als sefiroth lesen, die die gefallene Schöpfung nach dem Schevirath-ha-Kelim aus sich hervorgehen lässt. Denn „[n]icht nur das Wesen Gottes offenbart sich in seinem Ebenbild, im Menschen, – auch die Schöpfung Gottes ist im Menschengesicht darin“165. So treten die Veränderungen, die das „Menschengesicht heute“ kennzeichnen, vor allem in Form eines universalen Risses, Zerbrechens und Auseinanderfallens zutage. 163

Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 37. 165 Picard: Das Menschengesicht, S. 150. 164

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Die Flächen sind zerrissen, zerstückt. Sie sind nicht mehr das Gerüst, auf dem sich das Gesicht aufbaut. Das Gesicht ist nicht mehr körperhaft auf dem Gerüst der Flächen in den Schädel hineingebaut, es ist dem Schädel nur aufgesetzt, vorn, als eine Fläche, und selbst diese eine Fläche ist zersprungen und zerstückt.166

Was im „Menschengesicht heute“ sichtbar wird, ist eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes, wie sie das Schevirath-ha-Kelim erzählt. Die Struktur des Raumes, in den Picard den Menschen „heute“ gestellt sieht, weist Ähnlichkeiten mit dem durch das Zimzum geschaffenen freien Raum auf: Gemäß der lurianischen Lehre lässt sich der Raum der Schöpfung nämlich begreifen als eine Funktion der Zeit. In Gott selbst existiert kein Raum, dieser entsteht als irdische Dimension erst durch den temporären Rückzug Gottes in sich selbst. Auch bei Picard aber ist der Raum des Menschen eine Funktion der Zeit: „Der Mensch ist in den Raum gestellt, ja – aber der Sinn dieser Stellung wird erst durch die Zeit erkannt. Der Mensch entfaltet sich im Raum durch die Zeit“167. Am deutlichsten aber sind die Anklänge des Menschengesichts an die Lehre vom Tikkun, die als drittes, vielleicht entscheidendes Element168 die Kosmologie der lurianischen Kabbala komplettiert. Die Schöpfung ist zwar durch das Schevirath-ha-Kelim zur gefallenen Schöpfung geworden, aber sie ist nicht ohne Hoffnung auf Erlösung und nicht ohne rettende Elemente gefallen. Jedenfalls ist dieser Bruch der Gefäße, den die lurianischen Schriften sehr eingehend beschreiben, der entscheidende Vorgang im Weltgeschehen. Es [sic!] führte dazu, daß alle Dinge in gewisser Weise diesen Bruch in sich tragen, daß allem Existierenden, solange dieser Bruch nicht geheilt ist, ein gewisser inhaltlicher Mangel anhaftet, da ja bei dem Bruch der Gefäße das Licht sich nach allen Seiten verbreitete, teils in seinen Ursprung zurückflutete, teils aber auch nach unten stürzte. [...] Die Restitution des idealen Zustandes, auf den die Schöpfung ursprünglich zielte, ist nun das geheime Ziel allen Geschehens. Erlösung heißt nichts anderes als Wiederherstellung des ursprünglichen Ganzen, als Tikkun.169

So erzählt die lurianische Kabbala, dass ein Teil des Lichtes mit den Bruchstücken der Gefäße auf die Erde fällt und zu den kelipoth, den bösen Kräften, wird. Doch stecken in der dadurch entstehenden Opposition von Gut und Böse zugleich auch Zeichen der Hoffnung, rettende Lichtfunken; die zerbrochenen Gefäße tragen nämlich auch einen ‚Rettungsplan‘ in sich, der eine Rekonstruktion der zerstörten Ganzheit durch die ‚Sammlung‘ der Bruchstücke ermöglicht. Die Theorie des Tikkun läuft darauf hinaus, daß [...] nach dem Bruch der Gefäße aus dem Urstrahl des En-Sof, der in die Welten brach, ein neuer Lichtstrom aus der Stirn des Adam Kadmon

166

Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 145. 168 Entscheidend ist das Tikkun zumindest in praktischer und politischer Hinsicht, denn die lurianische Kabbala war vor allem als eschatologische Frömmigkeits-Bewegung erfolgreich. 169 Scholem: Die jüdische Mystik, S. 294. 167

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quoll, der die ungeordneten Elemente von neuem zusammenfaßte. Die Lichter der Sefiroth, die aus ihm strömen, werden nun in neuen Konfigurationen organisiert170.

An dieser Stelle kommt nun wieder einmal das Gesicht ins Spiel: Denn die aus dem Zerbrechen der sefiroth bzw. der Schalen erneut hervorgehenden Manifestationen Gottes bezeichnet Luria als parzuf, „Angesicht der Gottheit“. Und diese parzufim stellen unter all den spekulativen Ausmalungen und Anthropomorphismen der jüdischen Mystik die wohl radikalste und persönlichste Gestaltwerdung Gottes dar: Lurias Lehre vom Tikkun hat zur Konsequenz, daß alle Potenzen, die in einer Sefira verborgen waren, nunmehr von einem gestaltenden Prinzip erfaßt und verwandelt werden und in jeder uns Gottes Persönlichkeit in einer bestimmten Ausprägung, aber in jeder doch ganz, entgegentritt. Der lebendige Gott der Religion, den die Kabbalisten sich unmittelbar vor Augen stellen wollten, ist viel mehr als das verborgene En-Sof; er ist jener Gott, der im Prozeß des Tikkun sich selbst zur vollendeten Person gestaltet. [...] Luria versucht darzustellen, wie im Prozeß des Tikkun, der Restitution der im Bruch verschütteten göttlichen Lichter an ihrem legitimen Ort, die verschiedenen Aspekte, unter denen die Gottheit erscheint, als ganz persönlich gedachte Parzufim auseinander hervorgehen.171

Zugleich treten diese parzufim an die Stelle der traditionellen behinoth, der allumfassenden Relationen der sefiroth. „Als Muster oder Bilder organisieren die parsufim die zerstreute Welt, nachdem die Gefäße auseinandergebrochen sind, und als Organisationsprinzipien substituieren sie die sefiroth oder nehmen ihre Stelle ein.“172 Erst vor dieser späten und auf die gesamte sprachmystische Tradition aufbauenden lurianischen Lehre tritt nun auch das kabbalistische Erbe in Picards Das Menschengesicht in voller Klarheit zutage, das sich in den übrigen Figuren lediglich andeutete. Die lurianische Lehre vom Tikkun und den parzufim nämlich vermag ein Licht zu werfen auf das immer wieder verwirrende und unverständliche Verhältnis zwischen dem zerstückelten und gefallenen „Menschengesicht heute“ und der Universalität und Ebenbildlichkeit des ewigen „Menschengesichts“ und die darin eingelassenene Hoffnung. Wie die zerbrochenen Scherben der Gefäße, die parzufim-Gesichter, noch die Funken des Göttlichen und damit des Einenden in sich tragen, so gilt auch für die Menschengesichter: Die Gesichter heute sind sehr zerrissen, aber so zerrissen vermag kein Gesicht zu sein, daß die Einheit des Gesichtes zerstört wird. Die Einheit, – das ist Gottes Zeichen im Gesicht, und Gottes Zeichen ist immer noch stärker als alle andere menschliche Zerrissenheit.173

Ganz im Sinne der lurianischen Kabbala wird also das Gesicht-Werden als Riss beschrieben, der sich in dem immanenten Raum des Menschen wie in der transzendenten Zeit des Ewigen manifestiert – und zwar geschehen diese Manifestationen, wiederum ganz im Sinne der jüdischen Tradition, nicht allein als optische, sondern als akustische: 170

Ebenda, S. 295. Ebenda, S. 295f. 172 Bloom: Kabbala, S. 38. 173 Picard: Das Menschengesicht, S. 60f. 171

„Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“

393

Bei einem Gesicht, das Gegenwärtigkeit hat, spüren wir an seiner unmittelbaren Art, daß es plötzlich abgetrennt worden ist, daß es losgerissen wurde irgendwo, und manchmal vermögen wir auch noch den Ton zu hören, mit dem es losgerissen wurde irgendwo. [...] Der Ton aber, mit dem eine Menschenseele von der Ewigkeit losgerissen wurde, damit sie in die Gegenwärtigkeit gelange, dieser Ton hallt in der Menschenseele nach, und ich glaube, daß er auch in der Ewigkeit selbst nachhallt.174

Als Modell für eine messianische Hoffnung in einer als katastrophisch erlebten Zeit überführt die Tikkun-Lehre eine Katastrophe, den Bruch der Gefäße, in eine Aufgabe, das Tikkun, und sieht in den Bruch-Stücken der kosmischen Katastrophe, den kelipoth und parzufim, noch die Zeichen der Rettung. In ähnlicher Weise überführt auch Picards Menschengesicht die Schilderung einer kosmischen Katastrophe, wie sie Der letzte Mensch beschreibt und auch einige Passagen des „Menschengesichts heute“ widerspiegeln, in eine Vision der Hoffnung. Wie die zerbrochenen Gefäße tragen auch die fragmentierten „Menschengesichter heute“, ja noch „das letzte Menschengesicht“ Funken der Hoffnung in sich, das Signum des Ewigen, der alle Zeit in sich birgt und aus sich heraussetzen kann: [D]as letzte Menschengesicht ist immer noch ein Zeichen für etwas, das ist und immer sein wird. Das letzte Menschengesicht mit dem Ebenbild Gottes ist da wie am ersten Tag und wie das erste einer neuen Reihe.175

Deutlich sind hier die Anspielungen auf den Einen, dessen unaussprechlichen Namen das Judentum in Anlehnung an die Ezechiel-Version vom himmlischen Thronwagen als „ich bin der ich bin/sein werde“176 (Ex 3,14) und damit als die Aufhebung des Unterschiedes von Gegenwart und Zukunft deutet. Es gilt allerdings zu bedenken, dass nach lurianischem Verständnis der (Heils-)Geschichte das Tikkun Aufgabe des Menschen ist, der damit gewissermaßen für seine Erlösung selbst zuständig wird: Gott hat sich ja zurückgezogen ins Zimzum. Diese Aufgabe, die Luria und insbesondere seine Nachfolger durch Akte der Frömmigkeit, der Meditation und der Askese praktisch zu leisten vorschreiben, ist ein Werk, das universelle Dimensionen besitzt, denn der tikkun oder die Restauration der Schöpfung muß durch die religiösen Akte der einzelnen Menschen ausgeführt werden, aller Juden, die sich im Exil abmühen, sogar aller Männer und Frauen, die sich im Exil abmühen, das Luria als die universale menschliche Existenz ansah.177 174

Ebenda, S. 136. Ebenda, S. 31. 176 Die Textstelle spielt auf die Ähnlichkeit der beiden Verbstämme ‫( היה‬HJH) und ‫( הוה‬HWH) an, von denen der zweite identisch ist mit einem Teil des unaussprechlichen Gottesnamens ‫ההוי‬ (JHWH). Im unvokalisierten hebräischen Text, der nur aus Konsonanten besteht, lässt sich nicht erkennen, welches Tempus die Verbform HJH/HWH (1. Person Singular des Verbes HJH, „geschehen, da sein“ bzw. HWH, „Sein“) besitzt, wodurch Lesarten wie „ich werde sein, der ich war“ oder „ich war, der ich bin“ möglich sind, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegeneinander durchlässig werden. 177 Bloom: Kabbala, S. 39. 175

394

„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Auch bei Picard bleibt es Aufgabe des Menschen, das im „Menschengesicht“ verbliebene Einende aus dem Zerteilten und Zerbrochenen zu befreien – eine Aufgabe, der sich die Gegenwart willentlich verweigert: In den Epochen, wo der Mensch zerteilt und zerstreut bleiben will, – in den letzten Jahrzehnten des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts – scheut sich der Mensch, das Menschengesicht zu beachten. Man will nicht an das ganze Wesen erinnert werden, man will sich nicht ganz haben, man will zerteilt sein und sich nicht stören lassen in der Zerteiltheit, – darum betrachtet man das Menschengesicht nicht.178

Anders als Der letzte Mensch endet Das Menschengesicht jedoch mit der Hoffnung. Und die Form, in der von dieser Hoffnung erzählt wird, macht den kabbalistischen ‚Empfang‘ sprachmystischer Traditionen und Figuren in Das Menschengesicht besonders deutlich. Das Schlusskapitel greift die jüdische Sage von den 36 Gerechten auf – eine Sage, die insbesondere in dem von der lurianischen Kabbala stark beeinflussten osteuropäischen Chassidismus eine zentrale Bedeutung gewann und von dort auch ins Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts wirkte. In dieser den Text abschließenden Passage treibt Picard das sprachmystische Spiel mit der zwischen Anthropomorphismus und Anti-Anthropomorphismus schwankenden Gestaltwerdung Gottes noch einmal auf die Spitze und zeigt dabei, dass der scheinbare Bruch mit dem Anthropomorphismus letztlich seine Wiederholung auf einer neuen Ebene darstellt. Das letzte Kapitel des Menschengesichts – das bereits durch die Überschrift „Ende“ formal von den anderen Kapiteln abgesetzt wird – bringt einen in mehrfacher Hinsicht überraschenden Abschluss, der in einer eigenartigen Distanz zu Inhalt und Struktur des Vorangegangenen steht. Picard beginnt den letzten Abschnitt mit der Wiedergabe der Sage von den 36 Gerechten: Die jüdische Sage erzählt, daß die Welt auf sechsunddreißig Gerechten ruhe. Sechsunddreißig Gerechte gibt es, die niemand kennt, die einander nicht kennen und die selber nicht wissen, daß sie die Gerechten sind. Sie sind da, das ist genug. Es muß wohl genug sein, denn die Säulen der Welt können auf ihnen ruhen.179

Zunächst einmal überrascht hier die explizite Erwähnung der jüdischen Tradition. Sowohl in seinen früheren Schriften als auch im gesamten Verlauf des Menschengesichts erwähnt Picard mit kaum einem Wort180 die jüdische Tradition als kulturellen Hintergrund seines Schreibens. Dass er dies nun ausgerechnet an dieser exponierten Stelle tut, ist sicher kein Zufall. 178

Picard: Das Menschengesicht, S. 13. Ebenda, S. 223. 180 Die einzigen Ausnahmen bilden die – negativ konnotierte – Passage aus Das Ende des Impressionismus, in der er eine besondere Affinität „des Juden“ zum Impressionismus konstatiert (vgl. hierzu Picard: Das Ende des Impressionismus, S. 64f. und oben S. 340) und eine Stelle aus dem Letzten Menschen, in der die ebenfalls negativ konnotierte Figur des „Fliehenden“ als „Ahasver“ angesprochen wird (vgl. Picard: Der letzte Mensch, S. 39). 179

„Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“

395

Bereits auf den vorangehenden Seiten, dem Schluss des Kapitels über „Die Veränderungen des Menschengesichts“ zeichnet sich diese Wende ab, hier allerdings im Zusammenhang mit der zunächst als Zeichen des Verfalls gedeuteten, rassenphysiognomisch konnotierten Figur des jüdischen Gesichts. Picard fragt an dieser Stelle nach den „Veränderungen des Menschengesichts“ und steht dabei einer besonders deutlichen Veränderung von Völkern, Rassen oder sozialen Schichten eher ablehnend gegenüber: Die Veränderung des Gesichts geht durch alle europäischen Völker hindurch und durch alle Rassen der Völker und alle soziologischen Schichten.181

Diese Distanzierung nun wird durch den Hinweis darauf präzisiert und teilweise zurückgenommen, dass „[n]atürlich [...] das eine Volk oder die eine soziologische Schicht mehr verwandelt [ist] als die andere.“182 Deutlich wird dann eine Anspielung auf traditionelle antijudaische Stereotypen und zeitgenössische Diskurse der antisemitischen Rassenphysiognomik, wenn er fortfährt: „Aber es wäre vermessen zu sagen: dieses Volk oder diese soziologische Schicht sei deshalb dem Bösen näher als die anderen.“183 Picard nimmt – ohne ihn zu benennen – den Topos der stigmatisierten Juden auf, wendet ihn dann aber zu einer Auserwähltheits-These184: Ich würde mich eher getrauen zu sagen: ein solches Volk, gerade ein solches werde vor allem bewacht und geliebt vom Schöpfer, und darum eben habe er ihm das verwandelte Gesicht deutlicher geschickt: er warnt das vor allen geliebte Volk mehr als die anderen.185

Überraschend ist bereits an dieser Stelle nicht nur die Anspielung auf ein besonders verwandeltes und dadurch kenntlich gemachtes Volk (Gottes), mit dem der Leser unweigerlich das Judentum assoziiert, sondern auch das inhaltliche Umschlagen der Verwandlungs-Thematik: Die gegenwärtigen „Veränderungen im Menschengesicht“ – bisher durchweg sehr negativ konnotiert – werden nun auf einmal als Zeichen der Auserwähltheit positiv gedeutet. Vor dem Hintergrund der unergründlichen Offenbarung Gottes, wie sie die jüdische Mystik charakterisiert und wie sie Picard als paradoxe Einheit von Geheimnis und Klarheit eingeführt hat, wirkt diese unvermutete Wendung als eine Verrätselung der Picard’schen Botschaft. Die Wandlung der Physiognomik zur „Herme(neu)tik“ (Blankenburg) stellt damit das Menschengesicht noch einmal performativ in den Zusammenhang mit der mystischen Schreib-Praxis der Verrätselung.186 181

Picard: Das Menschengesicht, S. 222. Ebenda. 183 Ebenda. 184 Ausführlich zu den Kontexten der Auseinandersetzung um die Auserwähltheit des jüdischen Volkes siehe unten Kap. 8.2. 185 Picard: Das Menschengesicht, S. 222. 186 Überraschend ist auch, dass die „soziologische Schicht“ hier ebenfalls die negative Konnotation verliert, die sie vorher kennzeichnete: Zwar schätzt Picard ihren Erklärungswert ebenso wie den Einfluss der Rasse (sowie weiterer, bereits in einem früheren Kapitel über den „Einfluss der irdischen Bedingungen auf das Menschengesicht“ abgehandelter Faktoren wie der Landschaft, dem Beruf, sowie der „Macht“ und „Machtlosigkeit“) als zweitrangig gegenüber der göttlichen Vorse182

396

„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Doch kommen wir nun zur jüdischen Sage von den 36 Gerechten, auf denen die „Säulen der Welt“ ruhen. Picard übersetzt die haggadische Überlieferung von den 36 Gerechten in seine eigene Rede von den 36 Gesichtern. So, glauben wir, ruhen auch alle Gesichter der Menschen auf sechsunddreißig gerechten Gesichtern. Die Ordnung aller anderen Gesichter ruht auf diesen sechsunddreißig, die niemand sieht, die einander nicht sehen, die sich selber nicht sehen, – Gott aber sieht sie.187

Indem Picard sich in die Tradition einordnet – „Die jüdische Sage erzählt, daß“ – und zugleich seine eigene Deutung von der Überlieferung abhebt – „So, glauben wir, ruhen auch alle Gesichter der Menschen“ – nimmt die Ausgestaltung der Erzählung die Form eines Midrasch an, der die Tradition in einem eigenen Bild aufnimmt, bewahrt und erneuert: ein Verfahren, das auf ein Problem all jener Religionen reagiert, die sich auf eine schriftliche Offenbarung berufen. [I]ts function can be explained quite clearly, especially in the context of mystical literature. The midrash (from a functional point of view) is the result of the inherent paradox which haunts a religion based upon a body of sacred scriptures: the conflict between the wish and the need to innovate, and the religious maxim which states that all truth is to be found in the scriptures. This means that, in order to be true, every new statement should be old. The midrashic technique is the traditional Jewish answer to this paradox.188

Picard greift damit ein Verfahren auf, auf das die Kabbala seit ihren Anfängen zurückgreift: „[T]he initial emergence of the kabbalah in Europe in the form of a midrash, in the pseudepigraphic work Sefer ha-Bahir“189, zeichnet literarisch genau jene Verbindung von Bewahrung und Neuerung aus, die bereits ihre kanonisierten Quellen und deren Quellen usf. betrieben. Ganz im Sinne der jüdischen Sprachmystik sichert die Sprachgeste des Midrasch die nun folgende literarische und zutiefst spekulative Fortsetzung des Picard’schen Textes ab, in der die Übersetzung der Sage von den 36 Gerechten auf die 36 Gesichter entfaltet wird. Und so verwundert es kaum, dass in ihrem Zentrum die von Scholem immer wieder betonte Problematik und Unausweichlichkeit des Anthropomorphismus steht. Picard nimmt seine anthropomorphisierende Rede von den 36 Gesichtern zunächst zurück: Ach, wir glauben, nicht einmal sechsunddreißig brauchen es zu sein. Ein paar, ein einziges sogar mag genügen. Wenn der Blick Gottes geht von den anderen Gesichtern hin zu diesem einen hung ein. (Vgl. ebenda, S. 180ff.) Doch insofern die Veränderung nun auf einmal zum Teil der göttlichen Vorsehung wird und das Objekt der Verwandlung in ihr gerade ein besonderes Zeichen der Liebe Gottes erfährt, liegt die Frage nahe, ob nicht auch soziologischen Schichten – deren stärkere Verwandlung Picard ja dennoch postuliert – eine besondere Erwähltheit zukommen kann. Picard erwähnt nicht, an welche Schichten dabei zu denken sei (wie er ja auch nicht explizit das Judentum als erwähltes Volk bezeichnet). 187 Ebenda, S. 223. 188 Dan: „Midrash and the Dawn of Kabbalah“, S. 127. 189 Ebenda.

„Fast Gesagtes, in den Ritzen der Gestalt“

397

Gesicht, so sind durch den Bogen von Gottes Blick alle Gesichter wieder mit der ewigen Ordnung verbunden.190

Erneut begegnet im „Bogen von Gottes Blick“ die Vorstellung, dass alle Ordnung in der relationierenden Bewegung – in den behinoth oder parzufim – liegt. Indem die Zahl der Gesichter reduziert wird, bis der göttliche Blick nur noch einem einzigen Gesicht gegenübersteht, wird auch die anthropomorphisierende Rede zurückgenommen und gleichzeitig ihrem Höhepunkt zugeführt: Die gesamte göttliche Offenbarung, die gesamte „wirkende Seite“ des En-Sof, vermag in einem einzigen Gesicht zu liegen! Und doch erscheint dies noch als zuviel an Menschengestalt. Angesichts der in sich selbst gründenden und im Zimzum in sich selbst sich zurückziehenden Macht Gottes verblasst und verschwindet auch dieses einzige Gesicht: Ja, selbst wenn Gottes Blick auch dieses eine Gesicht nicht mehr fände und wenn von jener Stelle, wo dieses eine Gesicht einmal war, wenn nur von jener Stelle, die nun leer ist, Gottes Blick allein zu sich selber zurückkehren müßte, so würde noch dies und vielleicht gerade dies: daß Gottes Blick zu sich selber zurückkehrt, daß Gottes Blick sich selber anschaut, gerade dies würde alle Gesichter retten.191

Mit diesem Satz endet Das Menschengesicht. Er vereint in nuce, was Scholem als Charakteristikum jeglicher (mystischen) Rede von Gott ausmacht: Der Anthropomorphismus, die vermenschlichende Redeweise von Gott, gehört ebenso ins lebendige Herz der Religion wie das Gefühl von der solche Rede weit übersteigenden Realität des göttlichen Seins.“192

Picards Menschengesicht endet mit dem Verweis auf den Rückzug Gottes in sich selbst – das Zimzum –, angesichts dessen alle Menschengestalt verblasst und verschwindet. Und doch nimmt sich auch hier der Anthropomorphismus, was ihm zusteht. Das Verlöschen der anthropomorphen Bilder vom „Gesicht“ wird erreicht – durch einen Anthropomorphismus: Denn ist „‚Gott sprach‘ [...] kein geringerer Anthropomorphismus als ‚Gottes Hand‘“193, dann trifft dies auch auf die Rede von „Gottes Blick“ zu, der „zu sich selber zurückkehrt“ und „sich selber anschaut“194.

190

Picard: Das Menschengesicht, S. 223. Ebenda. 192 Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 7. 193 Ebenda. 194 Auch moraltheologisch verlässt Picard mit diesem unvermittelten Umschlag die paradoxen Schleifen der lurianischen Kabbala nicht. Denn letztere lässt sich nicht nur als fromme Aufforderung lesen, „daß es in den kelippoth Funken gibt, die erlöst werden können, und zwar erlöst allein durch die Handlungen der Menschen und nicht Gottes“ (Bloom: Kabbala, S. 34), sondern auch als eine Kosmologie, in der es nur um eines (und damit um alles) geht: „Luria [sah] die Funktion der Schöpfung ausschließlich als Gottes Katharsis von sich selbst [...], als eine ungeheure Sublimierung in der Seine schreckliche Strenge etwas Frieden finden konnte.“ (ebenda, S. 37) 191

398

„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

Picards Menschengesicht führt das unendliche Sprechen, das „Beginning/Again“195 der jüdischen Sprachmystik und ihre anthropomorphen Peripetien fort: Aller Anthropomorphismus wird auf die Spitze getrieben – ein einziges Menschengesicht als Manifestation Gottes – und zerstört: Gott braucht kein (Menschen-)Gesicht, um sich zu zeigen. Aber einen Blick!

7.4 Ästhetische Kabbala Am Schluss dieses Kapitels, in dessen Fokus die Analyse der Textverfahren und der impliziten Poetologie des Menschengesichts stand, möchte ich Das Menschengesicht unter das Paradigma der „Ästhetischen Kabbala“196 stellen und damit zugleich den Übergang zur nachfolgenden, in den Kontext voranschreitenden Analyse einleiten. Andreas Kilcher hat unter diesem Begriff die Kabbala als eine eigenständige Sprachtheorie beschrieben, in die sich Picards Schrift sowohl systematisch als auch historisch einordnen lässt. Picard stellt sich, zumeist implizit – wie etwa im freien literarischen Aufgreifen der Rede vom ‚Großen Gesicht‘ oder mit seinen sprachmystischen Schleifen, in denen er seine Begriffsgegensätze zu paradoxen Harmonien verbindet –, einmal aber auch explizit – in seiner Transfiguration der Sage von den 36 Gerechten – in die kabbalistische Tradition. Damit nimmt er jenen Impuls auf, der die Textbewegungen der Kabbala antreibt – einen Impuls, der sich aus der Binnenbewegung des Textes (seinen Wellen und Brechungen), aus den intertextuellen Bewegungen des ‚Empfangs‘ einer Tradition sowie aus den historisch bewegten Kontexten der Literatur und anderer Felder speist. Diese „Konfiguration zwischen der Sprache der Kabbala und der Sprache der Literatur [als] das wandelbare Geschehen eines interpretativen Prozesses, einer wissensgeschichtlichen Transformation, einer Metamorphose und Übersetzung der Kabbala“197 fasst Kilcher unter das Paradigma einer Ästhetischen Kabbala. Die kabbalistische Tradition zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Phänomen von kultureller Aneignung und Veränderung – wie sie etwa auch die Zirkulation des New historicism und das Mimesis-Konzept von Gebauer/Wulf198 beschreiben – als unauflöslich ineinander verwobene Textbewegungen zur literarischen Institution macht. 195

Cohen, Aryed und Shaul Magid (Hrsg.): Beginning/Again. Toward a Hermeneutics of Jewish Texts, New York: Seven Bridges Press, 2002. 196 Vgl. Kilcher, Andreas B.: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, S. 3. 197 Kilcher, Andreas B.: Die Sprachtheorie der Kabbala, S. 3. 198 Vgl. Gebauer, Gunter und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992; Gebauer, Gunter und Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998.

Ästhetische Kabbala

399

[W]as in der hebräischen Literatur seit dem 12. Jahrhundert als Kabbala bezeichnet wurde, war immer schon als ein Projekt der Rezeption konzipiert, als ein Vorhaben der Aneignung, der Interpretation, der Transformation und der Kommentierung. ‚Rezeption‘ und ‚Kabbala‘ sind zwei strukturell vergleichbare Kategorien. Kabbala weist die Form der Rezeption auf, denn Rezeption ist der Modus, in dem Kabbala sich zu der Schrift verhält. Die Form der Rezeption ist selbst in den Namen der Kabbala eingeschrieben. Kabbala bedeutet wörtlich ‚Empfang‘ und entspricht der lateinischen ‚receptio‘.199

Zu ergänzen wäre, dass die Kabbala sich nicht nur begrifflich, sondern auch performativ als „receptio“ etabliert: Indem die radikalen und einflussreichen spekulativen Neuerungen des Sohar sich als Midraschim inszenieren, folgen sie auch als Text dem kabbalistischen Prinzip omnis distinctio est receptio. Unterscheidet sich die Ästhetische Kabbala gerade dadurch von anderen, freier spekulierenden Formen der Mystik, dass sie auf das Bewahren der Überlieferung insistiert, so erwächst daraus zugleich ein höchst transformatives Potential: Die Ästhetische Kabbala ist das Produkt einer Interpretation, deren Parameter nicht der Grad der Identifizierbarkeit mit der historischen Kabbala ist, sondern umgekehrt die Differenz zu ihr, genauer die ironischen Formen und Figuren der Entfernung, der Transformation und der Brechung.200

Bereits Scholem und Bloom (die in diesem Zusammenhang von der Produktivität des „Mißverständnisses“201 bzw. des „Fehl-Lesens“ (misreading)202 sprechen) weisen auf diese transformative Kraft des „Empfangs“ und der „receptio“ als einen entscheidenden Zug kabbalistischen Sprachdenkens hin. Wenn Picard sich also die festgefügten Gesichter und Figuren der Überlieferung aneignet und zu neuen Gesichten de- und refiguriert, dann führt er diese kabbalistischen Textbewegungen fort. Was Kilcher als „Ästhetische Kabbala“ beschreibt, ist selbst in einem historischen Prozess aus wiederholten Rezeptionen und Interpretationen entstanden. Die Ästhetische Kabbala lässt sich als ein nach und nach in fünf „Formationsphasen“ geschichtlich ausdifferenziertes Produkt begreifen:203 Es baut auf der Ausformulierung einer Sprachmetaphysik in der hebräischen Kabbala des Mittelalters ebenso auf wie auf deren universalsprachlicher und magischer Umdeutung in der lateinischen Kabbala der Frühen Neuzeit, die ihrerseits von der Aufklärung aufgegriffen und als vorrational kritisiert 199

Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala, S. 7. Ebenda, S. 27. 201 „Die Kabbalisten bemächtigen sich der Begriffe der orthodoxen Theologen, aber unter ihrer Zauberhand entspringt im Herzen vieler scholastischer Begriffe und Abstraktionen eine verborgene Quelle neuen Lebens. Der Philosoph rümpft wohl die Nase über das, was in seinem Sinn ein Mißverständnis des philosophischen Begriffes ist. [...] Für den Mystiker entfaltet sich gerade in solchem Mißverständnis oft sein originellstes Denken: ist doch das Mißverständnis oft nur die paradoxe Abbreviatur eines originellen Gedankens.“ (Scholem: Die jüdische Mystik, S. 26f.) 202 Vgl. Bloom: Kabbala, S. 98ff. 203 Vgl. Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala, S. XXXff. 200

400

„Das Menschengesicht“ und seine paradoxen Harmonien

wird. Die beiden letzten Phasen bilden dann das eigentliche Paradigma einer „Ästhetischen Kabbala“ aus: In der Romantik werden die kabbalistischen Überlieferungen als ästhetisch-rhetorisch-poetisches Paradigma rezipiert und interpretiert, am prägnantesten in Schlegels Formulierung Die Ästhetik=Kabbala – eine andere giebts nicht.204

Die poststrukturalistische Theorie der (poetischen) Sprache und der Rhetorik greift dann im Wesentlichen variierend auf dieses romantische Paradigma zurück. Als literaturwissenschaftliches Modell lässt sich die Kabbala dabei sowohl für einen textimmanenten, eher ahistorischen Ansatz als auch für eine historisch kontextualisierende Literaturtheorie fruchtbar machen: Harold Bloom etwa rezipiert die lurianische Kabbala als ein Modell der rhetorischen und poetischen Funktionen der Sprache. Er ordnet dem Zimzum205 eine Reihe von Tropen zu, die die Repräsentation begrenzen und/oder scheitern lassen: Ironie, Metonymie und Metapher. Eine zweite Reihe, die dem Tikkun entspricht, umfasst dagegen Tropen der Zusammenfügung und Repräsentation, wie Synekdoche, Hyperbole und Metalepsis. Zusammengehalten werden beide Reihen durch die figurative Funktion der Sprache, die in ihrem Verweis- und Substitutionscharakter dem Schevirath-ha-Kelim (dem Bruch der Gefäße) entspricht. Nach diesem katastrophischen Modell ist Rezeption nicht als harmonisches Ineinanderfließen von Traditionsgehalten, sondern als ein disharmonisches Zerbrechen ihrer sprachlichen Gefäße zu denken. Bloom interpretiert das ‚Zerbrechen der Gefäße‘ als metafigurative Theorie, d. h. genauer als eine Figuration des Prozesses, ‚durch den eine verbale Figur durch eine andere ersetzt wird.‘206

Als Ästhetische Kabbala kann auch Picards Menschengesicht gelten: Seine metaphorische Wellentheorie des Gesichts, die sich zugleich als Wellentheorie der Sprache lesen lässt, seine zwischen der Klage über die Zerstückelung und der Hoffnung auf Restitution schwankende Physiognomik und schließlich sein Sprachstil, der sich oft in paradoxen, der begrifflichen Fixierung widerstrebenden Schleifen verliert, zeugen von der Rezeption dieser ästhetischen Tradition, die selbst Rezeption ist. Nach Kilcher fokussiert das Modell der Ästhetischen Kabbala, das er auch als „metaphorische Kabbala“ bezeichnet, die rhetorisch-ästhetischen Aspekte kabbalistischen Schreibens und zielt damit auf Effekte der „Versprachlichung“ ab, auf eine innerhalb der Zeichen gezeugte Wirklichkeit. Das Hauptinteresse gilt dabei dem „Programm, die Kabbala als eine ästhetische Theorie oder Praxis zu lesen, bzw. Ästhetik, Rhetorik und Poesie mit den Begriffen der Kabbala zu beschreiben“207. Mit den Konzepten von Empfang und Transformation sowie einem Programm der Ästhetisierung lässt sich jedoch auch eine historisch kontextualisierende und feldtheo204

Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Abt. 2. Schriften aus dem Nachlaß. Bd.6. Philosophische Lehrjahre, 1796–1806, Paderborn: Schöningh, 1963, S. 399. 205 Vgl. oben S. 390. 206 Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala, S. 26. 207 Ebenda, S. 3.

Ästhetische Kabbala

401

retische Literatur- und Kulturwissenschaft beschreiben. Kulturhistorisch interessant ist die Kabbala nicht allein als Gegenstand, und nicht allein als eine systematische Theorie der literarischen receptio und transformatio diachroner Traditionen. Die nach Bloom im Zentrum der lurianischen Spekulation stehende Frage – „Wie macht man einen frischen, lebendig neuen [...] Impuls [...] passend, wenn man eine [...] Tradition erbt, die bereits so reich und kohärent ist“?208 – treibt auch die ausdifferenzierten kulturellen Felder der literarischen Moderne an und hält ihre diachronen wie synchronen Kontexte in Bewegung. Auch hier gilt das Bestreben den „frischen, lebendig neuen“ Impulsen, ja den permanenten ‚spezifischen Revolutionen‘: Deren Protagonisten können die ihnen sich stellende Aufgabe, die Tradition zu überwinden oder zu zerstören, nur nach deren nachweislichem Empfang antreten und vollenden. Dass die Suche nach einem abermaligen „frischen, lebendig neuen [...] Impuls“ sich insbesondere nach einer als besonders intensiv erlebten Phase sprachzerstörerischer Erneuerungsbewegung äußerst schwierig gestaltet, zeigt das nachfolgende Kapitel über den literarischen Nachexpressionismus. Darin widme ich mich zunächst den literarischen Feld-Kontexten des Menschengesichts im Allgemeinen; auf den spezifischen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Diskurs über eine deutsch-jüdische Literatur geht dann insbesondere das Kapitel 8.2 ein.

208

Bloom: Kabbala, S. 29.

8 Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Mit Picards Worten vom „Schweigen um den Mund herum [...], das vor jedes Wort gesetzt ist, ehe der Mund es öffnet“1, setzte die Auseinandersetzung mit Das Menschengesicht ein; sie verweisen auf die um paradoxe Harmonie bemühten, religiös gefärbten Textbewegungen und Poetologien Picards, auf die sich meine Aufmerksamkeit zunächst richtete, ebenso wie auf sein Verstummen als Akteur des literarischen Feldes zwischen 1921 und 1929. Das Schweigen und die darin liegende religiöse ‚Sammlung‘ zeugen zugleich aber auch von der Lage, in der sich das literarische Feld in den zwanziger Jahren befindet: Auf die expressionistische Avantgarde des Jahrzehnts 1910–20 folgt eine Phase der Orientierungslosigkeit resp. Neuorientierung, in der einflussreiche Autoren eine Rückbesinnung auf die Tradition und das Streben nach einer neuen Harmonie (der Sprache, der Inhalte, der Gesellschaft) für die Literatur und ihre Kritik fordern. Wilhelm Haefs hat den Begriff des „Nachexpressionismus“2, den der Kunstkritiker Franz Roh bereits 1923 zur Diskussion stellte, aufgegriffen und für die Beschreibung dieser Umbruchszeit und ihrer vielfältigen, z. T. auch in der literaturhistorischen Forschung verworrenen Bewegungen vorgeschlagen. Haefs’ systemtheoretisch inspirierten Befunde lassen sich in eine feldtheoretische Darstellung übernehmen und sollen daher hier kurz skizziert werden: Der Zustand des Literatursystems wird von einem Orientierungsverlust bestimmt, den Haefs sowohl auf externe als auch auf interne Faktoren zurückführt. Dabei spielen zum einen politische Faktoren als heteronome Einflussgrößen eine wichtige Rolle.3 Zum anderen prägt aber auch eine systemimmanente bzw. feldinterne Dynamik die Herausbildung des Nachexpressionismus: 1 2 3

Picard: Das Menschengesicht, S. 40. Haefs: „Nachexpressionismus. Zur literarischen Situation um 1920“. „Die im literarischen Urteil zum Ausdruck kommende Unsicherheit ist nicht zu trennen von der Erfahrung der Novemberrevolution und jenem sozialen und politischen Vakuum, das mit der Demokratie von Weimar entstanden war. Das verbreitete politische und eben auch kulturelle Ordnungs- und Harmoniebedürfnis wurde noch verstärkt durch Ruhrbesetzung und Ruhrkämpfe, durch den Rechtsputschismus und die von Beginn an virulente Radikalisierung an den Rändern des politischen Spektrums. Die Literatur entspricht dem disparaten, zersplitterten Erfahrungsraum, ohne ihn jedoch nur widerzuspiegeln“ (ebenda, S. 75).

Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

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In der literarischen Entwicklung vollzieht sich mit dem Ende des Expressionismus [...] nicht einfach ein Paradigmenwechsel und auch nicht die alleinige Rückkehr zu vorgängigen literarischen Traditionen. Entscheidender Grund für jene ausgesprochene Unübersichtlichkeit ist eine Komplexitätssteigerung des bürgerlichen Literatursystems, eine Differenzierung in verschiedene Teilsysteme, die mit einander verbunden sind oder ganz unverbunden nebeneinander existieren, sich auch restriktiv gegenüber anderen Teilsystemen verhalten können.4

Haefs macht fünf Richtungen aus, in die sich das Feld aufteilt: Neben die sozialistische, proletarisch-revolutionäre, die völkisch-nationale und die linksliberale Literatur (vom zeitkritischen, politisch-sozialen Roman Heinrich Manns bis zur Neuen Sachlichkeit) treten die neue, offene katholische Literaturbewegung und die neuen Avantgarden, die jedoch mit Ausnahme der Dada-Hochphase bis 1924 schwach sind. All diese FeldPositionen verfügen über eigene institutionalisierte Medienverbünde und Distributionssysteme; und für vier der fünf lässt sich – feldtheoretisch gesprochen – ein heteronomer (politischer und/oder religiöser) Einfluss feststellen. Der Nachexpressionismus lässt sich dabei nicht eindeutig einer oder mehreren dieser Strömungen zuordnen. Er reicht – mit Ausnahme der dadaistischen Avantgarde – in alle genannten Positionen hinein, stellt selbst kein fest umrissenes literarisches Programm dar und wird von Haefs heuristisch als zusammenfassende Kategorie für jene (also nicht für alle) literarischen Tendenzen seit 1919/20 verstanden, die explizit oder implizit auf den Expressionismus (und insgesamt auf die künstlerisch-literarischen Erscheinungen der Avantgarde) und auf die politische Umbruchssituation reagieren und programmatisch darüber hinausführen wollen – durchweg auf der Basis traditionalistischer und autonomieästhetischer Literaturkonzeptionen, die aber durchaus formale Elemente des Expressionismus integrieren können.5

Für das literarische Feld stellen diese Konzeptionen – soweit sie nicht einfach in ununterbrochener Kontinuität zu herkömmlichen Formaten wie etwa der Heimatliteratur stehen – also durchaus Neuerungen dar, auch wenn sie „im Zeichen eines neuen Traditionalismus stehen [...] [und] natürlich Positionen [sind], die nicht neu sind“6. Es handelt sich – wo die explizite Beschäftigung mit dem Expressionismus und das Bemühen um seine Überwindung den Autor als Kenner des Feldes und seiner Geschichte ausweisen – sozial eben nicht um pure Wiederholungen, sondern um den paradox anmutenden Feldmechanismus der ‚Renaissance des Kanonischen‘, nach dem das Alte oder gar Veraltete zum neuesten Trend erhoben werden kann. Dementsprechend werden verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie der Expressionismus zu überwinden sei: durch eine Rückkehr zu „Traditionalisten und gemäßigten Modernen“ (Loerke), etwa den Symbolisten, durch einen „elegische[n] Klassizismus mit Nazarenerfärbung“ (Worringer) oder durch einen „neuen Naturalismus“ (Paul Westheim).7 4 5 6 7

Ebenda. Ebenda, S. 78f. Ebenda, S. 79. Alle Zitate n. ebenda, S. 74.

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Haefs Kategorie des „Nachexpressionismus“ trifft recht genau die verschiedenen, z. T. recht komplexen Motivationen und Aspekte, die die Entstehungskontexte des Menschengesichts prägen, und soll daher für die folgende Beschäftigung mit dessen literarischen und wissenshistorischen Kontexten übernommen werden. Darüber hinaus pflichte ich auch Haefs Kritik an einer Literaturwissenschaft bei, die aufgrund einer einseitigen und normativen Ausrichtung an Stilkriterien die Bedeutung des – zugegebenermaßen formal eher konventionellen – Nachexpressionismus für eine Sozialgeschichte der Literatur übersieht, wenn sie schreibt, die Poetik des Traditionalismus sei völlig uninteressant, da sie sich in den immer gleichen, vagen Kategorien (zumeist des ,Absoluten‘) althergebrachter Literaturkonzeptionen erschöpfe, ein für die historische Klärung wenig förderlicher normativer Aspekt8.

Hinzufügen möchte ich allerdings, dass eine literaturhistorische und -soziologische Perspektive keineswegs nur „bedeutsame“, sondern zuweilen auch interessante Phänomene zutage fördert;9 stilistischer Natur sind diese freilich eher selten. Die nachexpressionistischen Bemühungen um die Neuformierung und Wiedergewinnung von Autonomie und Souveränität des Autors sowie der von ihm produzierten Sprache greifen dabei auch auf Motive und Figuren des Religiösen zurück. So kommt es nicht nur zu einer persönlichen religiösen ‚Wende‘ mehrerer Autoren10 und zu konfessionellen Literaturbewegungen innerhalb des literarischen Feldes, sondern auch zu Austauschbeziehungen mit den zeitgenössischen Positionen katholischer, protestantischer oder jüdischer Theologie – alle drei sind für Picards Werk von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dabei ist dieser Austausch nicht neu: Die alte Geschichte theologischer Hermeneutik ist weder für die christlichen Konfessionen noch für das Judentum ohne eine Literaturgeschichte der jeweiligen Kultur zu schreiben, und umgekehrt. Das Menschengesicht nun erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Beitrag zum Nachexpressionismus, dessen verschiedenen Strömungen es programmatisch um die Rückgewinnung des Gegenstandes, um Natur und Form, um die Zusammenfügung und Re-Konstruktion der durch die avantgardistische Literatur vermeintlich zerstörten Sprache [...] [,] um die Wiederherstellung des Vertrauens in Sprache und von IchIdentität als Voraussetzung dichterischer Produktivität, um die Wiedergewinnung einer Schöpfungspoetik11

8 9

10 11

Ebenda, S. 94. Haefs dagegen suggeriert, dass die Produkte nachexpressionistischer Literatur zwar bedeutsam, aber tatsächlich uninteressant seien, wenn er dem Vorwurf, „die Poetik des Traditionalismus sei völlig uninteressant“ lediglich mit dem Hinweis auf das Normative dieser Kritik widerspricht. Dagegen möchte ich zeigen, dass diese Literatur durchaus auch jenseits literaturgeschichtlicher Fragestellungen Interessantes zu bieten hat – wie etwa Picards Wellentheorie des Gesichts oder seine kabbalistische Poetologie. Zu den bekanntesten gehören Hugo Ball, Reinhard Johannes Sorge (der sich schon sehr früh dem Katholizismus zuwandte) oder Alfred Döblin. Haefs: „Nachexpressionismus“, S. 79.

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geht. Insbesondere die katholische Literaturbewegung und die Debatten um eine deutschjüdische Literatur sind als literaturspezifische Kontexte von Bedeutung für Picards im vorangegangenen Kapitel am Text herausgearbeitete Bemühungen um die „Wiederherstellung des Vertrauens in Sprache“, wie sie etwa das Umschlagen seiner literarischen Wellenbewegung in eine transzendente Dimension – die auch der Sprache eine metaphysische Heimat zu geben verheißt –, oder seine Hoffnung auf das Ewige im Menschengesicht und seine rekonstruierende und erlösende Kraft darstellen.

8.1 „Ein neues Geschlecht“ auf verlorenem Posten. Die Ambivalenzen der katholischen Literaturbewegung Der gesellschaftliche Einfluss des Katholizismus, das Gewicht seines institutionalisierten sozialen, kulturellen und politischen Kapitals, war mit dem Fortschreiten der zivilisatorischen und kulturellen Moderne zunehmend geschwunden. Dazu hatten gleichermaßen externe wie interne Faktoren beigetragen, wie etwa der Kulturkampf und seine Folgewirkungen, die regionale und soziale Marginalisierung katholischer Schichten,12 aber auch die diesen Phänomenen entgegenarbeitende Selbstabkapselung und -überschätzung der katholischen Kirche, ihre Unfähigkeit zur Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen: Die Verkündung des Unfehlbarkeits-Dogmas pastor aeternus auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Jahre 1870 bedeutet eine Kampfansage an die Moderne, die die Auseinandersetzung mit (natur-) wissenschaftlichem Empirismus und kultureller Autonomie, mit Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft auf ein klares ‚Nein‘ reduziert und zu beenden versucht. Sie erhält damit ein Selbstbild aufrecht, das gesellschaftliche Dominanz beansprucht, wo in weiten Gesellschaftsbereichen längst Marginalisierung und Dominiertheit die Lage der Una sancta ecclesia bestimmte. 1927 fasst Friedrich Fuchs die Situation des Katholizismus in das Bild einer Belagerung, in der die äußere Bedrohung der Belagerten mit einer Selbst-Isolation einhergeht: Joseph von Eichendorff warnte vor seinem Tode das katholische Deutschland, nicht gleichsam wie eine vom Zeitgeist belagerte Festung hinter dem Bollwerk verbrauchter Formeln sich selber geistig aushungern zu wollen. Solche furchtsame, abschließende, bloß negative Moralität werde 12

Insbesondere die aufsteigende bildungsbürgerliche Schicht war stark protestantisch dominiert. Vgl. hierzu ausführlich Langewiesche, Dieter: „Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland“, in: Martin Huber und Gerhard Lauer (Hrsg.), Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850– 1918, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1996, S. 107–132: „Bekennender Katholik zu sein setzte voraus, sich entschieden jener Bildungsreligiosität zu verschließen, aus der sich das Selbstverständnis des deutschen Bildungsbürgertums protestantischer Prägung speiste. [...] Daß sich moderne Wissenschaft und bekennender Katholizismus ausschlössen, gehörte zu den Grundüberzeugungen an den deutschen Universitäten, weidlich praktiziert bei Berufungen.“ (ebenda, S. 107f.)

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von dem geschäftigen Feinde über kurz oder lang notwendig überflügelt. Martin Deutinger sah bereits in der Kirche eine belagerte Stadt, deren Einwohner zuletzt, wenn auch die Festungswerke nicht genommen werden konnten, an Lebensmitteln und allen durch den Verkehr mit anderen beizuschaffenden Bedürfnissen Mangel empfinden müßten. Die belagerte Stadt versinnbildlicht den kulturellen Zustand der Katholiken in Deutschland, wie er um die Mitte des 19. Jahrhunderts besiegelt schien.13

Der Verfasser dieser mahnenden Worte ist Mitstreiter der katholischen Literaturbewegung, die dem schwindenden Einfluss und der Fremd- wie Selbst-Isolation des Katholizismus entgegenzutreten versuchte. Karl Muth, für dessen „Festschrift“ Fuchs’ Artikel erschien, und Joseph von Eichendorff sind ihre beiden wichtigsten Gewährsmänner: Muth hatte mit seiner 1898 unter dem Pseudonym ‚Veremundus‘ veröffentlichten Streitschrift Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?14 den sogenannten ‚Katholischen Literaturstreit‘ angestoßen. Sein Ziel war es, der literarischen und künstlerischen Rückständigkeit katholischer Produktion und Kritik entgegenzuwirken; und der erste Schritt in Richtung auf dieses Ziel war für ihn eine klare und desillusionierte Antwort auf die im Titel seiner Schrift gestellte Frage: Nein! Wir stehen in Bezug auf die Pflege der epischen Prosadichtung (um nur diese zu nennen) nicht nur völlig abseits von den litterarischen [sic!] Bestrebungen der Gegenwart, sondern haben auch unter den vorhandenen Leistungen sozusagen gar nichts, was auch nur irgendwie über die Mittelmäßigkeit besonders hinausragte.15

Die wohl nicht ganz unerwünschte Wirkung dieser ernüchternden Feststellungen blieb nicht aus: Es kam zum „Katholischen Literaturstreit“, in dem das Verhältnis zwischen Katholizismus und literarischer Moderne neu verhandelt wurde und dessen Folgen bis in die Weimarer Zeit und den katholisch-literarischen ‚Aufbruch‘ der späten Weimarer Republik hineinreichen. Es kommt im Gefolge zu einer Öffnung der Literatur katholischer Provenienz, die einerseits den Anschluss an die literarische Moderne überhaupt 13

14 15

Fuchs, Friedrich: „Die deutschen Katholiken und die deutsche Kultur im 19. Jahrhundert. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung von Karl Muths Werk“, in: Max Ettlinger, Philipp Funk und Friedrich Fuchs (Hrsg.): Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth, München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, 1927, S. 9–58, hier: S. 9. Hervorhebungen im Original. Muth, Karl: Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage, Mainz: Verlag von Franz Kirchheim, 1898. Ebenda, S. 47. Muth erkennt insbesondere an, dass die distinguierte Exklusivität eines gebildeten Adressaten-Kreises zu den Charakteristiken eines modernen Literatur-Feldes und seiner relativen Autonomie gehört: „Dem tiefer Schauenden kann es nicht entgangen sein, daß all jene vorstehend erhobenen Klagen über das Verhältnis eines sehr beträchtlichen Bruchteils deutscher Katholiken zur schönen Litteratur im Grunde als ein Protest der selbständigen Bildung gegen eine bevormundende und mißtrauische Litteraturüberwachung und eine daraus hervorgehende Litteraturverwässerung aufzufassen ist. Man hat aus dem Auge verloren, daß das geistige Leben auch der schönen Litteratur seinen Rückhalt nicht in der breiten Masse der Leser, sondern bei den geistig Gebildeten der Nation hat, und daß der Dichter, auch wenn er auf möglichst großen Absatz rechnet, doch immer nur eine verhältnismäßig kleine Zahl in Betracht ziehen kann, auf deren Verständnis er angewiesen ist.“ (ebenda, S. 78)

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erst ermöglicht, andererseits aber in Ambivalenzen befangen bleibt, die diesen Anschluss erschweren. Die insbesondere von Muths 1903 gegründeter Zeitschrift Hochland beförderte Poetologie der katholischen Literaturbewegung anerkennt die Stil- und Formforderungen der literarischen Moderne und arbeitet sich an ihrer Adaption an eine katholische Literatur ab; sie unterwirft sich damit den Regeln des (teil-)autonomen literarischen Feldes und ermöglicht literarischen Erzeugnissen katholischer Provenienz den Zugang zu diesem. Gleichzeitig fordert sie die Füllung literarischer Werke mit christlich-katholischen Inhalten und betreibt damit eine Unterwerfung des Schreibens unter heteronome Zwänge – ein Anliegen, das einer starken, weil vom feldbeherrschenden autonomen Pol ausgehenden Gegenströmung ausgesetzt ist. Im Kampf um das angestrebte Ziel – die Hervorbringung „hoher“ (=dominanter) Literatur – steht die katholische Literaturbewegung daher von Anfang an auf verlorenem Posten.16 Daran ändert auch Muths vehementer Kampf „gegen alle flache Unterhaltungs- und geistlose Tendenzliteratur, auch wenn sie mit Berufung auf einwandfreie Moralität und gute Gesinnung auftritt“17, die er für die Rückständigkeit katholischer Literatur zuvorderst verantwortlich macht, nicht viel. Was Muth fordert, ist keine autonome Literatur, sondern eine formalästhetisch anspruchsvolle, verdeckt heteronome Literatur im Gegensatz zu einer formal anspruchslosen, offen heteronomen Produktion. Die katholische Literaturbewegung ist damit zugleich paradigmatisch für das Phänomen des Nachexpressionismus und dessen Suche nach einer Literatur, die „in eine neue Phase der Besinnung und der Sammlung eingetreten sei“18 oder die – in den Worten Muths – antwortet auf etwas wie ein Sehnen und Verlangen, dem müde gehetzten Dasein wieder jenen Schimmer idealer Verklärung und die ruhige, sonnige Harmonie zu geben, wie sie früheren, glaubensstarken und deshalb hochgerichteten Zeiten jedenfalls in höherem Maße eigen war als uns.19

Sein poetologisches Modell erläutert Muth in Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?. Er konstatiert, dass der Rückständigkeit katholischer Literatur ein 16

17 18 19

Deutlich wird dies in der Erklärung, mit der Muth die Wahl des Titels begründet: „Der Titel ‚Hochland‘ will verstanden sein im Sinne unseres Leitspruchs: Hochland – hohen Geistes Land,/ Sinn, dem Höchsten zugewandt!“ (ebenda, S. 2) Das dem Hochland zur Aufgabe gesetzte Ziel, „das ganze heutige Kulturleben in all den zu seiner Erkenntnis wesentlichen, für seinen Fortschritt wirksamen Äußerungen und Ausstrahlungen zu überschauen, zu begleiten, [...] zu beeinflussen“ (ebenda), verfehlt gerade die im Feldsinne „hohe Literatur“, wenn es „die höheren Güter des Lebens“ und „den Wert einer Kultur, die sich nicht bloß auf das Materielle, den Verstand und Geschmack richtet, sondern auch auf Herz und Gemüt, auf das ganze ethisch-religiöse Sein und Verhalten des Menschen“ (ebenda, S. 2f.) gleichsetzt. Hier artikuliert sich ein veraltetes normatives Verständnis von Literatur mit modernen Ambitionen, dem die ‚höchsten Weihen‘ des literarischen Feldes versagt bleiben müssen. Muth, Karl: „Ein Vorwort zu ‚Hochland‘“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 1. Jg. (1903), Nr. 1, S. 1–8, hier: S. 6. Haefs: „Nachexpressionismus“, S. 75. Muth: „Ein Vorwort zu ‚Hochland‘“, S. 3.

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„Mangel an Interesse“20 an dem zugrunde liegt, was den Zustand des literarischen Feldes kennzeichnet – und das ist der Einbruch der Moderne: „Über vielen belletristischen Hervorbringungen auf katholischer Seite liegt ein Hauch von Unmodernem, von kaum überwundenem Dilettantismus, von Langweiligkeit und Halbheit, dem Leben fest ins Auge zu schauen und das Geschaute mit sinnlich wirksamen Farben zu schildern. Denn das würde ihnen unfehlbar den Vorwurf zuziehen, sie seien ‚modern‘“21. Hier deutet Muth an, dass die Orientierung an den herrschenden Avantgarden zu den Bedingungen des Eintretens ins literarische Feld zählt. Unschwer sind hinter seinen Worten die um 1900 wichtigsten Strömungen zu erkennen: die „dem Leben fest ins Auge“ schauenden naturalistischen und realistischen sowie die „mit sinnlich wirksamen Farben“ schildernden ästhetizistischen bis impressionistischen Avantgarden, die Muth mit moderner Literatur gleichsetzt – auch wenn „wir deshalb noch lange nicht jeden litterarischen Unsinn, der das Heil der Poesie heute im schmutzigsten Naturalismus und morgen in überspanntem Symbolismus und Mysticismus sucht, mitzumachen brauchen“22. Es gilt, die formale und stilistische Zweitrangigkeit katholischer Literatur zu überwinden – denn der Fortschritt der modernen Dichtung [...] [liegt] in der Technik der Sprache und des Aufbaus, in der sprachlichen Anpassungsfähigkeit an die realen Dinge der Außenwelt, in dem großartig entwickelten Wirklichkeitssinn, in der eigenartigen Beobachtungs- und Charakterisierungskunst und zum Teil vielleicht auch in der Stoffwahl. Die Behandlung des Stoffes wird allerdings bei uns hin und wieder in anderer Richtung erfolgen, und auch in der Wahl des Stoffes werden sich die Werke katholischer Autoren häufig von denen der nicht katholischen Litteratur unterscheiden.23

Unterwirft sich die katholische Literaturkritik den Forderungen nach ästhetischer Autonomie und – wenngleich eingeschränkter – stofflicher Modernität (und dafür stehen neben Muth auch Hochland-Autoren wie Fuchs, Theodor Haecker, Gertrud von le Fort oder Joseph Wittig), so unterwirft sie sich – vermittelt über die Gesetze des literarischen Feldes – damit zugleich auch der Dominanz desjenigen kanonisierten Autors, dessen Name als Synonym für stilistische Meisterschaft anerkannt ist: Goethe. Muth verbeugt sich denn auch im Vorwort zur ersten Ausgabe des Hochland vor dem Dichterfürsten, indem er ihn an exponierter Stelle zitiert: ‚Wie Natur im Vielgebilde/ Einen Gott nur offenbart,/ So im weiten Kunstgebilde/ Webt ein Sinn der ewigen Art;/ Dieses ist der Sinn der Wahrheit,/ Der sich nur mit Schönem schmückt/ Und getrost der höchsten Klarheit/ Hellsten Tags entgegenblickt.‘ In diesem Geiste aber – das sagen wir mit allem Nachdruck – stellen wir uns voll und ganz in unser gegenwärtiges Leben, mitten in unsere moderne Kultur und auf den Boden unseres gesunden, deutschen und christlichen Volkstums.24

20 21 22 23 24

Muth: Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?, S. 50. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Muth: „Ein Vorwort zu ‚Hochland‘“, S. 4.

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Der Übervater Goethe ist jedoch ein problematisches Vorbild für eine spezifisch katholische Literaturbewegung, gilt er doch als Gründerfigur einer nationalen Kultur und Literatur, die die Züge des Protestantismus trägt, wo nicht gar ihre christliche Prägung überhaupt in Frage steht. Während katholische Literaturkritiker wie Richard Kralik daher Goethe und die von ihm ausgehende Entwicklung der Literatur des 19. Jahrhunderts hin zur literarischen Moderne ablehnen und sich damit aus dem Feld bzw. dessen herrschenden Fraktionen ausschließen – dies belegen solch anachronistische Forderungen wie die nach einer an mittelalterliche Traditionen und die BarockSprache anknüpfenden Dichtung –, etabliert Muth eine Position, die das ästhetische Paradigma akzeptiert und um einen eigenen katholischen Beitrag ergänzt. Dieser besteht darin, eine formal anspruchsvolle und stilistisch „auf der Höhe der Zeit“ sich befindende Literatur mit christlichen Inhalten und Werten zu füllen. Diese Position, die die katholische Literaturbewegung bis in die dreißiger Jahre prägen wird, ist von einer zutiefst ambivalenten Modernität: Sie erkennt die für die Autonomie der literarischen Moderne unerlässliche Orientierung an Stil- und FormPhänomenen an, nicht aber deren tendenzielles Primat, das zugunsten einer inhaltlichen Orientierung geleugnet wird. Um diese Poetologie abzusichern, beruft sich die katholische Literaturbewegung auf – katholische bzw. konvertierte – Vorbilder, die ebenfalls recht ambivalent sind: Joseph von Eichendorff und Friedrich Schlegel.25 So findet sich das mit der Bedeutung des Inhalts und der Gesinnungsethik argumentierende Muster der katholischen Literaturbewegung bereits 1887 bei Heinrich Keiter, der Goethes ästhetische Autorität würdigt, aber seine moralische Integrität in Zweifel zieht und auf seinen mangelnden Patriotismus oder seine ‚Libertinage‘ hinweist. Er hebt Eichendorffs Einsatz in den Befreiungskriegen gegen Napoleon hervor und stellt damit seine nationale Vorbildfunktion über diejenige Goethes: Er [Eichendorff, K. L.] opferte seine Laufbahn dem Vaterlande, er schlug sein Leben in die Schanze, während um dieselbe Zeit der größte deutsche Dichter [gemeint ist Goethe, K. L.] seinen Sohn August hinderte, in die Reihen der Freiheitskämpfer einzutreten!26

Gerade angesichts der Tatsache, dass die nationale Gesinnung des katholischen Milieus nach Kulturkampf und päpstlichem Unfehlbarkeitsdogma als höchst zweifelhaft galt, verdeutlicht diese Schilderung den dringenden Wunsch, in die (kultur-)protestantisch dominierte Nation integriert zu werden und gleichzeitig eine ethische wie ästhetische Überlegenheit zu behaupten. Um jedoch eine katholische Vorbildlichkeit auch stilistisch zu etablieren, konstruiert Keiter zwei gegensätzliche Überlieferungs-Reihen, in denen er Protestantismus, Areligiosität, Klassik und Antike sowie Katholizismus, 25 26

Vgl. zu dieser Traditionslinie allgemein Osinski, Jutta: „Goethe oder Eichendorff? Katholische Literaturmodelle des 19. Jahrhunderts“, in: German Life and Letters, LIII. Jg. (2000), Nr. 2, S. 143–161. Keiter, Heinrich: Joseph von Eichendorff. Sein Leben und seine Dichtungen, Köln: Bachem in Comm., 1887, S. 32.

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Christentum und Romantik miteinander verbindet. Aus der an Eichendorff (und Schlegel) demonstrierten Überlegenheit der zweiten Traditionslinie gegenüber Goethe folgt für Keiter – ohne dass er dies näher begründet – der ästhetische Vorrang der christlichkatholisch-romantischen Position. In der Tat kann sich eine solche ethisch fundierte Poetologie auf Eichendorffs Verständnis der Romantik berufen. In seiner literaturgeschichtlichen Schrift Der deusche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum beschreibt Eichendorff Goethe als einen der Natur verhafteten Dichter, der als Schöpfer einer klassischen „Kunstreligion“ zu würdigen sei. Doch zugleich unterwühlte diese Kunstreligion [...] den Boden der Poesie. Da nämlich in ihr notwendig das ethische Element nur ein untergeordnetes sein kann, so glaubt sie es auch ignorieren oder mit vornehmer Geringschätzung behandeln zu dürfen. Sie kennt im Grunde bloß ein poetisches Gewissen und Sünden gegen den heiligen Geist der Kunst. Die Tugend soll nur durch die Schönheit ihrer Erscheinung gelten, die Sünde durch schöne Formen sich rechtfertigen können27.

Über diese Haltung, die der Natur und ihrer von Eichendorff durchaus eingestandenen Schönheit verfallen ist, gilt es hinauszugehen und sie in einer christlichen Botschaft aufgehen zu lassen: Die Vermittlung zwischen der sichtbaren Natur, wie sie bei Goethe unter der schönsten Form in ihrer symbolischen Bedeutung erschienen war, und der Welt des Unsichtbaren unternahm ein neues Geschlecht. Allegorie und Symbolik genügten ihm nicht mehr; es verlangte nach einem wesentlicheren Inhalte, nach einer nahrhafteren Speise für den hungernden, an sich selbst nagenden Geist. So wurde es auf das Positive wieder hingeführt. Goethes Wirklichkeit und Schillers Ideal hatten für dasselbe nur Bedeutung in bezug auf ein Drittes über ihnen, wo beide versöhnt und eins sind: auf die Menschwerdung Christi28.

Eine ähnliche Forderung erhebt Friedrich Schlegel, der jedoch das Katholizismus und Poesie verbindende Leitmotiv von Wahrheit, Einheit und Harmonie wesentlich offener entwirft. So könne man die Poesie überhaupt die transcendentale Erinnerung des Ewigen im menschlichen Geiste nennen, wie sie [...] als das gemeinsame Gedächtnis, oder das höhere ErinnerungsOrgan [sic!] des (ganzen) Menschengeschlechts, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von einer Nation zur andern fortgeht, im wechselnden Gewande der Zeiten aber und durch alle Zeiten hindurch doch immer wieder auf jenes Erste und Ewige zurückweist29.

Indem die katholische Literaturbewegung sich auf diese poetologischen Modelle der Romantik berief, fing sie sich auch deren Aporien ein – 27

28

29

Eichendorff, Joseph von: „Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum“: in: Joseph von Eichendorff, Werke. Band III. Schriften zur Literatur, München: Winkler, 1976, S. 173–378, hier: S. 313. Eichendorff, Joseph von: „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“: in: Joseph von Eichendorff, Werke. Band III. Schriften zur Literatur, München: Winkler, 1976, S. 529–925, hier: S. 750. Schlegel, Friedrich: „Philosophie der Sprache und des Wortes. 4. Vorlesung“, Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Bd. 10, Paderborn: Schöningh, 1969, S. 369–534, hier: S. 399.

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das Dilemma, nichtchristliche Literatur der Gegenwart als formalästhetisch gelungen wahrnehmen zu müssen, ohne dem von katholischer Seite anderes als Weltanschauliches entgegensetzen zu können. Das war, wie Schlegels und Eichendorffs Literaturmodelle zeigen, nicht intendiert, hohe formalästhetische Qualität und die richtige christliche Gesinnung sollten ja gerade so vereinbart werden, daß das Poetische nicht inhaltlich fixiert, sondern frei verwirklicht werde.30

Die im Literaturstreit ausgetragenen Gefechte zwischen konservativen Positionen wie denen von Keiter oder Muths Hauptgegner Richard Kralik, und der um Öffnung bemühten Haltung Muths und seiner Mitstreiter erweisen sich letztlich alle als Variationen dieses Dilemmas. Wenn Kralik etwa Romantik und Katholizismus gleichsetzt und nach der Vollendung ihres Einheitsprogramms ruft, hält Muth ihm entgegen, dass gerade die Romantik nicht der Einheit, sondern einer durch Gegensätze erzeugten Sehnsucht verpflichtet gewesen sei; die Klassik dagegen sei Inbegriff der Harmonie von ästhetischem und religiösem Erbe, insofern sie die Verheißung der Religion gleichnisweise vorwegzunehmen und als möglich zu zeigen [versucht], was nach christlichem Glauben im Jenseits wirklich und ewig sein wird. So ist sie in viel höherem Grade eine Bürgschaft des künftigen Schauens als die romantische Kunst, die nur den Weg und das Ziel, aber nicht in gleichem Maße Ankunft und Zustand kennt.31

Das Streben nach Harmonie und Einheit, die Suche nach ethischen Grundsätzen des „poetische[n] Gewissen[s]“ und ewigen Wahrheiten, wie sie Eichendorffs „heilige[r] Geist der Kunst“ offenbart, ein verständlicher, um Einfachheit bemühter, ja zuweilen naiv anmutender Stil – all diese Merkmale aus dem Programm einer Katholizismus, Romantik und Nachexpressionismus amalgamierenden literarischen Richtung finden sich auch in Picards Das Menschengesicht. Seine Poetologie weist deutliche Affinitäten zur katholischen Literaturbewegung auf. Picards Nähe zum Katholizismus ist nicht allein literarischer Natur, sie schlägt sich auch biographisch nieder und wird später in Picards Entscheidung gipfeln, zum katholischen Glauben zu konvertieren: Am Osterdienstag 1939 lässt er sich taufen.32 Nach dem Zeugnis seines Freundes Karl Pfleger kam dagegen „[d]er Protestantismus [...] für ihn nie in Betracht. [...] Wahrscheinlich wegen des lutherischen Welthasses und Seinsmisstrauens.“33

30 31 32

33

Osinski: „Goethe oder Eichendorff?“, S. 153. Muth, Karl: Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens, Kempten, München: Kösel-Verlag, 1909, S. 89. „Ich hätte Ihnen schon lange schreiben sollen, auch danken sollen und auch schreiben können. Aber was geschehen ist, das ist auf eine so stille und einfache Weise an Ostern geschehen, dass ich erst heute daran denke, es Ihnen mitzuteilen: ich bin am Osterdienstag in die heilige Kirche aufgenommen worden.“ (Brief von Picard an Karl Pfleger vom 29. Mai 1939, in: Picard, Max: Briefe an den Freund Karl Pfleger, Erlenbach-Zürich, Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag, 1970, S. 44) „Karl Pflegers Brief an Rev. John M. Oesterreicher“, in: ebenda, S. 135. Dies mag für das bewusste persönliche Bekenntnis Picards zutreffen, seine literarische Produktion hat der Protestantismus jedoch durchaus beeinflusst. Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 9.1.

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Dieser Entschluss, zu konvertieren, bringt ihm den Vorwurf ein, er habe sein Judentum verraten und sei angesichts des herrschenden Antisemitismus eingeknickt. Sicher ist dieser Kontext nicht von der Hand zu weisen – eine solche Entscheidung wird 1939 unweigerlich auch als ein politisches Zeichen gelesen. Und Picard ist nicht vollkommen resistent gegen den Antisemitismus, wie antisemitische Klischees in seiner medizinischen Dissertation sowie in Das Ende des Impressionismus zeigen34; z. T. finden sich solche Klischees auch noch im Menschengesicht.35 Doch dem Glaubenswechsel geht eine sehr intensive und lange währende Beschäftigung mit dem Katholizismus voraus, die zumindest eines deutlich macht: Der Hinwendung zum Katholizismus liegt ein aktiver Aneignungsprozess zugrunde, für den weniger der herrschende Antisemitismus als andere Beweggründe relevant gewesen sein dürften – nicht zuletzt die Versprechungen der katholischen Literaturbewegung, in deren Schwanken zwischen Konservativismus und Moderne zahlreiche ex- und nachexpressionistische Intellektuelle einen Ausweg aus der Krise der zivilisatorischen Moderne sahen. Und es ist sicher kein Zufall, dass drei der engsten Freundschaften Picard mit Katholiken verbinden, für die der Glaube ein wichtiger Bezugspunkt ihres Werkes wurde: Rudolf Kassner, Wilhelm Hausenstein und Karl Pfleger. Mit letzterem – einem katholischen Priester – unterhält Picard seit 1932 einen Briefwechsel, der in Teilen erhalten und veröffentlicht ist. Aus ihm geht einerseits hervor, dass die Beschäftigung mit Fragen und Themen des katholischen Glaubens Picard sein Leben lang beschäftigten. Andererseits zeigt die Korrespondenz mit Pfleger auch, dass Picard religiöse Fragen – soweit sie seine Person betreffen – als sehr private, ja intime Angelegenheit behandelte. Selbst der in Glaubensdingen mit ihm vertraute Geistliche zeigt sich überrascht von Picards Entscheidung, zu konvertieren und bekennt, „dass ich von den Motiven seiner Konversion nichts weiss. [...] Kein Wort von Konversion. Als es soweit war, bekam ich die kurze Mitteilung, er sei getauft worden.“36 Picards auch persönlich enge Verbindung mit dem Katholizismus ist ein Aspekt jenes sozialen Swerving, das sich im eigenen und fremden Rückblick oft als zielstrebige Bahn darstellt, sein Ziel jedoch nicht ohne jene Neigung zu Ab- und Umwegen zu erreichen vermag, die dem sozialen Subjekt inhärent sind.37 Dass gerade die Bedeutung der Religionsfrage bei Picard sich in die Metapher des Swerving fassen lässt, zeigen seine Schriften ebenso wie die Korrespondenz mit Pfleger. Es war für ihn eine Auseinandersetzung von großem literarischen wie privaten ‚Gewicht‘, die ihm offenbar nicht leicht gefallen ist und ihn ‚umgetrieben‘ hat. So kehrt er gegen

34 35 36 37

Vgl. hierzu ausführlich oben S. 333f. und S. 340. Vgl. hierzu oben S. 395. „Karl Pflegers Brief an Rev. John M. Oesterreicher“, in: Picard: Briefe an den Freund Karl Pfleger, S. 132f. „An enacted imbalance or deviation is providential, for a perfect sphere would roll straight to social, theological, legal disaster: success lies in a strategic, happy swerving. [...] This deflection can be revealed only in movement.“ (Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 68)

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Ende seines Lebens wieder zum jüdischen Glauben zurück38, ohne dass dies seine Bindung an den Katholizismus zerstört: Picard verfügt, dass ein katholischer Priester an seinem Grab gemeinsam mit einem jüdischen Rabbi die Trauerrede hält.39 Doch kommen wir zurück zum literarischen Werk: Bereits ein flüchtiger Blick auf die Bildtafeln im Menschengesicht verrät die Spuren der katholischen Literaturbewegung: Unter den als Porträts abgebildeten Persönlichkeiten findet sich Papst Leo XIII., der als Nachfolger des vehement antiliberalen ‚unfehlbaren‘ Pius IX. für eine offenere oder zumindest weniger harte Haltung des Vatikan steht. Er galt aufgrund seiner Hinwendung zur Sozialen Frage als ‚Arbeiter-Papst‘ und war eine wichtige Bezugsfigur für Muth und die katholische Literaturbewegung.40 Darüber hinaus sind im Menschengesicht mit Joseph von Görres und Annette von Droste-Hülshoff zwei der wenigen bedeutenden Literaten, auf die sich eine katholische Literaturgeschichte berufen konnte, als Porträts vertreten. Und Eichendorff, den Picard bereits im Letzten Menschen als „den Dichter“41 geadelt und zitiert hatte, wird in Das Menschengesicht mit einem längeren Ausschnitt aus Ahnung und Gegenwart angeführt – einer Passage, in der eben jener Geist eines „neue[n] Geschlecht[s]“ anklingt, den Eichendorff in Der deusche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum beschworen hatte: Kometen und wunderbare Himmelszeichen zeigen sich wieder, Gespenster wandeln wieder durch unsere Nächte, fabelhafte Sirenen selber tauchen, wie vor nahen Gewittern, von neuem über den Meeresspiegel und singen, alles weist wie mit blutigen Fingern warnend auf ein großes unvermeidliches Unglück hin. Aus dem Zauberrauche unserer Bildung wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren; wessen Auge in der Einsamkeit geübt, der sieht schon jetzt in den wunderbaren Verschlingungen des Dampfes die Lineamente dazu aufringen und sich leise formieren. Ein unerhörter Kampf zwischen Altem und Neuem beginnt, ... bis endlich die neue und doch ewig alte Sonne durch die Greuel bricht, die Donner rollen nur noch fern ab an den Bergen, die weiße Taube kommt durch die blaue Luft geflogen, und die Erde hebt sich verweint, wie eine befreite Schöne, in neuer Glorie empor. O Leontin! Wer von uns wird das erleben!42

Die deutlich apokalyptischen Züge – die „wunderbare[n] Himmelszeichen“, „Kriegsgespenster“, usw. – entsprechen zunächst eher dem Letzten Menschen und seinen Untergangsvisionen, doch wendet sich die negative Gewalt der Zerstörung bei Eichendorff 38 39 40

41 42

Vgl. Picard, Michael: „Max Picard. Mensch und Werk“: in: Max Picard, Briefe an den Freund Karl Pfleger, Erlenbach-Zürich, Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag, 1970, S. 137–156, hier: S. 137. Vgl. Buchmayr: „Max Picard und das ‚apokalyptische‘ Denken“, S. 783. Sein Portrait findet sich im Buchdeckel des 2. Hefts des Hochland, das ihm mit einer Bildbesprechung („Unsere Bilder“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 1. Jg. (1903), Nr. 2, hier: S. 256), einem weiteren Artikel (Weech, Friedrich von: „Erinnerungen an Papst Leo XIII.“, ebenda, 1. Jg. (1903), Nr. 2, hier: S. 184ff.) und zwei Hinweisen auf jüngst erschienene Biographien über Leo XIII. einen Schwerpunkt widmet. Picard: Der letzte Mensch, S. 105. Eichendorff, Joseph von, Ahnung und Gegenwart. Ein Roman, 1815, S. 291f., zit. n. Picard: Das Menschengesicht, S. 118f. Das Zitat wurde von Picard gegenüber dem Original leicht verändert.

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

zur positiven Kraft der Neuschöpfung, die „sich verweint, wie eine befreite Schöne, in neuer Glorie empor[hebt]“. Die Passage (prä-)figuriert damit – im Sinne einer impliziten Poetologie – auch ein poetologisches Programm, wie es Nachexpressionismus und katholische Literaturbewegung entwerfen und wie es auch Picards Menschengesicht zugrunde liegt. Die Wahrheit des Glaubens befreit das Schöne und Positive aus den Fängen der modernen literarischen Negation und Kritik, ohne dabei letzterer aus dem Wege [zu] gehen , sie durch gefährliches Ignorieren zu bekämpfen [zu] suchen und den Kopf in den Sand [zu] stecken [...] In demselben Maße, wie unter dem aufzehrenden Spöttergeist eines rationalistischen und eines materiellen Zeitalters zahllose Quellen seelenvollen Volkstums versiegten, in demselben Maße, wenn auch langsamer, werden sie wieder aufsprudeln, sobald der Hirnkulturmensch die Herrschaft abgegeben hat an ein Menschentum, dessen christlichhumane Lebensansicht wieder Wärme und Heiterkeit in unser frostiges Dasein hineinstrahlt.43

Eichendorff gehört zusammen mit den Protestanten Jean Paul, Hölderlin und Matthias Claudius zu den Dichtern, die Picard am häufigsten zitiert. Insbesondere letzteren verbindet – obgleich protestantischen Ursprungs – nicht nur sein einfacher bis naiver Stil und eine demütige Volkstümlichkeit mit Eichendorffs Programm einer christlichkatholischen Ästhetik. Claudius ist auch institutionell mit der katholischen Romantik verbunden: Er wird 1812 Mitarbeiter der von Friedrich Schlegel herausgegebenen konservativ bis reaktionär orientierten Zeitschrift Deutsches Museum. Claudius steht zudem wie kaum ein anderer für jene romantische Sehnsucht nach Harmonie und Ausgleich, nach Einfachheit und Verständlichkeit, nach Volks- und Gottverbundenheit, die die katholische Literaturbewegung über Eichendorff und Schlegel aufnimmt und die auch in den Nachexpressionismus einfließt. Sehnsucht nach Geborgenheit und fromme Hoffnung sprechen etwa aus Claudius’ von Picard zitierter „Antwort an Andres auf seinen letzten Brief“44, einem fiktiven Text, den Picard ebenfalls zitiert: Aus jedwedem Stern fließen beständig Strahlen auf jedes Sandkorn der ganzen Erdveste herab: nun ist es aber allerdings sehr unwahrscheinlich, daß eine so große Menge einer Materie, die so schnell so weit herkommen kann und aus so schönen, unvergänglichen Körpern kommt, ohne alle Wirkung sein sollte. Mich dünkt, der bloße Eindruck in einer heiteren Nacht lehrt’s einen auch schon, daß die mit so unbeschreiblicher Freundlichkeit leuchtenden Sterne nicht kalte, müßige Zuschauer sind, sondern Angehörige der Erde und Freunde vom Hause.45

Die eingangs beschriebenen „Strahlen“ lassen sich als direkte Quelle der Picard’schen ‚Sternenlinien‘ verstehen, jenes für Picards Frühwerk zentralen Motivs. Claudius stellt also einen wichtigen intertextuellen Einfluss für Picard dar. 43 44 45

Muth: „Ein Vorwort zu ‚Hochland‘“, S. 5. Der „letzte Brief“, auf den der Titel hinweist, ist ein fiktiver Brief, dessen ebenso fiktiver Autor ein alter ego Claudius’ darstellt. Claudius, Matthias, Antwort an Andres auf seinen letzten Brief, in: Ders., Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Bd. III, 1777, S. 127, zit. n. Picard: Das Menschengesicht, S. 163.

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Es sind die Anleihen bei einer gläubigen romantischen Poetologie, die Das Menschengesicht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch prägen und einen deutlichen Bruch mit den expressionistischen Texturen des Letzten Menschen darstellen. An die Stelle des parataktischen Textaufbaus, der Bildbrüche und der die literarische Moderne in weiten Teilen kennzeichnenden Tendenz zur „Unverständlichkeit“46 tritt eine Sprache, die um Einfachheit, um den harmonischen Ausgleich von Gegensätzen oder das Abrunden von Brüchen bemüht ist und dem Verstehen kaum Hindernisse entgegenstellt. Wie das Gesicht Ausdruck der Seele und ihrer bewegten Einheit ist, so soll die Sprache Spiegel eines einfachen und unkomplizierten, harmonischen und ganzheitlichen, wenngleich nicht festgefügten transzendenten Sinns sein – und entsprechend einfach und komplexitätsreduzierend wird sie von Picard verwendet: Die Seele ist eine Einheit, eine Ganzheit, und was der Seele im Ausdruck des Gesichts entspricht, das muß auch eine Einheit, eine Ganzheit sein. Wenn die Seele zum Beispiel lächelt, so lächelt das Ganze der Seele. Darum kann man auch ein Lächeln im Gesicht nicht in Teile zerlegen und an bestimmte Muskelgruppen fixieren. Das Lächeln ist durch die Ganzheit des Gesichtes durchgewoben und nicht herauszunehmen.47

Die Hoffnung auf eine Überwindung des ‚garstigen Grabens‘ zwischen Textur und Sinn, zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Zeichen und Bedeutung wird nicht aufgegeben. Picards Wellentheorie des Gesichts, die ich als eine Wellentheorie der Sprache gelesen habe, ist thematisch wie stilistisch der markanteste, und literarisch der wohl gelungenste Ausdruck seines nachexpressionistischen Bemühens um Harmonie und Ausgleich, dem zahlreiche ästhetisch eher mediokre Beispiele zur Seite stehen. Auch dieser Umstand – für eine feldtheoretische Sozialgeschichte der Literatur und die von ihr nachzuzeichnenden Um- und Abwege weder irrelevant, noch ihr einziger Maßstab – verbindet ihn mit Eichendorff und Claudius...

8.2 „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“. Picard und die Unmöglichkeiten einer deutsch-jüdischen Literatur Wie die Suche nach einer ‚katholischen Literatur‘ wird auch eine andere ‚Literaturbewegung‘ geprägt von den Spannungen zwischen einer eigenständigen teilautonomen literarischen Ästhetik und (identitäts-)politischen Bestrebungen mit zumindest teilweise religiösem Einschlag, die den Autonomie-Tendenzen partiell entgegenstehen: Die Rede ist von den Versuchen eine „deutsch-jüdische Literatur“ 48 zu definieren und zu etablie46

Vgl. hierzu oben S. 184ff. Picard: Das Menschengesicht, S. 63f. 48 Vgl. zum Folgenden, insbesondere zum Begriff einer „deutsch-jüdischen Literatur“ die historischdiskursanalytische Darstellung Kilcher, Andreas B.: „Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘? Eine historische Diskursanalyse“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik 47

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

ren. Trotz der strukturellen Ähnlichkeit mit der katholischen Literaturbewegung besitzen diese Versuche aber ein gänzlich anderes Profil und Format – ihre in sich höchst differenten Voraussetzungen und Zielsetzungen unterscheiden sich teilweise erheblich nicht nur von denen eines Kralik, sondern auch von denen eines Muth oder Fuchs. So ist das Modernitätsniveau der wichtigsten Protagonisten der deutsch-jüdischen Literaturbewegung ein ganz anderes. Während die gesamte katholische Literaturbewegung als Versuch einer rückständigen Fraktion des literarischen Feldes bezeichnet werden kann, der literarischen Moderne hinterherzulaufen – ein wenig erfolgreicher Versuch zudem –, zeichnen sich viele der Autoren, die man mit der deutsch-jüdischen Literatur in Zusammenhang bringen kann, durch ein beträchtliches Innovationspotential aus. Für diese Unterschiede sind nicht zuletzt die ganz verschiedenen Orte im sozialen Raum und in den kulturellen Feldern, sowie die mit diesen verknüpften Identitätspolitiken katholischer und jüdischer Bevölkerungsgruppen verantwortlich. Als Indiz mag auch hier die metaphorische Rede dienen: Der von Fuchs für den Katholizismus verwendeten Metapher der fremd- wie selbsterrichteten „Festung“ ‚entsprechen‘ Selbstund Fremdbilder, die von der jüdischen Rast- und Orientierungslosigkeit bis zur ‚Assimilation‘ jüdischer Kultur reichen. In mehrfacher Hinsicht spitzt Franz Kafkas literarische Beschäftigung mit jüdischer Identität die Position eines westeuropäischen und deutschsprachigen Judentums zu. An Milena Jesenská schreibt er: Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden49.

Und diese „übertrieben ausgedrückt[e]“ Rastlosigkeit zeichnet auch die Protagonisten seiner Romane Das Schloß und Amerika (ursprünglich: Der Verschollene) aus, die eine unruhige und zunehmend ihres Sinns verlustig gehende Suche nach dem „Westen“ antreten – im Schloß lautet der Name des ebenso unauffindbaren wie unerreichbaren Schlossbesitzers „Graf West-West“, und Amerika repräsentiert das Westlichste der westlichen Welt. Der ‚Westen‘ aber steht als literarisches Symbol für das Bestreben des assimilierten Judentums, in einer westlich-europäischen Kultur der Aufklärung aufzugehen. Kafkas Schreiben auf eine reine Übersetzung oder Darstellung seines (Ver-)Zweifelns am assimilatorischen Projekt zu reduzieren, wäre nicht nur verkürzend,

49

und Kulturwissenschaft, 45. Jg. (1999), Nr. 4, S. 485–517, sowie allgemein zum Verhältnis von Literatur, Moderne und jüdischer Renaissance zwischen Antisemitismus, (Kultur-)Zionismus und Assimilation: Cresti, Silvia: „Aporien der jüdischen Identität. Literatur und Judentum in der Zeitschrift Der Jude von Martin Buber“, in: Wolfgang Benz, Arnold Paucker und Peter Pulzer (Hrsg.): Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. Jews in the Weimar Republic, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 253–267; Volkov, Shulamit: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deuschland, München: Stiftung Historisches Kolleg, 1992. Kafka an Milena Jesenská, November 1920, in: Kafka, Franz: Briefe an Milena, hrsg. v. Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1983, S. 294.

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sondern eine Ignoranz gegenüber der Komplexität, mit der er die weit über das Judentum hinausreichenden ‚Krise(n) der Moderne‘ verarbeitet. Aber es ist ein bedeutender Aspekt seines Werkes, und wenn er in einem nachgelassenen Aphorismus aus dem Frühjahr 1918 schreibt, „[e]s gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern“50, so sind die Parallelen zwischen der Lage des Judentums und der Orientierungs- und Ratlosigkeit des Landvermessers K oder der Verschollenheit des Karl Roßmann unverkennbar. Auch der Kreis von Autoren und Adressaten, die sich mit der Frage nach einer deutsch-jüdischen Literatur beschäftigen, sowie die aus dieser Beschäftigung hervorgegangenen kulturellen und politischen Folgen sind nicht vergleichbar mit denen der katholischen Literaturbewegung. Stellt letztere vornehmlich eine Form der Selbstverständigung nach innen dar, deren Einfluss kaum über die Binnendiskussion hinausreichte, erstreckt sich der Widerhall jüdischer Schriftsteller über das gesamte literarische Feld – und darüber hinaus. Doch nicht nur die Adressaten, auch die Autoren, die nach einer deutsch-jüdischen Literatur suchten, reichen weit über die Kreise des intellektuellen Judentums hinaus; zu ihnen zählen u. a. die Vertreter einer antisemitischen Literaturkritik. Auch sie zeigen, dass Herkunfts- und Wirkungskreis des Diskurses über deutsch-jüdische Literatur sowohl über die Grenzen des Judentums wie über die des literarischen Feldes hinausreichen. Mit fatalen (Er-)folgen. An dieser Stelle möchte ich die Schwierigkeiten eines Schreibens über Spezifika jüdischer Kultur nach Auschwitz explizit machen. Ein Betonen der Eigenheiten einer deutsch-jüdischen Kultur wird leicht zur philosemitischen Überbetonung der kulturellen Produktion jüdischer Autoren, und droht die vom Antisemitismus gerade auch in der Literaturwissenschaft betriebene Suche nach diagnostizierbaren, distinktiven und bekämpften Merkmalen des ‚Jüdischen‘ zu berühren; dagegen läuft eine allzu leichtfertige Gleichsetzung jüdischer Kultur mit anderen Strömungen, die sich zu einem nationalen Kulturgemenge mischen, Gefahr, das Vernichtungswerk des Nationalsozialismus an ebendieser jüdischen Kultur durch die historische Forschung bis in die Weimarer Zeit hinein zu verlängern, indem es die Eigenständigkeit ihres Beitrag nicht ausreichend herausarbeitet – auch wenn dieser Beitrag nie als von den anderen getrennter existiert hat. Wenn es im Folgenden um die Suche nach einer jüdischen Identität(spolitik) in der Literatur geht, soll daher vorab klargestellt werden, dass die aufgeworfenen Fragen z. T. auch die des Antisemitismus sind. Aber nicht nur: Sie sind ebenso das Anliegen deutsch-jüdischer Kulturakteure, das in Konfrontation mit den zeitgenössischen Diskursen des Nationalismus, des Rassismus und der Zivilisationskritik zu Berührungen mit dem Antisemitismus und gelegentlich auch zur Übernahme seiner Motive führt. 50

Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Bd. II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1992, S. 118.

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Auch in den Metaphern der Rast- und Heimatlosigkeit, vom Herumirren und der Verschollenheit, mischen sich historische Erfahrung, antisemitisches Klischee und die allgemeine kulturelle ‚Krise des Historismus‘. Die kulturellen Elaborate, die aus dieser hier nur grob skizzierten Konfiguration entstehen, lassen aber – um mit Kafka gegen Kafka zu sprechen – bei aller Verschollenheit einen Weg in die Moderne entstehen, der spezifisch jüdische Pfade enthält. Der Beitrag jüdischer Kultur und insbesondere ihrer religiösen Überlieferung zur kulturellen Moderne ist mehr als Assimilation; und er ist auch nicht –wie der Reformkatholizismus und die protestantische Modernisierung etwa des Eckart-Kreises – eine zwischen Reform und antimoderner Polemik schwankende Anpassung einer überalterten Tradition an die Moderne. Kafkas Ziel ohne Weg ist ein genuiner Beitrag zur Moderne: Indem er das Moderneproblem radikal verschärft, geht er über den Versuch einer Anpassung oder einer rückwärtsgewandten Suche nach verlorengegangenen Sicherheiten hinaus. Er steht damit auch für eine jüdisch inspirierte Beschäftigung mit Literatur, die zumindest partiell ein höchst avancierter Teil der Moderne-Bewegung ist, nicht ein Nachzügler. Vielleicht ist auch hier die Metapher des Swerving hilfreich: Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg – diese subjektiv erfahrene und literarisch radikalisierte Aporie Kafkas gilt es als soziales Phänomen ernst zu nehmen. Muss die Suche nach einer gesicherten jüdischen Identität scheitern, so bedeutet das nicht zwangsläufig die Absage an ein eigenes ‚inneres‘ Gewicht jüdischer Kulturtraditionen, von dem ein spezifischer swerve oder effet ausgeht. Und die Peripetien wie Abwege dieses Swerving vollziehen sich nicht zuletzt in den Debatten, die – über Juden und zwischen Juden – um die Rolle einer spezifisch jüdischen Literatur oder allgemeiner um die Frage einer deutsch-jüdischen Literatur geführt werden. Um Antworten auf die Frage nach einer deutsch-jüdischen Literatur wird intensiv gestritten zwischen den – vorwiegend – jüdischen Anhängern eines kulturellen oder politischen Zionismus und der Assimilation. Als Stichwortgeber muss jedoch auch der Diskurs des Antisemitismus genannt werden: Auf der Suche nach einem ‚jüdischen Element‘, das innerhalb eines ‚deutschen Wesens‘ als isolierter ‚Fremdkörper‘ existiert, und nach Methoden, die dieses Element zu identifizieren, zu diskriminieren, dingfest zu machen und schließlich auszulöschen erlauben, wenden die Rassentheoretiker sich auch der Literaturwissenschaft zu. Schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellt Eugen Dühring der Germanistik die Aufgabe, „die Judäer und den von ihnen ausgegangenen Geist oder vielmehr Ungeist“51 kenntlich zu machen und ihren „schädlichen Einfluss auf die Literatur“52 herauszuarbeiten. Für die Umsetzung dieser Forderung und für die spätere Eingliederung und Verwirklichung des Programms im Rahmen des nationalsozialistischen Vernichtungs-Projekts sorgte dann neben anderen der Literaturwissenschaftler Josef Nadler 51 52

Dühring, Eugen: Die Größen der modernen Literatur populär und kritisch dargestellt. Bd. II, Leipzig: Verlag von Theod. Thomas, 1910 [1893], S. 458. Ebenda.

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(1884–1963). Er setzt dabei – wie schon sein Vorgänger Dühring – den literaturgeschichtlichen Einfluss von Judentum und avantgardistischer Moderne gleich und hält beiden eine deutsche Volks- und Heimatkunst entgegen. Die Funktionalisierung der Literaturwissenschaft bzw. der völkischen Germanistik zur potentiellen Hilfswissenschaft von Rassenkunde und Rassenhygiene stößt allerdings trotz ihres extrem komplexitätsreduzierenden ideologischen Fundaments dort auf Schwierigkeiten, wo sie mit einer eigenen Methodik zu Dienste sein möchte: Die Übernahme literaturexterner rassentheoretischer und -physiognomischer Distinktionsmerkmale – ‚Blut‘, Name, Herkunft sowie Gesichts- und Körpermerkmale – in die Literaturwissenschaft, und ihre Anwendung auf des ‚Jüdischen‘ verdächtige Autoren vermag die Begierde nach Diskriminierung nicht zu stillen. Sie stellt zum einen keinen genuin literaturwissenschaftlichen Beitrag dar; und sie reibt sich zum anderen an ihrem eigenen Klischee – der ‚jüdischen Mimikry‘ oder ‚Mimesis‘53: So konstatiert etwa der Literaturhistoriker Adolf Bartels 1925: „[D]ie Neigung zur Täuschung hat immer im jüdischen Volke gesteckt“54. Diese Position hatte er bereits 1903 in Kritiker und Kritikaster vertreten: So ganz leicht ist es nicht, das Judentum in der Literatur überall zu entdecken, und die Juden erheben jedesmal ein Freudengeschrei, wenn man einen Nichtjuden als Juden und einen Juden als Nichtjuden hinstellt. Die Schwierigkeit liegt aber keineswegs in der Unsicherheit unserer Rassentheorie, sondern zunächst an dem Vertuschungssystem der Juden selbst. [...] So bemächtigen sich die Juden der Kultur der Völker, unter denen sie leben, und sie tun das mit einem großen, ihnen durch ihr Wanderdasein anerzogenen Geschick; wirklich Wurzeln schlagen in der fremden Kultur können sie [...] natürlich nicht, vielmehr nur nachempfinden und nachmachen55.

Gerade hier nun möchte die Germanistik weiterhelfen. Und so stellt sie dem rassistischen (und später dem nationalsozialistischen) Diskriminierungsprojekt einen Merkmalskatalog zur Verfügung, der auf bereits von Dühring geleistete Vorarbeiten aufbauen kann: „Wo überhaupt die Juden in Presse und Literatur die Hauptmacher und Hauptschreier waren, da bürgerte sich auch die Gemeinheit des Stils und der Manieren immer ein.“56 Und Bartels knüpft daran an, wenn er einen jüdischen Klang von „echtdeutscher“ Dichtung zu unterscheiden versucht: Daß jüdische Dichtung in deutscher Sprache einen anderen Klang hat als echtdeutsche, wissen ja auch wir Laien (‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‘ usw.), ja, wir erkennen auch die jüdische deutsche Prosa als solche, empfinden z. B. ganz deutlich, wo Ludwig Börne mauschelt, und bestimmte Judaismen im modernen Zeitungsstil.57 53 54 55 56

57

Vgl. hierzu Cha: Humanmimikry, Kap. 8.3. Bartels, Adolf: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, Leipzig: Verlag des Bartels-Bundes, 1925, S. 37. Bartels, Adolf: Kritiker und Kritikaster. Pro domo et pro arte. Mit einem Anhang: Das Judentum in der deutschen Literatur, Leipzig: Eduard Avenarius, 1903, S. 104. Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, Karlsruhe, Leipzig: Verlag von H. Reuther, 1881, S. 60. Und in Die Größen der modernen Literatur wies er 1893 auf Börnes und Heines „Singsang und Klingklang“ (Dühring: Die Größen der modernen Literatur, S. 460) hin. Bartels: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, S. 42.

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Doch möchte Bartels sich nicht allein auf die Intuition verlassen und ergänzt Dührings Ansatz um ein modernes Analyseverfahren: „Inzwischen hat sich auch eine Möglichkeit aufgetan, jüdische Dichtung aufgrund ihrer sprachlichen, phonetischen Wesensart zu erkennen, in der Sieversschen Schallanalyse mit ihren Sprachkurven.“58 Auch hier lauert freilich, wie Wilhelm Stapel 1937 mahnt, die Gefahr der Täuschung durch das jüdische Vermögen zur Mimikry – diese Gefahr kam auf leiseren Sohlen als einst die römische, die mit den klirrenden Waffen der Legionen, dann mit lateinischen Predigern auftrat, als die französische, die mit den französischen Diplomaten, Offizieren und Literaten nach Deutschland kam [...]. Die Gefahr kam diesmal nicht in einer fremden Sprache, sondern im Gewande der eigenen Sprache. Aber das feinere Ohr verspürte doch, daß von den jüdischen Literaten nur eine scheinbar deutsche Sprache gesprochen wurde. Eine Untersuchung der deutsch-jüdischen Literatur auf das Sprachliche hin zeigt, daß das Judendeutsch einer anderen Innervation, einem anderen Gestus, einem anderen Klang, einem anderen Verhältnis zu Bild und Abstraktion, einem anderen Gemüth entstammt.59

Auch der Zionismus sucht in seiner Auseinandersetzung mit einer neu- oder wiederzugewinnenden Identität des Judentums nach spezifisch jüdischen Elementen in der Literatur. Aber gegen eine allzuschnelle und vereinfachende Parallelisierung von Antisemitismus und zionistischer Bewegung (oder genauer: den zionistischen Bewegungen) ist zu sagen, dass es sich hier um ein kultur- bzw. gesellschaftspolitisches Projekt handelte, das u. a. das Ziel verfolgte, dem unterschwellig wirksamen wie dem offenen Antisemitismus eine aktive Interessens-Politik entgegenzusetzen; das zwar mit Rückgriffen auf die Tradition operierte, um eine politisch einsetzbare Identität des Judentums zu konstruieren, das aber diese Identitätskonstruktion als in die Zukunft weisende Aufgabe begriff. 60 Und schließlich spielte hier die Literatur mehr als nur eine Nebenrolle. 58

59

60

Ebenda. Die Sievers’sche Schallanalyse wurde Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und behauptete, einem Text im ‚Vortragsexperiment‘ spezifische Tonlagen, Intervalle und Stimmführungen zuordnen und anhand der dadurch ermittelten ‚Schallform‘ die Autoren eines Textes herausfinden zu können, was Sievers besonders für die Quellenkritik mittelalterlicher und antiker Werke einsetzte. Seine Methode wurde allerdings sehr schnell als rein spekulatives Vorgehen widerlegt. Stapel, Wilhelm: Die literarische Vorherrschaft der Juden in Deutschland 1918 bis 1933, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1937, S. 41. Schon Richard Wagner hatte 1850 sein eigenes „feinere[s] Ohr“ zwecks Eigen- und Fremddistinktion dem Antisemitismus zur Verfügung gestellt: „Als durchaus fremdartig und unangenehm fällt unsrem Ohre zunächst ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck der jüdischen Sprechweise auf: eine unsrer nationalen Sprache gänzlich uneigenthümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und der Phrasenconstructionen giebt diesem Lautausdrucke vollends noch den Charakter eines unerträglich verwirrten Geplappers, bei dessen Anhörung unsre Aufmerksamkeit unwillkürlich mehr bei diesem widerlichen Wie, als bei dem darin enthaltenen Was der jüdischen Rede verweilt.“ (Wagner, Richard: Das Judenthum in der Musik, Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J.J.Weber, 1869 [1850], S. 15, Hervorhebungen im Original) Dass sich etwa Moritz Goldstein schon 1912 sowohl der Gefahren des Antisemitismus wie der Bedeutung des kulturellen Feldes in der Auseinandersetzung mit ihm bewusst war, zeigt sein bekannter, im Kunstwart erschienener Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnaß“, in dem er auf Wagner und Bartels hinweist und konstatiert, „immer mehr gewinnt es den Anschein, als sollte das deut-

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Der verschiedene Charakter des Projekts, die differenten Subjekte und Adressaten des Diskurses und das im Vergleich zum Antisemitismus weitaus größere Komplexitätsniveau des zionistischen Diskurses verbietet also – auch wenn Kilcher zurecht auf die Gefahren einer Berührung der beiden Diskurse hinweist – die einfache Parallelisierung zionistischer und antisemitischer Rede über das ‚Jüdische‘. Die zionistische Bewegung teilt sich in eine im engeren Sinne politische Richtung – die zumeist die Bildung eines eigenen Nationalstaates anstrebt – und eine kulturzionistische Bewegung – der es vornehmlich um die Neu- bzw. Wiederbelebung einer eigenständigen jüdischen (National-)Kultur geht, sei es als erster Schritt hin zu größeren politischen Aufgaben, sei es als eigentliches Ziel der Bewegung. Die Frage nach einer spezifischen deutsch-jüdischen Literatur spielte insbesondere innerhalb dieser kulturzionistischen Debatte eine zentrale Rolle. An ihr entzünden sich zwei Kontroversen – die sogenannte ‚Kunstwart-Debatte‘ und ein Streit, der nach dem Erscheinen der ersten Nummer von Bubers Zeitschrift Der Jude ausbrach. In beiden vollzieht sich eine weitere Aufteilung des Kulturzionismus in einen radikalen und einen offenen Flügel, zwischen denen verschiedene Zwischenpositionen liegen. Vertreter einer hebräischsprachigen Nationalliteratur – am prominentesten wohl Martin Buber – erteilen dem Unternehmen, eine spezifisch jüdische Kultur in deutscher Sprache auszudrücken, wieder- oder neuzubeleben, eine Absage: Die Sprache bleibt nun einmal das konstruktive Prinzip der Literatur. Eine jüdische Gruppe, eine jüdische Farbe werden Sie innerhalb der deutschen Literatur aufzeigen könnnen, aber nicht mehr: [...] [D]er jüdische Geist wird auch hier, in der fremden Sprache laut; aber er wird hier nicht zu einem Organismus, zum ‚Schrifttum‘.61

Achad Ha’am setzt Bubers Position konsequent um, indem er nur auf Hebräisch schreibt. Andere Akteure dagegen halten im Bestreben nach einer jüdischen Nationalliteratur an der deutschen Sprache fest. Zwar sehen sie das Fehlen einer eigenen lebenden jüdischen Sprache – etwa eines modernen Hebräisch – durchaus als Dilemma an, doch erscheint ihnen das Verbleiben in den verschiedenen Sprachen, in denen Juden sprechen, schreiben und lesen, die Einleitung einer jüdischen Renaissance nicht unmöglich zu machen. So fordert etwa Goldstein, dessen bereits erwähnter Aufsatz die sogenannte ‚KunstwartDebatte‘ auslöst, „eine Nationalliteratur zu begründen ohne Nationalsprache“62.

61 62

sche Kulturleben in jüdische Hände übergehen. Das aber hatten die Christen, als sie den Parias in ihrer Mitte einen Anteil an der europäischen Kultur gewährten, nicht erwartet und nicht gewollt. Sie begannen sich zu wehren, sie begannen wieder uns fremd zu nennen, sie begannen, uns im Tempel ihrer Kultur als eine Gefahr zu betrachten. Und so stehen wir denn jetzt vor einem Problem: Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“ (Goldstein, Moritz: „Deutsch-jüdischer Parnaß“, in: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen, 25. Jg. (1912), Nr. 11, S. 281–294, hier: S. 83). Buber, Martin: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. 1. 1897–1918, hrsg. v. Grete Schaeder, Heidelberg: Lambert Schneider, 1972, S. 459f. Goldstein, Moritz: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur, Berlin: Jüdischer Verlag, 1912, S. 5.

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Im Hintergrund dieser Problematik steht insbesondere das Dilemma des westeuropäischen Judentums: Durch die Epoche der Assimilation gegangen, befindet es sich in Konfrontation mit einem zunehmenden Antisemitismus und in sehnsüchtiger Bewunderung des Ostjudentums. Weil dieses (vermeintlich) seine kulturelle Einheit und – etwa im Jiddischen – eine sprachliche Eigenständigkeit bewahrt hat, wird es zur Projektionsfläche des Zionismus. Das westeuropäische Judentum dagegen stellt dessen tonangebende Autoren. Doch droht diesen Autoren zugleich eine Ton- bzw. Sprachlosigkeit, denn ihre schriftstellerischen und kulturellen Errungenschaften beruhen auf sprachlichen Fähigkeiten, die gerade nicht spezifisch jüdisch sind. Schon Goldstein hatte dieses Dilemma bemerkt: Wir aus dem Ghetto entlaufenen, wir glücklich-unglücklichen Erben westeuropäischer Kultur, wir Ewig-Halben, wir Ausgeschlossenen und Heimatlosen, [...] wir deutschen Juden, wir heute Lebenden, wir können ebensowenig hebräische Dichter werden, wie wir nach Zion auswandern können.63

Und daher ziehen Forderungen nach einer jüdischen „Nationalliteratur“ in einer eigenen jüdischen Sprache, sei es Hebräisch oder Jiddisch, auch die Konsequenz nach sich, dass „wir Westeuropäer freilich nicht mitzureden“64 hätten. Das Problem des offenen Kulturzionismus Goldsteins und seiner Verbündeter ist, dass er es trotz vereinzelter weiterführender Ansätze65 nicht schafft, für eine solche Literatur eine moderne oder avantgardistische Poetologie zu entwerfen, die sich nicht allein an Inhalten orientiert. Zahlreiche Protagonisten verfallen nämlich einem Programm, das die literarische Ästhetik den Inhalten unterordnet und damit der Literatur den Weg in die avantgardistische Moderne abschneidet. Sie verstricken sich in die Aporien, unter denen auch die Bestrebungen nach einer Modernisierung katholischer Literatur litten. Wenn Goldstein daher „den Juden auch als Objekt“ fordert und „das jüdische Heldenideal“ dargestellt wünscht, so stehen diese auf das Dargestellte reduzierten Forderungen nicht auf der Höhe moderner ästhetischer Ansprüche. Erst Max Brod ergänzt dann 1916 seinen Ruf nach einer Thematisierung des Judentums, nach „nationale[r] Begeisterung“ und einer in mythischen Narrationen erfolgenden „mystische[n] Versenkung in die Tiefen des Judentums“66, durch die Forderung 63 64 65

66

Goldstein: „Deutsch-jüdischer Parnaß“, S. 290f. Goldstein: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur, S. 2. Bialik etwa versucht, in seinem Aufsatz „Halacha und Aggada“ eine eigene, aus jüdischen Begriffen und Traditionen geschöpfte Poetologie jüdischer Literatur im Angesicht moderner Avantgarden zu entwickeln, und fasst dabei „Halacha und Aggada [...] als zwei selbständige, aber einander doch benötigende, Gestaltungen oder Stile des Schrifttums“ (Bialik, Chaim Nachman: „Halacha und Aggada“, in: Der Jude. Eine Monatsschrift, IV. Jg. (1919/1920), Nr. 1/2, S. 61–77, hier: S. 71); in diesem Zusammenhang wird dann die Autonomie moderner Literatur zur Aggada, die aber der Rückbindung an die Halacha bedürfe, „da unter unseren heutigen ‚Meistern der Aggada‘ die Neigung besteht, der Literatur ‚Autonomie‘ zu verleihen (‚l’art pour l’art‘) und manche sie ‚über das Leben‘, das heißt: außerhalb davon stellen“ (ebenda, Hervorhebung im Original gesperrt). Brod, Max, „Der jüdische Dicher deutscher Zunge“, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, 1914, zit. n. Kilcher: „Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 504.

„Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“

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nach einer spezifisch jüdischen Poetologie. Was Brods literarische Modernität ausmacht, berührt freilich in der Begrifflichkeit und Motivik auch den Diskurs der Antisemiten: Ich für meinen Teil spüre gar keinen Zusammenhang mit dem deutschen Schrifttum. In die Reihe der deutschen Literaturentwicklung gehöre ich nicht hinein; oder höchstens als Fremdkörper. Auch was das Sprachliche anlangt nicht. Wir Juden behandeln doch das Deutsche ganz anders als ein wirklicher Deutscher [...]. Uns ist die Sprache nur anvertraut, daher sind wir im rein Sprachlichen unschöpferisch oder springen mit der Sprache so frei um wie es Wolfenstein, Werfel, u. a. tun. [...] Daher ist der jüdische Dichter zu Lebzeiten für die deutsche Literatur ein Blender, wird überschätzt, und nach seinem Tode wird er unterschätzt, die Entwicklung der Sprache weiß nichts mit ihm anzufangen.67

Brods Brief an Buber, dem diese Worte entstammen, löst die zweite Kontroverse aus, in der sich wie schon 1912 offene und radikale Kulturzionisten voneinander distanzieren und ihre Argumente austauschen. Wie Brod – der sich eher einem gemäßigten Kulturzionismus im Sinne Goldsteins zuordnen lässt – betont dabei aber auch Buber in seiner Gegenrede die entscheidende Funktion des sprachlichen Mediums. Er gesteht Brod zwar zu, dass es einen spezifisch jüdischen Umgang mit der deutschen Sprache gebe; dieser reiche aber gerade nicht, um die angestrebte authentische, echte ‚jüdische Literatur‘ zu verwirklichen: Es geht mir gegen Denken und Gefühl, daß ein Werk zwei Literaturen angehören soll [...]. Die Sprache bleibt nun einmal das konstruktive Prinzip der Literatur. Eine jüdische Gruppe, eine jüdische Farbe werden Sie innerhalb der deutschen Literatur aufzeigen können, aber nicht mehr: Sie haben recht, der jüdische Geist wird auch hier, in der fremden Sprache laut; aber er wird hier nicht zu einem Organismus, zum ‚Schrifttum‘68.

Franz Kafka, dessen Kritik am Assimilationsprojekt ihn in die Nähe des (Kultur-) Zionismus rückt, bekennt sich zu diesem Dilemma und entwickelt den Zionismus zu einer derart radikalisierten Form weiter, dass daraus eine avancierte, das allgemeine avantgardistische ‚Unbehagen in der Kultur‘ auf die Spitze treibende Position erwächst. In seiner Rede von der vierfachen Unmöglichkeit des Schreibens inszeniert er die jüdische Diaspora als Variation des modernen ästhetischen Literatur-Paradigmas und seiner illusio vom Schriftsteller als einem Ortlosen und Außenseiter, wie ihn etwa Hofmannsthal zeichnet, für den „der Dichter da [ist], wo er nicht da zu sein scheint, und […] immer an einer anderen Stelle als er vermeint wird.“69 Die Verzweiflung an der Unentrinnbarkeit der „kleinen Welt der deutsch-jüdischen Literatur“70 teilt Kafka Max Brod in einem Brief mit: Die deutsch-jüdischen Literaten 67 68 69 70

Brod an Buber, 20.1.1917, in: Buber, Martin: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. 1. 1897– 1918, hrsg. v. Grete Schaeder, Heidelberg: Lambert Schneider, 1972, S. 461f. Buber an Brod, 15.1.1917, in: ebenda, S. 459f. Hofmannsthal: „Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag“, S. 265. Kafka an Brod, Juni 1921, in: Kafka, Franz: Briefe 1902–1924, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1975, S. 336.

424

Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit, zu schreiben (denn die Verzweiflung war ja nicht etwas durch Schreiben zu Beruhigendes[)]71.

Diese vier (Un-)Möglichkeiten übersetzen und ästhetisieren 1. den verzweifelten Drang, die eigene Identität sprachlich zu bilden und auszudrücken, 2. die (westeuropäisch-jüdische) Empfindung einer Distanz zur erlernten und benutzten Sprache, 3. die Nicht-Vertrautheit mit einer anderen, ‚eigenen‘ Sprache (etwa dem Hebräischen oder Jiddischen) und 4. die Aporien, in die sich Kulturzionismus und Assimilation angesichts der kulturellen und politischen Zwänge verstricken. Als radikalisierte Form des Kulturzionismus, die die Darstellung der eigenen Unmöglichkeit umfasst, berührt sich Kafkas Position dabei aber zugleich mit der assimilatorischen Strömung. Das wird deutlich, wenn etwa der dezidiert assimilatorisch argumentierende Alfred Wolfenstein – Herausgeber des Erhebungs-Jahrbuchs, in dem ja Picards „Expressionismus“-Essay erschien – wie Kafka die Situation der jüdischen Diaspora auf die soziale Position des Schriftstellers überträgt: „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute; aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos; der Verbannte.“72. Im Gegensatz zu Kafka begründet er aber gerade mit dieser Figur die Verschmelzung von jüdischer und deutscher Kultur resp. Sprache: Wie zum Sinnbild einer späten Vereinigung begegnen sich im neuen Gedicht jüdisches Wesen und deutsche Sprache. Unter den westeuropäischen Sprachen scheint sich die deutsche anders als die übrigen zum jüdischen Wesen zu verhalten: In ihr bewahrt es sich selbst, es bleibt lebendig, in die romanischen Sprachen eher spurlos aufgelöst. Hier bewegt es sich souverän, ihr verbunden wie ein Schwimmer in seinem Element. [...] Manchmal, wenn Gegensatz und Liebe zwischen ihnen hervortritt, erscheint der Jude wie ein Doppelgänger des Deutschen.73

Beide sind ortlos und getrieben von einer dichterischen Unruhe, und so ist der Ort ihrer gegenseitigen Spiegelung die deutsche Sprache: Ausdruck der deutschen Unruhe, eines Wesens der Bewegung, ist diese Sprache. [...] Es gibt, wie den ewigen Juden auch den ewigen Deutschen, als den vor der eigenen Rastlosigkeit, vor der eignen Wanderung Fliehenden.74

Bei allen Unterschieden ähnelt die Argumentationsfigur Wolfensteins der Kafkas: Wenn er sich in der deutschen Sprache „wie ein Schwimmer in seinem Element“ fühlt, dann weil dieses Element liquide ist und damit seiner sozialen Ortlosigkeit sich anpasst. Und diese Ähnlichkeit wiederum zeigt, dass sich sowohl innerhalb der einzelnen Groß71 72 73 74

Kafka an Brod, Juni 1921, in: ebenda, S. 337f. Wolfenstein, Alfred: „Jüdisches Wesen und Dichtertum“, in: Der Jude, 6. Jg. (1921), S. 428–440, hier: S. 429. Ebenda, S. 437. Ebenda, S. 437f.

„Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“

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Strömungen (Assimilation, Nationalstaats- und Kulturzionismus) als auch zwischen ihnen zahlreiche Übergangsformen ausdifferenzieren. Damit wird die Komplexität der Situation wenn nicht abgebildet, so doch transportiert. Auf einen groben Nenner gebracht, unterscheidet sich die Assimilation vom Zionismus dadurch, dass sie ein eigenständiges „jüdisches Element“ in der Kultur oder Literatur weder für existent noch für erstrebenswert hält: Als spezifisch jüdisch gelten ihr allein die Formen einer säkularisierten Religionsausübung. Die nichtreligiösen Apekte deutsch-jüdischer Literatur- und Kulturtradition dagegen begreift die Assimilation als Produkte einer gegenseitigen Durchdringung. Ludwig Geigers Theorie der Literaturgeschichte hat diese assimilatorische Position prägnant formuliert: Ihm gelten „Kultur und Literatur, auch die deutschsprachige, als immer schon europäische, kosmopolitische, interkulturelle Systeme“75. Gegen den Antisemitismus und zugleich gegen die Kulturzionisten argumentierend, versteht er Kultur als immer wieder neu sich zusammensetzende Mischverhältnisse, ohne dabei die Eigenständigkeit der jeweiligen Überlieferung zu leugnen. Nicht nur die deutsche und die jüdische Kultur stellten die Forschung vor ein völkergeschichtliches Problem. Denn es ist ein völkergeschichtliches Problem, den Gang einer Glaubensgemeinschaft durch die Jahrhunderte, durch die Geschichte eines ursprünglich fremden Volkes zu verfolgen, zu zeigen, wie die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft sich mit den Angehörigen des Volkes assimilierten, wie sie die Sprache und Geistesrichtung jener Nation annahmen und zu dieser Entwicklung ihr Eigenes beitrugen.76

Zwar richtet sich auch Geigers Augenmerk vor allem auf jüdische Stoffe und Figuren, und damit – wie etwa auch im Kulturzionismus – auf den inhaltlichen Aspekt literarischer Praktiken. Doch indem er die schriftstellerische Praxis als Bearbeitungen eines Traditionsbestandes, als Prozess eines reziproken Austausch-, Aneignungs- und Vermischungsgeschehens konzipiert, stellt seine Theorie zumindest teilweise einen Beitrag zu einer modernen Poetologie der Literatur dar. Insofern er die Wechselseitigkeit des literarischen Austauschs unterstreicht und damit gerade hervorhebt, dass auch die Juden zur „Entwicklung ihr Eigenes beitrugen“, ist zu bezweifeln, dass – wie Kilcher es sieht – „Geigers Wissenschaft der deutschjüdischen Literatur [...] auch eine Art testamentarische Protokollierung des sich im Assimilationsprozeß verflüchtigenden Judentums“77 bedeutet. Zwar bleibt in der Assimilation das ‚Eigene‘ nicht mehr eigen; und es geht durchaus auch etwas verloren – aber „verflüchtigen“ wird es sich erst, wo die antisemitischen Akteure politisch triumphieren, ihr eigenes ‚jüdisches Eigenes‘ durchsetzen und schließlich auch große Teile des schon lange nicht mehr ‚eigenen‘ jüdischen Beitrags zur deutschsprachigen ebenso wie zur europäischen Kultur vernichten. 75 76 77

Kilcher: „Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 494. Geiger, Ludwig: Die Deutsche Literatur und die Juden, Berlin: Verlag von Georg Reimer, 1910, S. 9. Kilcher: „Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 497.

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Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Die Aufteilung der Auseinandersetzungen um eine deutsch-jüdische Literatur in die drei Strömungen Antisemitismus, (Kultur-)Zionismus und Assimilation ist recht schematisch. Doch sie erlaubt die unterschiedlichen Positionierungen in größeren sozialen und politischen Kontexten zu verorten; und alle drei stellen ja als dezidiert politische Projekte schon für die Zeitgenossen einen mehr oder weniger bewussten Reflexionshorizont dar. Wie besonders an Kafka deutlich wird – aber dies gilt auch für andere Schriftsteller und Kritiker – verlieren die Kategorien an Wert, wo es im Werk eines einzelnen Autoren die Verschränkungen und Komplexitäten ausfindig zu machen gilt, die die literarische Produktion durchziehen. Gerade dort, wo die Aporien assimilatorischer und kulturzionistischer Identitäts- und Kollektivitätsentwürfe zur Darstellung kommen, gerät eine eindeutige Zuordnung zu einer (kultur-)politischen Strömung schnell ins Schwanken. Diese Beobachtung trifft auch auf Max Picard zu: Im Menschengesicht finden sich Anklänge an die unterschiedlichen Positionen innerhalb des Diskurses über deutschjüdische Literatur. Seine verschiedenen, unzusammenhängenden Stellungnahmen lassen den Einfluss dieses Diskurses erkennen – eine dezidierte oder zumindest explizite Parteinahme für eine der Strategien kann man daraus allerdings nicht ableiten. Am deutlichsten thematisiert der Schluss das Judentum: Nachdem die durchweg religiös gefärbte Auseinandersetzung mit dem Gesicht eine explizite Beschäftigung mit der jüdischen Tradition fast durchgehend vermied, beruft sich Picard an einer nicht nur für das Buch, sondern für sein gesamtes Werk entscheidenden Stelle explizit auf die „jüdische Sage [...], daß die Welt auf sechsunddreißig Gerechten ruhe“78. Diese Schlüsselstelle markiert einen Wendepunkt, insofern sich der Grundton von Verfall und Untergang, der seine früheren Schriften bestimmte und etwa in Der letzte Mensch in einem apokalyptischen Weltende ausklang, hier nun in eine religiöse Hoffnung wandelt.79 Die Erzählung von den 36 Gerechten, „die niemand kennt, die einander nicht kennen und die selber nicht wissen, daß sie die Gerechten sind“80, spielt auf die ‚Auserwähltheitshypothese‘ an, nach der dem jüdischen Volk als Volk Gottes eine besondere Bedeutung im eschatologischen Heilsplan zukommt: Auf ihnen können „die Säulen der Welt [...] ruhen“81. Der Glaube an die Auserwähltheit des ‚Bundesvolkes‘, die mit der Bindung Gottes an die Juden begründet wird, spielt historisch immer wieder eine eminent wichtige Rolle für das jüdische Selbstverständnis – gerade auch in der Diaspora. Er gewinnt im osteuropäischen Chassidismus – der im 18. Jahrhundert einen großen politischen und religiösen Einfluss gewinnt – das Gewicht eines geradezu zentralen Glaubenssatzes, der das religiöse Leben im Alltag prägt: Die in der Spätphase des Chassidismus sich bil78 79 80 81

Picard: Das Menschengesicht, S. 223. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 396f. Picard: Das Menschengesicht, S. 223. Ebenda.

„Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute“

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dende Frömmigkeitsbewegung des Zaddikismus kreist um das immer wieder neue Auftauchen eines Zaddiken – eines Gerechten –, das im Verbund mit anderen Zeichen messianische Hoffnungen schürt und zugleich zur eifernden Frömmigkeit gemahnt: „Die Spannung zwischen dem wahren Erweckten, der hier zugleich als Volksführer, als Zentrum einer Gemeinschaft auftritt, und den Gläubigen, die ihr Leben um dessen persönliche Religiosität konzentrieren“82, charakterisiert die zaddikische Bewegung. Und der Chassidismus ist es, der die Sage von den 36 Gerechten überliefert. Als Referenz an den Zionismus kann Picards Aufnahme dieser Erzählung aber nicht nur aufgrund dieses historischen Hintergrundes gelten, sondern vor allem aufgrund der großen symbolischen Bedeutung, die dem Chassidismus im frühen 20. Jahrhundert durch das Wirken Martin Bubers zukam. Denn für Buber ist der kabbalistische Einflüsse aufnehmende und popularisierende Chassidismus das Vorbild für eine lebendige und eigenständige Gemeinschaft, die er als echte Tradition und als eine die authentische Identität des Judentums bewahrende große Glaubensbewegung, die von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an das osteuropäische Judentum umschmolz und deren Glut noch heute unter der Asche glimmt, derentgleichen ich in der Religionsgeschichte aller Völker nicht kenne83,

gegen die ratio der Assimilation setzt. Der Chassidismus wird bei Buber zum Zündfunken für die jüdische Renaissance, darüber hinaus aber auch für die Erlösung der gesamten Menschheit. Angesichts dieser Position, die den mit dem Diskurs über eine deutsch-jüdische Literatur Vertrauten sicher geläufig war, kann die Erzählung von den 36 Gerechten und der mit ihr beschworene Chassidismus, mit denen Picard möglicherweise über seinen Urgroßvater, einen recht namhaften Rabbiner84, bekannt geworden war, nur als Referenz an den Zionismus gelesen werden. Trotz dieser Anklänge an zionistische Positionen darf jedoch eines nicht aus dem Blick geraten: Die weitaus größte Affinität besitzt Das Menschengesicht zu assimilatorischen Positionen, auch wenn zum einen diese Positionierung gerade nicht explizit gemacht wird, zum anderen Picard von einer assimilatorischen Programmatik im engeren Sinne recht weit entfernt ist. Zwar sind deutliche Einflüsse von Humanismus und Universalismus zu erkennen, die für die Assimilation zentrale Tradition der jüdischen 82 83

84

Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 377. Buber, Martin: Hundert chassidische Geschichten, Berlin: Schocken Verlag, 1935 [1933], S. 88. Selbst der skeptische und gemäßigtere Achad Ha’am fühlt sich genötigt, die Originalität des Chassidismus als Vorbild anzuerkennen: „Zu unserer Beschämung müssen wir gestehen, daß wir, wenn wir heute noch einen Schatten origineller hebräischer Literatur finden wollen, uns der chassidischen zuwenden müssen, die neben all ihren Phantastereien hie und da doch noch tiefe Gedanken birgt, die den Stempel jüdischer Originalität an sich tragen, weit mehr, als dies in der Aufklärungsliteratur der Fall ist.“ (Ha’am, Achad: Techijjath ha-ruach, zit. n. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 357) Auch Picards Eltern praktizierten den jüdischen Glauben.

428

Literarische Kontexte. Der Nachexpressionismus

Aufklärung spielt jedoch praktisch keine Rolle. Doch vollzieht Picard mit der Abkehr von explizit aufklärerischen Positionen ja eine Bewegung mit, die breite Teile des kulturellen und literarischen Feldes in Deutschland und Europa erfasst. Auch zahlreiche adaptierte, also in einem weiteren Sinne assimilierte jüdische Intellektuelle, die ihren Weg nicht im Zionismus sehen, berufen sich auf Symbolfiguren wie Nietzsche oder Dostojewski, Hofmannsthal oder George, Weber oder Simmel – Figuren, die für die Kritik, Überwindung oder gar Zerstörung einer rationalen und aufklärerischen Geistestradition eintreten. Picards Bekenntnis zur Eingebundenheit in den Kanon einer europäischen Kultur und Literatur erfolgt – und das ist durchaus als Zeichen für seine Eindeutigkeit zu werten – weitgehend implizit. Als Beleg mögen etwa die Gesichtsporträts und -photographien aus Das Menschengesicht gelten, die ganz im Sinne Ludwig Geigers „Kultur und Literatur, auch die deutschsprachige, als immer schon europäische, kosmopolitische, interkulturelle Systeme“85 illustrativ entwerfen. Unter den Abgebildeten finden sich Gestalten unterschiedlichster Couleur, auf die sich das politische Imaginäre Europas immer wieder berufen hat: Caius Julius Caesar, Karl der Kühne, Niccolo di Bernardo dei Macchiavelli. Auch christliche Dichter und Musiker wie Matthias Claudius, Joseph von Görres, F. M. Dostojewski, Georg Friedrich Händel oder Friedrich Hölderlin gehören der Picard’schen Porträtgalerie an, insbesondere aber Persönlichkeiten wie Paracelsus, Blaise Pascal, Baruch Spinoza, Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf86 oder Gustave Flaubert, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin und Max Weber, die als Wegbereiter eines neuzeitlichen Humanismus oder als dessen Erben bzw. Überwinder eine christlich-jüdisch-europäische Geistestradition symbolisieren. Und auch die ebenso extensive wie unspezifische Rede von ‚Gott‘ oder dem ‚Göttlichen‘, die Picard wiederholt den Vorwurf einbringt, sein Gottesbegriff sei undifferenziert und eklektizistisch87, assimiliert Merkmale protestantischer, katholischer und jüdischer Gottesdarstellungen: Picards „Gott“ gibt sich nirgendwo eindeutig als jüdischer oder christlicher zu erkennen. Picards Porträtgalerien und sein Gottesverständnis spiegeln „den Gang einer Glaubensgemeinschaft durch die Jahrhunderte, durch die Geschichte eines ursprünglich fremden Volkes“ und „zeigen, wie die Mitglieder dieser 85 86

87

Kilcher: „Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 494. Von Zinzendorf ist nicht nur als Gründer der frommen Herrnhuter Brüdergemeinde und Autor von populären Schriften und Liedern, sondern auch als Vorbild für Goethes „Bekenntnisse einer schönen Seele“ aus Wilhelm Meisters Lehrjahre ein besonders sprechendes Beispiel für einen liberalen religiösen Humanismus. So argumentierte etwa Paul Alverdes in Die Ungeborgenen (vgl. Alverdes, Paul: „‚... nichts als Wunder...‘“: in: Max Picard et al., Rundgespräch. Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: EckartVerlag, 1933, S. 24–39 und unten S. 446f.), aber auch Kassner (vgl. Enzinck: „Erinnerungen an Max Picard 1888–1965“, S. 199 und oben S. 292). Burkhard Spinnen merkt zum Menschengesicht an, dass „das religiöse Vokabular [...] aus eher wenigen, jedoch semantisch äußerst ‚schweren‘, immer wiederkehrenden Vokabeln wie ‚Gott‘, ‚Göttliches‘, ‚Engel‘, ‚Dämon‘ etc. besteht“ (Spinnen: „Ebenbild und Bewegung. Zu Max Picards Schriften über die Physiognomik“, S. 255).

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Glaubensgemeinschaft sich mit den Angehörigen des Volkes assimilierten, wie sie die Sprache und Geistesrichtung jener Nation annahmen und zu dieser Entwicklung ihr Eigenes beitrugen“88. Eine Rezension der in München erscheinenden, überregional bedeutenden und liberal gesonnenen Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung, belegt diese Beobachtungen: Sie empfiehlt Picards Menschengesicht ihrer Leserschaft und verwendet dabei die religiösen Begriffe durchgehend unspezifisch; Picard durfte demnach bei einem assimilierten jüdischen Publikum durchaus auf Resonanz hoffen: Dieses wunderbare Buch muß mit besonderem Nachdruck genannt werden. Es ist das gründlichste und umfassendste Werk der Physiognomik seit langer Zeit. Es geht uns an durch die Wichtigkeit seines Themas, durch den lebendigen Reichtum seiner Erkenntnisse und den religiösen Ernst seiner Darstellung. […] Nach immer neuen Seiten hin schildert er das Verhältnis des Menschen zu den übrigen Wesen und Gebilden der Schöpfung (Tieren, Pflanzen, Sternen), den Unterschied zwischen früheren Geschichtsepochen und unserer Gegenwart, den Einfluß der irdischen Bedingungen (Landschaft, Beruf, Rasse) auf das Menschengesicht. So gibt uns Picard zum erstenmal ein physiognomisches Weltbild. Im Gesicht des heutigen Europäers sieht er Entartung und furchtbaren Abfall von Gott. Unerbittlich zeigt er die Wurzel des Übels, die in uns selber liegt. Doch Picard verdammt nicht bloß, er zeigt uns zugleich die Möglichkeit der Erneuerung. Ein uraltes Blutswissen und eine fraglose Glaubenskraft gibt seinen Sätzen vollendete Würde und Sicherheit. Sein Buch mag manchen Leser erschrecken – viele wird es beglücken.89

Das Menschengesicht versammelt katholische Heiligenfiguren auf Goldgrund90, Kierkegaards furchtbar-unbeteiligten Gott an der Grenze zur Nicht-Existenz91 sowie die Messias-Erwartung des Chassidismus. Mit den Heiligenfiguren und Kierkegaard aber überschreiten wir endgültig die Grenzen der Literatur im engeren Sinne und begeben uns auf das Gebiet der Disziplin, der das folgende Kapitel gewidmet ist: der Theologie.

88 89

90 91

Geiger: Die Deutsche Literatur und die Juden, S. 9. Aron, Erich: „Max Picard: Das Menschengesicht“, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung. Nachrichtenblatt der israelitischen Kultusgemeinden in München, Augsburg, Bamberg und des Verbandes Bayerischer Israelitischer Gemeinden, VI. Jg., Nr. 22. ( 15. November 1930). Vgl. hierzu unten Kap. 9.3. Vgl. hierzu unten Kap. 9.1, S. 431ff.

9 Austauschbeziehungen zwischen Protestantismus, Katholizismus und Judentum

Wie die vorangehenden Ausführungen setzt sich auch das nachfolgende Kapitel mit religiösen Einflüssen auf Max Picards Werke auseinander – neben Das Menschengesicht werden dabei auch seine Beiträge zum „Rundgespräch“ Die Ungeborgenen1 eine Rolle spielen. Der Weg vom Text zu den Kontexten führt dabei nochmals einen Schritt weiter: Denn während die katholische Literaturbewegung und die Diskussionen um eine deutsch-jüdische Literatur innerhalb des literarischen Feldes eigenständige Diskurse ausbilden, auch wenn diese über jenes z. T. hinausweisen in andere kulturelle Felder, geht es im folgenden um Diskurse, die sich nicht als eigene Auseinandersetzungen im literarischen Feld niederschlagen, sondern in anderen Felder geführt werden. Austauschbeziehungen zu literaturfernen Bereichen der Kultur und Wissenschaft unterhalten Picards Texte mit zeitgenössischen Strömungen in der katholischen Theologie sowie mit Ansätzen einer katholischen ‚Geschichts-Bild-Wissenschaft‘, mit den radikalen Neuerungen im Feld der protestantischen Theologie sowie mit Positionen jüdischer Religionsphilosophie und Theologie. Insofern die Diskussionen innerhalb der katholischen Theologie in nicht unerheblichem Maße Reaktionen darstellen auf die Veränderungen im Feld der protestantischen Theologie, erfolgt zunächst eine Darstellung ebendieser Entwicklung, obwohl der hierfür maßgebliche Text Picards – seine Beiträge zum Rundgespräch Die Ungeborgenen – chronologisch später ist als Das Menschengesicht, in dem sich die Austauschbeziehungen zwischen Picards Werk und der katholischen Theologie bzw. der jüdischen Religionsphilosophie manifestieren.

1

Picard, Max: „Das Kinogesicht und das Menschengesicht“: in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 7–14 und Picard, Max: „Antworten“, in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 70–79.

Die Ungeborgenen

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9.1 Die Ungeborgenen. Protestantische Positionen zwischen Dialektischer Theologie, Nihilismus und Ökumene Nach dem Zeugnis seines Freundes Karl Pfleger hat der Protestantismus Max Picard immer fern gelegen: „Der Protestantismus kam für ihn nie in Betracht.“2 Und es ist sicher kein Zufall, dass Picards persönliches Glaubensbekenntnis zwischen Judentum und Katholizismus schwankt. Doch seine nachexpressionistische Wende und die zunehmend religiöse Prägung seines Schreibens lassen einen starken protestantischen Einfluss erkennen; wenn der Protestantismus ihm fern lag, dann weil er sich durch die theoretische Konfrontation mit seinen zeitgenössischen Manifestationen von ihm abstieß und distanzierte; Kritik und Ablehnung des Protestantismus resultieren bei Picard aber aus einer Auseinandersetzung mit ihm, nicht aus purer Ignoranz. Dies mag die zunächst ein wenig überraschende Tatsache erklären, dass es nicht nur zu einem Austausch inhaltlicher Positionen, sondern auch zu Kontakten institutioneller Art kommt; ja, in dieser Hinsicht ist der Autor Picard mit dem Protestantismus enger verbunden als mit dem Katholizismus oder dem Judentum. Picards Beschäftigung mit protestantischer Theologie lässt sich an drei Punkten festmachen, denen ich im Folgenden nachgehen werde: Picards Kierkegaard-Rezeption, seiner Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie und schließlich dem Rundgespräch Die Ungeborgenen, das er mit vier Vertretern recht heterogener und eigenwilliger protestantischer Positionen führt. Die Reihenfolge meiner Darstellung (Kierkegaard – Dialektische Theologie – Rundgespräch) – entspricht dabei nicht allein chronologischen, sondern auch logischen Gesichtspunkten: Denn so wie die Dialektische Theologie ohne den Einfluss Kierkegaards nicht zu denken ist, greift das Rundgespräch diese beiden theologischen Paradigmen auf, deren Bedeutung für die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts wohl kaum zu überschätzen ist.

Picard und Kierkegaard Was Picards theoretische Auseinandersetzung mit dem modernen Protestantismus betrifft, so ist an erster Stelle das Werk Søren Aabye Kierkegaards zu nennen. Es hat nicht nur die Theologie der zwanziger Jahre (insbesondere die Dialektische Theologie) entscheidend beeinflusst, sondern auch andere intellektuelle Felder wie das der Literatur oder der Philosophie. Die große Bedeutung, die der dänische Theologe und Schriftsteller für ihn besaß, macht Picard schon im Frühwerk, insbesondere in Der letzte Mensch explizit, ebenso aber auch im Menschengesicht; das 1934 veröffentlichte Werk Die

2

„Karl Pflegers Brief an Rev. John M. Oesterreicher“, in: Picard: Briefe an den Freund Karl Pfleger, S. 135.

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Austauschbeziehungen zwischen Protestantismus, Katholizismus und Judentum

Flucht vor Gott rückt die Beschäftigung mit Kierkegaards Denken dann wie kein anderes Picard’sches Werk in den Mittelpunkt einer theologisch-literarischen Reflexion. Kierkegaard, dessen zwischen 1909 und 1922 bei Diederichs erstmals auf deutsch erschienenen Gesammelten Werke eine intensive Rezeption einleiten, ist wohl – das belegt schon die Häufigkeit der Zitate – der religiöse Denker, der Picard theologisch am nachdrücklichsten beeinflusst hat. Zwar sind Kierkegaard-Zitate in Das Menschengesicht zahlenmäßig seltener als in früheren und späteren Werken, doch dies mindert ihr Gewicht keineswegs: Denn die beiden Stellen, die innerhalb der letzten vier Seiten des Buches Passagen aus dem Werk Kierkegaards anführen, bilden gleichsam eine theologische conclusio, die auf die Schlusserzählung von den 36 Gerechten hinführt und damit eine für das Gesamtwerk Picards entscheidende Wendung hin zur Hoffnung vorbereiten. In den beiden Zitaten entfaltet sich die fundamentale und das Individuum beherrschende paradoxe Spannung von „Verzweiflung“ und „Glaube“, die im Zentrum von Kierkegaards Denken steht – eine Spannung, die auch Picards Werk durchzieht: Ist dieses nicht das noch Furchtbarere: Der unendlich Starke, der ewig Unveränderliche, sitzt ganz stille da und sieht zu, ohne eine Miene zu verändern (so als wäre er nicht da), wie Unwahrheit Fortgang hat, Macht hat, wie Gewalt und Unrecht siegen, – ist nicht dieses das Furchtbarste?3

In diesen Worten kommt das zum Ausdruck, was Kierkegaard die „Verzweiflung“ nennt. In seinem theologischen Hauptwerk – der Krankheit zum Tode4 – bildet dieser Begriff den Angelpunkt seiner Anthropologie. Die „Verzweiflung“ nämlich ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet – und, auf einer höheren Stufe, das Christentum vom Heidentum. Sie hat ihren Ursprung in einem Sein, das für Kierkegaard zuallererst ‚Verhältnis‘ ist, und zwar Verhältnis zu sich selbst und (darin zugleich) zu einem Anderen (Gott), der dieses Verhältnis gesetzt hat. Insofern dieses Andere für den Menschen jedoch schlicht nicht (be-)greifbar ist – weshalb das Verhältnis zwischen beiden (und in der Folge auch das zum Selbst) reflexiv nicht zur Ruhe kommen kann – zeichnet sich seine Existenz durch ein ‚Mißverhältnis‘ aus. Dieses aber steigert sich gerade dann, wenn der Mensch sich über die erste und grundlegende Form dieses Mißverhältnisses, „verzweifelt sich nicht bewußt [zu] sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung)“5, erheben möchte, sich dem Selbst-Verhältnis zuwendet und dadurch sein Sein als Selbst realisiert. Doch auch die beiden höheren, eigentlichen Formen der Verzweiflung – „verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ und „verzweifelt man selbst sein wollen“6 – führen aus der Verzweiflung nicht heraus. Denn [d]er Verzweiflung Mißverhältnis ist nicht ein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnisse, das sich zu sich selbst verhält, und durch ein Andres gesetzt 3 4 5 6

Zit. n. Picard: Das Menschengesicht, S. 221f. Kierkegaard, Søren Aabye: Gesammelte Werke. Bd. 24/25. Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf: Diederichs, 1957. Ebenda, S. 8. Ebenda.

Die Ungeborgenen

433

ist, so daß das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich reflektiert in dem Verhältnis zu der Macht, welche es gesetzt hat7.

Picards Rede von der Ungeborgenheit und Losgerissenheit des Menschen – auch wenn sie bei Kierkegaard existentiell gedacht, bei Picard dagegen eher eine historische bzw. heilsgeschichtliche Erscheinung ist – geht zurück auf diese Kierkegaard’sche „Verzweiflung“ und jenes „Furchtbarste“ eines akustischen und mimischen Schweigens, als das Kierkegaard die Gottverlassenheit fasst – „der ewig Unveränderliche [.] sitzt ganz stille da und sieht zu, ohne eine Miene zu verändern (so als wäre er nicht da)“8. Dass genau dies aber die conditio humana ist, verdeutlicht eine weitere Stelle, an der Kierkegaard die Verzweiflung als ‚Unfassbarkeit‘ Gottes artikuliert (auch hier nimmt sich übrigens der Anthropomorphismus, was ihm zusteht): Woher kommt dann also die Verzweiflung? Aus dem Verhältnis, in welchem die Synthesis [des menschlichen Seins, K. L.] sich zu sich selbst verhält, indem Gott, der den Menschen zu dem Verhältnis gemacht hat, ihn gleichsam aus seiner Hand losläßt, das heißt, indem das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.9

Erst im christlichen Annehmen dieser Verzweiflung durch die gläubige ‚Existenz‘, in der ewigen, immer neuen und unendlich gesteigerten Verzweiflung, die Kierkegaard ‚Sünde‘ nennt, vermag der Mensch zum wahren Glauben zu finden. In dem Glaubenssatz von der Offenbarung der Sünde allein durch Gott zeigt sich, daß alles das Christliche allein für den Glauben da ist; eben deshalb will es eine in sokratischem Sinne gottesfürchtige Unwissenheit sein, welche mit der Unwissenheit den Glauben wider die Spekulation schützt, darüber wachend, daß die Tiefe der Qualitätsverschiedenheit zwischen Gott – und Mensch befestigt sein möge so wie sie es ist im Paradox und im Glauben, daß Gott und Mensch nicht auf noch schrecklichere Art als je im Heidentum, derart philosophisch, poetisch usw. in eins zusammenlaufe10.

Die zentralen Elemente des christlichen Glaubens sind für Kierkegaard „das Paradox, der Glaube, das Dogma, diese drei Bestimmungen bilden eine Allianz und Eintracht, welche der sicherste Halt und das sicherste Bollwerk sind wider alle heidnische Weisheit“11. Alle drei aber sind – darin liegt Kierkegaards Bedeutung für die Dialektische Theologie – immer von Gott aus zu denken, dessen Transzendenz alles Menschliche übersteigt, weil er es als Verhältnis gesetzt hat. Doch so einschneidend und einflussreich diese ans Nihilistische grenzende Bestimmung der Existenz als „Verzweiflung“ für Picard (und nicht nur für ihn) gewesen ist – sie gewinnt ihre Bedeutung für Picard erst durch seine Distanzierung von einer solchen Position. Denn dem Kierkegaard-Zitat vom „Furchtbarsten“ setzt Picard die Versicherung entgegen: „Dieses Furchtbarste, daß er stumm dasitzt, zuschauet und nicht mahnt, 7 8 9 10 11

Ebenda, S. 9f. Zit. n. Picard: Das Menschengesicht, S. 221f. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 11. Ebenda, S. 99. Ebenda, S. 96.

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dies hat Gott den Menschen heute nicht angetan.“12 Dabei beruft sich Picards (Gegen-)Position zur „Verzweiflung“ auf ein Zitat, das auf niemand geringeren als auf Kierkegaard selbst zurückgeht: Keiner verirrt sich so weit weg, daß er nicht zurückfinden kann zu Dir, Du, der nicht bloß ist wie eine Quelle, die sich finden läßt, Du, der ist wie eine Quelle, die selber noch den Dürstenden sucht, den Verirrten, was man noch nie von einer Quelle gehört hat.13

Dieses zweite Kierkegaard-Zitat aus Das Menschengesicht, von dem anderen, dem tröstend-getrösteten Kierkegaard ausgesprochen, markiert den anderen Pol des Spannungs- oder „Mißverhältnisses“ zwischen Verzweiflung und Glaube: Die Verzweiflung, die der irdischen Existenz auch und gerade des gläubigen Christen innewohnt, wird dadurch nicht aufgehoben oder überwunden, sondern potenziert; doch das nur als Paradoxon zu denkende – oder theologisch formuliert: eben nicht zu denkende, sondern zu glaubende – Verhältnis Glaube-Verzweiflung ist in sich verschlungen in der christlichen Botschaft der Versöhnung: Das Christentum aber, das der erste Erfinder der Paradoxe ist, ist auch hier so paradox wie möglich; es arbeitet gleichsam sich selber entgegen, sofern es die Sünde als Position derart festlegt, daß es nun also eine vollkommene Unmöglichkeit zu werden scheint, sie wieder zu beseitigen – und alsdann ist es eben das Christentum, welches, mittels der Versöhnung, die Sünde wieder so durchaus beseitigen will, daß es ist, als wäre sie im Meer ertrunken.14

Diese paradoxe Berührung zwischen Glaube und Verzweiflung in der Versöhnung fasst Kierkegaard als zugleich zeitlichen und der Zeit enthobenen ‚Augenblick‘. Wie die Verhältnisse von ‚Möglichkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘, ‚Bewegung‘ und ‚Position‘ entspringt bei Kierkegaard auch das von ‚Ewigkeit‘ und ‚Zeit‘ dem gottgesetzten Selbstverhältnis des Menschen. Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt.15

Picards Rede von der „Gegenwärtigkeit“ im Menschengesicht lässt sich damit nicht nur auf die jüdische Mystik, sondern auch auf Kierkegaard zurückführen: Auch bei letzterem bezeichnet nämlich das Ewige das Gegenwärtige als das aufgehobene Aufeinanderfolgen, (die Zeit war das Aufeinanderfolgen, welches vorübergeht). [...] Im Ewigen findet sich also die Unterscheidung des Vergangenen und des Zukünftigen wiederum nicht, weil das Gegenwärtige gesetzt ist als das aufgehobene Aufeinanderfolgen.16 12 13 14 15 16

Picard: Das Menschengesicht, S. 220. Hervorhebung K. L. Zit. n. ebenda. Hervorhebung im Original. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 100. Kierkegaard, Søren Aabye: Gesammelte Werke. Bd. 11/12. Der Begriff Angst, Düsseldorf: Diederichs, 1965, S. 90f. Ebenda, S. 87f.

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Bei Picard heißt es: Manchmal ist es, als lebe ein […] Menschengesicht gar nicht in der Zeit; es ist, als komme es in jedem Augenblick von neuem aus der Ewigkeit und zersprenge die Zeit in jedem Augenblick. Wir glauben, die Zeit würde viel rascher ablaufen, wenn nicht jeden Augenblick sie gehemmt würde durch die Ewigkeit, die sie zersprengt. Die Zeit ist durch die Gegenwärtigkeit zersprengt in lauter Augenblicke der Ewigkeit. […] Was die Ewigkeit für Gott ist, nämlich das Gelöstsein aus der Zeit, das bedeutet die Gegenwärtigkeit für den Menschen: auch das Gelöstsein aus der Zeit; zwar nicht das dauernde wie bei Gott, nur das augenblickshafte, aber das Augenblickshafte als abgesprengtes Teilchen der Ewigkeit. Und das eben ist die Gegenwärtigkeit des Menschen: Atom der Ewigkeit.17

Und wie Picard kann sich Kierkegaard – trotz seiner Zurückhaltung gegenüber dem Spekulativen einer anthropomorphisierenden Rede vom ‚Ewigen‘ – der Versuchung nicht entziehen, den ‚Augenblick‘ der Berührung von Zeit und Ewigkeit als sinnliches Geschehen eines ‚Augen-Blicks‘ vorzustellen.18 ‚Der Augenblick‘ ist ein bildlicher Ausdruck und insofern ist nicht gut mit ihm zu tun zu haben. Jedoch ist es ein Wort, schön darauf zu achten. Nichts ist so geschwinde wie des Auges Blick, und dennoch ist er empfähig (kommensurabel) für des Ewigen Gehalt.19

Kierkegaard legitimiert seine bildliche Rede theologisch mit dem Hinweis auf Paulus, der in 1. Kor. 15,52 vom Vergehen der Welt „in einem Atem und in einem Augenblick“ spricht und damit „auch aus[drückt], daß der Augenblick empfähig (kommensurabel) ist für die Ewigkeit, sofern nämlich der Augenblick des Untergangs im gleichen Augenblick die Ewigkeit ausdrückt“20. Im Anschluss daran schildert Kierkegaard jedoch eine Anekdote, in der der ‚Augenblick‘ als ganz weltlicher ‚Augen-Blick‘ erscheint. Man gestatte mir was ich meine, anschaulich zu machen und verzeihe es, falls man in dem Bilde etwas Anstößiges finden sollte. Es waren hier in Kopenhagen einmal zwei Künstler, die selber wohl schwerlich daran gedacht haben, daß man ihrer Darbietung auch eine tiefere Bedeutung abgewinnen könne. Sie traten auf, stellten sich einander gegenüber, und begannen nun den einen oder andern leidenschaftlichen Zusammenstoß mimisch darzustellen. Wenn dann die Entfaltung des Mimischen in vollem Gange war und das Auge des Zuschauers der Geschichte folgte und auf das nun Kommende wartete, so brachen sie plötzlich ab, und verharrten nun unbeweglich versteinert in dem augenblicklichen mimischen Ausdruck. Die Wirkung davon kann über die Maßen komisch sein, weil der Augenblick auf zufällige Art für das Ewige empfähig wird. Die Wirkung des Plastischen beruht darauf, daß der ewige Ausdruck eben ewig ausgedrückt ist; das Komische lag hingegen darin, daß der zufällige Ausdruck verewigt wurde.21 17 18

19 20 21

Picard: Das Menschengesicht, S. 128. Eine Spannung, ohne die – nebenbei bemerkt – die gesamte literarische wie theologische Produktion Kierkegaards ja nicht zu denken ist, und für die bekanntermaßen im Falle Kierkegaards biographische Parallelen nicht unbedeutend waren. Kierkegaard: Der Begriff Angst, S. 88f. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 89f, Fußnote. Bekanntermaßen besitzen Humor, Kunst und Ironie bei Kierkegaard eine wichtige Funktion für die Einsicht in das Selbst-Verhältnis und die Hinwendung zur „Verzweiflung“.

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Und es ist durchaus denkbar, dass diese Stelle Picard bekannt war, als er die Das Menschengesicht einleitende Begegnung zweier Menschengesichter beschrieb, in der das Gesicht im Anschauen des anderen spürt, daß zugleich mit ihm die Ewigkeit das andere Menschengesicht anschaut, und sobald es das spürt, schließt es die Augen; es will nicht zugleich mit der Ewigkeit schauen. Doch kaum hat es die Augen geschlossen, so fühlt es, daß es nun selber von der Ewigkeit angeschaut wird, es ist ihm, die Lider würden durchsichtig, da die Ewigkeit darauf schaut.22

„Religion ist Unglaube“. Die Dialektische Theologie Für Picards thematische Auseinandersetzung mit dem Protestantismus ist neben seiner Kierkegaard-Rezeption auch der Einfluss der zeitgenössischen Dialektischen Theologie wichtig, wobei letztere von ersterem entscheidende Impulse erhielt: Sie greift das in der Verzweiflung sich ausdrückende Gott- und Selbst(miß)verständnis Kierkegaards auf, wenn sie ‚Religion‘ als ‚Unglaube‘ ablehnt und ihr (neo-)orthodoxes Verständnis des Glaubens dagegensetzt. Die Dialektische Theologie stellt einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel dar, ohne den die moderne protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts nicht zu verstehen ist. Ihre wichtigsten Vertreter sind Friedrich Gogarten, Paul Tillich und vor allem Karl Barth. Mit der berühmten 2. Auflage von Barths Kommentar zum Römerbrief23 lässt sich auch recht eindeutig der Höhepunkt dieser spezifischen Revolution des theologischen Feldes identifizieren, und mit Barths Schlagwort „Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen“24 ist zugleich ihr Programm äußerst prägnant zusammengefasst: der Kampf gegen ein frommes, auf menschliches Tun zurückgehendes Glaubensverständnis, das sich als jene ‚religio‘ im wörtlichen Sinne begreift, wie sie Picard etwa in der Expressionistischen Bauernmalerei oder den „Sternenlinien“ des Letzten Menschen beschrieben hatte – als eine direkte, abgesicherte und wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch. Dagegen setzten die dialektischen Theologen ihren emphatischen Protest, indem sie die radikale Andersheit und Unfassbarkeit Gottes betonen. Barth und seine Mitstreiter treten gegen die das Feld beherrschende kulturprotestantische oder liberale Theologie an, die über das gesamte 19. Jahrhundert zur prägenden Kraft aufgestiegen war und – grob zusammengefasst – auf die Versöhnung oder zumindest eine Annäherung von Aufklärung und Theologie abzielte. Theologen wie Albrecht Ritschl oder Wilhelm Herrmann betonten in diesem Sinne, dass der christliche Glaube in der Zeit 22 23 24

Picard: Das Menschengesicht, S. 14f. Barth, Karl: Der Römerbrief, München: Chr. Kaiser Verlag, 2. Aufl., 1922 [1919]. Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik. Band I/2. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegommena zur kirchlichen Dogmatik, Zollikon-Zürich: Verlag der Evangelischen Buchhandlung Zollikon, 1939, S. 327. Hervorhebungen im Original gesperrt.

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zu wirken habe, und das bedeutete für sie, der veränderlichen historischen und kulturellen Verfasstheit des Menschen sowie deren wissenschaftlicher Analyse in der Auslegung des Gotteswortes Rechnung zu tragen. An die Stelle unveränderlicher Dogmatik setzten die kulturprotestantischen und liberalen Theologen eine – von Schleiermacher herkommende – aufgeklärte Hermeneutik.25 Dieser theologischen Richtung – die in Ernst Troeltsch, dem Lehrer Picards, einen ihrer oder sogar den letzten Vertreter besaß – sagt die Dialektische Theologie den Kampf an. Sie hatten erkannt, dass dem theologischen Feld der Gegenstand verlorenzugehen drohte, der ihre Autonomie und Eigenständigkeit gewährleistete: ‚Gott‘ bzw. die theologische (nicht-philosophische, nicht-historische, nicht-psychologische) Rede von Gott. Und so setzten sie dem Programm der liberalen Theologie, das sich auch als ein Programm der ‚Übersetzung‘ Gottes in andere Formen und Sprachen des Wissens verstehen lässt, eine radikale Absage an die Übersetzbarkeit und Aussagbarkeit Gottes entgegen, eine neo-orthodoxe Theologie, die das Feld revolutionierte, indem sie die herrschenden theologischen Versuche einer Rede über Gott als ‚Religion‘ bezeichnete, als ‚Unglaube‘ disqualifizierte und ihnen die Rückkehr zu einem negativ-theologischen ‚Glauben‘ gegenüberstellte.26 Die christliche Verkündigung beinhaltet nach der Dialektischen Theologie keine religiöse Botschaft, keine Nachrichten und Anweisungen über die Göttlichkeit oder Vergöttlichung des Menschen, sondern Botschaft von einem Gott, der ganz anders ist, von dem der Mensch als Mensch nie etwas wissen noch haben wird und von dem ihm eben darum das Heil kommt.27

Glaube in diesem Sinne bedeutet die Akzeptanz einer radikalen Getrenntheit des Menschen von Gott, und infolgedessen – dies ist etwa für die literarische Rezeption der 25

26

27

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die häufige Gleichsetzung des Kulturprotestantismus mit einer „Anpassung“ des Glaubens an die menschliche Kultur und die moderne aufgeklärte Zivilisation zu kurz greift: Sie entstammt – möglicherweise ebenso wie der Begriff „Kulturprotestantismus“ selbst – eher der Polemik gegen diese Strömung, wie die Rede vom ‚Ausverkauf‘ des Christentums durch die Kulturprotestanten deutlich macht. Die Selbstbeschreibung der Kulturprotestanten geht zumindest von einem reziproken Einfluss aus – nicht nur die historische und kulturelle Situation der Zeit soll auf den Glauben wirken, sondern umgekehrt und oft auch vorrangig der Glaube in die seiner bedürfende Kultur. Vgl. hierzu Graf, Friedrich Wilhelm: „Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre“, in: Hans Martin Müller (Hrsg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1992, S. 21–77, hier: S. 21ff. Dass die polemische Rede der Gegner vom ‚Ausverkauf‘ der Religion möglicherweise den historischen Voraussetzungen und Verlaufsformen, die das Verhältnis zwischen Theologie und umgebender Kultur kennzeichnen, gerechter wird, steht dabei auf einem anderen Blatt. Die Dialektische Theologie würde eine eigene feldtheoretische Analyse lohnen: Sie stellt einen Paradefall einer „spezifischen Revolution“ dar, die die gegenwärtig das Feld beherrschenden Überzeugungen in Bausch und Bogen verwirft, sich gleichzeitig aber auf kanonisierte Traditionen (die negative Theologie des Mittelalters, ein neo-orthodoxes Luther-Verständnis) berufen kann, um sich als legitimen Teilnehmer des theologischen Feldes auszuweisen. Barth: Der Römerbrief, S. 5.

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Dialektischen Theologie wichtig – eine desillusionierte Hinwendung des Menschen zur menschlichen Welt. Das Irdische erscheint in einer Perspektive, die die Immanenz nicht als Vorgriff, Abbild oder Anbruch einer Transzendenz beschreibt: Denn genau das ist die Welt für die Dialektische Theologie nicht, und all die metaphysischen Entwürfe eines ‚Neuen Menschen‘, einer von Menschen herbeigeführten menschlichen Erhöhung und Erlösung sind im wörtlichen Sinne: Religion – und damit Unglaube. Von hier aus lassen sich nun Verbindungen herstellen zur literarischen Darstellung von Welt. Zwar lässt sich der negative Glaube der Dialektischen Theologie nur schwer, oder eigentlich gar nicht, in Worte fassen. Doch eine ihm gemäße Form der Äußerung und Welt-Beschreibung wäre eine möglichst illusionslose, die Verlorenheit und Abgeschiedenheit der Welt darstellende Literatur, wie sie sich in jenen expressionistischen Apokalypsen findet, die auf die zeitgenössischen Varianten eines ‚Neuen Menschen‘ oder eines ‚Neuen Jerusalem‘ verzichten. Übersetzung einer theologischen Position ins Feld der Literatur kann daher „fortan grundsätzlich auch eine Literatur sein, die sich entschieden dem Menschen und seinem irdischen Dasein zuwendet. Die ‚Weltlichkeit‘ einer Literatur sagt nicht mehr von vornherein etwas über ihren möglichen theologischen Gehalt aus.“28 Gemäß der Devise aus Joh 3,31 – „Der von oben kommt, steht über allen; der von der Erde kommt, ist von der Erde und redet von der Erde aus“ – gelten dann gerade die schonungslosen Darstellungen irdischer Not und Leidenserfahrungen (aus dem Weltkrieg oder als Auswirkungen kapitalistischen Wirtschaftens) als adäquater Ausdruck des dialektisch-theologischen Glaubensverständnisses, sofern sie nicht zu Zeichen eines göttlichen Heilsplans überhöht werden. Letzteres aber ließe sich auch von dem Picard wiederholt vorgeworfenen düsteren Ausgang des Letzten Menschen sagen, der die apokalyptische Weltvernichtung nicht in eine erlösende Neue Welt übergehen lässt, sondern einen desillusionierten, obgleich ‚religiösen‘ Blick auf die immanente Welt richtet, deren Elend nicht zum Zeichen einer hoffnungsvollen Zukunft umgedeutet wird.29 Überhaupt erschließt sich die Tragweite der Wende, die Picard im Menschengesicht zwischen den beiden Kierkegaard-Zitaten vollzieht, wenn man den Letzten Menschen im Sinne Rothes als ‚weltliche‘ Literatur mit „theologische[m] Gehalt“ liest: Picards Seher verbleibt 1921 in der trostlosen, radikal von Gott geschiedenen Immanenz und damit in der dem Menschen nach der Dialektischen Theologie allein zukommenden Sphäre. In einem ähnlichen Sinne konstatiert etwa Friedrich Gogarten 1924 in der Zeitschrift Zwischen den Zeiten, man sehe nun 28 29

Rothe, Wolfgang: „Der Mensch vor Gott. Expressionismus und Theologie“, in: Ders., Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, Bern, München: Francke Verlag, 1969, S. 37–66, hier: S. 55. Vergleichbare Modelle finden sich etwa in Wieland Herzfeldes gleichnamigem Werk Der letzte Mensch, oder bei Erich Arndt. Dessen Drama Das Jüngste Gericht. Eine Apokalypse hält zwar auch ein Gericht des Menschen über Gott, mündet aber schließlich in den Untergang alles Seienden: „Von dem All sind allein noch Raum und Zeit, die rasch in ihre eigene Leere versinken. Und Gott büßt im Nichts.“ (Arndt, Erich: Das jüngste Gericht. Eine Apokalypse, München: Die Wende, 1920, S. 20)

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endlich einmal im Ernst, daß es so nicht weitergeht. Und es geht so nicht weiter; die Welt ist am Ende mit ihrer Weisheit. [...] Ist es wirklich gar nichts, wenn man das erkennt? Jedenfalls ist dies sicher, daß an dieser Erkenntnis keiner vorüber kann, der meint, nun außer diesem Negativen auch Positives sagen zu müssen. An ihr kann man nicht vorüber [...]. Diesem Gericht entzieht sich gar nichts mehr, was ist und sein wird.30

Und auch Barth betont, dass die theologische Aufgabe des ‚Sehers‘ Kritik und Negation menschlicher Heilsversprechen ist – auch solcher, die im Namen Gottes geäußert werden. „Ein Apostel ist nicht ein positiver, sondern ein negativer Mensch, ein Mensch, an dem ein [...] Hohlraum sichtbar wird“.31 Im Sinne der Dialektischen Theologie lässt sich schließlich nicht nur der Umstand interpretieren, dass Der letzte Mensch mit einer Vision des Untergangs ohne Neubeginn schließt, sondern auch, dass diese eine ‚akustische Vision‘ ist. Denn die Dialektische Theologie bemüht in ihrem Insistieren auf der alleinigen Relevanz des geoffenbarten Gottes-Wortes mit Vorliebe das Akustische – das Wort Gottes ist ihr gesprochenes Wort und Aufgabe des Menschen ist das Hören beziehungsweise, so Gogarten, das Vernehmen: Es gilt, „die Stimme des Menschen zu überhören und in der Stille, die jenseits ihres Gespräches ist, die Stimme Gottes zu vernehmen.“32 Dialektisch-theologisch ließe sich so der Schluss des Letzten Menschen wie folgt paraphrasieren: Das vom Menschen geschaffene Wort (der Phonograph) kann nicht anders als den Tod des Menschen zu verkünden, denn ‚wahres Leben‘ geht allein vom Wort Gottes aus. Wo der Mensch sich an ersteres klammert und (wie Nietzsches „letzter Philosoph“) seine Hoffnung auf sich selbst richtet, verliert er Gott – und damit alles: Das Irdische erweist sich als leer und ohne jeden Sinn, das Menschen-Wort besitzt weder Ursprung noch Gegenüber. Und geradezu wie eine dialektisch-theologische Exegese von Joh 3,31 liest sich die Stelle aus Der letzte Mensch, in der es heißt: Nur Gott kann vom Himmel her fragen, Gott allein erwartet keine Antwort, nur wenn man vom Himmel her fragen kann, ist die Frage auch Antwort zugleich, nur bei den Fragen, die von Gott kommen, ist in der Frage die Antwort schon darin.33

Ganz ähnlich wird Emil Brunner 1922 die Grenzen der Humanität ziehen, indem er die „Bloßmenschlichkeit alles religiösen Erlebens“ feststellt und folgert: „Der Mensch ist wesentlich ein Frager.“34 30 31 32

33 34

Gogarten, Friedrich: „Kultur und Religion“, in: Zwischen den Zeiten. Eine Zweimonatsschrift, 2. Jg. (1924), Nr. V, S. 40–62, hier: S. 52f. Barth: Der Römerbrief, S. 11. Gogarten, Friedrich: „Die Entscheidung“, in: Zwischen den Zeiten. Eine Zweimonatsschrift, 1. Jg. (1923), Nr. II, S. 33–47, hier: S. 34. „Das Wort Gottes qualifiziert den Menschen als Person, [...] das Gegenüber von Gotteswort und menschlichem Hören konstituiert den Menschen“, und zwar als „hörenden, lauschenden Menschen“ (Rothe: „Der Mensch vor Gott“, S. 49). Picard: Der letzte Mensch, S. 16f. Brunner, Emil, Die Grenzen der Humanität, 1922, zit. n. Rothe: „Der Mensch vor Gott“, S. 49.

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Dass und wie das Menschengesicht mit der an die Dialektische Theologie anschließbaren Position des Letzten Menschen bricht, wird besonders deutlich in einem anderen Text, dessen literarische (Gesprächs-)Form Picard nutzt, um seine Distanz zur negativen Theologie eines Kierkegaard oder Barth auszudrücken.

Rundgespräch und „Eckart-Kreis“. Theologien einer „evangelischen Geisteskultur“ Die Kritik der Dialektischen Theologie an den Formen der Religiosität und an einem auf Frömmigkeit beruhenden Glauben stehen ebenso wie Kierkegaards wiederholt mit dem Nihilismus in Verbindung gebrachte Theologie im Fokus einer Textsammlung, in der die Berührung Picards mit dem Protestantismus sich auch institutionell manifestiert. Das Rundgespräch Die Ungeborgenen ist ein Austausch Picards mit protestantischen Positionen, das auf seinen Kontakt zum Berliner „Eckart-Kreis“ zurückgeht, der sich im Umfeld der gleichnamigen Zeitschrift Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur bildet. Die 1906 als Eckart. Ein deutsches Literaturblatt erstmals gegründete, 1915 eingestellte und 1924 neugegründete Zeitschrift35 lässt sich in mancherlei Hinsicht dem katholisch ausgerichteten Hochland vergleichen. Sie hatte sich der Aufgabe verschrieben, einer aufgeschlossenen christlichen Zielgruppe die unübersichtlichen Entwicklungen der modernen Kultur, insbesondere der Literatur, von einem christlich-evangelisch gesinnten Standpunkt aus darzustellen und darin Orientierung zu bieten. Dabei sollte die Wirkung über den Kreis ihrer direkten Adressaten hinausreichen: Als Leser wurden Personen anvisiert, die sich als Multiplikatoren einer ‚Volkserziehung‘ verstehen lassen, also Lehrer, Pfarrer, Studenten und Leiter von Bildungseinrichtungen wie Volksbibliotheken. Nach der Neugründung 1924 erschienen die Blätter für evangelische Geisteskultur als „Organ der Deutschen Zentralstelle zur Förderung der Volks- und Jugendfürsorge“; ihr Herausgeber war August Hinderer, zugleich Direktor des „Evangelischen Preßverbandes für Deutschland“, einer Institution, die sich die Volksbildung zur Aufgabe gesetzt hatte. Das Niveau der im Eckart geführten Diskussionen ist im allgemeinen theologisch wenig anspruchsvoll. Zwar taucht die Auseinandersetzung mit der neuen, die feldspezifischen Diskurse aufmischenden Dialektischen Theologie hier und da auf – etwa in Beiträgen von Gogarten36; doch im Zentrum der Zeitschrift steht etwas anderes: der Anspruch, die literarische, kulturelle und zivilisatorische Moderne dem protestantischen Christentum zugänglich zu machen, ins ‚Evangelische‘ zu ‚übersetzen‘ und kritisch zu beurteilen. Ähnlich wie Muth in seiner Einleitung zum Hochland betont auch 35 36

Zur Geschichte des Eckart vgl. Stöver, Rolf: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad. Porträt der Zeitschrift ‚Eckart‘ 1906–1943, München: Kaiser, 1982. Jg. 1932, S. 241ff.; 275ff.

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der Berliner Theologe Reinhold Seeberg zu Beginn der ersten Eckart-Ausgabe die Progressivität des Christentums und wendet sich gegen den Vorwurf der Rückständigkeit – auch wenn dieser Vorwurf den Protestantismus weitaus seltener traf als den Katholizismus: Darum handelt es sich, gesundes christliches Urteil mit kräftigem ästhetischen Empfinden zu vereinigen. Nichts ist so lächerlich, als wenn man der christlichen Sittlichkeit Feindschaft gegen die Kunst, Finsterlingtum oder Zelotismus vorwirft. Offen und liebevoll hat das Christentum zu allen Zeiten jeder echten Kunst gegenübergestanden. Das zu zeigen und zu bewähren ist auch heute wieder die Aufgabe.37

Die Aporien, die wie das Hochland auch den Eckart durchziehen, scheinen hier ebenfalls schon zu Beginn auf: Einerseits ist die Zeitschrift um einen Anschluss an die Moderne bemüht – moderat freilich, aber auch dies ist innerhalb eines gläubig orientierten protestantischen Milieus jenseits des säkularisierten Kulturprotestantismus progressiv, wo „ein evangelisch-literarisches Blatt, das sich der Welt der Kunst in großer Freiheit öffnen wollte, immer noch ein Novum war“38. So bekennt sich auch Seeberg unmissverständlich zur Moderne: Wir wollen keine chinesische Mauer um uns bauen, wir wollen keinen Index verbotener Bücher herstellen, wir wollen nicht blindlings verdammen und nicht salzlos witzeln. Wir wollen uns von unserer Weltanschauung aus selbst ein begründetes Urteil über die modernen Erscheinungen der Literatur und Kunst bilden lernen und wir wollen andere zu solcher Urteilsbildung anleiten.39

Andererseits wird diese Offenheit durch eine überholte ästhetische Position stark eingeschränkt, die der Literatur eine naiv-unkritische Ausrichtung am Guten, Schönen und Reinen vorschreibt: Auf harmlose Anschauung, einen guten, reinen Geschmack, ein sicheres Urteil und ästhetischen Takt kommt es uns an. Wir wollen eine wirkliche ästhetische Erziehung unseres Volkes. Die Gewöhnung an das wirklich Schöne und der innerlich erworbene Takt in der Beurteilung der Kunstwerke – das sind die sichersten Mittel, um die verderbliche Literatur auszuscheiden und die schlechte Kunst unwirksam zu machen.40

Dieser ästhetische Geschmack manifestiert sich in vielen Beiträgen aus Dichtung und Prosa ebenso wie im umfangreichen Kritik-Teil der Zeitschrift. Die mit ihm einhergehende Einschränkung literarischer Autonomie ist der vorherrschende Gestus des Eckart und seiner programmatischen Leiter. Die „Bestrebungen und Kräfte[n], die wir als ‚modern‘ bezeichen“, sollen nicht verdammt, sondern aus ihnen soll selektiert werden – und „[w]as gut, reif und gesund in ihnen ist, das wollen wir dem christlichen Volke zuführen, und wir wollen es warnen vor dem Gemeinen, Niedrigen und Häßlichen“41. 37 38 39 40 41

Seeberg, Reinhold: „Ein Wort zum Geleit“, in: Eckart. Ein deutsches Literaturblatt, 1. Jg. (1906/07), Nr. 1, hier: S. 2. Stöver: Protestantische Kultur, S. 56. Seeberg: „Ein Wort zum Geleit“, S. 2. Ebenda. Ebenda, S. 3.

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Damit ist schon 1906 angedeutet, dass die christlich-konservative bürgerliche Haltung des Eckart in der Weimarer Republik fließend übergeht in eine kultur- und gesellschaftspolitisch keineswegs „harmlose“ nationalistische bis völkische Strömung, für die insbesondere Autoren wie Ernst Jünger, Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Friedrich Blunck und Hanns Johst stehen (die beiden letzteren lösen sich dann nach 1933 im Amt des „Präsidenten der Reichsschrifttumskammer“ ab).42 Insgesamt lässt sich das Profil des Eckart beschreiben als an ein gläubiges christlichevangelisches Milieu gerichteter moderater Modernisierungsversuch, dessen kulturund gesellschaftspolitisch beherrschende Linie christlich-konservativ und bürgerlichmoralisierend orientiert ist (und orientieren möchte). Theologisch fundierte Diskussionen und provokante liberale bis linke Positionen blieben in der Zeitschrift die Ausnahmen; dies gilt nicht für nationalistische und völkische Autoren, die sich einer großen und zunehmenden Beliebtheit erfreuen. Im Eckart erscheint 1932 Picards Essay „Menschliches Auge und photographische Linse“43, der jedoch weniger von theologischen als von kultur- und medientheoretischem Interesse ist. Vor allem aber publiziert der Eckart-Verlag 1933 – als ersten Band der Schriftenreihe Der Eckart-Kreis – ein „Rundgespräch“ zwischen Picard und fünf protestantischen Diskussions-Partnern, dessen theologisches Niveau zumindest partiell über das der meisten Zeitschriftenbeiträge hinausgeht. Schon der Titel deutet an, dass die vor allem von Kierkegaard und der Dialektischen Theologie ausgehenden Provokationen der zeitgenössischen Theologie im Mittelpunkt der Diskussion stehen: Die Ungeborgenen.44 Der Band wird eingeleitet von einem achtseitigen Picard-Beitrag mit dem Titel „Das Kinogesicht und das Menschengesicht“45, bei dem es sich um eine unbearbeitete Übernahme von drei Abschnitten aus dem Menschengesicht handelt. Darauf folgen vier Aufsätze von Otto Gmelin, Paul Alverdes, Fritz Künkel und Hermann Herrigel, die sich alle – mal mehr, mal weniger – auf Picard als einzigen nicht-protestantischen Gesprächsteilnehmer beziehen, bevor Picards „Antworten“ und ein „Ausblick“ von Wilhelm Michel das Rundgespräch beschließen. Picard und seine Thesen aus dem Menschengesicht bilden also den Mittelpunkt dieses Rundgesprächs. Allerdings: Ein „Rundgespräch“ stellt die Zusammenstellung der einzelnen Texte kaum dar: Gmelin, Alverdes, Künkel und Herrigel nehmen eine oder mehrere Einzelaspekte aus Picards Eingangstext als Aufhänger für ihre dann eher eigenständigen Ausführungen, auf die Picard dann wiederum am Schluss kurz eingeht. 42

43 44 45

Stöver (S. 67) weist in seiner zuweilen zum Apologetischen neigenden Auseinandersetzung mit der Geschichte des Eckart zurecht darauf hin, dass die fehlende Distanzierung insbesondere von Blunck – der 1932 in einem Beitrag einen „wodischen Kult“ zum Teil des Glaubens erklärt – ein Licht wirft nicht nur auf die gesellschaftspolitische Anbiederung des Eckart an den Nationalsozialismus, sondern auch auf die fehlende theologische Tiefe der Auseinandersetzung mit der Situation der Zeit. Picard: „Menschliches Auge und photographische Linse“. Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen. Picard: „Das Kinogesicht und das Menschengesicht“.

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Doch weder kommt es zu wechselseitigen Bezugnahmen zwischen den vier Gesprächspartnern Picards noch zu einem mehrfachen Hin und Her der Diskussionsbeiträge. Michel betreibt also ein wenig Etikettenschwindel, wenn er in seinen Schlussworten betont, dass hier wirkliches ‚Gespräch‘ vorliegt, nicht ein beziehungsloses Nebeneinander von Aussagen und erst recht nicht eine streitbare Auseinandersetzung, bei der es auf ‚Recht behalten‘ ankommt. [...] Wenn auch nicht jede Rede eine Widerrede und nicht jede Widerrede eine Entgegnung gefunden hat, so steht doch so fühlbar ein verbindender Bogen über diesem Sprechen, daß das ‚letzte Wort‘ hier völlig ohne Bedeutung ist [...]. Das wurde von den Gesprächsteilnehmern so klar empfunden, daß sie, obschon jedem Einzelnen jede Gegenrede der Andern und namentlich auch Picards Schlußbemerkungen bekannt waren, auf ein Weiterspinnen der Erörterung bewußt verzichten.“46

Dies ist insbesondere deswegen bemerkenswert, weil Picard die Klammerfunktion seiner beiden Texte nutzt, um eine taktisch geschickte Wende zu vollziehen. Denn obwohl der Eingangstext die Passagen aus dem Menschengesicht unbearbeitet übernimmt, suggeriert die Textauswahl insgeheim den Eindruck, Picard spräche von einer Kierkegaard’schen Position der ‚Ungeborgenheit‘ aus. Doch dies entspricht weder dem Menschengesicht noch Picards tatsächlicher Intention, die er dann in seinen „Antworten“ klarstellt. Aber weder diese durch die Zusammenstellung bewirkte Akzentuierung der Ungeborgenheit, noch die erst in seinen abschließenden „Antworten“ explizit gemachte Distanzierung Picards von seinem eigenen Eingangstext sowie den durch diesen hervorgerufenen Kommentaren der übrigen „Ungeborgenen“ findet einen Widerhall bei den übrigen Autoren. Doch worum geht es nun in Die Ungeborgenen? Einen ersten Hinweis darauf gibt die Auswahl, die für den Picard’schen Eingangs-Beitrag „Das Kinogesicht und das Menschengesicht“ getroffen wurde: Sie verschiebt im Vergleich zum Gesamttext des Menschengesichts das Gewicht zugunsten der Verlust- und Destruktionserfahrungen, wie sie dort in den Kapiteln „Die Gegenwärtigkeit des Menschgesichts“ und „Die Zeit und der Raum im Menschengesicht“ beschrieben werden. Im titelgebenden „Kinogesicht“ manifestiert sich das zunehmende Schwinden von „Gegenwärtigkeit“, „Tiefe“, „Ewigkeit“, „Zeit“ und „Maß“, das das „Menschengesicht heute“ und die Menschheit trifft. Zwar begegnet auf den acht Seiten auch der Verweis auf die Ewigkeit und Gegenwärtigkeit des „wahren Gesichts“ sowie die stark katholisch geprägte Auseinandersetzung mit Heiligenlegenden und deren bildlicher Darstellung auf Goldgrund.47 Doch entwirft der Beitrag in erster Linie ein pessimistisches, Gott-Verlassenheit und Zerfall beschwörendes Weltbild – das Lamento wird anders als in Das Menschengesicht an dieser Stelle nicht durch die Hoffnung auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschengesichts oder die Sage von den 36 Gerechten aufgefangen oder ‚geborgen‘. 46 47

Michel, Wilhelm: „Der Weg ins Freie“: in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 79–90, hier: S. 89. Vgl. hierzu unten Kap. 9.3

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Damit werden die Anschlussmöglichkeiten für die Diskussion in eine bestimmte Richtung gelenkt: Denn alle Gesprächspartner Picards setzen sich mit ihm auseinander, indem sie von der zeitgenössischen Erfahrung einer Gottverlassenheit, einer metaphysischen „Ungeborgenheit“ des Menschen ausgehend unterschiedliche Bewertungen dieser Situation vornehmen und daraus Konsequenzen ableiten, wie dieser Ungeborgenheit zu begegnen sei. Doch ist dies gerade nicht Picards Position, was er jedoch erst in seinen „Antworten“ klarstellt: Für ihn kann die „Ungeborgenheit“ unmöglich Ausgangspunkt sein – denn sie ist nur Täuschung, Symptom einer Gottvergessenheit, und ihr kann nur von einer grundsätzlichen und viel tiefer liegenden Geborgenheit aus begegnet werden: „Man vergißt überhaupt, daß man ungeborgen ist vor etwas, nämlich vor Gott. [...] Man tut so, als hätte die Ungeborgenheit eine Kraft aus sich. Das ist falsch.“48 Ebendiese grundlegend ‚falsche‘ Position, die er bei seinen Gesprächspartnern diagnostiziert, geht aber zumindest partiell auch auf Picards eigenen, das Gespräch eröffnenden Beitrag zurück, der die „Ungeborgenheit“ ja erst zum Ausgangspunkt machte und dadurch textuell „eine Kraft aus sich“ entfalten ließ. Am radikalsten vertritt Otto Gmelin den Standpunkt eines „Ungeborgenen“. Gmelin, 1886 geboren und 1917 in Heidelberg promovierter Philosoph, ist Lehrer und betätigt sich daneben als Schriftsteller, vor allem als Verfasser historischer bzw. historisch verklärter Erzählungen aus der Zeit der Völkerwanderung und des Mittelalters. 49 In seinem Beitrag „Tapferkeit in der Zeit der Not“ verleiht er der „Ungeborgenheit“ die Züge eines fast schon nihilistischen Heroismus. Ausgehend von Picards Beitrag, der mit dem zunehmenden Schwinden der Zeit zugunsten des Raumes und der Ausbreitung der Hölle als des „einzigen Raum[es] ohne Zeit“50 endete, hält er Picard entgegen, dass „dieser jetzige Zustand irgendwie noch tiefer denkbar sein [muß] und nicht bloß als ein höllenartiger“51. Gmelin versteht Picards Text als Position eines „Ungeborgenen“ und gibt dagegen zu bedenken, dass die „Feststellung und Tatsache von der Verlorenheit, Abge48 49

50 51

Picard: „Antworten“, S. 78. Deren literarischer Wert wurde – wenig verwunderlich – von der nationalsozialistischen Literaturpolitik ungleich höher als zu anderen Zeiten eingeschätzt. Dabei erfolgt die Eingliederung Gmelins in den Nationalsozialismus keineswegs nur auf Betreiben der ihn fördernden offiziellen Literaturpolitik. Gmelin hatte sich – ebenfalls im Eckart – schon 1932 mit Hans Blüher befasst, dessen Antisemitismus er zwar kritisiert, aber grundsätzlich teilt: Er adaptiert den Antisemitismus an das literarisch-ästhetische Programm des Eckart, indem er ihn mit den Worten E. R. Curtius’ nicht zum Rassen-, sondern zum ‚Kultur-Kampf‘ erklärt: „‚Wir bekämpfen nicht das Judentum, sondern die Destruktion, nicht eine Rasse, sondern eine Negation.‘ Nur weil die Juden ‚zum überwiegenden Teil und in maßgebender Betätigung der Skepsis und Destruktion zugeschworen sind‘, sind sie von unserem Kampf betroffen.“ (Gmelin, Otto: „Privater Mythos. Bemerkungen zu Hans Blüher“, in: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur, 8. Jg. (1932), Nr. 5, S. 219–223, hier: S. 223) Picard: „Das Kinogesicht und das Menschengesicht“, S. 14. Gmelin, Otto: „Tapferkeit in der Zeit der Not“: in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 14–24, hier: S. 15.

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rissenheit, Zeitlosigkeit, Gespenstigkeit des heutigen Menschen unzureichend oder noch nicht das Letzte“52 seien. Doch diese „Feststellung und Tatsache“ sind für Gmelin nicht einfach nur im Namen einer religiösen Metaphysik abzulehnen – die Ungeborgenheit ist für ihn vielmehr ein zu bejahender Wert, weil diese Losgerissenheit und was damit zusammenhängt, auch ein Plus ist, ja weil sie sogar vermutlich die einzige Möglichkeit ist, den Menschen wieder zu sich selber und also auch zur Welt selber zu bringen.53

In einer negativ-theologischen Formulierung, die bei allem Nihilismus an die Dialektische Theologie anzuschließen versucht, wird dieses Bekenntnis dennoch religiös gerahmt: Ich sage hier absichtlich nicht ‚zu Gott‘ oder ‚zur Ewigkeit‘, obwohl es mir beinahe in die Feder geflossen wäre, weil ich diese Worte nicht gerne gebrauche, weil sie so leicht einer billigen Inflation, Zerflatterung und Sinnentleerung unterliegen, und das wäre gerade in dieser Stunde der Geschichte irreparabel, unwiederherstellbar.54

Die Verwirklichung des von ihm angestrebten nihilistischen Heroismus wird für Gmelin erst als Absage an alle Religion aus einer unwissend-gläubigen Bejahung der Ungeborgenheit möglich: Ohne irgend etwas zu wissen, ja ohne irgend etwas glauben zu können, das sich in drei Worte fassen ließe. Denn der Mensch von heute hat den Mut aufzubringen zum Nichts. Ganz zu Ende gelebt ist dieser Mut schon wieder der erste Anfang eines Glaubens. Nicht fliehen; Stand halten!55

Trotz aller nihilistischen Einfärbung bewahrt Gmelins tapferer Glaubens-Heros jedoch christlich-protestantische Züge: „Sollte, könnte nicht dies der Sinn dieser Zeit sein, daß der Mensch auf eine Null zurück geht, um aufzuerstehen, um sich wieder zu finden und mit sich die Welt und seine Beziehung zu ihr?“56 Denn – so Gmelin weiter – „nur so kann dem Menschen das Geheimnis, das er selber ist und das das Leben ist und das die Welt ist, wieder entgegentreten.“57 52 53 54

55 56 57

Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 15f. Die absichtsvolle Vermeidung des „irreparablen Fehlers“, nämlich ein allzu deutliches Bekenntnis zu einem mit „Gott“ und der „Ewigkeit“ assoziierten christlichen Glauben „in dieser Stunde“ (1933!), entpuppt sich im Rückblick auf seine Förderung durch die nationalsozialistische Politik freilich als relevant. Weit weniger zurückhaltend ist Gmelin denn auch, wenn es um das politische Ausbuchstabieren seines Programms geht: „Aehnliche Dinge geschehen in kommunistischer Praxis, aber auch und fast noch klarer in den Kreisen der Jugend, die anderen Parteidoktrinen anhängen. Dabei sind es gar nicht die Parteidoktrinen, sondern die neuen Anfänge neuer Lebensformen, wie sie etwa in Arbeitslagern, Werkjahr und Werkstudententum sich angedeutet finden, die der eigentliche Anziehungspunkt sind.“ (ebenda, S. 21) Ebenda, S. 23. Hervorhebung K. L. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 22.

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Paul Alverdes, zweiter Teilnehmer des Rundgesprächs, lebt nach Abschluss eines Germanistik- und Kunstgeschichts-Studium in München als freier Schriftsteller und ist vor allem durch Kriegsromane bekannt geworden;58 die weitverbreitete Deutung der Kriegsschrecken zur „anthropologischen Figur“59, die ein ursprüngliches ‚Wesen‘ des Menschen (wieder) befreit und reinigt, findet sich in diesen Büchern ebenso wie in seinem Aufsatz. Picards einleitender Klage über den Verlust des wahren Gesichts widersetzt er sich denn auch unter Hinweis auf den Weltkrieg: Warum denn schrie einmal ein ganzes Volk und schrien ganze Völker auf vor Lust, als der Krieg kam [...]? [...] Wer Menschengesichter sehen will, der schlage nur getrost eine jener Bilderfibeln aus dem Weltkrieg auf und sehe sich die hageren, edlen Menschengesichter so vieler Krieger an – obwohl der Krieg ja angeblich nur entmenscht haben soll.60

Alverdes Botschaft ist – was ihre politische und religiöse Stoßrichtung betrifft – sehr einfach: Zwar konzediert er eine Ungeborgenheit, doch handele es sich bei der allerdings ungeheuren Veränderung des Zeitalters nicht sowohl um einen Abfall von Gott, als vielmehr um ein Herauswachsen, oder wenn man will, auch um ein Herausschrumpfen aus den alten Formen der Gläubigkeit [...] – aus den Konventionen.61

Alverdes sieht die Picard’schen Zeichen des Untergangs als Verkündigung eines neuen Aufbruchs – im Namen des ‚Lebens‘: „Wie dieses Leben einmal aussehen wird und mit was für Namen es seinen Gott oder seine Götter wird nennen und ehren, wer wagt das auch nur zu ahnen?“62 Die Kraft zur Verwandlung, vor der er das Abendland – „und es ist noch immer das Herz der Welt und Deutschland ist das innerste davon“63 – sieht, speist sich für ihn aus einem naturreligiösen Vermögen zur „Verwunderung“, die er wie folgt beschreibt: Ich möchte behaupten, daß eine Löwenzahnblüte in meiner Hand oder das Traumeslächeln eines kleinen Kindes in seiner Wiege, oder kleines Wölklein kristallischen Schnees auf meinem Aer58

59 60 61 62 63

In der NS-Zeit tritt Alverdes vor allem als Mitherausgeber (1934–38), später dann als alleiniger Herausgeber (1938–44) der bürgerlich-konservativen Zeitschrift Das innere Reich hervor. Sie wurde zwar 1944 verboten, doch wie Marion Mallmann gezeigt hat, täuscht die durch den Titel und die spätere Deutung Alverdes’ und anderer Mitarbeiter genährte Vermutung, es handele sich um eine Zeitschrift der ‚inneren Emigration‘. Das Innere Reich „kann [...] auch bei der wohlwollendsten Beurteilung nicht als ein Organ eines geistigen Widerstands gelten. Das Konzept der Zeitschrift stand nicht im Widerspruch zur offiziellen Kulturpolitik, auch wenn sie in einzelnen Beiträgen Distanz zu ihr einnahm. Alverdes, der die Zeitschrift als Herausgeber vor allem prägte, äußerte zwar seine Kritik an Einzelerscheinungen, aber seine prinzipielle Zustimmung zum Dritten Reich wurde doch nie in Frage gestellt“ (Mallmann, Marion: ‚Das innere Reich‘. Analyse einer konservativen Kulturzeitschrift im Dritten Reich, Bonn: Bouvier, 1978, S. 298). Vgl. Horn: „Krieg und Krise. Zur anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs“ und oben S. 227ff. Alverdes: „‚... nichts als Wunder...‘“, S. 36f. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 37. Ebenda.

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mel – daß das auch eine Offenbarung ist, für welche ich ohne zu lästern alle Uebrigen nebst Kommentaren und Kommentaren der Kommentare getrost daran gebe.64

Sein überdeutlicher Anti-Intellektualismus spiegelt sich in dieser selten gelungenen Kitsch-‚Blüte‘ auch stilistisch wider. Politisch steht Alverdes – wie alle Autoren des Rundgesprächs außer Künkel – auf einem dezidiert antidemokratischen Standpunkt. In einer ebenfalls an Klischee und Simplizität kaum zu übertreffenden Wendung deutet er das Picard’sche „Kinogesicht“ als zeitübergreifendes Phänomen, denn es ist wahrscheinlich, daß es dieses Kinogesicht immer schon gegeben hat: es ist das Gesicht des Pöbels. [...] Pöbel in diesem Sinne hat es immer und zu allen Zeiten gegeben, nur hielt man ihn nicht der Rede und Abbildung für wert, und wo er bei den alten deutschen Malern einmal auftaucht, da trägt er, wie sich das in der Christenheit versteht, die Züge seines wahren Herrn und Meisters, die Züge Satans und seiner Gesellen.65

Während „das wahre Menschengesicht sich immer häufiger bei den Arbeitern im weitesten Sinne und bei den Armen erblicken läßt“,66 meint Alverdes’ „Pöbel“ vor allem eine bürgerliche Medien-Öffentlichkeit und deren Bild-Objekte, die nicht nur „aus den Illustrierten Blättern und Magazinen, von der Leinwand, von der Bühne und von den öffentlichen Kanzeln jeder Art herunter“67 blicken – „Pöbel“ sind ihm auch die intellektuellen Subjekte dieser Medien-Öffentlichkeit, denn „da der Pöbel lesen und schreiben gelernt hat, wie nur einer, so grinst er uns auch aus den Zeilen der Zeitungen und Bücher entgegen“68. Der Beitrag Künkels, eines wichtigen Vertreters der psychoanalytischen Schule der Individualpsychologie – er ist Schüler und später Mitarbeiter von Alfred Adler –, kommt kaum auf theologische Themen zu sprechen. Dagegen ist Hermann Herrigel69 der theologisch fundierteste Gesprächspartner Picards. Herrigel, philosophisch beeinflusst von Cassirer und Heidegger, arbeitet als Journalist bei der Frankfurter Zeitung und ist mit Schriften zur Volks- und Erwachsenenbildung vor allem als Pädagoge bekannt geworden. Theologisch hat Herrigel mit Nachdruck das ökumenische Gespräch gesucht und den Austausch von Protestantismus, Katholizismus und Judentum gefördert. Er stand in freundschaftlicher Verbindung zu Martin Buber und Viktor von Weizsäcker, die zusammen mit dem Katholiken Jospeh Wittig die von 1927 bis 1930 erscheinende Zeitschrift 64 65 66 67 68 69

Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 27f. Ebenda, S. 28. Vgl. zu Herrigel Schulz, Günter: „Einleitung“, in: Ursula Schulz (Hrsg.), Hermann Herrigel, der Denker und die deutsche Erwachsenenbildung. Eine Bibliographie seiner Schriften zum 80. Geburtstag, Bremen: Volkshochschule, 1969, S. 7–14.

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Die Kreatur70 herausgegeben haben, für die auch Herrigel arbeitet. Von Weizsäcker hat von der Orientierung dieser Zeitschrift gesagt, sie sollte weder über- noch zwischen- noch unkonfessionell sein. Sondern der Glaube war für alle in die Verbannung geraten, und ein jeder sprach aus seiner Verbannung zum anderen. [...]. Das Gemeinsame war, daß wir die Gemeinschaft in unserer religiösen oder kirchlichen Gemeinde alle verloren hatten: die Gemeinschaft der Gemeinschaftslosen und darum Wissenden71.

Sehr pointiert drückt er damit nicht nur das Profil der Zeitung, sondern auch jene religiöse Verunsicherung aus, die hinter den verschiedenen neuen theologischen Konservativismen der Zeit steckte und auch in Picards konfessionelles Swerving einging: „Der Katholik war kein richtiger Katholik, der Protestant kein richtiger Protestant und der Jude kein richtiger Jude.“72 1929 war Herrigels Buch Das neue Denken73 erschienen, in dem er die Dialektische Theologie kritisch rezipiert und weiterdenkt in Richtung auf eine „Vereinigung von Theologie und Philosophie“, in der „beide auf ihren Autonomieanspruch, den sie eine gegen die andere stellen, verzichten“74. Das bedeutet einerseits eine Absage an die gegenseitigen Übergriffe und die Vermischung zwischen dem Glauben, der auf Gott bezogen ist, und der Wissenschaft, die sich auf die Wirklichkeit richtet: Wissenschaft ist ihrer Methode nach beschränkt auf die erfahrungsmäßige Erkenntnis der Wirklichkeit und kann nicht ein bißchen nach der Metaphysik hin umgearbeitet werden, so daß sie deren Dienste mitversehen könnte.75

Aber auch umgekehrt gilt es, die Grenzen der Theologie aufzuzeigen: Eine pragmatistische Verlebendigung der Wissenschaft [...] gibt es nicht, denn das, was dabei herauskommt, ist nicht mehr Wissenschaft. Es gibt nur Eine Theologie, weil es nur Einen Gott gibt, und es gibt nur Eine Wissenschaft, weil es nur Eine Wirklichkeit gibt. Und die Wissenschaft hat nur Ein Gesetz, die Wirklichkeit zu erkennen. Dieses Gesetz heißt Sachlichkeit.76

Dieses Bekenntnis zur Trennung von Theologie und empirisch-rationaler Wissenschaft geht ganz entscheidend auf Positionen der Dialektischen Theologie zurück. Letztere wird aber von Herrigel weitergedacht in Richtung auf einen Dynamismus, der die Theologie ebenso wie Wissenschaft und Philosophie aus ihren statischen Dogmen herausreißt: 70 71 72 73

74 75 76

Die Kreatur. Eine Zeitschrift. Berlin: Lambert Schneider 1926ff. Weizsäcker, Viktor von: Begegnungen und Entscheidungen, Stuttgart: K. F. Koehler Verlag, 1949, S. 26. Ebenda. Auch hier deutet Herrigel seine Verbundenheit mit dem interreligiösen Dialog an: Das neue Denken hieß bekanntlich Rosenzweigs philosophische Auseinandersetzung mit seinem eigenen Buch Der Stern der Erlösung und den darauf erfolgten Reaktionen (Vgl. hierzu ausführlich unten Kap. 9.4, S. 476). Und an Rosenzweig erinnert Herrigels Position in der Tat in mancherlei Hinsicht. Herrigel, Hermann: Das neue Denken, Berlin: Lambert Schneider, 1928, S. 12. Ebenda, S. 148f. Ebenda, S. 150.

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Das neue Denken ist dynamisch. Seine Welt ist nicht eine Welt von Substanzen, die, wie der Begriff der Substanz sagt, in sich bestehen und durch sich ohne Bezogenheit auf andere Begriffe erfaßt werden, sondern eine Welt gegenseitiger Beziehungen und lebendigen Geschehens, das nicht Einem allein, sondern immer Einem und einem Andern angehört. Die einsame, in sich ruhende Wahrheit ist dem neuen Denken der Form wie dem Inhalte nach fremd.77

In seiner Auffassung der Wirklichkeit gilt die Erfahrung als unausweichliches Medium des Denkens, doch „[d]ie Wirklichkeit bleibt Wirklichkeit, auch im Denken; sie ist nicht im Denken, sondern sie steht ihm [...] als sein dauernder, mahnender ‚Widerspruch‘ gegenüber.“78 Und auf diesem Weg wird durch die Erfahrung [...] die Philosophie wieder einmünden in die Theologie. Freilich in eine andere Theologie, als wir sie heute noch haben: in eine wahrhaft dialektische Theologie [Hervorhebung K. L.] des neuen Denkens.79

Das ist auch als deutliche Kritik an der Dialektischen Theologie und ihrer ganz undialektischen und undynamischen Betonung des Dogmas formuliert. Im Zentrum steht bei Herrigel „die entscheidende Bedeutung der Zeit für das neue Denken, der Zeit, nicht als eines Mediums, in dem das Geschehen sich abspielt, sondern der Zeit, die selber geschieht“80 und die er dem (mittelalterlichen) Denken in stabilen und zeitlosen ‚Substanzen‘ und Dogmen gegenüberstellt. Und um dieses Thema der Zeit und ihrer historisch veränderten Wahrnehmung kreist auch sein Beitrag zum Rundgespräch81: Herrigel widerspricht Picards These, das Mittelalter habe im Gegensatz zur Moderne „in der Zeit“ gelebt. Das Mittelalter hatte ein räumliches Weltbild, in dem Zeit und Geschichte keinen Platz hatten. Erst nachdem die Raumgrenzen der mittelalterlichen Welt gefallen waren und der Raum unendlich geworden war, trat die Zeit in den Gesichtskreis des Menschen [...]. Räumliches Denken ist statisch und anschaulich, der heutige Mensch aber hat deshalb kein Weltbild, weil sein Denken zeitlich und funktionell ist.82

Diese Verbindung von Zeit und Funktion meint aber nicht – wie Picard in seiner Antwort fälschlicherweise annimmt oder unterstellt – die quantitativ messbare chronologische Zeit, sondern die geschichtliche Zeit als eine dem Menschen gestellte Aufgabe, die nicht durch eine für alle Ewigkeit verbindliche Lösung zu erledigen ist. Genau das meint bei Herrigel die „Ungeborgenheit“, die sich für die Moderne als Krise darstellt. Die Radikalität der dialektisch-theologischen Ungeborgenheit ergreift auch die geschichtliche Selbstwahrnehmung des Menschen, so daß für ihn auch die ‚Kulturkrise‘, auch seine Ungeborgenheit eine Frage seiner geschichtlichen Situation ist, die eine Lösung in der Geschichte verlangt. [...] Die Kulturkrise ist nicht ein meta77 78 79 80 81 82

Ebenda, S. 229f. Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 244. Hervorhebung, wo nicht anders vermerkt, im Original. Ebenda, S. 231. Hervorhebung im Original. Herrigel, Hermann: „Nur auf die Wirklichkeit ist Verlaß“: in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 53–70. Ebenda, S. 58. Hervorhebung im Original.

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physisches Problem, das eine allgemeine, endgültige Lösung verlangt, sondern sie ist ein geschichtliches Ereignis, mit einem bestimmten Verhältnis des Wandelbaren und Unwandelbaren; sie ist eine geschichtliche Aufgabe.83

Herrigel übt scharfe Kritik an Picard, indem er dessen Anbindung der Zeit an die Ewigkeit als Flucht ins „Weltbild“ darstellt, die gerade der theologisch wie geschichtlich ‚aufgegebenen‘ Ungeborgenheit ausweicht: „Auch die Ewigkeit kann zur Höhle werden, in die der Mensch flieht.“84 Herrigels Beitrag zu Die Ungeborgenen zeichnet sich theologisch insgesamt durch eine gemäßigte und vermittelnde Position aus. Er bekennt sich einerseits zur Ungeborgenheit. Das Eine ist gewiß: es gibt für den Menschen keine Insel der Geborgenheit, auf die er sich ein für allemal retten könnte. Es gibt keinen Königsweg aus der Ungeborgenheit heraus, es gibt keinen Geheimpfad nach diesem Ziel, keinen Trick, keine schwarze und weiße Magie.85

Hinter die Feststellungen der Dialektischen Theologie – mit der er wesentlich vertrauter ist als die übrigen Autoren und mit deren Vertreter Gogarten er ebenfalls befreundet ist86 – führt für ihn kein Weg zurück. Alle Selbstvergewisserung qua Religion ist Unglaube: „Alles, was uns die Rettung ein für allemal verspricht, ist eine Täuschung, die uns das verdeckt, was allein helfen kann, die Wahrheit. Erst wo wir auf die Selbsttäuschung verzichten, sind wir der Wahrheit offen.“87 Andererseits möchte Herrigel nicht bei dieser Feststellung stehen bleiben. Er sucht eine Antwort auf die Frage „Wie ist die Ungeborgenheit auszuhalten, wie ist ihr zu widerstehen, wie ist sie zu überwinden? Ungeborgenheit ist kein Weltzustand, sondern sie ist unser Zustand, unsere Angst, unsere ‚Anfechtung‘.“88 Und hier nun bringt er eine ökumenisch gereifte Theologie ins Spiel, die in der Zugehörigkeit des Menschen zur göttlichen Schöpfung Trost findet: Herrigel bezieht damit eine Position, wie sie sich auch in der katholischen Theologie Erich Przywaras89 findet – und er begründet sie mit einem Verweis darauf, was Luther in seinen Tischreden von den Anfechtungen zu sagen weiß und ‚wie man sie vertreiben und ihnen widerstehen soll [...]. Nämlich [...] derselbige halte sich erstlich an den Trost des göttlichen Wortes, darnach so esse und trinke er, und trachte nach Gesellschaft und Gespräch gottseliger und christlicher Leute, so wird’s besser mit ihm werden.‘90

83 84 85 86

87 88 89 90

Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 59. Dies zeigt etwa der öffentliche Briefwechsel an, den Herrigel und Gogarten 1924 in Zwischen den Zeiten führen: Herrigel, Hermann und Friedrich Gogarten: „Zum prinzipiellen Denken. Ein Briefwechsel“, in: Zwischen den Zeiten. Eine Zweimonatsschrift, 2. Jg. (1924), Nr. VII, S. 3–18. Herrigel: „Nur auf die Wirklichkeit ist Verlaß“, S. 59. Ebenda, S. 60. Vgl. hierzu unten Kap. 9.2, S. 459ff. Herrigel: „Nur auf die Wirklichkeit ist Verlaß“, S. 60. Das Luther-Zitat geht zurück auf Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe]. 53. Band. Tischreden. 1. Band,

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Für Herrigel besteht der Sinn der Ungeborgenheit in einem neuen Anfang – und so gilt es, über die Dialektische Theologie hinauszudenken: Die Dialektische Theologie wollte auch keine Sicherheit bringen, sondern Unsicherheit. Aber dabei kann der Mensch nicht stehen bleiben. Sie hat das erste Wort gesagt, aber sie hat uns das zweite vorenthalten. Sie hat uns die Unmöglichkeit des Menschen gelehrt, aber nicht seine Möglichkeit gezeigt; das Ende, aber nicht den Anfang.91

Die Kritik an der Dialektischen Theologie wendet sich gegen deren einseitige Betonung der Ganz-Andersheit Gottes, die die Gottesebenbildlichkeit vergisst. Mit Verweis auf Barths Römerbrief-Kommentar ruft er in Erinnerung, dass Barth darin lediglich „einen Vorbehalt zu jeder Theologie“92 habe machen wollen, der aber allzuschnell zu einem Prinzip geworden [ist], von dem aus die ganze Theologie umgestaltet wurde. Der Vorbehalt war ärgerlich gewesen und auf stärksten Widerspruch gestoßen, aber wie bald erwies sich, daß der Satz vom unendlichen Widerspruch zwischen Mensch und Gott sich ebenso leicht handhaben läßt wie der Satz der Identität!93

Diese Einseitigkeit der Dialektischen Theologie geht auch auf ihre konfessionelle Beschränktheit zurück. Dem setzt Herrigel die menschliche „Zwiespältigkeit“ entgegen; denn der Mensch verleugnet [...] seine Zwiespältigkeit nicht bloß, wenn er an seine Selbständigkeit glaubt, sondern ebenso, wenn er nur seine Gebrochenheit, in der Schöpfung nur seine Geschöpflichkeit, im Handeln nur die Grenze und nicht den Anfang, die Möglichkeit des Anfangs, sieht.94

Daraus leitet er seine Antwort auf die Frage ab, wie der Ungeborgenheit zu begegnen sei. Sie liegt in der Hoffnung auf Geborgenheit: „Geborgenheit [...] heißt nichts anderes, als daß der Mensch trotz seiner Gebrochenheit Hoffnung, den Mut, die Freudigkeit zu seinem Leben, zum Leben in dieser Welt, zur Wirklichkeit behält.“95 Und damit kommt er der Position Picards sehr nahe. Denn dieser hält in seinen Antworten auf die „Ungeborgenen“ den Gesprächspartnern die These einer grundlegenden, sämtliche Phänomene der Ungeborgenheit übersteigenden Geborgenheit entgegen. Er setzt sich damit nicht nur von ihrer – mehr oder weniger deutlich – protestantisch geprägten Position ab, sondern zugleich von der eigenen Gottverlassenheit, die den Letzten Menschen ausmachte und die auch die für den Eingangstext des Rundgesprächs ausgewählten Textpassagen aus Das Menschengesicht bestimmt.

91 92 93 94 95

Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1912.: „Experientia doctus possum docere, quomodo in tentationibus instituere animum debeas. Quando tentaris tristitia aut desperatione aut alio dolore conscientiae, tunc ede, bibe, quaere colloquia; si potes te cogitatione puellae recreare, facito.“ Herrigel: „Nur auf die Wirklichkeit ist Verlaß“, S. 69. Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 66. Ebenda. Ebenda, S. 70. Hervorhebungen im Original. Ebenda. Hervorhebung im Original.

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Gmelin und Alverdes, die sich positiv auf die Ungeborgenheit – als das „Nichts“ (Gmelin) bzw. als das „Herausschrumpfen aus den alten Konventionen“ (Alverdes) – beziehen, wirft Picard genau dies vor: Gmelin freut sich darüber, daß der Mensch heute losgerissen ist, weil der Losgerissene, abgetrennt von allem, gezwungen werde, aus dem Nichts eine neue Welt zu schaffen. Das Einfache und ganz und gar Klare, nämlich: daß der Mensch und die Schöpfung schon geschaffen sind, das erkennt Gmelin, wie die meisten heute, nicht an.96

Auch Gmelins nihilistischem Heroismus erteilt er eine Absage, „[d]enn Heroismus gibt es nur in der Welt des Seins, nicht aber in der Welt der Möglichkeiten, weil es Verantwortung nur gibt in der Welt des Seins, nicht aber in der Welt der Möglichkeiten.“97 In seiner Widerrede gegen die von beiden – Alverdes und Gmelin – diagnostizierte religiöse Bindungslosigkeit verfängt er sich allerdings in Widersprüche, die für einen modernen Literaten unverzeihlich sind. Zunächst erhebt er den Vorwurf, sie verwechseln und vermischen die Realität des Religiösen und die Worte, mit denen diese Realität beschrieben wird. Die religiöse Realität: Gott, Ewigkeit, Himmel, Hölle, Engel, ist unverändert da wie am ersten Tag und wie vor dem ersten Tag und so da, als hätte es nie ein menschliches Wort gegeben, das sie beschrieb, sie braucht das menschliche Wort nicht.98

Dass die „religiöse Realität“ unproblematisch mit den „Worten“ „Gott, Ewigkeit, Himmel, Hölle, Engel“ gleichgesetzt wird, unterläuft nicht nur die eigene Kritik an den anderen Autoren, sondern auch literarische und theologische Standards der Moderne. Dieses Dilemma durchzieht auch seine Verteidigung gegen Alverdes, der ihm eine unexakte Verwendung der Worte „Gott“, „Himmel“ und „heilig“ vorgeworfen hatte, die nicht zwischen deren Bedeutungen in verschiedenen Religionen und Konfessionen unterscheidet. Darauf entgegnet Picard: Alverdes, der in einer Welt, in der von Gott selber ganz deutlich gesagt wurde, was Offenbarung ist, dieses nur Gott gehörige Wort ‚Offenbarung‘ einer Löwenzahnblüte gibt, [ist] nicht berechtigt [...], gegen mich den Vorwurf der Unexaktheit zu erheben.99

Diese Kritik an Alverdes’ pantheistischer Verwässerung des Offenbarungs-Begriffes mag theologisch angemessen sein, sie widerspricht jedoch Picards zuvor gemachter Unterscheidung zwischen einer „Realität des Religiösen“ und den „Worten, mit denen diese Realität beschrieben wird“. Denn wenn Picard im folgenden seine mystisch inspirierte Theorie von der göttlichen Sprachgeborgenheit, wie wir sie aus dem Menschengesicht kennen, gegen die Ungeborgenheit ins Felde führt, dann beruft er sich auf das – göttliche – Wort. Er räumt ein:

96 97 98 99

Picard, Max: „Antworten“: in: Max Picard et al.: Rundgespräch: Die Ungeborgenen, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag, 1933, S. 70–79, hier: S. 70. Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 72. Ebenda. Hervorhebungen im Original. Ebenda, S. 73.

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Es ist schwer, die religiösen Worte, die ausgeweitet und ausgefranzt sind dadurch, daß sie dazu haben dienen müssen, alles Mögliche, für das sie nicht geschaffen worden sind, zu decken, es ist schwer, die religiösen Worte exakt zu gebrauchen.100

Doch der „Mensch hat die Möglichkeit, sie Gott zu bringen, damit sie an seiner Ganzheit und Klarheit wieder ganz und klar werden: der Mensch hat diese Möglichkeit im Gebet.“101 Dadurch kommt jedoch auch den übrigen „Worten“ eine göttliche Kraft der Erneuerung zu: Die anderen Worte aber, die gewöhnlichen, leben davon, daß jene wieder ganz gemacht worden sind, sie werden selber wieder an jenen ganz. Denn die heiligen Worte sind wie Abgesandte, Abgesandte ins Gebet, die, indem sie sich im Gebet wieder herstellen, auch den anderen Worten wieder Kraft zuführen.102

Dem Beitrag Herrigels, der seiner eigenen Position wesentlich näher kommt als die übrigen Texte, begegnet Picard lediglich mit dem Hinweis darauf, dass er ein anderes Verständnis der Zeit und des mittelalterlichen Menschen besitze – eine Kritik, die Herrigel allerdings verfehlt, der sich hier theologisch als deutlich bewanderter erweist. In einer in Picards Text eingefügten Fußnote weist Herrigel auf Picards Fehlinterpretation hin.103 Picard zeigt sich auch am Ende des Rundgesprächs nicht gerade als ein Meister der offenen Diskussion; seine „Antworten“ gehen kaum auf die Beiträge der anderen ein, fallen knapp und kategorisch aus. Bemerkenswert ist allerdings eine Wendung, die seine „Antworten“ am Ende vollziehen. In Abgrenzung zu den „Ungeborgenen“ entwickelt er eine Figur, die für sein späteres Werk wichtig wird – und die sich die protestantische „Ungeborgenheit“ in einer zugleich distanzierenden und einschließenden Bewegung kritisch aneignet. Allen seinen protestantischen Gesprächspartnern wirft er vor, daß der ungeborgene Mensch weniger auf das Religiöse oder Nichtreligiöse seiner Situation hin betrachtet wird als vielmehr auf das Neue seiner Situation, das Religiöse oder Nichtreligiöse dient den Betrachtenden nur dazu, das Neue zu markieren104.

Diese Bemerkung ist zumindest für Herrigel nicht ganz unzutreffend. Dabei aber verwechseln Picards Gesprächspartner – so unterstellt er ihnen – eine theologische Anthropologie mit einer ethnologischen. In dieser Perspektive aber tritt der Mensch nicht dem ‚Ganz Anderen‘ gegenüber, sondern lediglich seinem eigenen ‚ganz anderen‘. Er blickt auf seine eigene, menschliche Ungeborgenheit, auf die Besonderheit und Außergewöhnlichkeit, auf das Noch-nie-Dagewesene der Situation des ungeborgenen Menschen, man kann fast sagen: auf das Exotische der Situation. Wie ein For100

Ebenda. Ebenda, S. 72f. 102 Ebenda. 103 Picard mißversteht Herrigels Begriff funktioneller Zeit als „quantitative, gemessene Zeit“ kurz, „eine dritte Art von Zeit, die hier ganz ausscheidet“, wie Herrigel klarstellt (als Fußnote angefügte Anmerkung aus einem Brief Herrigels, zit. n. ebenda, S. 77). 104 Ebenda. 101

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schungsreisender einen seltsamen Menschenschlag beschreibt, so wird der ungeborgene Mensch beschrieben. Und nicht nur dieser oder jener Menschentyp, sondern der Mensch überhaupt wird zum Ungeborgenen proklamiert.105

Von dieser Perspektive distanziert sich Picard – und eignet sich dabei die protestantische „Ungeborgenheit“ in einer eigenartigen Fassung an: Die Ungeborgenheit, in der der Mensch doch eigentlich nicht existieren kann, wird zum Existieren eingerichtet; der Mensch wird aufgemuntert, es sich wohnlich zu machen in ihr.106

Gegen diesen Trug führt er die Ganz-Andersheit Gottes als Grund für die Ungeborgenheit an – und argumentiert damit durchaus dialektisch-theologisch: Unmöglich ist dieses „Existieren“ im Ungeborgenen nicht vom Menschen her, denn dann wäre es als Freiheit oder ‚Geworfenheit‘ zu überwinden. Eine solche existentialistische Möglichkeit aber scheidet für Picard aus, wenn er die Deutung einer solchen unmöglichen Existenz als „Kraft“ und „Selbstzweck“ ablehnt: „Die Ungeborgenheit wird zur Situation an und für sich, sie wird Selbstzweck. Man tut so, als hätte die Ungeborgenheit eine Kraft aus sich. Das ist falsch.“107 Unmöglich ist dieses „Existieren“ für ihn in einem theologisch noch viel grundlegenderen Sinn, nämlich von Gott her: Man vergißt überhaupt, daß man ungeborgen ist vor etwas, nämlich vor Gott. [...] Selbst diejenigen, die meinen, daß sie sich selber ungeborgen machen und daß, je mehr sie hinausstürzen ins Ungeborgene, desto größer ihre Kraft sei, selbst diese Losgerissenen können sich nur darum so weit hinausstürzen, weil sie sich von Gott losgerissen haben: nur wer sich von Gottes Festigkeit abstößt, kann sich so weit hinausstoßen. Gottes Kraft ist noch in der Kraft der Losgerissenheit.108

Mit dieser Denkfigur entwirft Picard eine eigenwillige Perspektive, die sein weiteres Werk beeinflussen wird. Denn auch er bejaht damit eine Losgerissenheit, die nicht nur den Menschen, sondern auch seine Beziehung zu Gott, seine religio, ausmacht. Die Ruhe der Geborgenheit, wie sie die Das Menschengesicht einleitende Berührung der Ewigkeit mit dem Menschengesicht beschrieb, bricht auf und wird, damit an die Fluchtmetaphorik des Letzten Menschen anknüpfend, zu einer Flucht in Geborgenheit: Und nur, weil Gott nicht aufhört, hinter den Losgerissenen her zu sein, nur darum vermögen sie so heftig immer weiter zu fliehen. Sie werden von Gott gejagt und sie können nur darum so eilen, weil er sie jagt. Das eben ist Gottes Liebe, daß er die Ungeborgenen verfolgen will, er und kein anderer, damit er, der Schnellste, den fliehenden Menschen immer am nächsten sei.109

In dieser seltsamen „Flucht vor Gott“ (so auch der Titel des 1934 veröffentlichten Buches,110 dessen Anliegen hier im Rundgespräch erstmalig aufscheint) amalgamiert Picard 105

Ebenda, S. 77f. Ebenda, S. 78. 107 Ebenda. 108 Ebenda. Hervorhebung im Original. 109 Ebenda, S. 78f. 110 Picard, Max: Die Flucht vor Gott, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1934. 106

„Gott über uns und in uns“. Menschengesicht und imago dei-Lehre

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Kierkegaards Quelle, die den Dürstenden sucht, und die dialektisch-theologische Losgerissenheit von Gott mit katholischer Geborgenheit und den anthropomorphen Figuren der Gottesbindung aus der jüdischen (Sprach-)Mystik zu einer paradoxen Konstruktion, wie sie wohl nur ein theologisches Denken zusammenzufügen und auszuhalten imstande ist.

9.2 „Gott über uns und in uns“. Menschengesicht und imago dei-Lehre Der Einfluss des Katholizismus auf Picard, der bereits im Zusammenhang mit der katholischen Literaturbewegung thematisiert wurde, geht nicht allein auf literaturspezifische Kontexte zurück. Das Menschengesicht steht auch im Austausch mit dem Feld der katholischen Theologie und mit Versuchen, der ‚Krise des Historismus‘ – die ja zugleich eine des Kulturprotestantismus ist – eine katholische Geschichtsschreibung entgegenzusetzen. Picards Austausch mit der katholischen Theologie steht im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um eine Kosmologie, die den Menschen und sein zutiefst problematisch gewordenes immanentes Sein in den Harmonien und Ordnungen einer göttlichen Transzendenz geborgen weiß. Dabei greift Picard auf katholische Überlieferungen zurück, die das Verhältnis des Menschen zu Gott als ein personales Verhältnis vorstellen, in dem sich Immanenz und Transzendenz – wenngleich unter dem Vorzeichen der (Ganz-)Andersheit – begegnen, ja berühren: Die Gottesebenbildlichkeit des Menschenantlitzes, die Vermittler- und (Vor-)Bild-Funktion der Heiligen sowie die (Syn-)Ästhetik des Goldgrunds mittelalterlicher Gemälde, die im folgenden als Kontexte des Menschengesichts näher untersucht werden sollen, bergen das Versprechen, dass das ‚Ganz Andere‘ nicht allein in seiner radikalen Geschiedenheit von aller Immanenz zu suchen sei, sondern sich dem glaubenden Blick – bei aller Differenz – zu erkennen gibt. Die Rede von der „Gottesebenbildlichkeit des Menschengesichts“, die das gesamte Menschengesicht durchzieht,111 greift die in der zeitgenössischen katholischen Theologie virulente Frage nach der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zwischen Gott und Mensch auf: Als Antwort nicht nur auf diese traditionelle, ewig junge theologische Frage, sondern auch auf die Provokationen und Erschütterungen des zeitgenössischen theologischen Feldes durch die vorwiegend vom Protestantismus getragene112 Dialekti111

Nicht umsonst setzt das Werk nach der einleitenden Passage über „Das Anschauen eines Menschengesichts“ mit den Kapiteln „Das Ebenbild Gottes“ und „Die Eigenschaften des Ebenbildes“ ein. 112 Wenn auch ihre bekanntesten Vertreter – Barth, Tillich, Brunner, Gogarten – protestantische Theologen waren, so ist die Dialektische Theologie keineswegs eine exklusiv protestantische Bewe-

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sche Theologie, kommt es auch im Katholizismus zu theologischen Neuerungsversuchen. Sie greifen philosophische Einflüsse wie Husserls Phänomenologie und Schelers „Personalismus“ sowie die radikale Kritik Barths (und damit auch Nietzsches und Kierkegaards) auf, akzentuieren jedoch die Unermesslichkeit und radikale Andersheit Gottes neu und kritisieren die extreme Position protestantischer Theologie, indem sie auf die alte Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Schöpfung verweisen. Die Verbindung dieser Tradition mit der radikalen Andersheit Gottes zu einem Spannungsverhältnis zeichnet eine einflussreiche Position innerhalb der katholischen Theologie aus. Sie ist Teil einer gemäßigten Aufbruchsbewegung innerhalb der Katholischen Theologie, die sich zum Teil deutlich von der katholischen Orthodoxie und den verschiedenen Positionen der protestantischen Theologie absetzt. Gegen die traditionellen, der kirchlichen bzw. päpstlichen Lehre streng folgenden Vertreter katholischer Theologie unternimmt diese neue katholische Theologie eine entschiedene Hinwendung zur Wirklichkeit – und das heißt insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Moderne, die über eine streng ablehnende Haltung hinausgeht. Die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Sonderstellung des Katholizismus zur modernen Gesellschaft wird dabei zum Teil aufgegeben und zu einer neuen ‚exklusiven‘ Weltanschauung gewendet. Das bedeutet eine Abkehr vom gesellschaftlichen Außenseitertum und Separatismus, wie sie die katholische ‚Sondergesellschaft‘ des 19. Jahrhunderts auszeichnete: Durch seine weltabgewandte Haltung, die den Entwicklungen der maßgeblich vom aufgeklärten Protestantismus beeinflussten modernen Kultur und Gesellschaft feindlich gegenüberstand, hatte der Katholizismus zunehmend an Einfluss verloren und spielte gesellschaftlich nur noch eine marginale Rolle – oft ohne sich darüber klar zu werden. Doch nach dem Scheitern der (protestantischen) Fortschrittsgläubigkeit erschienen nun – angesichts der ‚Katastrophe‘ der Moderne im Weltkrieg – traditionelle Ordnungsvorstellungen des Katholizismus als richtungsweisendes Potential, aus dem die katholische Theologie eine neuerliche Führungsrolle abzuleiten versuchte: Trotz oder gerade wegen ihrer Marginalität und ihres Anachronismus erschienen katholische Ordnungsansprüche nun auf einmal aktuell und zukunftsweisend. Die „verlorene Nützlichkeit der Religion“113 schien überwunden. gung: Der Katholik Ferdinand Ebner äußert in seinem Werk Das Wort und die geistige Realität als einer der ersten negativ-theologische Gedanken, die auf den Einfluss einer Kierkegaard-Lektüre zurückgehen. Er befördert damit die Renaissance dieses alten theologischen Ansatzes und beeinflusst nicht nur das Dialogische Denken, sondern auch die entstehende Dialektische Theologie. 113 Mit diesem m. E. etwas unglücklichen Begriff hat Thomas Ruster die Stellung des Katholizismus in seiner ansonsten sehr lesenswerten Studie zur Aufbruchsbewegung der katholischen Theologie bezeichnet. Es handelt sich eher um die Wiedergewinnung der ‚Unersetzlichkeit‘ des katholischen Glaubens und seiner kirchlichen Bindungen: „Der leitende Gesichtspunkt im Denken jener römisch-katholischen Theologen war es, die ‚Nützlichkeit‘ der katholischen Religion auch und gerade in den veränderten Zeitumständen zu erweisen. Zu stark war die Erinnerung an eine verflossene Epoche des Katholizismus, in der der Glaube und die Kirche eine tragende, unersetzliche Bedeu-

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Dabei wurde die separatistische Sonderstellung zur Welt allerdings nicht vollständig aufgegeben: Man wandte sich der modernen Wirklichkeit zu und setzte sich mit ihren Positionen auseinander, dabei ging es jedoch zumeist weniger um das Aufzeigen konkreter Lösungsansätze und Handlungsprinzipien, sondern um eine Einstellung zur Welt aus katholischem Glauben heraus, die es ermöglichte, der Realität zu begegnen und dabei zugleich eine ‚exklusive‘ Distanz zu bewahren. Die vom Katholizismus beanspruchte Führungsrolle zielte nicht auf moralische Maximen, sondern auf eine ‚Weltanschauung‘. Nur einige Vertreter der neuen katholischen Theologie gingen so weit, die universale Gültigkeit katholischer Ordnungen zu postulieren – andere hatten sich jedoch mit den Grenzen abgefunden, die dem katholischen Glauben in der modernen Gesellschaft gesetzt waren. Die – zumindest dem eigenen Anspruch nach – veränderte soziale Stellung des Katholizismus schlug sich auch im Feld der katholischen Theologie als eine eigene Strömung nieder, der sich verschiedene und recht unterschiedliche Positionen zuordnen lassen. Sie erhielt wichtige Impulse aus zeitgenössischen religiösen (Laien-)Bewegungen wie der Liturgischen Bewegung, der katholischen Friedensbewegung, der Jugendbewegung und der Bewegung katholischer Akademiker. In den neuen katholischen Bewegungen spiegelt sich der katholische Aufbruch der Nachkriegszeit. Einerseits versuchten sie in Form und Anspruch den ‚modernsten realen Gegebenheiten‘ gerecht zu werden, andererseits aktivierten sie ganz bestimmte, gewissermaßen unbeschädigte Bestände der kirchlichen Tradition. Klösterliche Ideale und Lebensformen, die seit mehreren hundert Jahren unveränderte kirchliche Liturgie, der Kanon katholisch-scholastischer Bildung und die Errungenschaften des katholischen Kulturschaffens: daran ließ sich anknüpfen, wenn man den Vergangenheitsbedarf in einer sich rapide wandelnden Gesellschaft befriedigen wollte. Die Nachfrage nach Religion ließ sich als Suche nach dem Immer-Wahren, dem stets Gültigen, dem aller Veränderung Entzogenen entziffern.114

Die neue theologische Position lässt sich anhand von fünf Punkten skizzieren, die sie von der katholischen Orthodoxie ebenso wie von der protestantischen Theologie unterscheiden. Die Gesamtheit dieser fünf Merkmale findet sich allerdings keineswegs bei allen Vertretern – oft weisen ihre Arbeiten nur einige der im Folgenden dargestellten Positionen auf. Als gemeinsamer, bei fast allen Protagonisten zentraler Ansatz lässt sich eine spezifische Art der Hinwendung zur Lebens-Wirklichkeit und zur kulturellen und gesellschaftlichen Moderne ausmachen. Gegen eine rein geistige und abstrakte Theologie, aber auch gegen die von der Negativen Theologie oder der Dialektischen Theologie betonte Gottverlassenheit der immanenten Welt setzten Theologen wie Romano Guardini, tung für das Leben der Gemeinschaft und der einzelnen innegehabt hatten. Eine ‚unnütze‘ Religion, eine Religion, die sich ihrer Wahrheit nicht im Blick auf ihre Unersetzlichkeit für das Zusammenleben der Menschen versichern konnte, wollte und konnte man sich nicht vorstellen.“ (Ruster, Thomas: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 1994, Hervorhebungen K. L.) 114 Ebenda, S. 83.

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Joseph Wittig, Ernst Michel, Odo Casel oder Erich Przywara eine positive, lebensbejahende Einstellung zum Diesseits, die aus dem Glauben eine Kraft bezieht und mit ihr die Wirren der modernen Verhältnisse nicht nur auszuhalten vermag, sondern imstande ist, die Schönheit der von Gott geschaffenen Schöpfung wiederzuentdecken. Ein zweites Merkmal, das sich bei den meisten Theologen findet, ist der Verweis auf katholische Ordnungsprinzipien und klare Hierarchien, die man den durcheinandergeratenen Lebensvollzügen der Moderne – ihren ‚Mannigfaltigkeiten‘ – entgegensetzte. Eine wichtige Rolle spielte auch die Betonung des Kollektivs, das man der subjektivistischen Lebenseinstellung von Protestantismus und Moderne entgegenhielt – auch wenn das Subjektive nun teilweise als Lebensrealität wahrgenommen, reflektiert und manchmal auch integriert wurde, wie etwa im Personalismus. Als Vorbild galt dabei selbstverständlich die Gemeinschaft der katholischen Kirche mit ihrer organischen Gliederung, die einer strengen, allem Individuellen übergeordneten Hierarchie gehorchte. Damit ging oft eine Ablehnung gegenüber dem einher, was abfällig mit den Schlagworten der ‚Masse‘ und der ‚Demokratie‘ bezeichnet wurde. Bei einigen Vertretern konnte die Betonung des Kollektiven auch streng nationalistische oder rassistische Züge annehmen. Die sogenannte ‚Theologie des Reiches‘ etwa sah den Katholizismus und die römische Kirche als Vorbild für den faschistischen Staat.115 Ein letztes wichtiges Merkmal, das sich vor allem kritisch gegen die katholische Orthodoxie richtete, waren die mit der Hinwendung zur Realität und zur Gegenwart einhergehenden ökumenischen Annäherungen an die protestantische und zum Teil auch an die jüdische Theologie. Diese Bestrebungen spielen insbesondere bei einigen Vertretern der katholischen Theologie eine Rolle, die sich der einschneidenden Bedeutung Kierkegaards und der Dialektischen Theologie für das theologische Feld der Zeit bewusst wurden und sich intensiv mit ihnen beschäftigen. Zu ihnen gehörte Erich Przywara, der – wie im Folgenden deutlich wird – auch Picards Denken stark beeinflusste. So wie die Merkmale der neuen katholischen Theologie – Hinwendung zur Welt, Hierarchie und Ordnung, Betonung der Gemeinschaft und Vorbild der Kirche, Nationalismus/Rassismus und Ökumene – nicht bei allen ihren Vertretern in ihrer Gesamtheit hervortreten, so schlägt sich auch der starke Einfluss dieser Theologie auf Picards Menschengesicht nur in einigen Punkten nieder: Während die Hinwendung zur immanenten Wirklichkeit aus einer positiven, lebensbejahenden, der Harmonie und Schönheit verpflichteten katholischen Weltsicht sowie 115

Dass beide Kollektive – das der Kirche und das des Staates – auch ‚analog‘ gedacht werden konnten, drückte 1933 Ildefons Herwegen, der Abt der politisch einflussreichen rechtskatholischen Abtei Maria Laach, aus: „Was auf religiösem Gebiet die Liturgische Bewegung ist, ist auf dem politischen Gebiet der Faschismus. Der deutsche Mensch steht und handelt unter Autorität, unter Führerschaft […]. Wer nicht folgt, ist ein Schädling für die Gemeinschaft. […] Sagen wir ein rückhaltloses Ja zu dem neuen Gebilde des totalen Staates, das durchaus analog gedacht ist dem Aufbau der Kirche. Die Kirche steht in der Welt wie das heutige Deutschland in der Politik.“ (zit. n. Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 105)

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das Denken in hierarchischen Ordnungen ohne Zweifel eine maßgebliche Wirkung auf das Menschengesicht und die darin vollzogene thematische wie stilistische Neupositionierung Picards hatten, spielten das Kollektive und die Vorbildfunktion der katholischen Kirche sowie die nationalistischen Tendenzen bei ihm so gut wie keine Rolle. Die ökumenischen Bestrebungen schließlich finden sich ebenfalls bei Picard: Davon zeugen sowohl der im Rundgespräch Die Ungeborgenen unternommene, wenngleich eigenwillige und zum Teil anmaßende Austausch mit protestantischen Autoren116 als auch die Anklänge an traditionelle und zeitgenössische jüdische Theologien.117 Besonders deutlich zeigt sich bei Picard der Einfluss der Theologie Erich Przywaras (1889–1972), der einer der profiliertesten Denker der neuen katholischen Strömungen war. Zwischen Przywara118 und Picard entwickelte sich eine persönliche Bekanntschaft, in der sich beide auch über ihre Schriften austauschten – und zumindest bei Picard hinterließen die Arbeiten Przywaras deutliche Spuren. Im Zentrum des Przywara’schen Werkes steht die Spannung zwischen dem deus absconditus und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die er in die Formel „Gott in uns und über uns“119 gefasst hat. Sein Ansatz kreist um die bereits 1215 vom IV. Laterankonzil zum Glaubensgrundsatz erhobene Lehre von der analogia entis, die ihrerseits auf die aristotelische Scholastik zurückgeht. Sie lehnt zwar eine völlige Gleichheit alles Seienden mit dem Sein (Gottes) ab, wendet sich zugleich aber auch gegen eine vollkommene Unvereinbarkeit von Kreatur und Schöpfer, Vernunft und Glauben, wie sie etwa verschiedene negativ-theologische Ansätze oder Barth vertreten: Letzterer hielt nicht ohne Grund die Lehre von der analogia entis für das größte Hindernis des interkonfessionellen Dialogs. Auf die analogia entis verweist Przywara auch 1958 in einem Beitrag über Picards Schriften, in dem er die Auseinandersetzung Picards mit der imago dei als die „theologische[...] Botschaft von Max Picard“120 würdigt. Diese Botschaft laute, theologisch formuliert: Der Mensch als ‚Imago Dei‘ heißt: Daß er so zu Gott hin eingeähnlicht ist (in einer ‚tanta similitudo‘), daß er doch, als Geschöpf inmitten der Schöpfung, zum selben Gott hin in ‚je größerer Unähnlichkeit‘ (in einer ‚maior dissimilitudo‘) steht.121 116

Vgl. oben S. 440ff. Vgl. oben S. 373ff. und unten S. 475ff. 118 Ausführlich zu Przywara vgl. Zechmeister, Martha: Gottes-Nacht. Erich Przywaras Weg negativer Theologie, Münster: LIT, 1997. 119 So lautet auch der Titel eines 1923 in den Stimmen der Zeit erschienenen Beitrags, eines seiner wichtigsten Aufsätze: Przywara, Erich: „Gott in uns und über uns“: in: Erich Przywara, Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927. Bd.II, Augsburg: Dr. Benno Filser-Verlag, 1929 [1923], S. 543–578. 120 Im Titel des Aufsatzes für die Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Picards: Przywara, Erich: „Imago Dei. Zur theologischen Botschaft von Max Picard“, in: Wilhelm Hausenstein und Benno Reifenberg (Hrsg.), Max Picard zum siebzigsten Geburtstag, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 1958, S. 61–77. 121 Ebenda, S. 66. 117

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Wie genau dies zu verstehen ist, legt Przywara anhand einer Exegese der für die Theorien der Gottesebenbildlichkeit, der analogia entis und des Menschen als imago dei maßgeblichen Verse Gen 1,26 dar. Diese Stelle hat der Theologie zahlreiche Rätsel aufgegeben, aus denen recht widersprüchliche und spannungsreiche Auseinandersetzungen entstanden sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von ‚Bild‘ und ‚Gleichnis‘, als das der Mensch in der Rede von der Schöpfung „gemäß seinem [Gottes, K.L.] Bild (eikõn) und Gleichnis (homoiõsis)“ („kat’ eikona hēmeteran kai homoiõsin“) erscheint: Zielt diese Doppelung der Ausdrücke auf eine große bildliche Ähnlichkeit oder gar Gleichartigkeit zwischen göttlichem Urbild und menschlichem Abbild – oder gerade auf die Kluft, die alle Bilder zu lediglich gleichnishaften Parabeln degradiert? Im Streit um die Beantwortung dieser Frage hat sich die auf Irenäus von Lyon (ca. 135–202) zurückgehende strikte Entgegensetzung der griechischen Begriffe eikõn und homoiõsis bzw. ihrer lateinischen Äquivalente imago und similitudo durchgesetzt. Seine Position ist kanonisch geworden und hat die Diskussion in den folgenden Jahrhunderten bestimmt: Im Begriff des Bildes (eikõn/imago) sind weder Identität noch Gleichheit enthalten – der sündige Mensch ist lediglich zu einer repräsentativen Erkenntnis Gottes qua Vernunft in der Lage; erst die heilsgeschichtliche Erlösung versetzt ihn in den Status der homoiõsis/similitudo. Thomas von Aquin übernimmt diese Unterscheidung von imago und similitudo, fügt ihr jedoch einen wichtigen Aspekt hinzu. Die Gottesebenbildlichkeit geht bei ihm auf die menschliche Einheit von Leib und Seele, und zwar vornehmlich auf den der Seele innewohnenden Geist zurück. Thomas’ Lehre von der imago dei ist für die katholische Theologie insofern maßgeblich geworden, als er „die Natur des Geistes (mens) in dessen Offenheit (aptitudo) zur Gotteserkenntnis und -liebe, d. h. in die Hinordnung auf eine personale Begegnung zum Schöpfer“122 verlegt; allein der ‚geistige Akt‘ ermöglicht eine Beziehung zu Gott als ‚reinem Akt‘ und damit eine Verwirklichung der Gottesebenbildlichkeit. Mit dem Hinweis auf die allein dem Menschen zukommende Fähigkeit der geistigen Gottes-Erkenntnis begründet Thomas also dessen Sonderstellung, es findet darin der alte Gedanke einer Gegenwart des Urbildes im Abbild in bestimmter Weise eine Bestätigung; denn in der thomanischen Philosophie gilt für die immanenten Tätigkeiten des Erkennens und Liebens, daß das Erkannte im Erkennenden und das Geliebte im Liebenden ist.123

Und diese Enthaltung des Objekts im Subjekt, wie sie die liebende und erkennende Begegnung auszeichnet, gewinnt im Kontext des Personalismus und der katholischen Theologie der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts erneut an Aktualität. Sie fließt ein in Przywaras paradoxe Formulierung einer Unähnlichkeit „in-über“ Ähn122

Schlüter, D.: Art. „Gottebenbildlichkeit“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, Sp. 814–818, hier: Sp. 816. 123 Ebenda, Sp. 817.

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lichkeit, die – mit der Dialektischen Theologie – der Ganz-Andersheit Gottes Referenz erweist, zugleich aber – gegen die Dialektische Theologie – der irdischen Welt „Eigenwirklichkeit und Eigengesetz des Geschöpflichen“124 belässt. In streitbarer Auseinandersetzung mit Barth – mit dem er auch einen persönlichen Austausch pflegt – kritisiert Przywara in den zwanziger Jahren dessen neo-orthodoxes Lutherverständnis, in dem er die Gefahr einer Abwendung von Gott angelegt sieht, insofern „alle extreme Transzendenz schon keimhaft extreme Immanenz ist“125. Die Neuzeit sei in einen „furchtbare[n] Taumel [...] von wollüstig genießerischer Welttrunkenheit zu fanatischem eschatologischem ‚Welthaß‘“126 geraten, in dem sie „zwischen gottesleugnerischer Weltimmanenz und weltflüchtigem Schwärmertum hin und her schwankt“127 – ein Taumel, der erst durch die Radikalität extremer Positionen entstehe. Die Heftigkeit dieser Kritik sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Przywara die protestantischen Positionen und Provokationen sehr ernst nimmt: Nicht nur Barth ist dabei von entscheidender Bedeutung, auch Das Geheimnis Kierkegaards128 hatte er 1929 für den Katholizismus fruchtbar zu machen versucht. In der Auseinandersetzung mit diesen beiden Schwergewichten protestantischer Theologie entwickelt er eine Position der ökumenischen Annäherung und des Dialogs. Und er richtet seine Kritik auch keineswegs allein in Richtung Protestantismus, sondern ebenso gegen den Katholizismus: Immer und immer wieder ist es der Traum einer rein jenseitigen und unsichtbaren Gottesgemeinschaft, der umschlägt in einen ebenso extremen Erlebnisimmanentismus, – und man kann nicht sagen, daß der nachreformatorische Katholizismus sich von diesen Einflüssen ferngehalten hätte.129

Dass Przywaras Verständnis der analogia entis dennoch ein genuin katholischer Ansatz ist, der durchaus theologische Parallelen zu der ebenfalls um eine Modernisierung bemühten katholischen Literaturbewegung aufweist, zeigt sein mahnender Aufruf, in dem er sich auf Thomas von Aquin und eine auf diesen zurückgeführte „Urgesundheit“ beruft: An Stelle der Urkrankheit des neuzeitlichen ‚Gott alles allein‘ die Urgesundheit des thomistischen ‚Gott alles in allem‘: an Stelle ‚Gott über uns oder Gott in uns‘ (in-Gott-aufgesogene Welt oder in-Welt-aufgelöster Gott) das große, lebensbefreiende ‚Gott über uns und in uns‘130.

124

Przywara, Erich: „Neue Religiosität“: in: Erich Przywara, Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927. Bd. I, Augsburg: Dr. Benno Filser-Verlag, 1929 [1925], S. 48–77, hier: S. 64. 125 Przywara: „Gott in uns und über uns“, S. 563. 126 Przywara, Erich: „Sendung“: in: Erich Przywara, Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927. Bd.II, Augsburg: Dr. Benno Filser-Verlag, 1929 [1924], S. 958–962, hier: S. 961. 127 Przywara: „Gott in uns und über uns“, S. 556. 128 Przywara, Erich: Das Geheimnis Kierkegaards, München, Berlin: Oldenbourg, 1929. 129 Przywara: „Gott in uns und über uns“, S. 556f. Damit schließt Przywara die katholische Mystik in seine Kritik ein, die ebenfalls einen wichtigen Bezugspunkt seines theologischen Denkens darstellt. 130 Przywara: „Sendung“, S. 961.

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In dieser Formel schlägt sich ein zentrales Motiv der Przywara’schen Theologie nieder: die Suche nach einem harmonischen Ausgleich der Gegensätze von Gott und Welt, Transzendenz und Immanenz, die unter den Bedingungen einer Anerkennung der modernen Lebenswirklichkeiten nur um den Preis der Paradoxie möglich war. Das Bemühen um paradoxe Harmonien, dem die Welt als in Extreme zerfallende Gegensätze erscheint, welche es gerade als solche in ihrer Bedeutung zu würdigen gilt, ist bei Przywara nicht nur das zentrale thematische Motiv, sondern geradezu sein theologisches Verfahren: Seine größeren Aufsätze und Bücher haben in etwa immer denselben Aufbau: er exponiert das Problem, um das es geht, zeigt sodann auf überkommene oder gegenwärtig diskutierte Lösungsvorschläge, die er – oft in einem äußerst gelehrten Durchgang durch die Denkgeschichte –, als Vereinseitigungen und Übersteigerungen verwirft. Alles Gelesene ordnet sich ihm einer dieser Seiten zu, häufig zusammengedrängt in einen einzigen Begriff, in dem er komplexe philosophische oder theologische Systeme komprimierte, um ihre Position in seinem Schema deutlich zu machen. Als Einseitigkeiten behalten sie aber für ihn ihren Wert, denn sie deuten auf die ‚Mitte‘, den Ort zwischen den Extremen, wo die richtige Lösung zu finden ist. Diese Mitte […] konnte er aber nicht einfach aus den Beständen der katholischen Theologie entnehmen, war [sie] doch seiner Meinung nach auch innerhalb des Katholizismus durch Gegensätze, durch ein ‚Entweder-Oder‘ verdeckt. Es galt also, die Mitte auch des Katholischen wieder freizulegen; an die Stelle des alten ‚Entweder-Oder‘ […] habe das ‚positive Schaffen aus dem Eigenen‘ zu treten, dem sich Przywara selbst verschrieb.131

Die geistige Verwandtschaft zwischen Przywaras ‚Mitte‘ und den paradoxen Harmonien, wie sie die Positionen und literarischen Verfahren des Menschengesichts auszeichnen, liegen auf der Hand. Und die auf Przywaras Theologie gemünzten Worte Thomas Rusters beschreiben genau das, was Picards Menschengesicht literarisch ‚bewegt‘: Przywara hielt die analoge Einheit von Gott und Welt gleichsam in einem stehenden Bild fest, das, wie dynamisch bewegt, schwebend und von rhythmisch schwingenden Polaritäten auch immer erfüllt, doch der Dynamik geschichtlicher Veränderung entzogen war. 132

131

Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 270f. Przywaras Verfahren, die unterschiedlichsten Positionen einem Denken in Polaritäten einzugliedern und diese dann zwar in der ‚Mitte‘ aufzulösen, aber doch ernstzunehmen, führt ihn auch in die Nähe zu konservativ-revolutionären, völkischen und rassistischen Autoren. Er rezipiert noch in seinem 1952 erschienen Humanitas. Der Mensch gestern und morgen nicht nur Autoren wie Spengler, Schmitt oder Donoso Cortés, sondern im Kapitel „Kampf um Gott“ glühende Anhänger und Wegbereiter des Nationalsozialismus wie Blunck und Kolbenheyer, im Kapitel „Die Überwindung des Individualismus“ Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck. Den auf dem Cover beschworenen „Bruch innerhalb des Humanismus selber, [...] der der eigentliche Ursprung des Humanismus der Totalitarismen ist“ (Przywara, Erich: Humanitas. Der Mensch gestern und morgen, Nürnberg: Glock und Lutz Verlag, 1952), sucht man dabei oft vergebens, wenn Bluncks „ausdrückliche[r] Kampf um Gott als deutsches Schicksal“ (ebenda, S. 69) hervorgehoben wird oder sich „alle Ideale Langbehns gerade im Katholischen [erfüllen]“ (ebenda, S. 584). ‚Gerade‘ gegen Langbehn wurde schon von seinen Zeitgenossen der Vorwurf erhoben, im Gewande der Theologie etwas ganz anderes zu betreiben. 132 Ebenda, S. 289.

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Wie Przywara führt auch Picard die Gottesebenbildlichkeit auf ein Verhältnis der Ähnlichkeit ‚in je größerer Unähnlichkeit‘ zurück: „Gott zeigt sich im Menschen, der Mensch ist Gottes Ebenbild. Es ist unerforschlich, warum er sich zeigt. Er zeigt sich, und zugleich ist er die Unerforschlichkeit selber.“133 Ganz thomistisch wird dabei die religio gefasst als eine Geborgenheit in der Dimension des Offenen, Unerforschlichen: Und weil Gottes Unerforschlichkeit nicht ängstigt, sondern ruhig macht, so ängstigt auch das Unerforschliche des Menschengesichtes nicht, es macht auch ruhig. Es ist offen im Menschengesicht darin. Es ist sichtbar, wie Gottes Unerforschlichkeit sichtbar ist.134

Gegen den neuzeitlichen „Taumel“ zwischen extremer Transzendenz und der in dieser „schon keimhaft [angelegten] extreme[n] Immanenz“ setzt Picard die Gottesebenbildlichkeit des Menschengesichts als Mahnung an das von Przywara verkündete „große, lebensbefreiende ‚Gott über uns und in uns‘“. Und der Berührung mit dem göttlichen ‚Ganz Anderen‘ als schockartigem, das Ich übersteigendem, erschütterndem und außer sich bringendem Erlebnis stellt er die personale Begegnung mit dem ‚menschlichen anderen‘ zur Seite. Beide Begegnungen werden zwar nicht gleichgesetzt, doch erscheint letztere als Vermittlung der ersteren: Ganz ähnlich ergänzt Przywara die negative Theologie „des absoluten Nein“135 durch das deum in omnibus quaerere et invenire („Gott suchen und finden in allen Dingen“) des Ignatius von Loyola (des Gründers des jesuitischen Ordens, dem er selbst angehörte). Die damit gebotene Hinwendung zum Irdischen, das „ja sagen zu Welt und Mensch und Leben“136 verhindert die „Luftleere sozusagen der Welt- und Lebensentrücktheit [...], es würde sonst diese Luftleere eine Gottesleere werden, und Welt- und Lebensflucht Gottesflucht.“137 Przywaras Gottsuche ist ein Ringen um Gott, das nichts entheiligt, nichts entwirklicht, nichts entwertet [...], das [...] eigentlich nicht mehr Ringen genannt werden könnte oder wenigstens jeglichen Krampfes des Ringens ledig ist, – dieses Ringen verklärt sich zum Segen. Dieses Gottsuchen, das aus der Ehrfurcht vor allen Gottesgeschöpfen emporsteigt, ist schon Gottfinden.138

Przywara bescheinigt Picards Physiognomik, den Aufruf zu einem solchen Ringen zu beherzigen: Picard sieht in [der] dynamischen Antithetik seiner prophetischen Physiognomik also den Menschen zugleich in höchster Ähnlichkeit zu Gott (im ‚Sternengesicht‘) und in abgründiger Widersprüchlichkeit zu Gott (im ‚Erdgesicht‘ in der ‚Flucht vor Gott‘, im Symbol des ‚Kugligen Menschen‘). Er sieht den Menschen in der Antithetik zwischen ‚Bild Gottes‘ und ‚Gegenbild Gottes‘, hinein in das Übermachten Gottes allein.139 133

Picard: Das Menschengesicht, S. 16. Ebenda. 135 Przywara: „Gott in uns und über uns“, S. 553. 136 Przywara, Erich: „Ringen um Gott“: in: Erich Przywara: Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927. Bd.I, Augsburg: Dr. Benno Filser-Verlag, 1929 [1924], S. 240–250, hier: S. 246. 137 Ebenda. 138 Ebenda, S. 250. 139 Przywara: „Imago Dei. Zur theologischen Botschaft von Max Picard“, S. 62. 134

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Erst vor diesem theologischen Hintergrund erschließt sich die Bedeutung von Picards ‚physiognomischem Personalismus‘. Durch die Begegnung mit dem Gesicht des menschlichen Mitgeschöpfs gerät der Mensch ‚außer sich‘; dieses Außer-sich-Geraten transzendiert die irdische Zeit und weist damit – sozusagen „hinein in das Übermachten Gottes“ – auf die Herkunft des Menschen aus der imago dei hin: Zwei Menschengesichter schauen sich an, – es entsteht zuerst ein Schweigen. Nicht vom Irdischen, von der Ewigkeit stammt dieses Schweigen. Zwei Menschengesichter sehen sich an, – die Zeit hört einen Augenblick auf abzulaufen, sie steht still. Und alle Stunden, die in der Zeit verborgen sind, fangen an, auf einmal miteinander zu schlagen, alle, – aber indem alle miteinander schlagen, hebt sich ihr Ton wunderbar auf, und in dieses laute Schweigen der Stunden tritt die Ewigkeit herein140.

Bei aller Ähnlichkeit bleiben aber das Gottes-Geheimnis und sein „Übermachten“ gewahrt, denn das Menschengesicht „spürt, daß zugleich mit ihm die Ewigkeit das andere Menschengesicht anschaut, und sobald es das spürt, schließt es die Augen; es will nicht zugleich mit der Ewigkeit schauen.“141 Das Menschengesicht unterwirft sich der ‚je größeren Unähnlichkeit‘ der ‚Ewigkeit‘, ihrem ‚Über‘ – und bleibt dennoch gerade dadurch im ‚In‘: [K]aum hat es die Augen geschlossen, so fühlt es, daß es nun selber von der Ewigkeit angeschaut wird, es ist ihm, die Lider würden durchsichtig, da die Ewigkeit darauf schaut. Es öffnet die Lider und schaut wieder auf das Menschengesicht gegenüber, und jetzt, jetzt scheint es ihm, die Ewigkeit sei mit ihrem Blick dort weggegangen, damit das Menschenauge sich getrauen kann zu schauen.142

9.3 „Wie aus einer Falte des Goldgrundes hervorgetreten“. Die Bemühungen um ein katholisches Geschichts-Bild Die Bedeutung des Bildes in der katholischen Überlieferung spielt nicht allein im Zusammenhang mit Picards Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschengesichts eine Rolle. Auch in seinen Bemühungen um ein Denken der Geschichte jenseits von Kulturprotestantismus und Kulturverfall greift Picard auf eine katholische Tradition zurück: die Darstellungen von Heiligenfiguren auf Goldgrund, die sich insbesondere in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ikonologie entwickeln und denen in Kunsttheorie und -praxis eine wichtige Rolle zukommt. Picards Auseinandersetzung mit dieser Tradition, die nicht wie die imago dei-Lehre vorwiegend in Texten überliefert wird, sondern sich ganz entscheidend auch in Bildern niederschlägt, verweist auf synchrone wie diachrone Kontexte: Denn die um 1900 ein140

Picard: Das Menschengesicht, S. 14. Ebenda. 142 Ebenda, S. 14f. 141

„Wie aus einer Falte des Goldgrundes hervorgetreten“

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setzenden Versuchen, Kulturprotestantismus und Historismus eine eigenständige katholische Geschichtstheorie entgegenzustellen, nutzen den Goldgrund wiederholt zur (metaphorischen) Begründung einer ‚Geschichts-Bild-Theorie‘ im wahrsten Sinne des Wortes. Doch zunächst zu den diachronen Kontexten: Die mittelalterliche Sakralkunst verwendet den Goldgrund als flächigen Bildhintergrund, der die Darstellungen der Heiligenfiguren rahmt und hervortreten lässt,143 um das Spannungsverhältnis zwischen der Unantastbarkeit der Transzendenz und einer personalen Begegnung resp. sinnlichen Berührung mit der göttlichen Sphäre zu inszenieren. Der Glanz des Goldes und die blendende Kraft seiner Strahlen symbolisieren für die sakrale Bildkunst des Mittelalters das Ineinander von Unnahbarkeit und wirkender Macht. Es wäre daher verkürzt, dem Goldgrund eine feststehende Bedeutung zuzuweisen; vielmehr steht seine Verwendung für ein heterogenes Spektrum von Bedeutungen.144 Innerhalb dieser konkurrierenden Interpretationen bezieht sich Picard auf jene, in der das Gold – ähnlich wie in der imago dei-Lehre – die Überlegenheit und Unfassbarkeit Gottes mit seiner Hinwendung zu den den Menschen verbindet. Der „Materiecharakter“ war dabei für den mittelalterlichen Künstler wie Betrachter keinesfalls ohne Konsequenzen für die Bedeutung eines Goldgrundbildes, vielmehr dient er der Auratisierung und Sakralisierung des Bildes. In diesem Sinne konnte der Goldgrund mit seinem ‚übernatürlichen und durchaus unwirklichen Charakter‘ von den Malern in seiner ästhetischen Qualität und Aufgabe verwendet werden, dessen Ergebnis die hoheitsvolle Entrücktheit des Bildes war. [...] Das kaum Vorstellbare und nicht Darstellbare wird im Glanz [...] überwältigend sinnlich erfahrbar, die Materie immaterialisiert sich.145 143

Vom Bildaufbau her betrachtet, handelt es sich natürlich nicht um den Bild-Grund, sondern um die nach dem Grundieren (zumeist auf Kreidegründen) und dem Auftragen des Poliments (einer oft in Rot- oder Gelbtönen gefärbten Haftschicht aus Tonerde) zuletzt aufgetragene oberste Schicht des Bildes, die gelegentlich nochmals durch sog. Punzier-, Trassier- oder Gravurverfahren bearbeitet wird. Vgl. allgemein zur Kunstgeschichte der Heiligenbilder auf Goldgrund: Weppelmann, Stefan (Hrsg.): Geschichten auf Gold. Bilderzählungen in der frühen italienischen Malerei, Berlin, Köln: SMB-DuMont, 2005; Schneede, Uwe M. (Hrsg.): Goldgrund und Himmelslicht. Die Kunst des Mittelalters in Hamburg. Katalog zur Ausstellung der Hamburger Kunsthalle in Zusammenarbeit mit dem Museum für Hamburgische Geschichte, dem Museum für Kunst und Gewerbe, der Staatsund Universitätsbibliothek – Carl von Ossietzky und dem Staatsarchiv Hamburg vom 19. November 1999 bis 5. März 2000, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, 1999; Beer, Ellen J.: „Marginalien zum Thema Goldgrund“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46. Jg. (1983), Nr. 3, S. 271–286. 144 Insbesondere die Frage, ob „dem Goldgrund im Mittelalter eine Bedeutung als idealer Raum oder raumhaltiges Element zukam“ (Wenderholm, Iris: „Aura, Licht und schöner Schein. Wertungen und Umwertungen des Goldgrunds“, in: Stefan Weppelmann (Hrsg.): Geschichten auf Gold. Bilderzählungen in der frühen italienischen Malerei, Berlin, Köln: SMB-DuMont, 2005, S. 100–113, hier: S. 103) und wie sich der Materiecharakter zu den geistig-sakralen Sinngehalten, die ihm zugeschrieben wurden, verhielt, ist von der Kunstgeschichte unterschiedlich beantwortet worden. Vgl. hierzu Wenderholm: „Aura, Licht und schöner Schein“, S. 100ff.; Beer: „Marginalien zum Thema Goldgrund“, S. 271f. 145 Wenderholm: „Aura, Licht und schöner Schein“, S. 103f.

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Und um die Harmonisierung dieser religiösen Paradoxien ist ja auch die katholische Theologie der zwanziger Jahre bemüht, die der protestantischen Theologie und ihrer Losgerissenheit die Geborgenheit im „Gott über uns und in uns“ entgegenhält. Auch Picard eignet sich die Goldgrund-Metapher an und gibt ihr dabei eine eigene Wendung, indem er den Goldgrund als Vorhang fasst, dessen Falten das Verhältnis von göttlicher Verborgenheit und Sichtbarkeit veranschaulichen, sich aber auch als zeitliche ‚Falten‘ begreifen lassen. Die Heiligen vor dem Goldgrund der alten Bilder, – auch sie sind Vorausgeschickte, Vorausgeschickte vom Göttlichen auf die Erde. Der Goldgrund ist der goldene Vorhang vor dem Göttlichen, die Heiligen sind wie aus einer Falte des Goldgrundes hervorgetreten, indes das Göttliche dahinter wartet.146

In der „Falte des Goldgrundes“ legt sich – ohne dass dabei ein Bruch oder eine Disharmonie entsteht – das Unsichtbare neben das Sichtbare. So heisst es – in Anspielung auf die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch und der Begegnung Moses mit Gott (2. Mose 3,1 - 4,17), der kanonischen Stelle zur sichtbaren Unsichtbarkeit Gottes – weiter: Ganz dunkel gebrannt ist der Goldgrund vom Feuer des Göttlichen. Die Heiligen aber stehen mit dem Rücken gegen den Goldgrund, es ist, als ob sie Gottes Auge im Rücken verspürten, sie getrauen sich nicht zurückzuschauen.147

Und doch gibt sich das hinter den Falten des Goldgrundes wartende Göttliche in ganz unscheinbaren Zeichen zu erkennen – „es geschieht, daß ein Hündlein neben einem Heiligen ein wenig sich bewegt, wie um ein Zeichen zu geben dem göttlichen Wesen hinter dem Goldgrund. Die Heiligen, – das sind die Kundschafter der Ewigkeit.“148 Mit dieser unscheinbaren Bewegung auch in die Ewigkeit hinein, in der „das göttliche[.] Wesen hinter dem Goldgrund“ wartet, überträgt Picard die Falte zugleich auf das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit: Wie schon in der Eingangspassage des Menschengesichts berühren sich Ewigkeit und irdische Zeit in jenem ‚Augenblick‘, in dem sich die irdische Zeit gewissermaßen ‚auffaltet‘ und zur ‚Gegenwärtigkeit‘ wird. Nicht allein bildtheoretisch, sondern auch narrationslogisch kommt den Heiligen in traditionellen christlichen Ordnungsmodellen eine besondere Funktion zu: Sie stehen auf der auch für die gesellschaftspolitische Herrschaftsfunktion der katholischen Kirche immer wieder problematischen Schwelle zwischen Transzendenz und Immanenz und sichern über ihre Stellvertreter- und Vermittler-Rolle den Zusammenhalt des ‚Leibes Christi‘ ab, zu dem sich die Gläubigen als die verschiedenen Glieder zusammenfügen. Sie besitzen Zugang zu der den irdischen Menschen verwehrten himmlischen Sphäre der Transzendenz und können aus dieser Sphäre in die Immanenz hineinwirken.

146

Picard: Das Menschengesicht, S. 18. Ebenda. 148 Ebenda. 147

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Vor allem in der mittelalterlichen Hagiographie entfaltete sich diese Funktion der Heiligenerzählungen und -darstellungen zu großer Wirksamkeit: Als Stellvertreter und Vermittler bilden die Heiligen eine Kette, die alle Glieder des Leibes untereinander verbindet und an der Gemeinschaft teilhaben lässt. Darüber hinaus wird eine Rangordnung innerhalb dieser Vermittlungskette etabliert, die die einzelnen Glieder des Leibes in eine Herrschaftsordnung einfügt: Denn das Narrationsmodell etwa der Legenda aurea oder anderer Heiligenlegenden kennt nicht nur die zahlreichen Berichte von Wundern, Visionen, Martyrien und Verkündigungen, in denen die Heiligen als direkte Vermittler Gottes auftreten; höchst bedeutsam ist auch die regressive Narrationslogik, nach der Heilige erst durch die Taten und Zeichen anderer Heiliger bekehrt (und damit potenziell zu Heiligen) werden. Die imitatio christi – das Nachbilden des einen Vorbildes Christus –, die am Beginn dieser Kette von Nachahmungen steht, wird damit zu einem tendenziell endlos verlängerbaren Medium, das bis in das letzte Glied des Leibes reicht.149 Und diese gemeinschaftsbildende Verbindung von Unnahbarkeit und Vorbildfunktion, wie sie die Heiligenlegenden narrativ entwickeln, findet Picard ikonisch im Goldgrund artikuliert: Auf den Bildern der alten Meister sind die Heiligen so klar getrennt voneinander, daß man nicht begreift, wie einer je zum anderen gelangen kann; – aber auf einmal sieht man den goldenen Hintergrund, und nun weiß man: die Heiligen kommen alle aus dem goldenen Hintergrund, und dieser gehört allen gemeinsam.150

Zwar sind auch die Heiligen auf den mittelalterlichen Gemälden unnahbar – dies gebietet die Aura des Sakralen, die sie umgibt; ja, „man erschrickt vor der Klarheit, mit der die Gesichter getrennt sind“151. Doch diese Wahrnehmung wird überstrahlt von dem Goldgrund, der wiederum die alles überstrahlende göttliche Transzendenz symbolisiert: [A]ber dann sieht man, wie der Hintergrund die Gesichter alle verbindet, und jetzt ist man glücklich. Der Hintergrund der Gesichter, dort, wo die Anlagen sind, die Keime Gottes, – das ist wie der Goldgrund auf den alten Bildern.152

Das Durcheinandergeraten der räumlich wie zeitlich harmonisch ineinanderfallenden (Falten-)Ordnungen des Goldgrundes sowie das Schwinden der von den Heiligenfigu149

Aufgrund ihrer auch politischen Bedeutung waren die Rangordnungen innerhalb dieses einen gläubigen Leibes (für den ja stellvertretend immer auch die una sancta ecclesia – die Kirche – steht) historisch durchaus wechselhaft. Dies zeigt sich insbesondere im Hoch- und Spätmittelalter, in dem es ab dem 13. Jahrhundert zu einem starken zahlenmäßigen Anwachsen ‚volksnaher Heiliger‘ kommt. Im Gegensatz zu jenen traditionellen Heiligenfiguren, die – wie Bischöfe, Apostel, Märtyrer und Herrschergestalten – von den Erfahrungen der niedrigen Bevölkerungsschichten sehr weit entfernt sind (und zwar zumeist ebenso in sozialer wie in historischer Hinsicht), vermitteln die ‚neuen Heiligen‘, allen voran der heilige Franz von Assisi, die imitatio christi als (Vor-)Bilder auch dorthin, wo andere exempla nicht hinreichen. 150 Picard: Das Menschengesicht, S. 68. 151 Ebenda. 152 Ebenda.

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ren gestifteten Gemeinschaften lässt das „Menschengesicht heute“ dagegen als losgerissenes und ungeborgenes Individuum zurück: „Im Menschengesicht heute sind die Möglichkeiten nicht im Hintergrund gelassen, es ist alles vorzeitig nach vorne gezogen, nach vorne gerissen worden“.153 Wenn Picard den Verlust des Goldgrundes mit der historischen Zerstörung transzendenter Geborgenheit und deren ‚Einfaltungen‘ in die Immanenz verbindet, geschieht dies nicht allein metaphorisch, sondern spielt auch auf eine reale kunsthistorische und -theoretische Entwicklung an: Der Abschied vom traditionellen Goldgrund bildet ein wichtiges Moment der bildkünstlerischen Neuerungen am Übergang von der spätmittelalterlichen zur Renaissance-Malerei. Hatte das Mittelalter – darin dem Erbe der Antike verpflichtet – mit den materiellen und aisthetischen Eigenschaften des Goldgrundes gerade dessen Eigenständigkeit und ‚Eigenwirklichkeit‘ als überwältigende, ‚immaterialisierte Materie‘ im Bild betont, so ordnet die frühe Neuzeit den Goldgrund dem Bildraum unter. Es ist Leon Batista Alberti, der diese im 15. Jahrhundert sich durchsetzende, neue malerische Behandlung des traditionellen Gold(hinter-)grundes theoretisch fasst. In dem in vielerlei Hinsicht wegweisenden Traktat De pictura dient die Verwendung von Gold nicht mehr der Herstellung eines eigenständigen Bildelements, von dem per se – sprich: aufgrund seiner wertvollen ‚immaterialisierten Materialität‘ – ein sakraler Glanz ausgeht. Vielmehr gilt es, diese Wirkung erst herzustellen – und zwar durch künstlerische Fähigkeiten und geschickte Nachahmung der repräsentierten Realität. Dabei steht auch ein sozial höchst bedeutsamer Aspekt – die Distinktion des Malers als Künstler – auf dem Spiel: Der Wert eines Werkes begründet sich durch die darin gezeigte Kunst(-fertigkeit), weniger durch die verwendeten Materialien oder dargestellten Inhalte. Zwar wird in den Darstellungen des 15. Jahrhunderts „die Konnotation des Goldgrundes – seine Heiligkeit – beibehalten, jedoch als ein raumhaltiges Element, das die Sakralität noch mitträgt, interpretiert“154. Die Fähigkeit des Goldgrundes, die Ambivalenzen der sakralen Darstellung zu vermitteln, geht also nicht völlig verloren – sie wird nur in den Bildraum hineinverlagert. Und ebendies geschieht oft durch die Übertragung des Goldgrundes in einen stoffartigen Vorhang. Picards Goldgrund der Heiligen spielt also einerseits auf die mittelalterliche Bildkunst an; „dunkel gebrannt [...] vom Feuer des Göttlichen“155 und von einzigartiger Materialität, lässt er die Heiligen „Gottes Augen im Rücken“ spüren und vor seiner Unnahbarkeit zurückschrecken. Andererseits bricht aber die Übertragung des Goldgrundes auf die Vorhangs-Falte – wie sie auch die Renaissance-Kunst vornahm – die ‚reine‘, nicht-bildhafte Symbolkraft des Goldgrundes. Indem ihre Ambivalenzen besonders plastisch ins Bild gesetzt werden, erweist sich so die von den Heiligen gekundschaftete transzendente Ewigkeit als höchst bedrohte Fiktion. Schon Michelangelo soll 153

Ebenda, S. 68f. Wenderholm: „Aura, Licht und schöner Schein“, S. 104. 155 Picard: Das Menschengesicht, S. 18. 154

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ein dreiviertel Jahrhundert nach Alberti dem Papst Julius II., als dieser die Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle mit mehr Gold ausgestattet wünschte, entgegnet haben: Heiliger Vater, zu jener Zeit trugen die Menschen kein Gold an sich, und die, die hier gemalt sind, waren nie allzu reich, sondern heilige Männer, weswegen sie Reichtümer verachteten.156

Dass Picard sich mit dem Goldgrund diesem neuzeitlichen ‚Realismus‘ widersetzen möchte, der seinen „Falten“ zugleich innewohnt, zeigt sich auch an der intensiven Verwendung synästhetischer Stilmittel, die seine Auseinandersetzung durchzieht. So artikuliert sich die Ewigkeit im Goldgrund nicht allein optisch, sie ist auch akustisch und taktil wahrnehmbar. Bei einem Gesicht, das Gegenwärtigkeit hat, spüren wir an seiner unmittelbaren Art, daß es plötzlich abgetrennt worden ist, daß es losgerissen wurde irgendwo, und manchmal vermögen wir auch noch den Ton zu hören, mit dem es losgerissen wurde irgendwo. Dieses Irgendwo ist nichts anderes als die Ewigkeit.157

Diese klangliche Manifestation der Ewigkeit im gegenwärtigen Gesicht tritt besonders deutlich hervor, wo ein Heiliger aus der Ewigkeit sich lostrennt in die Gegenwärtigkeit. Sehe ich den Goldgrund in den Bildern der alten Meister, dann ist mir, als sei durch den Ton, mit dem ein Heiliger von der Ewigkeit sich losgerissen hat, die Ewigkeit selber geronnen: der Goldgrund ist die geronnene Ewigkeit.158

Und in dieser „geronnenen Ewigkeit“ ist etwas von der Hitze des göttlichen Feuers spürbar, von dem ja das Gold „ganz dunkel“ gebrannt ist, wie Picard an anderer Stelle schreibt: „Der Heilige steht davor und wir auch, – und ich glaube, daß der Heilige sieht, wie durch den Hauch Gottes die Ewigkeit wieder schmilzt.“159 Auch hier lässt sich eine Verbindung zu den mittelalterlichen Goldgrund-Bildern ziehen. Der „Ton der Ewigkeit“ erklingt auch in ihnen: Zahlreiche Darstellungen insbesondere von der Himmelfahrt Mariens oder anderer Heiliger bilden die Engelsposaunen ab, die die Zugehörigkeit zur Ewigkeit akustisch markieren und mit dem Motiv der Sphärenharmonie verbinden. Abbildung 6 zeigt ein um 1340 entstandenes GoldgrundGemälde des sienesischen Malers Lippo Memmi (1317–1347), das eine Himmelfahrt Mariens darstellt.160 156

„Padre Santo, in quel tempo gli uomini non portavano addosso oro, e quegli che son dipinti non furon mai troppo ricchi, ma santi uomini, perché gli sprezzaron le ricchezze.“ (zit. n. Wenderholm: „Aura, Licht und schöner Schein“, S. 107, Übersetzung K. L.) 157 Picard: Das Menschengesicht, S. 136. 158 Ebenda. 159 Ebenda. Picard beraubt sich hier allerdings selbst ein wenig des synästhetischen Effekts der Wahrnehmung von Hitze und Feuer, den er durch die Metaphern des Schmelzens und Gerinnens rhetorisch aufgebaut hat. Denn die Heiligen müssten das Schmelzen der Ewigkeit fühlen, sehen können sie es ja gar nicht; denn „sie getrauen sich nicht zurückzuschauen“ und „stehen mit dem Rücken gegen den Goldgrund“! 160 Vgl. hierzu Wenderholm: „Aura, Licht und schöner Schein“, S. 108f.

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Abbildung 6: Lippo Memmi, Die Himmelfahrt Mariae, um 1340, München, Alte Pinakothek

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Zu diesem Gemälde schreibt Iris Wenderholm: Die Goldfläche hinterfängt Maria und charakterisiert ihre Heiligkeit und Verzückung. Das goldene Licht und das blaue Empyreum, beides von Gott geschaffen und beherrscht, treffen aufeinander und werden medial gegeneinander gesetzt. Es ist genau diese Zone des Übergangs, das primum mobile, in der die Körperlichkeit zur Unkörperlichkeit wird. Nach der Vorstellung mittelalterlicher Scholastiker beginnt Gott erst hier, die Himmel durch die Engel zu bewegen. Mariens körperliche Aufnahme in den Himmel wird auf dem Gemälde nahezu synästhetisch umgesetzt, wenn sich in dem strahlenden Gold der unschaubare Bereich des göttlichen Lichts materialisiert und durch den schallend singenden und spielenden Engelschor die unhörbare himmlische Musik zu erklingenscheint. Mit den musizierenden Engeln in ihrer die konzentrischen Planetenbahnen nachahmenden Kreisform dürfte ein Verweis auf die mittelalterliche Vorstellung der Sphärenharmonie gegeben sein.161

Und wie ein Bildkommentar zu dieser Himmelfahrt Mariens liest sich auch die Stelle des Menschengesichts, die unmittelbar an die Goldgrund-Passage anschließt. Sie fasst zugleich die zentralen Topoi zusammen, die Picards Auseinandersetzung mit den hagiographischen und ikonologischen Traditionen der Heiligendarstellung motivieren und seine Affinitäten zu einer katholisch geprägten Bildästhetik und -aisthetik belegen: Verkettung und Gemeinschaft von Urbild und Abbild, zentralisierte und hierarchisierte Ordnung, Mysterium und Zeichenhaftigkeit des Urbildes. Wie die Planeten um die Sonne kreisen und kreisend sich formen, so gibt es Menschengesichter, die, immer um Gott kreisend, nicht aufhören, sich zu formen nach dem ewigen Urbild. Und wie um die Planeten wieder kleinere Sterne sind, die nach den Planeten sich formen, so sind um jene großen Menschengesichter die kleineren und formen sich nach ihnen. Gott aber ist in der Mitte, ruhend, als ob er nichts wolle als dies: zuhören der schönen Melodie, mit der die Menschengesichter um ihn, das Urbild, sich bewegen. Indem so das göttliche Urbild zuhört, fängt es auf einmal an, selber sich zu bewegen, es bewegt sich um sich selbst, und jetzt, jetzt stehen die Menschen und die Gestirne still und hören der Melodie des göttlichen Urbildes zu.162

Picards Rede vom Goldgrund als eines faltigen „Vorhang[s] vor dem Göttlichen“ speist sich – wie bereits angedeutet – aber nicht nur aus der Tradition. Am ‚Goldgrund‘ zeigt sich, was Greenblatt von der „sozialen Energie“ sagt, die die kulturelle Tradition bestimmten materiellen Figuren verleiht: Sie werden erst durch ihre synchrone Zirkulation zwischen unterschiedlichen Feldern und Diskursen, im Austausch von Tradition und Gegenwart, als der kulturelle Wert aktualisiert, der ihnen aufgrund der diachron angehäuften sozialen Verehrung innewohnt. We identify energia only indirectly, by its effects: it is manifested in the capacity of certain verbal, aural, and visual traces to produce, shape, and organize collective physical and mental experiences. […] Whereas most collective expressions moved from their original setting to a new place or time are dead on arrival, the social energy encoded in certain works of art continues to generate the illusion of life for centuries.163 161

Ebenda, S. 110f. Picard: Das Menschengesicht, S. 19. 163 Greenblatt: „The Circulation of Social Energy“, S. 6f. Hervorhebung im Original. 162

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Auch der Goldgrund ist ein solches Objekt von ‚sozialer Energie‘, dessen in Jahrhunderten gewonnener Wert – als ein symbolischer und materieller ‚Glanz‘ – im Zuge der Auseinandersetzung mit der Moderne und ihrer Krise in neuen Zusammenhängen eingesetzt wird. Drei katholische Autoren veröffentlichen zu Beginn des Jahrhunderts Werke, in denen die Goldgrund-Metapher für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ‚Krise des Historismus‘ herangezogen wird – und zwar jeweils in titelgebender Funktion: Otto Borcherts zweibändiges Der Goldgrund des Lebensbildes Jesu164 macht 1900 den Anfang und erlebt 1916 bereits seine dritte Auflage. 1912 folgen Anton Muellers Bilder auf Goldgrund165 und Albert von Ruvilles Der Goldgrund der Weltgeschichte. Zur Wiedergeburt katholischer Geschichtschreibung166. Borchert und Ruville zielen dabei auf eine Modernisierung katholischen (Geschichts-)Denkens, die in vielem an das Projekt der katholischen Literaturbewegung erinnert. Schon Borcherts Werk setzt sich als katholische Position mit den Herausforderungen der Moderne – für die auch bei ihm Nietzsche und Kierkegaard stellvertretend stehen – auseinander. Sein „Büchlein“ möchte „denen dienen, die von den Zweifeln der Gegenwart gepackt sind, aber sich darinnen nicht wohl fühlen, sondern gern heraus möchten“167. Zwar grenzt er sich gegen jene Modernen ab, „denen die Kritik und Überkritik unserer Zeit herrlich gelegen“168 kommt. Doch auch seine Zielgruppe steht ihrer Zeit keineswegs unkritisch gegenüber: Er wendet sich an ein „Heere der Zweifler“, und dieses rekrutiert sich aus „Menschen, denen es in ihren Zweifeln auch nicht einen Tag wohl ist“169. Das damit diejenigen gemeint sind, die innerhalb des Katholizismus für eine Modernisierung eintreten, zeigt sich deutlich in Borcherts Ermunterung, die er an jene „Leute[.] der Sehnsucht“ richtet: „Auch was das Denken angeht, kann der Christ seines Glaubens froh werden – und da er es kann, soll er es auch.“170 Der titelgebende Goldgrund spielt allerdings bei Borchert nur eine untergeordnete Rolle. So steht das Goldmaterial bei ihm für die Getrenntheit von irdischer und göttlicher Sphäre, also gerade nicht für die auch von ihm selbst angestrebte Annäherung von Glaube und Wissenschaft: Das in den Evangelien uns überlieferte Jesusbild verhält sich wie ein Metall, das spröde ist gegen jede Mischung. Was man hinzutut zu diesem Bilde, verbindet sich nicht mit ihm zu einem Ganzen, sondern verrät sich als Fremdes durch die Isoliertheit, in der es im Mischungstiegel schwimmt171. 164

Borchert, Otto: Der Goldgrund des Lebensbildes Jesu. Erster Teil. Des Goldgrundes Echtheit. Eine apologetische Studie, Braunschweig: Verlag von Hellmuth Wollermann, 1916 [1900]. 165 Müller, Anton: Bilder auf Goldgrund, Münster: Verlag der Alphonsus-Buchhandlung (A. Ostendorff), 1912. 166 Ruville, Albert von: Der Goldgrund der Weltgeschichte. Zur Wiedergeburt katholischer Geschichtschreibung, Freiburg im Breisgau: Herder, 1912. 167 Borchert: Der Goldgrund des Lebensbildes Jesu, Vorwort, o.S. 168 Ebenda. 169 Ebenda. 170 Ebenda. Hervorhebungen im Original. 171 Ebenda, S. 6. Hervorhebungen im Original.

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Ganz anders ist dies bei dem 1909 konvertierten Albert von Ruville. Er verwendet die Gold(grund)-metapher in extenso für seine Geschichts(-Bild)-Theorie. Dies verraten schon seine Kapitelüberschriften: „Vorwort – I. Goldadern – II. Der Goldtempel – III. Nachbildungen – IV. Die Goldbrücke – V. Das Goldgerüst – VI. Verzeichnungen – VII. Malen im Goldnetz“172. Ganz ähnlich wie Picard geht es Ruville um so etwas wie ein Geschichtsbild auf Goldgrund, das den Beunruhigungen der Moderne nicht aus dem Wege geht, sondern sie in einen Sicherheit verheißenden transzendenten Hintergrund einbettet. Auch Ruville bekennt sich zur Vereinbarkeit von Katholizismus und Wissenschaft: „An der Wiedergeburt der katholischen Geschichtswissenschaft, d. h. der auf die ewige Wahrheit gegründeten, gilt es zu arbeiten.“173 Deutlich sind trotz dieser Selbstvergewisserung die Kritik am kirchlichen Dogmatismus, das Eingeständnis der Fehlerhaftigkeit unkritischer Geschichts-Forschung und das Bekenntnis zur empirisch-positivistischen Methode der historischen Wissenschaften: Unfähig, strenge Quellenkritik zu üben, ohne Hilfsmittel zur Kontrolle des überlieferten Stoffes nahm man alles, was die biblischen Bücher berichteten, als unumstößliche Tatsachen hin, und zwar nicht so, wie es aus der Zeit der Ereignisse oder der Hagiographen zu verstehen war, sondern gemäß der täglichen Erfahrung des christlichen Schreibers. Naivitäten in Fülle traten dabei hervor. [...] Demnach galt es nur, die dem Schreiber bekannt gewordenen Ereignisse in diesen Rahmen [den biblischen Abriss der Weltgeschichte, K. L.] einzufügen und einzupassen. Das Passen in den Rahmen war ein Kriterium, nach dem er die Tatsachen einschätzte und nötigenfalls verbesserte. Das war zweifellos wieder ein sehr mangelhaftes Verfahren, das zu vielen Fehlern führte.174

Ruville beruft sich auf Vorbilder aus vergangenen Jahrhunderten, denen Glaube und Forschung ebenfalls eins waren und denen die tausend Einwendungen keineswegs unbekannt geblieben [sind], die sich gegen die christliche Lehre erheben ließen. Wenn sie trotzdem auf dem gewonnenen sichern Standpunkt beharrten, so geschah das nicht, weil sie geistig rückständig waren, weil sie die Dinge oberflächlich betrachteten, wie das heute in maßloser Überhebung so gern behauptet wird.175

Diesem Vorwurf der Rückständigkeit und Oberflächlichkeit katholischer Beiträge zur Wissenschaft, den auszuräumen ja auch Muth und seine Mitstreiter angetreten waren, wirkt Ruville entgegen, wenn er die wissenschaftliche Haltung zwischen „feste[m] Standpunkt“ und „klarem Bewusstsein“ verortet: Der feste Standpunkt jener heiligen Männer muß wieder gewonnen und für die Wissenschaft, insbesondere die historische, nutzbar gemacht werden, wo es nicht bereits geschieht. Mit klarem Bewußtsein muß der Forscher ihn betreten, überzeugt, nur damit zur vollen Wahrheit gelangen zu können.176 172

Ruville: Der Goldgrund der Weltgeschichte, S. XIff. Ebenda, S. VIII. 174 Ebenda, S. 154f. 175 Ebenda, S. VIII. 176 Ebenda. 173

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Und damit wird auch bei Ruville der Goldgrund zur spannungsreichen und ambivalenten Metapher, die zwischen Gleichnis und Entsprechung, menschlichem Konstrukt und abzubildender Wirklichkeit changiert. Goldgrund ist es, auf dem sich das Weltgeschehen erbaut, da es in allen seinen Richtungen von göttlicher Wahrheit durchsetzt, von göttlichem Wirken beeinflußt ist, da besonders die Menschheitsentwicklung sich nach übernatürlich gegebenen Normen vollzieht. Goldgrund ist es, auf dem die Geschichtswissenschaft ihr Gemälde entwerfen muß, da nur so das Bild der von Wahrheitsgold durchzogenen Wirklichkeit entsprechen kann. Es sei mir erlaubt, unter diesem Gleichnis die ganze Arbeit durchzuführen.177

Geschichtsschreibung wird hier nicht wie bei Dilthey zur Poesie, die „in den geschichtlichen Produkten die Seelenvorgänge, die sie hervorgebracht haben, besonders durchsichtig zu zeigen“178 vermag, sondern zur Goldgrund-Malerei: Der Goldgrund als Entwurf, Gleichnis und alles durchscheinende göttliche Wahrheit setzt die Anerkennung moderner wissenschaftlicher Standards bei gleichzeitiger Unterordnung unter die göttliche Wahrheit ins Bild und führt Ruville zu einem universalistischen Katholizismus, wie ihn schon Schlegel und Eichendorff propagierten.179 Den modernen Mannigfaltigkeiten zollt Ruville durchaus Tribut, wenn er sich auch auf die Suche nach „göttliche[n] Wahrheiten im Heidentum“180 begibt. „Jene Wahrheiten übernatürlichen Charakters, jene Goldadern in der Gedankenwelt der Völker werden auf mannigfaltige Art gewonnen“181. So wendet er sich auf seiner Goldsuche Japan, Griechenland, Indien und dem Islam zu – und stößt auch hier auf Gold. Wie so mancher Goldsucher geradezu von einem Fieber gepackt, dringt er bis in Gegenden vor, die vermeintlich keinerlei Aussicht auf Erfolg versprechen. Und siehe da, [s]chon in den niedersten Kulten, in der Naturreligion der rohesten Volksstämme, finden sich Spuren von Wahrheitsgold. Man muß nur den meist bizarr sich äußernden Anschauungen sorgfältig nachgehen, die Grundgedanken erkunden, so wird sich aus dem scheinbar so rohen und stumpfsinnigen Götzendienst ein nicht völlig wertloser Glaubensinhalt herausschälen lassen. [...] Oftmals erweisen sie sich brauchbarer zur Anknüpfung als die Wahrheitswerte, die den Vertretern moderner Aufklärung verblieben sind. Dort findet sich noch demütige Hingebung an eine höhere Macht, noch Andacht und Gebet, was hier meist verächtlich über Bord geworfen ist.182

177

Ebenda, S. VIIIf. Dilthey, Wilhelm: „Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften“: in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Band V. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hrsg. v. Karlfried Gründer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990 [1887], S. 10–11, hier: S. 11. 179 Vgl. hierzu oben Kap. 8.1, S. 409ff. 180 Ruville: Der Goldgrund der Weltgeschichte, S. XI. 181 Ebenda, S. 4. 182 Ebenda, S. 6. 178

Gesichte(r) im Dialog. Die jüdische Theologie und Geschichtsphilosophie

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9.4 Gesichte(r) im Dialog. Die jüdische Theologie und Geschichtsphilosophie Zum Schluss dieses Kapitels über die im Menschengesicht zirkulierenden Figuren aus nicht-literarischen Diskursen und Praktiken möchte ich zeigen, dass auch zeitgenössische theologische und (geschichts-)philosophische Strömungen jüdischer Provenienz Eingang in dieses Werk gefunden haben. In Picards Texten, aber auch in seinen nichttextuellen religiösen Praktiken, finden sich Fragen, Probleme und Themen, wie sie auch bei anderen jüdischen Autoren der Zeit wie Franz Rosenzweig oder Hermann Cohen, Walter Benjamin oder Gershom Scholem begegnen, die der Theologie bzw. der Religionswissenschaft mehr oder weniger nahe stehen. Insbesondere die Bedeutung des Gesichts in der Theologie – oder genauer: Religionstheorie – Franz Rosenzweigs erinnert dabei in vielerlei Hinsicht an Das Menschengesicht; es bestehen aber auch wichtige Unterschiede zwischen den beiden Autoren. Von dieser Auseinandersetzung ausgehend und in direktem Zusammenhang mit ihr stehend, soll dann das geschichtsphilosophische Denken Rosenzweigs näher betrachtet werden: Die Spannung zwischen intensiven Momenten des Dialogs und einem Rückzug ins Schweigen erweist sich dabei, wie schon in der theologischen Beschäftigung mit Gesicht und Antlitz, immer wieder als fundamentales Prinzip seiner Reflektionen – beispielhaft in der Begegnung mit Eugen Rosenstock sowie dem daraus sich ergebenden interreligiösen Briefwechsel. Parallelen zu Picard und seinem interreligiösen Swerving fallen hier – auch wenn es zu keinem direkten Austausch mit Rosenzweig gekommen ist – deutlich ins Auge.

Tod und Kuss. Faciale Begegnungen in Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung Von all den verschiedenen Versuchen, sich den philosophischen und literarischen Reichtum jüdischer Theologie für eine literarische Physiognomik des 20. Jahrhunderts anzueignen, kommt wohl das Werk Franz Rosenzweigs dem Picard’schen Menschengesicht am nächsten: Denn insbesondere Rosenzweigs Der Stern der Erlösung stellt ein Werk dar, das sowohl mit theologischem als auch mit geschichtsphilosophischem Anspruch auftritt – und dies vor allem mit literarischen Mitteln. Es ist zudem eine um eine moderne, subjektiv-bekennende und interreligiös orientierte Position bemüht. Was Picard und Rosenzweig verbindet, ist vor allem die große theologische Bedeutung, die beide facialen Begegnungen und Berührungen zumessen: Das Gegenüber von Menschengesicht und Gottes-Antlitz ebenso wie der zwischenmenschliche Dialog zweier Gesichter werden bei beiden zu einer zentralen theologischen Figur. Und bei beiden zeichnet sich diese Figur durch eine gelegentlich fast ‚unerhörte‘ Sinnlichkeit aus.

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Der Stern der Erlösung, Rosenzweigs theoretisches Hauptwerk, entzieht sich einer paraphrasierenden Zusammenfassung weitgehend. Und dies geht nicht allein auf seine eigenartig durchkomponierte formale Anlage zurück, die immer wieder auf bereits etablierte Begriffe, Elemente und Beziehungen zurückgeht, um sie neu zu konfigurieren. Das Buch greift auch äußerst weitreichende und heterogene Einflüsse auf, zu deren wichtigsten – neben dem Denken Hermann Cohens – die Philosophie des deutschen Idealismus (insbesondere Kant und Hegel), die Theologie Kierkegaards sowie die jüdische Mystik gehören. Gerade diese Traditionen aber gewinnen eine zentrale Bedeutung für Rosenzweig, weil sie vor allem einer scharfen Kritik unterworfen und in Richtung auf etwas ganz Neues – das Rosenzweig dennoch als „System der Philosophie“183 bezeichnet – weitergeführt werden. Ausgangspunkt für das „Neue Denken“184 Rosenzweigs ist die Zerschlagung der traditionellen philosophischen Einheiten und Systeme. Rosenzweig prangert den die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie prägenden Versuch, die ‚Tatsachen des Lebens‘ – Gott, Mensch und Welt – auf trügerische Weise aufeinander oder auf ein übergeordnetes ‚All‘ zurückzuführen, an und stellt diesem Versuch die fundamentale Anerkennung ihrer radikalen Widerständigkeit gegen logische, religiöse und philosophische Erkenntnis entgegen. Gott, Mensch und Welt sind unhintergehbare, nicht auf einen Grund oder aufeinander reduzierbare und unfassbare ‚Elemente‘, deren Wirklichkeit sich allein der ewig wandelbaren gegenwärtigen Erfahrung öffnen kann. Besonders vehement trifft Rosenzweigs Vorwurf die Todesvergessenheit der traditionellen Philosophie, und dementsprechend wendet sich Der Stern der Erlösung gleich im ersten Satz mit ebendiesem Vorwurf in philosophos. Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst der Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt auftut.185

Das Buch nimmt von dieser philosophischen Todesvergessenheit und von der mit ihr einhergehenden Leugnung der radikalen Einsamkeit des Menschen angesichts seines Todes seinen Ausgang. Doch wenn die Vereinzelung der Elemente auch das unhintergehbare Fundament der Erfahrung bleibt, so werden sie doch nach und nach mit Leben erfüllt. Durch eine – auch im Gang der Philosophiegeschichte sich abzeichnende – 183

Rosenzweig, Franz: „Das Neue Denken“: in: Ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. v. Reinhold und Annemarie Meyer, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1984 [1925], S. 139–161, hier: S. 140. 184 Unter dem Titel „Das Neue Denken“ hat er 1925 „Einige nachträgliche Bemerkungen zum ‚Stern der Erlösung‘“ (ebenda) veröffentlicht. 185 Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 [1921], S. 1.

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Dynamisierung der Elemente versucht Der Stern der Erlösung den in und zwischen den Elementen sich einstellenden Polaritäten und Verbindungen näher zu kommen – ohne dabei jedoch dem Trugschluss aufzusitzen, sie auf logisches Denken reduzieren oder geistig erfassen zu können: Was sich in ihnen als Leben in der Wirklichkeit manifestiert, offenbart sich in Ewigkeit als immer wieder einzigartige Erfahrung des Hier und Jetzt. Rosenzweigs Insistieren auf die Subjektivität der Erfahrung und ihre immer wieder überraschende Gegenwartsbezogenheit beruft sich auch auf die jüdische Überlieferung: 1923 verweist er darauf, dass sich das Gesetz nur als Gebot realisieren kann: Nicht mehr das Verbot, sondern das Gebot bestimmt seinen Charakter [...], Gebot das sich unmittelbar, im Augenblick wo es vernommen wird, in Tat umsetzt, muß das Gesetz wieder werden. Es muß die Heutigkeit wiederkriegen, die alle großen jüdischen Zeiten als die einzige Bewährung seiner Ewigkeit empfunden haben.186

Wenn also im ersten der drei Teile des Sterns der Erlösung in den drei Elementen der „immerwährende[n] Vorwelt“187 dialektische Strukturen von Bejahung und Verneinung aufgedeckt werden, die dann im zweiten Teil („Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt“) durch die „Offenbarung“ zu Verknüpfungen auch zwischen den Elementen führen – wobei Rosenzweig vor allem der Sprache einen zentralen Wert zumisst – dann heben diese Verknüpfungen die Unverfügbarkeit und Gegenwärtigkeit der Erfahrung gerade nicht zugunsten irgendeines ‚All‘ auf. Und so unterstreicht auch der dritte Teil („Die Gestalt oder die ewige Überwelt“), der sich vor allem mit den historischen Kräften des Christentums und Judentums auseinandersetzt, dass die von beiden ersehnte Erlösung des Menschen aus dem durch die ‚Schöpfung‘ zwar verknüpften, aber dennoch vereinzelten ‚Dasein‘ nur als Hoffnung zu denken ist. Der Stern der Erlösung lässt sich verkürzt beschreiben als der gegen die Einheitsverfallenheit und Todesvergessenheit der traditionellen philosophischen Metaphysik gerichtete Versuch, sich „von der Furcht des Todes“188 zum Leben hin vorzuarbeiten – ein Weg, der auch ein literarischer ist. Das Buch beginnt mit den Worten „Vom Tode“ und endet mit der Passage „Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.“189 Erst von der Unhintergehbarkeit des Todes und der in ihm sich manifestierenden Vereinsamung aus kann sich der Mensch dem Leben, und das heißt auch dem Gesicht des Mitgeschöpfs zuwenden. 186

Rosenzweig, Franz: „Die Bauleute. Über das Gesetz“: in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. v. Reinhold und Annemarie Meyer, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1984 [1924], S. 699–712, hier: S. 706ff. 187 Der erste Teil trägt die Überschrift „Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt“ (Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 1). 188 Ebenda. 189 Ebenda, S. 472.

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Denn mit der Todesvergessenheit der abendländischen Philosophie geht für Rosenzweig auch ihre traditionelle „Scheidung in Leib und Seele“190 einher, der er ebenfalls den Kampf ansagt: Sie [die Philosophie, K. L.] läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Daß die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen ‚Leib‘ nichts hören will [...] – die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will.191

Rosenzweigs Versuch, die trügerische „Scheidung in Leib und Seele“ zu überwinden, beruft sich insbesondere auf zwei Phänomene: das liturgische Ritual des jüdischen Festkalenders sowie die dialogische Begegnung und Berührung von Gesichtern. Und diese beiden Phänomene sind es zugleich, in denen sich Tod und Leben, Zeit und Ewigkeit berühren und die fundamentale Vereinzelung und Getrenntheit des menschlichen Daseins – wenn auch nur für einen Augenblick – in der außergewöhnlichen Erfahrung einer ‚Gegenwärtigkeit‘ aussetzen lassen und damit das ‚Reich‘, die Erlösung, hier und jetzt vorwegnehmen. Für Rosenzweig wie für Picard ist das Gesicht nicht nur der Ort der Berührung mit dem menschlichen anderen, sondern auch Schauplatz der höchst ambivalenten Begegnung mit dem Antlitz des göttlichen Anderen. Und in den Figurationen dieser Begegnung zum (Augen-)Blick kommt es zu Berührungen und Verschmelzungen, die zumindest theologisch recht gewagt sind. Für beide ist die Rede von ‚Gesicht‘ und ‚Angesicht‘ dabei viel mehr als die bloße Metapher eines geistigen Kontakts. Der Blick ins Gesicht wird zu einem zugleich rätselhaften und höchst realen, existenziellen und höchst leiblichen Moment, in dem sich die religio vollzieht: Die Begegnung mit dem Ewigen erscheint als ein transzendenter ‚Augen-Blick‘ im wahrsten Sinne des Wortes – und dabei dürfte Kierkegaard nicht nur im Falle Picards eine wichtige Rolle gespielt haben.192 Picard inszeniert diesen ‚Augen-Blick‘ vor allem als scheue, erstaunte Berührung, als ein Niederschlagen der Augen: Ein Menschengesicht schaut ein anderes an, – es spürt, daß zugleich mit ihm die Ewigkeit das andere Menschengesicht anschaut, und sobald es das spürt, schließt es die Augen; es will nicht zugleich mit der Ewigkeit schauen.193

Vermittelt über das Gesicht des anderen, des Menschen, kommt es zur Berührung mit dem Anderen, zum Spüren des Blickes der „Ewigkeit“: Und gerade durch das Nieder190

Ebenda, S. 1. Ebenda. 192 Vgl. zum Verhältnis Kierkegaard-Rosenzweig Wolfson, Elliot R.: „Facing the Effaced. Mystical Eschatology and the Idealistic Orientation in the Thought of Franz Rosenzweig“, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, 4. Jg. (1997), Nr. 1, S. 39–81, hier: S. 40; Welz, Claudia: Love's Transcendence and the Problem of Theodicy, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S. 13ff., 89ff., 192ff. 193 Picard: Das Menschengesicht, S. 14. 191

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schlagen der Augenlider gelangt das Menschengesicht zu einer zwar passiven, aber direkten Berührung mit der Ewigkeit; denn „kaum hat es die Augen geschlossen, so fühlt es, daß es nun selber von der Ewigkeit angeschaut wird, es ist ihm, die Lider würden durchsichtig, da die Ewigkeit darauf schaut.“194 Lange kann dieser Augenblick nicht dauern: Es öffnet die Lider und schaut wieder auf das Menschengesicht gegenüber, und jetzt, jetzt scheint es ihm, die Ewigkeit sei mit ihrem Blick dort weggegangen, damit das Menschenauge sich getrauen kann zu schauen.195

Auch in der berühmten Schlusspassage des Sterns der Erlösung erfährt die BlickBegegnung mit dem Gesicht des ‚Anderen‘ eine (über-)sinnlich-existenzielle Aufladung: Es ist [...] kein Menschenwahn, wenn die Schrift von Gottes Antlitz und selbst seinen einzelnen Teilen redet. Die Wahrheit läßt sich gar nicht anders aussprechen. Erst indem wir den Stern als Antlitz schauen, sind wir ganz über alle Möglichkeit von Möglichkeiten hinweg und schauen einfach.196

Bei Rosenzweig wird das Gesicht ebenfalls zum Schauplatz einer direkten Berührung, wenn er – in einer im Vergleich zu Picard weitaus weniger scheuen Erotik – fortfährt: Wie von der Stirn der Bau des Gesichts beherrscht wird, so sammelt endlich sein Leben, alles was um die Augen zieht und aus den Augen strahlt, sich im Mund. Der Mund ist der Vollender und Vollbringer allen Ausdrucks, dessen das Antlitz fähig ist, so in der Rede wie zuletzt im Schweigen, hinter dem die Rede zurücksank: im Kuß.197

Mit dieser gewagten Gottes-Erotik – eine größere Nähe zum Ewigen als im Kuss lässt sich kaum denken – beruft sich Rosenzweig auf die jüdische Tradition, um sie zugleich auf den Kopf zu stellen: Denn die Rede vom Kuss des göttlichen Geliebten gründet sich auf das Hohelied Salomos198 und die daran anschließende exegetische Überlieferung. Die reichhaltigen haggadischen Spekulationen darüber, wie diese sinnliche Gottesliebe zu verstehen sei, hat dabei insbesondere ein Motiv immer wieder mit dem Kuss in Verbindung gebracht: den Tod. Die exegetische Tradition etabliert einen Zusammenhang zwischen dem Kuss Gottes und dem Gebot, „du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,5) – darin liegt die Aufforderung, den Konflikt zwischen Körper und Seele durch asketische und entsagende Frömmigkeitspraktiken zu lösen, als deren Höhepunkt der spirituelle Tod des Körpers gilt. Und in diesem Zusammenhang entsteht die Überlieferung, nach der der Kuss Gottes dem durch Frömmigkeit herausragenden Gläubigen, so etwa Moses, 194

Ebenda, S. 14f. Ebenda, S. 15. 196 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 470. 197 Ebenda, S. 470f. 198 „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein.“ (Hoheslied 1,2) 195

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im Augenblick des Todes zuteil wird. Aufgrund dieser Assoziation mit dem Tod wird die Sinnlichkeit des Gottes-Kusses in zunehmenden Maße entsinnlicht: Die in ihm angedeutete unmittelbare Gottesnähe wird als Ergebnis einer besonders frommen oder spirituellen Lebensweise gedeutet, die sich immer mehr zu Gott erhebt, indem sie sich von Leib und Materie löst.199 Doch indem Rosenzweig mit der auch diese jüdische Überlieferung prägenden „Scheidung in Leib und Seele“ bricht, wird die Sinnlichkeit seines Gottes-Kusses nicht entwertet. Zwar steht die „Stirn“ für den herrschenden Geist, doch ist der „Mund“ ihr hier gerade nicht untergeordnet: Er „sammelt“ das, was für Rosenzweig das „Höchste“ (und im Stern der Erlösung literarisch auch das ‚Letzte‘) ist – „Leben“, „Rede“ und „Schweigen“. Für Rosenzweig spiegelt sich die Begegnung mit dem göttlichen Anderen nicht allein im Gesicht des Mitmenschen, sie reicht sogar bis in den Gesichts-Schatten des tierischen Mitgeschöpfs oder des Kultgegenstands hinein: Wo ich einem Menschen begegne, mag mein Gesicht in seines tauchen, bis seine Züge sich auf meinem malen; ja wo ein Gleichnis nur von Antlitz mich anblickt, aus stummem Klageblick des Tiers, aus schweigendem Auge uralter Göttersteine, da steige mein Auge hinein, verschmelze seinen Blick mit ihrem, bis auch hier mir Wesen ward, was ja gewest. Der Erde Rund umkreisend find ich so mich selbst. Die hundert Masken meiner, eurer hundert Augenblicke, sie seien mein Gesicht.200

Die Begegnung des „ich“ mit sich selbst in den „hundert Masken meiner“ meint bei Rosenzweig gerade nicht das auf sich selbst zurückgeworfene und bezogene Subjekt, sondern das Geschöpf, das sich seiner Einsamkeit im Angesicht Gottes, der Welt und der Mitgeschöpfe gewahr wird. Die Begegnung mit dem Selbst ist für Rosenzweig nicht eine vom Subjekt ausgehende auto-reflexive Selbst-Erkenntnis, sondern eine zutiefst religiöse Erfahrung, in der der Mensch erst im radikalen Gewahrwerden seiner Einsamkeit vor Gott seinem wahren Selbst als religio begegnet. Dies verdeutlicht jener zweite Moment, den Rosenzweig gegen Todes- und Leibvergessenheit ins Spiel bringt: die Inszenierung der Begegnung von Zeit und Ewigkeit in den rhythmischen Zyklen des jüdischen Rituals. Und hier liegt ein wichtiger Unterschied zu Picard, für den Liturgie und religiöse Alltagspraxis keine Rolle spielen. Bei Rosenzweig erfährt die Antizipation der Begegnung mit dem Angesicht Gottes in der Begegnung mit dem eigenen Selbst sowie mit dem Gesicht des Mitgeschöpfes ihre höchste Steigerung im Ritual der „‚gewaltigen Tage‘ [Rosh ha-Shanah und Jom Kippur, K. L.] [...] im Schauen der unmittelbaren Gottesnähe, also in einem Zustand, der über die irdische Bedürftigkeit des Heute hinausgehoben ist“201. 199

Vgl. hierzu ausführlich Fishbane, Michael: The Kiss of God. Spiritual and Mystical Death in Judaism, Seattle, London: University of Washington Press, 1994. 200 Rosenzweig, Franz: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag, 1992 [1964], S. 85. 201 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 359.

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Die außergewöhnliche ‚Gewalt‘ dieser Tage – der Höhepunkte im jüdischen Festkalender – wird rituell durch eine bestimmte Kleidung inszeniert, die das Ritual zugleich in die Reihe der übrigen Feste (und damit des zeitlichen Ablaufs des Jahres) stellt und daraus heraushebt: Ein vollkommen sichtbares Zeichen stellt diesen Grundton der gewaltigen Tage, daß sie das Ewige für den Einzelnen unmittelbar in die Zeit hineinrücken, für ihre ganze Dauer fest. Der Beter kleidet sich an diesen Tagen in sein Sterbekleid.202

Das Anlegen dieses Kleidungsstückes ist für das jüdische Ritual ein Zeichen der Verflechtung von Leben und Tod: Je nach rituellem Kontext kann das Sterbekleid nämlich auch Lebens- und Hochzeitskleid sein. Die Vereinigung mit dem anderen in Hochzeit und Zeugung lässt für Rosenzweig den Menschen biologisch teilhaben am Leben des „ewigen Volkes“203, und daher wird im Hochzeitsritual der Mensch im gleichen Moment als ‚Selbst‘ ins Leben gerufen, in dem er – als ‚Individuum‘ – seinen physischen Tod antizipiert. „Das Selbst [...] wird an einem bestimmten Tag im Menschen geboren. Welcher Tag ist das? Der gleiche, an dem die Persönlichkeit, das Individuum, den Tod in die Gattung stirbt.“204 Und daher „trägt der Bräutigam unterm Trauhimmel das Sterbekleid als Hochzeitskleid und sagt dem Tode, in dem Augenblick da er ganz eingeht in das ewige Volk, Kampf an, stark wie er.“205 Um zu verdeutlichen, dass diese Teilhabe am Leben aus dem Tod heraus und gegen ihn nicht individuell gedacht ist, kommt dem Anlegen des Sterbekleids auch im kollektiven Festkalender eine besondere Bedeutung zu. Was aber so im Leben des Einzelnen ein Augenblick ist, das ist nun auch ein ewiger Augenblick im geistlichen Jahr. Auch hier trägt der Hausvater einmal das Sterbekleid nicht als Sterbe-, sondern als Hochzeitskleid: beim ersten der Feste der Offenbarung [d. i. das Pessach-Fest, K. L.].206

An den ‚gewaltigen Tagen‘ jedoch wird das Sterbekleid als Sterbekleid getragen. Die fundamentale Erfahrung der radikalen Einsamkeit im Angesicht Gottes, die sich im (realen) Tod in reiner Form enthüllt, erscheint hier in vorweggenommener Form. Anders aber trägt es [das Sterbekleid, K. L.] der Beter an den gewaltigen Tagen. Hier ist es nicht Hochzeitskleid, nein wirklich Sterbekleid. Und wie in diesem der Mensch einst, wenn man es ihm anziehen wird, allein ist, so ist ers auch im Gebet dieser Tage. Auch sie stellen ihn in nackter Einsamkeit unmittelbar vor Gottes Thron.207 202

Ebenda, S. 361. Hervorhebung K. L. Zum jüdischen Volk als dem „ewigen Volk“ siehe unten S. 488ff. 204 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 77. Auch kulturhistorisch figuriert Rosenzweig diesen Moment der Vereinigung als Verschmelzen mit dem (griechischen) anderen: „Das Selbst, der ‚Daimon‘ [...], dieser blinde und stumme, in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ablegt und sich ihm enthüllt als Thanatos. Dies ist der zweite, und wenn man so will der geheimere, Geburtstag des Selbst“ (ebenda). 205 Ebenda, S. 362. 206 Ebenda. 207 Ebenda, S. 362f. 203

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Die (Über-)Sinnlichkeit dieses außergewöhnlichen ‚Augenblicks‘, der die Einsamkeit vor Gott antizipiert, wird mit synästhetischen Mitteln inszeniert. So zeichnet sich Rosenzweigs Deutung des Rituals der gewaltigen Tage, aber auch seine Schilderung des Angesichtigwerdens, durch die Verwandlung einer optischen in eine akustische und haptische Sinnlichkeit aus. In der Schlusspassage des Sterns der Erlösung geht die „über alle Möglichkeit von Möglichkeiten“208 hinausreichende Schau des Antlitzes über in den Kuss und das „Schweigen, hinter dem die Rede zurücksank“209. Dieses Schweigen als ein auf die Gottesbegegnung hindeutendes Schweigen meint keineswegs die Abwesenheit akustischer Wahrnehmung. Es verweist vielmehr auf jenes Schweigen, das den Höhepunkt der ‚gewaltigen Tage‘ und ihrer rituellen ‚Ausnahmesituation‘ bildet, die ja die Einsamkeit im Angesicht Gottes vorwegnimmt: Das Schlussgebet wird an diesen Tagen – im Gegensatz zum übrigen Jahr – schweigend vorgetragen. Dieses Schweigen tritt jedoch im Ritual in enger zeitlicher Nähe zum Blasen des Schofar auf, das das Ende der Zeiten akustisch antizipiert.210 Was der Gläubige artikuliert und hört, ist also nicht die Abwesenheit akustischer Phänomene, sondern ein gewaltiges Schweigen, einen Ton, der nicht alltäglichen Wahrnehmungskategorien wie laut oder leise, und auch nicht einer bestimmten Sinneswahrnehmung zugeordnet werden kann. Es handelt sich um eine synästhetische oder transaisthetische Erfahrung, die bei Rosenzweig bereits im Zusammenhang mit dem sichtbaren Zeichen des Sterbekleids ‚anklingt‘: Ein vollkommen sichtbares Zeichen stellt diesen Grundton der gewaltigen Tage, daß sie das Ewige für den Einzelnen unmittelbar in die Zeit hineinrücken, für ihre ganze Dauer fest. Der Beter kleidet sich an diesen Tagen in sein Sterbekleid.211

Auf ein ähnliches synästhetisches Motiv, das Einsamkeit, Schweigen und Gottesnähe verbindet und in ihrer höchsten Steigerung gleichbedeutend werden lässt mit dem Tod, stoßen wir auch bei Picard. Wo das Gesicht ‚selbstvergessen‘ über den ‚Augenblick‘ hinaus in einer besonders ‚tiefen‘ Berührung mit der göttlichen Ewigkeit verharrt – stirbt es: Manchmal wird so ein Gesicht sehr still, es hat vergessen, wie die Ewigkeit sich bewegt, es hält an, als ob es sich zu erinnern suche. Dann, dann kann es geschehen, daß es sich zu tief besinnt, es langt in der Tiefe des Besinnens bei der Ewigkeit selber an, und nun, vergessend, woran es sich hatte besinnen wollen, bleibt es so bei ihr: es ist tot.212

Der Tod selbst erscheint aber auch hier nicht als zu verdrängender ‚Rest‘ oder als vergessenes Ende, sondern als Anfang. Wie für Rosenzweig ist für Picard 208

Ebenda, S. 470. Ebenda, S. 470f. 210 „Die Posaune [d. i. der Schofar, K. L.], die am Neujahrstag auf der Höhe des Fests geblasen wird, macht ihn zum ‚Tag des Gerichts‘. Das Gericht, das sonst in die Endzeit gelegt wird, hier wird es unmittelbar in den gegenwärtigen Augenblick gesetzt.“ (ebenda, S. 360) 211 Ebenda, S. 361. Hervorhebungen K. L. 212 Picard: Das Menschengesicht, S. 125. 209

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der Tod nicht bloß ein Schluß des Lebens, so etwa, daß, wenn das Leben beendet ist, noch schnell zum Schluß der Tod kommt, als Letztes des Lebens und als sein Rest. Sondern damit ein Gesicht von der Erde verschwindet, bedarf es eines besonderen Aktes: der Tod ist dieser Akt, der besondere und sehr schwere, denn es ist nicht leicht, die Sicherheit eines Gesichtes von der Erde wegzubringen. Wäre der Tod nur der Rest des letzten Lebens, so würde ihm das nicht gelingen, aber der Tod kommt als ein Neues und kräftig, – wie etwas, das nicht ein Ende, sondern ein Anfang ist.213

Wo der Tod dagegen nicht Anfang, nicht Ausgangspunkt eines Weges hin zum Leben ist, wo der Mensch ihm nicht „Kampf an[sagt], stark wie er“, da zerfallen auch die Verbindungen, die den Menschen und sein Gesicht über Vereinzelung und Einsamkeit hinauswachsen lassen: Es ist kein Widerstand gegen das Auseinandernehmen und Zusammenlegen im Gesicht, es fehlt der Widerstand, den das Sichere hat. Und es ist, als käme auch der Tod so: als ob er ein Gesicht zusammenräume und es wegwische, ja es ist, als werde das Gesicht nicht vom Tode zusammengeräumt, sondern, als räume sich das Gesicht selber zusammen und als wische es selber sich wieder weg.214

Auch für die Synästhesien der Rosenzweig’schen Gesichte lassen sich im Menschengesicht Parallelen finden: Bei Picard manifestiert sich die Berührung von Zeit und Ewigkeit, wie sie von der Begegnung zweier Gesichter in der Gegenwärtigkeit des ‚Augenblicks‘ ausgeht, ebenfalls als eine die Sinneskategorien durchlaufende und transzendierende Erfahrung des ‚lauten Schweigens‘. Zwei Menschengesichter schauen sich an, – es entsteht zuerst ein Schweigen. Nicht vom Irdischen, von der Ewigkeit stammt dieses Schweigen. Zwei Menschengesichter sehen sich an, – die Zeit hört einen Augenblick auf abzulaufen, sie steht still. Und alle Stunden, die in der Zeit verborgen sind, fangen an, auf einmal miteinander zu schlagen, alle, – aber indem alle miteinander schlagen, hebt sich ihr Ton wunderbar auf, und in dieses laute Schweigen der Stunden tritt die Ewigkeit herein: das ist die Art, wie die Zeit die Ewigkeit ruft.215

Dieses ‚unerhörte‘ und gewaltige Einbrechen der Ewigkeit in die Zeit sowie die Figuration dieser Zäsur zum ‚Augen-Blick‘ verbinden Rosenzweigs Stern der Erlösung und Picards Menschengesicht, auch wenn ein direkter intertextueller Einfluss nicht unbedingt vorgelegen hat. Dass es sich aber um „eine gemeinsame Problematik – verstanden nicht als ‚Zeitgeist‘, sondern als Raum der Möglichkeiten, als System unterschiedlicher Positionen, in bezug auf den man sich zu definieren hat“216 – handelt, die nach Bourdieu zurückgehen auf die sozialen Effekte chronologischer Zeitgenossenschaft oder räumlicher Einheit wie etwa die Tatsache, dieselben spezifischen Treffpunkte zu frequentieren (Literatencafés, Zeitschriften, Kulturvereine, Salons usw.) oder denselben kulturellen Botschaften ausgesetzt zu sein (gemeinsamen Standardwerken, obligatorischen Fragestellungen, hervorstechenden Ereignissen[)]217,

213

Ebenda, S. 112f. Ebenda, S. 113. 215 Ebenda, S. 14. 216 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 320. Vgl. hierzu oben S. 82. 217 Ebenda. 214

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wird nicht nur im Hinblick auf ihre theologisch-literarischen ‚Gesichte(r)‘ deutlich. Bei beiden, Rosenzweig wie Picard, stehen auch die geschichtsphilosophischen Reflexionen im Spannungsfeld von Zeitlichkeit und Ewigkeit, Dialog und Schweigen.

„Atome der Ewigkeit“. Geschichtsdenken bei Rosenzweig und Picard Der Stern der Erlösung ist nicht allein Auseinandersetzung und Dialog mit der Theologie des christlichen Abendlandes, sondern – vor allem im dritten Teil – auch mit seiner Geschichtsphilosophie. Dabei steht insbesondere das protestantisch geprägte, fortschrittsorientierte Geschichtsbild des Hegelianismus im Fokus der Rosenzweig’schen Kritik. Dass Rosenzweigs Denken der ‚Gegenwart‘ als einer logisch nicht vermittelbaren Begegnung von Immanenz und Transzendenz, Zeit und Ewigkeit, Tod und Geburt ihn auch als historischen und politischen Denker interessant macht, zeigt etwa seine Übertragung der rituellen „Ausnahmesituation“ in eine historisch-politische Theorie: Das Gesetz des Wechsels verbietet, daß etwas, was beharrt, sich wandle wie auch daß sich im Wechsel etwas erhalte. Das Leben kann entweder nur Ruhe sein oder nur Bewegung. Und da die Zeit nicht abgeleugnet werden kann, so siegt die Bewegung. In des gleichen Flusses Welle steigst du nicht zum zweiten Mal. In hemmungslosem Wechsel und Wandel scheint die Geschichte zu verrauschen. Da kommt der Staat und hängt über den Wandel sein Gesetz. [...] Aber bald strömt über die feste gesetzte Tafel das rauschende Leben schon wieder fort.218

Wenn Rosenzweig in diesem Zusammenhang die „Ausnahmesituation“ der ‚gewaltigen Tage‘ zur politischen Ausnahmesituation und ihrer Gewalt weiterdenkt, macht er – im gleichen Jahr, in dem Carl Schmitt seine Theorie des politischen „Ausnahmezustands“ in Die Diktatur erstmalig ausführt – auf den Zusammenhang von Gesetz und staatlicher Gewalt aufmerksam und deckt deren „wahres Gesicht“ auf: Das Gesetz er-hält sich nur, solange das Volk es hält. Und Recht und Leben, Dauerndes und Wechselndes, scheinen auseinanderzugehen. Da enthüllt der Staat sein wahres Gesicht. Das Recht war nur sein erstes Wort. Es kann sich nicht gegen den Wechsel des Lebens behaupten. Nun aber spricht er sein zweites Wort: das Wort der Gewalt. Die Gewalt läßt das Leben zu seinem Recht gegen das Recht kommen. Indem der Staat selber gewaltsam ist und nicht bloß rechtlich, bleibt er dem Leben auf den Fersen. Es ist der Sinn aller Gewalt, daß sie neues Recht gründe. Sie ist keine Leugnung des Rechts, wie man wohl, gebannt durch ihr umstürzlerisches Gehabe, meint, sondern im Gegenteil seine Begründung.219

In dieser Passage steckt eine Kritik herrschender Geschichtstheorien, die die modernen Fortschrittsideologien durch eine geschichtsphilosophische Auseinandersetzung als hohl entlarvt, indem sie ihnen ein der jüdischen Überlieferung entstammendes, ganz anders geartetes Verhältnis von gegenwärtiger und zukünftiger Zeit entgegensetzt. 218 219

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 369f. Ebenda. Hervorhebung K. L.

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Angelehnt an eine Darstellung der Rosenzweig’schen Geschichtsphilosophie möchte ich im Folgenden aufzeigen, dass Picards Menschengesicht gerade dort am meisten missverstanden oder zumindest sehr einseitig interpretiert wurde, wo es um seine religiös geprägten Entwürfe von Zeit, Ewigkeit und Geschichte geht. Die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer göttlichen Schöpfungsordnung, wie sie Picards Werk durchzieht, war immer wieder Anlass, ihn als Parteigänger von Kulturpessimismus und Konservativismus einzuordnen.220 Diese Einschätzung ist nicht einfach falsch, und es liegt mir fern, Picards konservative Anwandlungen zu leugnen oder zu verharmlosen. Doch eine genaue Lektüre stößt auch auf Aspekte, die nicht in eine solche Schublade passen, sondern die Verwandtschaft Picards mit solchen Kritikern eines an seine Grenzen geratenen Fortschrittsdenkens aufdecken, die – aus dem Judentum stammend und mehr oder weniger deutlich von ihm beeinflusst – nicht einfach dem Irrationalismus und Konservativismus huldigten, sondern die Zeit- und Geschichtsmodelle der Moderne weiterund neudachten. Nicht nur Picard, auch Rosenzweig verfiel dabei zuweilen wie manch andere einem religiösen Denken, das hinter erreichte kritische Standards des wissenschaftlichen Umgangs mit Religion zurückfiel. Doch sie gehören in die Reihe derer, die die theologische Tradition auch fruchtbar machten für eine kritische, zuweilen radikale Neukonstruktion der Geschichte und damit das historische Denken aus den eigenen Aporien herauszuführen versuchten. Die ‚Krise des Historismus‘ oder die ‚Krise der Moderne‘, die innerhalb des philosophischen und geschichtstheoretischen Feldes schon im 19. Jahrhundert aufgebrochen war, hatte sich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg für viele vom Judentum beeinflusste Geschichtsdenker (wie Rosenzweig, Benjamin, Scholem oder Bloch) verschärft.221 Für diese Autoren war neben den zeithistorischen Kontexten – die sich als umfassende Paradigmenwechsel ja auch im Werk anderer ‚Zeit‘-Philosophen wie etwa Heidegger oder Schmitt,222 Bergson oder Wittgenstein artikulierten – der Rückgriff auf ein spezifisch jüdisches Zeit- und Geschichtsmodell wichtig: Insbesondere eschatologi220

Als Beispiele seien genannt: Spinnen: „Ebenbild und Bewegung. Zu Max Picards Schriften über die Physiognomik“, S. 255; Christians: „Gesicht, Gestalt, Ornament“, S. 102; Blankenburg: „Der Seele auf den Leib gerückt“, S. 296 und Filk: „‚Was vorbeizieht, ist gleichgültig, wichtig ist nur, daß etwas vorbeizieht‘“, S. 228. 221 Bei aller Vorsicht vor einer Rückführung intellektueller Praktiken auf allgemeine soziale und historische Ereignisse ist der Erste Weltkrieg als entscheidende Erfahrung, die zum Bruch mit den herkömmlichen – auch geschichtsphilosophischen – Systemen führte, evident: Er wird – wie in Picards Der letzte Mensch – auch bei Benjamin und in Rosenzweigs Briefen verarbeitet; beide hatten einen engen Freund verloren und beide gehörten zu der erschreckend kleinen Minderheit, die sich der auch unter jüdischen Intellektuellen verbreiteten Kriegsbegeisterung früh, wenngleich im Fall Rosenzweigs nicht von Beginn an, widersetzten. 222 Zur Verwandtschaft der Zeitphilosophie Heideggers und Rosenzweigs vgl. Löwith, Karl: „M. Heidegger and F. Rosenzweig or Temporality and Eternity“, in: Philosophy and Phaenomenological Research, 3. Jg. (1942/42), S. 53–77, hier: S. 53: „Wenn Heidegger je einen Zeitgenossen gehabt hat, der diese Bezeichnung nicht nur im chronologischen Sinne verdient, dann war es dieser deutsche Jude, dessen Hauptwerk sechs Jahre vor Sein und Zeit erschien“.

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sche Reflektionen aus rabbinischer, mystischer und messianischer Überlieferung wurden für die zeitgenössische Auseinandersetzung angeeignet und aktualisiert, sei es mit einem politisch-revolutionären Impetus (wie bei Bloch und Benjamin), in (kultur-) zionistischer Zielrichtung (wie bei Scholem) oder in der Hinwendung zum religiösen Bekenntnis (wie bei Rosenzweig). Im Zentrum des diese Autoren verbindenden Bruchs mit einer herkömmlichen Philosophie der historischen Zeit steht der Versuch, Geschichte jenseits des linearen Modells einer kontinuierlich ‚fließenden‘ Zeit zu denken, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in eine ferne, tendenziell unerreichbar erscheinende Zukunft hinströmt, um sich dort in das von Hegel postulierte ‚Ende der Geschichte‘ zu ergießen und zu vollenden. Es galt, den (säkularen) Glauben an die Zukunft als eine Abfolge von zu erreichenden Fortschritten (eines philosophischen, technischen, vernünftigen oder absoluten ‚Geistes‘) als Ideologie zu enttarnen. Die in Aussicht gestellte Vollendung am Ende der Zeiten erschien nun als eine ‚Ver-Sprechung‘, die sich nicht nur als unendlicher Aufschub des Endes, sondern vor allem auch des Neuen erwies: [W]enn von ‚ewigem‘ Fortschritt auch geredet wird – in Wahrheit ist immer nur ‚unendlicher‘ Fortschritt gemeint, ein Fortschritt, der so immer weiter fort schreitet und wo jeder Augenblick die verbürgte Gewißheit hat, noch an die Reihe zu kommen, also seines Daseinwerdens so sicher sein darf wie ein vergangener seines Schondaseins. Gegen nichts sträubt sich also dieser echte Fortschrittsgedanke so wie gegen die Möglichkeit, daß das ‚ideale Ziel‘ vielleicht schon im nächsten, ja in diesem Augenblick erreicht werden könnte und müßte.223

Rosenzweigs Geschichtsphilosophie nimmt ihren Ausgang von einer Beschäftigung mit dem Historismus. Das Religiöse steht dabei zunächst nicht so entschieden wie später im Zentrum des Rosenzweig’schen Denkens, auch wenn die Historismusdebatte ja maßgeblich von protestantischen Religionsgeschichtlern wie Troeltsch oder Rickert geprägt worden ist. Bei letzterem hört nicht nur Picard Vorlesungen, er ist auch Rosenzweigs akademischer Lehrer in Freiburg und fördert die Publikation seiner Dissertationsschrift Hegel und der Staat. Rosenzweig sucht im Studium der Geschichte nach einem Weg, seinen subjektivistischen Skeptizismus zu überwinden und produktiv zu machen. „‚Meine Mängel im Objektiven ablegen‘, heißt objektiver, historischer werden. – Auch ‚pluralistischer‘ [...]; denn das Subjekt ist in der Einzahl, die Objekte im Plural.“224 Rickerts historistisch-relativistisches Konzept der ‚Wertbezogenheit‘, nach dem die Geschichtswissenschaft die in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften vorhandenen, historisch sich verändernden Werte zu bestimmen und deren Beziehung zum Prozess der Kulturgeschichte nachvollziehbar zu machen habe, ist für ihn dabei ein wichtiger Anhaltspunkt. Doch schon bald erscheint ihm – wie vielen anderen – dieser Relativismus zweifelhaft, ja eine tödliche Bedrohung: 223 224

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 253. Tagebucheintrag vom 22. Mai 1906, zit. n. Rosenzweig, Franz: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I. Briefe und Tagebücher. I. Band 1900–1918, hrsg. v. Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1979, S. 45. Hervorhebungen im Original.

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Geschichte ist psychologischer ‚Materialismus‘, allgemeiner: ‚Materialismus‘ des Geschehens, wie der richtige Materialismus Materialismus des Seins ist. Wie dieser sagt: Es ist alles ‚nur‘ im Raume, so sagt jener: Es ist ja alles ‚bloß‘ in der Zeit. Wertvolles muß man so gut vor der Geschichte retten wie vor der Naturwissenschaft. Raum und Zeit sind Särge.225

Die Einflüsse von Hegel und Friedrich Meinecke sind es vor allem, die den frühen Rosenzweig zu einer fortschrittsgläubigen Geschichtsphilosophie führen. Eine unaufhaltsame Tendenz zur universalen Ausbreitung menschlicher Werte werde – so der von Rosenzweig bewunderte Meinecke – auch von der Epoche der antagonistischen Nationalstaaten nicht aufgehalten, ja letztere sei gerade der Schritt zu ihrer Verwirklichung. Während Meinecke jedoch an dieser Einschätzung noch nach dem Weltkrieg festhält, kommen Rosenzweig schon vor 1914 erste Zweifel daran.226 Maßgeblich für Rosenzweigs radikale Wende, in der er Hegel, den Historismus und schließlich große Teile der abendländischen Philosophie verwirft und sich der religiösen ‚Offenbarung‘ zuwendet, sind zwei Ereignisse – die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Austausch mit jungen Historikern und Philosophen, den er seit einem Kongress in Baden-Baden aus dem Jahr 1910 unterhält. Am Denksystem der akademischen Lehrer zweifeln wie er auch die übrigen Mitglieder des aus diesem Austausch sich bildenden ‚Patmos-Kreises‘: Vielsagend benannt nach dem angeblichen Entstehungsort der Johannes-Apokalypse, handelt es sich bei diesem um eine lose, nicht institutionell organisierte Gruppe, zu der auch die mit ihm verwandten und eng befreundeten Hans und Rudolf Ehrenberg sowie der für Rosenzweig überaus wichtige Eugen Rosenstock gehören. Rosenzweig kritisiert eine immer wieder auf die Erlösung in einem fernen Ende verweisende Fortschritts-Geschichte, wie sie insbesondere über den Kulturprotestantismus vorherrschend geworden war. In ihr verkommt die irdische Zeit zum unendlichen Fortschreiten, Vertrösten und Verweisen; und dies wird besonders dort deutlich, wo diesem Geschichts-Denken ein jüdisches Modell aus Messiaserwartung und vorweggenommener Eschatologie im ‚Hier und Jetzt‘ entgegengestellt wird, in dem Ewigkeit und historische Zeit sich unmittelbar berühren und so eine „Vorwegnahme der Apokalypse im Geschichtlichen“227 bewirken. 225

Tagebucheintrag vom 24. Mai 1908, zit. n. ebenda, S. 81. Hervorhebung im Original. Dies ist eine Haltung, die partiell auch Rickert selbst einnimmt, wenn er zwar methodisch am Relativismus festhält, ihn aber weltanschaulich als „ein Unding“ (zit. n. Mendes-Flohr, Paul: „Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism“, in: Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), The Philosophy of Franz Rosenzweig, Hanover, London: University Press of New England, 1988, S. 138–161, hier: S. 140) empfindet. 226 Dennoch schätzt Rosenzweig den Krieg noch in einem Tagebucheintrag vom 14. Januar 1916 optimistisch als Übergangsphänomen zu einer die Welt umspannenden und vereinenden Politik ein; ein Urteil, in dem Meineckes Einfluss unübersehbar ist: „Das Ergebnis der Aufklärung [...] zeigt sich erst in diesem, auf allen Seiten über die christliche Welt hinausgreifenden und zu überchristlicher Politik führenden Kriege.“ (Tagebucheintrag vom 14.1.1916. in: Rosenzweig: Briefe und Tagebücher. I. Band 1900–1918, S. 183, Hervorhebungen im Original) 227 Scholem, Gershom: „Walter Benjamin“: in: Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 [1967], S. 9–34, hier: S. 32.

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Die religiös inspirierte Dimension dieses Modells tritt bei Rosenzweig zunehmend hervor. Grob skizziert folgt Rosenzweigs Vorstellung von Zeit und Geschichte, die er im dritten Teil des Sterns der Erlösung darlegt, einem triadischen Modell, das die im 12. Jahrhundert von Joachim von Fiore entworfene und von Schelling aufgenommene christliche Theorie von den drei Kirchen (des Petrus, des Paulus und des Johannes) übernimmt: Das Zeitalter des Petrus kennzeichnet die Bildung eines institutionellen Leibes Christi – der Kirche – durch Missionierung der Heiden. Doch die Missionierung bekehrt gewaltsam, sie überzeugt nicht durch die Vernunft der Philosophie; daher rühre das Unvermögen des Mittelalters, das eigene innere Heidentum zu überwinden und die Trennung von (griechisch-heidnischer) Philosophie und Glaube aufzuheben. Erst die Reformation, mit der das zweite, paulinische Zeitalter der Kirche beginne, richtet den Blick auch nach innen, auf die Seele – doch sie löst sich dabei von dem in die äußere Welt gerichteten ‚Geist‘ und entzweit Körper und Seele. 1800 markiert dann das Anbrechen des dritten, des johanneischen Zeitalters, für das die französische Revolution, Goethe und Hegel228 stehen: Es ist das Zeitalter des Universalismus und der Ganzheit; und es steht im Zeichen der Hoffnung auf die Erlösung. Nicht mehr die äußere oder innere Bekehrung, sondern die Hoffnung rückt ins Zentrum. Diese Hoffnung aber wird vom Judentum wachgehalten, dem ‚ewigen Volk‘, das seinerseits außerhalb der Geschichte der Kirche und ihres triadischen Fortschreitens steht. Während das Christentum der Offenbarung qua historischer Mission dient und sie im Gang der Geschichte – als Fortschritt – verbreitet, erinnert das Judentum an die Ewigkeit der von der Offenbarung ausgehenden Hoffnung und steht damit jenseits des geschichtlichen ‚Zwischenreichs‘ der Welt – im ‚Reich‘. Auch in diesem (heils-)geschichtlichen Modell sind die Motive von Tod und Schweigen für Rosenzweig von eminenter Bedeutung. Er macht sie zum Ausgangspunkt seines anti-hegelianischen Entwurfes, denn der Tod ist die Gewalt, die die abendländische Tradition einer „Identität von Denken und Sein“229 bricht. Die in der westlichen Philosophie – von deren heidnischen Ursprüngen über die christliche Tradition bis zu Hegel – betriebene anmaßende Totalisierung eines Sinns der Geschichte und die Idee des ‚All‘ geraten dort an ihre Grenze, wo sie den Tod in ihre Sinnsysteme einzugliedern versuchen und ihn gerade dadurch fundamental verfehlen. Für Rosenzweig ist der Tod das Phänomen, das sich Sinn und Fortschritt nicht unterwerfen lässt, das als Außer-Sich-Sein und Außer-derZeit-Sein nicht erfahrbar, lediglich antzipierbar ist. Doch – und darin liegt die Pointe der im Stern der Erlösung unternommenen „Reise vom Tod zum Leben“230 – der Tod ist 228

Hier zeigt sich deutlich, dass Rosenzweigs Geschichtsmodell dennoch dem Hegel’schen Entwurf verbunden bleibt; Rosenzweig versucht, die christlich-abendländische Philosophie, deren Höhepunkt für ihn Hegel markiert, dadurch zu überwinden, dass er ihr in der Heilsgeschichte die – unerlässliche – Funktionsstelle zuweist, das ‚Zwischenreich‘ der Offenbarung voranzutreiben, ohne das die Erlösung nicht möglich ist. 229 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 19. 230 Wolfson: „Facing the Effaced“, S. 81.

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zugleich das Phänomen, in dem das plötzliche Hereinbrechen eines das Irdische übersteigenden Ereignisses, das alles Bekannte und historisch Vertraute übersteigt, wahrnehmbar wird und das damit die Ewigkeit als radikal verschieden von der Unerreichbarkeit eines unendlichen Fortschritts erweist. Der Tod bringt die Beschränktheit der Kategorien eines umfassenden philosophischen Systems an den Tag – und zwar akustisch: [D]ie nicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken der Philosophie, den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist. [...] Wenn der Tod ein Etwas ist, so soll uns fortan keine Philosophie mit ihrer Behauptung, sie setze Nichts voraus, den Blick davon abwenden. Schauen wir doch jener Behauptung näher ins Auge.231

Die mit dem johanneischen Zeitalter der Kirche in den Vordergrund tretende heilgeschichtliche Aufgabe des Judentums ist das Wachhalten der Hoffnung durch das Verbürgen und Bezeugen des Ewigen, das ja mit ihm einen Bund eingegangen ist. Die jüdische ‚Gesichts-Mystik‘, in der das Gesicht zur Figur einer augenblickshaften, unmittelbaren Berührung mit der Ewigkeit wird, wird hier nämlich geschichtsphilosophisch relevant. Die fundamentale Differenz des Judentums zum Christentum – das sich auf den Gottes-Sohn als Mittler beruft und dessen geschichtlicher Auftrag wiederum die Vermittlung der Offenbarung in der Mission ist – äußert sich in seiner völlig anders gearteten Stellung zur historischen Zeit. Seine ‚Zeit‘ im engeren Sinne ist spätestens mit der Zerstörung des Zweiten Tempels beendet, wenn sie überhaupt je bestanden hat. Denn als das ‚ewige Volk‘ zeichnet es sich durch den direkten Bund mit Gott und damit durch eine Unmittelbarkeit zu dem, was jenseits der Geschichte steht, aus. Sein Ort ist außerhalb der Geschichte und ihrer historischen Zeitlichkeit. Sein (Ge-)Denken richtet sich nicht auf die christliche Geschichte – das ‚Zwischenreich‘, das sich von der Menschwerdung Gottes bis zu seiner Wiederkunft spannt – sondern verbindet die in die Vergangenheit gerichtete Erinnerung an den ‚ewigen Bund‘ mit der zukünftigen Ewigkeit, die nicht einfach ein potentiell unendlich aufgeschobenes Ende der Zeiten, sondern eine jenseits der Zeitlichkeit und parallel zu ihr liegende, auf die Gegenwart jederzeit ‚zukommende Zukunft‘ ist. Diese Verkehrung der Zeitfolge [...] begründet das Leben des ewigen Volks. Sein ewiges Leben nämlich nimmt ständig das Ende vorweg und macht es so zum Anfang. In dieser Umkehrung verleugnet es die Zeit so entschieden wie nur möglich und stellt sich aus ihr heraus. In der Zeit leben heißt zwischen dem Anfang und Ende leben. Wer außerhalb der Zeit leben wollte – und das muß, wer in der Zeit nicht das Zeitliche, sondern ein ewiges Leben will – wer also das will, der muß jenes ‚zwischen‘ verleugnen. Ein solches Verleugnen aber müßte tätig sein, damit nicht bloß ein Nicht-in-der-Zeit-Leben herauskäme, sondern ein positives Ewig-Leben. Und die tätige Verleugnung geschähe einzig in der Umkehr. Ein Zwischen umkehren heißt sein Hernach zum Zuvor, sein Zuvor zum Hernach, das Ende zum Anfang, den Anfang zum Ende zu machen. Und das tut das ewige Volk.232

231 232

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 5f. Ebenda, S. 467.

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Zwar kennt auch der jüdische Messianismus das Warten auf die zukünftige und endgültig eintretende Erlösung;233 doch sie ist – wie Rosenzweig unterstreicht – nur dort möglich, wo sie im ‚Hier und Jetzt‘ vorweggenommen wird, wo das radikale Heraustreten aus der Zeit als jederzeit möglich gedacht – und gelebt – wird. Die Gewalt dieses radikalen Heraustretens verdeutlicht Rosenzweig, wenn er mit dem Talmud (Traktat Baba Mezia) und Mt 11,12 das „Herbeiführenwollen des Messias vor seiner Zeit“ als „Versuchung, das ‚Himmelreich zu vergewaltigen‘“234, bezeichnet. Rosenzweigs Ansatz vollzieht den Bruch mit dem Fortschrittsdenken, ohne in Geschichtspessimismus zu verfallen: Er verabschiedet Zukunft, Utopie und Hoffnung nicht, sondern löst sie aus der Verklammerung in die Abfolge und verschränkt sie miteinander. Den Schritt, sie auch noch aus den Fängen der Metaphysik zu lösen, geht er allerdings nicht.235 Und doch erinnern nicht nur die gemeinsamen Wurzeln an Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. Scholem hat darauf hingewiesen, dass auch „Benjamins Engel“ aus der jüdischen Tradition schöpft: Die talmudische Tradition verschränkt in der Überlieferung von der augenblickshaften Begegnung der Engel mit Gott die ewig auf das ‚Hier und Jetzt‘ ‚zukommende Zukunft‘ des unermesslichen Schöpfers, die Gegenwart und Fülle der Schöpfung sowie das Vergehen der Geschöpfe im Nichts – und zwar im „talmudische[n] Bild von den Engeln, die jeden Augenblick neu in unzähligen Scharen geschaffen werden, um dann, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, zerstört zu werden und im Nichts zu vergehen“.236 Ewigkeit ist hier nicht eine zukünftigaufgeschobene, sondern eine der Vergangenheit und Gegenwart ‚zukommende‘ Zukunft; Gegenwart wird zugleich Ewigkeit-und-Vergehen – und Vergehen nicht zur vergangenen Vergangenheit, sondern zur Vorwegnahme der Ewigkeit in der Gegenwart des Augenblicks. Und wie bei Picard und Rosenzweig artikuliert sich hier die Antizipa233

Und natürlich kennt auch das Christentum Strömungen der ‚Naherwartung‘, die die Rückkehr des Erlösers so unmittelbar erwarten, dass deren Wirkungen – auch politisch und soziokulturell – bis in die Gegenwart hineinreichen; bezeichnenderweise hat daran ja kaum ein anderer so nachdrücklich erinnert wie Ernst Bloch. 234 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 253. 235 Zwar legt der Aufsatz „Das Neue Denken“, mit dem Rosenzweig einigen seiner Meinung nach missverstehende Reaktionen auf den Stern der Erlösung entgegentrat, sein Augenmerk ungleich stärker auf den Dialog mit dem humanen anderen, auf die menschliche Interaktion. Doch inwieweit seine These, „[d]ie theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben” (Rosenzweig: „Das Neue Denken“, S. 153), als ernsthafter Versuch gemeint ist, das Primat der Metaphysik zurückzunehmen, lässt sich nach Nahum N. Glatzer schlicht nicht beantworten: „We may ask whether the change [...] is due to a conscious development: Is it not more than an attempt to make explicit in ‚The new Thinking‘ what lay dormant between the lines of The Star? This question, I am unable to answer.“ (Glatzer, Nahum N.: „The Concept of Language in Rosenzweig's Thought“, in: Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), The Philosophy of Franz Rosenzweig, Hanover, London: University Press of New England, 1988, S. 172–184, hier: S. 184) 236 Scholem: „Walter Benjamin“, S. 32.

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tion des Eschaton vor allem im akustischen ‚Verfliegen der Stimme‘ – im Schweigen: „Ihre ‚schnell verfliegende Stimme‘ ist die der Vorwegnahme der Apokalypse im Geschichtlichen, und auf die kam es ihm an“237 heißt es bei Scholem über das Denken der Geschichte in Benjamins Kraus-Essay. Was jüdische und christliche Geschichts-Geister scheidet, ist für Rosenzweig, [d]aß die Utopie vorweggenommen werden kann, daß sie ‚schon heute‘ gelebt werden kann, oder daß sie im Gegenteil nur als eine regulative Idee konzipiert werden muß, als ein asymptotisches Ideal, dessen Verwirklichung sich immer wieder verzögert, je länger wir voranschreiten238;

nur in ersterem liegt für Rosenzweig das, was die (heils-)geschichtliche Hoffnung zu einer echten Hoffnung macht. Und hier lässt sich nun der Bogen schlagen zu Picards Das Menschengesicht. Wie Rosenzweig insistiert auch er auf einer in die historische Zeit hineinragenden Ewigkeit, die keine unendlich ‚aufgegebene‘, linear zu denkende, sondern eine stets gegenwärtige Zukunft ist: Manchmal ist es, als lebe ein […] Menschengesicht gar nicht in der Zeit; es ist, als komme es in jedem Augenblick von neuem aus der Ewigkeit und zersprenge die Zeit in jedem Augenblick. Wir glauben, die Zeit würde viel rascher ablaufen, wenn nicht jeden Augenblick sie gehemmt würde durch die Ewigkeit, die sie zersprengt. Die Zeit ist durch die Gegenwärtigkeit zersprengt in lauter Augenblicke der Ewigkeit. Gegenwärtigkeit des Menschengesichts ist nicht: sich an den Augenblick der Zeit halten. Gegenwärtigkeit ist: ein Augenblick der Ewigkeit sein.239

Zugleich lehnt Picard die Bedeutung einer linear verlaufenden und fortschreitenden Zeit, die bei Rosenzweig als geschichtliche Aufgabe des Christentums relativiert wird, aber fundamental bleibt, gleichfalls nicht vollkommen ab. Was Rosenzweig als Spannung zwischen dem ‚Zwischenreich‘ der historischen Zeit und dem ewigen ‚Reich‘ beschreibt, fasst Picard als eine doppelte Abstammung des Menschengesichts, das aus der Ewigkeit und zugleich aus der irdischen Zeit komme: [D]as Menschengesicht kommt aus der Ewigkeit, und trotzdem ist Zeit im Menschengesicht. [...] Es ist wie zweimal gemacht; einmal von der Ewigkeit her, und von der Ewigkeit her erscheint es so: plötzlich, unerwartet, überfallend, und dann erscheint es wie noch einmal von der Erde her gemacht: langsam wachsend in der Zeit.240

Vor dem zeitgenössischen Kontext lässt sich dieses eschatologische Denken der Ewigkeit als Picards Aneignung eines jüdisch-messianischen Zeitmodells lesen. Es gipfelt wie bei Rosenzweig in einer Figur, die die Berührung von Zeit und Ewigkeit als Augenblick fasst: 237

Scholem, Gershom: „Walter Benjamin“, in: Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 [1983], hier: S. 32. 238 Mosès, Stéphane: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag, 1994, S. 16. Hervorhebung im Original. 239 Picard: Das Menschengesicht, S. 128. Vgl. zur Verwandtschaft dieses Denkens mit der Theologie Søren Aabye Kierkegaards oben S. 431ff. 240 Ebenda, S. 138. Vgl. hierzu oben S. 357ff.

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Austauschbeziehungen zwischen Protestantismus, Katholizismus und Judentum

Was die Ewigkeit für Gott ist, nämlich das Gelöstsein aus der Zeit, das bedeutet die Gegenwärtigkeit für den Menschen: auch das Gelöstsein aus der Zeit; zwar nicht das dauernde wie bei Gott, nur das augenblickshafte, aber das Augenblickshafte als abgesprengtes Teilchen der Ewigkeit. Und das eben ist die Gegenwärtigkeit des Menschen: Atom der Ewigkeit.241

241

Ebenda, S. 128.

Schluss: Der Autor und das Gesicht

Die ‚Krise der Moderne‘, die sich auch als eine ‚Krise der Zeichen‘ oder der Repräsentation artikuliert, ist ein Phänomen, das bereits in Literatur, Wissenschaft und Kunst des 19. Jahrhunderts einsetzt und sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verschärft. Mit ihr geraten auch die Phyisognomik und ihre Gesichte(r) in die Krise. Die Figuren, die der physiognomischen Hermeneutik zuvor als natürliche Zeichen, als metaphysisch begründete Entsprechungen von Zeichen und Referent, Innen und Außen des menschlichen Wesens galten, ‚entpuppen‘ sich nun als Gesichte des Menschen – als zeitlich bewegte historische Figuren zwischen literarischer Defiguration, sozialer Konfiguration und religiöser Transfiguration: Leitgesichte(r) werden zu Zeitgesichte(r)n . Wie dem Gesicht, so ergeht es auch der zweiten ‚Hauptfigur‘ dieser Arbeit: dem Autor. Die Identität und Kontinuität seines schöpferischen Wesens wie die Einheit seiner ‚Ausdrucksbewegungen‘ im Werk werden in Frage gestellt und erscheinen als Bewegungen innerhalb der kulturellen und sozialen Kontexte der Zeit – als schlingernde Bahn des Swerving im literarischen Feld, die zwischen den Klippen des umwegigen Abwegs und des abwegigen Umwegs hin- und hergeworfen wird. In dieser Arbeit bin ich den Bewegungen, die diese beiden Hauptfiguren vollziehen, nachgegangen, indem ich sie miteinander verbunden habe: Die De-, Trans- und Konfigurationen der Gesichte(r) im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts werfen dabei ein Licht auf das literarische Swerving des Autors Max Picard; aber dieses auch auf jene. Dabei bin ich im Sinne einer an Bourdieu und dem New Historicism orientierten Literatursoziologie vorgegangen, die sowohl die Auseinandersetzung mit dem einzelnen Text sehr ernst nimmt als auch seine Verortung in den Kontexten des literarischen Feldes sowie die Austauschbeziehungen, die er zu darüber hinausgehenden Diskursen und Praktiken unterhält. Zwei Werke Picards standen im Mittelpunkt meiner Analyse: das 1921 erschiene Der letzte Mensch und Das Menschengesicht von 1929. Die textnahe Lektüre des Letzten Menschen, in dem das Gesicht bei Picard zum ersten Mal eine prominente Rolle einnimmt, brachte ein Umschlagen grotesker in apokalyptische Textverfahren zum Vorschein und damit eine geheime Verwandtschaft ihrer vermeintlich gegensätzlichen literarischen Verfahren: der unendlichen Textbewegung in der Groteske und des gewaltsamen Endes des Sprechens in der Apokalypse. Picards Letzter Mensch stellt damit nicht nur einen ebenso eigenwilligen wie eigenständigen

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Schluss: Der Autor und das Gesicht

Beitrag zur expressionistisch beeinflussten Literatur seiner Zeit dar, sondern vermag auch eine aktuelle Kritik gängiger Groteske-Theorien (Bachtin, Kayser, Fuß) anzuregen. Zu dem unkonventionellen Charakter tragen dabei auch ungewöhnliche apokalyptische Verfahren bei, die auf eigenartige Weise den absoluten apokalyptischen Wahrheitsanspruch zurücknehmen und durch Textelemente wie den Fragemodus, die häufig begegnende Markierung von Visionen durch ein „Vielleicht“ sowie das Auftauchen einer zweiten Seher(innen)-Gestalt brechen. Der letzte Mensch zeichnet sich durch eine ‚Textur der Unverständlichkeit‘ (Baßler) aus, die sich in einer ‚impliziten Poetologie‘ (Erdbeer) niederschlägt und bereits an der Textoberfläche seine Nähe zum literarischen Expressionismus sichtbar macht. Auch die kontextualisierende Analyse lässt Gemeinsamkeiten mit zentralen Topoi des Expressionismus deutlich werden, etwa in der Auseinandersetzung mit dem technisch oder industriell ‚besessenen Körper‘ (Andriopoulos) oder mit dem Ersten Weltkrieg, den Picard anders als zahlreiche Zeitgenossen (unter ihnen viele Expressionisten) nicht zur ‚anthropologischen Figur‘ (Horn) überhöht, sondern als Dekadenz- und Schein-Phänomen fasst. Picards Haltung zum Expressionismus bleibt jedoch nicht nur hier distanziert bis kritisch; dies belegen insbesondere seine kunstkritischen Schriften, in denen er die Kunst des Impressionismus wie des Expressionismus als künstlerische Gesinnungen kritisiert, die ihrer eigenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksverfahren sowie der Bewegtheit jeglicher Anschauung nicht gewahr sind. Picards Texte – vom 1914 erschienenen Bürger bis zum Letzten Menschen von 1921 – unternehmen, wie aus der Analyse deutlich wird, den Versuch, sich am avantgardistischen Pol des literarischen Feldes zu positionieren. Dass dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt ist, und das Swerving des Literaten Max Picard sich eher als umwegiger Abweg denn als abwegiger Umweg erweist, lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen: Zum einen tritt er zu einem Zeitpunkt in das literarische Feld ein, als der Expressionismus bereits mehr oder weniger deklassiert ist; seine expressionistischen Ansätze – zumal ihr Ausdruck zumeist nicht sonderlich gewagt ist – stoßen daher kaum auf Resonanz. Der letzte Mensch, der hier eine Ausnahme hätte machen können, ist ein schwer zugängliches und langes Werk – und sein mediales Format dem schnelllebigen expressionistischen Gestus damit kaum angepasst. Einer Anerkennung als AvantgardeSchriftsteller wenig förderlich ist auch Picards geringe Anbindung an avantgardistische Gruppen, Institutionen und Medienverbünde sowie sein mangelndes Engagement und Geschick in der Ausnutzung vorhandenen sozialen Kapitals. Ein literarisch modernes und komplexes Werk stellt Der letzte Mensch dennoch dar. Das zeigt sich auch an den Austauschbeziehungen, die er zu nicht-literarischen Wissensformen unterhält: In einer über das literarische Feld hinausgehenden Kontextualisierung erweist sich Der letzte Mensch als Text, in dem auch zeitgenössische Wissensfiguren aus der Geschichtswissenschaft sowie aus der Medizin und Rassentheorie bearbeitet werden. In der Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht wird deutlich, dass Picards Wissen um die ‚Krise des Historismus‘ (Troeltsch) sich auf

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aktuelle und progresssive Positionen aus dem Fachdiskurs gründet; der Austausch erfolgt dabei nicht nur einseitig, wie die Erwähnung des Letzten Menschen in Troeltschs Der Historismus und seine Probleme belegt. Schließlich verweist Picards Interesse für den (grotesken) Körper auch auf seine frühe Dissertationsschrift Ein Beitrag zur Lues- und Paralysefrage von 1912, die einerseits deutliche Einflüsse der aufstrebenden Rassenhygiene aufweist, sich andererseits aber in ihrer Argumentation dem medizinischen mainstream der Zeit unterwirft, von dessen Empirismus und Rationalismus sich der Literat Max Picard später vehement distanziert. Als Swerving-Bewegung, die sich von einer früheren Position entfernt und eine neue, unvorhergesehene Richtung einschlägt, lässt sich die Wende begreifen, die sich zwischen der Veröffentlichung des Letzten Menschen und der des Menschengesichts vollzieht: Dieses Werk beendet eine längere Phase Picards ohne Publikation; und in ihm tritt ein im Vergleich zu früheren Schriften deutlich verstärkter religiöser Einschlag hervor. Die Analyse der Textbewegungen und -verfahren, mit der auch meine Beschäftigung mit Das Menschengesicht einsetzt, zeigt eine Sprache, die um einen harmonischen Ausgleich von Paradoxen bemüht ist. Dies lässt sich als Versuch deuten, die vom Expressionismus ‚zerstörte‘ und ‚fragmentierte‘ Sprache – die ja auch den Letzten Menschen auszeichnete – zu rekonstruieren und eine „Wiederherstellung des Vertrauens in Sprache“1 zu bewirken. Das Menschengesicht kann damit der literarischen Strömung des Nachexpressionismus (Haefs) zugerechnet werden. In kondensierter Form schlägt sich Picards Bemühen um paradoxe Harmonien nieder in einer von mir als ‚Wellentheorie des Gesichts‘ bezeichneten Passage, die ich als eine implizite Poetologie der Sprach- oder Textbewegungen gelesen habe. Paradoxe Harmonien zeichnen auch ein zweites Textverfahren aus, das meine Lektüre freilegt: Die Rezeption literarischer Bewegungen aus der jüdischen Mystik und deren anthropomorphe Figuren erlauben es, Das Menschengesicht als Midrasch zu lesen. Auch seine thematische Positionierung rückt Picards Menschengesicht in die Nähe des Nachexpressionismus. Das zeigt ein Vergleich mit den Kontexten der katholischen Literaturbewegung sowie dem Diskurs über eine deutsch-jüdische Literatur: In beiden Fällen lässt sich Picards Text als Versuch verstehen, eine Position gemäßigter religiöser Modernität zu entwickeln. Die intensive Auseinandersetzung mit religiösen Fragen weist aber auch hier noch über die Grenzen des literarischen Feldes hinaus: Picards Text steht im Austausch mit zeitgenössischen Entwicklungen im Feld der Theologie: Er rezipiert dabei Positionen aus dem Protestantismus (hier vor allem die Theologie Kierkegaards sowie der Dialektischen Theologie), aus dem Katholizismus (insbesondere die imago dei-Lehre und die 1

Haefs: „Nachexpressionismus“, S. 79.

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Bildtradition der Heiligendarstellung auf Goldgrund) sowie aus dem Judentum, die er sich in einem zuweilen recht eigenwilligen Prozess der Bearbeitung, Distanzierung und Amalgamierung aneignet. Picards Auseinandersetzung mit jüdischer Eschatologie führt ihn dabei zu einem Modell der ‚augenblickshaften‘ ewigen Gegenwärtigkeit, das mit linearen Zeit- und Geschichtsentwürfen bricht. Das Menschengesicht weist dabei interessante Parallelen zu Franz Rosenzweigs geschichts- und religionsphilosophischen Ansätzen auf, wie er sie insbesondere in Der Stern der Erlösung entfaltet. Wenn ich eingangs dieser abschließenden Bemerkungen von zwei Hauptfiguren, dem Gesicht und dem ‚Autor‘, sprach, so ist diesen eine dritte, vielleicht die entscheidende, hinzuzufügen: Max Picard. Sie ist weniger in eine Krise, sondern vielmehr weitgehend in Vergessenheit geraten. Dazu dürften ganz unterschiedliche Faktoren beigetragen haben: die verspätete und zumeist nicht sonderlich gewagte Positionierung Picards als Avantgarde-Autor, sein häufig konventioneller Stil, sein fehlendes bzw. nicht gewinnbringend genutztes soziales Kapital; aber auch das zeitgenössische Unverständnis etwa dem Letzten Menschen gegenüber oder das Ausbleiben späterer oder heutiger intensiver Lektüren einiger durchaus interessanter Passagen, die seine frühe Kategorisierung als kulturkonservativer Autor hätten differenzieren können; und nicht zuletzt die faschistische Machtübernahme und ihr Zerstörungswerk an vielem, was als expressionistisch, intellektuell oder jüdisch galt. Wenn die beiden anderen Hauptfiguren meiner Arbeit, das Gesicht und der Autor, vielleicht in ihrer Krise ganz gut aufgehoben sind – sie schützt ebenso vor einer emphatischen Überhöhung wie vor dem Vergessen –,2 so möchte ich die dritte Hauptfigur, Max Picard, ein wenig aus der Vergessenheit herausholen. Wohlgemerkt: Was ein solcher Versuch, dem Vergessen entgegenzuwirken, erstehen lässt, ist auch eine literarische Figur – eine Prosopopoiia, die dem oder den Toten nicht nur ein Gesicht, sondern eine Stimme leiht, die nicht die ihren sind. Ich hoffe, dass meine Stimme die Gesichtszüge der literarischen Figur Max Picard hier und da ein klein wenig zum Leben erweckt. Oder das diese Arbeit zumindest das literaturwissenschaftliche ‚Verlangen, mit den Toten zu sprechen,‘ (Greenblatt) in dem ein oder anderen Fall in seine Richtung zu lenken vermag – sie hätte dann ihr Ziel erreicht.

2

Die jeweilige Krise wäre dann – entgegen der Etymologie des Wortes, das auf die griechische krisis, also eine (endgültige) Entscheidung zurückgeht – ein auf Dauer gestellter Zustand des InFrage-Stehens.

Abbildungsnachweis

Abbildung 1, S. 155: Still aus Dr. Mabuse, der Spieler. 2. Teil: Inferno. Ein Spiel von Menschen unserer Zeit (Regie: Fritz Lang), Uco-Film GmbH, 1922. Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung, Wiesbaden. Abbildung 2, S. 222: Still aus Metropolis (Regie: Fritz Lang), Universum-Film AG (UFA), 1927. Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung, Wiesbaden. Abbildung 3, S. 257: Die Flucht nach Ägypten, Hinterglasmalerei eines unbekannten Künstlers, aus: Max Picard, Expressionistische Bauernmalerei, München: Delphin Verlag, 1918, Titelseite. Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur Nu 3400. Abbildung 4, S. 258: Der heilige Martin und der Bettler, Hinterglasmalerei eines unbekannten Künstlers, aus: Max Picard, Expressionistische Bauernmalerei, München: Delphin Verlag, 1918, o. S. (S. 39). Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur Nu 3400. Abbildung 5, S. 259: Der heilige Martin und der Bettler, kolorierte Strichätzung nach einer Hinterglasmalerei, vermutlich von Gabriele Münter, aus: Wassily Kandinsky, Franz Marc (Hrsg.): Der Blaue Reiter, München: Piper, 1912, Frontispiz. Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München. Abbildung 6, S. 470: Lippo Memmi, Die Himmelfahrt Mariae, um 1340. Reproduktion und Abdruckgenehmigung: Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München (Inv. Nr. WAF 671), Leihgeber: Wittelsbacher Ausgleichsfonds München.

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