Literarische Entdeckungsreisen: Vorfahren - Nachfahrten - Revisionen 9783412212292, 9783412207649

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Literarische Entdeckungsreisen: Vorfahren - Nachfahrten - Revisionen
 9783412212292, 9783412207649

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Hansjörg Bay, Wolfgang Struck (Hg.)

Literarische Entdeckungsreisen Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Nach einer Fotografie von Robert E. Peary, auf dem Weg zum Nordpol, 5.4.1909.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20764-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Hansjörg Bay · Wolfgang Struck Forschungsreise – Exploration of a Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über die letzte Grenze

Wolfgang Struck Ingenjör Andrées luftfärd oder Die melancholischen Entdeckungen des Films . . . . .

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Bettine Menke Grenzüberschreitungen (in) der Schrift, Exterritorialität der Pole . . . . . . . . . . .

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Philipp Felsch Petermanns Geografische Mutmaßungen. Das offene Polarmeer als Kartentraum. . .

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Sabine Frost Vom Erzählen zwischen Meereshöhen und Meerestiefen. Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorschriften, Nachfahren und Relektüren

Hansjörg Bay Literarische Landnahme  ? Um-Schreibung, Partizipation und Wiederholung in aktuellen Relektüren ­historischer ‚Entdeckungsreisen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Christof Hamann „Was wären wir ohne die Geographie“. Joachim Heinrich Campe und Wilhelm Raabe überschreiben Le Vaillant.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Axel Dunker „Es ist eine Frage des Gedächtnisses“. Relektüren historischer und literarischer Texte in Christof Hamanns Roman U ­ sambara. . . . . . . . . . . . . . . 157

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Inhaltsverzeichnis

John K. Noyes Geschichte im Wald, Geschichte im Fluss  : Urs Widmers Im Kongo als ­Anti-Entdeckungsroman.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 David Simo Schreiben als Wortergreifung und Gegendiskurs. Yambo Ouologuems intertextuelles Spiel mit kolonialen und antikolonialen Bildern. . . . . . . . . . . . . 189 Tropologien

John Zilcosky Unheimliche Begegnungen  : Abenteuerliteratur, Psychoanalyse, Moderne . . . . . . . 203 Dietmar Schmidt „Zeitrassen“. Chronotopos und anthropologische Relativität in Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Pierre Kodjio Nenguié Alfred Döblins Relektüre imperialistischer Entdeckungsreisen in der Amazonas-Trilogie. Macht, Eroberung und Überlebensstrategien in (post-)kolonialen Begegnungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jörg Dünne Kannibalische Revisionen. Von den Kupferstichen Theodor de Brys zu Nelson Pereira dos Santos’ Film Como era gostoso o meu francês . . . . . . . . . . . . . 251 Sabine Wilke El Dorado oder der Raum zwischen Fakt und Fiktion als medialer Verhandlungsort von Umschreibungen des Archivs in Werner Herzogs Aguirre oder der Zorn Gottes (1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Schätze des Südens

Rupert Gaderer Nachfahren. August von Goethes Italienreise im Jahr 1830. . . . . . . . . . . . . . . 291 Yixu Lü Die Schule der Fremdenfeindlichkeit – erdichtete China-Reisen um 1900. . . . . . . 307

Inhaltsverzeichnis

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Ortrud Gutjahr „TAHITI  !“ – Wiederholte Entdeckungen. Narrative der Annäherung in Reiseberichten und im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sabine Zubarik Vom Verstecken und Wiederausgraben. Alex Capus/Robert Louis Stevenson . . . . . 349 Volker Mergenthaler Lesen im Schnee auf Zuurberg (Ransmayr) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Vorwort Die erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, denen Reisen ans Ende der Welt folgen müssen, sind vielleicht Rückstände halb vergessener magischer Rituale, und jede der Reisen stellt die Wiederholung und Variation früherer Reisen dar  ; das Wirkliche folgt nur (bis zur Ermüdung) durch die Geschichte hindurch diesen Gesetzen. Thomas Stangl  : Der einzige Ort

Ein Jahrhundert nachdem mit der ‚Eroberung‘ von Nord- und Südpol die Geschichte der klassischen Entdeckungsreisen einen Abschluss gefunden hat, ist diese Geschichte mit ihren mehr oder weniger bekannten Protagonisten zu einem der produktivsten Themen der Gegenwartsliteratur geworden. Gerade im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Texten die Geschichten der großen Expeditionen noch einmal erzählt und ihre Helden noch einmal auf den Weg geschickt, um die weißen Flecken von der Landkarte zu tilgen. Heroen der Entdeckungsgeschichte wie Richard Burton (Ilija Trojanow  : Der Weltensammler, 2006) oder Alexander von Humboldt (Daniel Kehlmann  : Die Vermessung der Welt, 2005) finden sich hier ebenso wie reisende Außenseiter, etwa die Timbuktu-‚Entdecker‘ Alexander Gordon Laing und René Caillié (Thomas Stangl  : Der einzige Ort, 2004) oder jene noch weniger bekannten Verbrecher und Versager, denen Felicitas Hoppe nachspürt (2004). Unter diese (mehr oder weniger) historischen Gestalten stehlen sich Reisende, deren Terrain immer schon das Feld der Literatur war, Figuren wie Wilhelm Raabes Leonhard Hagebucher (außer bei Hoppe auch in Christoph Hamanns Usambara, 2007) oder Autoren wie Robert Louis Stevenson (Alex Capus  : Reisen im Licht der Sterne, 2005). ‚Vorfahren‘ oder auch ‚Vorläufer‘ solcher ‚Nachfahrenschaft‘ finden sich etwa bei Christoph Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis)‚ 1984, Sten Nadolny (Die Entdeckung der Langsamkeit, 1983), Urs Widmer (Die Forschungsreise, 1974) oder, jenseits des deutschsprachigen Raums, in T.C. Boyle’s Water Music (1981, zu Mungo Park) und Per Olof Sundmans Expeditionen (1965, zu Henry Morton Stanley). Vielfältiger noch als die erzählten Reisen selbst sind die Verfahren, mit denen die gegenwärtigen Texte ihre Quellen neu, um- und weiterschreiben. Erzählt wird aus der Sicht der bekannten Entdeckergestalten, erfundener Nebenfiguren oder namenloser Informanten, auf der Basis freier Erfindung oder unter Einbeziehung ganzer Archive, in Einklang mit den sogenannten Fakten oder mit Hilfe ihrer gezielten Manipulation. Dabei muss sich die Literatur der Nachgeborenen nicht nur der Erkenntnis stellen, dass Entdeckungen im

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Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus immer auch Eroberungen waren, sondern auch der Frage, wie die ursprünglichen Berichte damit umgingen. So führt die literarische Spurensuche oft weniger in ferne Länder als in die europäische Vergangenheit und in die Ambivalenz jener Phantasien, die der imperialen Gewalt zugleich zu entkommen suchten und ihr den Weg ebneten. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer ‚Korrektur‘ kolonialer Vereinnahmungen des Reisens, des Abenteuers und der Fremde – und nach der Gefahr ihrer Wiederholung und Fortschreibung auf dem Papier. Ohne sich auf einen kolonialen Kontext zu beschränken und ohne allzu scharf zu unterscheiden, ob die thematisierten Reisen wirklich stattgefunden haben oder selbst schon Erfindungen sind, spürt der vorliegende Band solchen Literarisierungen nach.1 Sein G ­ ravitationszentrum bilden Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur  ; vergleichend und ergänzend werden aber auch ältere Texte, andere Literaturen und andere M ­ edien in den Blick genommen. Gefragt wird nach dem Verhältnis von Fakten, Dokumentation und Fiktion, der Rolle des Archivs und der medialen Dimension von ästhetischen Rezeptions-, Transformations- und Übersetzungsprozessen, nach der ­kolonialen Dimension der verhandelten Reisen, den Um-Schreibungen, Korrekturen und Wiederholungen ihrer Machtgesten und Aneignungsstrategien sowie den Möglichkeiten einer postkolonialen Ästhetik, aber auch nach dem Verhältnis von Reise- und Schreib­ bewegungen und der poetologischen und literaturtheoretischen Reflexion der jeweiligen Fort-Schreibungsverhältnisse. Konkretere Fragen ergeben sich auf unterschiedlichen Ebenen  : In den (erzählten) Reisen selbst zeigt sich in immer neuen Konstellationen und Konfigurationen das Verhältnis von Eroberungswille und Lust am Sich-Verlieren, von geographischer ‚Entdeckung‘ und kultureller Begegnung, von Rationalität und Ekstase, Pragmatik und Idiosynkrasie. Im Blick auf die Verschriftlichung und mediale Inszenierung stellt sich zunächst die Frage nach den Quellen, die in den aktuellen Texten neuund umgeschrieben werden und in denen sich bereits ein Modell der Entdeckungsreise und ein Genre des Expeditionsberichts formieren, dann aber vor allem nach den Verfahren der Reinszenierung, ihren intertextuellen und medialen Besonderheiten und den Strate­gien einer postkolonialen Revision. Zu bedenken sind schließlich die poetologischen und literaturtheoretischen Konsequenzen, die sich bei der Auseinandersetzung mit Entdeckungsreisen abzeichnen. Was hat der weiße Fleck auf der Landkarte mit dem ­leeren Blatt auf dem Schreibtisch zu tun  ? Was verbindet die Route einer Reise mit der Spur einer Schrift  ? Gibt es eine Beziehung zwischen dem Mythos der Grenzüber­ schreitung und Fragen der Aufzeichenbarkeit und ästhetischen Inszenierung  ?

1 Er schließt damit an Fragestellungen an, die in den letzten Jahren vor allem durch eine im Herbst 2007 von Christof Hamann und Alexander Honold in Basel organisierte Tagung in den Blick gerückt wurden. Vgl. dies. (Hg.)  : Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen 2009.

Vorwort

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Der Aufbau des Bandes orientiert sich an Korrelationen zwischen geographischen Räumen, Themenfeldern und Entstehungszeiten, die nicht nur in den hier diskutierten Texten und Filmen immer wieder zu beobachten sind. Die vier Teile führen von den Polarregionen und den ihnen korrespondierenden Figuren der Überschreitung über Afrika als den in der aktuellen Literatur bevorzugten Ort der Auseinandersetzung mit der kolonialen Dimension des ‚Entdeckens‘ in die Wälder der Tropen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert als epistemischer Raum einer Infragestellung der abendländischen Identität fungieren, sowie schließlich in jenen schwer lokalisierbaren Süden, der seit der klassisch-romantischen Epoche den privilegierten Schauplatz einer Aneignung des Fremden bildet. Über die letzte Grenze Der Prozess der theoretischen Neugierde speist sich, Hans Blumenberg zufolge, aus einer topographischen Figur  : der Überschreitung einer Grenze, wie sie paradigmatisch Odysseus in Dantes Inferno vollzieht, wenn er, das göttliche Nec plus ultra missachtend, über die Säulen des Herkules hinaus in die unendliche See segelt. Was bei Dante noch als curiositas verdammt und mit Höllenqualen geahndet wird, avanciert in den folgenden Jahrhunderten zur Wissensfigur der abendländischen Moderne schlechthin, die Grenzen nicht mehr als göttliche Ge- oder Verbote hinnimmt, sondern als Herausforderung annimmt. Damit wird die Entdeckungsreise zum Paradigma neuzeitlicher Erkenntnis. Spätestens um 1900 jedoch verliert dieses Paradigma an Überzeugungskraft. Nicht nur sind die ‚weißen Flecken‘, die es noch zu ‚entdecken‘ gibt, auf erschreckende Weise zusammengeschmolzen  ; es wird auch immer deutlicher, dass keiner von ihnen je wirklich ‚weiß‘ gewesen ist. Um übertreten zu werden, muss eine Grenze zunächst gezogen, das heißt beschrieben worden sein, und damit hat sie auch jenem Anderen, das sie ausgrenzt, nicht nur einen Ort, sondern auch eine Form gegeben – von jenen Projektionen, die sich auf der weißen Fläche überlagern, ganz zu schweigen. Literarisch tradierte Phantasmen und Mythen ebenso wie die Medien und Techniken der modernen Wissenschaft und nicht zuletzt ein imperiales Begehren produzieren und transportieren ein Wissen über die letzte Grenze, das deren Überschreitung immer schon zu einer Relektüre macht. Nach diesen mehr oder weniger mythischen Wissenskonfigurationen, die die letzten Entdecker in einen ebenso verzweifelten wie paradoxen Wettlauf um die allerletzten weißen Flecken auf der europäischen Weltkarte treiben, fragen Texte und Filme, die die Polarregionen und die höchsten Gebirge zum Schauplatz werden lassen. In ihrer Unberührtheit erscheinen diese Extremräume nicht nur als idealer Gegenstand reisender Inskription  ; sie bieten auch Raum für Phantasien des Verschollengehens und fungieren als Topos metatextueller Reflexion.

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Vor-Schriften, Nachfahren und Relektüren Sehen sich Reisende in den Polarregionen in erster Linie mit vorauseilenden Imaginationen, imaginären Vorläufern und, nicht zuletzt, ihrem eigenen Imaginären konfrontiert, so im bewohnbaren Teil der Welt mit jenen ‚Anderen‘, denen zu begegnen zur Erkenntnis führen müsste, sich keineswegs auf ‚jungfräulichem‘ Gebiet zu bewegen. Dass nicht wenige Reiseberichte diesen Eindruck dennoch erzeugen, ist der Ansatzpunkt von Relektüren, die mehr oder weniger ‚klassisch‘ gewordene Vorläufertexte aufnehmen, kritisch befragen und konterkarieren. Dabei sind sie einer Logik des europäischen Archivs auf der Spur, in der die Bewohner der ‚entdeckten‘ Länder ihren ‚Entdeckern‘ in eigentümlich reduzierter Form entgegentreten  : als ‚Naturvölker‘, als ‚Eingeborene‘, als ‚Subalterne‘. Wenn im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus politische, symbolische und imaginäre Eroberung(en) Hand in Hand gehen, so stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, aber auch den Grenzen einer postkolonialen Relektüre der Texte aus dieser keineswegs abgeschlossenen Epoche  : Wie hartnäckig sind Genrekonventionen, Stereotypen und Phantasien, woher beziehen sie ihr Wirkungspotential, (wie) können aktuelle Relektüren aus der ‚Totschlägerreihe‘ (Kafka) von Vor-Schriften und Nach-Fahr(t)en heraustreten und was können sie den tradierten Mustern entgegensetzen  ? Kann die europäische Überlieferung gegen den Strich gelesen werden oder gibt es alternative Archive, aus denen sich eine ‚Stimme der Anderen‘ generieren ließe, die die Geschichte der Entdeckungsreisen anders erzählen würde  ? Tropologien Reisen in die Tropen sind auf andere Weise als Polarreisen zugleich Bewegungen in einem epistemischen Raum. Bereits 1915 lässt Robert Müllers Roman Tropen die geographische und die rhetorische Bedeutung des Begriffs interferieren. Tropologien setzen der imaginierten weißen Fläche einen Dschungel wuchernder Schrift-Figuren entgegen, die sich allen Versuchen einer eindeutigen Festlegung entziehen. Im verschlungenen Parcours unheimlicher Wieder- oder Selbstbegegnungen wird die Reise durch die Welt der Tropen in der Moderne zum Testfall abendländischer und nicht zuletzt ästhetischer Souveränität, die nicht zufällig gerade dort problematisch wird, wo im frühen 20. Jahrhundert die Expansionsbewegungen der europäischen Reisenden an eine Grenze stoßen und das Modell der Entdeckungsreise implodiert. Das setzt auch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts neue Perspektiven frei auf die Frühgeschichte der Eroberung der Welt, die Conquista Südamerikas, und auf die zentrale Kulturtechnik dieser Eroberung, die Schrift. Neben Relektüren treten Revisionen, Filme, die in den Landschaften der Neuen wie in den Bildarchiven der Alten Welt nach den Spuren eines Anderen suchen, das nicht bruchlos im Wissensraum des Abendlandes aufgegangen ist.

Vorwort

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Schätze des Südens Eine der wirkungsmächtigsten Formen des ‚geleiteten‘ Reisens ist die Bildungsreise, die nicht erst seit dem 18. Jahrhundert in einer eigentümlichen Verschränkung die pädagogische Provinz und das Land der Sehnsucht aufeinander abbildet. Für Mitteleuropäer ist es traditionell ‚der Süden‘, auf den sich ein nicht zuletzt erotisches Begehren richtet, das zugleich in Schach gehalten wird durch ein in den niedergeschriebenen Erfahrungen von Generationen reisender Vorfahren verfestigtes Protokoll. Wer unter südlichem Himmel reist, darf sich verlieren, aber nur, um sich – in der Rückversicherung bei den Vorvätern – wahrhaft zu finden und bereichert nach Hause zurückzukehren. Blieb dieses koloniale Moment im klassisch-romantischen Bildungsroman noch in der metaphorisch zu lesenden Bereicherung des Individuums verborgen, so nehmen die Schätze des Südens im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus handfestere Gestalt an  : Hier geht es um den ökonomischen Profit eines kolonialen Imperiums, aber mindestens ebenso sehr um die Mobilmachung eines völkischen Kollektivs, das sich in der militärischen wie imaginären Eroberung eines nun an ferneren Meeren gelegenen Südens selbst erfindet. Im Schatten solcher Eroberungszüge bietet jene Exterritorialität, die schon die frühen Bildungsreisenden im Süden gesucht hatten, dennoch die Chance, das Eigene anders zu entwerfen und die Möglichkeiten einer Dekolonialisierung des Reisens und der Reiseliteratur zu reflektieren. Zum Auftakt des Bandes lassen wir mit Magnus Mills’ Explorers of the new century und Urs Widmers Die Forschungsreise zwei Romane zu Wort kommen, die man lediglich zu zitieren braucht, um jene Topoi der Entdeckungsreise vor Augen zu stellen, an denen sich auch die anderen hier verhandelten Relektüren und Revisionen abarbeiten, die aber auch einen Bogen schlagen zwischen den beiden großen Herausforderungen in der Geschichte dieser Reisen und ihrer Aufzeichnung  : den menschenfeindlichen Polarregionen als den letzten weißen Flecken auf der Landkarte und den Bewohnern jener anderen Gebiete, die niemals wirklich weiße Flecken waren. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um hinter Mills Explorers und Widmers Forschungsreisendem Vorbilder, Vorfahren zu entdecken, denen sie zitierend, überbietend, parodierend folgen. Beide Texte bereisen mit ihren Protagonisten noch einmal die Orte und Stellen, die längst zu loci communes, zu Allgemeinplätzen einer Poetik des Reisens und ‚Entdeckens‘ geworden sind. Als Relektüren klassischer Ent­deckungsreisen wiederholen sie die Muster, in denen sich räumliche in poetische Bewegungen, Topographie in Topik übersetzen – und umgekehrt. Denn nicht nur hat die Erzählung der Reisen ihre eigenen Topoi hervorgebracht  ; die literarischen Topoi haben auch die Reisen geprägt und Spuren in der topographischen Beschreibung der Welt hinter­ lassen, haben Landschaften der Sehnsucht und der Gefahr, der Bewährung und des Scheiterns modelliert und diesen Landschaften Konfigurationen eingeschrieben  : ‚Entdecker‘ und ‚Entdeckte‘, ‚Zivilisierte‘ und ‚Naturvölker‘, ‚Forscher‘ und ‚Eingeborene‘. All dies formiert den Mythos der Entdeckungsreise, mit dem sich Widmer satirisch auseinandersetzt,

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wenn er seinen mit Zitaten bepackten Protagonisten auf eine Reise schickt, deren absurde und wahnhafte Züge offen zutage liegen, und den Mills nicht minder bissig kommentiert, indem er das Projekt der Entdeckungsreise in seine dunkelsten Konsequenzen treibt. Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die vom 29. 10.–1. 11. 2009 an der Universität Erfurt und der Forschungsbibliothek Gotha stattgefunden hat. Für die großzügige Finanzierung sowohl dieser Tagung als auch des Bandes selbst danken wir der Fritz Thyssen-Stiftung. Für die sorgfältige Einrichtung des Manuskripts gilt unser Dank Susanne Zielinski.

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Forschungsreise – Exploration of a Genre

1. Erster sein / Spuren “HE’S A THOROUGLY DECENT man,” said Johns. “His reputation for fair play is second to none. Clearly he had good reason for his early departure and, therefore, we must allow him the benefit of the doubt. It goes without saying that this development will have no bearing on our own arrangements. We’ll continue with our preparations and proceed as per schedule.” “But he’s stolen a march on us  !” protested Summerfield. “That doesn’t matter,” replied Johns. “We’re not in a competition to see who gets there first, and I don’t want anyone thinking in those terms. What concerns us now is the immediate job in hand.” (1)

Die Geschichte der Explorers of the new century, die Magnus Mills in seinem 2005 erschienenen Roman1 erzählt, beginnt mit einem Schock  : Sie sind nicht die ersten, die an der unwirtlichen Küste eines fernen, noch unerforschten Kontinents gelandet sind. Eine zweite Gruppe hat ihr Schiff, einen umgewandelten Dampf-Schlepper, bereits wintersicher am Landungspunkt hinterlassen und ist unter ihrem Anführer Tostig in das Innere aufge­ brochen – nicht ohne eine Markierung zu hinterlassen, die ihren Weg anzeigt. “So you know the route he’s taken  ?” “Well, we’re fairly certain”, replied Johns. “As far as we can tell, he’s gone by way of that dry river bed we could see as we sailed in yesterday.” “But wasn’t that your preferred direction, sir  ?” Johns smiled. “Initially, yes, Scagg. However, it seems to me that there’s little to be gained from two parties treading the same ground. Indeed, it may prove favourable to establish a secondary, alternative route. With this in mind, I’ve decided we’ll take a more westerly path than that chosen by Tostig.” (8)

Dass der Pfad schon begangen, das Ziel schon erreicht sein könnte, ist eine Angst, die alle Entdeckungsreisenden begleitet, vom Aufbruch, ja von den ersten Reiseplänen an. Doch die Angst ist nicht der einzige Begleiter. Es gehört zu den Paradoxien der Entdeckungsreise, dass sich ihre Protagonisten, die doch um alles in der Welt die ersten sein wollen 1 Magnus Mills  : Explorers of the new century, London 2005. Seitenangaben zu diesem Text jeweils unmittelbar im Anschluss an das Zitat.

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an einem Ort, den nie jemand anderes betreten hat, in ihrem ganzen Unternehmen an Vorbildern orientieren und sich über weite Strecken auf den Spuren von Vorfahren und Vorfahrern bewegen. Ihnen nachzueifern, ist auch eines der Motive jener ganz anders gearteten Forschungsreise, von der Urs Widmers gleichnamiger, bereits 1974 erschienener Roman erzählt.2 Hier macht sich der Protagonist und Ich-Erzähler allein auf den Weg, um einen eher bescheidenen Gipfel im Engadin zu besteigen. Seine Inspiration freilich bezieht er aus der Geschichte der großen Entdeckungsreisen  : „Der Pol, die Quellen des Nils, die höchsten Berge dieser Erde, der Mond, das sind schon Ziele, für die es sich lohnt, ein Paar Bergstiefel zu kaufen“ […]. (7f.)

Dass er zu einem Zeitpunkt reist, zu dem auch diese letzten weißen Flecken längst von der Landkarte verschwunden sind, hindert ihn nicht daran, sich in eine Tradition der heroischen Entdeckungsreise zu stellen  : „‚Andere haben es auch geschafft, so viel ich weiß‘ […]. ‚Scott und Livingstone und Parry und Hillary sind auch eines Tages losgegangen […].‘“ (7) Die Bezugnahme auf angebliche Praktiken und Erlebnisse berühmter Forschungs­ reisender begleitet als eine Art Kommentar zu seiner eigenen Unternehmung den Weg des monologisierenden Protagonisten – und macht seine aberwitzige Tour dadurch umgekehrt zu einem Kommentar zur Geschichte der Entdeckungsreisen. Vergeblich protestiert Livingstone in einer der zahlreichen Fußnoten, deren skurrile Geschichten die lineare Erzählung der Reise zugleich unterwandern und überwuchern, gegen den unberufenen Eindringling in eine heroische Tradition  : Dass es für ihn nichts mehr zu entdecken gibt, hindert Widmers kauzigen Einzelgänger ebenso wenig daran, sich auf diese Tradition zu berufen, wie der Umstand, dass er sich die Herausforderungen und Gefahren seiner Reise selbst schaffen muss, indem er von seiner Frankfurter Wohnung bis zu dem Gipfel im Engadin eine schnurgerade Route wählt. Auch Mills’ Explorers of the new century sind weniger originell als sie selbst sich vorkommen mögen. Der Wettlauf, der hier seinen Ausgang nimmt, weist unübersehbare Parallelen auf zu jenem race to the pole, das sich Amundsen und Scott geliefert haben. Weitere Reisen spielen herein, Mills lässt sie einander überlagern. Der Weg seiner Helden führt nicht nach Süden, sondern nach Norden, und er führt nicht durch eine Eis-, sondern durch eine Steinwüste, ins “back of beyond” (S. 146), das einen anderen Extremraum der Entdeckungsgeschichte anklingen lässt  : das outback Australiens. Die Doppelung der Expeditionen wiederholt und vervielfältigt sich in dieser Geschichte  : Cook vs. Peary auf dem Weg zum Nordpol, Burke und Wills vs. Stuart bei der Durchquerung Australiens, Burton und Speke und dann Burton vs. Speke auf der Suche nach den Quellen des Nil, Laing vs. 2 Urs Widmer  : Die Forschungsreise. Ein Abenteuerroman, Zürich 1974. Seitenangaben zu diesem Text jeweils unmittelbar im Anschluss an das Zitat.

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Clapperton (oder Caillié) auf dem Weg nach Timbuktu, Kosmonauten und Astronauten auf dem Weg zum Mond… In unterschiedlichen Besetzungen werden dabei vergleichbare Szenarien durchgespielt  : Wissenschaftler gegen Eroberer, Idealisten gegen Pragmatiker, kauzige Individualisten gegen Abgesandte ihrer Regierung, improvisierte Einzelaktionen gegen perfekt ausgerüstete Großexpeditionen, Narren gegen Helden. 2. Aufbrechen / Grenzen Then, when everyone came outside again, Johns asked them to gather round him. “So we have,” he said reading from a list, “Blanchfower, Chase, Cook, Firth, Medleycott, Plover, Sargent, Seddon and Summerfield. All present, Scagg  ?” “All present, Mr Johns.” “[…]. Now, Scagg, the blockhouse has been left in a fit state, I presume  ?” “Yes, Mr Johns. Everything is in order.” “All right then. Lock the door, will you, and we’ll go.” During the past few days Johns had taken to wearing his woolly helmet, a practice swiftly adopted by the majority of the party. Plover, alone, persisted in sporting a high-peaked cap. The rest of the men, their faces hidden, could easily be distinguished from one another by their various gaits as they began their long march. The twenty-three mules, now fully laden, were led in train by Blanchflower and Firth, with the remainder of the group following in the rear. Johns was ‘last man’. He paused for a moment to gaze out to sea, and then, after a final glance at his ship, he set off in pursuit. (15f.)

Bei jeder Reise, die eine Expedition sein soll, wird eine Grenze überschritten, ab der zu erzählen sich lohnt. Allerdings muss das nicht immer eine ferne Küste sein  : Ich zerre den Rucksack durch die Terrassentür. […] Ich präge mir die Silhouette des höchsten Bergs des Gebirgs am fernen Horizont ein. Mein Herz schlägt. […] Ich schlüpfe in die Rucksackriemen und stemme den Rucksack hoch. Ich pendle das Gewicht mit breitgestellten Beinen aus. „Der Rucksack sitzt natürlich wie angegossen“, sage ich, „das ist wichtig, im Dschungel, im Eis.“ Ich lausche mit klopfendem Herzen, ob einer der Passanten unten auf der Straße auf das Klirren des Eßbestecks in der Gamelle aufmerksam geworden ist. Dann knote ich blitzschnell das Seil an der Brüstung fest, mit dem hundertmal geübten Griff hänge ich den Mehrzweck­ spaten an den Gürtel. Ich habe mir das so oft vorgestellt  ! Ich weiß genau, was ich tue  ! Nachdem ich heftig am Seil geruckt habe, schwinge ich mich über das Geländer. (12ff.)

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3. Unterwegssein / Wege Vorbereitet sein

“[…] proceed as per schedule” hatte der Anführer der Explorers of the new century dekretiert, als er auf die Spuren seines Vorgängers gestoßen war. Gerade in Extremsituationen dulden Plan und “schedule” keine Abweichung. Auch Widmers Forschungsreisender, der „keinen Fingerbreit vom geraden Weg abweichen‘“ (21) will, verfügt über einen „Marschplan, der jeden Meter genau beschreibt“ (36), eine „Marschtabelle“ (36) sowie eine „Detailskizze für den Schlußanstieg“ (129). Gegen die Unwägbarkeiten der Fremde helfen nur genaueste Planung, eiserne Disziplin und eine gute Ausrüstung. Zumindest letztere lässt bei Widmers Protagonisten nichts zu wünschen übrig. Schon seine Materialliste enthält den Jägerhut aus grünem Filz, den Tropenhelm für die Wüstenhitze, den Sextanten, die Wasserflasche, die staubdichte Uhr, die Paßfotos, auf denen beide Ohren sichtbar sind, die Taschenapotheke, den Windmesser, der bis Stärke 12 ablesbar ist, das Kartographiermaterial, den Kompaß mit dem rotbemalten, nach Süden weisenden stumpfen Ende der Nadel, den Eispickel, das Gletscherseil, die Machete, den Walkie Talkie für die Notrufe, die Leichtgasflasche und die Ballone für die dringenden Nachrichten, die Pelzschuhe, den Metakocher, das Fotoalbum mit den Erinnerungen, den Traubenzucker, das Serum gegen Vipernbisse, den Sonnenschirm, die getrockneten Pflaumen gegen das Verdursten, die Kurzskis, die Brille mit den gefärbten Gläsern, das Taschenmikroskop, die Asbesthandschuhe, die Glasperlen für allfällige Eingeborene, den Plan, das Wörterbuch, die Masken und die Schminke, die kurzen Hosen, die heizbaren Wollsocken mit den Batterien, die doppelläufige Flinte und die Patronen, das Bonzo Felix für Schlittenhunde, die rotweißkarierte Ärmelschürze, den Gesichtsknet und das Einmannzelt aus Fallschirmseide. (8f.)

Darüber hinaus kommen im Verlauf der Reise unter anderem ein Theodolit (136), Schwimmflossen und Schnorchel (54), eine Polaroidkamera mit Teleobjektiv und Stativ (56), eine „kleine Wünschelrute aus Aluminiumdraht“ (66) und „synthetische[ ] Eiswürfel“ zum Vorschein, die „im Tiefkühlfach in einer Rucksackaußentasche“ (72) aufbewahrt werden. Kein Wunder, dass Widmers Forschungsreisender „schnaufe[n]“ muss, als er den gepackten Rucksack auf seine alte Kofferwaage hievt  : „‚Es wird schon gehen‘“, sagt er dann, „‚ich bin ja kräftig, Gott sei Dank.‘“ (9) Messen und Aufzeichnen

Und tatsächlich  : Es geht. Oder besser  : Er geht.

Forschungsreise – Exploration of a Genre

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Ich gehe mit gleichmäßigen, festen Schritten. Meine Fußsohlen brennen. Ich lasse den Wasserstandsmesser an meiner Feldflasche nicht aus den Augen. Mit meinem klimasicheren Kugelschreiber notiere ich mir die Temperaturen, die ich vom kleinen Badethermometer an meiner Achselpatte ablese, auf die gestärkten Manschetten. (67f.) Mit einem gewaltigen Satz springe ich über ein Loch zwischen zwei Felsen. Ich halte, während des Sprungs, mein Windrad in die Höhe, das mit dem Geschwindigkeitsmesser an meinem Gürtel verbunden ist. Das Rad schwirrt. Ich trage die Geschwindigkeit ins Rekordbuch ein. (112)

Da es auf Forschungsreisen nicht nur ums Überleben geht, sondern auch um den wissenschaftlichen Erfolg, gehört strenge Disziplin in den Routinen des Messens, Sammelns, Aufzeichnens und Berichtens zum Reisealltag  : When they reached camp they came across Thorsson, hard at work updating the rudimentary map. A large sheet of paper had been unfolded and spread out on the ground, with a lamp close by, and Thorsson was kneeling over it. In a case beside him lay a number of pens, each of a different ink, which he was using to add more detail, shading in the latest section of the gorge and writing its estimated dimensions. Also shown were the lower reaches of the dry river bed, the coastal area around the blockhouse, and the region of scree to their west. The greater part of the map was blank, except for a point in the far corner where a bold X had been marked, along with the letters AFP. (43f.) Entbehrungen, Strapazen, Opfer

Der AFP, der Agreed Furthest Point from Civilisation, ist das Ziel, das die beiden konkurrierenden Gruppen der Explorers of the new century vereint, die auf getrennten Wegen durch die einsamste Landschaft der Erde ziehen, Johns mit seinen 10 Begleitern und 23 mules auf der westlichen Route, auf der östlichen Tostig mit 4 Begleitern und 10 mules. Wochenlang kämpfen sie sich durch weglose Geröllfelder, ohne Pflanzen, ohne Tiere, ohne Spuren menschlichen Lebens, geplagt von Wassermangel, eisigem Wind und der anhaltenden Dunkelheit eines polaren Winters. Here we are in the midst of a stark and unforgiving land, deprived of light and existing on the most basic necessities. Daily we stumble over shale and flint, toiling onwards in the vague belief that at some distant time and place we’ll see the sun rise again  ; and that spreading before us will be vast, hospitable ranges where the mules may finally be turned loose. Not until then will this struggle be done with. Odd to think, is it not, that success will only be confirmed when we can at last apply green ink to our map  ? (89)

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Die grüne Tinte bleibt jedoch im Faß  ; die Namen, die die ‚Entdecker‘ auf der selbstgezeichneten Karte hinterlassen, zeugen von der Mühsal und Monotonie ihrer Reise  : “Summerfield’s Depression”, “Cook’s Folly” (69), “Modesty Bluff ” (132). Entbehrungen und Strapazen, Hunger, Krankheiten und Verletzungen gehören auch für Widmers Forschungsreisenden und die lange Kette seiner Vorfahren zu den selbstverständlichen Gegebenheiten einer Expedition  : „Kolumbus überquerte den ganzen Atlantik im Mastkorb hockend“, sage ich, „er hatte nur sein Ei als Proviant, aber er sah als erster den neuen Kontinent.“ (30)

Nicht jeder freilich ist so genügsam  : „Scott aß, als er Hunger bekam, erst seine Cornedbeefs, dann seine Schlittenhunde, dann seine Eskimos.“ (111)

Und mit dem Hunger allein ist es nicht getan  : „Fast allen Himalayaforschern hat man fast alle Zehen amputiert“, sage ich, während ich den Schuhriemen des rechten Schuhs fester knüpfe, „Scott hatte, als er tot auf seinem Tagebuch aufgefunden wurde, unförmige Klumpen in den Schuhen, wie blutiges, verkohltes Fleisch.“ (87)

Trotz „Nährlösung“ (60) und um den Hals gehängtem Weinfässchen, trotz Tabletten und Spritzen aller Art, beträchtlicher Vorräte an Kirschwasser und „Spezialcreme“ (62) geht es dem alleinreisenden Engadinforscher, der sich in diese Traditionslinie stellt, kaum besser  : „Also das kann ich eigentlich auch nicht mehr sagen“, brumme ich vor mich hin, während ich mit zerschundenen Knien, zerfetzten Armen, blutigen Händen über die verschneiten Fels­brocken klettere, „wie ich den Abstieg bis hierher geschafft habe. […] Ich bin über die überhängende Gipfelwächte gerannt“, schreie ich, „den schrecklichen Grat entlang, die eisglatte Felsplatte ­hinunter, ich bin durch die Schneebrücke gebrochen und in der Eisspalte aufgeschlagen, ich habe blitzschnell meine schmerzenden Beine quergestellt, ich habe den drohenden Todessturz im letzten Augenblick abgefangen, ich habe mich hochgearbeitet, brüllend vor Schmerz habe ich mich unter den Eisklötzen hervorgewuchtet, ich bin gestürzt, ich habe mich aufgerappelt, ich habe auf die Zähne gebissen und des verstauchten Knöchels nicht geachtet, ich bin gestolpert und gesprungen […], ich bin auf dem Moränenfeld aufgeprallt und wie tot liegengeblieben, wie durch ein Wunder bin ich aufgewacht, bevor mich der Schneesturm ganz zugeweht hat.“ (139f.)

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“Hardship means nothing to them” (29) heißt es über die Explorers of the new century. Und der Entdeckungsreisende weiß, dass auch von anderen Opfer verlangen darf, wer hart zu sich selbst ist  : „Stanley“, murmle ich, „sah plötzlich, wie der vor ihm gehende Träger klein und kleiner wurde. Nur noch der Rumpf, der Kopf mit dem aufgerissenen stummen Maul, die hochgereckten Hände mit dem Überseekoffer ragten aus dem Sumpf. Mit einem heftigen Sprung rückwärts rettete sich Stanley und mußte zusehen, wie der Koffer mit den wertvollen Gesteinsproben im Schlamm versank, unwiederbringlich.“ (50f.) Hindernisse “THEGN, I’M LOOKING FOR a volunteer,” said Tostig. “I need someone to take a line and try and find a way across this maelstrom. It won’t be easy  ; the task requires both daring and judgment  ; one slip could mean certain death. I thought I’d give you first refusal.” […] They were standing at the edge of a deep chasm. Below them poured the huge volume of water they had heard as they approached. Strewn with immense boulders, it seethed and roared before tumbling over precipitous falls into a vast unseen cauldron. […] “To put it bluntly, Thegn, this could spell disaster for us. It has actually placed us in a worse boat than Johns. Oh, I know it must be hard-going on that scree, but at least he has an open road ahead of him. Our path, by contrast, is beset with pitfalls of every kind. If we can’t find a way forward we’ll be beaten, and our mission will fail. I presume you wouldn’t want that to happen  ?” (75)

Was des einen Leid, ist des andern Freud  : Die Hindernisse, die sich dem Vorankommen der Reisenden in den Weg stellen, die unvorhergesehenen Ereignisse, die ihre Routinen des Sammelns, Messens und Aufzeichnens unterbrechen, sind als Salz in der Suppe ihrer alltäglichen Leiden das, was ihre Geschichte erzählenswert macht. Während das ungestörte Fortschreiten der Protagonisten schnell berichtet ist und die Schilderung der alltäglichen Routinen die Erzählung ihrer Geschichte stocken lässt, lebt diese von den Zwischenfällen, die als Ereignisse die Narration vorantreiben und als Abenteuer für den Unterhaltungswert sorgen. Die unerfreulichen Unterbrechungen der Reiseroutine gehören daher zu den routiniert dargebotenen Standardszenarien jedes Expeditionsberichts  : Mit der linken Hand klammere ich mich an die Dachrinne. Sie knirscht, als ich mich an ihr herunterlasse und mit den Füßen die Haltbarkeit des Kabels prüfe, das über die Straße gespannt ist. „Dieser Übergang ist den wenigsten bekannt“, murmle ich. Ich wippe auf und ab. Die Scheinwerfer der Straßenbeleuchtung schwanken. Ich schaue hinunter, schnell lege ich die Hand vor die Augen. Ich stöhne auf. „Es gibt kein Zurück mehr“, rufe ich. Ich packe, mit blin-

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den schwarzen Augen, das Seil. Meine Beine hängen im Leeren. Mit weiten Schwüngen hangle ich mich vorwärts. Ich höre, wie die Leuchtraketen, deren Sicherungsband gerissen ist, gegen den Walkie Talkie schlagen. Der Wind fährt in meine Kapuze und bläht sie wie ein Segel. „Ich muß meine Handgriffe wie eine Maschine machen“, keuche ich. […] Mit den letzten Kräften greife ich nach der Dachrinne. (36f.)

4. Ankommen / Ziele As the morning advanced, however, the gale occasionally subsided, allowing the dust to disperse and offering the travellers a brief glimpse of what lay ahead. It was always the same  : a vast, desolate wilderness stretching away towards the horizon. With evident weariness, they covered yet another mile. (137)

Diese unspektakuläre Meile ist, wie eine zufällige Messung ergibt, die letzte gewesen  : das Ziel ist erreicht, aber selbst für die Sieger im Wettlauf ist das kein Triumph. Keine der Hoffnungen hat sich erfüllt, der AFP ist ein unbedeutender Punkt mitten im Nichts  : “back of beyond”. Tostig spent two days at the Agreed Furthest Point from Civilisation. During this time he and his men conducted a series of tests, in order to confirm his doubts about the possibility of settlement. They examined the soil to see if it would support basic cultivation (it would not) and they dug a well in the hope of finding water (there was none). They also carried out a brief meteorological study, whose results suggested a severe lack of rainfall in the region. Meanwhile, Thorsson put the finishing touches to his map, on which the area around the AFP was shown in a dull shade of grey. When it was ready he handed it to Tostig. “Whith my compliments”‚ he said. “A depiction of nothingness, complete in every detail.” Tostig studied the map for some minutes before returning it to Thorsson as a keepsake. It was an accomplished piece of work, he explained, but there was no practical use for it. On the second day, Snaebjorn made an appraisal of the mules’ health and general condition. Afterwards, the five strongest were taken to one side. The remaining five had their bell collars removed  ; then Tostig produced a revolver from his pocket and shot them dead. (177)

Auch für Widmers Forschungsreisenden liegen bei der Ankunft am Gipfel Triumph und Enttäuschung nah beieinander  : Plötzlich stößt meine Hand gegen etwas Hartes, Großes, Festes. „Das Steinmännchen“ stammle ich, „natürlich  !“ […] Ich starre in die Dunkelheit. Auf den Knien rutsche ich auf dem Gipfel herum, ich rudere mit den Armen. […] Ich spüre das erstarrte Tuch der Gipfelfahne, den Fahnenmast, das Holzkreuz darunter, die Blechdosen, die überall herumliegen. Vor meinen Augen

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flackern Blitze. Ich schlage meine Fäuste gegen meine Stirn. Ich heule auf, mit einem Biß beiße ich mir einen Fingernagel ab. (136)

„‚Möglicherweise ist das doch keine Erstbesteigung gewesen  !‘“ (146), muss sich der Gipfel­stürmer beim Abstieg eingestehen. Und doch  : „,Was für ein Abenteuer  !‘“ (183) „,Jahrelang habe ich davon geträumt‘, singe ich, ‚wie ich die Treppen werde hochsteigen, in meinen neuen Kleidern, mit meinem braungebrannten Gesicht.‘“ (192) Für Widmers Protagonist ist die Forschungsreise damit zu Ende. Die „Haut wie Elfenbein“, die „Lippen wie Blut“, die „Haare wie Ebenholz“ (193) legt er sich wohlig aufseufzend in die Badewanne, während die letzte Fußnote von Schneewittchen träumt, die es sich hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen gut gehen lässt, während der verbitterte Jäger Brieftauben züchtet und Heißluftballons konstruiert, um ihr Liebesbriefe zu schicken. Zum kompletten Desaster wird die Reise für die Gruppe der Explorers um Johns. Sie finden sich nicht nur am ödesten Punkt der Erde, sehen sich nicht nur um den zweifelhaften Triumph betrogen, als erste dort zu sein, sie haben auch bereits einen Mann verloren sowie praktisch ihre ganze Ausrüstung und alle mules bis auf eines. Es musste, in einer bizarren Umkehrung des Verhältnisses zwischen men und mules, die letzten Meilen in einer improvisierten, aus den verbliebenen Materialien gezimmerten Sänfte getragen werden. 5. Weiter gehen / Stimmen Trinkend sehen wir zu den Gletschern hoch. Es dämmert. Dort oben, am Fuß der Eiszungen, wohnt eine Art Bergindianer. Es sind die Bergbauern von früher. Mit ihren gegerbten Gesichtern stehen sie auf den Felsvorsprüngen und sehen starr und schweigend auf die Straße unten im Tal hinab. Sie zucken mit keiner Wimper beim Anblick der Autos aus Holland und aus Deutschland, nur manchmal, in der Nacht, erlegen sie eins und schleppen die Beute in ihre Höhlen zu den Gletschern hinauf. Sie gehen auf den Wegen, die nur sie kennen. Sie verständigen sich, von Bergkamm zu Bergkamm, mit einem langatmigen, eintönigen Singen, manchmal hören wir sie, wenn wir abends, wenn die Sonne untergeht, ganz aufmerksam nach oben horchen. Es sind Laute, die Tränen in uns auslösen. (49, Anm. 5)

„[A]llfällige Eingeborene“ passen zwar nicht unbedingt in die Landschaft des Engadin, sind aber im Genre des Expeditionsberichts so allgegenwärtig, dass Widmers Protagonist vorsichtshalber ein paar „Glasperlen“ (9) mitgenommen hat. Tatsächlich weiß er Erstaunliches zu berichten von den Gepflogenheiten der Einheimischen, die bei Vollmond „‚Messerkämpfe [machen] wegen dem Gemeindeholz‘“ (168), hier und da „eine Touristin fangen“ und sich, „von Bergkamm zu Bergkamm, mit seltsamen, klagenden Lauten“ (150) verständigen. Durch ein unbewohntes Land reisend, kennen Mills’ Explorers solche Befremdlichkeiten nicht. Oder doch  ?

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“Did you hear  ?”, said Tostig. “In the dead of night did you hear a kind of wailing  ? […] Guthrum, have you ever known the mules to sing  ?” “Never.” “Well, I have. It was years and years ago, in that bygone age when they were regarded as a quaint minority, and when we scarcely took any notice of them. Occasionally, and for no clear reason, we would hear odd snatches of song coming from their dwellings, sung in a sombrous tone that bore no resemblance to anything else we’d heard. As I say, I was only a child at the time, but I recall their songs possessed the same mournful quality as that wailing we heard in the night […].” “How extraordinary,” said Guthrum. “Eventually, of course, all such behaviour was quelled, and I haven’t heard those voices since […].” (129)

Jetzt aber, im einsamsten Land der Erde, kehren die Stimmen zurück, und nicht nur als singende  : “‘Come on then,’ said the mule. ‘Catch me if you can.’” (114) Der, an den diese Aufforderung ergeht, ist weniger überrascht als empört. Vergeblich droht er dem mule, einem offenbar nicht unattraktiven “female” – eben jenem, das schließlich von den Männern in einer Sänfte zum AFP getragen werden wird – mit einer ernsthaften Prügelstrafe, sollte es – oder sie – es wagen, weiterzusprechen  : “I don’t think so,” answered the mule. “You wouldn’t lay a finger on me. You’re far too civilised for that.” (114)

Spielende, singende und schließlich sprechende mules sind eine Provokation  : zum einen für die Leserinnen und Leser von Mills Roman, die sich durch ihre Genreerfahrungen haben verleiten lassen, in den mules Maulesel, Lasttiere also, zu sehen, nun aber schrittweise andere Wortbedeutungen wie ‚Bastard‘ oder ‚Dickschädel‘ in Betracht ziehen müssen. Zum anderen für die Protagonisten des Romans, deren Suche einem Ort fern ihrer Zivilisation gilt, an dem man mules von Menschen absondern kann. “The process of civilisation” (106) nämlich, so will es die eigentümliche Theory of Transportation eines Professor Childish, den die Explorers als ihren Vordenker verehren, wird erst abgeschlossen sein, wenn die Menschheit, die bereits Hunger, Krankheiten und Krieg überwunden hat, die mules für immer aus ihrer Gesellschaft verbannt, wenn sie eine klare Grenze gegenüber den Anderen, Unzivilisierten und Unzivilisierbaren gezogen haben wird. Summerfield bowed his head. “I’m sorry, Mr Johns, and I hope you can forgive me. […] It’s just that over the last few days I’ve come to see qualities in the mules I thought only we possessed  : humor, companionship and so forth  ; and it’s made me realise they’re hardly different from ourselves.”

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“Nevertheless, in the final analysis they are different,” said Johns. “It’s a scientific fact  : their minds operate differently to ours  ; therefore, they behave differently. That’s why we classify them as mules  ; and that’s why they’re being sent away. […] I really must insist you put an end to this fraternising at once. Apart from it being most unseemly, I fear you may be creating difficulties for all of us in terms of both discipline and control.” (151)

“In terms of both discipline and control” (151) geht von den anderen eine Gefahr für die Expedition aus. Disziplinierung, Abgrenzung und Kontrolle bestimmen nicht nur das Verhältnis von mules und men  ; discipline, order und authority sind auch die Begriffe, die die sozialen Prozesse innerhalb der Reisegruppe selbst prägen. Immer wieder sehen sich die Männer auf ihre Konflikte zurückgeworfen, auf ihre kleinlichen Eifersüchtelein und gegenseitigen Aversionen, ihren ständigen Kampf in und mit der Hierarchie. Davon handelt Mills Reisebericht, auch und gerade in der Wendung, die aus den mules Menschen werden lässt. Denn die Menschen (die nicht mules sein wollen) müssen für sich, unter und in sich immer aufs Neue eben jene Grenzen aufrichten, die schon ihr Verhältnis zur Natur bestimmen und das durchreiste Land zum bloßen Hindernis werden lassen – während die mules sich noch in der unwirtlichsten aller Gegenden an deren blauen Kieseln erfreuen. Johns, der leader, spricht das aus  : Let me assure you that I bear the mules no personal ill-will whatsoever. I would be the first to declare that most of them are honest and harmless creatures. They have no very deep dye of turpitude. Instead, their inherent weakness lies in all that they lack  : the ability to make rational judgments  ; the concept of propriety  ; the power of self-discipline. They lose their heads far too easily  : the incident at the river was a perfect demonstration of that. Furthermore, they do nothing profitable  ; they are strangers to industry  ; they don’t invent things  ; they don’t plough the waters of the deep  ; they don’t extract minerals, construct bridges or dig tunnels. Neither do they have any understanding of science. As for art, well, yes, I admit they are capable of some wonderful creations in paint and clay  ; they possess a marvellous sense of colour  ; yet they only do this as a sort of pastime, never in a formal, studied way. Then, of course, they have fanciful beliefs and superstitions, most of which defy all reason. […] Simply put, the mules are completely immune to the forces of civilisation  ; therefore, we have decided that the only answer is to allow them to develop separately in their own corner of the world  ; to build shelters and eke out some kind of pastoral existence. (118)

In einer merkwürdigen Umkehrung, die doch in der Logik der Entdeckungsreisen liegt, soll der letzte weiße Fleck auf der Landkarte jene Anderen, ‚Wilden‘ aufnehmen, die dem Projekt der Zivilisation unzugänglich sind. Als sich der AFP dafür als ungeeignet erweist, zögert Tostig, der konsequenteste Vertreter von leadership, authority und self-discipline, keinen Augenblick, einen Revolver aus der Tasche zu ziehen und die nicht mehr benötigten mules zu erschießen. Wie wenig allerdings mit dieser zivilisatorischen Geste am Agreed for-

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thest Point from Civilisation gewonnen ist, zeigt sich, als er bei der Rückkehr an die Küste einen abtrünnigen Vertreter von Johns’ Expedition in Gesellschaft von vier mules antrifft  : Cook appeared in the hatchway. He was clearly drunk, and had a half-empty spirits bottle in his hand. His demeanour was startling. His hair had grown long and was tied in a topknot. His beard was divided into a fork. He was naked apart from a loincloth, and his entire body was covered in blue decorations. Behind him were four women, similarly adorned, and also naked. For several seconds the two groups stared at each other wordlessly. Then Tostig reached into his pocket. (183)

Die Schusswaffe, das weiß auch Widmers Protagonist, ist die ultima ratio des ‚Entdeckers‘ – selbst wenn sein Weg nur in die Gletscherlandschaften, Wüsten und Dschungel des Engadins führt  : „Eine gute Ausbildung ist der beste Schutz gegen Gefahren. Stanley konnte karabinerschießen, maschinenpistolenschießen, leuchtpistolenschießen. Er konnte das Vaterunser lateinisch.“ Ich entsichere das Gewehr und schieße in die Luft. Ich beobachte den Dezibelmesser. „Ich spinne“, sage ich, entriegele das Karabinerschloß und sehe, wie die leere Patronenhülse hinter mir ins Gras fällt. (93)

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Ingenjör Andrées luftfärd oder Die melancholischen Entdeckungen des Films

1. Cold Cases Zeitungskorrespondenten und Bildberichterstatter aus aller Welt lieferten sich im August 1930 ein Wettrennen in den äußersten Norden Europas, um vom spektakulären Ende ­einer Entdeckungsfahrt zu berichten. „Ein gesegneter Zufall“ hatte, so der wissenschaftliche Leiter einer Expedition der „Norwegischen Svalbard- und Eismeerforschung“, Gunnar Horn, ihn dazu bestimmt, „eins der größten Rätsel in der Geschichte der Polarforschung zu lösen“.1 Ein Rätsel, das keine weißen Flecken auf den Landkarten, keine eisfreien Polarmeere oder mythenumwobenen Inseln, Berge oder Städte mehr betraf, wie sie die Geschichte der Entdeckungen im 19. Jahrhundert nicht nur in der Arktis in Gang gehalten hatten, sondern zu Märtyrern der Wissenschaft (August Petermann) gewordene Entdeckungsreisende selbst. 33 Jahre zuvor, im Sommer 1897, waren die drei schwedischen Ingenieure Salomon August Andrée, Nils Strindberg und Knut Fraenkel mit einem Wasserstoffballon in Spitzbergen gestartet, um den Nordpol zu überfliegen. Drei Nachrichten hatte die Welt von ihnen noch empfangen, die erste wenige Tage nach dem Start, als der Kapitän des Robbenfängerschiffes Alk einen im Polarmeer ungewöhnlichen Vogel beobachtete und abschoß, der sich dann als Brieftaube entpuppte, zwei weitere, als Jahre später Strandgutsammlerinnen an entlegenen Küsten Finnmarkens und Islands zwei bereits am ersten Tag des Fluges abgesandte Flaschenposten fanden  : ‚Unsere Reise verlief bisher gut. Wetter prächtig, Stimmung ausgezeichnet.‘ Erst 1930 enthüllte sich dann das Schicksal der Ballonfahrer, als man ihre Leichen auf der von Packeis umgebenen Insel Kvitøya (schwedisch Vitö, die Weiße Insel), der östlichsten Insel des Svalbard-Archipels (Spitzbergen), fand, barg und mit eben jenem Kanonenboot der schwedischen Marine nach Stockholm überführte, das sie 33 Jahre zuvor zu ihrem Startplatz gebracht hatte. Für 33 Jahre also waren Tauben- und Flaschenpost die einzigen Spuren der Verschollenen geblieben  ; entsprechend groß war der Raum für Spekulationen. 1907 etwa, zehn Jahre nach dem Verschwinden, publizierte der dänische Journalist und Schriftsteller Carl Muus1 S. A. Andrée. Dem Pol entgegen. Auf Grund der während Andrées Polarexpedition 1897 geführten und 1930 auf Vitö gefundenen Tagebücher S. A. Andrées, N. Strindbers und K. Fraenkels herausgegeben von der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie, Leipzig  : F. A. Brockhaus 1930, S. 167.

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mann Des Nordpolfahrers Andree letzte Aufzeichnungen, die „in einem ledernen Kopfkissen verpackt mit anderen Gegenständen zusammen an der äußersten Spitze Jütlands ans Land gespült worden“ seien und denen zufolge „Andree nicht tot“ sei, sondern „inmitten eines kleinen Menschenstammes der Rhorhaer, unfern des Nordpols, wie ein Wesen aus einer anderen Welt verehrt“ lebe.2 Auch Muusmann lässt seine Geschichte also mit dem Fund einer Flaschenpost beginnen, deren Inhalt nun aber ungleich umfangreicher und brisanter ist als die spärlichen Nachrichten, die tatsächlich ihre Empfänger erreicht hatten. Bald nachdem die letzte Taubenpost den Ballon verlassen und ihre Reise in die wirkliche Welt angetreten hat, folgt der Sturz in ein Land der Legenden  : in der literarischen Tradition von Christoph Martin Wielands Reise des Priesters Abulfauaris ins Innere Afrika ebenso wie der vergessenen Welten Henry Rider Haggards oder Arthur Conan Doyles findet sich der beim Absturz des Ballons von seinen Kameraden getrennte Andrée in einer klimatisch gemäßigten Zone jenseits des Packeisgürtels bei einem vom Rest der Welt abgeschiedenen, ‚vergessenen‘ Volk glücklicher Wilder. Und wie seine (nicht nur) literarischen Vorgänger droht er, sich zum Zivilisationsbringer berufen fühlend und mehr noch eigenen Gewinn witternd, die soziale Balance dieser Menschen zu zerstören  : „Bei richtigem Training würden sie ein ebenso gutes Menschmaterial abgeben können, als die Europäer oder Chinesen. Ich müßte sie an strengere Arbeit gewöhnen, als sie sie bis jetzt kennen […] Sie führen in ihrem von der Natur gesegneten idyllischen Tal ein zu bequemes und beschauliches Dasein, aus dem ich sie aufrütteln muß.“3 Endzweck solcher Zivilisierung ist – natürlich – die Ausbeutung von Rohstoffquellen, mit der Andrée reich zu werden gedenkt. Als es fast zu spät ist, erkennt er die von ihm selbst ausgehende Gefahr und verfasst seine Flaschenpost als Warnung an die vermeintlich zivilisierte Welt. Der vorgeblich spektakuläre Fund entpuppt sich als kolonialismus- und zivilisationskritische Parabel, mit der Muusmann an einen seit Columbus’ Nicht-Entdeckung Indiens nur allzu vertrauten plot anschließt, der noch aus der scheiternden Entdeckungs- eine Eroberungsfahrt werden lässt – fast jedenfalls, hätte sich sein Held nicht unter der Lizenz seines tatsächlichen Verschollen-Seins im letzten Moment zum Philantropen gewandelt. Die Entdeckung von 1930 machte Schluss mit solchen Spekulationen. Nunmehr sah sich die Weltöffentlichkeit mit sehr viel zahlreicheren und konkreteren, den Spielraum der Phantasie einengenden, Spuren konfrontiert, so dass nun der Leiter einer von den Regierungen Schwedens und Norwegens eingesetzten wissenschaftlichen Kommission, die den Fund von Kvitøya auswertete, der Vorsitzende der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie Nils Lithberg konstatieren konnte  :

2 So eine Verlagsanzeige im Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel, Nr. 177, 1. August 1907, S. 7594f.; für den Hinweis danke ich Rudolf Helmstetter. 3 Des Nordpolfahrers Andrée letzte Aufzeichnungen. In Briefen wiedergegeben von Carl Muusmann. Deutsch von Bernhard Mann, Berlin 1907, S. 142.

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Die nackte Wirklichkeit, die sich hier offenbarte, war vielleicht wunderbarer als vorher die tollsten Gerüchte. Diese armseligen menschlichen Reste, diese Kleidungsstücke, an denen Algen hingen, dieses Kommißtuch, in dessen Falten grünlicher Moospelz saß – das also war von den drei Männern übrig, deren Wagemut vor 33 Jahren die Welt monatelang in Spannung hielt.4

Bereits im Oktober 1930 präsentierte die Kommission eine umfangreiche Dokumentation, von der noch im gleichen Jahr in mehreren europäischen Ländern und den USA Übersetzungen erschienen.5 Hier findet sich das Material, von dem künftige Erzählungen der Geschichte Andrées und seiner Begleiter ausgehen, an dem sie sich abarbeiten werden. Allerdings, Lithbergs Formulierung deutet es bereits an, zeichnet sich dieses Material, so überraschend vielfältig es ist, durch eine eigentümliche Kargheit aus. Die recht gut erhaltenen Körper wurden nach einer in Tromsö unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommenen, relativ oberflächlichen Untersuchung, in verschlossenen Särgen nach Stockholm überführt und eingeäschert. Ausgesprochen knapp fällt auch der Bericht über diese Untersuchung in der offiziellen Dokumentation aus, vor allem im Vergleich zur Ausführlichkeit, mit der beispielsweise die folgende Reise des „Totenschiffs“ (Lithberg) entlang der norwegischen und schwedischen Küste geschildert wird, wobei in barock anmutender Vollständigkeit jede der vielen Trauerreden angeführt wird, die auf den zahlreichen Zwischenstopps gehalten wurden. Bis heute ist die genaue Todesursache bei allen dreien ungeklärt geblieben.6 Auch die Beschreibungen ihres letzten Lagers sowie einige Photographien, die nur deshalb an die Öffentlichkeit gelangten, weil nach den ersten Nachrichten vom Fund ein von Zeitungsreportern gechartertes Boot die Insel erreicht und dank der fortgeschrittenen Schnee- und Eisschmelze weitere Fundstücke zutage gefördert hatte, ergeben kein 4 Andreè  : Dem Pol entgegen, S. 182. – Juristisch gesehen, im Sinne des Verschollenheitsgesetzes, hörten die drei Ballonfahrer damit auf, verschollen zu sein. 5 Die schwedische Ausgabe (Med Örnen mot polen. Andrées polarexpedition år 1897. Utgiven på grundval av S.  A. Andrées, Nils Strindbergs och Knut Frænkels sommaren 1930 på Vitön funna anteckningar av Svenska sällskapet för antropologi och geografi, Stockholm 1930) erschien im größten und renommiertesten Verlag des Landes, Albert Bonnier, die deutsche [vgl. Anm. 1] im selben Jahr bei F. A. Brockhaus. Schon die Schnelligkeit dieser umfangreichen und aufwendig gemachten Publikation und ihrer Übersetzungen spricht für die Aufmerksamkeit, die der Fund erregte  : die Leichen wurden am 6. August entdeckt, die Untersuchung in Tromsö fand Anfang September statt, am 5. Oktober wurden die Leichen in Stockholm beigesetzt, am 24. Oktober ging die schwedische Ausgabe in Druck, und bis Ende des Jahres waren bereits mehrere Übersetzungen erschienen. Die Mitglieder der Kommission, die Berichte ihrer Arbeit beisteuerten, und einige weitere Autoren, Setzer, Drucker, Buchbinder, Übersetzer müssen geradezu aberwitzig schnell gearbeitet haben, so dass die Texte und Bilder, die 33 Jahre unberührt geblieben waren, nun innerhalb von drei Monaten getrocknet, transkribiert, rekonstruiert, übersetzt und gedruckt in aller Welt verfügbar wurden. 6 Erbrochene Speisereste, die im Gewebe von Andrées Pullover erhalten geblieben sind, könnten, so wurde spekuliert, auf trichinenverseuchtes Eisbärenfleisch deuten  ; die völlig unzureichende Kleidung macht es jedoch wahrscheinlich, dass Unterkühlung und daraus folgende Erschöpfung die eigentliche Todesursache war.

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klares Bild. Während die Ausrüstung in gutem Zustand war und auch Nahrungsmittel noch reichlich vorhanden waren, deutet die Anlage des Lagers auf starke Erschöpfung. So waren Anfang September, als sich die Karawane der Wissenschaftler und Journalisten wieder Richtung Süden aufmachte, keineswegs alle Rätsel um Andrée und seine Begleiter gelöst, und insbesondere jenen Bild-Medien, die 1930 in herausragender Weise Weltöffentlichkeit repräsentierten, blieb die „nackte Wirklichkeit“ verborgen. Zeitungen mussten auf ihre Archive zurückgreifen, um ihre Artikel mit 33 Jahre alten Bildern vom Start des Ballons zu illustrieren. Dem Film, 1897 zwar bereits erfunden, aber noch nicht so verbreitet, dass ein Kameramann mit nach Spitzbergen gereist wäre, so wie 33 Jahre später nach Tromsö, blieb nicht einmal diese Möglichkeit. Noch nicht einmal tote Körper vermochten die lebenden Bilder zu präsentieren, geschweige denn einen Blick zurück in die Zeit, in das schicksalhafte Jahr 1897. Das versprachen dagegen konventionellere Dokumente, zuallererst eine Reihe mehr oder weniger gut erhaltener Schriftstücke  : die Tagebücher Andrées und Strindbergs, meteorologische Aufzeichnungen Fraenkels, sowie mehrere Briefe. Die Dokumentation präsentiert davon Faksimiles einzelner Blätter, eine vollständige Transkription der Texte, soweit sie nicht „rein persönliche Angelegenheiten betreffen“7, und eine die verschiedenen Informationen kompilierende Erzählung. Hier erfährt man nun, dass der Flug schon unmittelbar nach dem Start, nach dem Verlust der Schleppleinen, die den Ballon in gewissem Maße lenkbar machen sollten, zum Scheitern verurteilt war, dass der Gasverlust weit höher war als berechnet, dass die drei aber dennoch den Ballon, unter Aufopferung allen Ballasts, auch von Lebensmitteln und wichtigen Ausrüstungsgegenständen, noch für drei Tage in der Luft hielten, bevor sie mehrere hundert Kilometer von festem Land entfernt auf dem Packeis aufsetzten. Es folgt eine knapp drei Monate dauernde Odyssee, dann die Ankunft auf Kvitøya, wo die Aufzeichnungen sehr spärlich werden. Der letzte Eintrag findet sich bei Strindberg, der, da er als einziger bestattet worden ist, vermutlich als Erster gestorben ist  : „17. [Okt.] So. Nachhause 7.05 Uhr Vm.“8 10 Tage zuvor waren die drei, dem vorletzten Eintrag zufolge, von einer Eisscholle auf die Insel übergesiedelt, aber was dann geschehen war, von wo Strindberg zurückgekehrt sein oder was sonst „Nachhause“ gemeint haben könnte, bleibt dunkel. Ebenfalls von Strindberg stammen schließlich fünf belichtete Rollfilme, die teilweise noch entwickelt werden konnten und Photographien von dem gestürzten Ballon, von Jagdglück und Fröhlichkeit, vom mühevollen Weg durch das Eis, vom rapiden körperlichen Verfall der drei Männer preisgaben.9

7 Andreè  : Dem Pol entgegen, S. 272. 8 Ebd., S. 278. 9 Vgl. dazu Tyrone Martinsson  : Recovering the visual history of the Andrée expedition  : A case study in photographic research, in  : Research Issues in Art Design and Media, 6, 2004, http  ://www.biad.bcu.ac.uk/ research/rti/riadm/[1.6.2011]

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Doch all diese Zeugnisse bieten kaum mehr als die äußerliche Chronologie des absehbaren Scheiterns einer Entdeckungsfahrt, die vom ersten Augenblick an auf die Katastrophe zusteuerte. „Auffallend karg“ nennt Lithberg durchaus treffend das, was die Polarfahrer über sich preisgeben  : Abgesehen von einigen wenigen Zeilen in Andrées Tagebuch (auf die noch zu kommen sein wird) „gibt uns keine Stelle in den auf Vitö gefundenen Schriftstücken, soweit sie bis jetzt entziffert werden konnten, Auskunft darüber, was Andrée im Innersten über die von ihm geleitete Expedition dachte. Inzwischen staunte die Welt über seine Fahrt, Verwandte, Freunde und Landsleute warteten sehnsüchtig auf Nachricht.“10 Sie sollten weiter warten. Auch intensivere philologische Bemühungen fanden keinen Weg ins Innerste. Denn wie die Photographien bleiben auch die schriftlichen Aufzeichnungen gebunden an die Oberfläche der sicht- und messbaren Welt physischer Objekte. Bis zuletzt werden Messungen gemacht, Daten notiert, die Dicke des Eises ebenso penibel in Listen eingetragen wie die Beschaffenheit des Stuhlgangs oder die Speisefolge an Festtagen. Und die Photographien zeigen auch da, wo sie nicht von vornherein wissenschaftlichen Zwecken dienen und etwa Eis- oder Wolkenformationen dokumentieren sollen, vor allem die konventionellen Posen einer Selbstinszenierung disziplinierter Forschungsreisender. Nichts davon scheint geeignet, Antworten auf solche Fragen zu geben, wie sie bereits auf der ersten Gedenkfeier für die aus dem Eis geholten Toten der Dompropst von Tromsö formuliert hat (und wie sie dann immer wieder gestellt wurden)  : war es einfach eine „‚Narrenfahrt‘, mit dem Luftballon über das Eis nach Norden zu fliegen“ oder „trieb sie doch das edle Streben, die Welt zu erforschen, zu erobern“  ?11 Sehen wir auf den Photos also Narren oder Helden in unzureichender Kleidung ihre viel zu schweren Schlitten durch die Eislandschaft ziehen (vgl. Abb. 1)  ? Oder, noch einmal, „Märtyrer der Wissenschaft“, wie der Gothaer Geograph August Petermann die zahlreichen verschollenen Forscher des (noch) heroischen Zeitalters der Entdeckungen und Eroberungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts genannt hatte  ?12 Offenbar adressiert die Frage die Geschichte der Entdeckungsreisen in einem sehr viel weiteren Kontext, ist daher auch kaum aus der Geschichte Andrées alleine zu beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte  : aufschlussreicher ist die Frage selbst, mit der der Tromsöer Dompropst jenen kleinen Spielraum kassiert, in dem Muusmanns Phantasie den Verschollenen aus der starren Dichotomie von Narrheit und Eroberertum hatte aussteigen lassen, für die es in der Wirklichkeit von 1930 immer noch keine Alternative zu geben scheint. Mit dieser ersten Gedenkfeier beginnt der Prozess, in dem Andrée und seine Begleiter in den Zusammenhang aus Entdeckung und Eroberung eingeholt werden, in dem technische Allmachtsphantasien – das Attribut Ingenieur war mit all seinen technikoptimistischen 10 Andreè  : Dem Pol entgegen, S. 54, hier 48. 11 Ebd., S. 186. 12 In Petermannns „Geographischen Mitteilungen“, der bedeutendsten geographischen Zeitschrift in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, findet sich eine Fülle solcher Geschichten des Aus-der-Welt-Fallens.

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Assoziationen schon vor der Reise zum festen Namensbestandteil Andrées geworden – mit weltpolitischen konvergieren. Nicht die „nackte Wirklichkeit“ verfallener Körper tritt 1930 den „tollsten Gerüchten“ entgegen, sondern die Inszenierung einer patriotischen Heimholung, in der die von unzähligen Paraden und Festreden begleitete Überführung der wohlverschlossenen Särge zum Triumphzug kühner Eroberer gerät.13 Nur in dieser pompösen Inszenierung finden auch die in den Norden gereisten Vertreter der Weltöffentlichkeit, insbesondere die Kameramänner der Wochenschauen, ein fruchtbares Material. In dieser Mischung aus Sichtbarkeit und Entzug wiederholt die Geschichte um Andrée eine Reihe spektakulärer Fälle des Verschollen-Gehens, verbunden mit Namen wie John Franklin, Ludwig Leichhardt, David Livingstone, Heinrich Barth und Eduard Vogel, die die Geschichte der Entdeckungsreisen im 19. Jahrhundert begleitet und wesentlich geprägt haben. Für sie alle gilt, dass sich ihr zeitweiliges oder endgültiges Verschwinden im Nordpolarmeer, im outback Australiens oder in den Wüsten und Urwäldern Afrikas vor den Augen der Öffentlichkeit vollzieht und in der Folge eine Fülle von Bewegungen in Gang setzt  : Nachfahrten, Rekonstruktionen, schließlich Relektüren, die alle um die Suche, Auswertung und Aufbereitung von Spuren aller erdenklichen Art kreisen. Das Verschwinden erzeugt Unterbrechungen im Fluss der Informationen und zeugt damit von Lücken innerhalb der eben noch nicht ganz weltumspannenden Kommunikationsnetze, in der noch nicht ganz vermessenen Welt, es erzeugt aber gleichzeitig vielfältige Nachrichten(ströme), ein breit gefächertes Spektrum des Redens, Schreibens, und schließlich auch Filmens, das die Netze neu und enger knüpfen wird, um die Aus-der-Welt-­ Gefallenen in die Welt zurückzuholen. Vollständig gelingt das allerdings selten, und zwar, weil es gerade der unauflösbare Rest eines Rätsels in ihren Geschichten ist, das Nachfahrten und Relektüren anzieht, das diese daher im gleichen Maße vergrößern, in dem sie es zu tilgen vorgeben. Das Verschollen-Gehen zeugt, um einen Begriff Foucaults aufzugreifen, von einer Heterotopie der vermessenen Welt (hier im Sinne von Topographien, in denen man auch im Zeitalter weitgehender nachrichten- und verkehrstechnischer Durchdringung aus der Welt fallen kann).14 Und so ist natürlich auch der ‚Fall‘ Andrées mit dem ‚abschließenden Bericht‘ der schwedisch-norwegischen Kommission keineswegs geschlossen. Jene allzu schnell versiegelten Särge halten ihn ebenso offen wie die Kargheit der Dokumente, die in eigentümlichem Kontrast steht zur Geschwätzigkeit der Reden und dem Pomp der Rituale, in 13 Sverker Sörlin  : The burial of an era. The home-coming of Andrée as a national event, in  : The Centennial of S.A. Andrée‘s North Pole Expedition  : Proceedings of a Conference on S.A. Andrée and the Agenda for Social Science Research of the Polar Regions, hg. von Urban Wråkberg, Stockholm 1999. Sörlin beschreibt die Heimführung der Leichen als “one of the most solemn and grandiose manifestations of national mourning that has ever occurred in Sweden. One of the rare comparable events is the national mourning that followed the Estonia disaster in the Baltic Sea in September 1994” (S. 100). 14 Michel Foucault  : Von anderen Räumen, in ders.: Schriften. Vierter Band. Frankfurt/M. 2005, S. 931–942.

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Abb. 1

denen die Verschollenen heimgeholt werden sollen. Damit kann Andrée, können die Verschollenen, zum paradigmatischen Fall werden in einer Geschichte der Relektüren klassischer Entdeckungsreisen, die sich immer wieder davon haben provozieren lassen, dass eben ein Fall noch nicht geschlossen, eine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt (und eine Welt noch nicht ‚ausentdeckt‘) ist. Paradigmatisch ist Andrées ‚Fall‘ nicht nur aufgrund der Rätsel, die der Fund von Kvitøya nicht lösen konnte, sondern mehr noch durch seine Ver­strickung in das Netz aus Weltflucht und Abenteuer einerseits, Entdeckung und Eroberung andererseits, aus einem Begehren, die Welt zu beherrschen, dem das Begehren, sich in ihr zu verlieren auf paradoxe Weise eingeschrieben ist.15 Diese weder durch die patriotische Glorifizierung noch durch deren postkoloniale Kritik aufzulösende Ambivalenz sichert den Gescheiterten – und auch den Momenten des Scheiterns in den Geschichten der Erfolgreichen – die Aufmerksamkeit eines Zeitalters, dem die heroische Geste der Entdecker, ihre Selbstermächtigung wie ihre Selbstdisziplinierung suspekt und ihre Begeisterungsfähigkeit fremd geworden sind. Eben hier liegt das Rätsel, von dem sich Relektüren affizieren lassen, die es sich zur Aufgabe machen, die Geister Andrées, Strindbergs, Fraenkels und anderer wieder zu befreien aus der Starrheit der Photographien, der Reden und Schriften, in die sie selbst und ihre Nachlassverwalter sie gebannt zu haben schienen, sowie aus der nicht weniger starren Dichotomie von Narrheit und Eroberertum. 15 Zu dieser grundlegenden Ambivalenz des kolonialen Begehrens vgl. Homi Bhabha  : The Location of Culture, London 1994.

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Abb. 2

2. Für eine Poetologie des Scheiterns Ein Hinweis auf die Gründe für die anhaltende Faszination, die von den Verschollenen ausgeht, findet sich vielleicht gerade in einem Medium, das sich in exemplarischer Weise der Kargheit verschrieben zu haben scheint  : der Karte. Zu den Spuren von Kvitøya gehören einige Skizzen in Nils Strindbergs Tagebuch, die in drei sich überlagernden semiotischen Schichten den Reiseverlauf kartographieren  : die Grundlage bildet das offenbar bereits vor dem Aufbruch sauber vorgezeichnete Liniengitter der Längen- und Breitengrade, in das die Küstenlinien eingetragen sind, so, wie sie die bekannten Karten verzeichnen  : neues Land wurde nicht entdeckt. Neu ist allein die erst während der Reise sukzessiv entstandene dritte Schicht, eine Linie, die die aus Beobachtungen über Richtung und Geschwindigkeit sowie Sextantenmessungen errechnete – oder besser  : geschätzte – Reiseroute repräsentiert (vgl. Abb. 2). Zumindest kartographisch gesehen, nimmt dieses Neue

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eine recht eigentümliche Form an. Der Ballonflug und die Wanderung über das selbst in ständiger Drift befindliche Packeis folgen, im Verhältnis zum zugrunde gelegten Raster, keiner auch nur annähernd geraden Linie, sondern zeichnen ein Muster vielfältiger Digressionen, verschlungener Um- und Abwege, dem sich wiederum Unsicherheiten des Zeichners, Unterbrechungen, Fehler und Korrekturversuche überlagern  : das Verschwinden dokumentiert sich in einer arabesken Figur, die sich über das geometrische Netz der noch nicht kartierten, aber bereits gerasterten Fläche legt. Viele der frühen Entdeckungsfahrten, nicht nur im Packeis und in den Gletscherfeldern der Polarregionen, sondern auch in den Wüsten, Urwäldern, Steppen und Gebirgen anderer Kontinente, hinterlassen solche arabesken Muster auf den Landkarten und fordern damit Relektüren heraus, die sich gerade vom prekären semiotischen Status der Arabeske anziehen lassen, die zum Rätsel werden lässt, ob und wie hier etwas zu lesen wäre. In der Hybridität von Linie und Fläche, von Ornament, Figur und Schrift, in der sie zwischen symbolischen und ikonischen Zeichen changiert, ohne das eine oder das andere zu sein – allenfalls als Index könnte sie unter bestimmten Voraussetzungen fungieren –, erzeugt die Arabeske eine überbordende Bedeutung und scheint zugleich den Sinn aufzusaugen. Das Muster eines sich an solcher Hybridität abarbeitenden Lektüreversuchs liefert Edgar Allen Poes Narrative of Arthur Gordon Pym mit der den Roman abschließenden “note”, in der ein anonymer Leser von Pyms Manuskript sich daran versucht, jene “chasms”, die Pym auf einer geheimnisvollen Insel nahe des Südpols entdeckt, durchwandert und abgezeichnet hat, mit Bedeutung zu füllen, indem er sie als Zeichen fremder Sprachen identifiziert  : “It is not impossible that ‘Tsalal’, the appellation of the island of the chasms, may be found, upon minute philological scrutiny, to betray either some alliance with the chasms themselves, or some reference to the Ethiopian characters so mysteriously written in their windings.” In einer philologischen Operation will also die “note” die kartographierte Landschaft zum Schriftraum werden lassen und lesbar machen. Was da zu lesen sein wird, kann allerdings auch “minute philological scrutiny” nicht angeben  : “Conclusions such as these open a wide field for speculation and exciting conjecture”.16 Auf diesem ‚erregenden Feld‘ ist die makellose Gerade, die vom Gelingen einer Entdeckungsfahrt zeugt, eine der langweiligsten Figuren. Der Flug des Luftschiffs Norge, mit dem es Ammundsen und Nobile erstmals gelang, den Pol zu überfliegen, hat eine solche Gerade gezogen, hat damit aber weit weniger Spuren im kollektiven Gedächtnis hinter­ lassen als Andrées Ballon oder Nobiles zweites Luftschiff, die Italia, deren Geschichte eigentlich erst mit ihrem Absturz beginnt. Die Poetologie des Scheitern entsteht aus dessen Kartographie  : aus den Um- und Abwegen, mit denen die Reisenden – nicht selten auf ihrem Weg aus der Welt – eine unhintergehbar einzigartige Spur hinterlassen auf der eben nicht weißen, sondern längst auch dort, wo noch keines Menschen Fuß gestanden hat, 16 Edgar Allan Poe  : The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, hg. v. Richard Kopley, New York/ London 1999, S. 220f.

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mit dem geometrischen Raster überzogenen Fläche. Exiting sind nicht die Konjekturen, die Narrationen ihrem Ziel entgegentreiben, sondern diejenigen, die sich an ihren Unter­ brechungen, Stauungen und Abschweifungen ansiedeln, dort, wo das ‚weite Feld‘ unübersichtlich wird, wo die Linien sich verlieren, die Koordinaten verschwimmen. Das weiß bereits der erste Autor, der Andrée literarische Nachfahren hinterhersendet, noch bevor dieser überhaupt aufgebrochen ist. Inspiriert vom ersten, 1896 aufgrund anhaltend schlechter Windverhältnisse abgebrochenen Versuch der Schweden, lässt Kurd Laßwitz im gleichen Jahr, in dem diese ‚aus der Welt fallen‘, in seinem Science Fiction Roman Auf zwei Planeten drei deutsche Ballonfahrer zum Nordpol fliegen. „Unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden“17 fliegend, überqueren sie auch ein ­Andrée-Land, dort, wo 1897 noch kein Polarforscher gewesen war, und nehmen es photo­ graphisch in Besitz  : der Naturforscher Josef Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte auf den Momentverschluß des photographischen Apparats und notierte die Zeit und den Luftdruck. „Diese Gegend hätten wir glücklich in der Tasche“, murmelte er. Dann streckte er die in hohen Filz­ stiefeln steckenden Füße soweit aus, als es der beschränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit den lustigen Augen und sagte  : „Meine Herren, ich bin schauderhaft müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen  ?“18

Dass diese Art der wissenschaftlich domestizierten Wahrnehmung und einer in ihren Dienst gestellten Photographie, die selbst für ihren Protagonisten zum Einschlafen ist, nicht gerade geeignet scheint, um eine literarische Phantasie sich an ihr entzünden zu lassen, überrascht nicht besonders. Erst als die Ballonfahrer die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlieren, die gerade Fluglinie abrupt unterbrochen und der Ballon zunächst in einen Wirbel gerissen, dann nach oben gezogen und schließlich ins Meer geschleudert wird, das sich bei Laßwitz über dem Pol öffnet, kann die eigentliche Geschichte beginnen, die mit der Fahrt zum Mars dem aufdämmernden 20. Jahrhundert ein neues ‚Feld‘ anweist, auf dem Entdeckung und “exciting conjecture” noch gleichermaßen möglich sind. Die Voraus­ setzungen dafür aber liegen – immer noch – auf der Erde  : Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze, die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen, für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbestimmungen. Am Pole sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier giebt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier giebt es auch keine Tageszeit  ; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend sind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze zusammen oder gar keine. 17 Kurd Laßwitz  : Auf zwei Planeten, Frankfurt/M. 1979, S. 7. 18 Ebd., S. 10.

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Es ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosig­ keit.19

Dieser „Unstetigkeitspunkt“, an dem die gerade Fluglinie in eine dreidimensionale Arabeske übergeht, in der Laßwitz’ literarische Phantasie ein vorerst letztes Refugium findet, wird nicht durch die aufeinandertreffenden Längengrade markiert, er dürfte auch kaum auf einer photographisch kartographierten, ‚in die Tasche gesteckten‘, Erdoberfläche zu verzeichnen sein. Was ihn definiert, ist vielmehr genau die Tatsache, dass man hier aus der Welt fallen kann – wie es Laßwitz’ Ballonfahrern ebenso geschieht wie ihren Vorfahren Andrée, Strindberg und Fraenkel. 3. Die weiße Insel  : Eine philologische Phantasie Es ist eine Ironie der Geschichte Andrées, dass dieser Punkt seines Aus-der-Welt-Fallens, der Punkt, an dem Strindbergs mäandrierende Chiffre unwiderruflich ihr Ende findet, ausgerechnet den Namen Kvitøya trägt  : die Weiße Insel, das unbeschriebene Blatt. Der Sog, der von ihr ausgeht, zieht auch eine andere, literarische, Geschichte des Aus-derWelt-Fallens an, die Christoph Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) erzählt. Deren Held Joseph Mazzini ergattert bei seinem Unternehmen, einer österreichischen Polarexpedition des 19. Jahrhunderts nachzufahren, im Sommer 1981 eine Passage auf einem norwegischen Forschungsschiff, das ihn bis zum Franz-Joseph-Land, der Entdeckung der Österreicher, bringen soll. Frühzeitig sich schließendes Packeis, vor dem der moderne Eisbrecher kapitulieren muss, blockiert jedoch den Weg, und so landet Mazzini statt dessen auf Kvitøya, wo ein japanischer Vogelkundler an Bord genommen werden soll, der 6 Wochen auf der unbewohnten Insel verbracht hat. Allein  ? Sechs Wochen allein in dieser Verlassenheit  ? fragt Mazzini den Japaner. Nicht immer, sagt Uemura, nicht die ganze Zeit  ; ein schwedisches Filmteam sei dagewesen, Jan Troell, der Regisseur, ein äußerst liebenswerter Mensch, habe hier an einem Epos über den Polflug des Ballonpiloten Salomon Andrée gedreht  : Mister Troell habe dabei sehr viel Rücksicht auf die Vögel genommen.20

Die Digression, die das Forschungsschiff vom Weg abbringt (und dabei Mazzini die gleiche Wendung vollziehen lässt wie Andrée und seine Begleiter, die ebenfalls zunächst versucht hatten Franz-Joseph-Land zu erreichen), lässt die menschenleere Insel, die kälteste und ödeste des Spitzbergen-Archipels, zum Ort der (Fast-) Begegnung zweier Nachfahr19 Ebd., S. 18. 20 Christoph Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Frankfurt/M. 1987, S. 166.

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ten werden, einer literarischen und einer filmischen, die ihr Publikum in die einsamste Landschaft der Erde führen. Dieses unscheinbare und auch im weiteren Handlungsverlauf folgenlos bleibende Zusammentreffen spiegelt einmal mehr das Prinzip der Überlagerung von Dokumentation und Fiktion, das Ransmayrs Lektüre bestimmt, denn es lässt den fiktiven Romanhelden nicht nur die Spur einer weiteren, realen Polarexpedition kreuzen, sondern dabei auch fast – durch den japanischen Vogelkundler ebenso getrennt wie verbunden – auf eine Art alter ego seines eigenen Autors treffen. Der schwedische Regisseur Jan Troell nämlich war tatsächlich im Sommer 1981 auf Kvitøya zu Dreharbeiten für seinen Film Ingenjör Andrées luftfärd. Seine Rücksicht gilt dabei weniger den Vögeln – auch wenn die durchaus eine nicht unbedeutende Rolle spielen – als der Polarlandschaft selbst. Sein Film lässt sie aus dem Hintergrund, vor dem Strindbergs Photographien versuchten, eine heroische Entdeckergeschichte zu inszenieren, hervortreten und ihre eigene Materialität entfalten,21 lässt sie vom Objekt wissenschaftlicher Beobachtung zum Akteur werden, zum eigentlichen Gegenspieler der drei Ingenieure, und somit auch zum eigentlichen Fundstück, zur Spur, der der Film auf dem Weg in die Welt der Vergangenheit folgt. Auch Ransmayrs Nachfahrt folgt, auf Kvitøya angekommen, für einen Augenblick der Spur Andrées (auch wenn dessen Geschichte hier kaum mehr ist als ein Nachtrag zum „Formblatt aus der Chronik des Scheiterns“, in dem der 2. Exkurs der Schrecken des Eises und der Finsternis einige „Namens­patrone arktischer Landschaften, Kaps und Gewässer“ aufgelistet hatte, und in das aufgenommen zu werden Andrée tatsächlich nur sehr schwachen Anspruch erheben kann  : nur sehr großformatige Karten verzeichnen Andréeneset, ein etwa 5 km² großes Geröllfeld im Westen Kvitøyas). Im Unterschied zum Regisseur muss der Schriftsteller dafür jedoch nicht die Weiße Insel betreten, sondern er muss lediglich lesen – genauer  : Wiederlesen, eine Lektüre wiederholen, die schon andere unternommen haben  : „Es ist doch recht sonderbar, hier über dem Polarmeer zu schweben“, lasen die Nachlaßverwalter in Andrées Tagebuch. „Wir sind nun die ersten, die hier im Ballon umherfliegen. Wann es uns wohl jemand nachtun wird  ? Werden uns die Menschen für verrückt halten oder unserem Beispiel folgen  ? Ich kann nicht leugnen, daß uns alle drei ein Gefühl des Stolzes beherrscht. Wir Ich finden, daß wir getrost sterben können, nachdem wir das geleistet haben.“22

Bei dem zitierten Dokument handelt es sich um genau jene Zeilen, aus denen die tatsächlichen Nachlassverwalter der Expedition das nahezu einzige Zeugnis dessen herausgelesen hatten, „was Andrée im Innersten über die von ihm geleitete Expedition dachte“. Allein in der offiziellen Dokumentation ist es insgesamt viermal zu finden  : als Faksimile der Tage21 Eine Materialität, die sich ganz ähnlich wie die Tropen des Amazonas gegen die Eroberungspläne der Figuren behauptet  : vgl. den Beitrag von Sabine Wilke im vorliegenden Band. 22 Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 168.

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buchseite, in der Transkription dieses Tagebuchs, als Zitat innerhalb der rekonstruierenden Schilderung der Reise durch Lithberg, sowie nochmals als Zitat innerhalb der Zusammenfassung der Trauerpredigt, die der schwedische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Nathan Söderblom am 5. Oktober 1930 im Dom zu Stockholm gehalten hat.23 Ransmayrs Roman jedoch setzt diese Linie der Zitation nicht fort, sondern schließt daran eine gleichsam philologische Phantasie an, die sich nicht an einer erneuten Interpretation der von Andrée selbst noch einmal gestellten Alternative von Verrücktheit oder Heldentum versucht, sondern die Aufmerksamkeit auf eine Auffälligkeit im Akt des Schreibens, eine Streichung und Substitution, lenkt, indem sie dem Zitat – vermittelt durch eine schwer zu benennende Aussageinstanz – einen Kommentar hinzufügt  : Es mag in einem jener flüchtigen, großen Augenblicke der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Wahn gewesen sein, in dem Salomon Andrée dieses Wir finden ausgestrichen und durch sein Ich finde ersetzt hatte. Und so war es auch gut.24

Für den Philologen ist damit allerdings keineswegs alles gut. Der ‚flüchtige, große Augenblick‘ nämlich findet nur in der Phantasie des Zitierenden oder vielleicht auch nur in einer Unsicherheit (einem Flüchtigkeitsfehler) eines Abschreibers statt. In Andrées Tagebuch dagegen ist an dieser Stelle keine Streichung zu finden, dort steht, ohne Deleatur, ohne wenn und aber „vi“  : wir, lesbar in der Transkription wie in der photomechanischen Reproduktion. Das Ich finde ist also nicht Andrées, sondern das eines späteren Lesers und Ab- und Weiterschreibers. Es könnte sich dabei um Per Olof Sundman handeln, dessen Roman Ingenjör Andrées luftfärd (1967) den gleichen Tagebucheintrag zitiert. Er nimmt zwar nicht die von Ransmayr behauptete Substitution vor, aber er lässt sie von seinem Erzähler, Knut Fraenkel, einklagen, der sich darüber entrüstet, dass Andrée in seine Todesphantasie seine beiden Begleiter ungefragt einschließt. Wenn Ransmayrs „Nachlaßverwalter“ etwas findet, was in der ‚Quelle‘ nicht zu finden ist, dann könnte das aber auch angeregt sein durch eine tatsächliche Deleatur einige Zeilen weiter oben in Andrées Tagebuch, die aber gerade in die umgekehrte Richtung führt  : Andrée streicht ‚mir‘ und schreibt stattdessen  : „Wann es mir uns wohl jemand nachtun wird  ?“ Er macht also den Singular zum Plural, was an dieser Stelle eher einer Relativierung der eigenen Person zu dienen scheint, aber in der Fortsetzung bis zu der von Ransmayr zitierten Passage den Modus einer Prosopopoia aufbaut, mit der Andrée schließlich die eigene Stimme auch für die schlafenden Gefährten – und vielleicht für die ganze Welt – sprechen lässt. Eben dieses Für-Sprechen wird dann offenbar seinem, oder besser dem von Ransmayr herbeizitierten „Nachlaßverwalter“ so hybrid erscheinen, dass er es, jedenfalls in der Fiktion der Schrecken des Eises und der Finsternis, revidiert und Andrée vom Wir zum Ich zurück23 Andreé  : Dem Pol entgegen, S. 195. 24 Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 168.

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kehren lässt und damit aus dem Wahn in die Wirklichkeit, die für Die Schrecken des Eises und der Finsternis grundsätzlich „teilbar“, das heißt an die je individuellen Wahrheiten gebunden ist. „Die Wirklichkeit ist teilbar“ konstatiert der Erzähler an anderer Stelle, als er in den Quellen auf drei verschiedene Datumsangaben für das gleiche Ereignis stößt. Zwar gebe es Möglichkeiten, das objektive Datum zu ermitteln, aber „wirklicher als im Bewußtsein eines Menschen, der ihn durchlebt hat, kann ein Tag nicht sein.“ 25 Ebenso wie der Ballonflug der schwedischen Ingenieure hat die ‚österreichisch-ungarische Nordpolexpedition‘ tatsächlich stattgefunden, aber die Umstände, die Konstellationen, die Pläne, die Hoffnungen, Wünsche und Ängste, die sie auf den Weg gebracht haben, sind so abenteuerlich, dass sie im Reich der Fakten kaum zu klären, geschweige denn zu erklären sind. Zur „Rekonstruktion eines Traumes“, so der Untertitel des ersten, der Geschichte der Entdeckungsreisen in einer langen historischen Reihe gewidmeten Exkurses des Romans, „lasse ich mich sachte zurücksinken in das Dunkel der Zeit und gleite durch die Jahrhunderte hinab zu den Anfängen einer Sehnsucht“.26 Ransmayrs Erzähler hat keineswegs eine klare Vorstellung davon, wo und wie sich so etwas Fragiles und schwer Zugängliches wie Sehnsüchte – seien es individuelle oder kollektive – überhaupt dokumentieren könnte, wohin ihn also die Reise führen wird, die er unternimmt, während sein Held Mazzini wie der Regisseur Jan Troell ins Polarmeer aufbrechen, um am Endpunkt von Nils Strindbergs Chiffre (fast) aufeinander zu treffen. Es ist nicht unbedingt philologische Korrektheit, von der er sich leiten lässt, aber es ist ein Gespür für Unstetigkeitspunkte in den Dokumenten, ihre Unterbrechungen und Lücken ebenso wie die Stellen, an denen scheinbar Getilgtes (wieder) sichtbar oder im Akt der Tilgung etwas anderes sichtbar wird. Andrées Tagebuch enthält eine ganze Reihe solcher Stellen, die sich gelegentlich wiederum zu arabesken Figuren zusammenschließen, jenen nicht unähnlich, die Strindberg auf seiner Karte einträgt. Und genau darauf lenkt der Flüchtigkeitsfehler, jenseits interpretatorischer Fragen nach Wirklichkeit und Wahn, die Aufmerksamkeit. So wie im Tagebuch Andrées ein sich im Strich ausdrückendes Zögern, spüren Ransmayrs Relektüren auch in anderen Dokumenten die nie endgültig zu reduzierenden Unsicherheiten auf, die von einer Teilbarkeit der Wirklichkeit zeugen, die immer wieder in Konflikt gerät mit einer allzu sehr auf Eindeutigkeit drängenden Mitteilbarkeit. Dass er auf seinem Weg zu den „Anfängen einer Sehnsucht“ auch die Weiße Insel streift, ist eine weitere Ironie dieser Geschichte. Auch sie kann nämlich weiß erst heißen als Ergebnis einer Löschung  : als im Jahre 1710 in etwa an ihrer Stelle erstmals auf einer Landkarte eine Insel auftaucht, trägt diese den Namen ihres holländischen Entdeckers Cornelius Giles. In den kommenden eineinhalb Jahrhunderten wird dieses Giles Land mehrfach Position und Gestalt wechseln und sich dabei zum Mythos verflüchtigen, bis der 25 Ebd., S. 41. 26 Ebd., S. 49.

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norwegische Robbenjäger Johan Kjeldsen die Insel 1876 aufs Neue entdeckt und ihr den Namen Kvitøya verleiht.27 4. Copy/Paste  : Ingenjör Andrées luftfärd Für die erschöpften Ballonfahrer, die auf der Weißen Insel nur zwei Jahrzehnte später zum ersten Mal seit Monaten und zum letzten Mal in ihrem Leben festes Land betraten, oder, wie Strindbergs letzter Tagebucheintrag suggeriert  : „Nachhause“ kamen, dürfte es kaum – noch – eine Rolle gespielt haben, wer hier als Entdecker gelten darf. Für die Versuche, nachlesend und nachfahrend dem auf die Spur zu kommen, was sie dorthin gebracht hat, ist es dagegen höchst signifikant, dass sie sich in einem Raum bewegen, der alles andere als weiß ist. Die einsamste Landschaft der Erde erweist sich als Gedächtnisraum, als Raum vielfältiger, sich überlagernder Einschreibungen, angefüllt mit Vor- und Nachfahren ebenso wie mit Geschichten. Und vor allem  : als Raum, angefüllt mit Unstetigkeitspunkten. Dass Ransmayrs philologische Relektüre den Unstetigkeitspunkt dennoch letztlich (nur noch) in der Fiktion findet, hat auch mit einer medientechnischen Innovation zu tun, die das Abschreiben zur obsoleten Kulturtechnik werden lässt  : die Autotypie, die es erlaubt, anhand von photomechanischen Reproduktionen der Tagebuchseiten die Korrektheit der Abschrift zu überprüfen. Zwar zeichnen sich hier jene arabesken Figuren, in denen die Schrift die klar gezogenen Linien verlässt, verschiedene Zeichen und Zeichnungen einander durchdringen und überlagern, den gleichen Raum beanspruchen oder sich auslöschen, sehr viel deutlicher ab als im Satz der Transkription. Zugleich aber tritt hier die Evidenz am stärksten hervor, die Ransmayrs Lesart als Fehler entlarvt, indem sie unter Umgehung unzuverlässiger ‚Bewußtseine‘ oder Zeichner- und Schreiberhände einen ‚Autographen‘ vor Augen stellt. Eine Evidenz, die bemerkenswerterweise genau in dem Moment zur ultima ratio philologischer Skepsis gegenüber der eigenen Fähigkeit des – dechiffrierenden – Lesens wird, in dem eine medientheoretische Skepsis den Authentizitätsanspruch der Photographie in die Rumpelkammer medientheoretischer Naivität verweist. Die Unbestechlichkeit der Photografie liegt in der Unerbittlichkeit, mit der sie in Sekundenbruchteilen registriert und archiviert, was da war – und damit eben keinen Raum lässt für jenes Zögern, jene Unsicherheit, die sich im gestrichenen Text dokumentiert. Ransmayr übergeht daher konsequenterweise die Photographien Strindbergs mit einer beiläufigen Bemerkung. Konstruiert, um die Gegenwart für die Ewigkeit zu konservieren, scheint der photographische Apparat wenig geeignet, von einem „jener flüchtigen, großen Augenblicke“ zu zeugen, von denen die „Rekonstruktion eines Traumes“ auszugehen hätte. Das ist auch der Ausgangspunkt für Jan Troells Spielfilm Ingenjör Andrées luftfärd (1982), einer langen, melancholischen Reflexion über das Scheitern. In den Bedingungen dieses 27 Vgl. Andreé  : Dem Pol entgegen, S. 158.

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Scheiterns, denen der Film nachspürt, und ebenso im Prozess dieses Nachspürens selbst sind die Photographien jedoch nicht so einfach bei Seite zu schieben, denn im Unterschied zu Ransmayrs Roman, dessen Relektüre sich im gleichen medialen Raum bewegt wie seine schreibenden Vorfahren, trennt den Film eine mediale Zäsur von seinem Material, die von der Photographie zugleich bestätigt und unterlaufen wird. Versteht man unter ‚Entdeckung‘ der Welt den Prozess, in dem ihre Oberfläche für abendländische Reisende zugänglich, mehr noch aber von ihnen kartographiert und in das Wissen und die Bildarchive des Abendlandes übersetzt wird, dann ist die Entdeckungs­ geschichte weitgehend abgeschlossen, als der Film seine ersten Erfolge als das Massenmedium des 20. Jahrhunderts feiert. Nur die allerletzten Eroberer sogenannter ‚jungfräulicher‘ Territorien haben Filmkameras im Gepäck, und es ist in erster Linie der Wettlauf zum Südpol, der unmittelbar zum Gegenstand filmischer Darstellung wird. Ist bereits für Andrée das prätendierte nationale Interesse an der Entdeckung des Pols weitgehend zum Interesse einer hier noch von der Presse bestimmten, aber längst über die Grenzen der Nation hinausreichenden Medienöffentlichkeit geworden, so wird für die großen – und vergeblichen – Expeditionen von Scott und Shakleton die weltweite Vermarktung von Bild- und Filmrechten ausschlaggebend. Aber bereits die hier entstehenden Filme, Herbert Pontings The Great White Silence (1912/1924) und Frank Hurleys South (1919), offenbaren ein grundlegendes Dilemma  : der Apparat, dem sie sich verdanken, ist viel zu sehr eingebunden in die Welt der technischen Moderne, das immer dichter geknüpfte Netz von Nachrichten- und Verkehrsströmen, als dass er von einer Entdeckung zeugen könnte, die erst dort stattgefunden haben soll und wird, wo die letzte Grenze der bekannten, ‚erschlossenen‘ Welt überschritten ist. Das Zeitalter der Entdeckungen geht in zwei komplementären Prozessen zu Ende  : während die ‚weißen Flecken‘ auf den Landkarten verschwinden, lässt der technisch immer höher gerüstete Apparat, mit dem auch die letzten Enklaven durchdrungen werden, kaum mehr einen Raum für die Bewährung oder den Untergang des Individuums in der Konfrontation mit einer (über-) mächtigen Natur, die nicht nur in den Polarfilmen das eigentliche Faszinosum bildet. South, Frank Hurleys Film über Shakletons heroisches Scheitern, zeigt das in exemplarischer Weise  : Geplant als das filmische Dokument einer der – letzten – großen Entdeckungen der Gegenwart, bildet der Film eines der ersten Beispiele für zwei wiederkehrende Grundmotive im Verhältnis von Film und Entdeckern  : ihre historische Ungleichzeitigkeit, die nur im Modus fiktionalisierender Darstellung zu überwinden ist, und eine nachdrückliche Affinität zum Scheitern, zu den Misserfolgen und zur Melancholie.28 28 Wo die Kamera hingelangt, hat sie immer schon die andere Welt in die eine eingeholt. Damit wiederholt der kinematographische Apparat allerdings nur die Nachträglichkeit, die den Entdeckungsreisen durch ihr – unumgängliches – Bündnis mit der Schrift zum Verhängnis wird  : die Grenze, die überschritten werden soll, muss zuvor gezogen, ihr Jenseits zugleich beschrieben worden sein, und die Überschreitung muss sich selbst wiederum beschreiben und damit in eben jenen Schriftraum eintreten, in dem alles Neue nur aus der

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Von beidem handelt Ingenjör Andrées luftfärd.29 Nach dem Vorspann, der den Abbruch des ersten Versuchs 1896 zeigt, sehen wir eine Großaufnahme des schnell schwingenden Pendels einer Uhr in Andrées Büro im königlichen Patentamt in Stockholm, die dann unscharf wird, als sich die Tiefenschärfe auf den Hintergrund verlagert, wo nun durch ein Fenster eine belebte Großstadtstraße zu sehen ist. Es ist ein Fenster in die Zeit, denn das, worauf wir nun für einige Sekunden blicken, erscheint als historisches Filmdokument, ein view (Tom Gunning) der frühen Kinematographie.30 Das bleibt der einzige Hinweis, dass es in Andrées Welt bereits den Kinematographen gab, aber Troell konstruiert den ersten Teil seines Films selbst nach dessen Vorbild  : als Folge einzelner, in sich geschlossener Episoden, lebender Bilder, die sich doch immer nahtloser aneinander fügen, unaufhaltsam auf das Ende im Eis gerichtet. Die Uhr tickt, von Beginn an. Troells Protagonisten wissen, dass sie sich in einer Endzeit bewegen, dass ihnen nur dieser eine Sommer noch bleibt, wenn sie, die schon einmal erfolglos zurückgekehrt waren, nicht zum Gespött eben der Öffentlichkeit werden wollen, die sie als Helden in den Norden schickt. Sie wissen, dass der Raum für Entdeckungen eng wird  : Nansen kaum aufhaltbar auf dem Weg zum Pol, Stanley im Triumphzug aus dem Innersten Afrikas zurückgekehrt  : „Nils Strindberg – I presume  ?“ adressiert Fraenkel beim ersten Zusammentreffen seinen künftigen Kameraden, mit starkem schwedischem Akzent jene Begrüßungsworte Henry Morton Stanleys gegenüber dem von ihm in die Welt zurückgeholten Verschollenen David Livingstone zitierend, die dank einer beispiellosen Kampagne des New York Herold 1871 zum geflügelten Wort der Entdeckungsgeschichte geworden waren. Dass sich gerade mit diesem Akt die Massenmedien mit ihrem Apparat – und mit der Unterstützung modernster, skrupellos eingesetzter Waffentechnik – des ‚dunklen Wiederholung entstehen kann  ; vgl. dazu, Hans Blumenberg (Der Prozeß der theoretischen Neugierde, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1988, S. 138ff.) folgend, Bettine Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher, in  : DVjs 2002, S. 545–599. Zu filmischen Polarfahrten vgl. auch meinen Aufsatz  : “My eyes will forget, but the living pictures will remember it all”. Found footage-Filme oder das (Er-) Finden des Dokuments  : Peter Delpeuts Forbidden Quest, in  : Goofy History. Fehler machen Geschichte, hg. von Butis Butis [Marion Herz, Alexander Klose, Isabel Kranz, Jan Philip Müller], Köln  : Böhlau 2009, S. 202–223. 29 Ingenjör Andrées luftfärd, Schweden 1982, Svenska Filminstitutet, Regie  : Jan Troell, Buch  : Georg Oddner, Ian Rakoff, Claus Rifbjerg, Jan Troell, nach dem Roman Ingenjör Andrées luftfärd von Per Olof Sundman  ; Darsteller  : Max von Sydow (Salomon August Andrée), Sverre Anker Ousdal (Knud Fraenkel), Göran Stangertz (Nils Strindberg), Jan Olof Strandberg (Nils Ekholm), Cornelis Vreeswijk (Lundström), Eva von Hanno (Gurli Linder), Lotta Larsson (Anna) u.a.; 142 Minuten  ; es existiert auch eine etwas längere, für den WDR produzierte deutsche Fernsehfassung  : Der Flug des Adlers, 3 Teile, 180 Minuten, Erstausstrahlung 16., 19., 23. Mai 1982. Ich beziehe mich im Folgenden auf die schwedische Kinofassung. Für die Überlassung einer Video-Kopie danke ich der Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft, Hamburg. 30 Zum Darstellungsprinzip des view im frühen Kino vgl. Tom Gunning  : Before documentary. Early non­ fiction films and the ‘view’ aesthetic, in  : Uncharted Territory. Essays on early nonfiction film, hg. von Daan Hertogs und Nico de Klerk, Amsterdam 1997, S. 9–24.

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Kontinents‘ bemächtigt hatten, war auch den Zeitgenossen durchaus bewusst. Und so ist es kein Zufall, dass die erste Begegnung Fraenkels und Strindbergs in einem Photostudio stattfindet, und dass es kurz darauf ein photographischer Apparat ist, vor dem alle drei Ballonfahrer erstmals vereint sind. Produziert wird hier das Bild, das dann auf Postkarten und in der Presse für die Unterstützung der Expedition werben und diese fest in der Öffentlichkeit verankern wird. Unbestechlich ist dieser Apparat zwar nicht, und auch keineswegs so schnell, dass er das menschliche Reaktionsvermögen überbietend unterlaufen würde  : die lange Belichtungszeit der Plattenkamera zwingt zur Geduld und erfordert ein sorgfältiges Arrangement, das dann im Druck-Klischee der bald darauf zu sehenden Zeitung nochmals variiert, nämlich um die vierte Person, den Ersatzmann, beschnitten wird. Doch dieses vergleichsweise behäbige Verfahren hat die Macht, die Portraitierten einem Rhythmus zu unterwerfen, dem sie sich nicht mehr entziehen können. Es ist eine bis ins Eis reichende Prophezeiung, wenn der Photograph in dem Augenblick, in dem er den Auslöser drückt, ausruft  : „Les jeux sont fait. Rien ne va plus“. Die Kamera ist nur einer der Apparate, die den erzwungenen Stillstand in mechanische Bewegungen einspannen. Während der stillsitzende Andrée auf einer Zugfahrt seine Unruhe kaum bezwingen kann, bewegt ihn doch die Lokomotive im gleichförmigen Rhythmus ihrer Kolben voran, während die Ballonfahrer auf Spitzbergen sich in die Pose melancholischen Zweifels einüben  : „Fahren oder Nicht-Fahren“ rezitiert Fraenkel, als Andrée zwischen Geröll einen Totenschädel findet, Überbleibsel vermutlich eines vor Jahrhunderten hier gestorbenen Robbenoder Wal­fängers, den die langsame Erosion der Felsen wieder freigelegt hat, pumpt ein kleiner Kompressor unaufhaltsam weiter Wasserstoff in den Ballon. Einmal gefüllt, wird er auch abheben müssen, auch wenn zunächst noch das zermürbende Warten auf den richtigen Wind durchzustehen ist. Der erste Teil des Films ist von mechanischen Bewegungen geprägt, und er ist selbst wie eine solche Bewegung konstruiert, ein Mechanismus, der, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr zu stoppen ist. „Ich hatte keine Wahl. Wir mußten starten“, wird es sehr viel später, ganz am Ende, aus Andrée herausbrechen, als Strindberg bereits tot ist und Fraenkel verzweifelt eine Antwort verlangt auf die Frage, wieso sie sich auf das Wagnis einlassen konnten. Zuvor hatte er die viel zitierte, bereits am zweiten Tag des Fluges verfasste Passage in Andrées Tagebuch entdeckt. „Wir finden, daß wir getrost sterben können, nachdem wir das geleistet haben“  : In Troells Lesart war sich Andrée spätestens hier bewusst, dass der Ballon sein Ziel nicht erreichen wird, und wohl auch, dass der Flug in den Tod führen wird  ; und auch Fraenkel und Strindberg hatten eine Ahnung davon. Der von Max von Sydow mit leicht unterkühltem Charme versehene Andrée ist weder ein Narr noch ein gewissenloser Draufgänger, auch kein fanatisierter Wissenschaftler und kein fanatischer Patriot, und doch gerät er in alle diese Rollen. Mit aller erdenklichen Sorgfalt geplant und vorbereitet, ist sein Unternehmen doch von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Der Ballon stellt das Optimum der technischen Möglichkeiten seiner Zeit dar, aber ob er unter arktischen Bedingungen die geplante Flugstrecke wird bewältigen

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können, erscheint selbst wohlwollenden Beobachtern mehr als fragwürdig. Doch gerade die Kritiker sind es, die mehr noch als ihre Unterstützer die Expedition vorantreiben  : der Naturwissenschaftler Ekholm, der nach dem Abbruch des ersten Versuchs den Vatermord an Andrée vollzieht und nicht nur seinen Platz im Ballon zur Verfügung stellt, sondern der Öffentlichkeit in nüchternen Zahlen das kommende Scheitern vorrechnet, und der Redakteur Lundström, der mit beißender Ironie die Kläglichkeit dieses berechenbaren Scheiterns prognostiziert. Was solche Kritik hervortreibt, ist ein trotziges Beharren, das Andrée ein gewisses Charisma verleiht, gegenüber dem die Bedenken kleinlich wirken. Es speist sich aus einem zutiefst irrationalen Zug hinter dem Unternehmen, einer Sehnsucht, die Andrée nur unvollkommen benennen kann, wenn er von seinem Ekel gegenüber der Arbeit im Patentamt und gegenüber seiner ganzen bürgerlichen Existenz spricht. Unfähig, mit dieser Existenz einfach zu brechen, setzt er sie aufs Spiel, indem er sie ins Maßlose steigert. Eine Mischung aus Perfektion und Vergeblichkeit bestimmt noch die kleinsten Details  : Andrée hat alles bedacht, etwa das Problem, wie der Nordpol vom Ballon aus zu markieren sei. Die Lösung ist ein kleines technisches Wunderwerk  : eine Kapsel, die, aus großer Höhe abgeworfen, sich mit ihrer Basis beim Aufprall in den Boden bohrt, während der obere Teil sich wie ein Blütenkolben öffnet und eine schwedische Flagge freigibt. Als die Konstruktion schließlich zum Einsatz kommt, funktioniert sie reibungslos, nur bleibt die Fahne zurück auf irgendeiner Eisscholle, mitten im Nichts, als die Luftschiffer jeden erdenklichen Ballast abwerfen, um ihren Ballon noch ein wenig länger in der Luft halten zu können  : die perfekte Wegmarke des Scheiterns. Aber eben auch eine Befreiung  : mit dem Mechanismus bleibt auch ein Stück des technischen Allmachts-Traums zurück, mit der Flagge das selbstauferlegte Eroberertum. Je weiter die Reisenden in die Eislandschaft vordringen, um so deutlicher tritt hervor, dass Erfolg und Misserfolg auf paradoxe Weise miteinander verbunden sind. Die technische Sicherheit und relativ luxuriöse Ausstattung des Ballons verlängert letztlich nur die Welt des Patentamtes, der die Abenteurer entkommen wollen, und so müssen sie scheitern, um zu finden, was sie suchen. Die Entdeckung beginnt erst dort, wo das Reich, dessen Auftrag sich die Reisenden verpflichtet fühlen – sei es das schwedische oder ein anderes kolonialisierendes Imperium oder die Zivilisation – keinen Schutz mehr gewährt, in der Erfahrung einer übermächtigen Natur, die mit den Mitteln der Technik nicht zu bezwingen ist. Ihre Sehnsucht zwingt die Ballonfahrer hinunter in eine Eiswüste, von der – in betörend schönen, von Troell selbst photographierten Bildern – ein unwiderstehlicher Sog ausgeht, wie von dem maelström, den alte Karten hier platzieren. Auf diese Entdeckung aber sind die drei schwedischen Ingenieure nicht vorbereitet. In der Vorwärtsbewegung des Films ist die Zeit unumkehrbar. Gegen diese Dynamik setzt Troell jedoch seine Relektüre, die im Eismeer eine andere Zeit und einen anderen Ort findet. Schon früh fügt der Film es in kurzen Einstellungen in Szenen des Stockholmer Alltags ein, in flirrenden, fast überbelichtet wirkenden high-key-Aufnahmen, die dann den zweiten Teil des Films, bis zur Ankunft auf Kvitøya, beherrschen. Für sie musste

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Abb. 3

Troell zum Nachfahren werden. Die Spur, der er dabei folgt, wird jedoch weniger von Strindbergs Karte bestimmt als von dessen Photographien, die dann, komplementär zu den Eismeerbildern des ersten Teils, im zweiten zu sehen sind. Die Handlung scheint zu ihnen hinzuführen, wenn sie Szenarien nachstellt bis zu dem Moment, an dem der Druck auf den Auslöser erfolgt sein könnte. Sie bleibt jedoch gleichzeitig auf Distanz zu den Photographien, die in ihrer mehr oder weniger fortgeschrittenen Zersetzung, in ihrem Schwarzweiß, und vor allem in ihrer Statik Fremdkörper im Fluss der farbigen Filmbilder bleiben. Verstärkt wird diese Distanz noch dadurch, dass die Photos oft nicht genau dort eingefügt werden, wo man den Druck auf den Auslöser erwarten würde, sondern ein wenig gegen diesen Zeitpunkt verschoben und damit andere Handlungsabläufe unterbrechend. So erscheinen sie hier als Zitate, zu denen der Film sich fragend oder kommentierend verhält. Fragen werfen bereits die Photographien selbst auf  : Wie verhält sich etwa die Pose afrikanischer Großwildjäger, weißer Jäger, in der sich die Forschungsreisenden mit erlegten Eisbären abbilden, zu der Tatsache, dass die Eisbärenjagd lebensnotwendig war und daß die drei Schweden dabei keineswegs so erfolgreich waren, wie sie es gewünscht hätten (vgl. Abb. 3)  ? Ein anderes, ‚heroisches‘, Bild zeigt die drei in dem dramatischen Moment, in dem sie sich gegen einen Schlitten stemmen, der in einer Eisspalte zu versinken droht  ;

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Abb. 4

aber natürlich ist es nicht dieser Moment, der auf der Photographie zu sehen ist – wer hätte da die Kamera aufstellen und den Selbstauslöser einstellen sollen (vgl. oben Abb. 1)  ? Es ist nicht die Absicht Troells, solche offensichtlichen goofs zu entlarven, und er verzichtet auf den billigen Effekt, seine Protagonisten in solchen Situationen als Darsteller ihrer selbst zu zeigen. Wenn der Film, der Spur von Strindbergs Photos folgend, den Weg der drei in die Katastrophe nachstellt, ihre zunehmende Verelendung – nur wenige Wochen trennen die ersten von den letzten Photos, und doch scheinen die Abgebildeten um Jahrzehnte gealtert – und ihr allmähliches Sterben zeigt, dann scheint er nur auf den ersten Blick den Prozess der ‚Veröffentlichung’ zu radikalisieren, indem er auch noch die zwischen den Bildern bleibenden Lücken aufzufüllen scheint. Tatsächlich unterläuft er ihn, indem er eine deutliche Differenz zwischen den Film-Bildern und den Photo-Dokumenten hervorhebt und gerade damit den Reisenden einen (Spiel-) Raum eröffnet, den sie sich in ihren Photographien wie auch in ihren anderen ‚Selbstzeugnissen‘ nur auf merkwürdig reduzierte, verschobene Weise gewähren. Eins der rätselhaftesten Bilder zeigt eine zerbrochene Gabel und daneben einen kunstvoll aus Draht angefertigten Ersatz (vgl. Abb. 4). Andrée notiert dazu in seinem Tagebuch  :

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Photographierten die Entwicklungsgeschichte unserer Gabeln. Es ist so warm, daß wir die Schlitten in Hemdärmeln ziehen. Eis abscheulich. Großes Kleidertrocknen. Ich mache Fraenkel eine neue Gabel. Die Gabeln wurden photographiert.31

Heißt das  : es wurde mehrfach photographiert  ? Oder ist die Entstehung des Photos so wichtig, dass sie mehrfach festgestellt werden muss  ? Erhalten ist jedenfalls nur dieses eine Photo, und es gibt nicht ohne weiteres den entwicklungsgeschichtlichen Kontext preis, in den der Text das Ereignis stellt. Vier Jahrzehnte nach Darwins On the Origin of Species beansprucht Andrée seinen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft, in die er auch die Photographie rückt. Aber kann diese spezielle Photographie sich anders als parodistisch zur wissenschaftlichen Photographie, zur Wissenschaft überhaupt verhalten  ? Am gleichen Tag, dem 3. August, beobachtet Andrée noch eine „rotbrüstige Möwe“ und im Eis eingeschlossenes Treibholz, bevor er dann die für die ‚Entwicklungsgeschichte’ seiner Expedition viel zu späte Erkenntnis notiert  : Wir können weder der Strömung noch des Eises Herr werden und haben nicht die geringste Aussicht, durch das ewige Weiterstapfen nach O. etwas zu erreichen. Wir sind also einig geworden, beim nächsten nächsten [sic.] Abmarsch die Richtung nach den Siebeninseln einzuschlagen. Hoffen in 6 bis 7 Wochen dort zu sein.32

Auf den Photographien bleibt von diesem Tag nur die „Entwicklungsgeschichte der Gabeln“, ein verzweifeltes Festklammern an den Regeln der Zivilisation, das es selbst in prekärer Situation undenkbar macht, mit den Fingern zu essen oder mit der Gabel eines der Kameraden. Oder sich einer Natur zu überlassen, der man nicht „Herr werden“ kann. Troell entwickelt aus diesem Tag eine lange, zentrale Sequenz, in der seine Protagonisten tatsächlich für einen „flüchtigen Augenblick“ durch eine andere Welt zu ziehen scheinen. Sie betreten sie aber nur in der Bewegung, mit der Bewegung ihrer Beine, wandernd durch eine im Wortsinne weiße, auf der Karte allein von Strindbergs arabesker Figur bezeichnete Eislandschaft, weit, unmessbar weit, entfernt von dem zurückgebliebenen Ballon wie von der Weißen Insel, die durch ihre mehrfache Entdeckung mittlerweile recht fest in der vermessenen Welt verankert ist. Ungedeckt durch die gefundenen Dokumente erzählt Ingenjör Andrées luftfärd in dieser Sequenz vom Zerbrechen der Gabel und lässt dabei für einen Moment auch die Panzer zerbrechen, mit denen sich die Reisenden umgeben haben. Er lässt sie Emotionen, Nähe und Intimität ebenso wie Angst und Unsicherheit, empfinden und artikulieren, die sie – und ihre Gesellschaft – von der Oberfläche verbannt haben und die insbesondere auf Forschungsreisen jenem rigiden Kontrollsystem namens Hygiene unterworfen wurden, mit dem die Reisenden ihre Souveränität gegenüber den bereisten 31 Andreé  : Dem Pol entgegen, S. 223. 32 Ebd., S. 224

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Ländern und ihre Teilhabe an wissenschaftlicher Disziplin zu sichern trachteten.33 Von solcher Disziplin vor allem erzählen die Photographien und erzeugen dabei jenes Frösteln, das Siegfried Kracauer der Photographie als Medium der Erinnerung zugeschrieben hat  : Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks  ; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht vorhanden.34

Anders gesagt  : Es ist nicht die Kälte des Eismeers, die frösteln macht, sondern die Kälte, mit der die Reisenden sich selbst zum Forschungsobjekt, zur Summe ihrer Äußerlich­ keiten machen. Das macht sie zu Vorboten eines Zeitalters der Sachlichkeit, das die Kälte zu ihrer Leitmetapher wählen sollte.35 Gerade Forschungsreisende arbeiten im 19. Jahrhundert auf diesen Kult der Kälte hin, und Andrée und seine Begleiter tun das nicht zuletzt in der Art, wie sie sich dem Objektiv ihrer Photokamera präsentieren. Troell aber ist an dem interessiert, was diesem Objektiv entgeht. Er folgt den Figuren dazu an den Ort, der der Photokamera von 1897 verschlossen war  : in die Dunkelheit und Enge ihres Zeltes, aber auch darüber hinaus in ihre Erinnerungen und Phantasien – so erlebt etwa Andrée jetzt, im Rückblick, die Begegnung mit seiner langjährigen Geliebten als das Idyll, das sie, vor allem aufgrund seines programmatischen, einem selbstentworfenen Konzept rationaler Lebensplanung verpflichteten Junggesellentums, nie gewesen war. Auch um das zu erleben, musste Andrée ins Eis fahren, ins Niemandsland, jenseits der letzten Grenze. Werden in solchen Erinnerungsbildern die Medien der Expedition, die Photographien und Aufzeichnungen, gleichsam medientechnisch unterboten, so setzt ihnen Troell im genuin filmischen Moment der Bewegung zugleich eine technische Überbietung entgegen. Als den Reisenden die Fatalität ihrer Lage bewusst wird – sie marschieren nach Süd­ osten über eine nordwestwärts driftende Eisfläche, so dass sie sich trotz aller Anstrengungen nicht vorwärts, sondern rückwärts bewegen –, übersetzen sie dieses Vor und Zurück schließlich in einen grotesken Tanz, der mit einem Mal alle Schwere verliert  : die an sich lebensbedrohliche Bewegung im Stillstand wird transzendiert in die Leichtigkeit eines ästhetischen Spiels in einer nun nicht mehr todesstarren, sondern wunderschönen Eislandschaft. Hier löst sich der Film zugleich von der Schwere der Dokumente, er wird zum 33 Johannes Fabian (Out of Our Minds. Reason and Madness in the Exploration of Central Africa, Berkeley/ Los Angeles/London 2000) hat herausgestellt, dass Hygiene für Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts weit mehr und anderes umfasst als Körperpflege  : ein System der Kontrolle und Selbstkontrolle, das nicht zuletzt dazu diente, einer Assimilation an die Fremde (dem gefürchteten ‘gone native’) zuvorzukommen. 34 Siegfried Kracauer  : Die Photographie [1927], in ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1977, S. 21–39, hier 32. 35 Vgl. Helmut Lethen  : Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994.

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Spielfilm, das heißt zum Produkt einer Kunst, die zwischen den Dokumenten einen nur der Phantasie zugänglichen Raum eröffnet. Den Raum, in dem der Film, und nicht nur dieser, die Entdeckungen der Vergangenheit rekonstruiert und damit der lückenlos kartographierten Erdoberfläche etwas von ihrer Naivität zurückgibt.

Bettine Menke

Grenzüberschreitungen (in) der Schrift, Exterritorialität der Pole

Die Fragestellung der Tagung möchte ich zum Anfang mit der (Um-)Akzentuierung aufgreifen, dass literarische Polar-Fahrten den Reisen im Realen je schon vorgereist sind, und diese schon vorgeschrie­­ben haben. Umgekehrt wird man stets nur dahin gereist sein, wo man schon gewesen ist  ; das ist die Melancholie des Reisens. Die ‚letzte Fahrt‘ des Ulysses geht nach der ihm von Homer doch noch gewährten Heimkehr, so Dantes Inferno, in dem Ulysses angetroffen wird, in erneutem Aufbruch über die Grenze, die die Säulen des Herkules anzeigen, hinaus in „[un] mondo senza gente“ unter die „Sterne eines anderen Pols“, wo sie an der „nuova terra“ eines gewaltigen Berges in einem vierfachen Strudel scheitern wird.1 Diese Fahrt zum Südpol im Zeichen der ‚Erforschung unbewohnter Länder‘, „l’esperïenza, / […] del mondo senza gente“ ist eine Übertretung, wie sowohl Blumenberg als auch Borges lesbar gemacht haben.2 Denn Dantes Odysseus überschreitet mit den Säulen des Herkules die „Zeichen aufgerichtet, / Damit die Menschen nicht mehr weiterführen“, und wiederholt derart den Sündenfall als, so Dantes Adam im Paradiso, „Überschreitung des Zeichens (il trapasar del segno)“.3 Dante lässt, so Blumenberg, seinen im Südpolarmeer vor einem zuvor nie erblickten Land gescheiterten Odysseus im Zwielicht der curiositas stehen, im Zwielicht von deren mittelalterlicher Verwerfung und ihrer neuzeitlichen Umwertung.4 Das „Curiositas-Schema“, das auf der Antithese des Notwendigen (necessari), was Gott schon immer gewährt, und des Überflüssigen (supervacua), alles anderen, das man darüber hinausgehend sucht, basiert, gab, so Blumenbergs Geschichte der „theore­tischen Neugierde“, Petrarcas berühmte (wohl fiktive) Besteigung des Mont-Ventoux vor, „mit dem Effekt der Zurücknahme einer zunächst freigegebenen, dann aber im Kontrast negativierten Wißbegierde“, durch den er seine „ver1 Dante  : Die Göttliche Komödie, ital. u. dt., übers. u. komm. v. H. Gmelin (1949), repr. München 1988, Inferno XXVI, V. 99–1422. 2 Hans Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil), Frankfurt/M. 1973  ; Jorge Luis Borges  : Die letzte Reise des Odysseus, und ders.: Die göttliche Komödie, dt. in  : ders.: Die letzte Reise des Odysseus. Essays (1980–1982), München 1987, S. 7–27, 152–161, hier 152f. 3 Vgl. Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 140. 4 Ebd., S. 139. Angetrieben ist das durch Neugier, Odysseus reklamiert  : „‚[…] Sollt ihr euch der Erforschung nicht verschließen, Der Sonne folgend, unbewohnter Länder […]. Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere,/ Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben. Ich machte die Gefährten so begierig/Durch diese kurze Rede auf die Reise‘“ (Dante  : Inferno XXVI, V. 99ff.).

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gleichsweise bescheidene Wanderung“, „zu einem symbolischen Unternehmen stilisiert[e], bei dem ans Sündhafte streifende Begierde und fromme Scheu vor dem Niebetretenen […] zusammenwirken“.5 Der Blick ins mitgeführte autoritative Buch, die Confessiones des Augustinus, das an der zufällig geöffneten Stelle dessen Ab-Wendung nach innen vorschreibt, führte Petrarca, dieser Stilisierung zufolge, zum beschämten Verzicht auf den durch den erhöhten Standpunkt ermöglichten Aus-Blick in die Welt und die Welt­neugier, die P ­ etrarca so sehr eröffnete, wie er sie in der Rückwendung ins Buch zurücknahm. Dasselbe Schema zeigt auch, Blumenberg zufolge, ein „Brief Petrarcas über die Lage der rätselhaften Insel Thule“, also mit direktem Bezug auf die entzogenen Polarregionen  : laß es gut sein  : was wir mit eifriger Mühe gesucht haben, ungestraft bleibt es unbekannt. Mag Thule im Norden verborgen bleiben, mag im Süden verborgen bleiben die Quelle des Nils, wenn nur mitten zwischen ihnen die Tugend festen Fuß faßt und nicht verborgen bleibt […]. Wir wollen also nicht allzu viele Mühe verschwenden an die Erkundung eines Ortes, den wir vielleicht mit Freuden verlassen würden, sobald wir ihn gefunden hätten.6

Neben Petrarcas Zurückweisung der auf das Überflüssige gerichteten Curiositas rückt die Unternehmung von Dantes Odysseus durch deren Zwielichtigkeit, die Blumenberg herausstellt, ohne zu bemerken, dass es bei Odysseus’ letzter Fahrt um eine Polarfahrt geht. Diese scheiternde Fahrt ist aber, wie J.L. Borges weiß, durch die vielfache Zitation ihres Modells der Übertretung vor allem in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahr­ hunderts der Mythos imaginärer Polar-Fahrten geworden.7 Eher denn als eine „ununterbrochene Traditionslinie“8 produzieren die Dante-Weiterschreibungen eine komplexe Textur intertextueller Verwebungen.9 Sie kommentieren, zitieren, schreiben einander weiter und fort, erzeugen in einander überkreuzenden Rückbezügen und Inanspruchnahmen jene Konstellation, die die Polar-Fahrten modelliert  : Dantes Divina Comedia (1307–20), Mercators Welt-Karten, L.V. de Camões’ Os Lusíades (1572) und J. G. Schnabels Die Insel Felsenburg (Wunderliche FATA einiger See-Fahrer […] entworffen von […] Mons. Eberhard Julio, Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüthsvergnügen ausgefertiget […]) (1731–43)  ; A. Chamissos Salas y Gomez (1829), J. F. Coopers The Monikins (1836), S. T. Coleridges The 5 Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 143. 6 Petrarca, zit. nach Blumenberg, ebd., S. 146. 7 Vgl. Borges, Die göttliche Komödie, S. 152–157  ; vgl. auch Jules Vernes Sphinx des glaces (1897) (vgl. Jules Verne  : Die Eissphinx, Frankfurt/M. 1968, S. 110). 8 So aber Joachim Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, Tübingen 1976, S. 168, 186. 9 Dantes Odysseus-Legende ist selbst ein Fall von Intertextualität, von Nachfolge vor allem Vergils und Überschreitung der Prätexte Odyssee und Aeneis, vgl. John Freccero  : Dante’s Ulysses  : From Epic to Novel, in  : ders.: Dante. The Poetics of Conversion, Cambridge/MA, London 1986, S. 136–151, hier 140–150  ; Isabel Platthaus  : Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004, S. 130f., 133  ; Borges  : Die göttliche Komödie, 15ff., 23ff.

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Rime of the Ancient Mariner (1798), E.A. Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym (1838)10 und (mit einem jeweiligen Motto aus J. Miltons Paradise Lost) M. Shelleys Frankenstein or, the Modern Prometheus (1816/1831) und H. Melvilles Moby Dick or The Whale (1851), sowie Texte Rimbauds, Baudelaires und Mallarmés11, J. Vernes Le Sphinx des glaces (1897)12, K. Laßwitz’ Auf zwei Planeten (1897)13 und (nach den Expeditionen E. H. Shackletons) G. Heyms Shackletons Tagebuch (1911) und T. S. Eliots The Waste Land (1922), sowie viele weitere. Darüber hinaus haben eventuelle Metatexte dieser intertextuellen Textur (wie der hier zu lesende) schon Vorlagen an Schriften von J.L. Borges und Arno Schmidt, die ihrerseits an dieser Textur fortgeschrieben haben. Der topos von der Übertretung, der die Neugierde modelliert, die als Antrieb geographischer Entdeckung vorgestellt und als Überbietung göttlich gesetzter Grenzen des Wissens problematisiert wird, taugt dazu, die Polarfahrt als „Scheitern am geistlichen Heil“ oder als Apokalypse auszuprägen.14 Der vierfache Wirbel am gewaltigen Berg von Dantes Pol gibt den Prototyp all jener whirlpools und Maelströme, in denen die säkulare Weltneugier der discovery geahndet wird.15 E.A. Poe – der Dante zitiert – greift auch auf Weltkarten Mercators zurück (Abb. 1)16, die Dantes gewaltigen Berg als schwarzen Felsen am Nordpol zeigen, an dem von vier Öffnungen das Wasser eingesogen wird, was den Pol „als Negativ des Paradieses“ ausweist, dem auf den mittelalterlichen Weltkarten vier Flüsse entströmten.17 Während aber das Paradies auf den T-Karten des Mittelalters lokalisierbar und aufzeichenbar war, kann es in dem, auf die Entdeckung des Kolumbus datierbaren, einen homogenen kartographierbaren Raum keinen Platz haben. Auf Mercators Weltkarte 10 In den Texten Poes The Narrative of A.G.Pym, Maelstrom und Ms. Found in a Bottle verknoten sich die Stränge  ; vgl. Manfred Frank  : Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt/M. 1979, S. 118f.; Arno Schmidt  : Zettels Traum, Studienausgabe in 8 Heften, Frankfurt/M. 1986  ; ders.: Herrn Schnabels Spur, in  : ders.: Zur Deutschen Literatur 1, Zürich 1988, S. 51–78. 11 Vgl. Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, S. 113. Baudelaire übersetzte u.a. E.A. Poes Narrative of A.G. Pym  ; eine Abbildung dieser Ausgabe findet sich in René Magrittes Gemälde La Reproduction interdite (1937), vgl.: http  ://www.boijmans.nl/en/63/rene-magritte. 12 Im korrigierenden Bezug auf Poes Narrative of A.G. Pym nimmt Verne „den legendären Polfelsen Dan­tes“ wieder auf (Frank  : Die unendliche Fahrt, S. 120). 13 Kurd Laßwitz’ Auf zwei Planeten nimmt Bezug auf Schnabel und kann in den Zusammenhang mit zwei anderen 1897 erschienenen Romanen gestellt werden  : Herbert George Wells The War of the Worlds als Zeitschriftenvorabdruck und in Frankreich Jules Vernes Le Sphinx des glaces (Rudi Schweikert  : „Nachwort“ zu Laßwitz  : Auf zwei Planeten, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1984, S. 905–1074, hier 905  ; der Nachlass von Kurd Lasswitz befindet sich in Gotha, vgl. ebd. S. 1078). 14 Vgl. Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang  ; Frank  : Die unendliche Fahrt, darin  : „Das Scheitern am ‚Heil‘, die Reise ins ewige Eis“, S. 88–102  ; u.a. 15 „Das physische Scheitern hat sein Komplement im Scheitern am geistlichen Heil.“ (Frank  : Die unendliche Fahrt, S. 49.) 16 Der auf Mercator-Karten auch eingetragene Strudel ist am Ende von Poes Ms. Found in a Bottle angesprochen  ; in Poes A Desent into the Maelstrom wird dieser an den Lofoten situiert. 17 Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, S. 27  ; vgl. Frank  : Die unendliche Fahrt, S. 111.

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Abb. 1: Rumold Mercator: Polarkarte (1595)

ist mit seiner verkehrenden Zitation des Paradieses am Pol, mit dem dunklen Berg, an dem Dantes Odysseus scheiterte, in dem als dem Läuterungsberg das Gegenstück zum eschaton erkennbar ist18, zugleich genau jener Ort markiert, der die kartographische Pro18 „Tatsächlich ist der Berg, den der Grieche sah, ehe der Abgrund ihn verschlang, der heilige Berg des Fegefeuers, der den Sterblichen verwehrt ist [Purgatorio I, 130–132]“ (Borges  : Die letzte Reise des Odysseus, S. 153f.), und den Dante betritt. Dante zufolge ist „das Fegefeuer […] Antipode der Stadt Jerusalem“ (Die Göttliche Komödie, S. 25f.; vgl. Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 141f.). Insofern ergibt die scheiternde Fahrt des Odysseus das Modell für Dantes eigenes Schreib-Unternehmen  : „Dantes Tat oder Unterfangen jedoch ist nicht Dantes Reise, sondern die Abfassung seines Buches. […] Er hatte es gewagt.“ (Die letzte Reise des Odysseus, S. 156f.) und das Erzählen Dantes belegt vorweg die Rückkehr des Pilgers (Dante). Vgl. Freccero  : Dante’s Ulysses, S. 138f., 150  ; Platthaus  : Höllenfahrten, S. 127f., 130.

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blemzone von Mercator-Projektionen war. Weil diese an den Polen den Punkt zur Linie ausdehnt, die mit der Kartengrenze zu­ sam­menfällt, so dass hier kein Territorium sich abzeichnen kann, wird der Anblick der Pole allein durch die wiederholende Abbildung der Polargebiete im Zwickel der Karte möglich. Derart werden die Pole als systematische Grenze d(ies)er kartographischen Aufzeichnung thematisiert und im Emblem der Grenze topographischer Verortbarkeit ausgeprägt. Dies wird durch eine weitere An­schließ­ barkeit von Mercators Nordpolverzeichnung unter­strichen. Wenn, wie es heißt, die Karte zeige, „wie der Ozean [umgekehrt] von vier Öffnungen am nördlichen Pol eingesogen wird“, so legt dies den „Zusammenhang mit Athanasius Kirchers Theorie von den zirkumpolaren Strömungen [nahe], nach der die Wasser durch eine Öffnung am Nordpol in einem gigantischen Wirbel eingesogen und am Südpol wieder ausgestoßen werden“.19 (Abb. 2) Abb. 2: Athanasius Kircher: Mundus subterraneus Der Pol hat derart Anschluss an die Lehre (1665) von einer unter-inner-irdischen HohlWelt, und zwar als die Übergangsstelle zur Hohl-Welt.20 Die proklamierte Hohlweltlehre  : „Die Erde ist hohl  !“ wird im 1. Heft 1993 der Zeitschrift ZeitenSchriften (noch und wieder) mit den Zugängen an den Polen verbunden, wie dies 1818 J.C. Symmes deklarierte und so berüchtigt wie populär machte (Abb. 3)21, auf den E.A. Poe Bezug nahm, worauf 19 Schweikert  : „Nachwort“ zu Laßwitz  : Auf zwei Planeten, S. 965f., vgl. Josccelyn Godwin  : Arktos. The Polar Myth in Science, Symbolism, and Nazi Survival, Kempton 1996, S. 106ff., vgl. 114. An beiden Polen befinden sich Öffnungen zum Erdinneren, in die durch gewaltige Strudel und Wirbel die Meerwasser hinein-, bzw. aus denen sie herausschießen. Eine andere vielzitierte Hohlweltlehre geht auf Edmund Haley zurück. 20 Diese unterirdischen Phantasmen sind Teil jener Unterwelt-Fahrten, zu denen auch Dantes Inferno gehört (Isabel Platthaus  : Outside Turned Inside – Conception of the Hollow Earth from Dante to Tarzan, in  : Between Science and Fiction  : The Hollow Earth as Concept and Conceit, hg. von Hanjo Berressem [angekündigt für 2011]  ; Platthaus  : Höllenfahrten, S. 45–48, 20–24). 21 Symmes tritt mit Circular No. 1, 10. April 1818 auf  : “To All the World  !/I declare the earth is hollow and habitable within  ; containing a number of concentric spheres, one within the other, and that it is open at

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Abb. 3: Captain Adam Seaborn: Section view of the earth (1820)

u.a. A. Schmidt hinwies, usw.. Derart werden die Pole als exterritoriale Orte zugleich als Er-Öffnungen und für Enthüllungen in Anspruch genommen, wird – noch einmal – der „biblische ‚Garten Eden‘“ territorialisiert, wo das im homogenen verzeichenbaren Raum der Erde ausgeschlossen ist, indem ihm ein Ort im entzogenen Innenraum der ‚erdinneren Welt‘ zugewiesen wird.22 Umgekehrt wird Laßwitz’ Auf zwei Planeten die Exterritorialithe poles 12 or 16 degrees  ; I pledge my life in support of this truth, and am ready to explore the hollow, if the world will support and aid me in the undertaking.” (zit. http  ://olivercowdery.com/texts/1818symm. htm  ; S. 1f.; 5  ; vgl. “Symmes Theory”  : “The Earth Hollow and Inhabited” (anonym), in  : Louisville CourierJournal. Nov. 27, 1883, Ebd., S. 63). Bekannt sind die literarischen Anschlüsse E.A. Poes, J. Vernes, u.a.; vgl. A. Schmidt  : Zettels Traum, S. 8, u.ö.; Godwin  : Arktos. The Polar Myth, chapt. 9  : (Symmes’ Circular) S. 109f., 112, 115 (Poe u.s.f.), 129ff.; vgl. u.a. Benjamin Markovits  : The Syme Papers, London 2004  ; Thomas Pynchon  : Against the Day, New York 2006. 22 ZeitenSchriften, Berneck (CH) Nr. 1, Nov. 1993, S. 21, 17–21, 58–60  ; „die [metaphorischen] Decken der Vertuschung [werden] weggezogen […] – und zum Vorschein kommen zwei riesige Öffnungen da, wo man uns weismacht, daß ewiges Eis einen Pol bilde“ (ebd., S. 21). Die Hohlwelt-Enthüllung partizipiert an den genannten intertextuellen Bezüge für die exterritorialen Pole (ebd., S. 18f.), bezieht sich auf die HollowEarth-Propagandisten, u.a. Raymond Bernards The Hollow Earth (1969, bzw. 1964) (ebd. S. 26–28, vgl. 58, 60)  ; zu diesen Anschlüssen, u.a. den unheimlicheren, den Nazi-Mythen von der hohlen Welt, vgl. Bettine Menke  : Pol-Apokalypsen, die Enden der Welt – Im Gewirr der Spuren, in  : Apokalypse. Der Anfang im

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tät der Pole als terrestrische Ausgangsstationen von Fahrstühlen zum Mars als Stelle des Übergangs  : transcensus und Passage in eine extraterrestrische andere Welt ausprägen. Zeichnet sich derart für die Entdeckungsfahrt das Modell der Übertretung ab, so ist dieses, das in der Forschung in der Parallele von Polarfahrt als Reise ans Ende der Welt zu eng an apokalyptische Übergänge in u-topische Pol-Reiche gebunden wurde23, struktureller zu neh­men  : Denn mit dem Modell der Übertretung wird die (Frage der) Auf­zei­ chen­barkeit und Lesbarkeit eines, noch einmal – im homogenen Raum der Entdeckungen nach Kolum­bus – auf der Fläche der Karte lokalisier- und topographierbaren (aber) exterritorialen anderen Ortes thematisiert. Partizipieren die Mythen der Polarfahrt nach Dante am Modell der (unmöglichen) Grenz-Überschreitung(en), so konnte die Übertretung der Zeichen, die Dantes Odysseus zufolge nicht überschritten werden durften, umgedeutet werden  : Weil Kolumbus die terra nuova inzwischen erreicht hatte, so Tasso nach Dante, war sie in das affirmative Paradigma der Entdeckung zu wenden.24 Im Bild der Säulen des Herkules und ihrer Weisung Nec plus ultra, die der Odysseus Dantes noch so verstanden (und missachtet) hatte, dass der Mensch sich hier nicht weiterwagen dürfe, wird das Wahr­ zeichen des neuzeitlichen gegen das bisher Gültige gerichteten Aufbruches gefunden. Das Nec plus ultra, das die Grenze markierte, wird zitierbar und plakatiert die Entdeckung als affirmierte Überschreitung, als Eröffnung des Neuen, d.i. des einen homogenen Raumes des Wissens  : Multi pertransibunt & augebitur scientia (auf dem Titelblatt De Verulamio von Francis Bacon, das die von viele Schiffen passierten Säulen des Herkules zeigt). Die Grenz-Überschreitung, die das Modell der Entdeckung, der Primarität und ihrer Un­ widerruflichkeit gibt, sollte als „wiederholbares, wenigstens imitierbares Paradigma“ aufgefasst werden.25 Das durch die Übertretung modellierte Neue wird im Paradigma der geographischen Entdeckung in der Zitation und Verschiebung des „Bis hierher und nicht weiter“ und seiner affirmativen Wendung, derzufolge gerade diese (nur vermeintliche) Grenze überschritten werden soll, in die Bewegung eines jeweiligen Plus ultra verlegt26, Ende, hg. von Maria Moog-Grünewald und Verena Olejniczak Lobsien, Heidelberg 2003, S. 311–337, hier 322  ; Godwin  : Arktos. The Polar Myth, chapt. 7–10  ; im Netz  : //www. Skepdic.com/hollowearth.html  ; // en.wikipedia.org/wiki/Hollow_Earth  ; //de.wikipedia.org/wiki/Theorie_der_hohlen_Erde. 23 So vor allem Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang. 24 Vgl. hier und zum Folgenden Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 141. 25 „Die Überschreitung der Säulen des Herkules, die Durchbrechung des ‚Nec plus ultra‘ am Beginn der Neuzeit, wollte einzig und einmalig die Grenzen zu einer noch unbekannten Wirklichkeit öffnen. Aber war die dort gemeinte ‚terra incognita‘ der endlich zu beherrschenden Natur das letzte Reservat des Unbekannten  ? […] Es sollte sich herausstellen, daß das Unbekannte, Unerschlossene noch andere Orientierungssysteme und damit andere Möglichkeiten der Grenzüberschreitung zuließ.” (Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 257f.) 26 Wie etwa August Petermann als „Wahlspruch“ zum „Stand der Nordpolarfrage zu Ende des Jahres 1874“ ausgibt (Geographische Mitteilungen, 21. Jg., 1875, S. 23–31, hier 24). Weyprecht wird darüber hinaus das vermeintliche „Bis hierher und nicht weiter“ als bloß jeweiligen Packeisstand relativieren  : „‚Bis hierher und nicht weiter‘ hat schon so mancher Polarfahrer gesagt, und sein Nachfolger ist ruhig über die Eismauern hin-

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als Übertretung, die in eine Bewegung des Aufschubs verlegt ist, ihren Aufschub je wieder erzeugt. Es ist dies eine Bewegung, die auf Dauer gestellt werden will, und in dem – im Aufschub – gegebenen Feld geo­gra­phi­scher Entdeckung zugleich an dessen Grenze im Realen wird stoßen müssen. Denn der Topos der geographischen Entdeckung ist der (noch) unbetretene ‚jungfräuliche‘ Ort. „Arktische Expeditionen sind mit der Entdeckung Amerika’s inniger verbunden, als Manche ahnen mögen“ – unterstreicht der deutsche Geograph August Petermann, der Ende des 19. Jahrhunderts als Propagandist der (deutschen) Nordpolarfahrten auftrat, in einem Beitrag zur „Nordpolfrage“ von 1868 in den von ihm herausgegebenen, seinen Namen tragenden Geographischen Mit­thei­lungen (im Perthes Verlag Gotha).27 Nach der Entdeckung des Kolumbus wurden Nordwest- und Nordostpassage als der „weiße Weg nach Indien“ gesucht, wie Julius Payer in seinem Buch über die deutsch-östereichischen Nordpolexpeditionen (1872–74)28, einem der Prä- und Intertexte von Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis formulierte  : Zur „Erreichung“ des Paradieses des Handels sollte „selbst der ver­kehr­te­ste Abkürzungsweg nicht gescheut werden […] der durch das Eis“.29 Polargebiets-Entdeckungsreisen sind als Passagensuchen Folgen der Entdeckung des Kolumbus’30 und vor allem der nach dieser in­stal­lier­ten Territorial-Politik. Denn der Vertrag von Tordesillas, der 1494 das zum Niemandsland erklärte unbekannte Territorium zwischen Spanien und Portugal aufteilt31, was eine päpstliche Bulle für immer besiegeln muss, weggefahren, die der Vorgänger ‚für die Ewigkeit gebaut‘ erklärt hatte. Der Pol ist weder absolut practicable, noch absolut impracticable.“ (Carl Weyprecht  : Die Resultate der eng­li­schen Polar-Expedition, in  : Neue freie Presse, Nr. 4388, 11. Nov. 1876  ; Teilabdruck in Petermanns Geogr. Mitth., 1876, S. 457f.) 27 Unter dem Titel Die Nordpolfrage lässt Petermann eine Übersetzung aus The proposed Journey to the North Pole von Richard A. Procter aus der Englischen Zeitschrift Temple Bar, Nov. 1867 erscheinen (Geographische Mittheilungen, 14. Jg., 1868), den er selbst einleitet, um die Gelegenheit wahrzunehmen, für eine Deutsche Expedition zu plädieren. 28 Julius Payer  : Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, nebst ­einer Skizze der zweiten deutschen Nordpol-Expedition 1869–1870 und der Polar-Expedition von 1871, Wien 1876. 29 So Payer, nach Christoph Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1984, S. 43. Ransmayr zitiert eine Fülle der Abbildungen Payers aus dem Eis  : Ransmayr, S. 47 = Payer, S. 45  ; Ransmayr, S. 51 = Payer, S. 479  ; Ransmayr, S. 53 = Payer, S. 41. 30 „Als Columbus seine erste Reise antrat, […] versprach [er] […], dass er den Osten im Westen auffinden würde. […] Da spätere Reisen gezeigt hatten, dass sich ein ungeheurer Continent von Norden nach Süden wie eine Barrière jener westlichen Reise nach Asien, welche eine so große Anziehungskraft für die Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts ausübte, entgegenstemmte, so segelten diese nordwärts mit der Absicht, die nördliche Grenze des Continents zu umfahren […], niemals haben sie die Aussicht, einen westlichen Weg nach Indien zu finden, aus den Augen verloren.“ (Petermann  : Die Nordpolfrage, S. 170) 31 Territoria nullius werden deklariert, damit sie einer „Generalbereinigung“ durch die Ziehung von „mathematischen oder Linealgrenzen“ zugeführt werden  ; zu den „völkerrechtlichen Grundlagen der Besitzergreifungen in den Polargebieten“, zu den „Anschauungen über das Besitz- und Hoheitsrecht“ vgl. K. Lampe  : Die Polargebiete in der internationalen Politik, in  : Arktis. Vierteljahrschrift der internationalen Gesellschaft zur Erforschung der Arktis mit Luftfahrzeugen, Nr. 3, Gotha 1930, S. 74–90, hier 89f.

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zwang die nicht berücksichtigten Engländer und Holländer um die „Landbarriere” Ame­ rikas herum auf die „nördlichen Routen – die Wege ins Eis“ um „dorthin“ zu gelangen, „wo alles kostbar ist und die Luft schwer vom Geruch der Gewürze“32, „ins Paradies des Handels und der Schiffahrt“ – „jenseits der Packeismauern“.33 Im einen homogenen Raum der Entdeckungen wird derart mit dem ‚Paradies des Handels‘ die heterogene Ordnung der Eschatologie zitiert, die der Ordnung der Kar­to­graphie nicht (mehr) angehört. Die Verortung der Überschreitung, als die die Entdeckung modelliert wird, wird in der langen Geschichte (des Scheiterns) der Polar-Entdeckungen nach den Suchen von Nordwestund Nordost-Passagen durch die Nord- und Südpolexpeditionen verschoben, zugleich werden auch die je paradoxen Verortbarkeiten der (jeweiligen) Un-/Er­reich­bar­keit eines Entzogenen ausgearbeitet. Während dabei zum einen (unvermeidlich) die Überschreitung in eine Bewegung des im Erreichen stets wieder Aufgeschobenen und Entzogenen verlegt und das ‚Jenseits‘ der gegebenen Zeichen-Ordnungen als ‚noch nicht‘ Betretenes relativiert wird, so wird dieses doch zum anderen auch als das Unbetretbare hypostasiert  : Wenn es Frankenstein auf der Spur des Monsters seiner ‚eigenen‘ demiurgischen  : sekundären ‚ursprünglichen‘, wiederholend verfehlten Schöpfung, ins Polareis verschlägt, so trifft er dort auf das Double seiner Überhebung im Polreisenden, den “ardent curiosity” in ein Land, “never before imprinted by the foot of man” führt.34 Die „Nordpolfrage“ wird August Petermann Ende des 19. Jahrhunderts als den „Wunsch gerade […] dahin vorzudringen, wo noch kein menschlicher Fuß gestanden hat, und das zu erreichen, was andere Menschen als unerreichbar angenommen haben“35, als Transgression mit der Metapher des ohne Fuß-Spur des Menschen Unberührten, Nicht-Beschrifteten ausprägen. Mit den Polarfahrten ins Weiße, jenen ‚im Realen‘ wie in deren (literarischen) Vor-Entwürfen und ‚Nach‘­Schriften, würde das Phantasma dieses Ortes, der (noch) ohne Eintragung des Menschen, der ohne (bereits hinterlassene) Spuren wäre, realisiert. Der von Petermann berufene „Wunsch“ fand um 1900 ‚tatsächlich‘ „das letzte Reservat“ für die geographische Lokalisierung „neuzeitliche[r] Grenz­über­schreitungen“ in den Gebieten am Pol, als jenem „Raum, der keine Spuren menschlichen Eingriffs aufzuweisen hatte“.36 Zugleich wird ein Ort konzipiert, der dem Zeichenraum selbst gar nicht mehr angehörte, der dessen Grenze oder dessen ‚jenseits‘ markierte. Das Erreichen dieses ‚Ortes‘ kann nur als Aporie gedacht werden  : denn, wäre er erreicht, dann wäre es nicht mehr dieser, wäre er schon zertreten und nicht mehr der gesuchte, würde er aufgezeichnet, ein­ge­tragen und damit lesbar, wie 32 Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 45, vgl. ebd. S. 49 u.ö. 33 Payer nach Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 43, und Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 46. 34 Mary Shelley  : Frankenstein, or, the Modern Prometheus, New York 1963, S. 15f. 35 Procter in der Übersetzung von Petermann  : Die Nordpolfrage, S. 170. 36 Helmut Lethen  : Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden, in  : Moderne versus Postmoderne, hg. von Dietmar Kamper und Willem van Reijen, Frankfurt/M. 1987, S. 282–324, hier 304  ; vgl. Blumenberg  : Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 257.

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das notwendig ist, damit er entdeckt worden sein wird, dann wäre er als Spur gegeben, und nicht mehr der Ort der Spurlosigkeit. Letzte Reservate, die dem Konzept geo­graphischer Entdeckung verblieben sind, sind in bemerkenswerter Kontinuität zu den zitierten Formu­lie­rungen Petrarcas noch immer die „Quellen des Nils“ und die Pole. Der „Stand der Nordpolarfrage zu Ende des Jahres 1874“ ist Petermann zufolge  : „Für die Wissenschaft ist es ein wahres Glück, dass der Nordpol noch nicht erreicht, die Nilquelle noch nicht entdeckt ist“.37 Das Noch-Nicht, das die Übertretung, die es nur einmal gibt, in einen Aufschub im Raum und in der Zeit verlegte, wird derart zugleich kenntlich als Drohung, als die Bedrohung des Paradigmas geographischer Entdeckung, dessen Bewegung im geometrischen und kontinuierlichen Raum, den sie eröffnete, ein Ende finden wird. Es ist die Drohung des Verspätetseins, den Anspruch auf Primarität und Selbstbegründung schon verlegt zu finden. „Ausgang des 19. Jahrhunderts sind die ‚weißen Flecken‘ auf der Erdkarte rar geworden“38,– lautet der Gemeinplatz, mit dem schon Poe die Differenz zu Defoe, der seinem Robinson noch (vermeintlich) menschen-leere Inseln in solchen Flächen an­wei­sen konnte, anzeigte.39 Polarreisen heißen – das ist ihr Gemein-Platz – der „Kampf um die letzten weißen Fle­cken der Landkarte“40, die sie wörtlicher realisieren als dies irgendeine andere terra nullius könnte. Dieser „Kampf“ will auf die Eintragung als Erster in ein jungfräuliches Territorium hinaus, das, versteht sich, dazu gemacht worden sein muss. Dies ist die Stelle, an der die Hohlweltlehre sich in die ‚Geschichte der Polar-Ent­ de­ckungs­fahrten‘ einträgt  : „Im 19. Jahrhundert beginnt eine Welle von Forschungsreisen in das gefrorene Land der Arktis. Die Welt ist umrundet, alle Karten gemacht, der Planet vermessen. Einzig jene ein­samen Wüsten der Kälte harren noch der Entdeckung.“ – so nimmt im bereits zitierten Zeit.Schriften-Heft die Vorlage der Hohlwelt-Eröffnung sich aus, die die sogenannte „wahre Gestalt“ der Erde enthüllt.41 An den entzogenen Polen, bzw. anstelle ihrer, werden jene Öffnungen situiert, die ins Innere führen, werden die ‚letzten‘ „weißen Flecken“ – sie besetzend – in Anspruch genommen  : als Übergangsort in ‚andere Welten‘, als Verortung eines a-topischen Ortes.42 So wird zum einen dem homo37 Petermann  : Stand der Nordpolarfrage, S. 23. Die Ägyptische und die polare Eis-Wüste rücken zusammen, in Poes Narrative of A. G. Pym, Vernes Sphinx des glaces. Das ‚Zu-spät‘ hieß am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal und immer noch im Bild der „Leeren Viertel der Arktis“  : „Überall gibt’s einen Amundsen, der vorher da war“ „Keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte. Die Quellen des Nil – längst erforscht. Wonach Robert Scott sich verzehrte, der Südpol, wonach John Franklin gierte, die Nordwestpassage – längst erledigt.“ (S. Löffler  : Weg­ent­deckt, in  : Die Zeit, 30.5. 1997). 38 Schweikert  : „Nachwort“ zu  : Laßwitz  : Auf zwei Planeten, S. 905. 39 Edgar Allen Poe  : Rezension zu Daniel Defoes The Life and Surprising Adventures of Robinson Crusoe (1719) 1836, in  : ders.: Complete Works, Virginia Edition, hg. von James A. Harrison, 17. Bde. New York 1902, Bd. VIII, S. 16. 40 Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, S. 21  ; Lethen  : Lob der Kälte, S. 301–304. 41 ZeitenSchriften, S.18. 42 “In 1906, William Reed published The Phantom of the Poles, in which he claimed that nobody had found

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genen Raum dessen Exterritoriales – in diskontinuierlicher Kontinuierung – eingefaltet, zum anderen aber vollzieht die ‚Enthüllung‘ eine gewaltsame Auferlegung im radikalen referentiellen Kurzschluss von der Zeichenleere in die Offenbarung, d.i. die Apokalypse (der Zeichen).43 Der Pol spannt, solange er ‚noch nicht erreicht‘ ist, ‚zuletzt‘ noch den Raum der Entdeckung auf, hält als vermeintlich letzter noch-nicht-erreichter Ort um 1900 noch immer die (und sei es) minimale Ausdehnung des Raums der Entdeckung (auf ). Ist es daher Petermann zufolge „[f ]ür die Wissenschaft“ ein „Glück“, dass der Nordpol, „z.B. […] an sich […] ein unter allen Umständen wohl wenig bemerkenswerther Punkt“, „noch nicht erreicht ist“44, so zeichnete sich vonseiten der „arktischen Forschung“ das Ende des P ­ aradigmas geographischer Entdeckung für die Polarfahrten ab. Denn für diese habe „[d]er geographische Pol […] keine größere Bedeutung als jeder andere in höheren Breiten gelegene Punkt“, so Weyprecht (vormals Kapitän der Zweiten Österreich-ungarischen Polar­ex­pedition) 1876, um diesseits des Abenteuers der geographischen Entdeckung den homogenen Raum der Wissenschaft mit einem Programm für zirkumpolare Beo­bach­tungs­ stationen durch gleichmäßig verteilte Messpunkte und vergleichbare, regulierte und wiederholbare, regelmäßige Messungen zu proklamieren und zu realisieren.45 Die Logik des the north or south poles because they don’t exist. Instead, the poles are entrances to the hollow Earth.” (//www. Skepdic.com/hollowearth.html). Die Hohlweltlehre zeichnet sich in ZeitenSchriften (1993) als ‚Lesart‘ von Prätexten ab, die zum Teil auch als die der Polarliteratur bekannt sind  : Leonhard Euler, Olaf Jansen, Jules Verne, Edgar Allan Poe, Symmes, Edward Bulwer-Lytton (ebd., S. 18f.; vor allem Symzonia, unter dem Pseudonym Seaborne (1820), Symmes’ Theory of Concentric Spheres (1826) sind die Prätexte Poes  ; vgl. Kommentar zu E.A. Poe  : Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, übers. von Arno Schmidt, Anm. von K. Schuhmann, Zürich 1994, S. 270  ; vgl. A. Schmidt  : Zettels Traum, S. 8  ; sowie  : http  ://xroads. virginia.edu/~MA98/silverman/poe/prettoc.html. Es handelt sich um die Überschreibung – etwa der Entdeckungsgeschichte der Pole (//www.Skepdic.com/hollowearth.html). Zu dieser vorwiegend amerikanischen Geschichte ist ein deutsches Pendant im Umkreis von A. Petermann aufzuweisen, vgl. Philipp Felsch  : Wie August Petermann den Nordpol erfand, München 2010, S. 182–192 (vgl. im Bildteil). 43 Die Apokalyptik ist Enthüllung als Löschung alles ‚etwas‘, damit an deren Stelle eine Offenbarung auftrete, die als Offenbarung die Ankündigung territorialisiert und verstellt, vgl. Jacques Derrida  : Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton, in  : ders.: Apokalypse, Wien 1985, S. 9–90. 44 Petermann  : Stand der Nordpolarfrage, S. 23. 45 Carl Weyprecht  : Die Nordpolexpeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebnis verglichen mit den bisherigen Forschungen auf dem arktischen Gebiete, Wien/Pest/Leipzig 1876, S. 19. „Das voraussichtliche Resultat“ jeder „kostspieligen Expedition“ wäre „eine Anzahl [bloß] vereinzelter Beobachtungsreihen, aus einer Gegend, von der ohnehin schon welche existieren, die Skizzierung eines Stückes Küstenlinie im Laufe der Schlittenreisen und im günstigsten Falle das Bewußtsein, in der Nähe des Poles gewesen zu sein.“ (Ebd.) „Vereinzelte Beobachtungsreihen haben nur relativen Werth“, daher setzt Weyprecht gegen die „bis jetzt befolgten Principien“ der „geographischen Entdeckung“, als „Endziel, dem alle Arbeit und alle Anstrengung gewidmet sind,“ sein Programm zur „Errichtung von Beobachtungsstationen rund um das arktische Gebiet, deren Aufgabe in erster Linie gleichzeitige meteorologische, magnetische und sonstige kosmisch-physikalische Beobachtungen mit gleichen Instrumenten nach gleichen Instructionen wäre.“ (Ebd., S. 38–40)

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derart verabschiedeten Paradigmas der geographischen Entdeckung macht umgekehrt Karl Krauss für das im Moment seines Auslaufens anlässlich der Nord- und Süd-PolErreichungen so hysterisch bediente Modell sarkastisch kenntlich  : „[D]a oben noch ein paar Quadrat­meilen […], die ein menschlicher Fuß nicht betreten hatte“, das ist, so Kraus, das „Paradigma aller Begehrlichkeit“, wenigstens das der geographischen Entdeckung, das „Ulti­ma Thule der Neugierde“ und „Ersatz für das verlorene Paradies“ als das „vorent­ haltene” „letzte Endchen“, das nur enttäuschen könnte, würde es erreicht  : undankbar wie der befriedigte Idealist nur sein kann, zögert er nicht, der jungfräulichen Natur die Achtung zu versagen, sobald sie seiner Werbung sich ergab. Ich war enttäuscht  ! rief Herr Cook, und nannte das Idol der Menschheit einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also ein Etwas, das ärmer ist als Nichts, eine Krücke der Erfüllung und [vor allem aber] eine Schranke der Vorstellung.46

Dagegen setzt Kraus aber keineswegs auf den Vorbehalt, auf die „Reservation“ eines letzten nie-betretenen „unnahbar[en]“, abbildlosen „un­photo­gra­phierte[n]“ „geheiligt[en]“ „Territorium[s]“47, sondern auf die „Duplizität“ der „Versicherung, man komme vom Nordpol“, von Cook wie von Peary (1908, bzw. 1909), die Kraus als das ironische Glück zu verstehen gibt, „daß er nämlich – doppelt – nicht entdeckt wurde“. Kraus zufolge konnte die Frage nur sein  : „Wer hat zuerst den Nordpol nicht entdeckt  ?“48 Jeder, der ihn ‚entdeckte‘, wird nie das betreten (und eingenommen) haben, was dieser als der exterritoriale unerreichte Ort gewesen sein sollte, sondern je schon eine Überschreibung vollzogen haben. Dies wird durch die Duplizität explizit, die sich, wie Kraus ein paar Jahre später feststellen konnte, am anderen Pol mit Amundsen und Scott als die „Duplizität der Duplizität der Fälle“ wiederholte.49 Die ‚noch‘ unergründeten Polregionen wurden dem räumlich absehbaren Ende des Paradigmas der Entdeckung entzogen, indem sie im 19. Jh. und danach zum topos des absolut Entzogenen umgedeutet werden. Das geschieht etwa durch Entwürfe von Pol-Reichen, die wie in der und als Apokalypse (der Zeichen) einen letzten unbetretenen anderen (Nicht-)Ort einnehmen. Aber auch im leeren Punkt, der der Pol ist, wird der atopische Ort lokalisiert. Er ist der nur als fiktiver Koordinatenschnittpunkt gegebene Punkt, so E. Peary, einer der konkurrierenden Nordpol(nicht)entdecker (1910), “where that imaginary line known as the earth’s axis […] intersects the earth’s surface”, der im Realen der räumlich46 Karl Kraus  : Die Entdeckung des Nordpols, in  : Die Fackel, Nr. 287, S. 1–14, hier 3. 47 So aber etwa Albert Ehrenstein  : Wudandermeer, in  : Gedichte und Prosa, hg. von K. Otten, Neuwied/Berlin 1961, S. 368. 48 Kraus  : Die Entdeckung des Nordpols, S. 8, 5, 3, 6  ; vgl. ders. in  : Die Fackel, Nr. 309, S. 30. 49 In  : Die Fackel, Nr. 345, S. 9.

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aus­ge­dehn­ten Körper, des Gestöbers des Schnees, der knappen Zeit, des Nebels der ungenauen Mess­ergebnisse kaum iden­tifizier­bar nie (sicher) erreicht wurde.50 Der abstrakte „schwarze Punkt nicht größer wie ein Nadelkopf“ ist Phantom des (sich-entziehend fortziehenden) „Geheimnis[es]“, so G. Heyms Die Süd­pol­fahrer (1911).51 Er ist der imaginäre Punkt, an dem alle Koordinaten räumlicher Orientierung aus­ge­setzt sind und kollabieren, wie E. Peary seine ‚Entdeckung‘ vorstellt52, „Un­ste­tig­keitspunkt“ und „Indifferenz­punkt aller Be­stim­mungen“, den K. Laßwitz’ Roman Auf zwei Planeten (1897) phantastisch ausbuchstabierte.53 Modell der Polarfahrt ist das Vordringen in jene Regionen, die ‚noch‘ „kein menschlicher Fuß“ betrat, an die zuletzt ‚noch verbliebenen‘ „weißen Flecken“ der Landkarten, die die Polargebiete wörtlich realisieren. Aber das gesuchte Gebiet der Spurlosigkeit, der Unbetretenheit wird doch stets mit einer überreichen Ausstattung an Mythen und Prätexten, Kon­struk­tio­nen, Modellen und ‚Bildern‘ aufgesucht. Das Polargebiet wird als der Ort ‚jenseits‘ aller Ein­tra­gungen schon immer in den Spuren von ‚Vorgängern‘ begangen. Expeditionen gehen, so W. Bölsche in einem seiner populärwissen­schaft­lichen Texte, ‚Phantomen‘ wie „Vorexistenzen“ nach­, um diese, so jedenfalls Bölsche, doch zu ‚überwinden‘, ‚auf­zu­lösen‘, so „melancholisch“ dies auch mache54, das heißt aber  : diese zu überschreiben. 50 Für Edwin Pearys Brei­ten­be­obach­tungen in seinen 30 Stunden am Pol, vgl. ders.: The North Pole, with an Introduction by Theodore Roosevelt, o.O. 1910, S. 258ff., 261ff. u. Appendix II  : Facsimiles of original observations by Marvin, Bartlett, and Peary and of certificates by Marvin and Bartlett, respectively, during the sledge journey to the pole, 308ff. Cook und Peary, die beide die Erreichung des Nordpols für sich in Anspruch nahmen, wird diesen beiden abgesprochen werden, weil ihre Positionsbestimmungen und Messungen unzureichend oder fehlerhaft gewesen seien. Eine amerikanische Kommission überprüfte Pearys Aufzeichnungen und Instrumente und bestätigte ihn  ; eine „erneute Prüfung seiner Beobachtungen durch einen fachmännischen Ausschuß, ergab, daß Peary an seinem fernsten Punkte immer noch 18 bis 32 km vom Pol entfernt gewesen sei“ (Kurt Hassert  : Die Polarforschung, Leipzig/Berlin 1914, S. 100). 51 Georg Heym  : Die Südpolfahrer, in  : ders.: Der Dieb (1913), in  : Dichtungen und Schriften, hg. von Karl Ludwig Schneider, München 1960–68, Bd. 2 (1962), S. 123. Von „Phantom-Jagd“, auf die „das sofortige Erreichen solcher Kernpunkte […] gewiss in vielen Fällen […] hin­aus­laufen“ werde, spricht auch der Geograph Petermann  : Denn „selbst bei den heutigen Leistungen der Astronomie bleibt es abzuwarten, ob [der Punkt] so leicht zu finden, seine Lage mit einiger Sicherheit bestimmt werden kann“ (Petermann  : Stand der Nord­polar­frage, S. 23)  ; das belegt der Streit um die Erst-Erreichung des Nordpols der konkurrierenden Cook und Peary. 52 “It was hard to realize that, on the first miles of this brief march, we had been travelling due north, while, on the last few miles of the same march, we had been travelling south, although we had all the time been travelling precisely in the same direction […]. East, west, and north had disappeared for us. Only one direction remained and that was south … Where we were, one day and one night constituted a year.” (Peary  : The North Pole, S. 259ff.). 53 Laßwitz  : Auf zwei Planeten, S.  18–22. „Hier gibt es keine Himmelsrichtungen. Hier gibt es auch keine Tageszeit. Hier gelten also entweder alle Grundsätze zusammen oder gar keine“ (ebd., S. 18). 54 „Wer die Karte zur Hand nimmt und sich die Linie der Nansenschen Fahrt einträgt, der gewahrt, dass der Raum des Unbekannten schon jetzt zu eng ist, um dem alten Taume noch eine Stätte zu lassen. […] Wieder einmal ist eine Fata Morgana, ein trügerisch-verheißungsvolles Scheinbild der Erdkunde gefal-

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Umgekehrt generieren Polar­ex­pe­ditionen, vor allem ihr Scheitern und Verschollen-Gehen, Nachfahrer oder gar (wie im Falle der letzten Ex­pe­di­­tion Franklins) Scharen von ihnen.55 Spuren sind durch die Prätexte (oder Vor-Fahrer/n), denen jeder Text und jede Reise nur folgen kann, je schon hinterlassen worden. Durch seine intertextuelle Ver­fasstheit dementiert das Polargebiet das, was in ihm aufgefunden werden sollte  : der Ort ohne Spuren, der topos der Spurlosigkeit. Entdecker sind gejagt von der Angst des Verspätet­seins, die durch die vorgefundene Spur, die ein anderer hinterließ, die den Nachfolgenden zu seinem Double macht, wahrgeworden sein wird. Der fantasmatische „jungfräuliche Pol,/Den wir als die ersten betreten“, ist „einmal endeckt“ nichts  : „Eine Stange mit einer Fahne daran./Der Pol ist bereits ent­deckt  !/Ein anderer ist schon hier­ge­wesen. […] So mordet dir den Zweiten der Erste“, heißt es in R. Goerings Süd­pol­drama.56 Mit der Spur des anderen begegnet Scott die Einschreibung als Befleckung  : „Was siehst du  ? Bowers  : Dort  ! Grauenhaft  ! Furchtbar  ! Wilson  : Ein schwar­zer Fleck. Scott  : Im weiten Weiß […] O Gott  ! O ihr  !

len. / Wer die Geschichte dieser farbenreichsten aller menschlichen Wissenschaften verfolgt, der sieht durch alle Jahrhunderte solche Bilder auftauchen. Sie verschweben zu Nichts, wenn die ernste Arbeit des Forschers sich eng an sie heranringt. Aber in ihrem bunten Schein sind sie oft so reizvoll, gleichsam im künstlerischen Sinne, dass man die Mühe übersieht, mit der sie überwunden werden mussten, und fast ein melancholisches Mitgefühl verspürt, dass jene mühsame Arbeit sie überwand. In unserem Jahrhundert beispiellos energischer Erdforschung beginnt es den luftigen geographischen Phantasiegebilden an Raum zu fehlen – eins nach dem andern löst sich auf. Überall fester Horizont [!] und keine Fata Morgana mehr, die der Menschengeist in märchenfroher Stunde frei ersann, weil sein Auge nicht bis zum wahren Horizonte trug … / Im strengen Sinne ist heute nur ein einziges Gebiet der Erde noch im unbestrittenen Vollbesitze des große Zaubers, der von der Ungewissheit, ob Fata Morgana, ob Wirklichkeit, seit alters in der Geographie ausgeht. / Es ist das äußerste Südende unseres Planeten. / […] dieser Südkontinent – eingeengt in die innere Region des ewigen Polareises der Südhalbkugel, aber immerhin der Möglichkeit nach noch größer als Europa oder Australien – [hat] ‚gelebt‘ […] als Phantasiegebilde in zahllosen Köpfen fast seit den Anfängen aller wissenschaftlichen Erdkunde überhaupt. Und die Geschichte dieser Vorexistenz von gleichsam ideeller Art bildet, wie immer die Dinge sich nun einst in Wahrheit klären mögen, an sich einen äußerst spannenden Roman.“ (Wilhelm Bölsche  : Das Geheimnis des Südpols. Ein Kapitel aus Wahrheit und Dichtung der Erdkunde, in  : Vom Bazillus zum Affenmenschen. Naturwissenschaftliche Plaudereien, Jena 1904, S. 121–155, hier 121f.). 55 Dieses Muster führt Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1988) aus  : der Protagonist Mazzini fährt als Nachfahre in den Spuren der Expedition Payers und Weyprechts  ; es ist das Model der Polarfarten  ; vgl. Bettine Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher, in DVjs 74, 2000, H. 4, S. 545–600. 56 Reinhard Goering  : Die Südpolexpedition des Kapitän Scott, in  : ders.: Prosa, Dramen, Verse, München 1961, S.  505–560, hier 512. Amundsens Männer pflanzten ihre Fahne auf und ließen „ein kleines Zelt“ „stehen, / Drin ein Brief für den Nachfolger. / Dann traten sie mit zwei Schlitten und sechzehn Hunden den Rückmarsch an.“ (Ebd., S. 525  ; 523) Vom Scheitern, das die Verspätung war, rührte das Interesse an Scott her (für die Bezugnahmen von Benn, Eich u.a. vgl. Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, S. 106ff.).

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O ich  ! O Gott  ! O Tod  ! O grauen­voll, ent­setz­lich.“57 Derart wird zum einen mit der Logik der Pol-Entdeckung die Verspätung allen Schreibens, das ein Nachfahren in den Spuren von Vorgängertexten ist, zur tödlichen Drohung.58 Der Spuren-Leser ist der bloße Nachfahre(r), dem die Primarität bestritten ist, der in den Spuren eines anderen Folgende, Ver­spätete. Zum andern aber macht sich eben der in den Spuren eines anderen schon Verspätete, nachfahrende und zuweilen nach­schreibende Nachfahre, zum Ersten, indem er als Nachfahre(nder) den Vorgänger-Text über­schreibend und überschreibend überbietend, die durch diesen ‚gesetzte‘ Grenze über­schreitet. Nur derart, so wird absehbar, wird er den versagten oder verstellten exterritorialen Ort, der als weiße unbetretene Fläche gesucht wird, nachträglich betreten, also insofern dies gerade unmöglich ist und diese bereits durchquert wird. Das Modell eines Schreibens in Nachfahrenschaft führt für die Polarfahrten ­Jules Vernes Le Sphinx des glaces (1897) als Lektüre­re­lation zu E.A. Poes The Narrative of A.G. Pym (1838) aus. Poes Narrative gibt das ‚Erreichen‘ des Ziels durch das Verschwinden des Erzählers wieder bzw. modelliert es durch seinen Entzug ins Ungewisse  ; wo das Erzählte im Abbruch des Erzählens sein Ende findet, wird damit dort, wo der heimgekehrte Erzähler vorgreifend eine Lücke schloß und derart die Erzählung erst ermöglichte59, ein Loch am Ende des Erzählten wie rückwirkend am Anfang des Erzählens hinterlassen. Dieses Verschwinden hat Nachfahren als Double des Erzählers eingesetzt.60 In diesem Sinne, als die Vorschrift für eine Nachreise, liest Vernes Le Sphinx des glaces Poes Narrative und schreibt dessen Text fort, der innerdiegetisch als die explizite Vorlage der erzählten Reise gelesen, das ist referentialisiert wird. Der Schreibende bestimmt sich hier als der Nachfahre im mehrfachen Sinne  : Auf den Spuren eines anderen, realisiert er die Nachfahrenschaft des Schrei­benden auf der Spur seines „Vorläufers“, den er dazu erst gemacht haben wird. Vernes Schrei­ben folgt nach in den Spuren des Vorfahren und des schon Kar­togra­phierten, um die„weißen Flecken auf der Landkarte“, nicht nur „sorgsam“ zu inventarisieren und 57 Goering  : Die Südpolexpedition des Kapitän Scott, S. 520. 58 Das fasst Harold Bloom als The Anxiety of Influence (Oxford 1973) auf, die Angst vor der Sekundarität, deren Abwehr in der agonalen Interaktion mit den Vorläufer-Texten die literarischen Texte seit dem 18. Jahrhundert strukturiert. 59 Wie Dantes Divina Commedia eine Ablösung vom Vorgänger Vergil (innerdiegetisch  : am Läuterungsberg) als Überbietung vorstellte, so stand bei Dante der Ich-Erzähler für das gute Ende der Reise (des Pilgers)  : des Auswegs aus der Hölle ein (vgl. Freccero  : Dante’s Ulysses, S.  138f., 150  ; Platthaus  : Höllenfahrten, S.  130f.), während Poe die analoge Anlage gerade nicht aufgehen lässt und seiner Narrative damit eine Zone der Unlösbarkeit einträgt. (Doch auch Dante wird die [christliche] Schließung, der der Text wie der Durchgang durchs Inferno bloßer Umweg wäre, zugleich wieder in den Umweg der Erzählung und des Textes entlassen  ; vgl. ebd., S. 127, 135f.). 60 So neben J. Vernes Sphinx des glaces, vor allem  : C. A. Drake  : A Strange Discovery (1897), Howard Ph. Lovecraft  : At the Mountain of Madness (1931), in  : At the Mountains of Madness and other Novels, Einl. von August Derleth, London 1966, S. 1–100  ; Bezugnahmen und Zitate S. 5f., 91f., 100.

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Abb. 4: Jules Verne: Le sphinx des glaces (1897)

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die ‚be­kann­ten Tatsachen‘ fortzuschreiben61, sondern um sich damit – in den Spuren des/r Vorgänger(s) – fort-schreibend  : überbietend überschreibend als Erster einzutragen, wo der Vorgängertext nicht hinkam. Das kann er nur als Zweiter, der den toten Vorgänger, Pym, auffindet. Dadurch bestätigt er zwar im Erzählten die Hypothese von der tatsächlichen Polfahrt des Pym, dessen Reisebericht mit Poes Text vorliege, dementiert aber zugleich, mit diesem Ende (der Welt und der Erzählung), wo er den Magnetberg erreicht, nicht nur den Inhalt des Vorgängertextes, dem die Reise als ihrem Reiseführer folgte, sondern damit auch die Mög­­lichkeit jenes Textes (Pyms/Poes), dem die Reise, die Vernes Text erzählt, doch nur gefolgt sein will. Die Be- und Überschreibungen der durch die Vorgängertexte und -karten lokalisierten ‚weißen Fläche‘ zeigen die J. Vernes Le sphinx des glaces beigegebene Karte (Abb. 4) wie des Kartographen A. Petermanns Projektion des Nordpolargebiets (Abb. 5).62 Noch nach allem, und sei es noch so wiederholten, vermeintlichen ‚Er­rei­chen der Pole‘ soll das datenlose Gelände, das als solches nur im Register der Aufzeichnungen zu situieren ist, im referentiellen Kurzschluss von der Da­ten­leere (im berechneten Höhenprofil) aufs Loch (im Realen), die Öffnung in die innere Hohl-Welt zur Gewissheit werden lassen (Abb. 6)63  : „Jetzt ist die Zeit, wo die Decken der Vertuschung weggezogen werden – und zum Vorschein kommen zwei riesige Öffnungen da, wo man uns weismacht, daß ewiges Eis einen Pol bilde.“64 Die Enthüllung als apokalyptische Geste des Sturzes aller Zeichen und der territorialisierenden Offenbarung (vermeintlich) ‚jenseits‘ aller Zeichen wird sich anstelle der vermeintlichen Datenleere, die apokalyptisch inszeniert wird, allerdings (wie immer) als Lektüren, Zitationen und Umschreibungen von Vorgänger-Texten vollziehen.65 Die Ent61 „und sie mit fabelhaften Geschichten, die in der Verlängerungslinie bekannter Tatsachen liegen, aus[zu] füll[en]“, so Michel Butor über Jules Verne (Die Krise der Science-Fiction, in  : ders.: Essays zur modernen Literatur und Musik, München 1965, S. 220–232, hier 223). Bölsches bereits zitierter „so verwicklungsreiche[r] Roman] vom ‚Südkontinent‘“ führt das Zusammenspiel von ‚tatsächlich‘ Vor­ge­fun­de­nem, abgesegelten Küstenlinien und theoretischen Forderungen, Modellbildungen, Phantomen vor (Bölsche  : Das Geheimnis des Südpols, S. 121–123). 62 Vgl. Petermanns Weltkarte in Polarprojektion in Felsch  : Wie August Petermann den Nordpol erfand, S. 177, und im Bildteil (dort Petermanns Übermalungen von T. Malby and Son, A Map of the North Polar Sea exhibiting the Plan of Search for Sir John Franklin, 1850, 1852). Auch für die Poe-Fortschreibung von Lovecraft wurde eine Karte nachgeliefert von Jason C. Eckhardt (1986), die im weißen Innenraum der Antarktis die Mountains of Madness verzeichnet (in  : Lovecraft. Schatzmeister des Verbotenen, hg. von Wolfgang H. Müller, Bergen/Dumme 1993  ; vgl. Menke  : Pol-Apokalypsen, S. 330). 63 „Ein Bild, wie es die Zeitschrift GEO kürzlich veröffentlichte  : Der Nordpol, vom europäischen Fernerkundungssatelit ERS-1 auf­ge­nommen. ‚Für den Zentralteil liegen keine Daten vor, da ERS–1 nicht direkt über den Pol fliegt.‘ Die datenleere Fläche beginnt ziemlich genau am 83. Breitengrad, da wo das ‚Loch‘ sich erdeinwärts neigt. Zufall  ? Das Relief unten zeigt ein vom Computer berechnetes Hö­hen­pro­fil der Antarktis. Auch hier  : Ein datenleeres Loch in der Mitte – auch es beginnt am 83. Breitengrad.“ (ZeitenSchriften, S. 18) 64 ZeitenSchriften, S. 21. 65 Die Fortschreibung von und die Gebundenheit an die um-schreibende Lektüre von Vorgänger-Texten, vgl.

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Abb. 5: August Petermann: Karte der Arktischen & Antarktischen Regionen (zur Übersicht der Entdeckungsgeschichte) ZeitenSchriften, S. 18f.; 21  ; 26ff., jetzt vor allem im Netz, u.a. //www.Skepdic.com/hollowearth.html, vgl. Menke  : Pol-Apokalypsen, S. 321–326.

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deckung muss, als die nachfahrende Überbietung, die sie ist, die „weißen Flecken“ jungfräulicher Flächen installiert, deklariert und lokalisiert haben, um sie (als Erster) zu beschreiben. Im Nachfahren wird dort, wo der Vorgänger abbrach oder sich verlor (um eben dadurch sein Ziel erreicht zu haben, was – schon bei Poe selbst – mindestens den Erzähler als Double einsetzt), eine korrigierende Fortschreibung und anstelle des Abbruchs, in dessen Überschreitung und Überschreibung, ein ‚etwas‘ eingesetzt  : der südpolare, topische Magnetberg und die Sphinx als Emblem des Rätsels der Pole – oder aber das (alles-versprechende, weil den homogenen Raum diskontinuierende) Loch. Auch Georg Heyms Das Tagebuch des Shackleton (1911) sucht in den Spu- Abb. 6: Die Erde ist hohl (ZeitenSchriften, November ren des überbotenen, eines zum bloßen 1993) Doppel erklärten Shackleton den Ort eines Abbruchs auf, um in Überschreitung des durch diesen Vorgänger gesetzten Grenzmals ein geheimes Pol-Reich zu erreichen. Heyms Tagebuch des Shackleton doppelt die Reise des Shackleton in der des fiktiven Herausgebers auf den Spuren Shackletons, und es doubelt einen Vorläufer-Text, das Expeditions-Tagebuch des Ernest Shackleton The Heart of the Arctic (1909), das unter dem Titel 21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der historischen Südpolexpedition 1907/8 in deutscher Übersetzung 1909/10 erschienen war. Diese Vorlage bringt, indem sie im Tagebuch Shackletons zitiert und fortgeschrieben, zur Fälschung erklärt und korrigiert wird, einen Doppelgänger hervor  : Heyms „Tagebuch“ über­schrei­tet mit der Südpolar-Expedition, die es zu dokumentieren vorgibt, jene Grenze, die durch den von Shackleton 1907/8 unternommenen Versuch, den Südpol zu erreichen, und dessen Abbruch 21 Meilen vor dem geographischen Pol66, weil nur so zu hoffen war, mit dem verbliebenen Proviant die Rückkehr zu 66 Shakleton zufolge  : „9. Januar. Und nun hinaus und vorwärts zum Sturme. Marsch  ! Marsch  ! Auf 88° 23’ südlicher Breite und 162° östlicher Länge schoben wir den Riegel vor. Um 1 Uhr morgens ließ der Wind nach und schon um 2 Uhr nahmen wir unser Frühstück. Um 4 a.m. brachen wir nach Süden auf  ; wir hatten nichts weiter bei uns als den Union=Jack der Königin, einen Messingzylinder mit Siegeln und Dokumenten, Kamera, Fernglas und Kompaß. Um 9 a.m. hatten wir, halb laufend, halb marschierend, 88° 23’ südlicher Breite über eine durch den letzten Schneesturm stark gehärtete Oberfläche erreicht. An dieser Stelle hissten wir die Standarte Ihrer Majestät der Königin, dann die Nationalflagge und nahmen im Namen des Königs

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schaffen, präzise angegeben ist  : Am 10. Januar, an dem Shackleton und die drei anderen der South Party der Nimrod-Expedition nach der Umkehr in den eigenen „Fußspuren“, „unserer Fährte“, so Shackleton, auf dem Rückmarsch waren67, beginnt korrigierend fortschreibend Heyms ‚echtes‘ Tagebuch seines Shackleton, der abweichend von seiner Vorlage, die Gabelung möglicher Welten öffnend, den Weg nach Süden fortsetzte68  : Hinter mir hinaus bis an den Rand des Horizontes, der durch die antarktische Luftspiegelung mir seltsam nahe gerückt schien, sah ich die Spuren der Schlittenkufen verlaufen. Und an ihnen entlang ging der weite Weg an das Schiff, an das Meer, in warme menschliche Regionen. Bis hierher war der Mensch gekommen, hinter seinen Idealen her, unter entsetzlichen Leiden, Frost-Wunden und Hunger, ein Blinder der einem wahnsinnigen Führer dreintappt […] in einförmigem Trott, wie ein Zug sibirischer Sträflinge wandern wir geradeaus dem weißen Mond entgegen, der wie die Larve eines Gespenstes am blauen Himmel aufgehängt war.69

Die Überschreitung im wiederholenden Nachfahren ist durch den Bezug auf den Prätext datiert und präzise auf „88° 23’ südlicher Breite“ lokalisiert70, dies ist die Stelle, an der ein, wie die Generalkarte der Expedition Shackletons zeigt (Abb. 7), eng ge­wor­dener Zwischenraum für Entdeckungen um-lesend-schreibend als Zone des Unbetretenen/Unbetretbaren angewiesen wird. Heyms Tagebuch lässt aus die­sem Raum, jenseits der Grenze, der seinervon diesem Plateau Besitz. […] Wir hielten uns nur wenige Minuten auf  ; der Zylinder wurde an dieser südlichsten Stelle niedergelegt, dann die armselige Mahlzeit vertilgt und zurück ging es in Eilmärschen.“ (Ernest Shackleton  : 21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der historischen Südpolexpedition 1907/8, Berlin o.J. [1910], 3 Bde., Bd. 1, S. 470). Die Po­si­tions­angabe 88° 23’S 162 °O – die Entfernung zum Pol wird mit 97 (bis 101) geographische Meilen (ca. 180 km) angegeben – wurde (wie immer) bezweifelt (vgl.:// de.wikipedia.org/wiki/Nimrod-Expedition  ; zuletzt abgerufen am 26. März 2010)  ; verifiziert wird auch in diesem Falle die erreichte Breite von einem Nachfolgenden (Scott). 67 Shackletons Eintrag am 9. Januar endet  : „Glücklicherweise waren unsere Fußspuren durch den Schneesturm nicht verwischt worden. Und nun heimwärts  ! Mag uns dies auch dauern, doch wir haben unser Bestes versucht  !“. Das nächste Kapitel „Der Rückmarsch“ beginnt  : „10. Ja­nuar. Aufbruch um 7.30 bei leichtem Winde. Mit nur einstündiger Mittagsrast marschierten wir den ganzen Tag und waren abends 29,790 Ki­lo­ meter nördlicher. Es war wirklich ein Segen für uns, daß der Sturm unsere Fährte nicht verweht hatte“ (21 Meilen vom Südpol, Bd. 1, S. 472/3). 68 „Ich nehme an, daß das Tagebuch Ernest H. Shackletons das des wahren ist bis dahin, wo die Expedition unter 88°7’ ihr letztes Lager aufschlug, ehe sie den forcierten Angriff nach Süden unternahm, der sie angeblich bis 88°23’ führte. Ich nehme […] an, daß da, wo die Expedition nach dem Pseudolager gewendet hat, sie in der Tat noch nicht gezwungen war, umzukehren, daß sie vielmehr ihre Route südwärts noch fortgesetzt hat, und daß sie dabei in Gebiete gekommen ist, die von intelligenten Wesen bewohnt wurden. […], daß die vier Männer, die am 28. Februar 1909 wieder in das Lager am ‘Cape’ Royds zurückkamen, nicht dieselben waren, wie die, die es am 29. Oktober 1908 verlassen hatten.“ (So der fiktive Herausgeber in G. Heyms  : Das Tagebuch des Shackleton, in  : ders.: Dichtungen und Schriften, Bd. 2, S. 124–143, hier 129). 69 Ebd., S. 133–137. 70 Ebd., S. 137.

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Abb. 7: Ernest Shackleton: Generalkarte mit den von der Expedition vorgenommenen Forschungsreisen und Vermessungen

seits durch ein Double, die „Larve eines Gespenstes“ bezeichnet ist, einen Doppelgänger Shackletons hervorgehen  : den um- und heimgekehrten Shackleton, der u.a. The Heart of the Arctic verfaßte.71 Heyms Das Tagebuch des Shackleton doubelt einen Text und usurpiert des71 Heyms Text reliteralisiert die Metapher „hinter seinen Idealen her […], ein Blinder[,] der einem wahnsinnigen Führer dreintappt“ (Tage­buch des Shakleton, S. 133) im sog. ‚wahren Shakleton‘ und generiert umge-

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sen Stelle, die Stelle der Primarität. Im um- und überschreibenden Nachfahren des Heymschen ‚wahren‘ Shackleton wird ein jungfräuliches Territorium eingenommen wor­den sein. Dies wird er­mög­licht dadurch, dass (da der echte Shackleton nicht zurück­ge­kommen, der heimgekehrte ein anderer, ein falsches Double sei)72 sich schon je­mand nachreisend auf die Spur dieser (nicht durch die Rückkehr abgeschlossenen) Reise gesetzt hat. Der Text des Heymschen Shackleton erhält einen fiktiven Herausgeber H.H.H. Hannawacker73, dessen Vorrede behauptet, bei den zurückgekehrten Polarforschern handle es sich um seelenlose Doppelgänger, wie durch das von ihm am Südpol aufgefundene ‚echte‘ Tagebuch bewiesen wird74, und der dem fiktiv ‚echten‘, am Südpol verbliebenen, Shackleton nachreisend durch das Auffinden des sog. ‚echten‘ Tagebuchs, das er „aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings“ genommen haben will, ermöglicht haben wird, dass wir das ‚echte‘ „Tagebuch des Shakleton“ lesen. Nachträglich wird ein Vorläufer etabliert worden sein, nachträglich erst wird eine Spur zur Spur des ‚Ersten‘ geworden sein75, durch das zweite Aufsukehrt das Doppel, das nichts will als „rückwärts, rückwärts, fort­laufen, fortlaufen […] an das Schiff […] und nach Hause kommen“ (134), in dem der tatsächlich heimgekehrte Shakleton zu erkennen ist  ; so reisten die Expeditionen im Realen Phantomen nach, um sie vermeintlich als „Gespenst“ zu vertreiben (Bölsche  : Das Geheimnis des Südpols, S. 130). 72 Auch im Falle von Poes Narrative of A.G. Pym, eine andere Vorlage Heyms, ist die Rückkehr des Protagonisten fraglich  ; er sei zurückgekehrt, verstarb aber kurz vor Fertigstellung des Manuskripts, so dass einige Kapitel fehlen. Vernes Fortschreibung straft in diesem Punkte Poes Narrative Lügen, da die nachreisende Expedition Pym am Magnetberg des Pols findet. Der Erzähler auch von (fiktiv) autobiographischen Erzählungen ist immer ein anderer. 73 Als Autor ist er kenntlich, da „[v]om selben Verfasser“ weitere Werke nachweisbar sind  : „die Entdeckung des Südpols und die Auffindung der Leichen Shackletons und seiner Freunde. 326. Auflage“, und „Das Reich des Südpolarmenschen/204. Auflage. London 1925“ usw. (ebd., S.130)  ; „Das Tagebuch des Shakleton“ wird mit der 125. Auflage datiert auf 1925. 74 Damit bezieht er sich (das doppelt die Doppelung) auf einen fiktiven wissenschaftlichen Vorläufer, der die Rückkehrer als „technisch so glänzend ausgeführte[ ] Golems“ oder „automatische Intelligenzen“ erklärte, wofür Autoritäten berufen, fiktive wissenschaftliche Werke nachgewiesen und eine mathematische Formel „zur Transplantation des Gedächtnisses, des Charakters, der Bildung eines Individuums auf den Golem“ angeschrieben werden (Heym  : Tagebuch des Shakleton, S.  125f.). Dieser Vorläufer wird nun durch die Befunde Hannawackers nachträglich ins Recht gesetzt. Die Auskunft, ein solcher Golem sei nicht länger als neun oder zehn Jahre lebensfähig, verweist auf die zukünftige Beglaubigung des zitierten Wissenschaftlers  : „Wenn aber die Shackleton, Adams, Marshall, Wild spätestens im Jahre 1919 gestorben sind, so werde ich glänzend gerechtfertigt sein.“ (Ebd. S. 128) Eine solche nachträgliche Etablierung von Vorläufern, auf die eine Lehre sich beruft, zeigen auch die Hohlweltlehren, mit der bekannte Vorläufer nicht nur zitiert werden, sondern etwa der als Polarforscher berühmte Richard E. Byrd (1888–1957) mit dessen apokryphem Tagebuch (The Missing Diary of Admiral Richard E. Byrd) seines Flight to the North Pole zum Hohlwelt-Entdecker gemacht wird (ZeitenSchriften, S. 21  ; 26–28  ; so auch R.W. Bernard (  ?)  : The Hollow Earth. The Greatest Geographical Discovery in History, Made by Admiral Richard E. Byrd in The Mysterious Land Beyond the Poles (New York 1964  ; jetzt im Netz //infinity.usanethosting.com/Heart.­Of.­God/Hol­low­Earth/  ; u.ö.)  ; vgl. //www. Skepdic.com/hollow­earth.html  ; Godwin  : Arktos. The Polar Myth, S. 121–123). 75 Auch im Falle von Shakletons abgebrochener Südpolexpedition wurde die erreichte südliche Breite von

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chen des Ortes, durch den immer verspäteten Leser, der den ‚Ersten‘ erst als einen solchen eingesetzt haben wird. Hannawacker, den der fiktive Paratext des „Tagebuchs“ (eine fiktive editorische Nach­bemerkung des fiktiven Verlags sei­ner weiteren Werke) anpreisend, aber die Pointe vielleicht verfehlend, als den „berühmten Entdecker des Südpols“ ausweist76, wäre genauer der ins Recht gesetzte Zweite, der Spuren-Nachfolger, der umschreibende Leser-Schreiber, der doch erst die Ent­deckung gemacht haben wird. Die Nach­fahrt, das nachfahrende Schreiben, schreibt sich lesend in der Spur des Vorgängertextes an das Unbetretene, jungfräuliche Territorium heran, überbietet überschreibend den Vorgänger-Text und schreibt ihn fort, dorthin, wohin dieser nicht kam. Er wird derart seinen Vor­gänger dort ange­kom­men sein lassen, wo dieser (zuvor) nicht gewesen sein konnte, um in seinen Spuren, als Nachfahre den entzogenen anderen Ort zu erreichen. Die Doppelgängerei der Nach­fahren, die den Schrei­benden in der Spur von Vorgängern den unbetretenen Ort erreichen lässt, sei dies in Vernes Le sphinx des glaces, in Heyms „Tagebuch Shakletons“ oder in Ransmayrs Die Schrecken des Eises und Finsternis, un­ter­streicht durch ihre wiederholten Wiederholungen dieses Mo­dell des Schrei­ben­den als Nach­fah­re(n­den) und damit die Un­einholbarkeit jenes ‚Ursprungs‘, eines originären Schrei­bens, jener noch nicht be­tretenen weißen Fläche, die im Erzählten erreicht, überschrieben oder jenseits dessen reserviert, jenseits des Erzählens angezeigt werden. Das Erreichen des Reservats der Unerreichten wird darstell- und belegbar durch die Schar der ‚Phantome‘, die die Fahrt anleiteten, die zitiert werden, durch die topoi, die das nie betretene Terrain je schon bestimmten und an ihm nur wiederaufgefunden werden können. Das, was jenseits der über­schrittenen Grenze begegnet sein soll, ist Wiederholung, Zitation, Gemein­platz, was Heym in Shackle­tons Tagebuch wie Verne vor ihm vorrangig von Poes Narrative of A.G. Pym bezieht77 – und von dessen Vor­gän­gern  : Weiter im Süden seien „alle unsere geographischen Begriffe“, „alles was vor uns über den Pol geschrieben ist von den weiten eisigen Wüsten, von der unermesslichen Kälte der Einöden der Ant­ark­ tis“ „auf den Kopf gestellt“ durch das Nachlassen des Frosts, durch Wärme78, Dunst und einem Nachfolgenden, von R.F. Scott (der ein problema­ti­sches Verhältnis zu Shakleton hatte) verifiziert, und dieser, der wohl berühmteste am Pol Scheiternde, ist es, aus dessen erstarrten Fingern das wohl berühmteste Tagebuch eines Südpolfahrers genommen werden wird  ; zu diesem Schema, den markierend hinterlassenen Zeichen und den Nachfolgern, die den Ersten erst zu einem solchen gemacht haben werden, vgl. Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek, S. 572–575, 577–588. 76 Heym  : Tagebuch des Shakleton, S. 130. 77 Für den Bezug Heyms auf Poes Pym vgl. Metzner  : Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, S. 27f. 78 Heym  : Tagebuch des Shakleton, S. 135. Es folgen objektive Bestätigungen durch Messungen. Zur Hypothese vom offenen Polarmeer, die Poes Pym narrativ umsetzt, u.a. M. Shelleys Frankenstein erwähnt, Ransmayr (fürs 16. u. 19. Jh.) darstellt, S. 173f., u.v.a. „Niemand hat diese Theorie von einem ‚offenen Polarmeere‘ fester und wissenschaftlicher zu begründen gesucht, als Dr. August Petermann“, so Hellwald, Im ewigen Eis, S. 657, vgl. auch S. 671  ; 688–90  ; anders Felsch  : Wie August Petermann den Nordpol erfand, vor allem S.  141–149 (mit Beizug vor allem der amerikanischen Theorien seit 1852), S.  14ff.; 159ff.; 184ff.; 189  ; 213ff.; 229–33, die Karten der Expeditionen Kanes und Hayes’ (S. 140) und Petermanns Übermalungen von

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Nebelwand und ein Schwinden von „Wille und Energie“.79 Heyms Shackleton wird dies – mit nachträglicher Gewissheit – einer Fehl-Wahrnehmung unter „Einflüsse[n] von außen” zuschreiben  : „daß wir damals schon innerhalb des psychischen Walles waren, den diese Polarmenschen um ihre Ge­heim­nis­se errichtet haben”.80 Nebel und Dunst, „der Weiße Vor­hang“, den Poes Pym für den 21. März ver­zeich­net, wird sich bei Heym als jener Vorhang, der „Wunder“ verspricht, heben und als „Tor der Ge­heim­nisse“ „auf einmal“ dem Blick preisgeben, was Poes Narrative versagt  : „die Paradiese des Süd­pols“.81 „[D]as alles in einem seltsamen Weiß“82 – das aber ist erneut nichts anders als wiederum Zita­tion  : Die „eigenartigen“ „schlohweißen“ Bewohner des Pols, ausgestattet mit einem merk­würdigen „Köh­lerbaum“, an dem „einige Zeichen“ „uns wie hebräische Buchstaben erscheinen“83, sind zu­sam­men­gesetzte Zitate aus der Apo­kalypse des Johannes wie Poes Narrative, insbesondere deren ab­schlie­ßen­der „Note“. Aber (gerade) auch Poes Narrative des Arthur Gordon Pym, der als Vorlage der ge­nann­ten Texte und ihres nachfahrenden Schreibens zum ‚Ursprungs‘-Text gemacht wird, schreibt seinerseits sich her aus anderen Texten  ; Dante, Schnabel, Cooper, Symmes und viele andere hat etwa A. Schmidt (u.a. in Zettels Traum) als die im Text mitsprechenden, -flüsternden, -nuschelnden Stimmen gelesen.84 T. Malby and Son, A Map of the North Polar Sea exhibiting the Plan of Search for Sir John Franklin (1850, 1852), sowie seine Weltkarte in Polarprojektion (im Bildteil). 79 „Dann verschwand langsam das Blau des Himmels unter einer grauen Dunstschicht und die Berge, die uns als Markzeichen gedient hatten, versanken in das graue Einerlei der heraufziehenden Nebelwand.“ (Heym  : Tagebuch des Shakleton, S. 135) Das Phänomen, „daß mein Wille und meine Energie nachzulassen schienen“, heißt dann  : „Ich glaube unter den Bann irgendeiner Autosuggestion geraten zu sein“ (ebd., S. 141). Dies entspricht Pyms „numbness of body and mind“, als „Benommenheit“ von Ransmayr zitiert (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 62.). 80 Heym  : Tagebuch des Shakleton, S. 132. 81 Ebd., S. 137. „Auf einmal […] kommen ein paar gewaltige Winde den Abgrund herauf […]. So muß die Erschütterung gewesen sein, mit der Cortez die Städte Montezumas schaute oder Pizarro die goldenen Dächer der Inkas zu seinen Füßen sah.“ (Ebd., S. 138f.) – So eröffnet sich dem Blick auf den Innenraum der „Schalenwelt“ der Insel Felsenburg „‚das schönste Lustrevier von der Welt‘“ (A. Schmidt  : Herrn Schnabels Spur, S. 60). 82 Das wird systematisch durchgeführt für Flora, Fauna und die Polwesen (Heym  : Tagebuch des Shakle­ton, S. 139.), „alles in denselben fahlen Farbtönen […]. Und mir ist als zöge ich wie ein blutloser Schatten über die bleiche Wiese eines versunkenen Totenreiches, ohne Hoffnung, ohne Qual, in der grausamen Erstarrung einer ewigen Vergessenheit.“ (Ebd., S. 141) 83 Ebd., S. 140. 84 Schmidt  : Zettels Traum, S. 26, vgl. 27f.; vgl. auch ders.: Herrn Schnabels Spur, S. 53  ; und die Literaturhinweise im Kommentar zu Schmidts Übersetzung von Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, S. 269f., u.a. Benjamin Morrell  : A Narrative of Four Voyages, to the South Sea, North and South Pacific Ocean, Chinese Sea, Ethiopia and Southern Atlantic Ocean, Indian and Antarctic Ocean. From the Year 1822 to 1831. Comprising Critical Surveys of Coasts and Islands, with Sailings Directions […], New York 1832  ; wie auch Captain Adam Seaborn [Pseudonym von John Cleves Symmes   ?]  : Symzonia  : A Voyage of Discovery, New York 1820  ; Poes Prätexte auf  : http  ://xroads. virginia.edu/~MA98/silverman/poe/ prettoc.html.

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Das Polargebiet wird in den Spuren der Vorgänger betreten. Die Spurlosigkeit wird aufgefunden nur als nachträgliche Gegebenheit durch die Zweiten, die Leser-Schreiber, das, was nur einmal sich ereignet, nur in der Wiederholung. Das sagt nicht nur etwas über die Un-/Erreichbarkeit der Pole, son­dern um­ge­kehrt eben auch etwas über die Texte, ihre Unbe­gründ­bar­keit, die von ihnen rückwirkend konstituierte Prima­rität, die demnach je schon (ihr vorgreifend) be-schrieben war. „Nur noch das ständige Raunen der Wieder­ holung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat“, sagt Foucault zum Phantastischen Ende des 19. Jahrhunderts, das er als das „Phantastische der Bibliothek“ kennzeichnet, als das „Chimärische“, das „jetzt“ „auf der schwarzen und weißen Oberfläche“ entsteht, das „Imaginäre“, das „zwischen dem Buch und der Lampe“ „haust“ und sich „von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen“ ‚ausdehnt‘. Das, „was nur ein einziges Mal stattgefunden hat“, wird schon ein „ständige[s] Raunen der Wiederholungen“ gewesen sein.85 Die angesprochene metatextuelle Funktion des Polargebietes ist vor allem durch die „Note“ zu Poes Narrative of A. G. Pym vorgegeben, die den fiktiven Verlust der vermeintlich abschließenden Kapitel anzeigt (“as, it cannot be doubted, they contained matter to the Pole itself, or at least to regions in its very near proximity”)86 und diesen kompensieren muss. Die „Note“ handelt von der Schrift, indem nun jene Höhlengänge der Insel der Schwärze, Tsalal, von denen zuvor erzählt wurde, noch einmal schwarz-auf-weiß verzeichnet87 und als Schriftzeichen gelesen werden. Schwarz-auf-Weiß als Schriftzeichen ver­schie­ de­ner morgenländischer Sprachen und Schriften gelesen, sollen diese nun auch eben dies, 85 Michel Foucault  : Un ‚fantastique‘ de bibliothèque, in  : ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 157–177, hier 160  ; „man schöpft es [das Phantastische] aus der Genauigkeit des Wissens  ; im Dokument harrt sein Reichtum. Man […] muß lesen.“ „Es sind die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, die […] die Mächte des Unmöglichen zutragen.“ (Ebd.) Foucault spricht von dem derart erschlossenen „Raum für eine Literatur, die nur in und durch das Verbindungsnetz des schon Geschriebenen existiert“ (ebd., S. 160/61). Auch A. Schmidt setzt das Wissen, von dem seit dem 18. Jh. vermutet wird, es verderbe den Genuss der Kunst, für die Poesie neu ins Recht (Herrn Schnabels Spur, S. 51–53  ; Zettels Traum, S. 17, 32), und zwar als das auktorial nicht verfügbare und verfügte (Schmidt  : Zettels Traum, S. 27, 35)  : „Gerade an so überzeugend=Exaktem kann sich die kombinierende Fantasie entzünden“ (Schmidt  : Herrn Schnabels Spur, S. 72f.)  ; „Es gibt nichts schärfer Erregendes für meine Phantasie, als Zahlen, Daten, Namensverzeichnisse, Statistiken, Ortsregister, Karten.“ (Ders.: Kosmas oder Vom Berge des Nordens (1955), in  : ders.: Das Erzählerische Werk, Zürich 1985, Bd. I, S. 93–156, hier 136). 86 Dieser sei bedauerlich vor allem “as, too, the statements of the author in relation to these regions [der damit als Vorläufer gekennzeichnet wird] may shortly be verified or contradicted by means of the governmental expedition now preparing for the Southern Ocean” (Edgar Allan Poe  : The Narrative of Arthur Gordon Pym, in  : The Complete Tales and Poems, New York 1982, S. 748–883, hier 882). 87 “On one point in the narrative some remarks may well be offered  ; and it would afford the writer of this appendix much pleasure if what he may here observe should have a tendency to throw credit, in any degree, upon the very singular pages now published. We allude to the chasms found in the island of Tsalal, and to the whole of the figures upon pages 871, 872, 873.” (Ebd., S. 882f.)

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„schwarz“ und „weiß“ bedeuten  : einer äthiopischen Wortwurzel folgend – das Schwarze, nämlich “‘To be shady’, – whence all the inflections of shadow or darkness”, und einer „Arabischen Wortwurzel” folgend das Weiße, “‘To be white’, whence all the inflections of brilliancy and whiteness”.88 Was die Erzählung an ih­ren fiktiven Orten  : Tsalal, einerseits, und “the region of the south”, anderseits, radikal auseinan­der­treten lässt  : “Nothing white was to be found at Tsalal, and nothing otherwise in the subsequent voyage to the region beyond.” tritt im Nachtrag als schwarz auf weiß der Schriftzeichen zusammen. Nachträglich und rückwirkend wird damit die Zone des ‚reinen Weiß‘ charakterisiert als die der radikalen Unmög­lichkeit von Schrift und Aufzeichnung überhaupt. Das Weiße ist hier aber nicht die Apokalypse des Textes. Vielmehr ist es als das dem Text als solchen exteriore Weiß zugleich stets Teil des Aufgeschriebenseins aller Texte als Konstellation von Schwarzem und Weißem, als Anordnung von Buchstaben und Ab­ständen. Die Frage, wie der exterri­toriale Ort vom Text anschreibbar wäre, wäre demnach die falsche Frage. Denn es war vielmehr umgekehrt zu lesen, dass zum einen dort, wo das spurlos Weiße wäre, wo es als reines und damit als der exterritoriale Ort, topos des Endes aller Aufzeichnungen, gesucht würde, immer schon die Spuren, ein Gewimmel von Spuren waren. Zum anderen ist der ausgeschlossene Ort als „Zwischenraum der Texte“89 allen Büchern schon eingetragen  : als jene ZwischenRäume, die sich im Text, nicht nur zwischen diesen, sondern in jedem seiner Elemente öffnet, in denen der Text von sich selbst differiert.

88 Ebd. S. 883. Auch Poes Rede vom Weißen war nicht „originär“, lag „vielmehr aufs peinlichste ‚in der Luft […]‘“ ­(Schmidt  : Zettels Traum, S. 32, mit Hinweis (unter vielen) auf Stephens Arabia Peträa). Die ‚Sprache von Tsalal‘, das ‚Tekelili‘ des Schreis der fremden Polvögel, die ‚3 Grundrisse der Höhlen‘ u.a. liest A. ­Schmidt als intertextuellen Effekt (ebd., S. 30f.). 89 Foucault  : ‚Un fantastique‘ de bibliothèque, S. 160.

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Petermanns Geografische Mutmaßungen Das offene Polarmeer als Kartentraum

Vor etwas mehr als hundert Jahren, am 6. April 1909, stieß Robert Peary die amerikanische Flagge ins Eis des Nordpols. “The Pole at last  !  !  !” notierte er triumphierend in sein Tagebuch. Nach seiner Rückkehr musste der amerikanische Ingenieur jedoch feststellen, dass ein gewisser Frederick Cook behauptete, schon vor ihm am Pol gewesen zu sein. Es folgte eine schmutzige Presseschlacht, die Cook als gebrochenen Mann und Peary als zweifelhaften Sieger zurückließ. Denn am Nordpol gab es nichts zu sehen. Die Beweisfotos der erbitterten Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer – inmitten einer „unbeschreiblichen Leere“. (Abb. 1) So beschrieb es Cook.1 Der ehemalige Schiffsarzt, dem Peary vorwarf, seine Aufnahmen kurz vor der Küste Grönlands gemacht zu haben und der zuletzt als Betrüger im Gefängnis landete, dachte in seinem 1913 veröffentlichten Expeditionsbericht enttäuscht über die Natur „geografischer Beweise“ nach  : “From the time of the discovery of America to the piercing of the darkest Africa and the opening of Thibet, men who have sought the truth of the claims of discovery have sought, not abstract figures, but the continuity of the narrative in the pages of the traveler’s final book.”2 Offensichtlich funktionierte das aber in Cooks eigenem Fall nicht mehr. Entzog die „unbeschreiblichen Leere“, von der er sprach, dem Genre der Beschreibung dessen traditionelle Evidenz  ? Es fällt auf, dass sowohl Cook als auch Peary versuchten, die diffuse Beweiskraft von sichtbaren Spuren ihres Nordpolerlebnisses auszunutzen. Das gilt ebenso für den Abdruck der Fotografien, wie für die Faksimiles ihrer Notizbuchseiten. Dass der Streit zwischen Peary und Cook bis auf den heutigen Tag nicht entschieden ist, dass nach wie vor Bücher veröffentlicht, Beweise begutachtet, Sympathien verteilt und Loyalitäten erklärt werden, zeigt, dass der Streit um den Nordpol prinzipiell unentscheidbar war. Am Ende, so der niemals zu entkräftende Verdacht, erreichte keiner der beiden Gegner sein Ziel. Dem heroischen Hirngespinst fehlte schlicht und einfach so etwas wie eine handgreifliche geografische Referenz. Beim Nordpol, könnte man sagen, handelt es sich – vielleicht um den einzigen – real existierenden – frei flottierenden Signifikanten. Was machte dann aber seine magnetische Anziehungskraft aus  ? „Kaum ein Ort der Welt war, seit es Menschen gibt, so unerreichbar und mythenbeladen wie der Nordpol“, 1 Frederick Cook  : My Attainment of the Pole, New York 1913, S. 409. 2 Ebd., S. xxxvf.

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lautet in etwa die übliche Antwort.3 Einerseits stimmt das natürlich. Schon bei den alten Griechen lassen sich Quellen auftreiben, die Sehnsucht nach dem hohen Norden dokumentieren. Auf der anderen Seite stimmt das vage ‚Schon-immer‘ jedoch genau nicht. Das geografische Phantom, dem Peary und Cook hinterher jagten, wäre ohne ein Ereignis nicht denkbar, das ins Jahr 1852 fällt und das ich als ‚Unfall der Kartografie‘ bezeichnen möchte. Der Verursacher dieses Unfalls ist August Petermann, der als einer der einflussreichsten deutschen Kartografen des 19. Jahrhunderts gilt, allerdings auch im Ruf steht, die Bedeutung der Karte für die Geografie maßlos überschätzt zu haben. Immerhin war er der Meinung, seine Blätter sprächen „auf einen Blick mehr als ganze Bände“.4 Die Zeit, in der sich Unfall ereignet, ist die Zeit, die Ian Hacking als “era of statistiAbb. 1: “At the Pole” cal enthusiasm” bezeichnet hat.5 Zwischen 1830 und 1850 ging eine Lawine gedruckter Zahlen über die europäischen Staaten nieder, die sogenannte thematische Kartografie blühte auf, im Gefolge Alexander von Humboldts erfand sich die Geografie als Wissenschaft von den räumlichen Verteilungen neu. Aus dieser Konstellation ist die Nordpol­ begeisterung des 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Sie ist ein Kartenphänomen, und meine folgenden Ausführungen sollen diese Behauptung beweisen. 1. Die Geografie der Pflanzen Im Sommer 1845 reiste August Petermann von Berlin nach Edinburgh. Er war an der jungen Geographischen Kunstschule in Potsdam zum Kartografen und Kupferstecher 3 Johannes Zeilinger  : Auf brüchigem Eis. Frederick A. Cook und die Eroberung des Nordpols, Berlin 2009, S. 11. 4 August Petermann  : Vorwort, in  : Spitzbergen und die arktische Central-Region. Petermanns Geographische Mitteilungen, Ergänzungsheft 16, 1865, S. vi. 5 Ian Hacking  : Biopower and the Avalanche of Printed numbers, in  : Humanities in Society 5, 1982, S. 281.

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Abb. 2: Verteilung der Kultur-, Baum- und Strauchgewächse in Europa

ausgebildet worden und fuhr nach Schottland, um Keith Johnston, einem renommierten Edinburgher Kartografen, bei der Herstellung von dessen Physical Atlas zur Hand zu gehen. Johnston war Humboldt in Paris begegnet – seitdem hing ein signiertes Porträt des bewunderten Forschungsreisenden über seinem Schreibtisch –, und sein Atlasprojekt ging auf Humboldts Anregung zurück, eine englische Ausgabe von Heinrich Berghaus’ Physikalischem Atlas, an dem August Petermann in Potsdam mitgearbeitet hatte, herzustellen. Daher kam Petermann, als junger Experte, zum Helfen nach Edinburgh. Der Gegenstand von Johnstons Atlas sind nun, wie das Titelblatt verrät, nichts anderes als “distributions”, also Verteilungen. Es würde sich lohnen, die rasante Karriere dieses Begriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer nachzuvollziehen. Auf der ­einen Seite wurde er in der Wahrscheinlichkeitsrechnung diskutiert, und zwar als Verteilung um ein wahrscheinliches Ergebnis, einen richtigen Messwert oder – seitdem der belgische Astro­nom und Statistiker Adolphe Quételet die Gaussche Fehlerkurve auf Bevölkerungs­ phänomene übertragen hatte – um die Eigenschaften des berüchtigten homme moyen. Auf der anderen Seite entdeckten Geografen, Geologen, Meteorologen, Botaniker und

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­ tatistiker die Verteilung als eine Frage des Raumes. Gewöhnlich reden wir über VerzeitS lichung und übersehen die Tatsache, dass eine ganze Familie von Disziplinen – zumindest für einige Jahrzehnte – als geografische Verteilungswissenschaften Gestalt annahmen, deren Erkenntnisziel darin bestand, räumliche Muster zu identifizieren. Das Medium der thematischen Karte garantierte ihre flüssige Kommunikation. In Johnstons und Berghaus’ Atlanten wurden – um nur ein zwei Beispiele zu nennen – die Verteilung der „geistigen Bildung“ und die Verteilung der Kultur-, Baum- und Strauchgewächse in Europa dargestellt (Abb. 2). „Jeder, der diese merkwürdig linierten und kolorierten Karten sah“, schrieb Johnstons Tochter Grace in ihren Memoiren, „war der Meinung, dass ihre Publikation ein vollständiger Misserfolg sein würde.“6 Tatsächlich war der Physical Atlas kein Verkaufsschlager – aber er funktionierte als kartografisches Prestigesprojekt, das schon den Zeitgenossen als eine Großbaustelle für grafische Semiotik erschien. Welche Karten August Petermann beigesteuert hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da Johnston die Namen seiner Zeichner von den Platten entfernen ließ, was ihm später – von deutscher Seite – den typisch deutschen Vorwurf eintrug, er betrachte „wissenschaftliche Arbeiten wie eine bezahlte Ware“.7 Klar ist, dass sich Petermann intensiv mit der Pflanzengeografie beschäftigte, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil auch er, noch in Potsdam, in Kontakt mit Alexander von Humboldt geraten war, dem diese junge botanische Disziplin besonders am Herzen lag. Schon vor seiner Südamerikareise hatte Humboldt die „Geographie der Pflanzen“ als Gegenentwurf zur Linnéschen Taxonomie konzipiert. Es gehe ihm weniger um die Klassifikation einzelner Arten, notierte Humboldt 1794, als darum, die „Vertheilung der Kräuter über den Erdboden“ zu studieren  : die „Siedlungsgebiete der Pflanzennationen, die geselligen Pflanzen, Pflanzenwanderungen, -kolonisationen“ etc.8 Während die Taxonomie im Gefolge von Humboldt, Candolle und anderen zur Hilfsdisziplin niederging, wurde die Botanik zur Wissenschaft von den räumlichen Verteilungen. Für Taxonomen hatte Humboldt nichts übrig, er nannte sie „elende Registratoren der Natur“. Man findet dieselbe Polemik bei Hewett Watson, einem renommierten englischen Pflanzengeografen, mit dem August Petermann in den 1840er Jahren in enger Verbindung stand. Wie kein zweiter steht Watson – der das Wort vom ‚botanischen Zensus‘ geprägt hat – für die Datenberge, die die Pflanzengeografie gerade in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftürmte. Parallel dazu blühte die thematische Kartografie (wie man heute in Ermangelung eines besseren Begriffes sagen würde) auf, denn sie schien das Mittel der Wahl, um dieser Datenberge Herr zu werden. Als August 6 Zit. nach James McCarthy  : Journey into Africa. The Life and Death of Keith Johnston, Scottish Cartographer and Explorer (1844–79), Latheronweel 2003, S. 33. 7 Oskar Peschel  : Geschichte der Erdkunde bis auf Alexander von Humboldt und Carl Ritter, München 1877, S. 809. 8 Alexander von Humboldt an Friedrich Schiller am 6.8.1794, in  : Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts, 1787–1799, hg. von Ilse Jahn, Berlin 1973, S. 346f.

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Abb. 3: Wallace’s Line

Petermann 1849 vor der British Association for the Advancement of Science einen Vortrag über The Temperature of the British Isles and its Influences on the distribution of Plants hielt, stützte er sich auf eine Serie von Wandkarten, die leider nicht erhalten sind. Er beendete seinen Vortrag mit einem Plädoyer für die botanische Kartografie im allgemeinen und für das grafische Element der Linie im besonderen  : „Kein anderes Mittel als Linien“, erklärte Petermann, „kann so klar und deutlich die Unterschiede in der geografischen Verteilung physischer Phänomene darstellen.“9 Solche Linien brachten die Beziehungen zwischen Arten und Milieus zu Tage, vor allem aber lieferten sie wertvolle Hinweise für die damals in Gärung befindliche Evolutionstheorie. Das berühmteste Beispiel dieser Art ist wohl die rätselhafte Faunengrenze, die quer durch den ostindischen Archipel verläuft und die in der Mitte des 19. Jahrhunderts als ‘Wallace’s Line’ bekannt wurde. (Abb. 3) „Bei Betrachtung der Verbreitungsweise der organischen Wesen über die Erdoberfläche“, heißt es am Anfang des langen Kapitels über “Geographical Distribution” in Darwins Origin of Species, „ist die erste wichtige Tatsache, welche uns in die Augen fällt, die, dass weder die Ähnlichkeit noch die Unähnlichkeit der Bewohner verschiedener Gegenden aus klimatischen und anderen physikalischen Bedingungen völlig erklärbar ist.“10 Mit anderen Worten  : historische, dass heißt evolutionstheoretische Erklärungen mussten hinzutreten. Im Darwin-Nachlass   9 August Petermann  : On the Temperature of the British Isles and its Influences on the distribution of Plants, 11, Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, PGM 540/6. 10 Charles Darwin  : Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, Stuttgart 1860, S. 353.

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finden sich üppig annotierte Exemplare von Berghaus’ und Johnstons Atlanten. Für alle, die sich in dieser Zeit mit Evolutionsfragen beschäftigten, waren sie unentbehrliche Standardwerke.11 2. Die Londoner Cholera 1847, als Johnstons Atlas publikationsreif war, ging Petermann nach London, den „ersten Centralpunkt geographischen Wissens“, wie er damals schrieb.12 Für deutsche England­ reisende war die Metropole damals eine einzige, roter Backstein gewordene Überforderung. In Westminster und im mondänen West End waren die die Gesellschaftsspiele der High Society, die von Gaslicht erleuchteten Auslagen der Edelgeschäfte der Bond Street und das unwiderstehliche Diktat der Mode zu bestaunen. Im East End, auf der anderen Seite der Stadt, wucherte das London Charles Dickens und Henry Mayhews, in dem sich jetzt, in den Vierziger Jahren, die schrecklichen Folgen des industriellen Pauperismus voll entfalteten. ‘Slumming’ hieß der neue Zeitvertreib des Londoner Bürgertums, seinen Zeitungen, seinem Gaslicht und seiner Mode für einen Nachmittag den Rücken zu kehren, um in den Quartieren der Arbeiterklasse ein Elend zu bestaunen, das von den Annehmlichkeiten der City so weit entfernt schien, wie das dunkelste Afrika  : Es gab zehnköpfige Familien in einem einzigen, unmöblierten Zimmer, auf dem Boden schlafend und essend, der Bereich des Vaters mit einem Kreidekreis markiert. Es gab minderjährige Prostituierte, die ihre Nächte in einem Erdloch im Park verbrachten. Es gab Kühe in lichtlosen Hinterhöfen. Es gab die unaussprechliche Schattenökonomie von ‘night-soil men’, ‘sewer-hunters’ and ‘pure-finders’, denen die Fäkalien der Metropole einen stetigen Überlebensquell ­sicherten.13 Denn was es nicht gab, war eine funktionierende Kanalisation. Um 1850 lebten zweieinhalb Millionen Einwohner in einer kollabierenden Infrastruktur aus Shakespeares Zeit. Das East End quoll buchstäblich über vor Exkrementen und lag unter einer Glocke von Gestank, die der Theorie der ‚Miasmen‘ ihre unabweisbare Evidenz verlieh. Danach wurden die grassierenden Krankheiten nicht durch direkte Ansteckung (von mikroskopisch kleinen Erregern ganz zu schweigen), sondern durch giftige Ausdünstungen aus Wasser und Boden verursacht. Auch die bedrohlichste Seuche der Zeit, die Cholera, schien miasmatischen Ursprungs zu sein. 11 Vgl. Jane Camerini  : Evolution, Biogeography, and Maps. An Early History of Wallace’s Line, in  : Isis 84, 1993, S. 708. 12 August Petermann an Bernhard Perthes am 10.9.1847, Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, PGM 540/1. 13 Vgl. Steven Johnson  : The Ghost Map. The Story of London’s most terrifying Epidemic – and how it changed Science, Cities, and the Modern World, New York 2006.

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1847, als Petermann nach London kam, war eine neue Cholerawelle im Anmarsch. Die erste Epidemie hatte 1832 in wenigen Tagen 5000 Tote gekostet. Daher legten die Politiker diesmal eine fieberhafte Aktivität an den Tag  : Im September 1847 wurde eine Regierungskommission eingesetzt, um zu prüfen, „welche speziellen Mittel erforderlich sind, um die Gesundheit der Metropole zu sichern“.14 Am Beginn ihrer Aktivität stand ein unstillbarer Hunger nach Daten. Da niemand genau wusste, welche Ursache die Cholera hatte und unter welchen Bedingungen sie sich am schnellsten ausbreitete, hatte die erste Epidemie im Jahr 1832 – abgesehen von der hilflosen Verfügung eines landesweiten Gebets- und Fasten­ tages – auch eine panische, kaum koordinierte Welle von statistischen Erhebungen nach sich gezogen. In welchen Stadtteilen hatte die Krankheit am heftigsten gewütet  ? Bei welchem Wetter  ? Auf welchen Routen war sie vorwärts marschiert  ? Wer waren ihre häufigsten Opfer  ? – etc. Die großen Choleraepidemien stellen nicht nur in England die Geburtsstunde der modernen Gesundheitsstatistik dar. Als die Seuche 1847 erneut vor der Tür stand, lagen daher Berge von gedruckten Zahlen in den Archiven, die jetzt, in Ermangelung einer besseren Strategie, hervorgeholt, verglichen, kombiniert und berechnet wurden. Um wirkungsvoll handeln zu können, hing alles davon ab, ein Muster oder besser  : eine Verteilung zu erkennen. Das war die Chance der Kartografen. August Petermann scheint diese Chance sofort gewittert zu haben. Offensichtlich besaß er ein gutes Gespür für die wechselnden Launen des kartografischen Marktes. Nur wenige Monate nach seinem Umzug publizierte er zuerst eine Cholera- und wenig später eine Bevölkerungskarte der Britischen Inseln und ihrer Hauptstadt  : die Verteilung von toten und lebenden Briten, nach den Daten der Katastrophe von 1832 und der Volkszählung von 1841 dargestellt. (Abb. 4) Anders als die nackten Zahlen machten sie augenfällig, dass die Cholera zunächst nur die Hafenstädte befallen und sich dann von der Küste ins höher gelegene Inland vorgearbeitet hatte. Dabei sah es zunächst so aus, als habe die tödliche Wirkung der Seuche in dem Maß abgenommen, wie sie höher gelegenes Terrain erreichte. Das sprach für die gängige Theorie der Miasmen, die die Krankheit aus den fauligen Dünsten der Ebenen aufsteigen sah. Aber Petermann wusste es besser. Hielt man die Cholera- und die Bevölkerungskarte nebeneinander, ergab sich nämlich ein ganz anderer Verdacht  : „Es scheint ziemlich sicher“, erläuterte er im Begleittext zu seinen Karten, „dass diese Gebiete weniger aufgrund ihrer niedrigen Lage als wegen ihrer großen Bevölkerungsmenge angegriffen wurden“.15 Hier war er definitiv auf dem richtigen Weg. Aber anders als John Snow, dessen Cholerakarte von 1854 Geschichte gemacht hat, ließ Petermann das Thema bald wieder fallen. An der Cholera selbst hatte er kein Interesse. Sie war nicht mehr und nicht weniger als eine Gelegenheit, seine Expertise für geografische Verteilungen auszuspielen und Karten zu zeichnen, für die es Abnehmer gab. 14 Zit. nach Roy Porter  : London. A Social History, Cambridge/Mass. 2001, S. 261. 15 Zit. nach E. W. Gilbert  : Pioneer Maps of Health and Disease in England, in  : The Geographical Journal 124, 1958, S. 178.

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Abb. 4: August Petermann, „Statistical Map of the British Isles elucidationg the Distribution of Population based on the Census of 1841“, 1848

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Aufgrund ihrer innovativen Schattierungstechnik ernteten seine Karten großes Lob.16 Alexander von Humboldt applaudierte schriftlich vom Kontinent  : „Mein teurer Herr Petermann“, ließ er ihn wissen, zweifeln Sie nicht daran, dass ich Ihre physikalisch-geografischen Unternehmungen zu jeder Zeit mit lebhaftem Interesse verfolge. Es hat mich besonders erfreut, Ihre wunderschöne und gut ausgeführte Karte der Bevölkerungsdichte der Britischen Inseln zu sehen. Machen Sie übrigens, wenn immer Ihnen das nützlich erscheint, gern öffentlichen Gebrauch von dieser meiner Ansicht.17

Was Petermann sich offenbar nicht zweimal sagen ließ. Nach dem britischen Zensus von 1851 wurde er beauftragt, die offizielle Karte der Bevölkerungsverteilung zu zeichnen.18 Und noch dreißig Jahre später erklärte ein Referent vor der British Association for the Advancement of Science, man habe „aus Petermanns Karte einen klareren Eindruck von der relativen Bevölkerungsdichte in den verschiedenen Teilen des Vereinigten Königreichs gewinnen [können], als aus allem, was seither publiziert worden ist“.19 Komplimente von höchster Stelle also. Sicherlich trugen sie dazu bei, Petermanns Überzeugung zu nähren, dass die Kartografie der Verteilungen ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten bot. Der Begleittext zu seiner Cholerakarte geriet ihm daher abermals zu einem Plädoyer für die thematische Kartografie an sich. Nur Karten seien in der Lage, schrieb er, statistische Messwerte so zu präsentieren, dass deren Bedeutung auf einen Blick sichtbar werde. Daher seien sie als universales Medium anzusehen. „Eine Karte“, schrieb Petermann selbstgewiss, „wird die Entwicklung und Natur eines beliebigen Phänomens in Bezug auf seine geografische Verteilung sichtbar machen.“20 Unter den „beliebigen Phänomenen“, die Petermann in diesen Jahren in Bezug auf ihre geografische Verteilung sichtbar machte, befanden sich illegitime Kinder, Schiffswracks vor der englischen Küste, die Herkunft der Exponate der Londoner Weltausstellung – und schließlich, sehr folgenreich, das Packeis, das im Polarmeer trieb. 3. Der Nordpol Während im East End nämlich die Cholera wütete, spielte sich im West End eine der großen Gesellschaftstragödien des viktorianischen England ab  : das spurlose Verschwinden von 16 Vgl. Arthur H. Robinson  : Early Thematic Mapping in the History of Cartography, Chicago 1982, S. 162, 180. 17 Zit. nach Ewald Weller  : Leben und Wirken August Petermanns, Leipzig 1914, S. 20. 18 Vgl. Robinson  : Mapping, S. 127. 19 The Times, 17.9.1885. Vgl. Robinson  : Mapping, S. 76ff. 20 Zit. nach Gilbert  : Pioneer Maps, S. 178.

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John Franklins Expedition. Seit drei Jahrhunderten bemühten sich englische Seefahrer, die Nordwestpassage zu finden, den kürzesten Seeweg nach Indien im Norden des amerikanischen Kontinents. Den letzten, aufwendigsten und nach Möglichkeit krönenden Versuch hatte die Royal Navy in die Hände ihres erprobten Kapitäns Franklin gelegt. 1845 war er mit zwei großen umgebauten Kriegsschiffen, insgesamt 130 Mann Besatzung, feinem Porzellan, Tafelsilber, Drehorgeln, Gesellschaftsspielen und einer 3000 Bände umfassenden Bordbliothek in See gestochen. Schon diese Ausstattung offenbart die Hybris des viktorianischen Welteroberungsprojekts. Für die Zeitgenossen war es undenkbar, dass einer solchen Vorzeigeexpedition etwas zustoßen sollte. Doch die Erebus und die Terror verschwanden spurlos im Packeis. Es dauerte 14 ungewisse Jahre, bis herauskam, dass die Schiffe gesunken und die Besatzungen qualvoll verendet waren, ein letzter kannibalistischer Überlebenskampf inklusive. Es dauerte noch einmal hundert Jahre, bis ein kanadischer Anthropologe herausfand, dass Franklin und seine Begleiter an Bleivergiftung gestorben war, wegen der erstmalig verwendeten – bleiverlöteten – Konservendosen. Die unzähligen Theorien, die Franklins Zeitgenossen über sein Verbleiben aufstellen, und die unzähligen Expeditionen, die sie zu seiner Rettung aussandten, können hier nicht wiedergegeben werden. Auf dem Höhepunkt der Suche waren 15 Rettungsmannschaften im Eis, acht von der Baffin Bay, vier von der Beringstrasse aus und drei weitere auf dem kanadischen Festland. Flottillen von Flaschenpost wanderten ins Meer, Kanonen und Leuchtraketen wurden abgefeuert, Hunderte von Eskimos befragt und unzählige Inseln, Fjorde und Wasserstraßen kartiert. Eine Flotte von Schiffen fror im Eis ein, wurde frei gesprengt oder dem Untergang überlassen  ; es gab Skorbut, Tote, einige wenige Fälle von Meuterei und jede Menge Heldentum. Nur keine Spur von Franklin. Als alles nichts half, suchte Jane Franklin, die hinterbliebene Gattin des Kapitäns und Organisatorin der Suche ab 1850, ihre Zuflucht bei Wahrsagerinnen und in spiritistischen Séancen. Zumindest die Geister waren der Meinung, dass Franklin noch am Leben sei.21 An diesem Punkt, 1852, schaltete sich August Petermann in die Diskussion ein, die er fünf Jahre lang aus größter Nähe mitbekommen hatte. Um als Kartograf in der Hauptstadt zu reüssieren, hatte er nämlich den Kontakt zur Royal Geographical Society gesucht und gefunden, dem Londoner Mutterschiff für alle, die die Erforschung und Eroberung der Welt zu ihrer Sache machten  : Kapitäne der Royal Navy, adlige Abenteurer, aber auch die neuen Experten des Empire wie Geografen, Botaniker, Vermessungsingenieure und Kartografen. Alle Entwicklungen der Franklinfrage wurden in diesem Forum ausgiebig diskutiert. Die Society rüstete sogar eigene Rettungsexpeditionen aus. Nach langer Zurückhaltung, während der er sich mit Cholera- und Bevölkerungskarten beschäftigt hatte, trat Petermann im Frühjahr 1852 mit Mr. Petermann’s Plan of Search und wenig später mit den Notes on the Distribution of Animals available as Food in the Arctic Regions an die 21 Zur Franklinsuche und zu Lady Jane vgl. Francis Spufford  : I May be some Time. Ice and the English Imagination, New York 1997.

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britische Öffentlichkeit – zwei Eingaben, die die Prämissen der ganzen Suchaktion schon im Tonfall spektakulär auf den Kopf stellten. Das Franklin-Problem müsse, erklärte Petermann, „mit den Prinzipien, die die Verteilung der gasförmigen und flüssigen Hülle der Erde regulieren, in Verbindung gebracht werden“.22 So hatte sich zu Franklin noch niemand geäußert. Noch niemand war auf die Idee gekommen, Englands größtes Mysterium als Problem einer geografischen Verteilung zu behandeln. Das universale Zauberwort  ! Das Wort, das auf Pflanzen und Tiere ebenso passte, wie auf den Alphabetisierungsgrad der Briten oder ihre letzte Choleraepidemie. Das Wort, dem Petermann seit Jahren eine bunt schillernde Kartenwelt widmete. Erfüllt von den Möglichkeiten seines Mediums nahm Petermann die Seekarten der britischen Admiralität zur Hand und übermalte sie, zeichnete Strömungen, Temperaturen, Floren und Faunen ein – wobei er sogar einen „phytologischen Nordpol“ definierte, der sich nicht mit dem geografischen deckte –, und kam schließlich zu folgendem Schluss23  : (Abb. 5) Franklin stecke nicht irgendwo zwischen Grönland und der Beringstraße fest, sondern – dem englischen common sense völlig zuwider – viel weiter nördlich. Petermanns kartografische Deduktion ergab, dass sich rund um den Nordpol ein offenes, pflanzen- und tierreiches Polarmeer befinden müsse, in das Franklin mit seinen Schiffen eingedrungen sei. Wer ihn finden wolle, müsse Kurs auf den Nordpol selbst nehmen – und könne dem britischen Walfang bei dieser Gelegenheit riesige neue Fanggründe erschließen. Der alte Mythos vom eisfreien Polarmeer fand sich unversehens in die harte Währung einer wissenschaftlichen Theorie konvertiert und für das wissenschaftsgläubige 19. Jahrhundert haltbar gemacht. Wir haben die Urszene des modernen Wettlaufs zum Nordpol vor uns  : ein Kollateralschaden, wenn man so will, des Booms der thematischen Kartografie. In gewisser Weise geht Petermanns Geschichte natürlich jetzt erst los. Aber ich will sie an dieser Stelle nur knapp zusammenfassen. In der praktischen Welt englischer Seeoffiziere stieß der Kartograf, der eher despektierlich mit ‚Professor‘ angeredet wurde, obwohl er nicht einmal einen Doktortitel besaß, stieß also Petermann mit seiner Theorie auf harte Kritik. Auch die mächtige Times reagierte ablehnend. „Die Idee, dass Franklin und seine Begleiter ihre Zeit in der Nähe des Nordpols vertrödeln, ist zu absurd, um darauf den geringsten Gedanken zu verschwenden“, schrieb sie, zu keiner weiteren Diskussion bereit.24 “What’s the good of Mercator’s North Poles and Meridian Lines  ?” liest man einige Jahre später auch in Lewis Carrolls Hunting of the Snark. “They are merely conventional signs  !”25 Als die Skepsis an Petermanns Plänen in offene Anfeindung umschlug, kehrte er London den Rücken, ging nach Thüringen zurück und wurde wissenschaftlicher Kartograf in Jus22 August Petermann  : The Arctic Expeditions, in  : Athenaeum, 17.1.1852, S. 83. 23 August Petermann  : Notes on the Distribution of Animals Available as Food in the Arctic Regions, in  : Journal of the Royal Geographical Society 22, 1852, S. 124. 24 The Times, 25.11.1853. 25 Lewis Carroll  : The Hunting of the Snark. An Agony in Eight Fits, New York 1898, S. 15.

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tus Perthes’ Geographischer Anstalt in Gotha. In Deutschland, wo man vielleicht geübter darin war, die Welt im Kopf zu erobern, stieß die Theorie vom eisfreien Polarmeer auf offene Ohren. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Arktisexpeditionen der zweiten Jahrhunderthälfte trieb die Suche nach Petermanns Gral. Selbst in den USA fanden seine Denkschriften und spekulativen Karten Gehör. Dass eine nach der anderen Expedition sich im Packeis verrannte, statt in die blaue Polarsee zu stechen, war in den Augen des Nordpolprofessors – frei nach Hegel – umso schlimmer für das Packeis. „Ich werde so lange arbeiten“, schrieb er, gegen wachsenden Widerstand, noch zu Beginn der 1870er Jahre, „bis alles bewiesen ist“.26 Das war spätestens seit dem Einfrieren des amerikanischen Dampfers Jeanette der Fall. Der grausame Hungertod seiner ganzen Besatzung bewies, dass das offene Polarmeer nicht mehr als ein Kartentraum war. Die weitere Geschichte ist bekannt. Fridtjof Nansen, verstand es, die Zeichen des Misserfolgs zu lesen, und drehte die Vorzeichen von Petermanns Gleichung um  : Er ersetzte Wasser durch Eis und rohe Dampfkraft durch Ski und Hundschlitten. Diesmal stimmte die Rechnung, obwohl Nansen seinen eigenen Versuch bei 86° nördlicher Breite abbrechen musste. Gut zehn Jahre später waren Peary und Cook seine zweifelhaften Vollstrecker. August Petermann durfte ihre Eroberung nicht mehr erleben. Im September 1878 nahm er sich das Leben, auf dem Schreibtisch der Entwurf seiner nächsten Nordpol­ expedition. Dass die Natur eines Tages gezwungen sein würde, seiner Theorie seufzend entgegen zu schmelzen, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt.

26 August Petermann an Henry Walter Bates am 6. 12. 1871, Royal Geographical Society, Archive, CB 6, Petermann.

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Abb. 5: August Petermann, „Petermann’s Papers on the Arctic Regions“, 1852

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Vom Erzählen zwischen Meereshöhen und Meerestiefen Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg1

In Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg (2006) begeben sich die Brüder Pad und Liam zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf die Suche nach dem fiktiven Berg Phur-Ri. Pads Geschichte von der Besteigung des bis dahin noch unentdeckten Siebentausenders im Osten Tibets überlagert sich mit seinen Erzählungen von der Kindheit der Brüder und von ihrer unmittelbaren, gemeinsam verbrachten Vergangenheit auf der irischen Insel Horse Island. Der Erzähler verbindet aber nicht nur die unterschiedlichen Geschichten miteinander, sondern vor allem deren Orte. Er beschreibt den fremden, noch vor ihm liegenden Gipfel mit Hilfe des bereits vertrauten und hinter sich zurückgelassenen Meeres. Im Aufeinandertreffen dieser verschiedenen topoi wird der fremde Raum allerdings nicht fassbar. Während des Erzählens lösen sich sowohl der Himalaya als auch die irische Küstenregion zunehmend auf und verbinden sich zu einem dritten, einem poetischen Gebiet. Der erzählte Ort wird zum Berg im Meer, zum Strand auf einem schneebedeckten Gipfel und schließlich zu einem fliegenden Berg. Der territoriale Raum, den die Brüder im Roman bereisen, steht dabei in einem besonderen Verhältnis zum Textraum  : Das Steinmeer bzw. die wässrige Gebirgslandschaft liest sich als metapoetisches Gebiet, dessen Bestimmungen zugleich den Roman, seine Genese und narrativen Verfahren reflektieren. Der Textraum lässt sich anhand der semantischen Landschaft aber nicht einfach nur beschreiben, sondern wird durch diese bestimmt. Denn trotz schriftlicher Fixierung scheint sich der Roman immer wieder zu verflüssigen und die Schrift droht, wie der fliegende Berg als Gegenstand des Schreibens, von ihrem Grund abzuheben. Um die Auswirkungen des territorialen Raumes auf den analog gesetzten Textraum nachzuvollziehen, ist zunächst bedeutsam, wie dieser und seine einzelnen topographischen Bestandteile im Roman inszeniert werden. Das Meer und das Hochgebirge, die Insel und der Berg werden von vornherein als Gegenorte zueinander, aber ebenso als textuelle Räume ausgewiesen. Horse Island, der Anfangspunkt der Reise, vereint beispielsweise unterschiedliche literarische Inseltypen  : Liam, der Entwickler geodätischer Computerprogramme, führt dort ein von seiner Arbeitswelt abgekoppeltes Leben als Einsiedler und 1 Der vorliegende Beitrag ist aus einem Kapitel meiner Dissertation Whiteout. Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 (Bielefeld 2011) hervorgegangen.

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Viehzüchter. Sein Rückzugsgebiet ist dem Seemann Pad allerdings ein Gefängnis, in dem er als „Schiffbrüchiger“2 des eigenen ziellosen Daseins strandet. Der von der Außenwelt abgeschotteten Insel, die von Liam bis in ihren letzten Winkel über Kameras ausgespäht und auf Monitoren überwacht wird, steht das Ziel der Brüder im osttibetischen Himalaya gegenüber  : Kham gilt „in diesen Monaten, Jahren / wieder einmal und auf allen Reisemärkten / als kaum betretbares, ja verbotenes Land“ (77)  ; es ist „stumm und geheimnisvoll / wie in einer längst begrabenen Zeit“ (78f.). Vor allem die chinesische Okkupation Tibets macht Kham auch im 21. Jahrhundert „trotz Hunderter im Orbit kreisender Augen / und Ohren, Kameralinsen, Signalsender, Satelliten“ (78f.) zum stellenweise noch unerforschten Gebiet. Die irische Insel und Kham unterscheiden sich demnach nicht nur aufgrund ihrer topographischen Merkmale, sondern auch hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit. Während Horse Island vollständig vermessen und von Kameras überwacht ist, Liam sie nach Belieben auf „Flüssigkristallschirmen erscheinen / und wieder verschwinden lassen“ (24) konnte, ist der Phur-Ri ein noch ‚weißer Fleck‘ auf der Landkarte, der sich einem solchen Zugriff entzieht. Anfänglich handelt es sich beim fliegenden Berg um „ein kaum sichtbare[s] Detail“ (42) auf der Photographie eines chinesischen Bomberpiloten, auf die Liam zufällig im Internet stößt. Mit der Inszenierung des Berges als unbekannten Siebentausender sowie mit dem Verweis auf die „längst begrabene Zeit“, in die das unzugängliche Kham versunken scheint, ruft der Roman das goldene Zeitalter der Entdeckungsfahrten auf, als weder die Geheimnisse der Welt „wegentdeckt“3 noch die letzten Winkel der Erde, etwa der Mount Everest, touristisch erschlossen waren. Der Roman vergleicht die Reise der Brüder mit den Expeditionen an die horizontalen sowie vertikalen Enden der Welt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Um die Besteigung des Phur-Ri noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Jagd nach den letzten ‚weißen Flecken‘ in Zusammenhang zu bringen, zitiert er „ganze Flotten […], Karawanen oder Schlittenhundegespanne, Armeen von Eroberern und Entdeckern“ heran, „die sich im Zweifelsfall / lieber von den Fluchtlinien eines Traums / als von den Messwerten leiten ließen“ (43).4 Basierend auf den Informationen der Photographie des Bomberpiloten erschafft der Geodät Liam ein virtuelles Modell des fliegenden Berges, über das er mit dem „Spieltrieb 2 Christoph Ransmayr  : Der fliegende Berg, München 2006, S. 27. Seitenangaben zu diesem Text erfolgen direkt im Anschluss an das jeweilige Zitat. 3 Vgl. Sigrid Löffler  : Die Ekstase des Spurenlesens, in  : Literaturen 12, 2000, S.  6–12, hier 9  ; dies.: Weg­ entdeckt, in  : Die Zeit, 30.5.1997. 4 Die Verbindung zwischen dem Ansturm auf die Polargebiete und den Himalaya stellt vor ihm bereits Marcel Kurz her, indem er in den 1930er Jahren den Mount Everest zum „dritten Pol der Erdkugel“ kürt (Marcel Kurz  : „Die Erschließung des Himalaya“, in  : Die Alpen IX, Nr. 7, 9, 10, 11 [1933]  ; zit. in  : Günter Oskar Dyhrenfurth  : Zum Dritten Pol. Die Achttausender der Erde, Graz/Wien 1952, S. 7). Mittlerweile gilt diese Metapher metonymisch für den Himalaya und das benachbarte Karakorum, deren Gipfel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Nord- und Südpol längst erkundet sind, als vertikale Weltenden in Angriff genommen werden.

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eines Schöpfers“ (82) verfügen konn­te. Schließlich war ein ursprünglich „digitales Daten­ fragment“ „in einem elek­tro­nischen Schöpfungsakt“ durch ihn „wirklich geworden“ und er­ wies sich als „Berg, der sich aus der bloßen Vorstellung / zur Wahrhaftigkeit aufwarf“ (283). Liams Reise nach Kham ist eine Reise zu den „Kulissen der Wirklichkeit“5, die Wiederholung einer Computersimulation. Denn auch wenn er sich in den Osten Tibets begab, betrachtete er dennoch alles, „was er sah, schwei­gend / wie auf einem Bildschirm […] / ließ sich von […] allem, / was [ihm] […] ent­­gegen­kam, / bloß bescheinen und betrachtete den Wechsel der Bilder / mit der gleichen Unbewegtheit, mit der er verfolgte, / was auf Bildschirmen erschien und wie­der verschwand“ (94). Noch der Blick aus der Zeltluke gibt eine „vom offenen Ein­gang [des] Kuppelzeltes“ (202) wie von einem Monitor gerahmte Landschaft preis, die sich „in binäre Kolonnen, Zeichenreihen“ verwandeln und mit den „Bruchstück[en] jener Bil­der […], die er über Breitband / und Hochgeschwindigkeitstransmission aus dem Netz / […] empfangen hatte“ (203), abgleichen ließ. Liams Streben, den fliegenden Berg zu bezwingen, steht das Schreibprojekt des jüngeren Bruders gegenüber, das sich in gewisser Weise als ‚poetische Geodäsie‘ bezeichnen lässt. Pad versucht den Phur-Ri mit anderen Mitteln sowie aus anderen Gründen festzuschreiben, reflektiert dabei aber zugleich die Unmöglichkeit einer solchen Fixierung. Die Landschaft, die er während des Erzählens generiert, gleicht dem virtuellen Modell seines Bruders. Doch während Liam erwartet, dass sich der von ihm ‚erschaffene‘ Berg zur Wahrhaftigkeit aufwirft, ist der erzählte Berg von vornherein in einer Landschaft „aus Pappmaché“ (49) angesiedelt und bleibt „losgelöst von allen Dimensionen der Wirklichkeit“ (49). Schon der Rückbezug auf das goldene Zeitalter der Entdeckungsfahrten weist das Reiseziel Kham als einen von der Realität der Gegenwart abgetrennten Ort aus. Indem diese Referenz auf frühere Expeditionen in unwirtliche Eiswüsten auch noch in erster Linie durch Texte erfolgt, treten die Brüder mit ihrer Reise zu einem noch unbetretenen Berg im Himalaya bereits in die Spur ihrer literarischen Vorgänger. Das Verhältnis zwischen Vorgänger und Nachfolger veranschaulicht in Der fliegende Berg das Bruderpaar selbst  : Der Erzähler Pad fühlt sich in der Spur des voransteigenden Liam gefangen wie „eine Puppe an einem Marionettenfaden“ (264). Die Reise nach Kham ist für ihn lediglich die „Fortsetzung eines Schauspiels, in dem [er], / wenn überhaupt etwas, dann nur stumme Person, Statist, / bestenfalls Zuhörer oder Stichwortgeber“ (107) 5 Christoph Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Frankfurt/M. 1994, S. 23. Die Brüder in Der fliegende Berg folgen mehr­fach den Spuren ihrer Vorgänger in der Ransmayr-Prosa. Diese sind ebenfalls in der Land­schaft Ver­schwun­dene, die am nördlichen Ende der Welt (Die Schrecken des Eises und der Finsternis) oder im brasilianischen Dschungel (Morbus Kitahara, Frankfurt/M. 1995) verloren­gehen bzw. sich der Wüste als „Entwässerungsobjekt“ überlassen (Strahlender Untergang, Frankfurt/M. 1982). Jeweils handelt es sich um entlegene Orte, die im Text Gestalt an­neh­men und doch unvereinnehmbar bleiben und ihre Subjekte verschlingen. Vor allem je­­doch lassen sich in Der fliegende Berg Spuren antreffen, die auf Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis verweisen, in dem die historische Polarfahrt des 19. Jahrhunderts so­wie deren literarische Nachfahren multiperspektivisch ineinandergeschaltet werden.

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war. Am Seil des Bruders ist Pad nur eine Marionette, die zwangsläufig den Bewegungen des ‚Strippenziehers‘ folgt. Allerdings findet diese Nachfolge nicht mehr zeitlich versetzt, sondern am gleichen Ort zur gleichen Zeit statt. Dieser nicht unerhebliche Unterschied visualisiert das Verhältnis sowohl der empirischen als auch der literarischen Vorgänger und Nachfolger zueinander  : Die Brüder bilden eine Seilschaft und sind buchstäblich durch einen Strang miteinander verbunden. Zwar gibt vorerst Liam Richtung und Tempo vor, aber im Verlauf des Romans wird deutlich, dass Pad dem Bruder nicht nur passiv nachsteigt, sondern dessen Bewegungen am anderen Ende des Seils ebenso beeinflussen kann. Die Beschreibung des Aufbruchs nach Tibet als „Fortsetzung eines Schauspiels“ weist das Abenteuer der Brüder erneut als textuelle Reise aus. Der ‚weiße Fleck‘, dem sie nachjagen, bildet nicht nur eine Leerstelle in der Landkarte, sondern zugleich eine terra poetica – einen virtuellen Ort, der in und durch Sprache entsteht, beispielsweise in den Texten, die den empirischen Erkundungstouren vorangehen oder ihnen folgen und den noch unbetretenen Gebieten eine sprachlich gefestigte Kontur verleihen. Die Besteigung des fliegenden Berges liest sich derart als metapoetische Reise, die mit dem Wunsch einhergeht, eine vermeintliche Leere zu beschreiben und ihrem Weiß das Schwarz der Schriftzeichen entgegenzusetzen. Der ‚weiße Fleck‘ bestimmt den Schreibprozess jedoch gerade nicht als das Einschreiben in eine jungfräuliche Fläche, sondern als das Betreten eines Gebietes, an dem immer schon die schwarze Fahne der intertextuellen Vorgänger weht.6 Eine sprachliche Konturierung des fliegenden Berges erfolgt im Roman insbesondere durch die Beschreibung des Neuen und Unbekannten mit Hilfe des bereits Vertrauten und Zurückliegenden. So vergleicht der Erzähler Pad die Erstbesteigung des Siebentausenders etwa mit den Kletterübungen an den Klippen von Horse Island. Durch derartige Rück­ bezüge führt die Reise der Brüder letztendlich nicht mehr in das tibetische Hochland, sondern in ein steinernes Meer bzw. in eine wässrige Gebirgslandschaft, in der „die Eis- und Wasserwelten vereint“ (306), „Höhe und Tiefe eins / und unentscheidbar“ (61) sind. Bei ihren Manövern an der irischen Steilküste ließen sich die Brüder „vom Meer selbst emporheben / zum ersten Tritt eines Weges in die Wolken“ (35). Ihre „Wege in die Höhe“ begannen jeweils „mit einem Abstieg ans Meer“ (37) und die Besteigung des Berges erfolgte als Bewegung „zurück aus der Dünung aufs feste Land“, als „Rückweg“ (88). Analog dazu erweist sich auch der Roman als Geschichte eines Rückwegs, denn er beginnt nahezu auf dem Gipfel des fliegenden Berges und setzt mit dem Sturz des Erzählers beim Abstieg ein. Liam spricht solange auf seinen Bruder ein, bis dieser wieder zu Bewusstsein kommt. Aber kurz nachdem er Pad ins Leben zurückerzählen konnte, reißt ihn eine Lawine mit sich und begräbt ihn unter ihrem Schuttkegel. Die Beschreibung der Erstbesteigung des noch unbezwungenen Siebentausenders als Rückweg referiert an dieser Stelle nicht mehr nur auf die Kletterübungen der Brüder auf Horse Island oder auf den Abstieg vom Berg, sondern 6 Vgl. Bettine Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher, in  : DVjs 4, 2000, S. 545–599  ; vgl. auch den Beitrag im vorliegenden Band.

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verweist auf verschiedene Momente des Wiederholens  : Liams Eroberung des Phur-Ri ist ihm im Grunde kaum mehr als das wiederholte Betrachten einer virtuell erschaffenen Landschaft  ; sein Unglück wiederholt das des Bruders, mit dem Unterschied alllerdings, dass er dabei von einer Lawine verschüttet wird, deren Schutt wiederum den Gipfel des fliegenden Berges verdoppelt. Die eigentümlichen Wiederholungen, in denen jeweils eine Differenz eingeschrieben ist, nimmt Pad zum Anlass, die Reise noch einmal im Text aufzunehmen. Aber auch sein Tod zu Beginn des Romans, seine Auferstehung als Erzähler, liest sich als buchstäbliche Wieder-Holung. Anhand der zwei Brüder werden im Roman unterschiedliche Versuche nachgezeichnet, den fliegenden Berg fassbar zu machen  : einerseits Liams Reise zu den „Kulissen der Wirklichkeit“, die daran scheitert, die vor ihm aus­­­gebreitete ‚Wirklichkeit‘ mit einem schon vertrauten Modell abzugleichen  ; andererseits Pads Schreibprojekt, in dem sich Meer und Gebirge, Wasser und Eis, Vergangenheit und Gegenwart unlösbar miteinander verbinden, aber in der Überlagerung dennoch nicht greifbar werden. Zwar hält Pad dem unbezähmbaren Berg und seinem „chao­­tischen, wogenden Weiß“ (333) das Schwarz der Schrift­ zeichen entgegen, aber die Geschichte, die er erzählt, ist nicht die Eroberung des Phur-Ri. In ihrer Verschiebung ist es die Geschichte eines anderen Gipfels, dem des Schuttkegels, der für den Tod des Bruders steht. Während Liam Pad nach dessen Sturz „Satz für Satz“ durch „sein atemloses Reden“ (16) zurück ins Leben ziehen kann, bleibt dem Er­zähler zur ‚Rettung‘ des Bruders nur die Schrift, jene „Arznei gegen die Sterblich­keit, / die zwar nicht heilen, / aber doch lindern konnte“ (212). Dass die Schrift nicht dauerhaft zu konservieren vermag, veranschaulicht bereits die Geburtsstunde des Erzählers zu Beginn des Romans, als schwarzer Schnee vom Himmel fällt  : „Ich leb­te. / Es schneite.“ (13) Die schwarzen Flocken, die „wie verkohltes, / von einem un­sicht­­baren Feuer zerrissenes Papier / […] aus der Wolkenlosigkeit“ (14) taumeln, ent­puppen sich als „eisstarre Falter, Apollofalter“ (15), die die Brüder vorab als „geister­ haf­te Ströme auf dem Weg / in ein Mündungsgebiet des Lebens“ (202) betrachtet hatten. Der schwarze Schnee der erfrorenen Falter verweist auf eine Meta­morphose, in der diese aus dem „Mündungsgebiet des Lebens“ auf den Erzähler zurück­schneien und sei­nen Versuch, einen fliegenden Berg und dessen Geschichte fest­zuschreiben, ver­an­schau­lichen. Die Falter fallen wie verkohltes, das heißt auch wie nicht mehr lesbares Papier auf den weißen Schnee zurück, schwärzen diesen für wenige Augen­blicke und ver­­fliegen dann spurlos in der Landschaft. Die erneute Begegnung mit den schwarzen Faltern, die aus dem Himmel fallen und dabei kurzzeitig Spuren hinterlassen, bildet im Roman die Gelenkstelle zwischen der Geburtsstunde des Erzählers und dem, was dieses Erzählen initiiert. Zwar schreiben die Brüder ihre Namen „auf de[m] blen­den­den Gipfel des fliegenden Berges, / […] mit dem Schaft [d]es Eispickels / in den Schnee“ (15), doch Pad setzt diesen Zeichen eine Blutspur entgegen, die er un­will­kür­lich hinterlässt, als er Liam mit bloßen Händen aus dem Schuttberg zu graben versucht. „Erst jetzt, end­lich, schrieb ich, schrieb ich wirk-

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lich, / nicht bloß unsere Namen, wie auf dem Gipfel / und nicht mit dem Schaft meines Eispickels, / sondern mit tobenden Finger­kuppen in den Schnee, / unlesbare, blaßrote Zeichen“ (100). Die Blutschrift des Erzählers kann nicht gelesen werden und wird zunehmend verblassen, zeigt jedoch gerade darin die Entfernung des Schreibens vom Leben und Leben­di­gen an.7 Zu­rück auf Horse Island ist sich Pad trotz „Notizheft, / in dem [er] die Ersteigung eines Ber­ges, der flog, festhalten wollte“ (308), und trotz der Photographien vom Weg zum Gipfel kaum mehr sicher, ob er und sein Bruder „den Gipfel des fliegenden Berges / tat­säch­­lich erreicht haben“ (359). Noch während des Versuchs der Festschreibung tilgt der Berg die Spuren seiner Besteigung, von der die Brüder glaubten, man „würde sie lesen wie auf einer Zeile“ (256). Das Schreib­projekt kann nichts ver­leben­di­gen oder dauerhaft festhalten, aber ähnlich seinem Bruder erschafft sich Pad eine virtuelle Landschaft und darin die Möglichkeit, „seine Zeit und seinen Ort [zu] ver­lassen“, „sich nicht nur über Meere und Gipfel, / sondern über die Zeit selbst zu erheben / und aufzufliegen wie der Phur-Ri“ (212). Beide Brüder versuchen somit auf ihre Weise, dem fliegenden Berg, einem Ort, „so blendend weiß, / daß alles Wirkliche, Fassbare, / Unbezweifelbare in [seinem] Schein / zu verblassen begann“ (94f.), eine Kontur zu verleihen, die im Umkehrschluss nur unwirklich, unfassbar und bezweifelbar – die nur virtuell sein kann. Die verschiedenen Festschreibungsversuche der Brüder stehen sich im Roman aber nicht nur gegenüber, sondern sind miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Dopplungen wie die hintereinander erfolgenden Stürze sowie die in ihrer Wiederholung liegende Verschiebung durchziehen den Roman ebenso häufig wie Gegensatzpaare  : So werden im Text immer wieder Auf- und Abstieg, Tod und Leben oder Schwarz und Weiß einander entgegengesetzt. Auch die Unterschiede zwischen Europäern und Khampas, insbesondere zwischen der Nomadin Nyema, die die Legende vom fliegenden Berg erzählt, und dem Erzähler Pad, der diese schriftlich fixiert, werden ausgestellt. Am häufigsten jedoch bennent der Roman die Gegensätze zwischen dem Flüssigen und dem Festen, beispielsweise in der Konfrontation von Wasser und Eis, Meer und Gebirge, Insel und Berg, Seemann und Bergsteiger. Derartige Gegenüberstellungen muten zunächst plakativ und schematisch an, haben im Roman aber gerade nicht den Effekt einer klaren Trennung und Positionierung, vielmehr wird scheinbar Zusammengehörendes auseinander gerissen und dafür das vermeintlich Konträre verbunden. Der Text zeigt somit an, inwiefern sich die Bestandteile der Gegensatzpaare nicht nur gegenüberstehen, sondern auch ineinander verschränkt und miteinander verbunden sind. Das im Roman erschaffene Steinmeer liest sich derart als Figur der Dopplung und Spaltung, als unauflösbares Geflecht sowohl dualer und komplementärer Formen als auch unteilbarer Einheiten und Paare. Immer wieder wird 7 Vgl. Jens Nöller  : Das noch nicht beschriebene nächste Blatt. Der Mythos der Initiation zur modernen Dicht­­­kunst in Christoph Ransmayrs ‚Die Schrecken des Eises und der Finsternis‘, in  : Sprachkunst. Bei­trä­ge zur Literaturwissenschaft 24, 1998, S. 291–305, hier 304.

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in Der fliegende Berg etwa die Unmöglichkeit beschrieben, den einzelnen Gebieten einen eindeutigen Sinn zuzuweisen. Deutlich wird das vor allem an den Brüdern und ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Orten, beispielsweise an ihrer unterschiedlichen Einstellung zu Horse Island. Das Meer aber, das die Insel umgibt, ist nicht weniger ambivalent  : Es trennt den Erzähler vom Festland, besonders an stürmischen Tagen, wenn die Insel weder verlassen noch betreten werden kann, und verbindet ihn, den Seemann, zugleich mit dem Rest der Welt. Indem die Brüder den Orten unterschiedlich begegnen, Pad zu den Ausflügen ins Gebirge eingeladen und überredet werden muss, Liam sich hingegen vor dem Meer fürchtet, grenzen sie die Orte und sich selbst voneinander ab. Trotz ihrer Unterschiede bilden die Brüder aber dennoch eine Seilschaft und wären ohne den jeweils anderen nicht nach Tibet aufgebrochen. Ebenso verwischen zumindest teilweise die Unterschiede zwischen ihnen und den Khampas, die im Roman zunächst hervorgehoben werden und die tibetischen Nomaden nahezu zum Erlösungsmodell für zivilisationsmüde Europäer verklären. So steht etwa die Viehzucht als Hobby des Aussteigers Liam der Existenzgrundlage der Khampas gegenüber, nach der sie ihr gesamtes Leben ausrichten. Indem sich der Seemann Pad, der in gewisser Weise selbst als Nomade bezeichnet werden kann, zunehmend von seinem Bruder distanziert und in die Gemeinschaft der Khampas integriert wird, lösen sich die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen zwar nicht auf, aber die vorab fest umrissenen Begrenzungen werden instabil. Parallel zur Seilschaft der Brüder und der Verbindung zwischen dem Erzähler Pad und der Nomadin Nyema werden ebenso die auseinanderliegenden Orte, das Meer und das Gebirge, bei dieser Reise als zusammengehörig beschrieben. Der Roman ruft sie vorerst als Opposition auf und verknüpft deren Glieder mit anderen Oppositionen zu metaphorischen Gruppen des Flüssigen und des Festen. In diesen Metapherngeflechten sind die singulären Bedeutungen des Meeres, der Insel, des Wassers bzw. die des Gebirgsmassives, des Berges und des Eises zwar noch auszumachen, aber aus ihrer Ambivalenz und der gegenseitigen Bezugnahme gehen neue Sinnzuweisungen hervor, die sich nicht mehr im einzelnen auflösen lassen. Der Roman referiert zum Beispiel auf die Polarität des Wassers in der christlichen Metaphorik, erweitert diese um die Mythen der Khampas sowie um individuelle Bedeutungen, die der Erzähler den verschiedenen Orten gibt. Die Unmöglichkeit, dem Wasser im Roman einen singulären Sinn zuzuweisen, eröffnet schließlich den Zusammenhang zum Schreiben. Dieser erschließt sich nämlich nicht durch einen spezifischen inhaltlichen Bezug oder metaphorische Bedeutungsüberlagerungen, vielmehr durch die Analogie zwischen dem erzählten Ort und dem Textraum des Romans. Indem dieser das Gebirge als steinernes Meer beschreibt und zugleich die Mehrdeutigkeit des Wassers ausstellt, widersetzt auch er sich seiner Festschreibung. Somit verwehrt sich nicht nur die semantisch beschriebene Landschaft einer eindeutigen Bestimmung und ist gleichzeitig wässriges Gebirge sowie steinernes Meer  ; der Textraum selbst nimmt diesen Zustand des zugleich Erstarrten als auch Fließenden an und verweist darin auf den wechselseitigen Einfluss beider Räume des Romans aufeinander.

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In Der fliegende Berg wird literarisches Sprechen als eines ausgewiesen, das konträr zur Metapher der gefrorenen Schrift eine flüchtige Bedeutung nicht in der Erstarrung und Vereisung stiftet, sondern indem es sich der Verfestigung entzieht. Die Fluss- und Frostmetapher, von der sich dieses Modell absetzt, veranschaulicht traditionell den Umbruch von der Oralität zur Literalität und stellt der fließenden mündlichen Rede die gefrorenen Schriftzeichen gegenüber. In der Opposition zur Zeitlichkeit des Tones verweist die Metapher des erstarrten Wortes „auf die Dimension des Raumes, auf die stillgestellte, festgelegte Rede in toten, aber wiederzubelebenden Wörtern und Buchstaben“.8 Demnach ist die Vereisung Bedingung und einzige Möglichkeit, das (gesprochene) Wort vor der Vergänglichkeit zu bewahren, es räumlich und damit immer wieder abrufbar zu fixieren. Diesem phonozentristischen Modell, das der Schrift lediglich die Aufgabe zuspricht, mündliche Rede zu konservieren, steht die wässrige Schrift in Der fliegende Berg gegenüber, die sich zur Festschreibung nicht eignet. Analog zu Philip Wheelwrights Unterscheidung zwischen einer festen und einer flüssigen Sprache (‘block’ und ‘fluid language’)9 ist sie „nicht zur festen Sprache erstarrt“10, sondern „verfügt über eine unendliche Zahl von Spielarten“11, ist mehrdeutig und semantisch veränderlich. Das Wasser ist „fließendes Zeugnis, / daß, was ist, nicht bleiben kann“ (211). Beschrieben wird dies beispielsweise anhand der heiligen Bedeutung des Wassers bei den Khampas, deren Mythen immer wieder als Gegenbilder zu erstarrten europäischen Denkweisen aufgerufen werden. Die Khampas legen Gebetssteine in den Fluss, denn das „Wasser brachte alles und trug alles fort, / wusch und überflutete, legte frei und begrub / und spülte Gebete, die auf Stein graviert / und in Furten versenkt worden waren, / unter den offenen Himmel ans Meer / und so unter die Augen der Götter“ (74f.). Das Wasser verhilft den Schriftzeichen zur Sichtbarkeit, nimmt deren Bedeutung allerdings zugleich wieder zurück. Die Bestimmung des Gebetssteines liegt somit nicht in der Bewahrung und Überdauerung von Schrift, sondern im Prozess des Lesbarmachens und der anschließenden Tilgung dieser Bedeutung. Beschriebene Steine werden „im seichten Wasser versenkt“, „damit der Strom die dem Stein anvertrauten Gebete ans Meer trage […], / und unter der Sonne wieder zu Wasserdampf werde, / und die Schwaden des Dampfes wieder zur Wolke, / aus der dann Zeichen für Zeichen zurückregne, / zurückschneie“ (210). In dieser Zirkulation verändern sich nicht ausschließlich die Gestalt und Materialität des Zeichens, sondern auch das, worauf es verweist. Die Fähigkeit des Zeichens zur Transformation seiner Bedeutung anstelle der Fixierung eines eindeutigen Sinns ermög  8 Horst Wenzel  : Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 242.   9 Vgl. Philip Wheelwright  : Semantik und Ontologie, in  : Haverkamp, Anselm (Hg.)  : Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 106–119. 10 Ebd., S. 110. 11 Ebd.

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licht seine Lesbarkeit in immer neuen Bezügen. Aus diesem Grund sind die Mythen der Khampas, insbesondere die Geschichte vom fliegenden Berg, „keine Erzählung am Feuer“, sondern „eine Frage zwischen zwei Menschen, / von denen einer zuhörte und der andere sprach“ (149). Die Geschichte sollte sich „in jedem Kopf in etwas Neues, Unerhörtes verwandeln“ und jeder Zuhörer „daraus seine eigene Erzählung, / seine eigene Geschichte und sie dadurch / zu etwas Unverwechselbarem, Einzigartigem machen“ (149). Auf diese Weise bleiben die Mythen flüssig, formbar und lassen sich über „Meere, Gebirge und Abgründe hinwegerzähl[ ]en“ (130). Dass es sich bei dem erzählten Ort des Romans aber nicht um das wogende Meer, viel­­mehr um ein steinernes, eisiges Meer handelt, wirkt sich auch auf den in ein analoges Verhältnis gesetzten Raum des Textes aus. Hinweise darauf liefert bereits das Reiseziel der Brüder, das diesen mit seinen Zuschreibungen bestimmt. Auch bei ihrer Reise zum fliegenden Berg werden Begrenzungen aufgerufen, die letztendlich nicht der festen Verortung dienen, sondern von den Brüdern eigenmächtig verschoben werden. Liam erwirkt beispielsweise Einreisebewilligungen nach Lhasa und zwei Plätze in einem Konvoi, der in den sonst unzugänglichen Osten Tibets reist. Mit Hilfe eines Schmugglers entziehen sich die Brüder dort der Bewachung durch die chinesische Armee und werden zu den Khampas gebracht, die sie wiederum an den Fuß des gesuchten Berges führen. Die Motivation der Brüder, einen Berg zu besteigen, „um oben, einfach oben zu sein“ (200), ist den Nomaden nicht nur unbegreiflich, sondern stellt eine erneute Grenzverletzung dar. In den Legenden der Khampas dienen die Gipfel der höchsten Berge den Göttern als Sitz und Heimstätte. Mit Gebetsfahnen markieren sie die Grenze zu dem Bereich, der allein den Göttern als den Erschaffern dieser Berge vorbehalten ist. Sie glauben, daß einer, der seinen Fuß in die Schneegärten der Götter setze, Gefahr lief, daß er damit das eigene Leben zertrat, denn der Taumel höher und höher und über diese grellweißen, verbotenen Höhen hinaus führte einen, der selber kein Gott war, bloß in die Schwärze, in die Leere, hinaus in die Nacht. (128)

Die Bedeutung der Berge vergegenwärtigt insbesondere die Legende vom fliegenden Berg. Er „sollte jeden […] / daran erinnern, daß nichts, nichts  !, / und sei es noch so mächtig, so schwer, / eisgepanzert, unbetretbar, unbesiegbar, / für immer bleiben durfte, / sondern daß alles davonmußte, verfliegen“ (155). Denn die fliegenden Berge treiben auch wieder „davon[ ], heimwärts, zurück zu den Sternen, / langsam, unaufhaltsam und in strahlendem Weiß“ (138). Für die Khampas ist diese Vorstellung so selbstverständlich wie „Naturgesetze[ ], die Wasser in steinhartes Eis / oder Felsen in flüssige Lava verwandeln“ (138).

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Die Mythen des aus Zeit und Raum gehobenen Kham aktualisieren einerseits eine im Zuge des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses verschüttete christliche Metapher – die Bergbesteigung als Anmaßung und Überschreitung einer gesetzten Grenze. Andererseits heißt es im Roman, „Vorschriften, deren Notwendigkeit er nicht einsah, / befolgte Liam grundsätzlich nicht, / er tat, wozu er sich fähig glaubte“, weil „ihn die meisten Grenzen empörten, / es sei denn, sie hatten die Gestalt eines Strandes“ (80). Der Roman ruft somit eine Vielzahl äußerer Beschränkungen wie das Einreiseverbot nach Kham oder die religiösen Gebote der Khampas auf, erzählt jedoch ebenso, wie die Brüder die Notwendigkeit dieser Grenzen nicht als verbindlich anerkennen und sich spielerisch über sie hinwegsetzen. Diese Gleichzeitigkeit, mit der im Roman Begrenzungen aufgezeigt als auch wieder relativiert werden, liest sich als Relektüre verschiedener Modelle der Grenzüberschreitung, die für die Brüder nicht mehr zutreffen. Bezeichnenderweise führt ihr Weg zu einem fliegenden Berg, dessen Gipfel die Form eines Strandes annimmt, der von Liam als Grenze respektiert wird, für Pad allerdings Inbegriff der Grenzenlosigkeit ist. Die Beschreibung des fliegenden Berges als Ziel und Gegenstand des Romans bestätigt letztendlich, was durch die Inszenierung des Himalaya als Steinmeer langwierig vorbereitet wurde  : Gebirge und Berg bilden nicht den festen Gegenort zum Meer, sondern erweisen sich als ebenso veränderlich und verrückbar, flüchtig und vergänglich. Diese Gleichzeitigkeit – das Gebirge als Meer, das Meer als Gebirge – wirkt sich auch auf das Verständnis literarischer Sprache als flüssiger Sprache aus. Das zu Eis und Stein erstarrte Meer verweist auf den Umstand, dass dem Fließenden nur dann eine Bedeutung gegeben werden kann, wenn es kurzzeitig fassbar gemacht und dem Fluss der möglichen Sinnzuweisungen enthoben wird. Die befremdliche Konfrontation des Flüssigen mit dem Gebirge aus Eis und Stein durch die Bezugnahme des Erzählers dient als eine solche kurzzeitige Verfestigung, durch die erst das Wässrige und Flüchtige lesbar wird und sich danach wieder auflöst. Eis und Stein der Hochgebirgslandschaft erhalten hier aber nicht die Zuschreibung des Erstarrten und Gefestigten, vielmehr die des notwendigen Anknüpfungspunktes oder nach Lacan eines ‚point de capitou‘, der zur Lesbarkeit verhilft.12 Zugleich veranschaulicht eben diese Bezugnahme die Virtualität der erzählten Landschaft. Der Roman verweist diesbezüglich auf die „Tatsache, / daß selbst die Höhen und Gipfel / des küstenfernsten Wüstengebirges / als Meereshöhen vermessen werden“ (37). Der am mittleren Meeresspiegel ausgerichtete Nullpunkt dient dabei als Bezugsgröße, um die Tiefe von Gewässern und die Höhe von Bergen gleichermaßen zu bestimmen. Meeresgrund und Gipfel werden somit als jeweils zwei Enden einer Messskala ausgewiesen, die ein gemeinsamer Nullpunkt verbindet. Darüber hinaus bezeichnet der Nullpunkt zugleich den Gefrierpunkt, der das Erstarren des Wassers bzw. die Verflüssigung des Eises anzeigt. Die Gegensätze in Der fliegende Berg – das Meer und das Gebirge sowie Wasser und Eis – erstrecken sich somit von jeweils einem gemeinsamen Punkt in entgegengesetzte Rich12 Vgl. Jacques Lacan  : Schriften 2, hg. von Norbert Haas, Olten 1975, S. 27.

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tungen. Neben dieser verbindenden Funktion reflektiert der Nullpunkt als Metazeichen für die Abwesenheit von Zeichen den Vorgang des (Er-)Zählens und mit diesem auch den (Er-)Zähler selbst. Bereits die regionalen Unterschiede zur Bestimmung des ­mittleren Meeresspiegels, an dem das Nullniveau festgemacht wird13, oder auch Temperatur­ messungen jenseits der Celsius-Skala weisen den Nullpunkt als gesetzte Grenze aus. Die Null bzw. der Nullpunkt zeigt die virtuelle Präsenz eines (er-)zählenden Subjekts an. Zu Beginn der Reise, als die Brüder zu den Nomaden in Kham stoßen und ihre erste Nacht am Fuß der Berge verbringen, steht der Erzähler bezeichnenderweise „im Drehpunkt eines Kreises, / […] von allem gleich weit entfernt / und allem gleich nahe – nicht nur dem, / was längst hinter [ihm], sondern auch dem, / was noch in der Zukunft verborgen war“ (67). Einen ähnlichen Nullpunkt setzt Pad bei seiner Rückkehr nach Horse Island, als er auf der Insel seines verstorbenen Bruders, die er als „umbrandete Geborgenheit,  / herausgehoben aus der Zeit“ (28) bezeichnet, zu schreiben beginnt. Im bereits leeren Haus sieht Pad, während er über das tibetische Hochgebirge und den fliegenden Berg schreibt, „in jedem Fenster  : Das Meer“ (100). „[D]ie Salzblüten am Glas wie Eisrinden, Schnee“ (100) bringen ihn hingegen an den Ort der Handlung, ins Hochland von Kham zurück. Im Blick auf das Meer durch die salzverkrusteten Fenster entsteht der Zwischenort des Erzählens  : Trug Pad vorab das Meer ins tibetische Hochland, so begleiten ihn die eisigen Berge nun zurück an die Küste. An diesem Ort schafft sich der Erzähler ein Zwischenreich, in dem „die meisten Ortsnamen, / Titel von Meeren, Flüssen, Kontinenten, / keine Bedeutung mehr“ (72) haben und „gleich neben den überwächteten Graten / des Landes Kham […] die Berge Irlands [liegen]“ (68). Wie die Reise auch verläuft, welche Höhenmeter die Brüder erreichen und welche Tiefen, das Erzählen darüber findet zwischen dem hinter ihnen liegenden Meer und den in der Ferne aufragenden Bergen statt  : Der Ort des Erzählens ist in diesem Sinne nicht nur einer der Gleichzeitigkeit, sondern auch der Gleichräumlichkeit. In der Verbindung von Meer und Gebirge, ihrer Geschichten und Zeitlichkeit lösen sich die aufeinandertreffenden konkreten Orte – Irland und der Himalaya – zu Gunsten der daraus hervor­ gehenden Zwischenlandschaft des Erzählens auf. Der Erzähler, der im Roman den Punkt festlegt, an dem Gebirge und Meer voneinander getrennt sind oder auch ineinander übergehen, ist einerseits Teil der Fiktion, die diese Gleichzeitigkeit von fest / flüssig und Eis / Wasser überhaupt erst ermöglicht, andererseits aber auch ein Punkt außerhalb dieser Setzung, der diese als solche markiert. Wenn vorab die Rede vom notwendigen Anknüpfungspunkt war, von der kurzzeitigen Verfestigung des Flüssigen durch die Bezugnahme des Erzählers sowohl auf das Gebirge als auch auf das Meer, ermöglicht dieser Punkt nicht nur die Lesbarkeit, sondern erschwert sie zugleich. Denn er verweist auf seine will13 In Deutschland etwa der Amsterdamer Pegel  ; im Himalaya sind es je nach Staat verschiedene Bezugs­ größen  : chinesische Messungen gehen zum Beispiel vom Pegel in Qingdao, nepalesische Messungen vom Pegel in Karachi aus.

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kürliche Setzung  : Die Verfestigung stiftet zwar Sinn, stellt den literarischen Text aber zudem als artifizielles Gebilde aus, dessen Bedeutung nicht unverrückbar feststeht, sondern offen und unabschließbar ist. Veranschaulicht wird dieser Zusammenhang unter anderem in der auffälligen Form des Romans, denn Der fliegende Berg ist im Flattersatz bzw. im „fliegenden Satz“14 verfasst, wie ihn Christoph Ransmayr betitelt. Sowohl im Weitertragen der Legende vom fliegenden Berg als auch in seiner formalen Gestaltung erweist sich die laut Paratext als „Roman“ gekennzeichnete Narration als hybride Mischung aus Roman und Epos. Der in dieser Verbindung generierte Textraum ist dabei ebenso schwer in seine einzelnen Bestandteile aufzulösen wie das steinerne Meer oder die wässrige Gebirgslandschaft, die Meer und Gebirge, in der Gleichzeitigkeit aber nichts davon ist. Der anaxiale Satz teilt den Text in Verse und Abschnitte, gruppiert und betont einzelne Satzteile und gibt damit einen Sprachfluss vor, aus dem sich schwer ausbrechen lässt. Einerseits referiert die formale und auch thematische Ausgestaltung des Textes auf das Epos, das von Irrfahrten und Katastrophen, von Heldentaten und Abenteuern berichtet, andererseits weicht sie aber davon ab, zum Beispiel indem die Brüder Pad und Liam trotz ihrer nahezu stereotypen Zuschreibungen als Seemann und Bergsteiger über individuelle Lebensgeschichten verfügen. Die eigentümliche Verbindung von Elementen des Epos und des Romans lässt sich auch in Bezug auf die spezifische Umwandlung der Geschichte vom fliegenden Berg lesen  : Der Erzähler Pad transformiert die ursprünglich mündlich überlieferte Legende der Khampas in einen geschriebenen Text. Dieser ist ebenso wie das Erzählen der Nomaden „eine Frage zwischen zwei Menschen, / von denen einer zuhörte und der andere sprach“ – mit dem Unterschied allerdings, dass der geschriebene Text keine Änderung erfährt und sich so den Gegebenheiten seines Gegenübers nicht anpassen lässt. Eben dadurch erfolgt eine Verschiebung dieser Leistung von der erzählenden Instanz, die ihre Geschichte in die des Zuhörers verwandelt, hin zum Leser des Romans, der den in seiner äußeren Form gleichbleibenden, da festgeschriebenen Text zur eigenen Geschichte verändert. In dieser Lesart wird der fixierte Text zu einem flüssigen und fließenden, der sich erst in der jeweiligen Lektüre zu Sinn verfestigt. Dieser Textraum gleicht dem steinernen Meer bzw. der wässrigen Gebirgslandschaft, von der Der fliegende Berg erzählt. Selbst die äußere Textgestalt des Romans nimmt damit die Ambivalenz der Zuschreibungen des Erstarrten und Fließenden in sich auf. Der den Sprachfluss bestimmende Satz lässt den Text mit den frei auslaufenden Enden regelrecht vom Papier abheben. Zugleich liest sich diese Form aber auch als nachgebildete, ins Kippen gebrachte Horizontlinie des Hochgebirges. Der jeweils letzte Buchstabe der Zeile markiert den „Himmelsrand“ als jene „Grenze, / die alles Dahinter-, Darüber- oder Darunterliegende / zum Ungewissen, Verborgenen machte“ (240). 14 Ransmayr  : „Notiz am Rand“, Der fliegende Berg, S. 7.

Vorschriften, Nachfahren und Relektüren

Hansjörg Bay

Literarische Landnahme  ? Um-Schreibung, Partizipation und Wiederholung in aktuellen Relektüren ­historischer ‚Entdeckungsreisen‘

Den pointiertesten Kommentar zur Geschichte der ‚Entdeckungsreisen‘ verdanken wir Georg Christoph Lichtenberg  : „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“1 Dass die versehentliche Großtat des spanischen Admirals für die Einwohner des von ihm ‚entdeckten‘ Kontinents katastrophale Konsequenzen hatte, war Lichtenbergs aufgeklärten Zeitgenossen freilich längst geläufig. Der Witz seiner lakonischen Formulierung liegt denn auch nicht so sehr im Hinweis auf diese Folgen als vielmehr darin, dass er Kolumbus selbst zum Objekt der ‚Entdeckung‘ macht – eine Umkehrung der Perspektive, die den Begriff des ‚Entdeckens‘ als koloniale Rhetorik erweist und den Helden der europäischen Expansion damit gründlicher demontiert als jede Kritik seiner epochalen Leistung dies vermöchte. Lichtenbergs minimalistische Relektüre der Urszene kolonialer Expansion setzt Maßstäbe für die Auseinandersetzung mit einer Thematik, die in der deutschsprachigen Literatur der letzten anderthalb Jahrzehnte eine erstaunliche Konjunktur erfahren hat.2 Die diskursiven Vorzeichen haben sich dabei weniger verändert als der historische Abstand vermuten ließe. 1 Georg Christoph Lichtenberg  : Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 2  : Sudelbücher II  : Materialhefte, Tagebücher, München 1971, S. 166. 2 Bezogen sich die Vorreiter dieser Konjunktur, Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) und Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), noch auf polare Regionen, so verschieben die späteren, seit Mitte der 90er Jahre in zunehmend rascher Folge erschienenen Romane den Fokus auf (proto)koloniale Kontexte vor allem in Afrika. Zu nennen sind hier insbesondere Raoul Schrott  : Finis terrae. Ein Nachlaß (1995), wo dieser Szenenwechsel noch innerhalb des Textes selbst vollzogen wird, sowie dann Michael Roes  : Rub‘ Al-Khali. Leeres Viertel – Invention über das Spiel (1996), Alex Capus  : Munzinger Pascha (1997), ders.: Reisen im Licht der Sterne (2005), ders.: Eine Frage der Zeit (2007), Felicitas Hoppe  : Pigafetta (1999), dies  : Verbrecher und Versager. Fünf Porträts (2004), Hans Christoph Buch  : Kain und Abel in Afrika (2001), ders.: Sansibar Blues oder wie ich Livingstone fand (2008), Thomas Stangl  : Der einzige Ort (2004), Daniel Kehlmann  : Die Vermessung der Welt (2005), Ilija Trojanow  : Der Weltensammler (2006), Christof Hamann  : Usambara (2007). Bereits 1974 erschien Urs Widmers satirischer Roman Die Forschungsreise, der aber in der Rezeption weitgehend untergegangen zu sein scheint. – Zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen vgl. das Themenheft ‚Historische Stoffe‘ der Neuen Rundschau 118, H. 1, 2007, sowie vor allem den von Christof Hamann und Alexander Honold herausgegebenen Tagungsband Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Göttingen 2009).

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Obwohl die ‚Entdecker‘ auch dort, wo sie nicht so unmittelbar in die Geschichte kolonialer Eroberungen verstrickt waren wie Kolumbus, Wegbereiter einer für die Einheimischen fatalen Entwicklung wurden, sind ihre Reisen im kollektiven Gedächtnis der Europäer noch immer vom Nimbus des Heroischen umgeben, fungieren sie als Beglaubigung zivilisatorischer Überlegenheit und als paradigmatische Verkörperung neuzeitlichen Selbstverständnisses. Bei aller Faszination durch den Topos des Unbetretenen und die Figuren der Grenzüberschreitung und Eroberung sind sich die meisten der jüngst erschienenen Romane der erinnerungspolitischen Herausforderung bewusst, auf die sie sich mit der Hinwendung zu den überlieferten Szenarien der Erstbegehung und -begegnung einlassen. Denn ob ihre Protagonisten dies wollten oder nicht  : ‚Entdeckungsreisen‘ sind zugleich Vorbereitung und Beginn der kolonialen Durchdringung und insofern immer schon koloniale Projekte. In den Aufzeichnungen und Berichten, die die Reisenden nach Abschluss ihrer Expeditionen publizierten, wird dies freilich kaum problematisiert. Im Gegenteil  : Wie mit unterschiedlicher Akzentuierung und für verschiedene historische Zusammenhänge Stephen Greenblatt, Mary Louise Pratt und Johannes Fabian gezeigt haben, tragen die Expeditions­ berichte durch ihre spezifische Verfasstheit ihren Teil bei zur symbolischen, imaginären und realen Eroberung der beschriebenen Gebiete.3 Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie sich die aktuellen Relektüren zu dieser doppelten Sachlage verhalten. Wenn nicht nur die Reisen selbst, sondern auch ihre schriftliche Präsentation und der Expeditionsbericht als Genre am kolonialen Projekt beteiligt sind, wie gelingt es dann den erneuten Literarisierungen, der Faszination des ‚Entdeckens‘ nachzuspüren, ohne den kolonialen Gestus einfach zu wiederholen  ? Was setzen sie den Tendenzen der Überlieferung entgegen, und inwiefern erliegen sie selbst einem kolonialen Sog, indem sie entsprechende narrative Muster fortschreiben und erneuern  ? Eine solche Fragestellung zielt nicht primär auf die Bewertung einzelner Romane. Die Frage ist vielmehr, inwiefern wir – und die erste Person Plural bezeichnet hier die ‚Nachfahren‘ der ‚Entdeckungsreisenden‘ in dem ganzen komplexen Sinn, den dieses Wort für Abkömmlinge, Reisende und Lesende haben kann – bei der Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit in Gefahr geraten, die alten Muster zu wiederholen, was wir dieser Gefahr entgegensetzen können, inwiefern uns der Kolonialismus aber auch dann auf den Fersen bleibt, wenn wir ihn explizit loszuwerden versuchen. Es geht also um die Bedingungen und Möglichkeiten postkolonialer Erinnerung, spezifischer aber um die Möglichkeiten einer postkolonialen Ästhetik. Denn wie sich zeigen wird, sind das kritische und das ästhetische Potential der Texte nicht voneinander zu trennen  : Was in den aktuellen Relektüren litera3 Vgl. Stephen Greenblatt  : Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Oxford 1991  ; Mary Louise Pratt  : Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992  ; Johannes Fabian  : Out of Our Minds. Reason and Madness in the Exploration of Central Africa, Berkeley/Los Angeles/Lon­ don 2000 (im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung  : Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001).

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rische Innovationen hervorbringt, ist gerade der Versuch, mit jenen kolonialen Mustern zu brechen, die sich in tradierte Erzählverfahren und überkommene Darstellungsweisen eingeschrieben haben. Umgekehrt aber verdankt sich der analytische Mehrwert der Romane im Verhältnis zu einer historiographischen, kulturwissenschaftlichen oder diskursanalytischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der ‚Entdeckungsreisen‘ ihren spezifisch literarischen Möglichkeiten. I. Kolonialistische Konventionen. Der Expeditionsbericht als Genre Dass die Berichte von Forschungs- und ‚Entdeckungsreisen‘, die seit der frühen Neuzeit in Monographien und vor allem in der Hochphase des europäischen Imperialismus auch in Zeitschriftenbeiträgen einem interessierten Publikum vorgelegt wurden, durch die Bereit­ stellung von geographischem, klimatologischem, botanischem, linguistischem oder ethnographischem Wissen der kolonialen Expansion den Weg bereitet haben, braucht kaum eigens erläutert zu werden. Weniger selbstverständlich ist der gewissermaßen konzeptionelle Beitrag der Expeditionsberichte zum kolonialen Projekt, die Konstruktion eines bestimmten Mythos des ‚Entdeckens‘. Ungeachtet ihres forcierten Authentizitätsanspruchs folgt die Repräsentation von Erfahrungen und die Darbietung von Informationen in diesen – meist erst nach der Rückkehr in die europäischen Metropolen auf der Basis von Reiseaufzeichnungen verfassten – Berichten bestimmten, im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich verfestigenden Genrekonventionen, die Auswahl und Zuschnitt dessen steuern, was dem Leser vor Augen geführt wird. Abgesehen von den konkreten kolonialen Verstrickungen der einzelnen Reisen, an denen dann auch die zugehörigen Darstellungen partizipieren, ist der Expeditionsbericht als Genre4 am kolonialen Projekt beteiligt, insofern er ein bestimmtes Bild des ‚Entdeckers‘ und der ‚Entdeckungsreise‘ propagiert, gewisse Standards der Darstellung oder Nicht-Darstellung des Fremden etabliert und in seiner narrativen Anlage am kolonialen Gestus der Reisen partizipiert.5 4 Von einem Genre kann hier insofern gesprochen werden, als sich seit dem ersten Zeitalter der Entdeckungen Konventionen für die Veröffentlichung von Expeditionsberichten herausbildeten, die zwar einem historischen Wandel unterlagen, aber auch bestimmte, zum Teil schon aus der Logik der Sache resultierende Konstanzen aufwiesen und sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend verfestigten. Die Grenze zwischen Berichten von Reisen in außereuropäische Länder im Allgemeinen, von Expeditionen in abgelegene und schwer zugängliche Gebiete und von ‚Entdeckungsreisen‘ im strengen Sinn ist dabei nicht immer scharf zu ziehen, ebenso wenig wie diejenige zwischen Eroberungszügen, Abenteuer- und Forschungsreisen. 5 Die folgenden Ausführungen nehmen die Gefahr der Pauschalisierung in Kauf, um wesentliche Tendenzen der ‚primären‘, von den Reisenden selbst vorgenommenen – und doch bereits etablierte Konventionen wiederholenden – Literarisierung von ‚Entdeckungsreisen‘ deutlich zu machen. Dass sie in Abhängigkeit von dem historischen Zeitpunkt der Reisen, ihren geographischen Zielen, ihren konkreten Umständen und Zwecken sowie den Bedingungen ihrer Verschriftlichung der Spezifizierung und Differenzierung bedürfen, liegt auf der Hand. Konkret stütze ich mich im Folgenden vor allem auf Johannes Fabians Untersuchung der

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Souveränität, Abgrenzung und Kontrolle

In den Expeditionsberichten präsentieren sich die als Ich-Erzähler auftretenden Protagonisten als Abgesandte und Vorreiter einer überlegenen Zivilisation, die es unter den erschwerten Bedingungen der Forschungsreise gegen eine wenig zivilisierte Umgebung zu bewahren und durchzusetzen gilt. Ob sich der Reisende eher als Held und Eroberer begreift oder als besonnener Beobachter und Wissenschaftler, entscheidend ist in jedem Fall die Überlegenheit gegenüber den Einheimischen. Erfahrungen der Abhängigkeit werden im nachträglichen Bericht daher ebenso minimiert wie Krankheiten oder Zustände der Schwäche, Angst und Verzweiflung – Momente der Ohnmacht also, die die Reisen selbst nachhaltig geprägt haben müssen.6 Mit dem Anspruch auf Überlegenheit hängt aber auch der forcierte Abgrenzungsgestus zusammen, der als allumfassendes Regime der ‚Hygiene‘7 schon auf der Reise selbst ein Durchhalten des Eigenen gegen das Fremde sichern sollte und sich im Expeditionsbericht darin zeigt, dass jede Affizierung durch das Fremde und jede Tendenz zur Verbrüderung negiert werden muss – was zählt, ist die Herstellung einer nicht zu überbrückenden Distanz.8 Der Überlegenheit des ‚Entdeckers‘ und der von ihm vertretenen Zivilisation korrespondieren die Rationalität seines Projekts und dessen planmäßige Durchführung. Das Aberwitzige und Besessene, das im Run auf die letzten weißen Flecken der Landkarte liegt, die wahnhaften Momente in den persönlichen Antrieben der Reisenden, die zum Teil völlig unzureichende Vorbereitung, Kenntnis und Ausrüstung der Expeditionen, die Aussetzer, die unter den Extrembedingungen der Reisen nicht ausbleiben konnten, und die Zufälle, denen sich die ‚Entdeckungen‘ – so sie denn gemacht wurden – verdankten, Berichte von protoethnologischen Forschungsreisen in Zentralafrika. Von ihrer Dichte und theoretischen Originalität abgesehen – Fabians Versuch einer „Kritik der imperialistischen Vernunft“ (Im Tropenfieber, S. 81) hinterfragt den Mythos von der rationalen wissenschaftlichen Forschung, an dessen Etablierung Literarisierungsstrategien und Genrekonventionen maßgeblich beteiligt sind –, hat diese Studie den Vorteil, mit dem späten 19. Jahrhundert einen Zeitraum ins Auge zu fassen, in dem sich für derartige Berichte bereits relativ klare Genrekonventionen etabliert haben. Sie ist hier aber auch deshalb von besonderem Interesse, weil der Gegenstand der von Fabian untersuchten Darstellungen demjenigen der Romane, von denen später die Rede sein wird, historisch und geographisch relativ nahe kommt. Speziell zu deutschen Afrikareisenden und ihren Berichten vgl. außerdem Cornelia Essner  : Deutsche Afrikareisende im neunzehnten Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte des Reisens, Stuttgart 1985  ; Matthias Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus – Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005  ; Aminatou Tall  : Reise und Forschung im westlichen Afrika. Deutschsprachige Reiseliteratur im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 2005. 6 Vgl. Fabian  : Im Tropenfieber, S. 366 und passim. 7 Vgl. ebd., S. 86ff. 8 Zur Logik dieser Abgrenzung vgl. meinen Beitrag  : Going native  ? Mimikry und Maskerade in kolonialen Entdeckungsreisen der Gegenwartsliteratur (Trojanow, Stangl), in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 117–142, hier 117ff.

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werden ausgeblendet zugunsten des Bilds einer wohlbegründeten, sorgfältig geplanten und souverän durchgeführten Unternehmung. Als Pendant zum Regime der Hygiene erweist sich dabei ein exzessives Kontrollbedürfnis  : Zumindest im nachträglichen Bericht legen die Reisenden größten Wert darauf, möglichst alles an ihrer Expedition im Griff zu haben – vom eigenen Körper und der eigenen Psyche über die Ausrüstung und die auf der Reise gemachten Aufzeichnungen bis hin zu den einheimischen Helfern und den europäischen Reisegefährten.9 Ausblendung und Entwertung

In den Kolonialismus ist der Expeditionsbericht aber nicht nur durch die Überhöhung der ‚Entdecker‘ und die Verklärung ihrer Unternehmungen verstrickt, sondern auch durch die erzählerische Behandlung der fremden Länder und ihrer Bewohner. Wie Mary Louise Pratt gezeigt hat, präsentieren die Berichte der Reisenden durch die Art ihrer Landschaftsbeschreibungen die entdeckten Gebiete als etwas, das sich dem Zugriff der Europäer darbietet und, sei es aus ästhetischen oder ökonomischen Gründen, geradezu nach diesem Zugriff verlangt.10 Wichtiger noch als die literarische Behandlung der bereisten Territorien ist jedoch diejenige der einheimischen Bevölkerung. Wenn diese in den Expeditionsberichten marginalisiert, ausgeblendet oder systematisch entwertet wird, so verdankt sich das nicht einfach nur einem bornierten Rassismus, sondern hängt mit einem grundlegenden Problem all jener ‚Entdeckungsreisen‘ zusammen, die sich dieseits der wenigen unbewohnten Zonen des Erdballs abspielen. Indem er den Vorstoß ins Unbekannte behauptet, verknüpft der Begriff des ‚Entdeckens‘ in der europäischen Neuzeit die Erfolge der großen Reisenden mit denjenigen der wissenschaftlichen Pioniere. Was aber von den reisenden Europäern ‚entdeckt‘ werden soll, ist anderen immer schon bekannt. Während es de facto um nicht mehr und nicht weniger gehen kann als um einen Eintrag ins europäische Archiv, suggeriert der Entdeckermythos die Erschließung von Neuland schlechthin. Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Manipulation dazu beiträgt, die koloniale Besitzergreifung zu legitimieren. Für die Reisenden aber, die sich als ‚Entdecker‘ präsentieren wollen, ist die Ausblendung der fremden Präsenz nicht nur ein politisches, sondern auch ein epistemologisches und in gewissem Sinn ein existentielles Gebot. Während sie mit Namen und Flaggen, Karten und Reiseberichten an der symbolischen Eroberung des Territoriums arbeiten, dessen reale Inbesitznahme sie vorbereiten, müssen sie sorgsam darauf bedacht sein, es von den Spuren seiner Einwohner zu reinigen. Denn nur insofern es ihnen gelingt, das ‚entdeckte‘ Terrain in jenes unberührte, ‚jungfräuliche‘ Land zu verwandeln, das der weiße Fleck auf der europäischen   9 Vgl. Fabian  : Im Tropenfieber, bes. S. 192ff. 10 Vgl. exemplarisch Pratts Analyse von Richard Burtons Beschreibung der Ankunft am Lake Tanganyika (Imperial Eyes, S. 201ff.).

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Landkarte versprochen hatte, können sie ihm ihren eigenen Namen einschreiben und als ‚Ent­decker‘ in die Geschichte eingehen. Bevor die Einwohner der betreffenden Gebiete tatsächlich unterworfen werden, arbeiten die Berichte der ‚Entdecker‘ daher mit einem ganzen Set von Strategien daran, ihre Präsenz wenn nicht auszublenden, so doch zumindest für nichtig zu erklären. Neben der schlichten Verleugnung oder Marginalisierung der lokalen Bevölkerungsgruppen11 besteht ein ebenso verbreitetes wie wirkungsvolles Verfahren darin, ihnen jenen Subjektstatus abzusprechen, der allein zu Entdeckung, Benennung und Besitz eines Landes berechtigt. Als ‚Naturvölker‘ zum Inventar des von ihnen bewohnten Gebietes erklärt, das wie das Territorium mit seinen Tieren und Pflanzen vermessen und klassifiziert werden kann, erscheinen sie beispielsweise nicht mehr in der Lage, den Landmarken dieses Territoriums gültige Namen zu geben. Wo aber die Betroffenen zu mächtig sind, um sich einfach ausblenden oder als stumme Objekte in einen Teil ihres Landes verwandeln zu lassen, bleibt ihre intellektuelle oder moralische Entwertung, durch die sie eventuelle Ansprüche auf das in Frage stehende Gebiet verwirken – hierher gehört sowohl die stereotype Darstellung afrikanischer Anführer als irrationale Popanze im Drogenrausch12 als auch die scheinheilige Kritik des Sklavenhandels, die die arabische Präsenz in Afrika diskreditieren sollte. Helden der Überschreitung

Weniger auffällig, aber nicht weniger wichtig als diese Strategien der Identitäts- und ­Alteritätskonstruktion ist die Allianz zwischen der narrativen Struktur der Expeditionsberichte und dem Mythos des ‚Entdeckens‘. Zu nennen wären hier Genrekonventionen wie der hohe Stellenwert anekdotisch dargebotener Abenteuer, der die fremde Welt als Spielfeld für die Bewährung eines europäischen, neuzeitlichen, männlichen Subjekts erscheinen lässt, einer Bewährung nicht so sehr in wie gegen diese Welt.13 Entscheidend aber ist, dass sich die Geschichte einer Reise fast von selbst erzählt, wo sich das Erzählen dem Entdeckermythos anvertraut. Wenn ein Held, Jurij Lotman zufolge, eine Figur ist, die im Gegensatz zu allen anderen Figuren die Grenze zwischen zwei disjunkten semantischen Räumen zu überschreiten vermag14, so ist ein Reisender, der ein fremdes Territorium betritt, und gar ein ‚Entdeckungsreisender‘, der ins schlechthin Unbekannte vordringen soll, der Prototyp eines Helden. Und wenn ein „Ereignis“, von dem erzählt 11 Wie Fabian (Im Tropenfieber, S. 49ff.) betont, waren die ‚Entdecker‘ auf ihren Expeditionen permanent auf das Wissen und die Unterstützung der lokalen Bevölkerung, auf Führer und Dolmetscher, das bestehende Wegenetz und die Infrastruktur überregionaler Händler angewiesen, unterschlagen oder reduzieren deren Beitrag zum Gelingen der Reise in ihren Berichten aber systematisch. 12 Vgl. ebd., S. 56ff. 13 Zur Nähe der Expeditionsberichte zur Abenteuergeschichte vgl. Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus, S. 126ff. 14 Vgl. Jurij M. Lotman  : Die Struktur literarischer Texte, 4. Aufl. München 1972, S. 341f.

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werden kann, „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“15 ist, so fehlt es der Geschichte einer ‚Entdeckungsreise‘ jedenfalls nicht an diesem grundlegenden narrativen Element. Tatsächlich entfaltet sich das Sujet der Expeditionsberichte aus diesem zentralen Motiv der Grenzüberschreitung. Typischerweise setzen sie mit ihrer Erzählung an der Stelle ein, ‚ab der zu berichten sich lohnt‘, an der Schwelle also zum anderen Raum, zum Unbekannten – bei der Landung an der fremden Küste oder beim letzten Vorposten der Zivilisation, von dem aus sich die Karawane in Bewegung setzt. Diese Schwelle aber ist nur eine erste Trennlinie, hinter der die Kenntnisse lückenhaft und die Karten unzuverlässig werden. Wenn die ‚Entdeckungsreise‘ glückt, folgt ihr irgendwann die letzte und eigentliche Grenze, deren Überschreitung den Höhepunkt sowohl der Reise als auch der Erzählung darstellt, weil sich dahinter der weiße Fleck auf der Landkarte als der ganz andere, angeblich gar nicht semantisierte, tatsächlich aber immer schon von Legenden und Spekulationen überwucherte16 Raum als das eigentliche Ziel der Reise auftut. Was dazwischen liegt, erscheint als eine einzige langgezogene Transgression, eine Folge von Strapazen, die erlitten, von Hindernissen, die überwunden, und von Abenteuern und Gefahren, die erlebt und ausgestanden sein wollen – vor dem Hintergrund der Berichte über alltägliche Routinen und die erkundete und vermessene Welt aneinandergereiht mit der gebotenen Steigerungsdynamik. Was aber danach kommt, nach der Eroberung des weißen Flecks also, kann nur noch Nachklapp sein, ein Auslaufenlassen und eine Rückkehr, die selbst wenn sie einer nie begangenen Route folgt, doch nur den schon auf der Hinreise gebahnten Weg vom Bekannten ins vormals Unbekannte in umgekehrter Richtung durchläuft. II. Do it again  ? Postkoloniale Reinszenierungen zwischen Revision und Repetition Die Stilisierung der ‚Entdeckungsreise‘ zum Projekt einer überlegenen Zivilisation, die Marginalisierung und Entwertung der einheimischen Bevölkerung und die Ausrichtung der narrativen Struktur am Konzept der Überschreitung  : das sind grundlegende Tendenzen der literarischen Präsentation von ‚Entdeckungsreisen‘, die als allmählich sich etablierende Genrekonventionen den Erwartungshorizont der Leser bestimmten und deren individuelle Wiederholung in den Berichten der Reisenden zur Verfestigung des kollektiv gepflegten Mythos des ‚Entdeckens‘ beitrugen. Wenn aber diese ‚primären‘ – und doch immer schon Vorgegebenes wiederholenden – Reiseberichte die koloniale Landnahme als selbstverständlichen und quasi natürlichen Vorgang erscheinen lassen, (wie) gelingt es 15 Ebd., S. 332. 16 Zum Verhältnis zwischen prätendierter Unberührtheit und intertextueller Verfasstheit der sogenannten ‚weißen Flecken‘ vgl. Bettine Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher, in  : DVjs 74, 2000, H. 4, S. 545–599.

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dann den aktuellen Relektüren, mit dem tief in das europäische Selbstverständnis eingeschriebenen Mythos des ‚Entdeckens‘ zu brechen und kritische Distanz zu ihrem Gegenstand herzustellen  ? Wie verhalten sie sich zu den skizzierten Genrekonventionen und welcher literarischer Mittel bedienen sie sich, um die kolonialen Expeditionen einer postkolonialen Reflexion zugänglich zu machen  ? Um die Verfahren, die hier in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu beobachten sind, auf ihre Tragfähigkeit zu befragen, bietet es sich an, mit den beiden Texten zu beginnen, die als Vorläufer und Wegbereiter der aktuellen Konjunktur die Entdeckungsthematik in den Blick einer literarisch interessierten Öffentlichkeit rückten  : mit Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit und Christoph Ransmayers Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Als Erzählungen von Polarreisen bewegen sich die beiden in den achtziger Jahren erschienenen Romane zwar eher am Rand der kolonialen Problematik  ; gerade in ihrer Unterschiedlichkeit bieten sie aber einen guten Zugang zur Untersuchung narrativer Verfahren, die dann in späteren Texten in einem explizit kolonialen Kontext zum Tragen kommen. Reisen ins Eis. Narrative Strategien bei Sten Nadolny und Christoph Ransmayr

Nadolnys 1983 erschienener Roman17 berichtet vom Leben des legendären englischen Kapitäns und ‚Entdeckers‘ John Franklin (1786–1847), der 1845 auf der Suche nach der Nordwest-Passage zu einer der bestausgerüsteten Expeditionen seiner Zeit aufbrach – einer Fahrt ins Polarmeer, von der keiner der 129 Mann Besatzung zurückkehren sollte. Diese letzte, spektakuläre Expedition, deren Verbleib zahlreiche Suchexpeditionen beschäftigte und die paradoxerweise Franklins bleibenden Ruhm begründete, steht jedoch nicht im Mittelpunkt des Romans. Wie die Beteiligung an mehreren vorhergehenden ‚Entdeckungsreisen‘ bildet sie nur eine, wenn auch besonders wichtige Station der hier präsentierten Lebensgeschichte. Erzählt wird diese Geschichte von einer heterodiegetischen Instanz, die weitestgehend aus Sicht des Protagonisten berichtet und durchweg mit diesem sympathisiert. Wenn Nadolnys Roman Distanz zur Tätigkeit des ‚Entdeckens‘ herstellt, so geschieht dies nicht, indem er von seiner Hauptfigur Abstand nimmt, sondern durch diese hindurch. Franklins bestimmender Charakterzug – und zugleich das wichtigste fiktive Element des Romans – ist die Langsamkeit, eine Eigenschaft, die in scharfem, durch kontrastierende Nebenfiguren hervorgehobenem Gegensatz zu den gewöhnlichen Tugenden eines ‚Entdeckers‘ steht und deren Entdeckung im Titel des Romans in Konkurrenz zu den üblichen Zielen von Forschungsreisen tritt. Diese Eigenschaft führt nicht nur dazu, dass Franklin in der Polarregion anderes sucht als seine Auftraggeber18  ; sie befähigt ihn auch bei seinen früheren 17 Sten Nadolny  : Die Entdeckung der Langsamkeit. Roman, Neuausg. München/Zürich 1987 (EA München 1983). 18 Im Gegensatz zu allem, was von einem ‚Entdecker‘ typischerweise zu erwarten wäre, geht es Nadolnys

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Expeditionen dazu, im Kontakt mit den Einwohnern Australiens oder den Indianern im Norden Amerikas den Überlegenheitsanspruch seiner Reisegefährten kritisch in den Blick zu nehmen und deren koloniale Verhaltensmuster zu vermeiden.19 Nadolnys Umdeutung der Franklin-Figur und des mit ihr verbundenen Heldenmythos gehen einher mit einer komplexen Reflexion wahrnehmungsphysiologischer Prozesse und medialer Repräsentationstechniken, die der Roman auf ihr Verhältnis zu einem kolonialen Blick und zum Problem des ‚Entdeckens‘ befragt.20 Was das narrative Arrangement angeht, beschränkt sich die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Gehalt von Franklins Reisen allerdings auf die skizzierte, relativ schlichte und in ihrer Reichweite begrenzte Strategie  : Der Protagonist nimmt zwar teil an kolonialen Projekten, soll aber selbst kein Kolonialist sein, sondern ein kritischer Beobachter des kolonialen Verhaltens seiner Reisegefährten. Die grundlegende Konstellation des Entdeckungsnarrativs bleibt dabei weitgehend unangetastet. Durch die Abweichung seines Helden vom typischen kolonialen ‚Entdecker‘ bringt der Roman zwar eine kritische Perspektive ins Spiel  ; den ‚Entdecker‘ als Helden und die Per­ spektive dieses ‚Entdeckers‘ behält er jedoch bei. Einer wesentlich komplexeren narrativen Konstruktion bedient sich Christoph Ransmayr in Die Schrecken des Eises und der Finsternis.21 Der ein Jahr nach Die Entdeckung der Langsamkeit erschienene Roman behandelt die Geschichte der österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition von 1872, deren Teilnehmer mit ihrem Schiff bereits wenige Wochen nach dem Start im Packeis eingeschlossen wurden. Nach einjähriger Drift gelangten sie an ein unbekanntes, unter Schnee und Eis begrabenes Archipel, das sie zu Ehren ihres Monarchen Kaiser Franz-Josef-Land tauften und von wo aus ihnen nach endlosen Strapazen und einer zweiten Überwinterung im Eis nur mit knapper Not die Rückkehr in die Zivilisation gelang. Anders als Nadolny begnügt sich Ransmayr nicht mit der konventionellen Erzählung dieser Geschichte, sondern ersetzt sie über weite Strecken durch dokumentarisches MateProtagonisten eher darum, in Ruhe gelassen zu werden, als Ruhm und Ehre zu ernten, und eher darum, unterwegs zu sein, als ein Ziel zu erreichen (vgl. ebd., S. 196f. und 351f.). So scheint es nur konsequent, wenn er, anstatt als ‚Entdecker‘ der Nordwestpassage zurückzukehren, am Ende als ein Verschollener erscheint, dessen ins Packeis eingeschlossene Leiche auf unbestimmtem Kurs durchs Polarmeer driftet. 19 Vgl. ebd., S.  91ff. und 223ff. Dass Franklin nach eingehender Beobachtung auch die Einheimischen zu durchschauen vermag und, wie Kolumbus bei der ‚Entdeckung‘ Amerikas (vgl. Greenblatt  : Marvelous Possessions, S. 13), ihre Worte auch ohne alle Sprachkenntnisse versteht, stellt die Hierarchien allerdings wieder her. Auch stehen der kulturelle Respekt und das kulturelle Interesse, die Franklin zugeschrieben, jedoch kaum konkret vorgeführt werden, im Gegensatz zum kulturellen Desinteresse des Romans, für den keines der von Franklin bereisten Gebiete mehr ist als ein exotischer Schauplatz. 20 Vgl. insbesondere die den Roman durchziehende Auseinandersetzung mit der Erfindung eines ‚Bilderwälzers‘, der in seinem Charakter als „Illusionsmaschine“ (ebd., S. 278) ausdrücklich in ein Verhältnis zur Tätigkeit des ‚Entdeckens‘ gesetzt wird (vgl. S. 277). 21 Christof Ransmayr  : Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Roman, Frankfurt/M. 1987 (EA Wien/ München 1984).

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rial. Anstatt die Ereignisse aus dem Blickwinkel eines einzelnen Protagonisten zu präsentieren, bringt er dabei, und das hängt mit dem dokumentarischen Verfahren und der Arbeit mit Briefen und Aufzeichnungen unmittelbar zusammen, unterschiedliche Perspektiven ins Spiel. Anders als Nadolny rückt er auch nicht eine einzelne Person in den Mittelpunkt des Interesses, sondern akzentuiert die Unterschiede innerhalb der Expedition  : die sozialen und zum Teil auch kulturellen Differenzen zwischen den österreichischen Offizieren, den Jägern aus den Alpen und der italienischen Mannschaft, aber auch – und das treibt eine wichtige Ambiguität des ‚Entdeckens‘ hervor – den Gegensatz zwischen den beiden Anführern, dem ‚Eroberer‘ und Kommandanten zu Lande Julius von Payer und dem ‚Wissenschaftler‘ und Kommandanten zur See, Carl Weyprecht. Der wichtigste Unterschied zu Nadolnys Roman aber liegt darin, dass die Darstellung der Nordpolarexpedition in Die Schrecken des Eises und der Finsternis nur eine von mehreren Erzählebenen bildet. Hinzu treten ‚Exkurse‘ zur Geschichte der Polarreisen, die das österreichisch-ungarische Projekt in eine lange Reihe von Vorläufern stellen22, vor allem aber eine zweite Zeit- und Handlungsebene, die einen „Nachfahren“23 ins Spiel bringt  : den fiktiven Protagonisten Josef Mazzini, einen jungen Italiener, der in Wiener Archiven auf die Geschichte der Nordpolarexpedition stößt, in deren Bann gerät und ihrem Weg Richtung Norden folgt, um schließlich mit einem Hundegespann im Eis zu verschwinden. Reflektiert wird das Verhältnis dieser beiden Erzählstränge auf einer dritten, weniger breit entfalteten Zeit- und Handlungsebene, derjenigen des Ich-Erzählers, der die beiden Polarreisen nachzeichnet und sich, nicht ohne dies zu reflektieren, als Nach-Erzähler und Nach-Forscher zu dem „Nachfahren“ Mazzini ähnlich verhält wie dieser zur Nordpolarexpedition.24 An die Stelle einer in sich geschlossenen, autoritativ gesicherten Darstellung setzt Ransmayr damit nicht nur ein vielschichtiges, multiperspektivisches und für den Leser stets problematisches Bild der Nordpolarexpedition  ; deren Einbindung in eine Geschichte der Vor- und Nachfahrenschaft konterkariert auch die behauptete Erst- und Einmaligkeit des ‚Entdeckens‘ und konfrontiert den (Nach-)Leser mit der Frage nach seiner eigenen Position in und zu der Geschichte polarer Nachfahrenschaft.25 22 Vgl. ebd. S. 48ff. und 95ff. Hinzu kommt im dritten Exkurs eine chronologisch vom Alten Testament bis in die Gegenwart reichende Sammlung von Kommentaren zu Fahrten in die Polarregion (S. 195ff.). 23 Ebd., S. 31. 24 Vgl. ebd., S. 25. 25 Auch wenn dies bei Ransmayr nicht im Vordergrund steht, wird doch deutlich, dass es sich dabei auch um eine koloniale Geschichte handelt. In ein kritisches Licht rückt dieser Aspekt vor allem durch die Figur von Payers, dessen Eroberungsdrang bei der Erkundung der mit großer Geste in Besitz genommenen Inselgruppe geradezu wahnhafte Züge annimmt. Um des bloßen Erreichens von Breitengraden und der ‚Ent­deckung‘ eines Landes willen, das er selbst als „unbeschreibliche Einöde“ bezeichnet, mutet der ‚Kommandant zu Lande‘ seiner erschöpften Mannschaft extremste Strapazen und Risiken zu  ; als „vollendeter Entdecker“ kann er gar nicht genug davon bekommen, „seine Namen wie Bannsprüche über den Archipel“ zu streuen und mit „stolzer Erregung“ die Flagge Österreich-Ungarns ‚aufzupflanzen‘ (ebd., S. 221, 218 und 230).

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Expeditionen ins ‚Herz der Finsternis‘. Um-Schreibung, Partizipation und Wiederholung bei Christof Hamann, Ilija Trojanow und Thomas Stangl

In den Relektüren kolonialer ‚Entdeckungsreisen‘, die Autoren wie Raoul Schrott, Michael Roes, Alex Capus, Felicitas Hoppe, Hans Christoph Buch, Thomas Stangl, Daniel Kehlmann, Ilija Trojanow oder Christof Hamann seit Mitte der 90er Jahre und mit erhöhter Frequenz seit 2004 vorgelegt haben26, werden die bei Ransmayr zu beobachtenden Erzählstrategien – dokumentarisches Verfahren, polyphones Erzählen, Verzicht auf einen zen­ tralen Protagonisten, Zugriff auf zusätzliche Archive, Einbeziehung fiktiver Figuren und Handlungsstränge, Verdoppelung oder Vervielfachung der Zeit- und Handlungs­ebenen, autopoetologische Reflexion und anderes mehr – fortgeschrieben, variiert und ergänzt. Da sich der Schwerpunkt der literarischen Aufmerksamkeit dabei von der Polarregion, die auch bei Schrott noch im Vordergrund steht, auf tropische Gebiete und insbesondere auf Afrika verlagert27 – ein Phänomen, das als solches durchaus bedenkenswert erscheint28 –, stellt sich hier mehr noch als bei Nadolny und Ransmayr die Frage nach dem postkolonialen Potential solcher Strategien. Exemplarisch – und in Umkehrung der chronologischen Reihenfolge – soll sie hier anhand von drei jüngst erschienenen Romanen diskutiert werden, die sich in besonders ambitionierter Weise auf die erinnerungspolitische Herausforderung ihres Gegenstands einlassen und die alle drei in das Innere Afrikas, aber auch in das historische Zentrum des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert führen  : Thomas Stangls Der Einzige Ort (2004), Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006) und Christof Hamanns Usambara (2007). 26 Vgl. Anm. 2. 27 Dem korrespondiert eine Verschiebung des Interesses von der Figur des Verschollengehens (vgl. den Beitrag von Wolfgang Struck im vorliegenden Band), die bei der Auseinandersetzung mit den Fahrten ins Eis von entscheidender Bedeutung war, zu derjenigen des ‚Entdeckens‘. Diese impliziert nicht nur die Ankunft am Ziel, sondern immer auch jene Rückkehr, ohne die es keinen Eintrag ins europäische Archiv geben kann, ohne die aber auch der Angekommene, der auf sie verzichten würde, nichts anderes wäre als ein Abtrünniger der europäischen Zivilisation. 28 Die Verlagerung der reiseliterarischen Aufmerksamkeit steht im Kontext eines in den letzten Jahren zunehmend zu beobachtenden Interesses sowohl an kolonialen Themen als auch an Afrika als Region. Zur (auch populär-)literarischen Seite dieser Afrikabegeisterung vgl. Dirk Göttsche  : Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrikadiskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in  : Interkulturelle Texturen, hg. von Moustapha Diallo und Dirk Göttsche, Bielefeld 2003, S. 161–244  ; ders.: Der neue historische Afrikaroman  : Kolonialismus aus postkolonialer Sicht, in  : German Life and Letters 56, 2003, S.  261–280. Für eine Auseinandersetzung mit der fragwürdigen Konjunktur der deutsch-afrikanischen Kolonial­geschichte im Fernsehen vgl. den entsprechenden Exkurs bei Wolfgang Struck  : Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010, S. 271–308, sowie ders.: Reenacting Colonialism. Germany and its Former Colonies in Recent TV Productions, in  : German Colonialism, Visual Culture, and Modern Memory, hg. von Volker M. Langbehn, New York 2010, S. 260–277.

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Hamanns Roman29 behandelt auf einer ersten, historischen Ebene die erfolgreiche Erstbesteigung des Kilimandscharo durch Hans Meyer, Ludwig Purtscheller und – bei Hamann – Leonhard Hagebucher im Jahr 1889 sowie einen früheren, gescheiterten Versuch, an dem an Stelle des Bergführers Purtscheller der Afrikaforscher Oscar Baumann beteiligt war. Erzählt wird nicht aus der Perspektive des Expeditionsleiters Meyer, sondern aus derjenigen Hagebuchers, eines Erfurter Gärtnersohns, der Meyer als Botaniker begleitet und am Rande der Besteigungsversuche um seine eigene ‚Entdeckung‘ kämpft  : diejenige des Usambara-Veilchens. Als harmloser Gärtner und grotesker „Sitzzwerg“30, der mit seinen ‚restless legs‘ nicht nur laufen, sondern auch tanzen und „träumen“31 kann, steht der in der Hierarchie des Expeditionsteams ganz unten befindliche Hagebucher in deutlichem Kontrast zu dem zackigen Preußen Meyer, einem Kontrast, der nicht zuletzt deshalb auch zum Konflikt führt, weil Hagebuchers blaue Blume für Meyer kein hinreichend forschungswürdiges Ziel darstellt – wofür sich der Gärtner dann rächt, indem er den Expeditionsleiter auf dem Höhepunkt der Reise daran hindert, den Gipfel des Kibo „Meyerspitze“32 zu taufen. In Verbindung mit anderen, konventionelle Leseerwartungen irritierenden Verfahren wie der Übersteigerung ins Groteske oder der Überschreibung historischer Dokumente33 ergibt die Wahl dieser ungewöhnlichen, an einen Schelmenroman34 erinnernden Perspektivfigur bereits auf dieser historischen Ebene des Romans ein distanziertes und immer wieder ins Satirische kippendes Bild der Kilimandscharoexpedition, das deren rücksichtslos imperialistischen Charakter deutlich zu Tage treten lässt.35 Wie Ransmayr, und wie nach ihm Raoul Schrott in Finis terrae (1995), Michael Roes in Rub‘ Al-Khali (1996) oder Alex Capus in Munzinger Pascha (1997), bringt Hamann aber auch eine zweite Zeitebene und einen ‚Nachfahren‘ ins Spiel  : Hagebuchers Urenkel Fritz Binder, der in der Gegenwart des Romans zu einem Berglauf auf den Kilimandscharo aufbricht. Die innerfamiliäre Nachfahrenschaft, die sich hier in einem mehr als nur buch29 Christof Hamann  : Usambara. Roman, Göttingen 2007. 30 Ebd., S. 9. 31 Ebd., S. 10. 32 Ebd., S. 248. 33 Im Bericht vom Erreichen des Gipfels etwa gibt Hamann den bei Meyer zitierten Taufakt wörtlich wieder, ersetzt aber den Namen „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ durch „Meyerspitze“ und das „Recht des ersten Ersteigers“ durch dasjenige des ersten „Besteigers“ (Hans Meyer  : Ostafrikanische Gletscherfahrten. Forschungsreisen im Kilimandscharo-Gebiet, Leipzig 1890, S. 134  ; Hamann  : Usambara, S. 248). 34 Diesen Aspekt betont Ute Gerhard  : ‚Blaue Blume‘ und ‚Spießerpflanze‘. Spuren des deutschen Kolonialismus in Christof Hamanns Roman Usambara, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 323– 329. 35 Insofern erweist sich die Wahl dieser Perspektivfigur auch als literarisches Gegengift zu den nationalistischen und kolonialistischen Darstellungsstrategien, die Hamann in einem literaturwissenschaftlichen Beitrag an Meyers eigenen Expeditionsberichten hervorhebt. Vgl. Christof Hamann  : Verwundern, Entwundern, Disziplinieren. Hans Meyer bearbeitet den Kilimanjaro, in  : KulturPoetik 8, 2008, H. 1, S. 39–59  ; dort auch der Hinweis auf die einschlägigen Publikationen Meyers.

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stäblichen Sinn als Nachläufertum darstellt, rückt dabei in ein kritisches Licht. Nach und nach stellt sich nämlich heraus, dass die von Binders Mutter betriebene Stilisierung Hagebuchers zur familiären Lichtgestalt, an deren Vorbild ihr Sohn dann gefesselt bleibt, das überzeugte Mitläufertum ihres Vaters zur Zeit des Nationalsozialismus verdrängen soll. Wie schon in Hamanns vorausgehendem Roman Fester treten Kolonialismus und Nationalsozialismus dabei in eine enge Verbindung.36 Wenn der ökologisch korrekte „Kilimandscharo Benefit Run“37, der unter der Schirmherrschaft des damaligen Außenministers, früheren Marathonläufers und – was 2007 allerdings noch niemand wissen konnte – späteren Nabucco-Lobbyisten Joschka Fischer stattfindet, als Wiederholung und Fortschreibung der Erstbesteigung erscheint, enthält die Verdopplung der Zeitebenen aber auch eine deutliche Spitze gegen neokoloniale Tendenzen der Gegenwart. Der innovativste Zug des Romans freilich liegt darin, dass Hamann historisch Verbürgtes und Fiktives nicht wie Ransmayr auf die beiden Zeitebenen verteilt, sondern ­einen ­ironisch-satirischen Blick auf die koloniale Großtat der Kilimandscharobesteigung dadurch gewinnt, dass er sie durch Einführung einer fiktiven Figur von innen her in Frage stellt. Der Name dieser Figur, Leonhard Hagebucher, findet sich nicht in den Dokumenten der Erstbesteigung, sondern entstammt Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge38, von wo er außer in Hamanns Usambara auch in Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager hinüberwanderte.39 Dem Einschmuggeln der literarischen Figur in die historische Handlung korrespondiert die Infragestellung historischer Wahrheit auf der Gegenwartsebene, wo angesichts einer Kollision zwischen Familiengedächtnis und offizieller Geschichtsschreibung lange Zeit ungeklärt bleibt, ob Hagebucher wirklich den Gipfel erreichte oder bei der Expedition gar nicht dabei war. Wenn er in keinem der historischen Dokumente erwähnt wird, so hat sein Urenkel Fritz Binder dafür jedenfalls eine bündige Erklärung parat  : Aufgrund von Differenzen mit Hagebucher habe ihn der Expeditionsleiter Meyer rücksichtslos aus der offiziellen Version der Geschichte getilgt. Das wichtigste fiktive Element der historischen Romanhandlung erscheint damit innerhalb der Fiktion als die von der offiziellen Geschichtsschreibung unterschlagene Wahrheit. 36 Christof Hamann  : Fester. Roman, Göttingen 2003. Zum Verhältnis von Kolonialismus und National­sozia­ lismus in diesem Text vgl. meinen Beitrag  : Vom Waterberg nach Auschwitz  ? Kolonialkrieg und Shoah in der Gegenwartsliteratur, in  : Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ‚der Anderen‘ in der deutschsprachigen Literatur und im Film, hg. von Ortrud Gutjahr und Stefan Hermes, Würzburg 2011, S. 271–295. 37 Hamann  : Usambara, S. 52. 38 Wilhelm Raabe  : Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867), bearb. von Werner Röpke, Göttingen 1951 (= Sämtliche Werke, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe, Bd. 7). 39 Vgl. Felicitas Hoppe  : Hagebucher  : Abu Telfan, in  : dies.: Verbrecher und Versager. Fünf Porträts, Frank­ furt/M. 2006, S. 132–154 (EA Hamburg 2004). Auch hier tritt Hagebucher in eine Reihe mit historisch verbürgten Figuren, mit denen sich Hoppe allerdings in voneinander getrennten „Porträts“ auseinandersetzt.

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Binder selbst freilich erinnert in seiner Eigenschaft als Briefträger verdächtig an seinen Kollegen Störzer aus Raabes Stopfkuchen40, der über ebenso unermüdliche Beine verfügt wie Hamanns Protagonist und für den der ‚Entdeckungsreisende‘ Le Vaillant, dessen ­Bericht von seiner Reise in das Innere von Afrika41 auch Binder zu lesen bekommt, eine ähnliche Rolle spielt wie Hagebucher für seinen Urenkel.42 Neben der Infrage­stellung von Authentizität und historischer Wahrheit ergibt sich aus diesem raffinierten inter­ textuellen Spiel eine literarische Verkettung, in der sich die romaninterne Verflechtung der Nach- und Mitläufer spiegelt, die aber als poetologische Demontage von Autorschaft und ­Originalität das Bestreben der Bergsteiger und ‚Entdecker‘, um alles in der Welt der Erste zu sein, unterläuft.43 Zu denken gibt Hamanns erfolgreicher Beutezug durch Raabes Mondgebirge-, Seeund Mordgeschichten allerdings noch in einem anderen Sinn. Dass nämlich das literarische Surfen im Archiv der europäischen Literatur dazu beitragen kann, den höchsten Berg Afrikas zu einer deutsch-österreichischen Familienangelegenheit zu machen, zeigt, auch ohne Surfen, ein Blick in die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Unter dem Stichwort ‚Kilimandscharo‘ liest man dort  : Die Erstbesteiger waren der Leipziger Bergsteiger, Geograph und Forscher Hans Meyer, der österreichische Alpinist Ludwig Purtscheller und als Bergführer Yohani Kinyala Lauwo, die den Gipfel […] am 6. Oktober 1889 erklommen.44

Dass der einheimische Führer Kinyala Lauwo in Meyers Bericht von der Erstbesteigung nicht vorkommt45, mag nach allem, was eingangs über das Genre Expeditonsbericht gesagt wurde – von den Zweifeln, die Hagebuchers Urenkel Binder an der historiographischen 40 Wilhelm Raabe  : Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (1891), in  : ders.: Sämtliche Werke, Bd. 18, Göttingen 1963, S. 5–207. 41 [François] LeVaillant  : Reise in das Innere von Afrika, vom Vorgebirge der guten Hofnung [!] aus. In den Jahren 1780 bis 85. Aus dem Französischen. Mit Kupfern, 4 Bde., Frankfurt/M. 1790–97. Die Übersetzung folgte unmittelbar auf das französische Original  : Voyage de Monsieur Le Vaillant dans l’Intérieur de l’Afrique, par le Cap de Bonne-Espérance, dans les Années 1780, 81, 82, 83, 84&85, 2 Bde., Paris 1790. 42 Zu weiteren Raabe-Bezügen und der Funktion dieses intertextuellen Komplexes in Hamanns Roman vgl. den Beitrag von Axel Dunker im vorliegenden Band  ; zum Verhältnis von Raabe und Le Vaillant den Beitrag von Christof Hamann. 43 In den poetologischen Reflexionen zu seinem Roman sieht Hamann gleichwohl gerade in der Gestaltung dieser Verkettung die Autorität des Autors am Werk. Vgl. Christof Hamann  : Ruinieren, Verketten, Verformen. Zum Umgang mit Materialien beim Schreiben, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 313–322, hier 317. 44 Artikel ‚Kilimandscharo‘, in  : Wikipedia – Die freie Enzyklopädie, http  ://de.wikipedia.org/wiki/Kilimand­ scharo [Zugriff am 26.10.2009]. 45 Bei Meyer bleibt auch der letzte einheimische Begleiter, Muini Amani, im sogenannten ‚Kibolager‘ unterhalb des Gipfels zurück. Vgl. Meyer  : Ostafrikanische Gletscherfahrten, S. 107ff.

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Redlichkeit Meyers anmeldet, ganz abgesehen –, nicht all zu sehr überraschen. Dass jedoch in Hamanns Roman die Hagebucher-Figur an Kinyala Lauwos Stelle tritt, sagt etwas aus über den Wiederholungszwang, von dem dieser Roman berichtet und vor dem keiner gefeit ist, der sich (nur) im europäischen Archiv bewegt. Ironischerweise gilt das auch dann, wenn es sich, und diese Vermutung liegt in der Tat nahe, bei Kinyala Lauwo ebenfalls um eine fiktive Figur und bei seiner Erwähnung im Wikipedia-Eintrag um einen – dann freilich äußerst gelungenen – hoax handeln sollte.46 Auch als hoax nämlich verweist der lexikalische Eintrag auf die Grenzen von Hamanns literarischer Intervention in die Geschichte der Kilimandscharobesteigung. Dass er sich für die Einführung eines Erfurter Gärtners, nicht aber eines afrikanischen Bergführers entscheidet47, erweist sich im Rahmen des Romans insofern als paradigmatisch, als diesem die genretypische Tendenz zur Ausblendung der lokalen Bevölkerung auch sonst nicht ganz fremd ist. Zwar hat der Araberfürst Buschiri bin Salim, von dem Meyer, Baumann und bei Hamann eben auch Hagebucher beim vorausliegenden Versuch einer Kilimandscharobesteigung entführt wurden, innerhalb des Romans einen großen, die europäische Überlegenheit auf allen Ebenen in Frage stellenden Auftritt.48 Die afrikanischen Bewohner der Kilimandscharo-Region aber rücken im Rahmen der Expeditionshandlung so wenig in den Blick wie auf der Gegenwartsebene, wo sie als Köche oder Sanitäter beim ‚Kilimandscharo-Benefit-Run‘ die schattenhaften Begleiter der weißen Gipfelstürmer abgeben.49 Der Gefahr, die kolonialistische Ausblendung der lokalen Bevölkerung zu wieder­holen, begegnen Ilija Trojanow und Thomas Stangl, indem sie – und damit stehen sie innerhalb 46 Darauf deutet nicht nur das biblische Alter von 124 Jahren, das Kinyala Lauwo erreicht haben soll (vgl. http  ://de.wikipedia.org/wiki/Yohani_Kinyala_Lauwo  ; Zugriff am 26.10.2009). Sein Name taucht zwar auf diversen, sich aufeinander berufenden Internetseiten auf, scheint aber durch seriösere Quellen nicht verifizierbar. Aufnahme in den Wikipedia-Artikel zum Kilimandscharo fand der einheimische Bergführer zuerst in der englischsprachigen Version am 21.01.2006. In die deutschsprachige Version des Artikels wurde sein Name am 19.08.2007 übernommen  ; vom selben Datum stammt der angegebene biographische Eintrag. 47 Der Roman selbst rührt an diese Alternative, wenn Meyers Träger und Führer Muini Amani, der auf der historischen Ebene des Romans nicht in Erscheinung tritt, in den Vorstellungen Binders als Opfer von Meyers historiographischen Tilgungspraktiken neben Hagebucher rückt  : „Nie wäre Meyer auf den Gedanken gekommen, ein zerfurchtes, braunes Gletscherstück nach seinem Lieblingsschuhputzer zu benennen, genauso wenig wie er mit dem Namen meines Urgroßvaters eine wenn auch noch so mickrige Schutthalde gestempelt hätte. Amani und Hagebucher standen in etwa auf einer Stufe […].“ (Hamann  : Usambara, S. 221) 48 Vgl. ebd., S.  69ff. Buschiri erscheint hier nicht nur gegenüber seinen gedemütigten Gefangenen in der Position des Mächtigeren, Kultivierteren und moralisch Überlegenen  ; er bestreitet die Überlegenheit der Deutschen grundsätzlich  : „ganz klein, wadogo dogo“ seien die Eindringlinge  ; die „herrschenden Araber“ würden sie davonjagen „wie dumme Jungen“ (76f.). 49 Dabei wird zwar der rassistische Rahmen des Berglaufs immer wieder deutlich  ; die afrikanischen Sanitäter aber werden so wenig sichtbar, dass es nicht weiter auffällt, wenn sie gegen alle Plausibilität den ganzen Berglauf über samt Wasser und Sanitätsausrüstung an der Seite der trainierten Läufer bleiben.

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des hier diskutierten Textkorpus weitgehend allein50 – die Perspektive der Ein­heimischen in ihre Texte einzuholen versuchen. Trojanows 2006 erschienener Bestseller Der Welten­ sammler51 verdankt seinen Erfolg nicht zuletzt einem Stoff, der in seiner R ­ eichhaltigkeit selbst schon einem Roman entsprungen zu sein scheint. In drei Teilen behandelt der Text verschiedene Phasen im bewegten Leben des britischen Offiziers, Orientalisten und Afrika­reisenden Richard Francis Burton  : seine Zeit als Kolonialoffizier und Spion in Britisch-Indien, seine unter dem Deckmantel einer falschen Identität unternommene Pilgerreise nach Mekka und seine Expedition ins Innere Ostafrikas, wo er zusammen mit John Hanning Speke die Quelle des Nils zu finden hoffte. Der Roman lässt sich den abenteuerlichen Charakter dieses in der Tat abenteuerlichen Lebens nicht entgehen, betont aber vor allem Burtons kulturelles Grenzgängertum  : Trojanows Protagonist verfügt über schier unbegrenzte Fähigkeiten der kulturellen Anverwandlung, eignet sich in ungeheurem Tempo fremde Sprachen und das Wissen über fremde Kulturen an, lässt sich mit großer Ernsthaftigkeit auf fremde Religionen ein, genießt aber auch die kulturelle Maskerade und das Hineinschlüpfen in fremde Identitäten.52 Damit steht Burton in scharfem Kontrast zu seinen britischen Kollegen, die sich ihrer Überlegenheit über alles Einheimische viel zu sicher sind, um sich auch nur partiell auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Und obwohl ihm seine Neigung zur kulturellen Camouflage große Verdienste als Spion der britischen Kolonialmacht einbringt, macht sie ihn eben dieser Macht auch verdächtig  : In den Reaktionen von Burtons Vorgesetzten registriert der Roman sehr genau, dass jede Überschreitung der Grenze zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten eine Bedrohung des kolonialen Systems darstellt. Ähnlich wie Nadolny stellt auch Trojanow seinen Protagonisten in den Mittelpunkt des Romans, ähnlich wie in Die Entdeckung der Langsamkeit gibt dieser tatsächlich noch eine Art Held ab, und ähnlich wie bei Nadolny handelt es sich auch hier um einen Vertreter des Kolonialsystems, dessen Abweichungen dieses System in einem kritischen Licht erscheinen lassen. Anders als Nadolny jedoch, und dieser Unterschied ist entscheidend, stellt Trojanow der Perspektive des europäischen Reisenden diejenige der Einheimischen gegenüber. In jedem der drei Romanteile wechselt ein Erzählstrang, der die Ereignisse aus Sicht des Protagonisten wiedergibt, mit einem anderen Strang, in dem einheimische Beobachter ihre Sicht der Dinge, vor allem aber ihre Sicht Burtons präsentieren. Sowohl die Wahl dieser Beobachter – vor allem Burtons früherer indischer Diener Naukaram und der Afrikaner Sidi Mubarak Bombay, der ihn als Führer, Dolmetscher und Informant zum 50 Hinzuzufügen wäre allenfalls Hans Christoph Buchs Roman Sansibar Blues (2008), der den arabischen Skla­venhändler Tippu-Tip und die Sansibarische Prinzessin Emily Ruete zu Wort kommen lässt, deren historisch überlieferte Aussagen aber einigermaßen bedenkenlos überschreibt. 51 Ilija Trojanow  : Der Weltensammler. Roman, München 2007 (EA München/Wien 2006). 52 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Burtons kulturellem Grenzgängertum und der im Folgenden diskutierten Frage nach der Stimme der ‚Anderen‘ vgl. Bay  : Going native  ?, S. 126ff. und 135ff.

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Lake Tanganyika begleitete, sind wie Burton selbst kulturelle Grenzgänger – als auch die Einbettung ihrer Erzählungen in Gesprächssituationen, in denen sie von anderen Einheimischen kritisch kommentiert und hinterfragt werden, scheinen ganz dazu angetan, ein vielschichtiges und kontroverses Bild des britischen Offiziers zu zeichnen. Bei näherem Hinsehen stellt sich allerdings die Frage, inwiefern dieses polyphone und multiperspektivische Erzählen wirklich mehr zu Tage fördert als die innerhalb des Romans vielfach reflektierte Unerreichbarkeit historischer Wahrheit53 sowie vor allem die Größe und den schillernden Charakter der Hauptfigur. Zwar rückt im Indien-Teil die Begrenztheit von Burtons kulturellen Transgressionen und im Ostafrika-Kapitel das Wahnhafte und Gewaltsame seiner Expedition in den Blick  ; im Vordergrund stehen aber doch die Uneindeutigkeit und Unfassbarkeit des Protagonisten, der in seiner Wandlungsfähigkeit für alle anderen Figuren nicht zu begreifen ist.54 Unterlaufen wird die Multiperspektivität des Romans bereits durch eine gewisse Klischeehaftigkeit der Berichterstatter, die Erwartbarkeit des von ihnen Erzählten und die fehlende Eigenständigkeit ihrer Sprache55 – alles Punkte, die damit zusammenhängen dürften, dass Trojanow seine Figuren so problemlos aus sich hervorbringen zu können meint, wie er seinen Protagonisten in die Rollen der Einheimischen hineinschlüpfen lässt.56 Entscheidend jedoch ist die Asymmetrie, die mit 53 Bereits der Prolog lässt mit Burtons Reisetagebüchern die ‚authentischen‘ Zeugnisse seines Lebens in Flammen aufgehen. Auch die Titel der drei Romanteile verweisen auf Probleme der historischen Wahrheits­ findung wie die Veränderungen im Verlauf einer Überlieferungskette („Die Geschichten des Schreibers des Dieners des Herren“), die Widersprüchlichkeit von Zeugnissen („Der Pilger, die Satrapen und das Siegel des Verhörs“) und den Informationsverlust im Prozess der Erinnerung und Tradierung („In der Erinnerung verschwimmt die Schrift“). Zur selbstreferentiellen Auseinandersetzung mit der Fiktionalität von Geschichte in Trojanows Roman vgl. Stephanie Catani  : Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde Schreiben, S.  143–168, hier 154ff.; kritischer Michaela Holdenried  : Entdeckungsreisen ohne Entdecker. Zur literarischen Rekonstruktion eines Fantasmas  : Richard Burton, ebd. S. 301–312. 54 Vgl. das ratlose Resümée des Kadi nach dem Verhör von Burtons Reisebekanntschaften  : „Sheikh Abdullah ist ohne Zweifel der britische Offizier Richard Burton, ein gelehrter Mann, vielleicht ein Moslem, vielleicht ein Shia, vielleicht ein Sufi, vielleicht aber auch nur ein Lügner, der sich als dieses und jenes ausgab, um die Hadj zu unternehmen, mit welcher Absicht auch immer. Gewiß, wir wissen mehr als zu Beginn, aber was ist dieses Wissen wert  ?“ (Trojanow  : Weltensammler, S. 290) 55 Das betont zu Recht Michaela Holdenried  : Entdeckungsreisen ohne Entdecker, S. 309. 56 Wo aus Sicht des Protagonisten erzählt wird, lehnt sich Trojanows Text zumindest passagenweise bis in den Wortlaut hinein an Burtons Formulierungen an (vgl. z.B. Richard Francis Burton  : The Lake Regions of Central Africa. A Picture of Exploration, 2 Bde. New York 1961 [EA 1860], Bd. 2, S. 41–44 und die entsprechenden Passagen bei Trojanow  : Weltensammler, S. 454ff.). In deutlichem Kontrast dazu steht die ‚freihändige‘ Konstruktion der Figur Sidi Mubarak Bombays, von der Trojanow in den poetologischen Ausführungen zu seinem Roman berichtet. Nachdem er auf die historische Figur gestoßen sei, habe er in der Altstadt von Sansibar „auf der steinernen Bank vor seinem Haus“ einen alten Mann erblickt, dessen Gesicht ihn beeindruckt habe und dessen Stimme er sich „nicht besser hätte vorstellen können“. Wenn Trojanow kurzerhand beschließt, in diesem Mann „tatsächlich“ Sidi Mubarak Bombay gefunden zu haben, so ist die „narrative[ ] Autorität“, mit der er ihn auszustatten behauptet, kaum mehr als die exotistische Einkleidung

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der Fixierung des einheimischen Blicks auf den europäischen Protagonisten bereits in der Erzählstruktur angelegt ist und sich in der Froschperspektive wiederholt, aus der die einheimischen Informanten ihren ehemaligen Herrn beschreiben. Durch alle vordergründige Multiperspektivität hindurch reproduziert eine solche, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn all zu leicht fertige Inszenierung der ‚Stimme der Anderen‘ letztlich doch wieder die Überlegenheit des europäischen Helden. Besonders eindrücklich zeigt sich das im Ostafrika-Kapitel des Romans, wo der einheimische Erzähler zunächst alle Voraussetzungen zu erfüllen scheint, um dem europäischen Protagonisten ernsthaft die Waage zu halten. Im Unterschied zu Burtons indischem Diener und Berichterstatter Naukaram ist Sidi Mubarak Bombay eine historisch verbürgte Figur  : Als einer jener ‚Bombay Africans‘, deren Dienste viele britische ‚Entdeckungsreisende‘ in Anspruch nahmen, beteiligte er sich an mehreren großen Expeditionen und war einer der am weitesten herumgekommenen Afrikareisenden seiner Zeit. Trojanow nutzt die Perspektive dieses nicht europäischen Teilnehmers, um den Mythos der ‚Entdeckungsreise‘ gründlich zu demontieren. Sein afrikanischer Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass die beiden Weißen ohne seine Führung und Unterstützung verloren gewesen wären, macht aber auch immer wieder deutlich, dass sich die Expedition auf den ausgetretenen Pfaden arabischer Sklavenhändler bewegte – wie plausibel auch immer es für einen von diesen verschleppten Afrikaner sein mag, sie als „die wahren Entdecker des Festlandes“57 zu bezeichnen. Gleichzeitig erscheint Sidi Mubarak Bombay als eine Art afrikanisches Gegenstück zu Burton  : als ein Mann, der dieselben Länder, die der britische Offizier als Kolonisator und ‚Entdecker‘ erkundete, im Verlauf seines Daseins als aus Ostafrika verschleppter Sklave kennen lernte und der dem Protagonisten in seiner kulturellen Offenheit und religiösen Großzügigkeit kaum nachsteht. Diesen anderen Weltensammler aber präsentiert der Roman nicht auf der Höhe seiner Kraft und seiner Tätigkeit, sondern als Klischee eines afrikanischen Geschichtenerzählers  : als liebenswertes Großväterchen, das im Hof seines Hauses auf Sansibar vor dem immer gleichen Publikum die immer gleichen Erzählungen variiert – Erzählungen von einem fremden Giganten, der bei aller Wahnwitzigkeit seines Vorhabens doch größer war als alle, die dem Weitgereisten sonst begegnet sind, und der ihm deswegen durch all seine Geschichten hindurch ein nicht zu lösendes „Rätsel“58 bleibt. seiner eigenen Projektion – jedenfalls aber weit davon entfernt, einen der beiden Afrikaner wirklich „zu Wort kommen“ zu lassen (Ilija Trojanow  : Recherche als poetologische Kategorie. Die Entzündung des narrativen Motors, in  : Hamann/Honold [Hg.]  : Ins Fremde schreiben, S. 287–299, hier 296ff.; im Netz unter http  ://www.fu-berlin.de/presse/fup/2007/Download-Material/Rede_Trojanow.pdf ). Tatsächlich zeigt sich dann auch, dass er seiner afrikanischen Figur zumindest punktuell die Sicht und sogar die Worte Burtons unterschiebt, wenn er Sidi Mubarak Bombay bei der Ankunft am Lake Tanganyika alle Mühen und Gefahren der Reise vergessen lässt (vgl. S. 456 und Burton  : The Lake Regions, S. 44). 57 Trojanow  : Weltensammler, S. 457  ; vgl. 426. 58 Ebd., S. 447.

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Im Mittelpunkt von Thomas Stangls 2004 erschienenem Debütroman Der einzige Ort 59 steht nicht eine einzelne Figur oder ‚Entdeckungsreise‘, sondern ein Ort oder besser  : der Name und die Vorstellung eines Ortes, die von ihnen ausgehende Anziehungskraft und die dadurch hervorgerufenen Bewegungen. Timbuktu, die von Legenden umwobene Handelsstadt am Südrand der Sahara, fungiert dabei in mehr als einer Hinsicht als Topos des unerreichbar Entfernten und Verborgenen  ; es ist eine Stadt, die das koloniale Begehren gerade dadurch anstachelt, dass sie sich der ‚Entdeckung‘ und Inbesitznahme entzieht.60 Der davon ausgehende Sog erfasst Reisende und Schreibende gleichermaßen  ; er bringt Expeditionen und Texte hervor, die sich verketten, überbieten und überlagern. Indem er ihren Bewegungen folgt, ist Stangls Roman zugleich einer Art kollektiver Imagination auf der Spur, einem europäischen Traum, dessen Umschlagen in die koloniale Inbesitznahme er thematisiert, den er aber auch auf gegenläufige Momente befragt und mit einem nicht europäischen Blick konfrontiert. All dies geschieht im Rahmen einer ausgesprochen komplexen Erzählstruktur. Der ebenso sprachgewaltige wie voluminöse Roman bewegt sich auf mindestens drei verschiedenen Ebenen, deren quantitativ bedeutendste wiederum zwei eigenständigen Erzählsträngen Raum gibt. In wechselnden Abschnitten berichten sie von den ersten beiden ‚Entdeckern‘, die in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts – zu einem Zeitpunkt, als sich die verhärteten Strategien kolonialer Inbesitznahme der Neugier und Abenteuerlust der Reisenden noch nicht völlig bemächtigt hatten – fast zeitgleich, aber auf getrennten Wegen Timbuktu erreichten. Trotz der zeitlichen Parallelität könnten diese beiden Protagonisten und ihre Reisen kaum gegensätzlicher sein. Während der französische Sonderling René Caillié (1799–1838) im Alleingang vom Senegal aus nach Timbuktu vorzudringen sucht, nähert sich der britische Major Alexander Gordon Laing (1793–1826) im Auftrag seiner Regierung auf dem Weg durch die Sahara von Tripolis kommend der Stadt am Nigerbogen. Und während sich Caillié in Ermangelung einflussreicher Auftraggeber oder umfangreicher eigener Mittel durch die Tarnung als arabischer Muslim der Gastfreundschaft, Hilfe und Unterstützung der Einheimischen zu versichern sucht, reist Laing als Anführer einer eigenen Karawane, ohne die Uniform je abzulegen. 59 Thomas Stangl  : Der einzige Ort. Roman, München 2006 (EA Graz/Wien 2004). Für eine ausführlichere Auseinandersetzung, auf die ich im Folgenden zurückgreife, vgl. Bay  : Going native  ?, S. 129ff. und 139ff. 60 Vgl. die ethymologischen Überlegungen bei Stangl  : Der einzige Ort, S. 234. Die Frage des Entzugs mit ihren zeichentheoretischen und poetologischen Aspekten behandelt der lesenswerte Beitrag von Sven Werkmeister  : Der Widerstand des Realen. Reisen und Schreiben in Thomas Stangls Roman ‚Der einzige Ort‘, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 273–285. Ob es tatsächlich das „Reale“ (ebd., S. 285) ist, das sich hier entzieht, scheint mir allerdings fraglich. Eher wären dieses Reale und sein Widerstand dort anzusiedeln, wo die vom Sog des sich entziehenden Ziels hervorgebrachten Bewegungen ins Stocken geraten. Vgl. in diesem Sinn auch die poetologischen Ausführungen von Thomas Stangl  : „Black specks amid a waste of dreary sand …“. Traum, Enttäuschung und die Fremdheit der Erfahrung, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 267–272, hier 272.

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Mit der Gegenüberstellung beider Unternehmungen variiert der Roman einen geradezu klassischen Topos der ‚Entdeckungsreise‘, paradigmatisch ausgeprägt im Wettlauf zwischen Scott und Amundsen. Stangl belässt es aber nicht bei diesem relativ konventionellen Muster, sondern konfrontiert die beiden Expeditionen in zwei weiteren Erzählsträngen mit dem in Europa und Afrika tradierten Wissen über das Reiseziel. Hier geht es zum einen um die Geschichte des europäischen Zugriffs auf Timbuktu, und das heißt darum, wie die Imagination dieser Stadt, von deren sagenhaftem Reichtum die Europäer über Jahrhunderte hinweg nur vom Hörensagen wussten, im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich überging in jene reale ‚Entdeckung‘ und Eroberung, die den Traum – und nicht nur ihn – zerstörte. Zum anderen wird aber auch die der Kolonialisierung vorausliegende Geschichte Timbuktus und der Nigerregion wiedergegeben, wie sie von afrikanischen Erzählern mündlich überliefert und von Gelehrten der Stadt aufgezeichnet wurde. Der einzige Ort lebt von der Spannung zwischen diesen vier, in der Sache voneinander getrennten, im Textverlauf aber ineinander verflochtenen Geschichten. Alle vier aber werden nicht einfach nur erzählt, sondern als Ergebnis einer Lektüre präsentiert  : einer in einem weiteren Erzählstrang durch autopoetologische Reflexionen ergänzten Lesereise des Erzählers durch den Bericht Cailliés61 und die Briefe Laings62, einer Reise aber auch durch das europäische und – wenn auch eher in Gestalt eines Ausflugs – das afrikanische Archiv. Wenn der Erzähler am Ende des Romans in der Österreichischen Nationalbibliothek sitzt und sich „Wort für Wort, Schritt für Schritt“ durch die drei Bände von Cailliés Expeditionsbericht quält, wenn er „ganze Abschnitte abschreibt und übersetzt“ während sich Mund und Nasenlöcher „mit Buchstaben wie kleinen Sandkörnchen“63 füllen, dann macht diese Parallelisierung von Reise-, Lese- und Schreibbewegung nur explizit, was von Anfang an markiert war in der Erwähnung von Autoren wie Herodot, Plinius und Mandeville oder in der Referenz auf das Soundjata-Epos64 und den Tarikh es-Soudan65, was aber auch unter61 René Caillié  : Journal d’un voyage à Temboctou et à Jenné, dans l’Afrique Centrale  : précédé d’observations faites chez les Maures Braknas, les Nalous et d’autres peuples, pendant les années 1824, 1825, 1826, 1827, 1828. Avec une carte itinéraire et des remarques géographiques par M. Jomard …, 3 Bde., Paris 1830. Erst nach Stangls Roman erschien die gekürzte und sprachlich geglättete Übersetzung ins Deutsche  : R.C.: Reise nach Timbuktu 1824–1828, hg. von Heinrich Pleticha, Lenningen 2006. 62 E[dward] W. Bovill (Hg.)  : Missions to the Niger, Bd. 1  : The journal of Friedrich Hornemann’s travels from Cairo to Murzuk in the years 1797–1798. The letters of Major Alexander Gordon Laing, 1824–1826, Cambridge 1964. Vgl. auch Alexander Gordon Laing  : Travels in the Tinamee, Kooronko and Sootina Countries in Western Africa, London 1825. 63 Stangl  : Der einzige Ort, S. 538f. 64 Djibril Tamsir Niane  : Soundjata. Ein Mandingo-Epos, Leipzig 1987. Stangl verweist auf diese für seine Rezeption der afrikanischen Überlieferung wichtigste Quelle nicht nur durch die Erwähnung Mamadou Kouyatés, dessen mündliche Darbietung des Epos der Aufzeichnung durch Niane zugrunde liegt, sondern auch durch die Evokation des Bilds eines Griots nach dem Vorbild des Titelbilds dieses Bandes. Vgl. Stangl  : Der einzige Ort, S. 6. 65 Abderrahman ben Abdallah ben ‛Imran ben ‛Amir es-Sa’di  : Documents arabes relatifs à l’histoire du Sou-

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schwellig präsent blieb in den parenthetischen Verweisungen auf den Bericht Cailliés und die Dokumente zur Reise Laings  : dass nämlich dieser nur in der Anonymität des ‚wir‘ oder ‚man‘ in Erscheinung tretende Erzähler und Verfasser nicht nur ein Leser, Abschreiber und Übersetzer ist, sondern sich auch als solcher weiß, dass sein Schreiben ein Lesen und das daraus hervorgegangene Buch das Resultat einer Verschränkung von (Re)Lektüren ist. Mit dieser nur an wenigen Stellen markierten, unterschwellig aber stets präsenten Lektürebewegung hängt auch zusammen, dass sich schon die Darstellung der beiden Reisen in vielen Punkten als eine Art Revision der früheren Literarisierung und als Umkehrung ihrer Genrekonventionen lesen lässt.66 Den gängigen Topoi der ‚Entdeckungsreise‘ verweigert sich Stangls Roman, indem er genau das in den Blick rückt, was in den Berichten der ‚Entdecker‘ normalerweise verschwiegen wird  : die Hilflosigkeit der von Krankheiten und Verletzungen bis zur völligen Handlungsunfähigkeit geschwächten Europäer, das permanente Stocken ihrer Unternehmungen, ihre Abhängigkeit von Einheimischen, ohne deren Ratschläge, Hilfsleistungen und Karawanen sie keinen Schritt vorwärts kommen, sowie nicht zuletzt die Verunsicherung und das paranoide Misstrauen gegenüber den für sie nicht durchschaubaren Afrikanern und Arabern, die ihnen doch in den meisten Fällen als wohlwollende, vernünftige und kompetente Ansprechpartner begegnen. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit scheinen sowohl Cailliés als auch Laings Expedition mehr durch Ohnmacht, Irrationalität und Missverständnisse bestimmt als durch vernünftiges und souveränes Handeln. Der Text akzentuiert aber nicht nur diese in der vorausliegenden Literarisierung marginalisierten Momente, sondern rückt, und eben dadurch gibt er sich als Lese­bewegung zu erkennen, zumindest punktuell auch den Prozess der Verschriftlichung selbst in den Blick. Ganz im Sinn der erwähnten Studie Fabians wird dabei deutlich, dass sich die in den Reiseberichten produzierten Stereotype nicht nur den ‚Vorurteilen‘ der Reisenden, sondern mindestens ebenso sehr den Konventionen des Genres und den Erwartungen des europäischen Publikums verdanken.67 Die Abkehr von den üblichen Mustern der ‚Entdeckungsreise‘ und die Auseinandersetzung mit den Gesetzen ihrer Verschriftdan. Tarikh es-Soudan, Traduit de l’arabe par Octave Victor Houdas, Paris 1900. Die im 17. Jahrhundert in Timbuktu aufgezeichnete Chronik des Songhaireichs erscheint im Roman als zweite wichtige Quelle für die Wiedergabe einer afrikanischen Perspektive. Vgl. Stangl  : Der einzige Ort, S. 200ff. 66 Vgl. Bay  : Going native  ?, S. 131f.; Werkmeister  : Der Widerstand des Realen, S. 284. 67 Ein besonders sprechendes Beispiel bietet Cailliés Reaktion beim Abschied von einem befreundeten Afrikaner  : „Caillié […] hat auch einen engen Freund gewonnen, beim Abschied überreicht ihm der Mandingo […] ein paar Sandalen, er umarmt ihn und weint  ; Caillié selbst merkt, daß ihm die Tränen kommen, aber er ist sich nicht sicher, ob er wirklich weint oder nur Tränen heuchelt  ; wie sollte er hier im Inneren Afrikas an einem Menschen hängen können  ; er glaubt, wird er schreiben, nicht, daß ein Weißer mit einem Neger wirklich befreundet sein kann  ; dann wird er (nach kurzem Zögern, bevor er den Satz in sein Standardrepertoire aufnimmt und, mit Variationen für Bambaras, Mauren und Sourgeons, etwa alle hundert Seiten in seinem ausufernden Manuskript wiederholt) noch hinzusetzen, die Mandingos sind faul, lügnerisch, fanatisch, dumm und gefräßig, schließlich muß er zu einem Urteil kommen, die Leser, mit dem großen Geographen Jomard an ihrer Spitze und ganzen Rudeln von Baronen, Ministern und Generälen hinter ihm […] erwarten das […].“ (Ebd., S. 51)

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lichung gehen Hand in Hand  : Gerade weil in der Lesebewegung, als die sich Stangls Roman präsentiert, die Strategien der vorausliegenden Literarisierung selbst zum Thema werden, vermag er sich von kolonialen Konventionen des Genres zu befreien und zwischen den Zeilen zu lesen, was in den Reiseberichten verschwiegen wird. Gelingt es dem Roman schon auf dieser ersten Ebene, die Bedeutung der lokalen Bevölkerung für das Gelingen der Expeditionen hervorzuheben und einzelne Individuen als komplexe, wenn auch keineswegs transparente Charaktere ins Licht zu rücken, so ist das zweite Verfahren, das er gegen die kolonialistische Ausblendung der lokalen Bevölkerung aufbietet, nicht weniger wirkungsvoll. Wie Trojanow stellt auch Stangl der europäischen Perspektive diejenige der Einheimischen entgegen, anders als jener bewegt er sich dabei jedoch nicht auf der individuellen, sondern auf der kollektiven Ebene, und anders als Trojanow setzt er nicht auf sein eigenes Vorstellungsvermögen, sondern auf die Lektüre von Quellen. Während er bei seiner Reise durch das europäische Archiv, die ihn von Herodot über Mandeville bis eben zu Laing und Caillié führt, das Ineinander von Wissen und Phantasie, den allmählichen Umschlag von Imagination in Eroberung und die damit verbundene, in anderem Zusammenhang von Stephen Greenblatt beschriebene Austreibung des Wunderbaren68 in den Blick rückt, zeigt die Exkursion in das afrikanische Archiv, dass Timbuktu keineswegs der geschichtslose Ort ist, als den die Europäer die Stadt und mehr noch den afrikanischen Kontinent imaginieren, und dass die Einwohner dieses Kontinents als Subjekte ihrer Geschichte und als Subjekte der Tradierung dieser Geschichte anderes sind als das Inventar ihres Landes und die sprachlosen Objekte europäischer Beobachtung. Dabei lässt die Kombination von Stangls Quellen keinen Zweifel daran, dass es die eine afrikanische Perspektive so wenig gibt wie ein homogenes afrikanisches Subjekt oder ein einheitliches Archiv. Indem der Roman auf die Erzählungen westafrikanischer Griots und die Aufzeichnungen timbuktischer Gelehrter nicht nur zurückgreift, sondern diesen Bezug als eine Lesereise in fremden, sich nicht ohne weiteres erschließenden Archiven kennzeichnet69, vermag er die Probleme, die bei Trojanows Evokation einer ‚Stimme der Anderen‘ zu beobachten waren, weitgehend zu vermeiden. Der Rückgriff auf afrikanische Wissensbestände ermöglicht die Einbeziehung nicht europäischer Perspektiven ohne die Anmaßung, unmittelbar auf die Sicht jener ‚Anderen‘ zugreifen zu können, die in einem solchen Zugriff schon aufhören würden, Andere zu sein.70 Trotz der ungewöhnlich konsequenten Abkehr von den kolonialen Implikationen des Expeditionsberichts finden sich freilich auch in Der einzige Ort Momente, bei denen man 68 Vgl. Greenblatt  : Marvelous Possessions. 69 Vgl. die Einführung des Soundjata-Epos (Stangl  : Der einzige Ort, S. 6f. und 98f.) sowie vor allem die autopoetologische Reflexion bei der Einführung des Tarikh es-Soudan (ebd., S. 200f.). 70 Zur Wahrnehmung dieses Problems durch den Autor vgl. Stangl  : Black Specks, S. 268  : „Zugleich schien es mir notwendig, eine Sprache zu finden, mit der die andere Seite, die Bereisten, Afrika, die keineswegs geschichts- und gesichtslosen Regionen des Sahel, darstellbar wären  ; ohne wiederum so zu tun, als wäre es mir möglich, eine afrikanische Perspektive einzunehmen oder als könnte ich für die Afrikaner sprechen.“

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zumindest fragen muss, inwiefern der Roman koloniale Muster wiederholt. Wie in den Texten von Hamann und Trojanow, und wie in den meisten aktuellen Relektüren erfolgreicher ‚Entdeckungsreisen‘, bleibt auch in Stangls Roman der Verlauf der Narration auf das Ziel der Reise hin ausgerichtet, auf die Eroberung des weißen Flecks. Am deutlichsten zeigen diese Ausrichtung das relative Desinteresse am Rückweg71, der von der Genrelogik des Expeditionsberichts her gesehen nur dann interessant gemacht werden kann, wenn keine nennenswerte ‚Entdeckung‘ zu verzeichnen war, und die Inszenierung der ‚Entdeckung‘ als Klimax des Romans. Tatsächlich markiert das Eintreffen am Ziel bei Stangl nicht nur den Höhepunkt der Handlung, sondern auch denjenigen des Erzählens, an dem die verschiedenen narrativen Stränge des Romans zusammengeführt werden. So koinzidiert bei der Ankunft in Timbuktu die Annäherung im Raum, um die es in den Berichten von den beiden Reisenden ging, mit der Annäherung in der Zeit, als die sich die Reise durch das europäische Archiv darstellte. Gleichzeitig werden die Reisen der beiden Protagonisten, von denen zuvor in klar voneinander getrennten Erzählsträngen berichtet worden war, derart enggeführt, dass sich manchmal kaum mehr entscheiden lässt, von welchem der beiden Reisenden nun die Rede ist.72 Zweifellos liegt diese doppelte Koinzidenz in der Logik jenes Erzählstrangs, der den Weg von der europäischen Imagination zur realen Eroberung Timbuktus nachzeichnet. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine Art vorgezogenes narratives Finale, das an der Logik des kolonialen Projekts partizipiert.73 Noch in der Enttäuschung und Entleerung, als die das Eintreffen in Timbuktu bei Stangl erscheint, erweist sich der Ort der Ankunft als jenes „leere[ ] Zentrum aller Sprachbewegungen“74, in dem sich der weiße Fleck auf der Karte wiederholt. Leonhard Hagebucher als intertextueller Begleiter des Kilimandscharo-Bezwingers Hans Meyer, Sidi Mubarak Bombay als einheimischer Beobachter Richard Francis Burtons, das Soundjata-Epos als Begleittext zur europäischen ‚Entdeckung‘ Timbuktus und die Inszenierung dieser ‚Entdeckung‘ als Lesereise – wie sich zeigt, ist es gerade der Ver71 Im Fall des auf der Rückreise bald nach dem Aufbruch von Timbuktu ermordeten Laing lassen sich dafür der Gang der Ereignisse und die Quellenlage verantwortlich machen. Im Fall Cailliés dagegen erklärt sich eben nicht von selbst, dass der gesamte Rückweg durch die Sahara – von der auf wenigen Seiten abgehakten Reise durch Marokko ganz zu schweigen – nicht mehr Erzählzeit in Anspruch nimmt als ein kleiner Abschnitt der Hinreise. 72 Vgl. Stangl  : Der einzige Ort, bes. S. 420ff., 437ff., 452ff. 73 Das gilt umso mehr, als nicht nur dieser europäische Erzählstrang mit der Ankunft in Timbuktu an ein Ende kommt, sondern der Bericht aus dem afrikanischen Archiv zuvor schon aufgegeben wurde. Zwar endet die Wiedergabe der Geschichte Timbuktus aus afrikanischer Perspektive bei Stangl nicht mit der ‚Entdeckung‘ oder gar Eroberung durch die Europäer, sondern über hundert Jahre vorher mit der ruinösen Plünderung durch marokkanische Truppen (vgl. ebd., S. 283). Aber dieses Ende wird doch auch hinein­ gezogen in den Sog der ‚Entdeckung‘, so dass der Eindruck entsteht, als käme eine eigene Geschichte und Überlieferung der ‚Anderen‘, die wiederzugeben sich lohnen würde, mit der Ankunft der Europäer zum Erliegen. 74 Ebd., S. 200.

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such, dem kolonialen Wiederholungszwang zu entkommen, der die Relektüren historischer ‚Entdeckungsreisen‘ ästhetisch produktiv werden lässt. Und es sind die spezifisch literarischen Verfahren, die den hier diskutierten Romanen ihr postkoloniales Potential verleihen und sie über die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der ‚Entdeckungsreisen‘ hinaustreiben. Durch die Einbeziehung fiktiver Momente, abweichender Perspektiven oder zusätzlicher Handlungsstränge, Zeit­ebenen und Archive wird die koloniale Verstrickung nicht nur analysiert, sondern literarisch erfahrbar gemacht, werden koloniale Muster aber auch zum Gegenstand von befreiendem Spott, Ironie und Gelächter. Im Maß, in dem sich die aktuellen Romane auf ihren historischen Gegenstand einlassen, geraten sie allerdings auch in Gefahr, dem kolonialen Sog ihres Stoffs zu erliegen. Will man sich nicht mit der allgemeinen Distanznahme begnügen, die Lichtenbergs aphoristischen Kommentar zur Urszene der europäischen ‚Entdeckungsreisen‘ auszeichnet, so scheint dies fast unvermeidlich. Denn um diesen Sog erfahrbar zu machen, bedarf es einer Balance zwischen Nähe und Distanz, die immer prekär bleiben muss. Gerade in der literarischen Verarbeitung mit ihren Subjekteffekten und narrativen Logiken liegt auch die Gefahr eines Wiederholens, in dem nichts durchgearbeitet wird und das durch keine Problematisierung mehr eingeholt wird. Das betrifft nicht nur die Identifikation mit den Protagonisten der europäischen Expansion – einer, und sei es vermittelten und partiellen Identifikation, die vielleicht nur um den Preis des Zugangs zu den Faszinationspotentialen des ‚Entdeckens‘ vermieden werden kann.75 Mindestens ebenso wichtig scheint das Insistieren tradierter Darstellungsmuster und Erzählverfahren. Wenn sich in Form einer Ausblendung der Einheimischen, einer Überhöhung des europäischen ‚Entdeckers‘ oder einer Partizipation an der narrativen Logik der ‚Entdeckungsreise‘ auch in erinnerungs­politisch so ambitionierten Texten wie denjenigen Hamanns, Trojanows und Stangls eine Art kolonialer Wiederholungszwang Geltung verschafft, so hängt dies jedenfalls nicht allein mit der Attraktivität des ‚Entdeckungs‘-Topos zusammen, sondern auch mit der Schwierigkeit, sich den Konventionen eines Genres zu entziehen, das die überlieferte Vorstellung vom ‚Entdecken‘ mitgeprägt hat und in den aktuellen Relektüren sowohl um- als auch fort­ geschrieben wird. Besonders brisant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach den Affinitäten der literarischen Verfahren zu jenen Logiken des ‚Entdeckens‘, die mit ihrer Hilfe verhandelt 75 Unter den zahlreichen Relektüren kolonialer ‚Entdeckungsreisen‘, die in den letzten Jahrzehnten vorgelegt wurden, verzichten lediglich die Texte von Felicitas Hoppe – bezeichnenderweise die einzige Autorin im Bunde beziehungsweise in dieser Hinsicht eben gerade nicht im Bunde ihrer männlichen Kollegen –, durchgehend auf die Übernahme einer ‚Entdecker‘-Perspektive. Wenn ihre „Porträts“ halbvergessene Randfiguren der Kolonialisierung als Verbrecher und Versager beschreiben und die Eroberung der Fremde als Flucht vor dem Vertrauten denunzieren, so bezahlen sie die konsequente Entheroisierung und die Verweigerung jedes Fraternisierens allerdings mit einer Distanz, aus der die Anziehungskraft der weißen Flecken kaum mehr einzuholen ist.

Literarische Landnahme?

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werden. Gänzlich fremd scheint der Traum von den unbegangenen Wegen, von der Überschreitung und vom Vorstoß ins Unbeschriebene auch den hier diskutierten Texten nicht zu sein. In ähnlicher Weise wie bei Stangl ließe sich jedenfalls auch bei Hamann zeigen, dass die Ankunft am Ziel der Expedition zugleich den Höhepunkt des Textes bildet, an dem die verschiedenen Erzählstränge koinzidieren und ihre Engführung neue narrative Strukturen hervorbringt.76 Wenn aber das Telos der narrativen Linien mit demjenigen der Reisen zusammenfällt, wenn deren Literarisierung in der Inszenierung der ‚Entdeckung‘ kulminiert und der Punkt, an dem die Romane literarisches Neuland betreten, mit der Eroberung des weißen Flecks zusammenfällt, so stellt sich die Frage, inwiefern die blaue Blume, der diese Texte auf der Spur sind, nicht doch auch ein Usambaraveilchen ist.

76 Vgl. Hamann  : Usambara, S. 219ff.

Christof Hamann

„Was wären wir ohne die Geographie“ Joachim Heinrich Campe und Wilhelm Raabe überschreiben Le Vaillant

Wilhelm Raabes Stopfkuchen von 1890 ist eine Lektüre über Lektüren. Nicht nur die Figuren lesen viel, wissenschaftliche Texte, Zeitungen, so genannte ‚hohe‘ ebenso wie populäre Literatur, auch das Publikum, die ‚realen‘ Leser des Romans werden in ein literarisches Ratespiel verwickelt. Gleich zu Beginn outet sich der Ich-Erzähler Eduard als gebildeter Leser und belegt seine Aussage mit einem Verweis auf August von Platens Die verhängnisvolle Gabel (1826).1 Auch Eduards Mentor aus Kinderzeiten, der zu Beginn der ‚See- und Mordgeschichte‘ verstorbene Landbriefträger Friedrich Störzer, liest viel, allerdings keine Lustspiele, sondern Bücher aus dem Bereich der „allerhöchste[n] Wissenschaft“, der „Geographie“2, insbesondere Reisebeschreibungen eines Entdeckungs­ reisenden, den Störzer mal „Le Vaillant“ (BA 18, S. 22) mal „Levalljang“ (BA 18, S. 18) nennt. François Le Vaillant (1753–1824) wuchs in Paramaribo, der Hauptstadt des zu dieser Zeit von der holländischen Westindien-Kompanie beherrschten Surinam, als Sohn französischer Eltern auf. Hier bereits begann er sich seiner eigenen Lebensbeschreibung3 zufolge für das Studium der Natur zu interessieren, das er nach der Rückkehr nach Europa 1763 intensivierte. Nicht zuletzt die Enttäuschung über die dort vorhandenen Sammlungen ließen ihn im Alter von 28 Jahren nach Südafrika reisen, wo er zwischen 1781 und 1784 zwei Reisen ins Landesinnere unternahm. Zurück in Frankreich, publizierte er 1790 den ersten Teil seines Reiseberichts (in zwei Bänden), 1794/95 erfolgte der zweite (in drei Bänden). Voyage de Monsieur Le Vaillant wurde ein großer, wenngleich auch kritisch kom1 Zur Fragwürdigkeit und Vieldeutigkeit dieses ‚Bildungsausweises‘ vgl. Philipp J. Brewster  : Onkel Ketsch­ wayo in Neuteutoburg. Zeitgeschichtliche Anspielungen in Raabes ‚Stopfkuchen‘, in  : Jahrbuch der RaabeGesellschaft 1983, S. 96–118, hier 107ff. 2 Wilhelm Raabe  : Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte, in  : ders.: Sämtliche Werke, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Achtzehnter Band, bearbeitet von Karl Hoppe, Göttingen 1963, S. 5–207, hier 18. Seitenangaben zu diesem Text im Folgenden mit der Sigle BA 18 direkt im Anschluss an das Zitat. 3 Voyage de Monsieur Le Vaillant dans l’Intérieur de l’Afrique, par le Cap de Bonne-Espérance, dans les Années 1780, 81, 82, 93, 84 & 85, Bd. 1, Bruxelles 1791 (zuerst 1790), S. XI–-XX. Seitenangaben zu diesem Text im Folgenden mit der Sigle V I  ; Angaben zum zweiten Band nach der 1790 in Paris erschienenen Ausgabe mit der Sigle V II. Für die Übersetzungen ins Deutsche bedanke ich mich bei Matei Chihaia, für hilfreiche Anregungen und Anmerkungen bei Alida Kreutzer.

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mentierter Publikumserfolg4  ; insbesondere der erste Teil wurde mehrfach aufgelegt und in verschiedene Sprachen übersetzt, ins Deutsche z.B. gleich zweimal.5 Briefträger Störzers Begeisterung über Le Vaillants Reisetexte in das ‚Innere Afrikas‘, die sich in der Übersetzung von Johann Reinhold Forster in seiner Bibliothek befinden (BA 18, S.198, vgl. S. 21, 204), überträgt sich in einem Maße auf seinen ‚Schüler‘ Eduard, dass dieser später in den Süden Afrikas auswandert (vgl. BA 18, S. 7  ; 62f.) und dort als „Grundbesitzer und großer Schafzüchter“ (BA 18, S. 25) zu Reichtum gelangt (vgl. BA 18, S. 7). ‚Südafrikanischer Baron‘ (vgl. BA 18, S. 123  ; 53) nennt ihn sein Freund Stopfkuchen und referiert damit nicht allein auf Eduards Vermögen, sondern auch auf Goethes Wahlverwandtschaften6, während der eigentliche Vorname auf den von Raabe öfter zitierten Joachim Heinrich Campe anspielt, in dessen Reise durch England und Frankreich, in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland von 1803 eben dieser junge Freund Eduard heißt, den sich der Leser, wie es im Vorbericht heißt, als „gebildeten jungen Mann“7 vorstellen soll. Störzer und Eduard sind also auch das Zitat einer pädagogischen Gesprächssituation, in denen der eine die Rolle des Lehrers/Erzählers, der andere die des Schülers/Zuhörers einnimmt. In Stopfkuchen verknüpft Eduard selbst seinen Mentor mit dem Pädagogen des 18. Jahrhunderts  : „Campes Reisebeschreibungen sind mir lieber. Und du bist mir auch lieber, Störzer.“ (BA 18, S. 22) Mit den „Reisebeschreibungen“, dies soll der letzte Verweis auf das komplexe intertextuelle Spiel in Stopfkuchen sein, wird auf Campes populäre Sammlung interessanter und durchgängig zwekmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend verwiesen, die er zwischen 1786 und 1793 publizierte. Le Vaillant’s Reise in das Innere von Afrika, vom Vorgebirge der guten Hoffnung aus, in den Jahren 1780–1785, 1792 erschienen, bilden den 4 „Many of Levaillant’s contemporaries questioned the truthfulness of his accounts, pointing out many inconsistencies and exaggerations in his tales.“ David Johnson  : Representing the Cape ‘Hottentots’, from the French Enlightenment to Post-Apartheid South Africa, in  : Eighteenth-century Studies 40, 2007, H. 4, S. 525–552, hier 550. 5 Zur Biografie und Werkgeschichte vgl. Raymond John Howgego  : Le Vaillant, François, in  : Encyclopdia of Exploration to 1800, Potts Point, NSW 2003, S. 625  ; J.C. Quinton/A.M. Lewin Roninson (Hg.)  : François Le Vaillant, Traveller in South Africa and His Collection of 165 Water-Colour Paintings, 1781–1784, 2 Bde., Kapstadt 1973. Beide deutsche Übersetzungen erschienen bereits 1790  : Le Vaillant’s Reisen in das Innere von Afrika, während der Jahre 1780 bis 1785. Aus dem Französischen übersetzt. Mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster. Erster Band, welcher den ersten und zweiten Theil des Originals enthält, Berlin 1790  ; Le Vaillant  : Reise in das Innere von Afrika, vom Vorgebirge der guten Hofnung aus. In den Jahren 1780 bis 85. Aus dem Französischen. Erster Theil. Mit Kupfern, Frankfurt/M. 1790. 6 Vgl. Axel Dunker  : Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, S. 132  ; Manuela Günter  : Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 267 u. 273. 7 Joachim Heinrich Campe  : Vorbericht zu  : Reise durch England und Frankreich, in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland, in  : ders.: Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften. 4. Gesammtausgabe der letzten Hand. 32. Bändchen. Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen, 4. Theil, Braunschweig 1832 (zuerst 1803).

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zehnten und elften Teil dieser Sammlung.8 Der Pädagoge selbst lieferte also bereits gut hundert Jahre vor Stopfkuchen eine Relektüre von Le Vaillants Reiseberichten. Im Folgenden werde ich den Le Vaillantschen Prätext und die beiden Relektüren durch Campe und Raabe in chronologischer Reihenfolge betrachten, um Beobachtungen anzustellen über den Zusammenhang von in den Paratexten (Titel, Vorberichte, kontextuelle Äußerungen) geweckten Erwartungen – im Falle Le Vaillants und Campes eines aufklärerischen Reiseberichts, im Falle Raabes einer See- und Mordgeschichte – und ihrer unvollständigen Realisierung. Dabei soll vor allem gefragt werden, welche alternativen, insbesondere populären Dispositive für die Wissensproduktion über die Fremde bzw. – in Stopfkuchen – auch für die Konstruktion eines Mordfalls in Anspruch genommen werden. 1. Le Vaillant  : Sehen und lesen Voyage de Monsieur Le Vaillant dans l’Intérieur de l’Afrique behandelt die erste von zwei Reisen Le Vaillants vom Kap der guten Hoffnung aus ins Landesinnere. Kein Neuland wird damit den zahlreichen europäischen Leserinnen und Lesern präsentiert, sondern eine bis dahin mehrfach besuchte und verschriftlichte Region. Denn einerseits bildet sie zum damaligen Zeitpunkt einen der wenigen Zugänge ins Innere des Kontinents9, andererseits lebt hier eine für die Forscher in besonderem Maße repräsentative afrikanische Bevölkerungsgruppe10, die von den europäischen, vornehmlich niederländischen Kolonisatoren abwertend ‚Hottentotten‘ genannt werden.11 Von 1652 an, seit die Holländische Ostindien-Kompanie am Kap einen Stützpunkt für ihre Handelsschiffe installierte, gehören sie zum notwendigen, wenngleich randständigen (im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie werden am Anfang und/oder Ende der Reise nach Indien abgehandelt) Repertoire einer Vielzahl von Berichten. Laut Matthias Fiedler und Michael Harbsmeier werden ihre Bewohner durch Zuschreibungen wie ‚bestialisch‘, ‚säuisch‘, ‚unflätig‘, ‚dreckig‘ oder ‚hässlich‘ zu „Figuren der Grenze“ stilisiert, die ganz am Rand der zivilisierten Welt positioniert sind.12 In den Mittelpunkt der Betrachtung rücken die ‚Hottentotten‘   8 Joachim Heinrich Campe  : Le Vaillant’s Reise in das Innere von Afrika, vom Kap der guten Hoffnung aus, in den Jahren 1780–1785, Braunschweig 1831. Ders.: Le Vaillant’s Reise in das Innere von Afrika. Beschluß, Braunschweig 1831. Seitenangaben im Folgenden mit den Siglen LVR I bzw. LVR II.   9 Vgl. Mary Louise Pratt  : Imperial Eyes  : Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992, S. 40. 10 Vgl. Matthias Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 33. 11 Zu diesem Namen vgl. Stefan Göttel  : „Hottentotten/Hottentottin“, in  : Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, hg. von Susan Arndt und Antje Hornscheidt, Münster 2004, S. 147–153. 12 Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus, S. 35  ; Michael Harbsmeier  : Wilde Völ­

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zum ersten Mal 1719, in Peter Kolbs Vollständige Beschreibung des Africanischen Vorgebürges13, um danach immer wieder aufs Neue erforscht zu werden. Eine wichtige Zäsur für die Darstellung der fremden Kultur bilden zwei in den 1780er Jahren publizierte Reiseberichte, Resa till Goda Hopps-Udden des schwedischen Linné-Schülers und Teilnehmers an der zweiten Cook-Expedition Anders Sparrman (1748–1820) und Narrative of Four Voyages in the Land of the Hottentots and Caffraria des Engländers William Paterson (1755–1810).14 Beide verstehen sich als Initiatoren einer neuen wissenschaftlichen Forschungsriege, die auf Beobachten und schriftliche Fixierung des Beobachteten setzt und sich entschieden von einer, wie Mary Louise Pratt schreibt, “anecdotal literature of survival and the sensationalist discourse of monstrosities and marvels”15 verabschieden, als deren Inbegriff ihr, nicht ganz zu Recht, wie neuere Studien zu zeigen versuchen16, das Buch Kolbs gilt. Sparrman schreibt in seinem Vorbericht  : Einfüßige Menschen, Cyklopen, Sirenen, Nachtmenschen, und ähnliche Hirngespinste sind zwar nunmehr aus unsrer aufgeklärtern Welt so ziemlich verschwunden  ; mancher hat sich aber doch verführen lassen, andre nicht viel weniger wunderliche zu glauben, womit Schriftsteller, die vor mir die Hottentotten besucht und beschrieben, ihre Nachrichten aufgestutzt haben, um sich mehr Leser zu verschaffen. Wenn daher meine Nachrichten von meinen Vorgängern oft sehr verschieden sind, und ich bisweilen mich mit ernsthafter Untersuchung ihrer Erzählung aufhalte, so wird solches hoffentlich keinem meiner Leser auffallen.17

Le Vaillant knüpft an die Vorhaben des Sehens (der Fremde) und Lesens (der Vorgänger) an. In seinem Reisetext kommentiert er immer wieder die Texte ‚unserer romanhaften

kerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der frühen Neuzeit, Frankfurt/M./New York 1994, S. 209f. 13 Caput Bonae Spei Hodiernum. Das ist  : Vollständige Beschreibung des Africanischen Vorgebürges der Guten Hoffnung. Nebst noch vielen andern curieusen und bißhero unbekandt-gewesenen Erzehlungen / mit warhafter Feder ausführlich entworffen  ; auch mit nöthigen Kupfern geziret / und einem doppelten Register versehen von M. Peter Kolben /Rectore zu Neustadt an der Aysch, Nürnberg 1719. 14 Anders Sparrman  : Resa till Goda Hopps-Udden, södra pol-kretsen och omkring jordklotet, samt till Hottentott-och Caffer-Landen åren 1772–1776, Bd. 1, Stockholm 1783–1802  ; William Paterson  : Narrative of Four Voyages in the Land of the Hottentots and Caffraria, in the years 1777–78–79, London 1789. Pratt untersucht die beiden Texte eingehend (Pratt  : Imperial Eyes, S. 50–57). 15 Ebd., S. 51. 16 Vgl. Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus, S. 31–54  ; Pratt  : Imperial Eyes, S. 41– 49. 17 Andreas [!] Sparrman  : Vorbericht des Verfassers zur Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung, in  : Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung, den südlichen Polarländern und um die Welt, hg. von Georg Forster, Berlin 1784. ‚Diese Schriftsteller‘ werden im Textverlauf in erster Linie mit Kolb gleichgesetzt (z.B. ebd., S. 200), dessen ‚romanhafte‘ Ansichten ein ums andere Mal korrigiert werden.

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Reisenden‘18, die vor allem Gerüchte oder Gelesenes berichteten (vgl. z.B. V I, S. 145), und betont, dass er im Unterschied zu diesen ausschließlich ‚authentische‘ Beobachtungen wiedergebe. Während das Gerücht eindeutig negativ konnotiert ist, erfährt das Lesen ein zwiespältiges Urteil  ; kritisch beäugt wird es, weil jeder Reisende a priori im Verdacht steht, nur gelesen und nicht selbst erfahren zu haben  ; gleichzeitig bedarf es aber der Lektüre und des Nachschreibens, um das Gesehene im diskursiven Feld des Forschungsreiseberichts zu positionieren. Der Ort für Le Vaillants programmatische Vorstellung dieser auf empirischer Datensammlung und kritischer Kommentierung der ‚Vorreisenden‘ beruhenden Konstruktion des Wissens ist wie bei anderen Reisenden der Vorbericht („Préface“)  : Das Sehen als zentrale Methode wird darin mehrfach explizit genannt, während das Lesen eher implizit – durch abgrenzende Verweise auf die vorangegangene Reiseberichtschreibung – thematisiert wird  : Je pardonne à ces Ouvrages volumineux, à ces compilations immenses, où l’on met à contribution les Livres anciens, où les textes sont tout au long cités, où, par cela seul qu’ils sont anciens, on présente comme des verités immuables, les rêves de l’imagination où de l’ignorance. Mais lorsqu’épris de la manie d’une Science, & ne trouvant pas en soi les ressources propres à en étendre les progrès  ; que du fond de son Cabinet on prétend établir des principes & dicter des loix  ; qu’on abuse des dons heureux du génie pour propager de vieilles erreurs, & couvrir de toutes les graces de l’élocution les mensonges avérés de nos Pères  ; qu’on les déguise, qu’on les tourmente, qu’on se les approprie en connoissance de cause, je ne fais point grace à l’Ecrivain qui se pare ainsi de la dépouille d’autrui, quelque peine qu’il ait prise pour en rassortir les lambeaux. Bien résolu de ne parler que de ce que j’ai vu, de ce que j’ai fait, je ne dirai rien que d’après moimême, & certes on ne me reprochera pas les fautes de ceux qui m’ont précédé. (V I, S. IVf.)19

Ähnlich programmatisch formulierte Ein- und Ausschlussverfahren finden sich auch bei anderen Forschungsreisenden wie z.B. Sparmann und Paterson. Die Beschwörung des Authentischen, die vielen Reisenden als Einstieg in die Darstellung fremder Welten dient, 18 Z.B. V I, S. 267  : „relations fades & ridicules de nos romanciers Voyageurs“. 19 „Ich vergebe diesen umfangreichen Werken, diesen riesigen Kompilationen, wo die alten Bücher hinzugezogen werden, wo die Texte durchgehend zitiert werden, wo – nur weil sie althergebracht sind – die Träume der Imagination oder der Unwissenheit als unerschütterliche Wahrheiten dargestellt werden. Aber wenn einer von der Manie einer Wissenschaft gepackt ist und nicht in sich selbst die Mittel findet, um deren Fortschritt voranzuführen  ; wenn man aus dem hintersten Winkel seiner Schreibstube Prinzipien aufzustellen und Gesetze zu erlassen bestrebt  ; wenn man die glücklichen Gaben des Genies missbraucht, um alte Irrtümer zu verbreiten und die erwiesenen Lügen unserer Väter mit allen Reizen der schönen Rede verhüllt  ; wenn man sie verkleidet, wenn man sie auf die Folter spannt, wenn man sie sich wider besseres Wissen zu eigen macht, habe ich keine Gnade gegenüber dem Schriftsteller, der sich derart mit der Hinterlassenschaft eines anderen schmückt, welche Mühe er sich auch immer gegeben haben möge, die Fetzen wieder zusammenzufügen. Wohl entschlossen, nur von dem zu sprechen, was ich gesehen habe, was ich getan habe, werde ich nichts sagen, das nicht mir stammt, und gewiss wird man mir nicht die Fehler derer vorwerfen, die mir vorangingen.“

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besitzt topischen Charakter, die proklamierte Untersuchung ‚mit eigenen Augen‘ erweist sich als Inszenierung mit Realitätseffekt, die durch die kritische Kommentierung anderer Reiseschriftsteller eine Nobilitierung erfährt. Das Sehen einerseits, das Gesehene mit dem bisher Geschriebenen abzugleichen andererseits zeichnet den Wissenschaftler aus. Die Reise ins Landesinnere ist bei Le Vaillant daher notwendigerweise auch eine durch andere Bücher. Wie sehr auch Le Vaillants Reisebericht selbst in vorgeschriebenen Bahnen verläuft, zeigt bereits der Versuch, den Text nach einem bewährten dramaturgischen Muster aufzubauen, demzufolge Reisebeschreibungen, in denen der Ich-Erzähler stärker präsent ist, und Beobachtungen über Flora, Fauna und menschliche Besiedlung, in denen er in den Hintergrund rückt, alternieren. Auffallend an der Le Vaillantschen Dramaturgie ist allerdings, dass die handlungsreichen Reisebeschreibungen bei weitem überwiegen. Im ersten Teil (Umfang 274 Seiten) finden sich zwar zahlreiche, aber in der Regel eher kurze Bemerkungen über die Natur und die Bewohner der Region, ergänzt um Kommentare zu vorherigen Reisetexten. Bei den Tieren, von denen er viele erlegt, begnügt er sich öfters mit der bloßen Namensnennung. Im zweiten Teil (Umfang 399 Seiten) gibt es zwei längere Abschnitte, die sich mit fremden Kulturen befassen, die erste mit den ‚Hottentotten‘ (V II, S. 38–155), die zweite mit den ‚Kaffern‘ (V II, S. 276–294). Abgesehen von der Länge insbesondere der ersten, irritieren die Überleitungen zwischen Reisebeschreibung und wissenschaftlicher Schilderung. So geht der ersten Beobachtungspassage ein Abschnitt voraus, in dem Le Vaillant wegen häufiger Besuche einer ‚Horde Hottentotten‘ um die Lagerdisziplin fürchtet. Daher nimmt er sich vor, seine Leute zu ihren Geschäften zurückzubringen, indem er mit gutem Beispiel vorangeht. Das eigene Geschäft ist die Arbeit am „Journal“ (V II, S. 38, 276), aus dem dann, so suggeriert der Text, über hundert Seiten lang zitiert wird (vgl. V II, S. 38f.). Ebenso abrupt wie der Einstieg in die Tagebuchnotizen erfolgt der Ausstieg  : Man bedürfe nur einer geringen Kenntnis der Sprache, um das Notwendigste zu verstehen, lautet der letzte Satz der wissenschaftlichen Erörterungen, auf den ein Absatz folgt und die Bemerkung, dass seit der Abreise seiner Gesandten an den Hof des ‚Kaffern‘-Königs Faroo mehr als drei Wochen vergangen seien (vgl. V II, S. 155). Ähnlich gestalten sich auch die Überleitungen der zweiten, kürzeren Beobachtungspassage. Die Ausführlichkeit könnte indirekt den Fleiß des Journalschreibers zum Ausdruck bringen. Die Nachlässigkeit, mit der in die wissenschaftliche Schilderung der fremden Kulturen eingeführt wird, könnte jedoch auch ein Indiz dafür sein, dass ihm daran gar nicht so sehr gelegen ist  : Er scheint an dieser Stelle eher eine lästige Pflicht nachzuholen, um einer Genrekonvention Genüge zu leisten. Die Schilderungen als solche bemühen sich darum, den Regeln eines empirisch-wissenschaftlichen Diskurses, wie ihn u.a. die ‚aufgeklärten Reisenden‘ Sparrman und Paterson vorgaben, zu folgen. Zugleich organisieren sie ihren Gegenstand, die fremde Natur, die fremden Menschen, anhand einer Redeweise, in deren Zentrum das Konzept vom ‚edlen Wilden‘ steht  : Rousseaus Texte spielen hierbei eine wichtige Rolle, insbesondere sein Discours sur l’inégalité (1755), dessen Beispiele übrigens zum Teil Kolbs Reisebeschreibung

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entnommen sind.20 Aus dieser Kombination resultiert erstens eine empirische Bestandsaufnahme des Fremden, deren Schwerpunkt auf dem ‚Äußeren‘ (dem Körper, der Kleidung, dem Umgang mit Geburt, Krankheit und Tod) liegt. Kulturelle Errungenschaften (z.B. Ackerbau, Religion, Umgang mit Zeit  ; vgl. V II, S. 88f.) werden als nicht vorhanden beschrieben oder als nur rudimentär ausgebildet (z.B. Sprache  ; vgl. V II, S. 154). Wichtig für die Datensammlung sind gemäß des Vorberichts (kritische) Kommentare zu früheren Reisenden, deren Beobachtungen zu Gerüchten oder bloß Angelesenem herabgestuft werden. Le Vaillants Dokumentation der fremden Kultur widerspricht diesen ‚Romanschriftstellern‘ zwar zum Teil inhaltlich, strukturell jedoch, d.h. vom Aufbau und von den Schwerpunktsetzungen her, steht sie ganz in der Tradition früherer Reisetexte, und zwar nicht allein derjenigen Sparrmans und Patersons, sondern auch desjenigen von Kolb. Nüchtern gehaltene Passagen, in denen der Ich-Erzähler distanziert seine ‚Objekte‘ klassifiziert, stehen neben solchen, die das Naturhaft-Kindliche der ‚Hottentotten‘ begrüßen, an einer Stelle sogar mit großer Emphase  : Mortels heureux, me disois-je, conservez long-temps cette précieuse innocence  ; mais vivez ignorés  ! Pauvres Sauvages, ne regretez [!] point d’être nés sous un Ciel brûlant, sous un sol aride et desséche qui produit à peine des bruyères et des ronces  ; regardez, ah  ! plutôt regardez votre situation comme une faveur signalée du Ciel  ; vos déserts ne tenteront jamais la cupidité des Blancs  ; unissez-vous aux peuplades fortunées qui n’ont pas plus que vous le bonheur des les connoître  ; détruisez, effacez jusqu’aux moindres traces de cette poudre jaune qui se métalise dans vos ravines et dans vos roches   ; vous êtes perdus, s’ils la découvrent  ; apprenez qu’elle est le fléau de la terre, la source de tous les crimes, et redoutez sur-tout l’approche d’un Almagro, d’un Pizarre, d’un Fernand-Cortez, et l’étole ensanglantée des Valverdes. Dans l’état de Nature, l’homme est essentiellement bon  ; pourquoi le Hottentot seroit-il une des exceptions de cette règle  ; c’est mal à propos qu’on l’accuse d’être cruel  ; il n’est que vindicatif  ; trop sensible au mal qu’on lui fait, qu’y a-t-il de plus naturel que de repousser la force par la force  ; il nous sied bien d’ordonner aux peuples de la Nature la pratique de nos vertus factices, quand les noms nous en sont à peine connus, et que leur régime n’est consenti par personne […]. (V II, S. 123f.) 21 20 Vgl. Fiedler  : Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus, S. 31. 21 „Glückliche Sterbliche, sagte ich mir, bewahrt noch lange diese kostbare Unschuld  ; aber lebt unbeachtet  ! Arme Wilde, bedauert nicht, unter einem glühenden Himmel, auf einem kargen und ausgetrockneten Boden, der kaum Heidekraut und Sträucher hervorbringt, geboren zu sein  ; seht, ja, seht eure Lage vielmehr wie eine bedeutende Gunst des Himmels  ; eure Wüsten werden niemals die Habgier der Weißen verlocken  ; vereint euch mit den glücklichen Völkerschaften, die nicht mehr als ihr das Glück haben, sie zu kennen  ; vernichtet, tilgt bis zu den geringsten Spuren dieses gelbe Pulver, das in euren kleinen Schluchten und euren Felsen zu Metall wird  ; ihr seid verloren, wenn sie es entdecken  ; lernt, dass es die Geißel der Erde ist, die Quelle aller Verbrechen, und fürchtet vor allem die Ankunft eines Almagro, eines Pizarro, eines Hernán Cortés und die blutbefleckte Stola der Valverdes. Im Naturzustand ist der Mensch seinem Wesen nach gut  ;

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Aus der Kombination dieser beiden Diskurse, desjenigen vom ‚edlen Wilden‘ und des empirisch-wissenschaftlichen, resultiert bei Le Vaillant ein Wissen, das die Opposition zwischen Wilden und Zivilisierten produziert und zugleich irritiert. Eine entscheidende Rolle für diese ambivalente Wissensproduktion besteht in der Empfindsamkeit der erzählenden Instanz. In der quantitativ die wissenschaftlichen Schilderungen überwiegenden Reisegeschichte tauchen solche emphatischen Bemerkungen häufiger auf. Sie sind eingebettet in die Geschichte der Erlebnisse des Ich-Erzählers, der nur an wenigen Stellen den späteren Zeitpunkt seines Erzählens expliziert (z.B. V I, S. 91)  ; in der Regel bleibt die Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich ungenutzt, die interne Fokalisierung somit eng an die Figur des reisenden Ich gebunden. Die konfigurationskonstitutiven Merkmale aus dem empirischen Teil (z.B. ‚Hottentotten‘ = natürlich, ungebildet  ; Europäer = gekünstelt, gebildet) finden sich auch hier, mit der Spezifik, dass der Ich-Erzähler sämtliche positiven Qualitäten der Europäer in sich vereinigt. Dem gebildeten Le Vaillant stehen die ‚unschuldigen Naturkinder‘ gegenüber, die seine Überlegenheit anerkennen und ihn zu ihrem Lehrmeister machen (vgl. V I, S. 176). Darüber hinaus allerdings – und dies scheint mir das eigentlich Erstaunliche des Le Vaillantschen Textes zu sein, das bereits zeitgenössischen Rezipienten aufgefallen ist22 – inszeniert sich der Ich-Erzähler über herkömmliche Genrekonventionen23 hinaus als zugleich tapferer und empfindsamer Held, der auf seiner Reise zahlreiche Jagd-, Kriegs- und Liebesabenteuer zu bestehen hat. Kaum im Land angekommen, erlegt er einen „Panther“ (vgl. V I, S. 39), vor dem sich die eingesessenen Pflanzer fürchten  ; daraufhin gilt er als „tapferer Mann“ („un brave“ [V I, S. 46]) und wird öfter für solche Jagden angefordert. In der Elefantenjagd, die gemeinhin als die schwierigste gilt, sieht er ein Vergnügen (vgl. V I, S. 180f.). Seine Begierde, im Krieg zwischen den Pflanzern und den Kaffern als ‚Friedenstifter‘ (vgl. V I, S. 208f.) zu agieren, lässt ihn mit nur wenigen Gefährten in deren Land reisen. Darüber hinaus steht er zur Zeit seiner Reisen in der ‚Blüte seiner Jugendkraft‘ und ‚hätte es also dreist mit jedem Herkules in Europa aufgenommen‘ (vgl. V I, S. 271). Aus dem romanhaften Fremden in früheren Reisetexten ist der romanhafte Held geworden, der nicht nur sieht und liest, sondern vor allem Abenteuer erlebt. Seine semantischen Merkmale weisen insofern auf Karl Mays Old Shatterhand voraus  ; was ihn von diesem unterscheidet, sind sein nicht vorhandener Misweshalb sollte der Hottentotte eine Ausnahme dieser Regel sein  ? Man klagt ihn zu Unrecht der Grausamkeit an  ; er ist nur rachsüchtig  ; zu empfänglich für das Böse, das man ihm antut, gibt es für ihn nichts Natürlicheres, als die Gewalt durch die Gewalt zurückzudrängen  ; es steht uns fein an, den Naturvölkern die Pflege unserer vorgeblichen Tugenden aufzutragen, wenn deren Namen uns kaum vertraut sind, und niemand in ihre Herrschaft einwilligt […].“ 22 „Hr. Vaillant […] unterhält seine Leser, wie bekannt, hauptsächlich mit den gefahrvollen Vorfällen seiner romanhaften Reise.“ Anonym  : Erdbeschreibung, in  : Allgemeine Literaturzeitung Bd. 3, Nr. 233, August 1791, S. 438f., hier 438. 23 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Hansjörg Bay in diesem Band.

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sionierungseifer und eine gesteigerte Empfindsamkeit  : In seiner Erzählung fließen immer wieder Tränen, Menschen sind gerührt, nicht zuletzt er selbst, aus Freundschaft, aus Mitleid, aus Zuneigung zum weiblichen Geschlecht (vgl. z.B. V II, S. 224f., 392). Auch dieses Gefühl ist Ergebnis von Lektüre  : Wie sehr Le Vaillants Text dem Dispositiv der Empfindsamkeit im Allgemeinen verpflichtet ist und dem Diskurs der empfindsamen Reisebeschreibung im Besonderen, dem Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy (1768  ; im selben Jahr ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Empfindsame Reisen durch Frankreich und Italien) zum „Durchbruch“ in der europäischen Literatur verholfen hat24, zeigt sich im Textverlauf immer wieder  : Der Reisebericht beschreibt etwa „eine aufkeimende Liebesbeziehung [zwischen Le Vaillant und einer ‚Hottentottin‘, C.H.] in idealisierender Manier nach zeitgenössischem europäischem Muster, vielleicht auch nur von dem beteiligten Europäer imaginiert“.25 Allerdings verändern sich durch die Übernahme von Handlungsmustern und Konfigurationselementen der empfindsamen Reise der Status und die semantischen Merkmale der dem Helden begegnenden ‚Wilden‘. Über die Fähigkeit zur ‚Rührung‘ und über weitere Qualitäten wie z.B. Schamhaftigkeit (vgl. V I, S. 273) rücken sie dem empfindsamen Helden zeitweise erstaunlich und für diesen irritierend nahe. Darüber hinaus werden einige aus der Dienerschar und der ‚Horde freier Hottentotten‘ individualisiert  : Neben der ‚Geliebten‘, der der Erzähler den Namen ‚Narina‘ gibt, sind zu diesen Individuen der Anführer der ‚wilden Hottentotten‘, Haabas, und seine beiden Angestellten Swanepoel und Klaas zu rechnen. Zwischen diesen Figuren und dem Ich-Erzähler ergeben sich – abgesehen von der Rührung – zumindest kurzzeitig weitere Äquivalenzbeziehungen  : zu Klaas über das Moment der ‚Freundschaft‘ (vgl. V I, S. 152f.), zu Swanepoel über dasjenige der ‚Ordnung‘ (vgl. V I, S. 96  ; II, S. 221), zu Narina ebenfalls über das der ‚Freundschaft‘, wenn nicht ‚Liebe‘  : Narinas Neugierde („curiosité“) richtet sich beim ‚first contact‘ nicht auf die Geschenke, sondern auf den Forschungsreisenden  ; sie sieht den Erzähler, der seinem Anspruch nach das Fremde ‚sehen‘ will, prüfend und lange an (vgl. V I, S. 262). Dieses Angeblickt-Werden und der anschließende Blickwechsel sorgen für Verwirrung („confondue“) auf Seiten des Betrachters, weil die „zwischen dem Subjekt der Wahrnehmung (dem Europäer) und dem wahrgenommenen Objekt prinzipiell angelegte Struktur der Verdinglichung“26 einige Augenblicke lang außer Kraft gesetzt 24 Nikolaus Wegmann  : Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 71  ; zur Rezeption von Sternes Sentimental Journey vgl. auch Peter Michelsen  : Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1962. 25 Anke J. Kattner  : François Le Vaillant bei den ‚wilden Hottentotten‘  : Eine Begegnung und ihre Verarbeitung im Reisebericht, in  : Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, hg. von Wolfgang Gippert, Petra Götte und Elke Kleinau, Bielefeld 2009, S. 85–104, hier 88f. 26 Volker Mergenthaler  : Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel, Tübingen 2002, S.  109  ; vgl. auch Christoph Wulf  : Das gefährdete Auge. Ein Kaleidoskop der Geschichte des Sehens, in  : Das Schwinden der Sinne, hg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt/M. 1984, S. 21–45, insbes. S. 23  : „Mit dem Auge sucht man das Auge des anderen und spiegelt

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wird. Diese Suspension der Verdinglichung wird zwar durch die anschließende Beschreibung des weiblichen Körpers großteils, aber nicht vollständig aufgehoben  ; dafür sprechen u.a. die im Text sonst kaum zu findenden elliptischen Sätze (V I, S. 267), nachdem sie ihren ‚Freund‘ („ami“) verlassen hat, und seine Reaktion darauf  : „J’eus beaucoup de peine à m’endormir. Tout ce qui venoit de se passer, depuis l’arrivée de ces Sauvages, se retraçoit à mon imagination sous de couleurs si bizarres & si nouvelles.“ (V I, S. 267)27 Eine solche Konfusion des Betrachters ist weder im empirischen noch im idealisierenden Diskurs zu verzeichnen  : Auch im letzteren bestimmt aller Empathie für die ‚Kinder der Natur‘ und aller Prognosen über deren Entwicklungsfähigkeit zum Trotz eine unüberbrückbare Distanz das Verhältnis zwischen dem Europäer und den Angehörigen der fremden Kultur. Die Opposition zwischen Wilden und Zivilisierten, zwischen ‚Afrika‘ und ‚Europa‘ wird in Le Vaillants Reisebericht keineswegs eingezogen, aber doch – zumindest kurzzeitig – überschrieben oder irritiert, indem Figuren des jeweiligen Teilraums identische Merkmale zugeschrieben werden, und das von vornherein, nicht erst dadurch, dass der europäische Lehrer die afrikanischen Schüler diese Qualitäten lehrt. Diese Irritationen sind nicht das Ergebnis eines authentischen Sehens, sondern ergeben sich aus den Friktionen unterschiedlicher Lektüren. 2. Campe  : Die Solidargemeinschaft der Lesenden Joachim Heinrich Campe, der mit Robinson der Jüngere eines der erfolgreichsten deut­­ schen Kinderbücher verfasst hat, war auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest im kulturellen Gedächtnis verankert. „Vom Verfasser des deutschen ‚Robinson‘“ überschrieb die Familienzeitschrift Die Gartenlaube 1875 einen zweiteiligen Artikel, der dem Leben und der nachhaltigen Wirkung Campes gewidmet war. Sein Lesebuch habe „schnell eine Weltberühmtheit“ erlangt und sei „seit nunmehr achtzig Jahren mit den freundlichen Jugenderinnerungen aller seitdem erstandenen Geschlechter verwachsen“.28 Was dieses Buch und alle anderen Schriften Campes auszeichne, bestehe im „Gedanke[n] des Fortschrittes zur Humanität und Freiheit“ und in dem „Glaube[n], daß es ohne humane Freiheit kein Heil giebt für den Einzelnen wie für

sich in ihm. Den anderen sehend wird man selbst gesehen und empfindet sich als Sehenden. Merleau-Ponty nennt diese Kreuzung der Blicke das Chiasma des Sehens. Das Auge wird zum ‚Fenster der Seele‘, in das man hineinschaut. Zugleich ist es aber auch das ‚Fenster‘, durch das man hinausschaut, durch das man die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen des eigenen Körpers überschreitet.“ 27 „Ich hatte große Mühe, einzuschlafen. Alles, was seit der Ankunft dieser Wilden geschehen war, stellte sich in meiner Einbildungskraft mit so wunderlichen und so neuartigen Farben dar.“ 28 A. Fr.: Vom Verfasser des deutschen „Robinson“. Ein Cultur- und Charakterbild aus dem vorigen Jahrhundert. I., in  : Die Gartenlaube 1875, S. 400–402, hier 402.

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die Gesammtheit“.29 Dieses Fortschreiten von der Unfreiheit zur Freiheit, oder wie es in dem Artikel auch heißt, von der Nacht in den Tag, wird von Campe selbst nicht nur topologisch, sondern auch topografisch gefasst  : „Die Zeit der Erlösung des armen Menschengeschlechts“, heißt es in seiner Bearbeitung des ersten Teils von Le Vaillants Reisebericht, „von dem Joche der Unterdrückung nahet überall mit starken Schritten heran. Das Licht der Aufklärung wird nach und nach in die entferntesten Welttheile dringen, und auch da, wie in Europa, der Zwangsherrschaft, der Sklaverei und den Unmenschlichkeiten ein Ende machen […].“ (LVR I, S. 180f.) Wegbereiter dieser Aufklärungsarbeit sind bei Campe vielfach Forschungsreisende wie James Cook, John Barrows, oder eben Le Vaillant, deren Expeditionen er insbesondere in der Sammlung interessanter und durchgängig zwekmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen und in der Neuen Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Jugend (1802–1806) nacherzählt.30 Dass bei aller aufklärerischer Absicht auch andere Lektüren, etwa empfindsame, relevant sind, hat bereits 1869 ein Artikel in der Zeitschrift Globus festgestellt  : Joachim Heinrich Campe dachte, lebte, webte und wirkte im Geiste des Philantropismus, über das man heute manchmal lächelt, durch welches aber eine Pädagogik des Wohlwollens ins Dasein gerufen wurde. Das entsprach dem Geiste der Zeit vor hundert Jahren. Die englischen Gefühlsromane, die Schriften Rousseau’s, die Entdeckungen Cook’s, durch welche die Südsee mit ihrer neuen Welt bekannt wurde  ; die hinreißenden Schilderungen Georg Forster’s über Otaheiti, die Aufklärungsversuche in religiöser Hinsicht, Herder’s Schriften etc., das Alles wirkte zusammen, um eine neue geistige Atmosphäre zu schaffen.31

Mit der Nacherzählung von Originaltexten in pädagogisch-aufklärerischer Absicht, die ein Kennzeichen fast aller seiner Kinder- und Jugendbücher ist32, erweist sich Campe als versierter Bibliotheksmanager, sowohl hinsichtlich der Kenntnis und der Abgrenzung von Büchern anderer Autoren als auch hinsichtlich der inneren Organisation seines Werks. Die interne Organisationsstrategie ist die der intertextuellen Vernetzung  : Indem er die 29 A. Fr.: Vom Verfasser des deutschen „Robinson“. Ein Cultur- und Charakterbild aus dem vorigen Jahrhundert. II., in  : Die Gartenlaube 1875, S. 420–423, hier 423. 30 Eine Relektüre des zweiten Teils von Le Vaillants Reisebericht erscheint „nach Campe’s Lehrart“ 1803. Der anonym bleibende Verfasser übernimmt darin die dialogische Gesprächssituation zwischen einem Vater und seinen Kindern aus Robinson der Jüngere (vgl. Le Vaillant  : Neue Reise in das Innere von Afrika, vom Vorgebürge der guten Hoffnung aus. In den Jahren 1780 bis 1785. Ein nützliches Lesebuch für die Jugend, nach Campe’s Lehrart bearbeitet. Mit Kupfern. Altona 1803, S. 8). 31 Anonym  : Joachim Heinrich Campe’s Entdeckung von Amerika, in  : Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 15, 1869, S. 283f., hier 283. 32 Vgl. Hans-Heino Ewers  : Joachim Heinrich Campe als Kinderliterat und als Jugendschriftsteller. Wirkungsgeschichte eines Klassikers, in  : Erfahrung schrieb’s und reicht’s der Jugend. Joachim Heinrich Campe als Kinder- und Jugendschriftsteller, Berlin/Frankfurt/M. 1996, S. 9–32, hier 13.

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Kleine Kinderbibliothek (1779–1784) und Robinson der Jüngere als „Vorläufer“33 von Kolumbus oder die Entdekkung von Westindien (1781) ausweist, letzterer Text wiederum zur Vorbereitung auf die „Lesung zwekmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen“34 dient, organisiert er eine „pädagogische Fabrik“, wie Joseph von Eichendorff in Ahnung und Gegenwart schreibt35, als totale, die gesamte Kindheit und Jugend umfassende, eine Fabrik, deren Arbeiter Leser sind.36 In Le Vaillant’s Reise in das Innere von Afrika wird zu Beginn der Einleitung auf den zweiten Teil der Sammlung (LVR I, S. 3) verwiesen  ; wenig später dient der Name des Schiffes, mit dem Le Vaillant nach Südafrika reist, „Held Woltemade“ der Erinnerung an die Geschichte aus der Kinderbibliothek über diesen Helden (LVR I, S. 14f.), die im Textverlauf nochmals zusammengefasst wiedergegeben wird (vgl. LVR I, S. 53–56  ; II, S. 129f.). Der Bearbeitung von Le Vaillants Reisebericht wiederum gedenkt der Erzähler im dritten Teil der Neuen Sammlung (1802), die u.a. einen ‚kurzen Auszug‘ aus John Barrows Travels into the Interior of Southern Africa (1801) beinhaltet  : „Das Meiste, welches die Geschichte dieser Reise enthält, ist meinen jungen Lesern schon aus Vaillants Reisegeschichte bekannt, die ihnen eine so angenehme Unterhaltung gewährt hat.“37 Lesen als zentrale Erziehungsmaßnahme ist dabei bestimmten Regeln unterworfen, durch die Grenzen zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Büchern gezogen werden. ‚Richtige‘ Bücher wahren ein Gleichgewicht zwischen ‚sanften‘ und ‚angenehmen‘38 Empfindungen einerseits, eine auf die „wirkliche Welt“ gerichtete, vernünftige Wissensvermittlung andererseits. Innerhalb eines solchen ausgewogenen Kräfteverhältnisses ist die Empfindung „eine schöne, würdige und beseligende Eigenschaft“39 und übernimmt eine unverzicht33 Joachim Heinrich Campe  : Von der Absicht dieses Buches, in  : Kolumbus oder die Entdekkung von West­ indien, ein angenehmes und nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute, Tübingen 1782, S. 3. 34 Ebd., S. 4. 35 Joseph von Eichendorff  : Ahnung und Gegenwart, in  : Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden, hg. von Gerhard Baumann, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 55. 36 „Ein durchgängig praktiziertes Verfahren besteht darin, daß Campe ein bestimmtes Werk so anlegt, daß es als Vorstufe des folgenden Werkes dient, indem er Wissenselemente vermittelt, die in späteren Texten variiert und differenziert werden.“ Gabriele Brune-Heiderich  : Die Begegnung Europas mit der überseeischen Welt. Völkerkundliche Aspekte im jugendliterarischen Werk Joachim Heinrich Campes, Frankfurt/M. u.a. 1989, S. 61. 37 Joachim Heinrich Campe  : Reise in das Land der Kaffern und zu den Buschmännern. Ein kurzer Auszug aus J. Barrows Reisen durch das Innere des südlichen Afrika, in  : ders.: Sämmtliche Kinder= und Jugendschriften. 4. Gesammtausgabe der letzten Hand. 31. Bändchen. Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen, 3. Theil, Braunschweig 1832 (zuerst 1802), S. 151. Zu John Barrow vgl. auch Pratt  : Imperial Eyes, S. 58–67. 38 Vgl. Joachim Heinrich Campe  : Wörterbuch der deutschen Sprache. I. Bd., mit einer Einführung und Biblio­graphie von Helmut Henne, Repr. Hildesheim/New York 1969 (zuerst 1807), S. 902. 39 Joachim Heinrich Campe  : Sensation, Sensibilität, Sentiment, sentimental, sentimentalisieren u. s. w., in  : Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, hg. von Gerhard Sauder, Stuttgart 2003, S. 44–47, hier 45.

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bare Aufgabe für die Gesellschaft  : Sie ist „die Bedingung für befriedigende Sozialität, die unabdingbare Sensibilität für den Umgang mit dem Mitmenschen“.40 In den ‚falschen‘ „Modebücher[n]“41 hingegen ist das Verhältnis von Vernunft und Empfindung aus dem Gleichgewicht geraten, was die „Modekrankheit“42 der ‚Empfindelei‘ – eine Wortschöpfung, die Campe für sich reklamiert – zur Folge hat  ; junge Menschen werden durch sie in eine „eingebildete[ ] Schäferwelt“ statt in die ‚wirkliche Welt‘ entführt, in der ‚Müßiggang‘ statt „Selbstthätigkeit“43 vorherrschen. Eine solche ins Extreme – ins ‚Überspannte‘, ‚Übertriebene‘ – umschlagende Lektüre wird von Campe pathologisiert44  : Sie führt zu ‚Fieber‘45 und ‚Entnervung‘46, zur ‚Hypochondrie‘.47 Dass gerade „Reisebeschreibungen“ eine richtige Lektüre bilden, liegt an der prin­zi­ piellen Balance der beiden Kräfte  : Sie sorgen für ‚ernsthaft-nützliche‘48 und „ange­nehme“49 Unterhaltung, für eine rationale Welterkenntnis und eine empfindsame Parteinahme gegen Ungerechtigkeit und Leid.50 Die Aufgabe des Nacherzählers besteht darin, den Prätext so zu bearbeiten, dass dieser zum Teil nur „den bloßen Hauptgedanken“51 nach vorhandene 40 Wegmann  : Diskurse der Empfindsamkeit, S. 118. 41 Campe  : Von der Absicht dieses Buches, S. 4. 42 Joachim Heinrich Campe  : Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler der Empfindsamkeit die Empfindsamkeit zu überspannen, in  : Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesen von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hg. von J.H. Campe, Hamburg u.a. 1785–1792, Teil 3 Hamburg 1785, Neuauflage Vaduz 1979, S. 291–435, hier 364. 43 Joachim Heinrich Campe  : Robinson der Jüngere. Ein Lesebuch für Kinder (1779/80). Mit den Bildern von Ludwig Richter (1848), hg. von Johannes Merkel und Dieter Richter, München 1977, S. VI. 44 Vgl. Wegmann  : Diskurse der Empfindsamkeit, S. 120f. 45 Vgl. Campe  : Robinson der Jüngere, S. V. 46 Vgl. Campe  : Von der Absicht dieses Buches, S. 4. 47 Campe  : Von der nöthigen Sorge, S. 411. 48 Vgl. Campe  : Von der Absicht dieses Buches, S. 4. 49 Joachim Heinrich Campe  : Vorbericht zur ersten Ausgabe, in  : Sämmtliche Kinder= und Jugendschriften. 4. Gesammtausgabe der letzten Hand. 17. Bändchen. Erste Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen, 1. Theil, Braunschweig 1832 (zuerst 1786), S. IV  ; Campe  : Von der Absicht dieses Buches, S. 4. 50 Denn wenn irgend etwas recht eigentlich dazu geschikt ist, in einem jungen Kopfe aufzuräumen, seine Welt und Menschenkenntniß auf eine leichte und angenehme Weise zu erweitern, den Hang zu romanhaften Aussichten ins Leben und zu arkadischen Träumereien, zu welchen so viel andere Modebücher ihn einladen, zu schwächen, ihm frühzeitig einen heilsamen Ekel gegen das faselnde, schöngeisterische, Leib und Seele nach und nach entnervende Geschwäz der besagten Modebücher und hingegen einen wünschenswürdigen Geschmak an ernsthaftern und nützlichern Unterhaltungen einzuflößen  : so sind es gewiß solche Reise­ beschreibungen, bei deren Verfertigung man sowohl in Ansehung der Sachen, als auch des Vortrages, dieses jugendliche Alter einzig und allein unverrükt im Gesicht gehabt hätte.“ J. H. Campe  : Kolumbus, S.  4f. Fast wortwörtlich findet sich diese Opposition von Reisebeschreibungen und empfindsamen Modebüchern auch im Vorbericht des ersten Teils der Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefasster Reisebeschreibungen wieder (vgl. Campe  : Vorbericht zur ersten Ausgabe, S. IVf.). 51 Campe  : Robinson der Jüngere, S. X.

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Ausgleich durchweg gewahrt bleibt. In Campes Worten  : Der Nacherzähler muss die Prätexte von „unpädagogischen Auswüchsen“ bereinigen.52 Die Realisierung dieser ‚Bereinigung‘ erfolgt nicht nur im Falle der Le Vaillant-Bearbeitung mittels diverser erzählerischer Verfahren, durch die die Rolle des Lesens und der Lesenden für die Aufklärungsarbeit über fremde Welten im Vergleich zum Original gestärkt wird. Campes Überschreibung enthält im Unterschied zum Prätext zwei Ich-Erzähler, einen extradiegetischen (‚Campe‘), der nach einer ‚kurzen Einleitung‘ (LVR I, S. 3–15) in die Geschichte der Besiedlung Südafrikas das Regime an einen intradiegetischen (‚Le Vaillant‘) abgibt53, sich aber das Recht vorbehält, dessen Erzählung um Fußnoten zu ergänzen.54 Stärker noch bleibt der extradiegetische Erzähler allerdings dadurch präsent, dass der intradiegetische sein pädagogisches Konzept verinnerlicht hat. Die Folgen sind erstens ein ersichtlich stärkeres Bemühen um eine ‚ordentliche‘ Erzählung durch überschaubare Kapitellängen, die Ereignisse zusammenfassende Kapitelüberschriften, eine spannungsreichere Dramaturgie und Umstellungen. Zweitens werden viele Abschnitte des Originals vom intradiegetischen Erzähler gestrichen, gemäß der Ansicht Campes, dass weder ‚dürre, unvollständige Beobachtungen‘55 noch ‚unsittliche‘, ‚abergläubische‘ oder ‚geschwätzige‘ Abschnitte in einem ‚richtigen‘ Reisebericht etwas zu suchen haben. Kürzer wird der Text dadurch nicht, denn in zumindest gleichem Umfang erfährt die Erzählung drittens auch „Zusätze“.56 Campes Ankündigung im Vorbericht, Le Vaillants Bemerkungen über die „drei Natur=Reiche“ (LVR I, S. III) bedürften der ‚Vervollständigung‘ und der ‚Berichtigung‘ (LVR I, S. IV), führt sein Stellvertreter-Ich im Text getreulich aus. Die Korrektur erfolgt mit Hilfe anderer Reiseberichte über das ‚innere Afrika‘. Der Herausgeber benutzt dafür zum Teil dieselben Quellen wie der Autor des Originaltextes, zum Teil auch, etwa gegenüber dem „fablenden Kolbe“ (LVR I, S. IV), dieselben Wertungen. Doch er weicht insofern erheblich vom Original ab, als er andere Autoren, insbesondere Sparmann, Paterson und Otto Friedrich Mentzel57 (LVR I, S. IV), viel ausgiebiger zu Wort kommen lässt  : Diese in Form von Fußnoten oder von manchmal seitenlangen Einschüben vorgenommene ‚Vervollständigung‘ dient zum Teil sogar dazu, die Le Vaillantschen Ausführungen kritisch zu kommentieren.58 52 Joachim Heinrich Campe  : P. Brydone’s Reise durch Sicilien und Malta, im Jahre 1770, in  : ders.: Sämmtliche Kinder= und Jugendschriften. 4. Gesammtausgabe der letzten Hand. 23. Bändchen. Erste Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen, 7. Theil, Braunschweig 1831 (zuerst 1789), S. 3. 53 Vgl. z.B. die Fußnote in LVR I, S. 15  : „Herr Le Vaillant erzählt von jetzt an selbst.“ 54 Sie sind zum Teil mit „D. Herausgeber“ (z.B. LVR I, S. 99 und II, S. 141) ausgewiesen. 55 Campe  : Vorbericht zur ersten Ausgabe, S. VIII. 56 Campe  : Vorrede zu Das Anziehendste und Merkwürdigste aus Johann Carvers Reisen durch die inneren Gegenden von Nordamerika. 57 Otto Friedrich Mentzel  : Vollständige und zuverläßige Geographische und Topographische Beschreibung des berühmten und in aller Betrachtung so merkwürdigen Afrikanischen Vorgebirges der Guten Hoffnung. Erster und zweiter Theil, Glogau 1785–87. 58 Im Vorbericht der Bearbeitung von Brydone’s Reise durch Sicilien hat Campe diese Strategie genauer beschrieben  : „In Ansehung der Berichtigung einzelner Bemerkungen, worüber ich die vier genannten Schrift-

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Richtiges Wissen resultiert in der Bearbeitung nicht mehr allein aus der Koalition von Sehen und Lesen des Verfassers  ; als unerlässlich dafür erweist sich zudem der belesene Bearbeiter  : Richtiges Wissen kommt demnach letztlich erst durch einen Leser zustande, der sich bewusst ist, „welch ein mißliches Ding es um die geschichtliche Wahrheit ist.“ (LVR I, S. 45). Viertens handelt es sich nicht allein um einen einfachen, kritischen Lektüreprozess, in dem der extradiegetische Erzähler Originaltexte liest, bearbeitet und kommentiert, sondern um einen doppelten  : Junge Menschen lesen den vom Herausgeber ‚zusammengelesenen‘ Text. Dies markiert die Bearbeitung durch eine Verwandlung der Rezipienten in Figuren des Textes. Die imaginäre Kommunikationssituation in Le Vaillant’s Reise unterscheidet sich vom Original, in dem das Lexem ‚Leser‘ zwar gelegentlich auftaucht, direkte Leseransprachen jedoch fehlen. Sie unterscheidet sich auch von früheren, für Kinder bestimmten Texten Campes  : In Robinson der Jüngere etwa wird ein Gespräch im Familienkreis inszeniert, mit einer eindeutigen, hierarchischen Rollenverteilung  : Der Vater erzählt, die Kinder sowie die Mutter (eher eine Nebenfigur) hören zu und stellen Fragen. Der dramatische Modus, der für eine unmittelbarere Präsenz des erzählten Geschehens sorgt, wird in den Texten der Sammlung durch einen stärker narrativen ersetzt. Aus den kindlichen Zuhörern ist eine Gemeinschaft jugendlicher Leser geworden, aus dem Vater ein Ober­ leser, der aus der Masse an Reisebüchern geeignete auswählt und sie nach der Maxime, Wissen und Empfindung angemessen zu kombinieren, bearbeitet. Die narrativen Adressaten werden in der Einleitung vom extradiegetischen Erzähler angesprochen  : Dabei suggeriert das zweimal realisierte „wir“ (LVR I, S. 3, 13) ein solidarisches Verhältnis zwischen dem Herausgeber und den jungen Lesern, wodurch es für die realen Leser, wie Gérard Genette schreibt, „geradezu unvermeidlich“ wird, sich mit der „virtuellen Rezeptionsinstanz zu identifizieren bzw. sie aufzufüllen“.59 Auch nach der Übernahme der Erzählregie durch den intradiegetischen Erzähler bleiben die narrativen Adressaten anwesend  ; er erinnert sie an bereits Gelesenes (vgl. z.B. LVR I, S. 36  ; II, S. 6, 83) oder kündigt zukünftige Ereignisse an (z.B. LVR II, S. 17, 127). Vor allem formulieren die Leseransprachen Handlungsanleitungen, in denen die Rezipienten zum Lernen aufgefordert werden (vgl. z.B. LVR I, S. 45) oder an ihre Empfindsamkeit appelliert wird.60 steller im Widerspruch fand, habe ich es so gehalten. Widersprachen zwey oder drey von ihnen einstimmig dem Vierten  : so wurde die Aussage des Letzten verworfen, und die der ersten an die Stelle gesetzt. Widersprachen sich hingegen nur zwey unter ihnen, und fand ich bey den Uebrigen nichts, was die Bemerkung des Einen vor der des Andern einen höhern Grad von Wahrscheinlichkeit geben konnte  : so hielt ich mich nicht für gerechtfertigt, zwischen ihnen zu entscheiden, sondern führte in diesem Falle die Aussage Beyder an, die eine im Texte, die andere in einer Anmerkung.“ (Campe  : P. Brydone’s Reise durch Sicilien, S. 3f.) 59 Gérard Genette  : Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch, in  : Die Erzählung, hg. von Jochen Vogt, München 1994 (zuerst 1972), S. 187. 60 „Weine, gefühlvoller junger Leser, dem trefflichen Manne [Woltemade, C.H.] eine Thräne des Mitleids, der Bewunderung und der Liebe.“ (LVR I, S. 55) „So viel von den Gräueln des Sklavenwesens. Ich bin versichert, daß kein menschlich gesinnter Leser das Wenige, was ich davon mitgetheilt habe, ohne schauderhafte

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Der Ausbildung einer kritischen und zugleich empfindsamen Lektüregemeinschaft korrespondiert schließlich die fünfte und letzte erzählerische Strategie der Bearbeitung  : die Intensivierung der semantischen Merkmale des Helden und der ihn umgebenden Figuren. Wie das Original bewegt sich Campes Bearbeitung in den Spuren eines empirischen und eines idealisierenden Diskurses  ; und auch hier verkörpert in der Reisegeschichte das Ich den Helden in körperlicher, geistiger und empfindsamer Hinsicht  ; insbesondere seine Bildung bzw. seine ‚leidenschaftliche Wißbegierde‘ (vgl. LVR I, S. 13), werden noch öfter erwähnt als im Original, ebenso seine Empfindsamkeit, die ihm noch das eine oder andere Mal mehr eine „süße Freudenthräne ins Auge preßte“ (LVR I, S. 144  ; vgl. auch I, S. 37, 91  ; II, S. 7, 55, 121, 140). Über seinen Bediensteten Klaas schreibt der Erzähler genauso schwärmerisch wie im Original  : „Seit diesem glücklichsten Augenblicke meines Lebens, wo ich die süße Erfahrung einer reinen, von allem Eigennutze entfernten Freundschaft gegen mich machte, war der gute Klaas ganz meines Gleichen, mein Bruder und der Vertraute aller meiner Gedanken, aller meiner Freuden und Leiden.“ (LVR I, S. 144)61 In der Überschreibung erscheint gerade die Empfindsamkeit so groß, dass sie in Gefahr gerät, in ‚Empfindelei‘ umzuschlagen  : Ich stoße, indem ich in meiner Reisegeschichte fortfahren will, auf einen der süßesten Augenblicke meines Lebens, und ich kann mir das Vergnügen, meine Leser daran Antheil nehmen zu lassen, unmöglich versagen. […] ich habe das Vertrauen zu dem gefühlvollern Theile meiner Leser, daß sie einem der menschlichen Freudengefühle ein wenig Geschwätzigkeit zu gute halten werden. (LVR I, S. 149  ; Hervorhebung C.H.)

Eine ähnliche Intensivierung erfährt das Merkmal ‚Empfindsamkeit‘ auch auf Seiten der männlichen ‚Hottentotten‘. Die Gerührtheit von Swanepoel und Klaas übertrifft die der Vorlage  : Sie weinen noch stärker, schluchzen noch lauter (vgl. LVR I, S. 143  ; II, S. 99).62 Bei der Ausgestaltung der Beziehung zwischen dem Ich und Narina (LVR II, S. 13) hingegen gibt sich die Bearbeitung vorsichtiger als der Prätext. Es kommt zwar auch hier zu einem intensiven Blickwechsel bei der ersten Begegnung (vgl. LVR II, S. 7f.), doch von einer Verunsicherung des Erzählers kann nicht die Rede sein. Ebenso hält sich nach dem Abschied sein Kummer in Grenzen und er wird auch nicht von bizarren Fantasien Empfindungen des Mitleids und des Abscheus werde gelesen haben. […] O Menschheit  ! O Sitten  ! O achtzehntes Jahrhundert  !“ (LVR I, S. 70f.) „Trockne, junger Leser, die Thränen, welchen ungeschwächtes Menschengefühl dir bei der Vorstellung dieser Gräuelthaten ins Auge preßt  !“ (LVR I, S. 180) „Junger Leser  ! Erhole dich von deinem gerechten Erstaunen über einen Grad von Unmenschlichkeit […].“ (LVR II, S. 73) 61 Vgl. V I, S. 153  : «Depuis ce jour heureux de ma vie, où j’ai connu la douceur d’être aimé purement & sans aucun mélange d’intérêt, le bon Klaas fut déclaré mon égal, mon frere, le confident de tous me plaisirs, de mes disgraces, de toutes mes pensées.» 62 Vgl. V I, S. 152  ; II, S. 225.

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heimgesucht. Insgesamt jedoch wird durch ‚Empfindsamkeit‘, was Campe, wie gesehen, als ein von der Vernunft in Schranken gehaltenes Gefühl definiert, immer wieder kurz­ zeitig eine Nähe zwischen dem europäischen Helden und einer kleinen Auswahl der ‚Hottentotten‘ angedeutet. Mehr noch  : Durch die Nähe scheint auch, anders als im Original, die Gemeinschaft der Rezipienten in diese Äquivalenzbeziehung integriert zu sein. Dass eine solche momentane Nähe Risiken birgt, ist dem intradiegetischen Erzähler bewusst  : Denn Narina oder Klaas sind zwar empfindsam, aber zugleich auch auf glückliche Weise unwissend (vgl. LVR II, S. 21). Laut des Balance-Konzepts von Campe müsste also bei den ‚Hottentotten‘-Figuren die gesunde Empfindsamkeit in ‚Empfindelei‘ und letztlich in Krankheit umschlagen. Hier findet sich Empfindsamkeit ohne Vernunft, ja trotz immenser Faulheit, und auch  : Gesundheit ohne Vernunft. Damit also der Solidarpakt nicht in Gefahr gerät, muss der Erzähler seine jungen Leser warnen  : ‚Faul und gesund‘ können nur die Naturvölker sein, der verfeinerte Europäer jedoch wird unweigerlich krank, wenn er sich nicht permanent anstrengt, was immer auch heißt  : nicht permanent liest (vgl. LVR II, S. 11f.). 3. Raabe  : Zeitung lesen ‚Lektüren‘ im weitesten Sinn spielen in Le Vaillants Reisebeschreibung und in der Relektüre durch Campe sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch der der Erzählung eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des Wissens über fremde Welten  ; dabei hat sich insbesondere gezeigt, dass die produktive Rezeption populärer empfindsamer Handlungsmuster und Konfigurationen irritierende Verschiebungen hinsichtlich der Wahrnehmung fremder Kulturen eröffnete. Auf die Bedeutung von Lektüren generell in Raabes Stopfkuchen habe ich eingangs bereits hingewiesen. Auf eine, auch für den Le Vaillantschen Prätext relevante, möchte ich abschließend eingehen  : die der Zeitungen und der populären periodischen Presse, in der fast sämtliche Texte Raabes in Fortsetzungen vorabgedruckt wurden. Die Ausgangssituation, den Le Vaillantschen Prätext betreffend, ähnelt derjenigen in Campes Bearbeitung. Ein belesener Erwachsener, Störzer, erzählt seinem Schüler Eduard, was er in Le Vaillant’s Reisen in das Innere von Afrika gelesen hat. Abgesehen davon, dass Le Vaillant unter „wilden und zahmen Hottentotten“ (BA 18, S. 19) im ‚friedfertigen‘ (vgl. BA 18, S. 184) Afrika lebte, viel auf Jagd war (vgl. BA 18, S. 96) und eine Geschichte „von wilden Eseln, Giraffen, Elefanten, Nashörnern, saubern Namaquamädchen und aus der Historie vom Bravsten der Braven aller Hottentotten Swanepoel“ (BA 18, S. 116) erzählte63, erfahren die 63 An einer Stelle heißt es ähnlich  : „[…] und sehne dich mal nicht nach dem Le Vaillant seinem Afrika und seinen Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefan­ten.“ (BA 18, S. 22) Eine andere Stelle verweist implizit auf Le Vaillants Bericht  : „Reinlichkeit ist doch eine Tugend, Eduard  ! Man schätzt sie an der Hottentottin, und man nimmt sie als etwas Selbstverständ­liches an seiner europäischen Geliebten.“ (BA 18, S. 140)

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Lesenden der ‚See- und Mordgeschichte‘ vom Inhalt der Reisebeschreibung nichts. Von den drei für Le Vaillant relevanten Diskursen, dem empirisch-wissenschaftlichen, dem idealisierenden und dem empfindsamen, wird hier nur der idealisierende realisiert  : Afrika ist das Land wilder Tiere bzw. von wilden und zugleich zahmen, braven sowie sauberen Ureinwohnern. Diese Bearbeitung des Prätextes in quantitativer und qualitativer Hinsicht lässt aus Afrika einen exotischen Sehnsuchtsort64 (vgl. BA 18, S. 22, 184) werden – die „Chiffre“65 Le Vaillant symbolisiert den Traum von einem friedlichen Ort in Übersee und die Verwirklichung dieser Sehnsucht, d.h. sie steht für Eskapismus resp. Selbstfindung im Fluchtort. Für den Leser Störzer bleibt dieser Ort unerreichbar, nicht aber für den Zuhörer Eduard, der nach Übersee ins „Kaffernland[ ]“ (BA 18, S. 13) migriert  : „Dich, lieber Eduard, haben Störzer und M. Le Vaillant nach dem heißen Afrika gebracht“ (BA 18, S. 63), sagt Stopfkuchen zu seinem Jugendfreund. Die spezifische Bearbeitung des Prätextes geht einher mit der Aufnahme zeitgenössischer Diskurse über Afrika, nach welchen sich die Organisation des Verhältnisses zwischen den europäischen und afrikanischen Kulturen im Vergleich mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts qualitativ verändert hat. Während im 18. Jahrhundert – wie anhand von Le Vaillant und Campe gezeigt – das Wissen über fremde Kulturen ambivalent konstruiert ist, etabliert sich im 19. eine Ordnung, zu der maßgeblich eine „geschichtsphilosophische Hierarchisierung der über den Globus verteilten Kulturen mit einem aufgeklärten Europa an der Spitze und mehr oder minder starken Einschränkungen der Zivilisationsperspektiven für alle außereuropäischen ‚Völker‘“66 gehört. In den Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt z.B. heißt es 1858 über die ‚Hottentotten‘, sie seien „zum großen Theile durch Kolonisirung zertreten und scheinbar ohne Zukunft der Entwicklung, nicht sehr geeignet, auf die Dauer die Aufmerksamkeit zu fesseln“.67 In Stopfkuchen selbst wird nicht nur über Le Vaillant der idealisierende, sondern zugleich ein rassistischer Diskurs realisiert  : Gerade Eduard spricht nicht zufällig vom „exotischen, heidnischen Niggerpack“ (BA 18, S. 6), vom ‚besoffenen‘ „Niggersteward“ (BA 18, S. 101), und vom farbigen Schiffskoch als einem „nichtsnutzige[n] Nigger“ (BA 18, S. 93), hat er sich doch aus einem AfrikaLeser in einen Afrika-Kolonisierer gewandelt. Stopfkuchen spielt hier auf eine Szene aus Voyage dans de l’Intérieur de l’Afrique an, in der Le Vaillant seine ‚Freundin‘ Narina und einige andere ‚Hottentottinnen‘ beim Baden beobachtet (vgl. V I, S. 270). 64 Vgl. Brewster  : Onkel Ketschwayo in Neuteutoburg, S. 103. 65 Hubert Ohl  : Eduards Heimkehr oder Le Vaillant und das Riesenfaultier. Zu Wilhelm Raabes ‚Stopf­ kuchen‘, in  : Raabe in neuer Sicht, hg. von Hermann Helmers, Stuttgart 1968, S. 247–278, hier 270. 66 Hansjörg Bay/Kai Merten  : Einleitung, in  : Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850, hg. von Hansjörg Bay und Kai Merten, Würzburg 2006, S. 7–29, hier 14. 67 Anonym  : Die Hottentotten-Stämme und ihre geographische Verbreitung im Lichte der Gegenwart, in  : Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 1858, S. 50–56, hier 50.

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Die Gegenwart und damit die (gewaltsame) Kolonisierung Afrikas tauchen in Stopf­kuchen eher beiläufig und in Form von Anspielungen auf. Doch ein Blick auf zeitgenössische Kontexte, etwa Die Gartenlaube, zeigt, dass ein solches Wissen leicht zugänglich war. Der bekanntlich auch von Raabe aufgegriffene (vgl. BA 18, S. 114, 143) Aufstand des ‚Zulukönigs Ketschwayo‘68 gegen die englische Kolonialmacht wird in der Familienzeitschrift ebenso diskutiert wie derjenige der sogenannten „niederdeutschen Bauern“  : Von Neuem dringt zu uns aus dem fernen Südafrika eine aufregende Botschaft. Nicht die schwarzen Zuluschwärme mit ihrem todverachtenden Anstürmen und ihren ohrenbetäubenden Kriegsgesängen sind es diesmal, es ist ein weißer Stamm, das stählerne Hünenvolk der Boers, das unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Die gesammte niederdeutsche Bevölkerung von Transvaal rüstet sich zum Aufstand gegen die verhaßte englische Regierung.69

Der Vorabdruck von Raabes See- und Mordgeschichte erfolgt in der wöchentlich erscheinenden Deutschen Roman-Zeitung70 in sechs Folgen zwischen Anfang Oktober und Mitte November 1890.71 Nicht nur, dass im vorangegangenen Band Frieda von Bülows Kolonialroman Am andern Ende der Welt 72 zu lesen war, das Feuilleton der Deutschen Roman-­ Zeitung enthielt zudem regelmäßig Artikel über die vollständig bzw. mehr oder weniger kolonisierten fremden Welten, wie z.B. über den „Rhamadan in Algier“ oder „Stanleys Marsch zu Emin Pascha“. Die periodische Presse insgesamt, Tageszeitungen, Familienund Rundschauzeitschriften, sorgt dafür, dass „eine ganze Flut von Zeichen fremden Daseins“73 in die Haushalte strömt  ; der Stanley-Artikel folgt auf „Mädchenlieder. Gedichte von Carl Busse-Sebus“, „Rhamadan in Algier“ auf „Epigramme u. Sinnsprüche. 68 Vgl. Ernst von Weber  : Die Zulus und der drohende Racenkrieg in Südafrika, in  : Die Gartenlaube 1879, S. 205–208  ; Bruno Beheim-Schwarzbach  : Besuch bei einer dunklen Majestät, in  : Die Gartenlaube 1882, S. 304. 69 Ernst von Weber  : Die niederdeutschen Bauern (Boers) von Südafrika, in  : Die Gartenlaube 1880, S. 174– 177, hier 174, vgl. auch  : Anonym  : Für die Boers, in  : Die Gartenlaube 1881, S. 219. Auf andere Art und Weise werden die Boers in einer Karl-May-Erzählung literarisiert (vgl. K.M.: Der Boer van het Roer. Ein Abenteuer aus dem Kaffernlande, in  : Deutscher Hausschatz 6, 1879/1880, S. 122–128, 132–142, 151–160, 166–171, 184–189). 70 Mit einer Auflage von 9.500 Exemplaren im Jahr 1889 zählt die Deutsche Roman-Zeitung zu den vergleichsweise eher ‚kleinen‘ Blättern im Deutschen Kaiserreich, ihr Renommee im literaturbeflissenen, gehobenen Bürgertum jedoch ist enorm  ; daher publizieren hier auch viele damals erfolgreiche Autorinnen und Autoren wie Fanny Lewald, Balduin Möllhausen, Friedrich Spielhagen oder Felix Dahn ihre Texte. 71 Stopfkuchen. Eine See= und Mordgeschichte von Wilhelm Raabe, in  : Deutsche Roman-Zeitung, 28. Jg., Bd. 1/1891, Nr. l, Sp. 1–30  ; Nr. 2, Sp. 73–94  ; Nr. 3, Sp. 145–166  ; Nr. 4, Sp. 217–238  ; Nr. 5, Sp. 289–314  ; Nr. 6, Sp. 361–384. 72 Am andern Ende der Welt. Erzählung von F. v. Bülow, in  : Deutsche Roman-Zeitung, 27. Jg., Bd. 2/1890. 73 Ulrich Kinzel  : Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ‚Bildungspresse‘ im 19. Jahrhundert, in  : DVjs 67, 1993, H. 4, S. 669–716, hier 693.

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Von Gust. Hartwig“. Wie sehr hier der entfernteste Winkel in Übersee zur täglichen oder wöchentlichen Lektüre wird, zeigt sich auch in Stopfkuchen  : Eduard erinnert sich an ein Gespräch mit Störzer über eine Übersee- und wenn nicht Mord-, dann zumindest Naturkatastrophengeschichte aus der Zeitung  : „In Südamerika ist ein großes Erdbeben gewesen, Störzer. Mein Vater hat es heute früh beim Kaffee aus der Zeitung vorgelesen. Das hat viele Ortschaften übereinandergeschmissen und darunter eine Stadt so groß wie unsere.“ (BA 18, S. 17) Die Zeitung liefert die schlechte Nachricht aus der Ferne, zwar nicht von Mord, aber von vielen Toten, Le Vaillants Text hingegen schildert, in der Wahrnehmung Störzers, das Afrika der ‚Hottentotten‘ als idyllische und friedliche Welt  : „Und so ein Leben wie der sollten wir alle führen unter den wilden und zahmen Hottentotten.“ (BA 18, S. 19) Der Gegensatz zwischen den beiden Lektüren wird allerdings dadurch irritiert, dass es, wie mehrfach betont wird, Störzer ist, der neben der Post auch die Zeitungen sowie „Gartenlauben und Mode­ zeitungen“ (BA 18, S. 19) ins Haus bringt. Mit dem nachbarschaftlichen Nebeneinander unterschiedlicher Textinhalte, unterschiedlicher Textsorten und zum Teil unterschiedlicher medialer Darstellungen (Bild und Text) ist ein zentraler Aspekt der periodischen Presse benannt. Es handelt sich dabei um eine – allerdings nur auf den ersten Blick – rein äußerliche Beziehung, die auf ‚Nähe, Angrenzung und Berührung‘ beruht und daher mit Roman Jakobson als „Kontiguitätsrelation“ bezeichnet werden kann.74 Im Unterschied zu einer Similaritätsbeziehung steht hier weniger das Ganze als vielmehr das Detail im Vordergrund  ; das heißt aber auch, dass diese Einzelheiten in stärkerem Maße einander fremd bleiben. Zu ‚Berührungen‘ zwischen den Oppositionen Vertrautes und Fremdes, Deutschland und Südafrika kommt es auch in den schriftlichen und mündlichen Reden der Protagonisten von Stopfkuchen. Afrika scheint direkt an die Rote Schanze zu grenzen, wenn Eduard schreibt, dass er erst mit seiner Ankunft dort „vollständig“ das „heiße[ ] Afrika“ (BA 18, S. 53) verlassen habe. Der Hof wiederum rückt in unmittelbare Nähe zur nahegelegenen Stadt und zu Afrika, wenn Schaumann zu Eduard sagt  : „In der Abendkühle können wir ihn dann ja ein bisschen auf seinem Wege nach der Stadt und nach Afrika zurückbegleiten.“ (BA 18, S. 57) Wissen über die Ferne ebenso wie über das Nächstgelegene wird aber in der periodischen Presse nicht allein nebeneinander gestellt (wie in einer Enzyklopädie), sondern auch auf eine bestimmte Weise akzentuiert und miteinander kombiniert. Die syntagmatische Anordnung wird so um spezifische semantische Paradigmen ergänzt, deren Ziel darin besteht, die heterogene Vielfalt zu kompensieren, das heißt  : aus ihr eine sinnvolle zu machen. Während aber in den Zeitungen und Zeitschriften eine Position des Ausgleichs zwischen den sozialen ‚Extremen‘ ausgehandelt wird, zwischen dem Idealistischen und dem Rea-

74 Vgl. Roman Jakobson  : Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik, in  : Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, hg. von Jens Ihwe, Bd. 1  : Grundlagen und Voraussetzungen, Frankfurt/M. 1971, S. 323–333.

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listischen75, akzentuiert Raabes Stopfkuchen insbesondere das Moment der gewaltsamen Kolonisierung ‚wilder‘ Orte. Eduard ‚erobert‘ (vgl. BA 18, S. 81) Besitz und Vermögen im ‚wilden‘ Süden Afrikas, die Lektüre von den ‚wilden‘ und zugleich ‚zahmen Hottentotten‘ dient als Anlass, um deren Land in Besitz zu nehmen und zu ‚kultivieren‘. Stopfkuchen ‚erobert‘ (vgl. z.B. BA 18, S. 83  ; 94  ; 147) die Rote Schanze inklusive deren „Wildkatze“ (BA 18, S. 97), wie die Tochter des Bauern Quakatz anfangs tituliert wird. Stopfkuchen jedoch kultiviert sie und verwandelt sie in ein „Quakätzchen“ (BA 18, S. 116)  : „Kulturations­­ geschichte (der Frau) und Kolonisierungsgeschichte (der Roten Schanze) sind aufeinander bezogen, verhalten sich zueinander komplementär.“76 Auch das Erzählen beider Protagonisten ist über den Aspekt der Gewalt verklammert  ; ihr primäres Interesse gilt keiner Wahrheit und auch nicht der Aufklärung eines Mordfalles, sondern der Durchsetzung der jeweiligen Wahrheitsposition. Dies geschieht in unterschiedlichen Medien (schriftlich/mündlich) und auf unterschiedlichen Zeitebenen. Der extradiegetische Erzähler Eduard berichtet dem Lesepublikum auf der intradiegetischen Ebene von der Niederschrift eines Tagebuchs während der Schiffsreise auf der ‚Leonhard Hagebucher‘ nach Südafrika. Das Tagebuch erzählt von den Tagen des Aufenthalts in der Heimat, vor allem vom Besuch beim Jugendfreund Heinrich Schaumann. Auf dieser metadiegetischen Ebene existieren verschiedene orale Erzähler, allen voran Stopfkuchen. Dieser wiederum berichtet von metametadiegetischen Ereignissen, dem jahrzehntelang zurückliegenden Mord an dem Viehhändler Kienbaum, allerdings nicht ausschließlich mit seiner Stimme, sondern auch in den Worten des angeblichen Mörders Störzers  : Die Tat an sich rangiert also auf einer metametametadiegetischen Ebene.77 Dass nicht der extradiegetische, sondern der metadiegetische Erzähler der eigentlich Mächtige ist, wird auf den „überbordenden“78, „ausschweifenden“79, ja gewalttätigen80 Redefluss Stopfkuchens zurückgeführt, den auch das Tagebuch nicht ‚einzudämmen‘ vermag. Darüber hinaus ist 75 Für die Gartenlaube und Wilhelm Raabes Unruhige Gäste habe ich das Austarieren einer Position der Mitte beispielhaft zu zeigen versucht  : Christof Hamann  : Unruhige Gäste in der Gartenlaube. Zum Parasitären von Raabes ‚Roman aus der Gesellschaft‘, in  : ‚Die besten Bissen vom Kuchen‘. Wilhelm Raabes Erzählwerk  : Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, hg. von Søren R. Fauth, Rolf Parr und Eberhard Rohse, Göttingen 2009, S. 297–316. 76 Vgl. Claudia Liebrand  : Wohltätige Gewalttaten  ? Zu einem Paradigma in Raabes ‚Stopfkuchen‘, in  : Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1997, S. 83–102, hier 97. 77 Vgl. zum Ort des Erzählens  : Gerárd Genette  : Diskurs der Erzählung, S. 163  ; Matias Martinez/Michael Scheffel  : Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 75f. 78 Georg Mein  : „… beim letzten Droppen Dinte angekommen  ?“ Raabes ‚Stopfkuchen‘ als Projekt einer poetischen Selbstvergewisserung, in  : ‚Die besten Bissen vom Kuchen‘. Wilhelm Raabes Erzählwerk  : Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, hg. von Søren R. Fauth, Rolf Parr und Eberhard Rohse, Göttingen 2009, S. 117–131, hier 120. 79 Johannes Graf/Gunnar Kwisinski  : Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron  ? Zur Erzählstruktur in Raabes ‚Stopfkuchen‘, in  : Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1992, S. 194–213, hier 204. 80 Vgl. vor allem Liebrand  : Wohltätige Gewalttaten  ?, S. 87–92.

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Stopfkuchens Macht über den Tagebuchschreiber Eduard insbesondere den erzählerischen Verfahren des Mediums der periodischen Presse geschuldet, die sich Stopfkuchen zunutze macht  : Sein Wissen erweist sich als Macht, weil es unterhaltsam erzählt ist. Auf die Allgegenwärtigkeit von Zeitungen insgesamt hat neuerdings Manuela Günter aufmerksam gemacht.81 Der erwachsene Eduard, der aus Afrika zu Besuch in der Heimat ist, findet am Morgen auf dem Frühstückstisch die „neueste[ ] Zeitung“ (BA 18, S. 29) vor, Stopfkuchen, den er danach besucht, hat bereits aus der Zeitung von dessen Ankunft erfahren (BA 18, S. 54), und als die beiden abends von Stopfkuchens Bauernhof, der Roten Schanze, in das Gasthaus Brummersumm wechseln, dem Ort, an dem die Mordgeschichte endlich zu Ende erzählt wird, hängen dort am Eingang „die auswärtigen Zeitungen vom gestrigen Tage nebst dem heutigen ‚Abendblatt‘ der städtischen Presse“ (BA 18, S. 166). Diese Hinweise sind keineswegs zufällig in den Text eingestreut, sondern spielen auf die Art und Weise an, in der Stopfkuchen seine ‚Informationen‘ Eduard präsentiert  : nämlich nicht nur ‚endlos‘, sondern auch in fein dosierten Häppchen, mit Anspielungen, mit Abschweifungen und zahlreichen Unterbrechungen – der Mordfall wird so gleichsam zur Seriengeschichte, wie sie dem zeitgenössischen Publikum aus den Fortsetzungsromanen der periodischen Presse bekannt ist  ; auch hier werden die Leserinnen und Leser mit eben den genannten Mitteln unterhalten. Ob die Geschichte, die Schaumann erzählt, mit Kienbaum als Opfer, Störzer als Mörder und Stopfkuchen selbst als aufklärendem Detektiv, der Wahrheit entspricht, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden, aber  : Sie ist so spannend erzählt, dass sie vom zeitungslesenden Publikum als wahr anerkannt werden wird. Die ‚See- und Mordgeschichte‘ präsentiert den Leserinnen und Lesern also auf der einen Seite Eduard, den Zuhörer Stopfkuchens in der Binnengeschichte, der danach auf dem Meer sein „Schiffs­tage­ buch“ (BA 18, S. 200) verfasst wie einst Le Vaillant sein Journal in Übersee  ; auf der anderen Seite präsentiert sie ihnen den mündlichen Erzähler Stopfkuchen, der wie eine Zeitung alles in sich hineinfrisst, und es danach zeitungstauglich wieder ausspuckt. Wer Eduards Buch lesen wird, bleibt offen  ; Stopfkuchen aber hat sich im Brummersumm einer weiteren Zeugin, der Kellnerin Meta, bedient  : Ohne sie, sagt er zu Beginn des Schlussteils seiner Rede (vgl. BA 18, S. 168), kann er nicht fertig werden, und am Ende erhält sie den Auftrag, alles, was sie gehört hat, weiterzuerzählen (vgl. BA 18, S. 195). Vermutlich wird die Nachricht bald mit der neuesten Zeitung auf dem Frühstückstisch liegen.82 Dieser mündlichen und unterhaltsamen Version der Wahrheit kann sich auch der flüchtende Eduard nicht entziehen, weshalb sie in der schriftlichen Bearbeitung breiten Raum zu beanspruchen vermag. Demnach scheint Stopfkuchen ein „Traktat über Gewalt“83 und ein Traktat über den Zusammenhang von machtvollem Sprechen und massenmedialen Regeln zugleich zu sein, 81 Manuela Günter  : Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 278. 82 Vgl. hierzu auch ebd., S. 279. 83 Mein  : „… beim letzten Droppen Dinte angekommen  ?“, S. 120.

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implizit damit auch über die Möglichkeit von Autorschaft im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Die Lektüre der periodischen Presse sorgt anders als die der empfind­samen ‚Modebücher‘ nicht für eine kurzzeitig irritierende Nähe zwischen eigener und fremder Kultur  ; fremde Welten kursieren zwar in Form von Nachrichten in jedem deutschen Haushalt, für deren Inszenierung sind Unterhaltung und Gewalt jedoch gleichermaßen konstitutiv. Le Vaillants mediale Konstruktion eines friedlichen Afrikas und ihr unterhaltsamer Eskapismus hin zu wilden „Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefanten“ (BA 18, S. 22) kann sich in diesem Kontext nur als Vorbote einer umfassenden Kolonialisierungspraxis erweisen.

Axel Dunker

„Es ist eine Frage des Gedächtnisses“ Relektüren historischer und literarischer Texte in Christof Hamanns Roman ­Usambara

Wem in deutschen Landen ist nicht der Name des höchsten Berges von Afrika geläufig  ? Jedes Schulkind kennt den Kilimandscharo so gut wie den Brocken oder die Schneekoppe oder den Montblanc. Und mit dem Namen des Berges eng verknüpft ist der Name des kühnen Mannes, der zuerst seinen männlichen Fuß auf ihn setzte, dem wir es wesentlich verdanken, daß dieser Berg ein deutscher Berg geworden ist.1

Mit diesem Zitat aus dem Jahrbuch über die deutschen Kolonien von 1914 über „Hofrat Professor Dr. Hans Meyer“ beginnt Christof Hamanns 2007 erschienener Roman Usambara. Auch wenn hier nur der Autor des Aufsatzes – Fritz Jäger – und nicht der Publikationsort genannt wird (das holt Hamann 2008 in einem wissenschaftlichen Aufsatz in der Zeitschrift KulturPoetik nach), wird dem Thema der Erstbesteigung des Kilimandscharo sofort die Unschuld genommen  : sie ist nicht zu trennen vom deutschen Kolonialismus. Der Ich-Erzähler des Romans, Fritz Binder (die Ähnlichkeit der Namen Fritz Jäger und Fritz Binder ist vermutlich kein Zufall), sträubt sich gegen diese Einsicht. Sein eigenes Leben ist zutiefst verbunden mit diesem Ereignis, glaubt er doch, dass sein Urgroßvater Leonhard Hagebucher an dieser Besteigung durch den deutschen Naturforscher Meyer und den österreichischen Bergführer Purtscheller (beides historische Persönlichkeiten) beteiligt gewesen sei, auch wenn er schmählicherweise in den Reisebeschreibungen der beiden nicht erwähnt wird. Binder beschließt, von seinem Freund Michael gedrängt, am Kili Benefit Run zur Erhaltung der Schneekuppe des Kilimandscharo teilzunehmen und erzählt jedem, der es hören will (oder auch nicht), dass sein Urgroßvater schon einmal auf dem Gipfel gewesen sei. Hamann nennt im Anhang seines Romans drei Quellen, einen Roman des 19. Jahrhunderts und zwei historische Reisebeschreibungen. Zunächst zu den Reiseberichten  : „Der 1 Christof Hamann  : Usambara. Roman, Göttingen 2007, S.  7 (fortan zitiert unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text)  ; vgl. ders.: Verwundern, Entwundern, Diszplinieren. Hans Meyer bearbeitet den Kilimanjaro, in  : KulturPoetik 8, 2008, S.  39–59, hier 40  ; vgl. auch ders.: Ruinieren, Verketten, Verformen. Zum Umgang mit Materialien beim Schreiben, in  : Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, hg. von C. Hamann und Alexander Honold, Göttingen 2009, S. 313–322, hier 316.

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Roman bezieht Entdeckerberichte“, heißt es dort, „des 19. Jahrhunderts, insbesondere Oscar Baumanns In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes (1890) und Hans Meyers Ostafrikanische Gletscherfahrten (ebenfalls 1890), als Material ein.“ (261) Letztere liegen inzwischen in der Reihe „Alte Abenteuerliche Reiseberichte“ der Edition Erdmann in einer um das Vorwort und Teile des Anhangs gekürzten Neuausgabe unter dem Titel Die Erstbesteigung des Kilimandscharo bereits in der 5. Auflage seit 2001 vor.2 Die Zuverlässigkeit dieser Quellen wird im Roman selbst angezweifelt  : Ich muss zugeben, sagt Binder einmal im Gespräch mit seiner Freundin Camilla, dass die Quellen hinsichtlich Baumanns Medikamentenabhängigkeit widersprüchlich sind. Aber die Quellen … na ja. Was an denen dran ist, davon hätte mein Urgroßvater ein Lied singen können. (83)

Der ganze Roman beruht ja darauf, dass diesen Quellen ein dritter, fiktiver Erstbesteiger, eben Leonhard Hagebucher, eingeschrieben wird. Insofern haben wir es mit einer interpolierenden Relektüre der Schriften Baumanns, Meyers und anderer zu tun. Der Höhepunkt von Meyers Ostafrikanischen Gletscherfahrten besteht unstreitig in der Beschreibung der Erstersteigung des Kibo als des eigentlichen Gipfels des Kilimandscharo-Massivs. Legt man die entsprechende Partie aus Hamanns Roman und aus Meyers Beschreibung nebeneinander, so wird sehr deutlich, dass Hamann bis in die Wortwahl hinein Meyer als Vorlage folgt. Einerseits finden sich dabei starke Raffungen  : aus Meyers je höher wir emporstiegen, je dünner die Luft wurde, desto glanzvoller erstrahlten die ewigen Lichter des Firmamentes. Nirgends habe ich vorher oder nachher die Planeten in so ruhiger Pracht leuchten sehen wie hier  ; aber auch das Licht der großen Sonnen Sirius und Regulus erschien hier milder, gleichmäßiger als sonst. Und der sanfte Schein der Milchstraße, der magelhaenschen Wolken und vor Anbruch der Dämmerung des bis in den Zenit züngelnden Zodiakallichtes hat nicht seinesgleichen in tieferen Regionen3

wird ein schlichtes „Die Sterne leuchten heller, je höher sie steigen“ (240). Andererseits gibt es sowohl Ergänzungen, die ein Gegengewicht zur Entpoetisierung der Raffungen bilden – die Zeile „Zeitlupe  : Die Verlangsamung und Vergrößerung der Welt“ (241) hat keine Entsprechung bei Meyer – wie auch geringfügige, aber bedeutsame Veränderungen. Der Spruch, mit dem Meyer „diese unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde“ (248)4, tauft, beginnt bei Hamann mit den Worten „Mit dem Recht des ersten Besteigers“ (248). Bei Meyer ist dagegen zu lesen „Mit

2 Hans Meyer  : Erstbesteigung, hg. von Heinrich Pleticha, 5. Aufl. Lenningen 2009. 3 Ebd., S. 150. 4 Wörtlich so auch bei Meyer  : Erstbesteigung, S. 151.

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dem Recht des ersten Ersteigers“5. Die Veränderung der Vorsilbe verstärkt noch die „religiös-sexuelle[n] Assoziation[en]“6, die Hamann in einem in der Zeitschrift KulturPoetik erschienenen Aufsatz an Meyers Reisebericht aufgewiesen hat. Neben der Einführung der Hagebucher-Figur, über die noch zu sprechen sein wird, hat Hamann einen handgreiflich ausgetragenen Streit hinzu erfunden zwischen Meyer und seinem Begleiter Purtscheller über die Erstankunft auf dem Gipfel des Kibo – „Einige Meter unterhalb des Gipfels zieht Meyer so heftig am Seil, dass der führende Purtscheller stolpert und beinahe stürzt“ (242) – und das Recht der Benennung  : Meyer will die Spitze bei Hamann zunächst auf den Namen „Meyerspitze“ taufen, und erst als sich beide gegenseitig beinahe k.o. geschlagen haben, einigt man sich als Kompromiss darauf, die zwei umliegenden, geringfügig niedrigeren mit den beiden Namen des österreichischen Kaisers zu belegen. Diese die Quelle grotesk um-schreibende Relektüre hebt die Absurdität, die darin liegt, dass zwei Europäer den höchsten Berg Afrikas auf den Namen eines deutschen Kaisers taufen und damit mehr als nur symbolisch für Europa in Besitz nehmen, hervor. In KulturPoetik hat Hamann die benennende Taufe als Praxis mit „machtvolle[m] Realitätseffekt“ beschrieben  : „Zum ­einen wird durch die Identifizierung die ‚unbekannte, namenlose Spitze‘ ins bekannte Eigene überführt  ; zum anderen erweist sich derjenige, der benennt, als Herr über dasjenige, was benannt wird.“ 7 Aber auch die grotesk-absurden Seiten unserer Gegenwart werden hervorgehoben, wenn Meyer bei Hamann auf dem Gipfel verkündet, das Buch über seine Erstbesteigung „mit Der Marsch zu mir selbst zu überschreiben“ (248) und dabei auf den Titel der Autobiographie des früheren deutschen Außenministers, der im Roman als Gratulant für die Teilnehmer des Benefit Runs einen Auftritt hat, anspielt.8 Auf ähnliche Weise verfährt Hamann mit Baumanns In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes.9 Hier wird der Rassismus, der in einigen Passagen bei Baumann sehr deutlich wird10, auf andere Stellen verschoben, auf die Hamann sich bezieht, auch wenn er dort bei Baumann gar nicht greifbar wird. Ein Beispiel  : Baumann berichtet, dass die Expedition unter den großen Mengen des Gepäcks auch Blechwannen mit sich führt. In diesem   5 Ebd.   6 Hamann  : Verwundern, S. 49.   7 Ebd., S. 51.   8 Joschka Fischer  : Mein langer Lauf zu mir selbst, Köln 1999.   9 Zu Baumann vgl. Barbara Köfler  : Oscar Baumann. Die wechselseitige Beziehung zwischen Forschungsund Kolonialinteressen, in  : k. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, hg. von Walter Sauer, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 197–223. 10 Köfler sieht bei Baumann „eine in der Auseinandersetzung mit Land und Leuten allmählich sich vollziehende innere Entwicklung […], die ihn zwar (noch) nicht zu einem Kritiker des Kolonialsystems machte, aber doch seine Einstellung dazu änderte” (ebd., S. 217). So war seine (wahrscheinlich freiwillig angebotene) Aussage gegen den „Reichskommissar zur Verfügung des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika“ Carl Peters „Hauptbeweis im Anklagepunkt ‚Hinrichtung eines Afrikaners aus Eifersucht‘“.

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Zusammenhang wird Meyer die Äußerung zugeschrieben  : „Wenigstens wir müssen uns sauber halten in diesem Saustall“ (24), während es bei Baumann eher konträr dazu heißt  : „War ein geeignetes Gewässer in der Nähe, so ging fast Alles baden, denn die Körperreinlichkeit der Suaheli ist selbst auf der Reise eine grosse, und für ein Stück Seife giebt er seine letzte Habe her.“11 Als dann immer mehr Träger heimlich verschwinden, schreibt Hamann, auch die Blechwanne müsse zurückgelassen werden (vgl. 26), während es bei Baumann nur heißt „Dennoch blieben schließlich 12 minder wichtige Lasten liegen“.12 Bei der Beschreibung des Überfalls auf die Expedition ist eine deutliche Dramatisierung gegenüber der Vorlage zu konstatieren, die man dem Ich-Erzähler Fritz Binder zurechnen kann, der im Gespräch feststellt  : „Wieso soll so eine Geschichte nicht auch spannend sein  ?“ (100) Hamann verweist im Anhang aber neben den Büchern von Baumann und Meyer noch auf einen weiteren Zusammenhang – den ich für die Gesamtanlage des Romans für den wesentlich spannenderen halte –, bei dem man aber nicht wirklich von einer Quelle sprechen kann  : „Der Name Leonhard Hagebucher findet sich zuerst in Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867).“ (261) Dieser Roman Raabes und einige andere Werke dieses Autors haben in den letzten Jahren in einem hier relevanten Kontext verstärkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Felicitas Hoppe hat sich in ihrem Buch Verbrecher und Versager (2004) mit Leonhard Hagebucher und Abu Telfan auseinandergesetzt13 und die postkoloniale Literaturwissenschaft hat neue Lektüren vorgelegt.14 Auch Christof Hamann hat in seiner Eigenschaft als Literaturwissenschaftler mehrfach über Wilhelm Raabe gearbeitet und publiziert und zwar u.a. gerade über „Wilhelm Raabes Migranten“.15 11 Oscar Baumann  : In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes. Reise der Dr. Hans Meyerschen Expedition in Usambara. Mit 18 Illustrationen von Ludwig Hans Fischer und Franz Zimerman nach Skizzen des Verfassers, sowie nach Photographien, und einer Originalkarte, Wien/Olmütz 1890, S. 49. 12 Ebd., S. 94. 13 Felicitas Hoppe  : Verbrecher und Versager. Fünf Porträts, Hamburg 2004. 14 John Pizer  : Wilhelm Raabe and the German Colonial Experience, in  : A Companion to German Realism 1848–1900, hg. von Todd Kontje, Woodbridge 2002  ; Dirk Göttsche  : Der koloniale „Zusammenhang der Dinge“ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht, in  : Jahrbuch der RaabeGesellschaft 2005, S. 53–73  ; Axel Dunker  : „Gehe aus dem Kasten“. Modell einer postkolonialen Lektüre kanonischer deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Wilhelm Raabes Roman ‚Stopfkuchen‘  ; in  : (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Axel Dunker, Bielefeld 2005, S. 147–160. Erweitert wieder aufgenommen in ders.: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, S. 129–149. 15 Christof Hamann  : Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelms Raabes Migranten, in  : Text + Kritik. Sonderband. Literatur und Migration, München 2006, S. 7–18  ; vgl. auch ders.: „Wirklich Wetter reden“. Selbstreferentielles Erzählen bei Wilhelm Raabe und Wolf Haas, in  : Wolf Haas trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis und die Folgen, hg. von Hubert Winkels, Göttingen 2007, S. 72–99 und ders.:

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In Raabes Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge fällt ein junger Mann aus der deutschen Provinz unter die Afrikaner. Hier der Steckbrief  : Sohn eines deutschen Steuerinspektors, der Kopf in Himmelsrichtung gewachsen, die Füße stecken im Heimatsumpf, irgendwo zwischen Stuttgart und Braunschweig, der Ortsname viel zu lächerlich, um ihn über die Lippen zu bringen16

– so stellt Felicitas Hoppe ihn vor. Er beteiligt sich zunächst an den Planungen für den Suezkanal, dann geht es noch weiter Richtung Süden  : „Denn Semibecco, der große Verführer, verspricht ihm das Blaue vom Himmel herunter, Sonne, Sterne, das Mondgebirge, einen Hügelzug für die Eingeweihten, der ganz besondere Schätze birgt.“ 17 Das aber geht schief und er wird in die Sklaverei verkauft, ein weißer Sklave in Abu Telfan in der Nähe des Mondgebirges. Nach zehn Jahren wird er frei gekauft, kehrt in seine Heimat zurück, was wegen der Spießigkeit der deutschen Provinz nicht gerade ohne Schwierigkeiten verläuft. Hagebucher hält Vorlesungen über Afrika, nur, so das Resümee bei Hoppe, will die Geschichte gar keiner hören, die Heimat hat sich die Ohren verstopft und streut sich den ganzen Tag Sand in die Augen zwischen Stuttgart und Braunschweig und Dschebel al Komri. Nicht die Fremde ist fremd, sondern wir sind uns fremd, weil uns niemand hört, wenn wir sprechen wollen […].18

„Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, so würdet ihr viel weinen und wenig lachen“19, lautet der letzte Satz bei Raabe. Einige Ähnlichkeiten zwischen Raabes und Hamanns Geschichte liegen auf der Hand, die Bewegung zwischen Afrika und Deutschland etwa oder der Umstand, dass beide Hagebuchers in Afrika gefangen genommen werden, allerdings Hamanns Expeditionsteilnehmer Meyer, Baumann und Hagebucher von Arabern, die sie gegen Zahlung eines Löse­geldes relativ bald wieder freilassen, was bei Meyer ebenfalls nachzulesen ist. Doch der Name Leonhard Hagebucher taucht in Abu Telfan, wie es bei Hamann ganz korrekt heißt, nur „zuerst“ auf. Nicht als Figur, aber als Name ist Leonhard Hage­bucher Unruhige Gäste in der Gartenlaube. Zum Parasitären von Wilhelm Raabes ‚Roman aus der Gesellschaft‘, in  : „Die besten Bissen vom Kuchen“. Wilhelm Raabes Erzählwerk  : Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, hg. von Søren R. Fauth, Rolf Parr und Eberhard Rohse, Göttingen 2009, S. 297–316. 16 Hoppe  : Verbrecher, S. 136. 17 Ebd., S. 147. 18 Ebd., S. 153f. 19 Wilhelm Raabe  : Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge, in  : ders.: Werke in vier Bänden, hg. von Karl Hoppe nach der von ihm besorgten historisch-kritischen Gesamtausgabe, München 1963, Bd. II, S. 7–378, hier 378.

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wieder präsent in Raabes Roman Stopfkuchen (1891), der häufig als das bedeutendste Werk dieses Autors betrachtet wird. Dort heißt so das Schiff, mit dem der Ich-Erzähler Eduard von einem Besuch in Deutschland zurück in seine Wahlheimat Südafrika fährt. Auf diesem Schiff schreibt er das auf, was er bei seinem Besuch erlebt hat. ‚Leonhard Hagebucher‘ also als Schreibort für eine Geschichte, in der es vor allem auch um die Motivationen geht, die Eduard zu seiner Auswanderung nach Südafrika geführt haben. Für den Ich-Erzähler Fritz Binder ist sein Urgroßvater Leonhard Hagebucher, der von sich selbst behauptet hatte, bei der Erstbesteigung des Kilimandscharo dabei gewesen zu sein, einer der Gründe, ins südliche Afrika zu reisen und am Lauf auf diesen Berg teilzunehmen. Das sollte Grund genug sein, nach weiteren intertextuellen Verbindungen zwischen Stopfkuchen und Usambara Ausschau zu halten. Nach dem Tod seiner Mutter entdeckt Fritz Binder als ihre einzige Hinterlassenschaft eine Pappschachtel mit einigen Familienfotos, einem Sparbuch mit 6.500 Euro, zwei für ihn nicht lesbaren Briefen und einem Buch  : Das Buch, 1825 erschienen, besitzt einen langen, in Fraktur gedruckten Titel. Wort für Wort entziffere ich ihn  : Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Jugend von Joachim Heinrich Campe, Neue Ausgabe in dreizehn Theilen, Neunter Theil  : Le Vaillants Reise in das Innere von Afrika, vom Vorgebirge der guten Hoffnung aus in den Jahren 1780–1785 (Beschluss). (55f.)

25 Seiten später hat Binder dieses Buch „mühsam zu Ende gelesen. Auf dem Titelblatt“, so wird nun mitgeteilt, „steht etwas in der Schrift, die ich für Urgroßvaters halte. Von Mutter, könnte es heißen.“ (82) Und seine Freundin Camilla meint dazu  : „Vielleicht hat mit diesem Buch alles angefangen.“ (ebd.) In der Tat angefangen hat mit diesem Buch alles für Raabes Ich-Erzähler Eduard. „Le Vaillants ‚Reisen in das Innere von Afrika‘, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster“20, so wird es hier ebenso umständlich benannt wie bei Hamann. „Aber wenn ich wenigstens bis zu den Kaffern und Buren und zu einem anständigen Vermögen gekommen bin  : wem anders verdanke ich das als dem Landbriefträger Friedrich Störzer und seinem Lieblingsbuch“21, und dann kommt der entsprechende Titel. Binder übernimmt die Vermutung Camillas („Vielleicht hat mit diesem Buch alles angefangen“) und fabuliert sie für sich und seine Zuhörer, denen er die Geschichte seines Urgroßvaters immer wieder erzählt, aus  : seine Mutter hatte „ihm aus einem Reisebericht des Franzosen François Le Vaillants [sic] über Afrika“ vorgelesen, „das war sein Glück“ (167).

20 Wilhelm Raabe  : Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte, Stuttgart 1998, S.16. 21 Ebd.

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Hagebucher lag mit geschlossenen Augen im Bett, die leicht feuchten Hände unter der Decke gefaltet, die Zehen hatten sich mal langsamer, mal schneller bewegt, je nachdem, wie groß die Gefahren waren, in die der Abenteurer François Le Vaillant bei seinem Marsch durch das Land der Hottentotten und Kaffern unweigerlich geraten musste. Jedes Mal, wenn die Mutter am Ende des Buchs und der Held mit einem Wagen voll erlegter Vögel in Kapstadt angelangt war, hatte er vergeblich darum gebettelt, sie solle doch wenigstens den vorherigen Teil aus Campes Sammlung kaufen. Er müsse unbedingt wissen, wie Le Vaillant zu seinen Freunden, den Hottentotten in Kokskraal, gelangt sei, zu Habas, Narina und wie sie alle hießen. In der Volksbibliothek erfuhr Urgroßvater endlich, dass die Reise des Franzosen nicht erst am Vorgebirge der guten Hoffnung seinen [sic] Anfang nahm. Viel früher schon, im holländischen Guyana, wo er aufwuchs, beschäftigten ihn die zahllosen Wunder der gefiederten Natur. Mit einem Blasrohr und einem indischen Bogen zog er gegen die Vögel aus, in Guyana, später in Europa, bis er den Entschluss in die Tat umsetzte, seiner Leidenschaft in Gegenden nachzugehen, die von Europäern noch nicht besucht worden war. (178)

Nebenbei bemerkt zeigt diese Stelle auch, dass Hamann Raabes Hinweis zu einer eigenen (Re-)Lektüre von Le Vaillants Buch benutzt hat, denn der hier referierte Inhalt des Buches wird in Stopfkuchen nicht berichtet. Dort ist lediglich von einer „Geschichte von wilden Eseln, Giraffen, Elefanten, Nashörnern, sauberen Namaquamädchen und aus der Historie vom Bravsten der Braven aller Hottentotten Swanepoel“22 zu lesen. Bei Raabe sind die Reisen in das Innere von Afrika aber nicht irgendein neutrales Abenteuerbuch. Die Raabe-Forschung hat darin vielmehr eine „Chiffre“ für eine „antikoloniale Perspektive“23 des Romans gesehen. Der Landbriefträger Störzer nämlich, der Eduard immer wieder von diesem Buch und dem darin vermittelten Afrikabild vorschwärmt, ist deshalb so fasziniert davon , weil er sich damit von einem eigenen Verbrechen ablenken will  : er hat (wenn auch eher versehentlich) einen Menschen erschlagen und lässt dann über Jahrzehnte hinweg zu, dass ein anderer für diese Tat angeklagt, zwar freigesprochen, aber sozial geächtet wird.24 Dieses Faktum wird Eduard im Lauf seines Heimatbesuchs schrittweise enthüllt und dabei gerät sein Bild über sich selbst und auch über seinen Weg nach Afrika immer mehr ins Wanken. Störzer, „der mich im Grunde doch ganz allein auf die See und in die Wüste durch seinen Le Vaillant gebracht hatte, dem ich mein ‚Rittergut‘ am Kap der Guten Hoffnung einzig und allein durch seine Unterhaltungen auf seinen Weltwanderun22 Ebd., S. 111. 23 Philip J. Brewster  : Onkel Ketschwayo in Neuteutoburg. Zeitgeschichtliche Anspielungen in Raabes ‚Stopfkuchen‘, in  : Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 1983, S. 96–118, hier 102. 24 Es ist in der Raabe-Forschung nicht unumstritten, ob die Geschichte über den Mord, die Schaumann erzählt, der Wahrheit entspricht oder ob sich dieser damit nicht nur in eine Position erzählerischer Macht bringt. Für den hier untersuchten Zusammenhang ist entscheidend, dass Eduard, der die Geschichte niederschreibt, sie für wahr hält.

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gen, auf seinen Landstraßen und Feldwegen zu danken hatte“25, hatte zutiefst unmoralisch gehandelt, und hinter Eduards Ansiedelung in Südafrika steht ein Verbrechen. Schon seine Kindheit mit seiner Faszination für Störzer und dessen Geschichten also ist verseucht  : Wie kommen Menschen dahin, wo sie sich, sich besinnend, zu eigener Verwunderung dann und wann finden  ? Ich an dieser Stelle kann nur so viel sagen, daß ich glaube, den Landbriefträger Störzer als dafür verantwortlich halten zu dürfen. Meinen alten Freund Störzer. Meinen alten guten Freund von der Landstraße der Kinderzeit in der nächsten Umgebung meiner Heimatstadt in Arkadien also – von allen Landstraßen und Seewegen der weitesten Welt.26

Schuld und Schweigen über diese Schuld stehen mithin in untrennbarer Verbindung mit Eduards Engagement für den Kolonialismus.27 Es stellt sich nun die Frage, ob durch die intertextuelle Konstruktion auch dieser Komplex und mit ihm auch – aber vielleicht nicht nur – die antikoloniale Perspektive in Hamanns Roman übergeht. Zunächst aber noch kurz zu einer anderen intertextuellen Verbindung zu Raabe, die die koloniale Thematik als gemeinsames Drittes bestätigt. Hagebuchers Vater, der mit den Plänen seines Sohnes ganz und gar nicht einverstanden ist, frequentiert regelmäßig ein Gasthaus mit dem Namen „Zum Wilden Mann“. Dass es eine Erzählung Raabes mit diesem Titel gibt, wäre noch nicht weiter erwähnenswert, denn beim Autor des 19. Jahrhunderts bezeichnet dieser Name nicht eine Gaststätte, sondern eine Apotheke. Wenn nicht die eigentliche Hauptfigur Raabes, ein früherer Bekannter des Apothekers, der seinem Henker-Beruf nach Südamerika entlaufen ist und nun zurückkehrt, um Geld, das er diesem zur Gründung der Apotheke geliehen hatte, zurückzufordern, den beziehungsreichen Namen August Mördling hätte. Bei Hamann heißt der Großvater Fritz Binders August Ködling und ist die nach außen hin eigentliche Negativ-Figur des Romans. Er trägt schon 1932 Nazi-Uniform  : „In ihr schlenderte er Tag und Nacht durch Erfurt, in ihr verwünschte er die Judensäue“ (213). Hagebucher, so kolportiert es die unklare Familienüberlieferung, soll ihn während einer gemeinsamen Bergtour mit einem Tritt ins Jenseits befördert haben. Raabes August Mördling alias Agostin Agonista, wie er sich in Südamerika genannt hat, entspricht „ganz verblüffend dem Sozialcharakter des Kolonialherren“28 und geht bei seiner Ausbeutung der Welt buchstäblich über Leichen. Dieser intertextuelle Hintergrund der Ködling-Figur ist, auch nach dem Muster des häufig verdeckten Bedeutungsaufbaus in 25 Raabe  : Stopfkuchen, S. 190. 26 Ebd., S. 3. 27 Vgl. dazu ausführlich Dunker  : Kontrapunktische Lektüren, S. 129–149. 28 Michael Schmidt  : Nichts als Vettern  ? Anspielungsstrukturen in Wihelm Raabes Erzählung ‚Zum wilden Mann‘, in  : Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1992, S. 109–138, hier 124.

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Raabes späteren Texten29, als impliziter Kommentar zur vieldiskutierten Frage zu lesen, die Hamann in einem Interview Uwe Timm gestellt hat, nämlich ob es eine Verbindung gibt „zwischen deutscher Kolonialherrschaft und Shoah“.30 Was Timm in diesem Gespräch übrigens eindeutig bejaht, auch wenn es in seinem Roman Morenga, um den es im Interview geht, keineswegs so deutlich ausgesprochen wird. Wichtig in unserem Zusammenhang aber ist auch die Wirkung, die Mördling in Deutschland entfaltet. Ein „Landphysikus“ hält ihm vor  : Du hast, sozusagen, der ganzen Gegend die Phantasie verdorben. Ich kenne auf drei Meilen in der Runde niemanden, der noch ruhig auf seinem Stuhle sitzen kann. Da ist nicht einer, der nicht hin und her rückt und überlegt und berechnet, was alles er bis Dato im Leben versäumt hat.31

Ist die Unruhe Leonhard Hagebuchers wie die Fritz Binders, die beide nach Afrika treibt, wirklich so neutral und unschuldig und richtet sich nur auf eine Blume, das Usambaraveilchen, beziehungsweise auf das Interesse an der Figur des Urgroßvaters oder spielen nicht noch ganz andere Zusammenhänge der Phantasie eine Rolle, die man mit Susanne Zantop auf den Begriff der ‚Kolonialphantasie‘ bringen kann  ?32 Er wusste nicht, woher die vom ersten Moment an unerschütterliche Überzeugung kam, dass die Pflanze, die dort wuchs, noch unentdeckt war, dass sie noch kein europäisches Auge gesehen, dass sie auf ihn, Leonhard Hagebucher, gewartet hatte. (26)

Die Pflanze, ihre Aneignung und Benennung, entspricht durchaus dem, was Hans Meyer mit dem Kilimandscharo vornimmt, nur ist es nicht so spektakulär. „Was wollen eigentlich die Deutschen in Ostafrika  ? Warum bleiben sie nicht daheim  ?“ (76), fragt der arabische Sklavenhändler und Kidnapper Buschiri Hans Meyer. „Was treibt Sie an  ?“ (134), wird Binder während seines Trainings für den Berglauf gefragt, worauf er die Antwort schuldig bleibt. „Später, sage ich.“ (ebd.) „Mein Kilimandscharo. Mein Kampf“ (213), geht es Binder während des Berglaufs durch den Kopf, was eine deutliche Verbindung herstellt zwischen dem Treiben der Europäer an diesem Berg, dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus.

29 In Stopfkuchen heißt es einmal  : „du brauchst jetzt nicht mehr mit Literaturpersonen und -geschichten zu kommen, um zu sagen, was du zu sagen hast“ (Raabe  : Stopfkuchen, S. 134). 30 Christof Hamann /Uwe Timm  : „Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt“. Ein Gespräch, in  : Sprache im technischen Zeitalter 41, 2003, S. 450–462, hier 459. 31 Wilhelm Raabe  : Zum wilden Mann. Eine Erzählung, hg. von Axel Dunker, Stuttgart 2006, S. 96. 32 Susanne Zantop  : Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999.

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Unverkennbar ist ein latenter Rassismus in den Praktiken rund um den Kilimandscharo Benefit Run, der allerdings vom Ich-Erzähler Fritz Binder nie als solcher konstatiert wird. Es herrscht Rassentrennung bei den sanitären Anlagen („die Schwarzen kacken woanders“, 12), die Schwarzen stellen die Träger und Köche (nicht anders als bei den historischen Expeditionen), bei den Läufern gibt es unter den Deutschen, Österreichern, Schweizern, Schweden, Amerikanern, Japanern und Australiern lediglich einige „Quotenneger“ (158), bei der Begrüßung der Laufteilnehmer durch die Organisatoren werden diese durch einen schirmtragenden Schwarzen vor dem Nieselregen geschützt (vgl. 175) und nach Abschluss des Laufs sind viele Schwarze damit beschäftigt, „den Abfall einzusammeln“ (251). Unter den Teilnehmern erwähnt wird ein Kenianer, einer „der Alibischwarzen“ (236), der den dritten Platz belegt, es wird aber nie thematisiert, dass die schwarzen Sanitäter, die jeden Läufer zu begleiten haben, scheinbar die ganze Zeit neben ihnen her laufen, also genauso schnell sein müssen. „Werner, der eine Minute nach mir gestartet ist, und sein Sanitäter holen Ladislaus [das ist Fritz Binders Sanitäter], Mutter, Urgroßvater, den Kopfschmerz und mich nach einer guten Stunde ein.“ (192) Der schwarze Sanitäter erscheint wie eines der Phantome, mit denen Binder auf der Strecke unterwegs ist. Stellen die ersten Punkte noch den Benefit Run in die Nähe einer Praktik, die von kolonialen Hierarchieverhältnissen nicht weit entfernt ist, so betrifft der letzte in ganz anderer Hinsicht den Roman selbst. Entgeht hier der Erzähler-Figur Fritz Binder das Faktum, dass einheimische Schwarze offenbar als Läufer gar nicht in Betracht kommen bzw. akzeptiert er es stillschweigend als selbstverständlich  ? Das machte ihn zu einer Art ‚unzuverlässigem Erzähler‘, dessen Wahrnehmungen und Behauptungen dadurch insgesamt in ein seltsames Licht gerieten und viel kritischer zu betrachten wären als man sonst vielleicht annehmen würde. Erzähltheoretisch hat man das unzuverlässige Erzählen als ‚ironische Kommunikation‘ bezeichnet. „Die besonderen Möglichkeiten fiktionaler Texte werden jedoch erst dann genutzt, wenn die doppelte Botschaft der Ironie auf zwei verschiedene Sender verteilt ist. In diesem Fall kommuniziert der unzuverlässige Erzähler eine explizite Botschaft, während der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt.“ 33 Die Selbstgewissheit Fritz Binders, ein politisch korrekt denkender Zeitgenosse zu sein, würde in dieser Lesart durch den Autor implizit in Zweifel gezogen, was weitreichende Folgen für die Deutung des Romans haben könnte. Das korrespondiert – Möglichkeit zwei – mit der Anlage eines Subtextes innerhalb des Romanganzen, versteht man darunter „eine verdeckte, nicht-augenfällige Schicht literarischer Werke […], welche die explizite thematisch-moralische Tendenz eines Werks bereichert, nuanciert oder gegebenenfalls auch in Frage stellt.“34 Die Anlage eines Subtextes 33 Matías Martínez /Michael Scheffel  : Einführung in die Erzähltheorie, 4. Auflage München 2003, S. 100. 34 Horst Breuer  : Haupttext und Subtext in Shakespeares ‘The Merchant of Venice’, in  : Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 53, 2005, S. 1–19, hier 1.

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kann entweder als bewusstes Verfahren durch den Autor erfolgen oder auch sich hinter seinem Rücken gewissermaßen in den Text einschleichen oder einschreiben. Literaturtheoretisch ist das in den letzten Jahren im Gefolge des Poststrukturalismus meist darauf bezogen worden, „daß das Subjekt entgegen der intuitiven Selbstevidenz des unmittelbaren Anscheins nicht Herr im eigenen Hause ist“35, dass sich ein Subtext also jenseits von Intuition und Kontrolle des Autors in den literarischen Text einschreibt. Der Oberflächentext betrifft dann „die objektivierbare Werkschicht von manifester Autorintention, Zeithintergrund, biographischer Prägung, von expliziter Didaktik und Programmatik“, der Subtext hingegen „jene weniger klar thematisierten subtilen, impliziten Werkaspekte, die auf den Betrachter unterschwellig einwirken, den Haupttext dezentrieren und welche in immer neuer historischer Betrachtung je anders hervortreten.“36 Mit welcher Variante wir es in Usambara zu tun haben, sei hier nicht entschieden. Bei der Relektüre literarischer Texte, bei der wir es im Sinne Genettes immer auch mit Transformationen eines Prätextes37 zu tun haben, ist das auf jeden Fall stärker auf die Autorinstanz zu beziehen als in anderen Fällen von Subtextbildung. Allerdings gilt wie für alle Fälle von ‚starker‘ Intertextualität, dass die Bedeutungskonstitution wegen der Vieldeutigkeit des Prätextes sehr komplex ist und sich nicht still stellen lässt. Die Metapher des Palimpsests, die Genette für alle Arten von Intertextualität – oder wie er es nennt, von Transtextualität – heranzieht, scheint mir im Falle der Relektüre wesentlich präziser in der Beschreibung des Phänomens zu sein  : ein Prätext wird überschrieben, aber unter dem Hypertext bleibt der Prä- oder Hypotext sichtbar und beide Schriften treten in ein komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel ein. Die auf Freud zurückgehenden Begriffe ‚manifest‘ und ‚latent‘, die Meinhard Winkgens auf die Subtextualität bezogen hat – Es geht folglich darum, aus dem, was der Roman erzählt und in seinem manifesten Gehalt affirmiert, das ‚Verborgene‘ und das ‚Unbewußte‘ seines latenten Sinns zu rekonstruieren, über den er ‚uneigentlich‘ auch spricht, indem er nämlich in einer eigentümlichen Dialektik von Zeigen und Verschweigen das latent Angedeutete zugleich in der Botschaft des manifesten Gehalts verdeckt38

– hat Renate Lachmann zur Kennzeichnung intertextueller Verfahren verwendet  : 35 Meinhard Winkgens  : Natur als Palimpsest. Der eingeschriebene Subtext in Charles Dickens’ ‘David Copperfield’, in  : Das Natur/Kultur-Paradigma in der englischsprachigen Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift zum 60. Geburtstag von Paul Goetsch, hg. von Konrad Groß, Kurt Müller und Meinhard Winkgens, Tübingen 1994, S. 35–61, hier 40. 36 Breuer  : Haupttext, S. 4. 37 Gérard Genette  : Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1993. 38 Winkgens  : Natur, S. 38.

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Der Dialog mit der Kultur, das Einspielen von Texten der Vergangenheit in einen ‚neuen‘ textuellen Zusammenhang vollzieht sich mit Hilfe von Verfahren des Verbergens, des Aufbaus von Strukturen, die manifest und latent zugleich sind, durch die Kreuzung zweier Kodes, also durch Doppelkodierung. 39

Doppelkodierung bedeutet dabei, „daß die Sinnherstellung nicht durch den Zeichenvorrat des gegebenen Textes programmiert ist, sondern auf den eines anderen verweist.“40 Blickt man nun noch einmal auf die intertextuellen Beziehungen zwischen Usambara und Stopfkuchen, so ergeben sich noch einige Weiterungen. Die Chiffre ‚Le Vaillant‘, die Hamann in seinen Roman einträgt, bleibt vielleicht der deutlichste, aber nicht der einzige Verweis auf die Bedeutungsstruktur von Raabes Roman. Vielmehr ergeben sich von dort aus Zusammenhänge, die die Erzählerfigur Fritz Binder direkt betreffen. Seine erzähltheoretische ‚Unzuverlässigkeit‘ verbindet ihn mit dem Ich-Erzähler von Stopfkuchen, von dem Hamann in einem Aufsatz festgestellt hat, zu seinen Qualitäten gehöre eine „zum Teil ‚hinterhältige‘ Unzuverlässigkeit“, es sei aber auch ein Text mit einem „Erzähler, an dem das Erzählen deutliche Spuren hinterlässt“.41 Wir haben bereits festgestellt, dass bei Raabe die Figur, die über das Buch von Le Vaillant den Erzähler Eduard nach Südafrika bringt, Landbriefträger ist. Dabei hat er, wie vorgerechnet wird, in seinen 31 Berufsjahren eine Strecke zurückgelegt, mit der er fünfmal hätte die Erde umrunden können. „Siebenundzwanzigtausend und zweiundachtzig Meilen in vierundfünfzigtausendeinhundertvierundsechzig Berufs-Gehstunden  !“42 Fritz Binder aber ist ebenfalls Briefträger von Profession, „Zwölf Kilometer absolviere ich so an jedem Arbeitstag, das ergibt im Monat, im Jahr.“ (19) Störzer verlässt seine Heimat nie, er macht sich in ihr schuldig, durch Totschlag, durch Verschweigen. Er schickt über Le Vaillant Eduard auf die Reise nach Südafrika. Dieser erkennt, dass hinter seiner Auswanderung, hinter seiner Beteiligung am Kolonialismus Unheil steht, moralische Schuld, die er sich aber nicht eingesteht. „Hätte ich Kienbaum totgeschlagen“, so schreibt er, „und wären mir die Häscher auf den Fersen gewesen, ich hätte nicht behutsamer verduften können“.43 Wenn mit dem Buch von Le Vaillant in Binders Familie „alles angefangen“ (82) hat mit dem Resultat, dass man schließlich meint, „Das ist doch Dein Berg  !“44 (53), so ist zu fragen, wie es mit dem Komplex von Kolonialismus und vor allem moralischer Schuld steht. Woran sollte Fritz Binder schuldig sein  ? Am inzwischen historisch gewordenen Phänomen des Kolonialismus sicher nicht, auch wenn er – wie gesehen – nicht unbedingt sen39 Renate Lachmann  : Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/M. 1990, S. 11. 40 Ebd., S. 58. 41 Hamann  : „Wirklich Wetter reden“, S. 88. 42 Raabe  : Stopfkuchen, S. 10. 43 Ebd., S. 195. 44 Vgl. ebd., S. 14  : „Das ist doch unser Buch  !“

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sibel auf neokoloniale Praktiken reagiert. Vordergründig bleibende ‘Political correctness’ einzuklagen, scheint auch kaum Anliegen des Buches zu sein. Leonhard Hagebucher, die Ikone der Familie Binder, ist ein „Mitläufer“ (135), im wörtlichen wie im übertragenen Sinne dieses Wortes. Er läuft mit auf die Expedition nach Ostafrika, angeblich nur in ganz außerpolitischem Interesse, nur „auf Bewegung aus und auf seine Blume“ (85). Seine angebliche Tötung des Nazi-Schwiegersohns ist Teil der Familienlegende, Belege dafür gibt es keine, die Untersuchungen der Polizei verliefen „im Sande“ (126). Auf einem erhaltenen Foto aus dem Jahre 1932 ist nur zu sehen, wie Hagebucher und Kördling „ganz nah beieinander“ (148) stehen und zweifelsfrei ist nur, dass beide zusammen „allein durch den Thüringer Wald“ (213) gewandert sind. Fritz Binder will dieser Sache gerade nicht auf den Grund gehen, er will nicht wissen. Am Ende des Buches zerstört er die beiden für ihn unlesbaren Briefe Hagebuchers, nachdem ihm jemand zwei einander ganz konträre Inhaltsangaben davon gegeben hat. Dadurch bleibt die Gegenwart auf unklare Weise mit der Vergangenheit verbunden, sie ist infiziert von ihr. Wenn Binder während des Laufs auf den Kilimandscharo von der Höhenkrankheit befallen wird und sich, erzählerischer Höhepunkt des Buches, erbricht – eine richtige Fontäne, vergleichbar der bei einem Vulkanausbruch, sei es gewesen, die sich aus meinem Mund auf die Umstehenden ergossen habe. Sicherlich zwei Meter hoch […]. Und gespritzt hätte ich bis zur Tribüne, die Sieger, die Dolmetscher und der Moderator […] hätten auch […] etwas vom Erbrochenen abbekommen (244)

–, so ist das keine Katharsis. Man kann an den deutschen Titel des ersten Teils von Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus denken  : „Mein Vater kotzt Geschichte aus“.45 Auf diese Weise wird man die Vergangenheit aber nicht los.46 Für den historischen Zusammenhang des Romans heißt das, dass eine Auseinandersetzung darüber, was der deutsche Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus und beide mit der Gegenwart zu tun haben, nach wie vor nicht stattfindet. Damit geht alles so weiter wie immer, was nach Walter Benjamin bekanntlich die Katastrophe ist  : auch den Kilimandscharo Benefit Run wird es wieder geben, „Schmolke & Co. wollen die Regeln und Kontrollen verfeinern, damit noch mehr ins Ziel gelangen als dieses Mal. Und noch mehr Schwarze anheuern.“ (257) Im Buch ist es lediglich Camilla47, die Freundin Binders, die immer wieder auf diese Zu45 Art Spiegelman  : Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. I  : Mein Vater kotzt Geschichte aus. Deutsch von Christine Brinck und Josef Joffe, Reinbek 1989. 46 Vgl. den Erklärungsversuch von Ute Gerhard  : „Das Erbrechen des Ich-Erzählers gegen Ende scheint auch die Traditionslinien und damit das sinnvolle Ganze eigener Geschichte zu zerbrechen.“ Ute Gerhard  : ‚Blaue Blume‘ und ‚Spießerpflanze‘. Spuren des deutschen Kolonialismus in Christof Hamanns Roman ‚Usambara‘, in  : Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Ent­ deckungsreisen, hg. von Christof Hamann /Alexander Honold, Göttingen 2009, S. 323–329, hier 327. 47 Stephanie Catani sieht Camilla als „Korrektivfigur“, deren Aufgabe „darin besteht, die Aussagen der er-

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sammenhänge zu sprechen kommt  : „bei dem, was ich erzähle, [handle] es sich um krasse Schönfärberei, die Weißen hätten die Schwarzen abgeschlachtet, das müsse doch wenigstens mal erwähnt werden“ (100). Dem unzuverlässigen Erzähler Fritz Binder kommt das in die Nähe seines Bewusstseins, aber nicht mehr  : Die Erinnerungen sind von der Urgroßvaterstimme in die Mutterstimme und von da in meinen Kopf hinein gewandert. Gespeichert, jederzeit abrufbar. In diesen Stimmen stecken noch ganz andere, von weit her aufgelesene, dann einverleibte. Mordserien. Wortketten. Lebensmärchen. (198f.)

Es ist der Raabe-Subtext, der – intertextuell – ein latentes Unbehagen gegenüber der Beeinflussung der Gegenwart durch die Vergangenheit in den Roman einführt. So wie ‚Le Vaillant‘ bei Raabe eine Chiffre darstellt für den moralischen Schuldzusammenhang, so werden bei Hamann die Raabe-Bezüge zu einer Chiffre für ein bestimmtes Verhältnis von Gegenwart und nicht aufgearbeiteter Vergangenheit. In Hamanns Roman ist das der nach wie vor unaufgearbeitete und damit unaufgelöste Komplex von Kolonialismus – Nationalsozialismus – Gegenwart. Die Gegenwart ist Produkt der Vergangenheit, nicht aufgearbeitete Denk- und Wahrnehmungsstrukturen der Vergangenheit strukturieren noch das Verhalten in der Gegenwart. Hamann selbst hat es so bezeichnet  : „Gerade dass in meinem Roman von der Vergangenheit in einer bestimmten Weise erzählt wird, schafft eine Wirklichkeit, der sich die Figuren nicht entziehen können und die sie erst zu Subjekten macht.“48 Dem entspricht ein literarisches Verfahren, das sich der Intertextualität zum Bedeutungsaufbau bedient  : die Strukturen des oder der Prätexte sind Teil der Struktur des aktuellen, des manifesten Textes, der gar nicht denk- und beschreibbar ist ohne die Prätexte der Vergangenheit. Insofern entsprechen auch Relektüre und Rewriting als Verfahren exakt dem, was in Usambara verhandelt wird. Fritz Binder wiederholt unter zeitgemäßen Bedingungen, den Bedingungen unserer Gegenwart, was sein Urgroßvater knapp 120 Jahre vor ihm gemacht hat (oder gemacht haben soll). Auf den zunehmend delirisch werdenden letzten Seiten des Romans, die von Binders zunehmender Höhenkrankheit geprägt sind, verschmelzen Binder und Hagebucher miteinander, die Abschnitte über Binders Teilnahme am Lauf und über Hagebuchers Besteigung des Kilimandscharo passen syntaktisch ineinander, schließlich wechselt zählenden Figur in ihrer Unzuverlässigkeit sichtbar zu machen und sukzessive zu demontieren“. Stephanie Catani  : Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur, in  : Hamann/Honold (Hg.)  : Ins Fremde schreiben, S. 143–168, hier 163. 48 Hamann  : Ruinieren, S. 322.

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der Hagebucher-Bericht von der dritten in die erste Person (vgl. 254), im Raum (Kilimandscharo) verschmelzen die Zeiten miteinander. Das Raum-Zeit-Kontinuum, das die Literatur herstellen kann – „Aber in meinem Kopf gehen die Jahre unaufhörlich durcheinander […] Früher, das ist ein Ort, an dem Du jünger warst als ich. Früher, das ist eine Stadt, durchschnitten von einem Tal. Früher, das ist jetzt“ (10f. /154f.) – ermöglicht es für den Leser, in diesen Zusammenhang einzutreten. Hier gilt, was Uwe Timm – dessen Bedeutung für die Anlage von Usambara man einmal gesondert nachgehen müsste – für seine Recherchen zu seinem Roman Morenga gesagt hat  : „Eine Reise in die deutsche Geschichte, also in eine zeitliche und räumliche Ferne, die zugleich eine Selbsterkundung ist“, nachdem er festgestellt hatte, „wie sehr in meinem Bewußtsein noch Relikte aus der deutschen Kolonialgeschichte eingelagert waren.“49 Um diese Zusammenhänge aufzudecken, ist eine Lektüre gegen den Strich der Erzähler-Stimme Binders erforderlich, die dessen Vermeidungen, die von der individuell-psychischen auf die kollektiv-historische Ebene zu übertragen sind, erkennt. Dazu gehört auch, zu sehen, dass der Roman Gayatri Spivaks berühmte Frage “Can the Subaltern Speak  ?”50 nur für den gesellschaftlich subalternen Europäer (Hagebucher) positiv beantwortet, nicht für die Afrikaner. Mit Uwe Timm ist das imaginativ auch nicht möglich, erforderlich ist eine andere Praxis des verweisenden Sprechens, auf die die Literatur hindeuten kann. Ein aktiver Bewusstseinsprozess des Lesers, der selbst den Komplex Kolonialismus – Nationalsozialismus – Gegenwart zu überdenken hat, kann von der Literatur nicht stellvertretend ersetzt, sondern nur reflexiv angestoßen werden.

49 Uwe Timm  : Das Nahe, das Ferne. Schreiben über fremde Welten, in  : Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1997, S. 34–48, hier 35. 50 Gayatri Chakravorty Spivak  : Can the Subaltern Speak  ? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien 2008.

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Geschichte im Wald, Geschichte im Fluss  : Urs Widmers Im Kongo als AntiEntdeckungsroman

Im Jahre 1992 veröffentlichte Haffmanns eine neue Übersetzung von Joseph Conrads Heart of Darkness. Sie stammt von dem bekannten Schweizer Autor Urs Widmer, der auch ein 25-seitiges Nachwort verfasste.1 Widmer war zu diesem Zeitpunkt schon ein etablierter Autor, Verfasser von mehr als 30 Büchern und Empfänger von mehreren Literaturpreisen. Vier Jahre danach erschien sein neuer Roman mit dem Titel Im Kongo.2 Er experimentiert mit der Möglichkeit, den Stoff von Conrads Roman in der heutigen Schweiz neu zu erzählen. In Widmers Roman geht es um die allmähliche Erkenntnis des Protagonisten Kuno, der unter der Oberfläche von Ruhe und Geborgenheit im Schweizer Alltag einen verborgenen Kampf ums Überleben entdeckt. Dieser Kampf verwickelt ihn in ein Netz von Intrigen, durch die die störenden Kräfte der Weltpolitik in die neutrale Schweiz eindringen und durch die sein langweiliges Leben mit der Geschichte von Nazi-Deutschland, der Kolonisierung Afrikas und der globalen Migration von Flüchtlingen konfrontiert und am Ende völlig auf den Kopf gestellt wird. Kuno Löscher ist ein ehemaliger Pfleger in einem Züricher Altersheim, der seit einem Jahr als Aufseher einer Bierbrauerei in Kisangani im Kongo arbeitet. Sein Weg von Zürich nach Kisangani verdankt sich Anselm Schmirrhahn, der im Nachbarsgut neben dem Haus von Kunos Vater in Witikon wohnte. Schmirrhahns Großvater hatte mit einer Konzession von König Leopold II. im Kongo eine Zweigstelle seiner Brauerei gegründet, die aufgrund des Alkoholdursts seiner schwarzen Kundschaft großen Erfolg genoss. Sein Enkel, der in den 30er und 40er Jahren mit den Nazis sympathisierte, führte die Brauerei weiter. Nach dem Krieg schickte Schmirrhahn zunächst Kunos engsten Freund Willy in den Kongo, vermutlich in den sicheren Tod, um die dortige Zweigstelle zu leiten. Willy reiste mit Kunos Jugendliebe Sophie nach Kinshasa, von wo er die Gewinne Jahrzehnte lang regelmäßig nach Hause zu Schmirrhahn schickte. Als die Zahlungen eines Tages ausbleiben, gibt Schmirrhahn Kuno den Auftrag, in Afrika nach seinem früheren Freund zu suchen. So reist Kuno den langen Weg in den Kongo, wo er in Marlowes Fußstapfen den KongoFluss aufwärts fährt, ins Herz der Finsternis. 1 Joseph Conrad  : Herz der Finsternis, Zürich 1996 (im Folgenden mit der Sigle HdF und Seitenangaben im direkten Anschluss an das jeweilige Zitat angegeben). 2 Urs Widmer  : Im Kongo, Zürich 1996 (im Folgenden mit der Sigle IK und Seitenangaben im direkten Anschluss an das jeweilige Zitat angegeben).

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Zuvor aber erfährt Kuno durch einen seltsamen Zufall, was es mit Schmirrhahn, mit dem Tod seiner Mutter und mit dem scheinbar langweiligen Leben seines Vaters auf sich hat. Eines Tages nämlich wird sein Vater ins Altersheim eingeliefert, wo er den dort lebenden Herrn Berger als einen alten Mitarbeiter im Schweizer Nachrichtendienst „Wiking“ wiedererkennt. Berger und er hatten Geschäftsbeziehungen zu den Nazis aufgenommen, um deren Geheimnisse zu entdecken und an die Alliierten zu übermitteln. Berger und Kuno Senior erzählen nun von ihrem Leben als Spione und von der Affäre Willys mit Schmirrhahns Frau Aline, die durch seine Verbannung in den Kongo gerächt werden sollte. Auch erfährt Kuno die wirkliche Todesursache seiner Mutter, die eines Tages zusammen mit dem Gärtner, den man für den Vater gehalten hatte, von Schmirrhahns Haus aus von SS Männern erschossen worden war. Kuno reist nun wunschgemäß in den Kongo, wo er Willy und Sophie bei der Brauerei glücklich tätig vorfindet. Allerdings sind beide schwarz geworden, und auch Kuno wird bei seinem Aufenthalt im Kongo schwarz. Als er zurück in die Schweiz reist, um seinen inzwischen verstorbenen Vater zu beerdigen, heiratet er dort seine ehemalige Mitarbeiterin, die allseits begehrte Schwester Anna, die ihm einmal auf seinen Heiratsantrag geantwortet hatte, da könne er warten, bis er schwarz sei. Mit Anna reist Kuno zurück in den Kongo, wo sie ein glückliches Leben führen. Der Ort, an dem Kuno seine Geschichte aufschreibt, ist nicht Zürich, sondern ein Baumhaus tief im kongonesischen Dschungel, wo er sieben Tage und Nächte hindurch seine im Roman wiedergegebene Lebensgeschichte in den Computer tippt. In seiner Analyse des Romans untersucht Peter Arnds die intertextuellen Bezüge zu Conrad, die Stellung der Schweiz in der globalisierten Welt, aber auch die erzählerischen Verbindungen zwischen der Schweiz, dem Kongo und Nazi-Deutschland. Er liest Im Kongo als Beitrag zum Dekolonialisierungsprozess und zur Verminderung eurozentrischer Weltbilder. Dem Leser werde vor Augen geführt, dass die anhaltende Gewinnsucht in Bezug auf Drittweltländer den Kolonialismus bis zum heutigen Tag fortführe, dass das starke Machtgefälle zwischen Schwarzen und Weißen, das dem Kolonialismus zu Grunde lag, auch in der heutigen Zeit und auch in der Schweiz noch nachzuweisen sei. Die Tatsache, dass der Schluss des Romans das Schwarze dem Weißen vorziehe, zeige, so Arnds, dass diese didaktischen Ziele weitgehend zukunftsgerichtet und als „Hyperkorrektur“ des bestehenden status quo anzusehen seien.3 Auch Dirk Göttsche sieht in Widmers Roman ein Beispiel einer neuen Richtung in der Afrika-Literatur, nämliche eine ironische Vorführung und Dekonstruktion des „Inventar[s] europäischer Afrikabilder.“4 Dadurch trage Widmer zur „postkolonialen Neuvermessung des Kolo3 Peter Arnds  : Into the Heart of Darkness  : Switzerland, Hitler, Mobutu, and Joseph Conrad in Urs Wid­mer’s Novel ‚Im Kongo‘, The German Quarterly 71.4, 1998, S. 329–42, hier 340. 4 Dirk Göttsche  : Der neue historische Afrika-Roman  : Kolonialismus aus postkolonialer Sicht, German Life and Letters 56.3, 2003, S. 261–280, hier 263.

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nialismus und damit zur Neubegründung des Verhältnisses zwischen den Kulturräumen bei.“5 Im Folgenden werde ich argumentieren, dass Widmers Im Kongo nicht nur im Versuch einer pädagogischen Korrektur falscher Lesehaltungen oder im Entwurf eines alternativen Verhältnisses zwischen Kulturräumen die Wirksamkeit postkolonialer Darstellungs­ strategien aufzeigt, sondern europäische Denkmuster weit radikaler in Frage stellt. In Widmers Roman geht es weniger um die Erziehung des Lesers zum rechten Weltbild oder die Vermittlung zwischen den Kulturen. Es geht um die Entlarvung der historischen und geografischen Grundschemata, auf denen das Weltbild des Kolonialismus, aber auch der Globalisierung beruht und durch die diese gerechtfertigt erscheinen. Und es geht um die damit einhergehende narrative Konstruktion des europäischen Subjekts. Widmer braucht Conrad, um zu zeigen, dass das Weltbild des Kolonialismus auf imaginären historischen und geografischen Voraussetzungen beruht und dass diese imaginäre Weltstruktur auch das Wesen der Subjektivität betrifft. In Widmers Welt ist die Beständigkeit des Subjekts nur Schein. Um diesen Schein zu entlarven, übernimmt er Conrads imaginäre Weltstruktur und stellt sie auf die Probe, wobei wie bei Conrad dem Reisen und dem Erzählen besondere Bedeutung zukommt. In Conrads Welt spielt sich der koloniale Überlebenskampf im Wald des kolonialen Afrika und in der vorgeschichtlichen Wildnis Großbritanniens ab, und Conrads Erzähler gibt sich Mühe, zu zeigen, dass der Kampf jeweils der Gleiche ist. In beiden Fällen geht es um die Überwindung der Hobbesschen Natur im Namen der Zivilisation. Wie ein Fluss fließt die Zeit unaufhaltsam aus dem Bereich des barbarischen Chaos in Richtung Zivilisation, aus dem dunklen Wald des Kongo zur Lichtung des Sozialvertrages. Zum Afrika-Verständnis Conrads gehört eine ganz spezifische Zeitdarstellung, ja eine Geschichtsphilosophie, die den ‚dunklen Kontinent‘ auf derselben Zeitskala verzeichnet wie Europa. Sie wird durch die bekannte Äußerung Marlowes eingeführt, dass auch Großbritannien ein Ort der Finsternis gewesen sei  : „Und das hier,“ sagte Marlowe plötzlich, „ist auch einer der finstern Orte der Erde gewesen.“ (HdF 12) Dann erzählt Marlowe eine Fantasie der vorgeschichtlichen Vergangenheit Englands, durch die Augen der römischen Eroberer gesehen. Diese Fantasie ist dem Kolonialdiskurs (auch dem deutschen) bekannt. Durch bestandene Widerstandskämpfe gegen Eroberer verbindet die lange Geschichte der Welt die Erfahrungen der besiegten und dadurch zivilisierten Europäer mit denen der noch nicht besiegten, noch nicht zivilisierten Afrikaner.6 Diese Fantasie spielt sich im Rahmen einer Geschichtskonzeption ab, die der Entdeckung der tiefen vorgeschichtlichen Zeit am Anfang des 19. Jahrhunderts, dem Begriff der historischen Wiederholung in der Rezeption von Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire im 18. Jahrhundert, vor allem aber dem Sozialdarwinismus viel schuldet. Aus dieser langen historischen Sicht verschmilzt die brutale Be5 Göttsche  : Der neue historische Afrika-Roman, S. 261. 6 Vgl. zum Beispiel Gustav Frenssen  : Peter Moors Fahrt nach Südwest-Afrika, Berlin 1906.

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handlung der wilden Afrikaner durch die Engländer (und auch die Belgier) mit der eigenen imaginären Vergangenheit und mit allen dazugehörigen Assoziationen von Eroberung, Widerstand, Unrecht und dem langen Zivilisationsweg moderner Nationen. Conrads ironische Erzählstimme hält die problematische Beziehung dieser Assoziationen stets an der Oberfläche der Erzählung. Somit steht oder fällt die implizite Imperialismuskritik Conrads mit seiner ironischen Hinterfragung der langen historischen Zeit. Und nicht nur die progressive historische Entwicklung moderner Nationen offenbart sich als bloße Erzählstrategie, auch die subjektive Beständigkeit des handelnden Menschen wird in Frage gestellt. Wenn Conrads Erzähler Marlowe seine Zuhörer ermahnt, in einem Sumpf an Land zu gehen, durch die Wälder zu marschieren, um dort „dieses ganze geheimnisvolle Leben der Wildheit“ zu spüren, „die sich in den Wäldern, in den Sumpfdickichten, in den Herzen der Eingeborenen regt“, so spricht er nicht von den Wäldern des Kongo, sondern von England zur Zeit der römischen Invasion (HdF 15). Der Fluss der geschichtlichen Zeit verbindet die Themse mit dem Kongo-Fluss und verräumlicht die Zeit, so dass die Lichtung der Zivilisation, diese lange Erkenntnisleistung der Geschichte, immer noch vom Dunkel des wilden Waldes bedroht wird. Marlowe beschreibt wie, seit die Römer die Zivilisation nach Großbritannien gebracht hätten, die Themse im Licht erstrahle  : „Ja  ; aber das ist wie ein rasendes Feuer in einer Ebene, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben in diesem jähen Licht – möge es leuchten, solange sich die gute alte Erde dreht  ! Aber Finsternis herrschte hier noch gestern“ (HdF 13). In dieser Welt der verräumlichten Zeit dient die Reise Marlowes am Kongo-Fluss als Negierung geschichtlicher Zeit, als Abstieg in die Kindheit der Menschheit. Und der Vorgang des Erzählens bindet das historische Gedächtnis an die noch verbleibenden Zeichen dieser Kindheit. Marlowe braucht die Wildnis Afrikas, um die Brüchigkeit der zivilisierten Verdrängung europäischer Wildnis sichtbar zu machen. Und nachdem die kurze Dauer westlicher Zivilisation sichtbar gemacht worden ist, wird im Akt des Erzählens auf das Grauen gedeutet, das das Fortdauern der Natur im Zivilisierten erregt. Somit wird das Grauen aber im Erzählen überwunden. In den Erzählungen des zivilisierten (und auch des nicht mehr so zivilisierten) Lebens wird die Lichtung der Geschichte offen gehalten. Marlowe kann der Geliebten von Kurtz nicht sagen, dass sein letztes Wort „das Grauen“ war. „Es wäre zu finster gewesen – viel zu finster…“ (HdF 195) Wie Conrad, so zeigt auch Widmer eine Reise ins dunkelste Afrika, die eine Reise in die eigene barbarische Vergangenheit ist, und auch er zeigt, wie die scheinbare Identität der handelnden Figuren als Erzählstrategie mit den Erzählstrategien der imaginären Geschichte und Geografie des Westens verbunden ist. Wie Conrad zeigt Widmer das Leben am Fluss als Leben am Rande der Geschichte und das Leben im Wald als Leben im finsteren Herz der brutalen Natur. Bei Widmer ist das Bild des Flusses aber vielschichtiger als bei Conrad. Am Anfang des Romans ist der Rhein die geografische Grenze zwischen dem barbarischen Nachbarstaat und der Schweiz, aber diese Grenze lässt sich ohne weiteres überqueren.

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Im Sommer war der Rhein ein grüner Strom, im Winter war er schwarz, im Frühling braun und voller Eisschollen. Drüben war Deutschland. Denen die – damals, meine ich – bei Neumond in schmalen Kähnen bei uns landeten oder im Mondlicht über das Eis sprangen, sah man nicht an, ob sie zum Morden kamen, oder ob sie vor dem Getötetwerden flohen. (IK 9)

Die Verbindung mit der eigenen barbarischen Natur wird nicht durch eine Reise in die Vergangenheit hergestellt, sondern durch das Übertreten einer politischen Grenze. Der Fluss teilt und verbindet verschiedene politische Systeme, die ihre eigene Beziehung zur zerstörenden Kraft der Natur, ihre verschiedenen Erzählungen von der eigenen Geschichte haben. Somit steht Kunos Reise auf dem Kongo in Kontrast zum Reisen als Flucht vor der Barbarei der Nazis und als Überquerung nationaler Grenzen zur Ausübung von politischen Attentaten. Die Reise Kunos kann also nur schwer diejenige von Marlowe wiederholen, denn jener hat schon in der Entdeckung der eigenen Lebensgeschichte die barbarische Natur der Menschheit gesehen. Stattdessen entdeckt Kuno bei der Afrika-Reise die Erzählung von einer Erzählung. Wo Conrad seinen Protagonisten auf dem Kongo ins barbarische Herz der Menschheit reisen lässt, wird Kunos Reise auf dem gleichen Fluss zu einer narrativen Wiederholung Conrads. In diesem Teil von Widmers Roman wird die Frage der Neubeschreibung der literarischen Entdeckungsreise aufgeworfen, eine Frage, die, so Christophe Bourquin, auch hindeutet auf „die Relevanz einer hermeneutischen Fragestellung  : Übersetzung-Nachwort-Roman“.7 Damit wird vermutlich auch die Absicht Widmers getroffen. Widmer wollte nicht nur Conrad kommentieren, er wollte ihn aus der Perspektive der heutigen Schweiz neu schreiben. Wer in Im Kongo eine Neufassung von Conrads Roman erwartet, wird in Widmers Buch sowohl Bestätigung als auch Enttäuschung finden.8 Von Ingmar Weber und Jürgen Sander nach dem eigentlichem Thema seines Romans gefragt, sagt Widmer  : Das ist nicht ganz einfach. Ursprünglich sollte das Buch nicht Im Kongo heißen, sondern Wiking, was sehr anders klingt. Im Kern des Buches sollte die Tätigkeit einer Spionagelinie des Schweizerischen Nachrichtendienstes während des Zweiten Weltkrieges stehen  : die so genannte Linie Wiking, die nach Deutschland führte. Es gab sie tatsächlich, und darüber hatte ich einige historische Informationen. Wiking erschien mir als Kern eines Buches sehr gut geeignet, weil man darüber in der Literatur kaum etwas liest, was wiederum selbstverständlich ist. Und zwar, weil Geheimdienste nicht sonderlich viel aufschreiben und das, was sie aufschreiben, nicht herumzeigen. Man weiß aber doch einiges, und all das steckt auch im 7 Christophe Bourquin  : Schreiben über Reisen. Zur ars itineraria von Urs Widmer im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2006, S. 203. 8 Vgl. Martin Windisch  : Rites of Memory  : Urs Widmer’s ‚Im Kongo‘, in  : Conrad in Germany, hg. von Walter Göbel, Hans Ulrich Seeber und Martin Windisch, Boulder 2007.

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Buch. Dann hat sich der Roman aber wider Erwarten ausgewuchert und landete zu meiner Überraschung im Kongo.9

Und tatsächlich, erst auf Seite 123, nach mehr als der Hälfte des Romans also, besteigt der Protagonist, Kuno Löscher, die Perle des Afriques, die „die tausendfünfhundert Kilometer flußaufwärts bis nach Kisangani in nur sieben Tagen zu bewältigen versprach“ (IK 123). Die weitere Beschreibung der Schifffahrt ist, wie Widmer stolz bekannt gibt, „unübersehbar eine Replik der Schifffahrt von Conrad. Gedacht nicht als Plagiat, sondern als Verbeugung.“ Widmer beschreibt sein Buch als „Hommage an Joseph Conrad, indem es einzelne Stellen aufnimmt.“10 Peter Arnds ist dieser Replikation teilweise nachgegangen, und, wie er deutlich vor Augen führt, Widmer hat wohl Recht, er repliziert.11 Wozu aber dieses Replikationsspiel  ? Wenn es um Hommage, um Ehrenbezeugung geht, was an Conrads Roman wird verehrt  ? Wie ich zeigen möchte, wiederholt Widmer eine gewisse Problemstellung Conrads, nämlich die Möglichkeit eines narrativ stabilisierten Ichs bei der Reise in die eigene Vergangenheit und in die von europäischen Interessen strukturierte Welt. Widmer untersucht, genauso wie Conrad, die Möglichkeit, die subjektive Identität am Schnittpunkt der imaginären Geografie und Geschichte der europäischen Welt erzählerisch aufrecht zu erhalten. Conrad selbst schreibt seinen Roman als Relektüre seiner eigenen Kongo-Reise im Jahre 1889, als er sich im Dampfer Roi des Belges am Kongo-Fluss einschiffte. Das Ergebnis waren seine Congo-Diaries und Heart of Darkness.12 Bei Widmer finden wir also eine Über­ tragung persönlicher Erfahrungen in eine autobiographische Schrift, dann in einen Roman, dann in eine als Roman entworfene Relektüre dieses Romans. Was dabei neu entdeckt wird, ist Conrads Entdeckung subjektiver Prozesse an den wilden Orten der Welt. Dazu gehört die zeitliche und räumliche Identität der handelnden Figuren, eine Beständigkeit, die poetologisch vorausgesetzt, aber durch Conrad und Widmer ständig hinterfragt wird. Widmer schreibt eine Hommage an Conrad, indem er die Zeitstruktur von Herz der Finsternis übernimmt und ad absurdum führt. Marlowes Heraufbeschwören der barbarischen Natur im Erzählen wird durch die Einteilung in Rahmen- und Binnenerzählung ermöglicht. In der Faszination durch das Grauen wird bei Marlowes Erzählung von Kurtz die eigene Zeit vertrödelt und der Augenblick produktiven Handelns verpasst. Am Ende von Marlowes Erzählung und fast am Ende des Buches bemerkt der Direktor  : „Wir haben gar nicht gemerkt, daß die Ebbe eingesetzt hat.“ (HdF 196)   9 Schreiben hat etwas mit Zauberei zu tun  ! Ein Interview mit Urs Widmer über seinen Roman ‚Im Kongo‘, die Schicksalslosigkeit der Schweizer und den „Schwarzen in ihm“, http  ://www.buechergilde.de/archiv/ exklusivinterviews/widmer.shtml 10 Ebd. 11 Arnds  : Into the Heart of Darkness, S. 336–338. 12 Joseph Conrad  : The Congo Diary, in  : Heart of Darkness with the Congo Diary, hg. von Robert Hampson, London 1995.

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Wo Marlowes Erzählung die Kürze der historischen Zeit und somit die Fragilität des historischen Zivilisationsprozesses vor Augen zu führen sucht, baut Widmer eine narrative Zeitstruktur auf, in der die historische Zeit keine Macht über die Zeit des Erzählens haben kann, da sich die Zeit des Erzählens bis zu dem Punkt ausdehnt, an dem das Schrei­ben in einer zeitlosen Gegenwart, einer Jetztzeit stattfindet. Dadurch zeigt Widmer, wie die narrative Illusion der Identität seiner handelnden Figuren eine Funktion der Zeit bleiben muss. Wo Conrad die Zeit eines Menschenlebens auf der Skala der historischen Zivilisationsprozesse misst, zeigt Widmer, wie die subjektive Zeit immer eine andere als diejenige der Geschichte bleiben muss. Der entscheidende Punkt liegt im Erzählvorgang selber, der verdeutlicht, wie die Erzählung des eigenen Lebens sich zeitlich von der Erzählung der Weltgeschichte abheben muss. Widmer führt diesen Abhebungsvorgang vor, indem er die Erzählzeit in verschiedene Ebenen aufteilt  : die Erzählzeit im Präsens (die Zeit des Schreibens), die historische Vergangenheit, die in sich zeitlich differenziert ist (die Kindheitserinnerungen Kunos, die Erzählung von den Gesprächen im Altersheim, die Inhalte der Erzählungen selber) und die mythische Zeit (die kursiv gedruckten Meditationen zum Leben im Kongo). Indem er eine Neuerzählung von Conrad mit der Geschichte schweizerischer Mitschuld an der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands verbindet, lässt Widmer das historische und ahistorische Präsens, die historische und mythische Vergangenheit sich gegenseitig destabilisieren. Das Resultat ist eine Übertragung der Zeitenvermischung Conrads auf die Schweizer Gegenwart im späten 20. Jahrhundert, wo sich die Überlebenskämpfe im Kongo-Dschungel mit denen in den Wäldern von Zürich, die Eroberungskämpfe der Kolonialzeit mit denen der Globalisierung vermischen. Um die Fragilität des erzählenden Ichs (dessen Stabilität doch gerade erst im Erzählvorgang gewährleistet werden sollte) zu unterstreichen, reduziert Widmer die Erzählzeit im Präsens auf ein Minimum. Das erzählte Präsens, das die Oberfläche der Erzählzeit ausmacht, wird auf die dünnste vorstellbare Zeitschicht reduziert, eine Jetztzeit narrativer Wortproduktion, die sich stets in die Vergangenheit verliert. Diese schwindende Jetztzeit ist der Augenblick des Tippens, von Kuno im Zeichenzähler seines Computers in einem Baumhaus im Kongo-Wald festgehalten, wo er sitzt und die Worte schreibt, die der Leser von Im Kongo liest. Auf Seite drei lesen wir  : Ich fülle den Bildschirm mit Buchstaben und schaue zu, wie sie im Gedächtnis der Maschine verschwinden. Weg, mein Text. Ich, Sekunden später, könnte nicht mehr sagen, was er war  ; aber die Maschine merkt sich sogar Tippfehler. Eine Anzeige weiß, dass ich, obwohl ich doch noch gar nicht begonnen habe, bereits 4971 Zeichen gespeichert habe. 5001 jetzt. (IK 11–12)

Die narrative Brücke zwischen dieser erweiterten Jetztzeit und der eigentlichen Handlung des Romans wird durch das Motiv des Waldes hergestellt. Zunächst ist der Wald der Ort von Kindheitsfantasien. Den Wald seiner Kindheit belebte Kuno mit Zwergen und Gno-

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men, und er war der Häuptling. In Kunos Erinnerung bleibt der Wald hinter seinem Haus im Züricher Stadtort Witikon „so groß, daß man, wußte man den Weg, von der Landesgrenze bis zu unserer Tür gehen konnte, ohne ihn zu verlassen“ (IK 9). Machte er die Hintertür auf und tat einen Schritt in den Wald hinein, stand er „zwischen himmelhohen Stämmen. […] Drei, vier Schritte bergauf und ich sah das Haus nicht mehr“ (IK 10). In diesem Wald verstecken sich aber auch, wie Kuno erst hinterher erfahren wird, die Wege, die ein scheinbar nichtssagendes Alltagsleben mit der großen Welt verbinden. Gleichzeitig weist der Wald die Spuren der politischen Gewalt auf, die als Symptome über das Alltägliche hinausweisen. In Kunos Erinnerungen geben diese Spuren seinem Leben eine nachträgliche Bedeutung. Die Erzählinstanz, die Kunos Kindheitsfantasien im Wald festhält, ist die gleiche wie die, die das Zum-Morden-Kommen und Vor-den-MördernFliehen wahrnimmt. Wenn die Sprüche, Bilder und Handlungen der Mächtigen ihre eigenen historischen Beweggründe verschleiern, so findet Kuno am Computer im Walde seine historische Erleuchtung. Der Wald, in dem er sitzt und schreibt, überragt an Üppigkeit und Größe bei weitem den schwindenden Wald seiner Kindheitserinnerungen. Der Kongowald bietet aber einen Schauplatz, auf dem die historische Erkenntnis in der Gegenwart realisiert werden kann. Die reine vegetative Kraft der Natur, deren üppiges und unaufhaltbares Wachstum verspricht, die Menschenrechtsverletzungen sowie die Kämpfe dagegen zu überwuchern, fängt selber an, hinter den menschlichen Abmachungen zu verschwinden, die sie verstecken soll. Indem wir in die wild gewordene Natur, in die Wälder von Kunos verdrängten Kindheitserinnerungen oder der versteckten Brutalität im Kongo Einblick gewinnen, schärfen wir unseren Blick für die Zeichen historischer Prozesse. Widmer greift hier ein bewährtes literarisches Thema auf. Man denke zum Beispiel an Tiecks Wiederkehr des in der Waldeinsamkeit verdrängten Traumas oder Droste-Hülshoffs naturmagische Enthüllung der ethnischen und sozialen Kämpfe in den westphälischen Wäldern. Auch Widmers Wald wird auf diese Weise behandelt, er wird „zu einer für eine hermeneutische Fragestellung relevanten Topografie.“ Darüber hinaus wird er aber auch „zum Reflexionsraum des Verstehens.“13 Der auf diese Weise geschärfte und auf die semantischen Strategien des Romans gelenkte Blick des Lesers bahnt dann den Weg zum Verständnis des historischen Zeitbereichs im Roman. Die gesamten ersten beiden Abschnitte von Im Kongo widmen sich dem Netz der verwickelten Intrigen, die das Schicksal der Mörder und der vor den Mördern Fliehenden in der Schweiz bestimmten (und in Sachen der Asylpolitik heute noch bestimmen). Dabei können wir beobachten, wie die Erzählungen, die ein Leben lang Kunos und seiner Familie Selbstverständnis ausmachten und in die wir im ersten Teil des Romans durch seine Kindheitserinnerungen Einblick bekommen, allmählich auseinander zu fallen beginnen. Die Auflösung der Familien­ erzählung bringt Kuno in direkte Begegnung mit den historischen Begebenheiten, die ihn 13 Bourquin  : Schreiben über Reisen, S. 206.

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unwissentlich mit Nazi-Deutschland und dem Schweizer Widerstand verbinden. Wie der Leser noch erfahren wird, bestimmt diese Einbeziehung von scheinbar neutralen persönlichen Erlebnissen in die politische Geschichte trotz weitgehender Verdrängung weiterhin das Leben der Schweiz und ihrer Bürger im kolonialen und globalen Zeitalter. Widmer löst die Geschichte vom Schein der Natürlichkeit, und wir sehen, wie die hintergründigen Konflikte und die offene Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg in der zunehmend globalisierten Welt weiterwirken. Indem Widmer die Historisierung der Handlung mit dem vergeblichen Versuch verbindet, das Jetzt der Erzählung festzuhalten, führt er die Wirkungskraft der Vergangenheit in der Gegenwart vor und somit auch die Unmöglichkeit einer Erzählerposition außerhalb der Geschichte. Dabei lässt er die Kraft der Symptome die scheinbare Belanglosigkeit des gegenwärtigen Lebens, des geschichtslosen Lebens sprengen. Diese Symptome sind vielerlei, und Widmer webt sie sorgfältig in Kunos Erinnerungen ein, bis sie einen Grad der Naturalisierung erreichen, wo sie kaum noch als Rätsel empfunden werden. Willys fehlende Finger, sein von Zorn verzerrtes Gesicht, das abhanden gekommene Bild seiner Mutter, Schwester Annas Ablehnung seines Heiratsantrags, der tägliche Arbeitsgang seines Vaters usw. sind alle nichts weiter als die unvollständigen Erzählfragmente, die ein Leben zusammenhalten. Diese Symptomatologie droht, das Schweigen in Sachen Widerstand, Komplizität und Mitläufertum in der Schweiz zu brechen. Wenn Kuno seinen Vater um eine Erklärung bittet, warum er seine Widerstandstätigkeit verschwiegen hatte, teilt Berger mit, dass sie Vergeltung seitens alter Nazis befürchteten. Erst viel später berichtigt KunoSenior die Tatsachen  : „Warum nicht  ?“ sagte er, und schaute seinen Freund an. „Nur, dann müssen wir davon sprechen, daß der Junker [der als hoher Nazi-Offizier gegen Hitler spionierte] sich bei Kriegsende in die Schweiz retten wollte, und daß wir ihn nicht ins Land ließen.“ Er ging so energisch auf Herrn Berger zu, daß der erschrocken zurückwich. „Daß wir uns in unserm eigenen Dienst nicht über den Weg trauten. Daß wir uns Informationen vorenthielten. Daß es sogar bei uns Offiziere gab, die mit den Nazis sympathisierten.“ Er hustete. „Daß manche nicht mit uns arbeiteten, weil sie der Faschismus entsetzte, sondern weil sie Geld kriegten. Daß einige regelrecht reich geworden sind.“ (IK 104)

Was Widmer in den ersten zwei Abschnitten des Romans zeigt, ist, wie historische Erfahrung in das Alltagsleben derer eingeschrieben wird, die meinen, die Geschichte sei an ihnen vorbeigegangen. Dabei sehen wir zwei mögliche narrative Haltungen zur Wiederkehr der verdrängten Geschichte  : die Neubelebung der Tiefengeschichte im persönlichen Leben durch eine Symptomatologie (die Geschichte im Wald) und das Verschwinden des alltäglichen Augenblicks in der groß angelegten Perspektive von historischen Zeitepochen (Conrads Geschichte im Fluss). In beiden Fällen findet die historische Zeit einen Weg in das Moment narrativen Erzählens hinein und historisiert dabei die Natur.

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Kuno schreibt am gleichen enunziativen Ort, den Marlowe beim Sprechen seiner ersten Worte in Heart of Darkness besetzt. Wie Marlowe schaut Kuno auf die wilde Natur und sieht die Zeichen einer rohen Gewalt, die von der Brutalität der Geschichte nicht zu trennen ist. Nur, dass Kuno keine lange historische Sicht einnehmen muss, um die eigene barbarische Vergangenheit zu sehen – sie muss nicht phantasiert, sie kann entdeckt werden. Die Zeitlichkeit, die Widmer erforscht, ist weit komplexer als diejenige von Conrad. Sie verunsichert die Idee des historischen Fortschritts, indem die dunklen Orte der Welt vor die eigene Haustür versetzt werden, oder aber in der Entfernung, im Kongo, als von der Zivilisation schon durchdrungen erscheinen. Die Barbarei, die Conrad in die geografische Ferne und in die historische Vergangenheit versetzt, zeigt sich als in der heutigen Schweiz gegenwärtig. Somit hört die Barbarei auf, als zuverlässiger Maßstab der Entfernung zwischen der Schweiz und dem Kongo zu dienen. Nicht nur Conrads Geschichtsphilosophie, auch die damit verbundene, narrative Festlegung des Ichs wird von Widmer destabilisiert. Kunos enunziative Stellung ist eine historische Stellung an der Schwelle der Selbst-Erkenntnis. Durch die Erzählung Bergers und seines Vaters sieht er sich im Lichte historischer Prozesse, und die historische SelbstEntdeckung ist gleichzeitig die Entdeckung der dunklen Stellung seines Landes in der globalen Wirtschaft. Wenn die dunkle Geschichte in die Erzählung hereinbricht, zeigt sie auch die finstere Gegenwart Schweizer Asylpolitik. In einigen kurzen Nebenhandlungen und Motiven erweitert Widmer seinen Kommentar zum Thema Globalisierung und dem damit verbundenen Diskurs der schweizerischen Neutralität. Es geht hier um die Asylpolitik und die globale Migration subalterner Körper. Im Altersheim, wo er arbeitet, vertreibt sich Kuno immer dann die Zeit mit dem tamilischen Küchenpersonal, wenn er „keine Greise mehr sehen wollte“ (IK 65). Einer der Tamilen, Kamal, steht kurz vor der Ausweisung. „‚Eigentlich heiße ich Saravanapavanathan. Jetzt, wo wir uns nie mehr sehen werden, möchte ich, dass Sie das wissen.‘ Ich gab ihm die Hand und ging.“ (IK 65). Später nimmt sich Saravanapavanathan das Leben. Diese Episode ist ein Kommentar zur anhaltenden Blindheit der Schweizer Behörden, wenn es um Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern geht, aber auch zur Weigerung, durch eine Lockerung der Asylbestimmungen eine wirkliche Hilfe anzubieten. Als die Polizei in die Küche kommt und die Leiche Saravanapavanathans auf dem Tisch liegen sieht, fragt einer der Offiziere  : „Ein Toter auf dem Küchentisch, entspricht das den Hygienebestimmungen  ?“ (IK 108). Widmer lässt Kuno so leichtfertig in diese tragische Handlung einund aus ihr auftauchen wie die globalen Medien das Schicksal der Flüchtlinge aufnehmen und wieder vergessen oder wie die Schweizer Regierung in den frühen 90er Jahren Flüchtlingen Asyl verweigerte. Dass es Widmer konkret auch darum geht, liegt auf der Hand. In den 80er und 90er Jahren gab es eine Reihe profilierter Fälle, wo Asylanten nach Zaire und Sri Lanka ausgewiesen wurden.14 14 Vgl. Arnds  : Into the Heart of Darkness, S. 331f.

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Kunos enunziative Stellung ist aber auch eine phantastische Stellung an der Schwelle der Selbst-Täuschung. In seiner Liebe zu Schwester Anna wird das eigene Ich radikal in Frage gestellt, indem ihre scherzhafte Bemerkung („da können Sie warten, bis Sie schwarz sind“, IK 18) die Hautfarbe zur Bedingung der Liebe macht. Als die magische Kraft des KongoWaldes das Zeichen umkehrt und seine Haut schwärzt, kann er Anna heiraten, aber der Kuno, der sie gewonnen hat, ist nicht mehr derselbe, der sie begehrte. Nur seine Stimme bleibt unberührt. Am Ende weiß der Leser nicht mehr, ob seine Identität in seiner Nationalität, seiner Hautfarbe oder allein in der Beständigkeit der Erzählstimme liegt. Die Stimme bleibt in einer ungewissen Jetztzeit schweben, während die historische Zeit sich nur als Resultat der Zerstörung der „schwindenden Gegenwart“ denken lässt – um ein Wort Spivaks zu benutzen.15 Die schwarze Haut wird zum Zeichen des Abgrunds zwischen der historischen Zeit, in der sich ein Leben allmählich im Bann der Kausalität zu entfalten hat, und dem Augenblick des Schreibens, in dem alles möglich ist. Gleichzeitig aber werden beide Erzählzeiten durch die mythische Zeit destabilisiert. In seinem Roman zeigt Widmer durch den mythischen Diskurs das Gesicht der enthistorisierten Natur, einer Natur, die sich im Laufe des Romans als immer untragbarer erweist. Die mythische Naturdarstellung bietet eine andere Perspektive auf das historisierte Leben, indem gezeigt wird, wie ein völlig enthistorisiertes Leben erzählt werden müsste. Auf Seite 21 wird die Erzählung Kunos plötzlich unterbrochen, und ohne Übergang lesen wir den kursiv gedruckten Text  : Die Eingeborenen des Kongo wissen so sehr, daß die Menschen zum Leid geboren sind, daß sie nicht darauf achten. Es nicht erkennen. Sie wissen nicht, was Leid ist. Sie kennen kein Wort dafür. […] Sie sind wie die Tiere ihrer Wälder. (IK 21)

Das Präsens, das die Zeitlichkeit dieser Sätze ausmacht, ist ein ganz anderes als dasjenige, in dem Kuno die gespeicherten Ziffern im Laptop zählt. Kunos narrative Gegenwart ist so dünn, dass sie bei der Ausführung verschwindet. Das mythische Präsens des Kongo droht jedoch, mit seiner diskursiven Zeitlosigkeit alle Wahrheitsansprüche der historischen Erzählung zu neutralisieren. Widmer parodiert den Diskurs, der aus der Komplexität des historischen Erzählens in den Trost reiner Naturgeschichte zu fliehen sucht – eine Flucht, die nur im Mythischen möglich ist. Widmer schreibt  : In den Nächten des Vollmonds opferst du den Mächtigen Früchte  ; an den ganz heiligen Tagen, von denen nur die maskentragenden Zauberer wissen, den Vater. Ein Kind. Ach nein  : du bist es, den die Magier zum Opferplatz schleppen. Während du dich wehrst, dir das Leben zu erflehen versuchst, dich ergibst, erkennst du sie unter den Masken  : den Nachbarn, den Freund, den Bruder  : fremd. (IK 21) 15 Gayatri Chakravorty Spivak  : A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Disappearing Present, London 1999.

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Solche mythische Fantasien der Hobbesschen Natur, in der die Gewalt derart allgegenwärtig erscheint, dass sie sogar das eigene Selbstbewusstsein deplaziert („Ach nein  : du bist es …“), verschwinden dann in der Wiederaufnahme der erzählten Handlung. Und mit diesem Verschwinden merken wir, dass die Handlung die hinter der Geschichte lauernde Gewalt eher versteckt als vorzeigt. Zwar wird Kunos Mutter erschossen, der Nazi-Informant verschwindet, Mobutus Kraft ist derart furchterregend, dass in seiner Gegenwart alle den Tod fürchten –, was wir aber an der Oberfläche der Geschichte wahrnehmen, sind die Abmachungen und Kompromisse, die das Leben weitergehen lassen, als ob es gerade nicht auf Gewalt basierte. Das Leben ist wie ein Spiel oder ein Geschäft. Im historisierten Wald werden Kompromisse eingegangen, um die Gewalt des Todes hinzuhalten, auch wenn man weiß, dass es gerade das Wissen von der Gewalt ist, das die Kompromisse ermöglicht. Insofern ist Kunos Wald wie derjenige Conrads, den Widmer im Nachwort zu seiner Übersetzung zitiert  : Wir gehen mit Worten Kompromisse ein. Es hilft uns auch nicht weiter. Es ist wie ein Wald, in dem niemand den Weg kennt. Man ist verloren, während man noch ruft  : „Ich bin gerettet  !“16

Widmer zeigt die Involviertheit schweizer Interessen im globalen Spiel der Kompromisse, und er zeigt, wie die Fassade der Neutralität ein Spiel der Gewalt versteckt, das gerade die Neutralität ermöglicht. Der einzige gewaltsame Tod, den wir zu Gesicht bekommen, ist der des abgeschobenen Flüchtlings Saravanapavanathan. Sonst sieht die Welt der Politik eher wie ein Abkommen zwischen Trinkfreunden aus, wo die Gewalt mit einem Augenzwinkern abgetan wird, während die Politik von versteckten Geschäftsinteressen getrieben wird. Die versteckten Geschäftsinteressen während des Faschismus lassen Fritz Berger, den ehemaligen Widerstandskämpfer in der Spionage-Division Wiking und untergeordneten Offizier von Kunos Vater, eine zweideutige Rolle spielen. Um Zugang zu Hitler zu bekommen, verkauft ihm der sehr erfolgreiche Geschäftsmann Berger hochwertige optische Geräte und unterstützt auf diese Weise die Nazi-Kriegsführung. Wie in einer Szene deutlich gemacht wird, in der Berger durch seine Scheinfreundschaft mit Hitler das Leben gerettet wird, bleiben solche Abmachungen ambivalent. Und nicht nur im Faschismus. Kuno selber wird auf ähnliche Weise von Mobutu Seso Seke das Leben gerettet. Wenn Widmers auktorialer Erzähler den mythischen Diskurs über den Kongo wiedergibt, spricht er, als ob seine Stimme und sein Objekt außerhalb der Zeit existierten. Wenn aber diese Stimme in Gang kommt und tiefer in die Erforschung der mythischen Welt des Kongo eintaucht, fängt sie an, die eigene Geschichtslosigkeit zu untergraben. Lesen wir auf jenen Seiten weiter, die die merkwürdig fremde, aber dennoch bekannte Fantasie der afrikanischen Natur enthalten, bricht sie unter ihrem eigenen, übertriebenen Exotismus 16 Joseph Conrad an Cunninghame Graham (2. Februar 1899), zitiert nach Widmer  : Nachwort, in  : Conrad  : Herz der Finsternis, Zürich 1996, S. 197.

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zusammen. So plötzlich der Leser in diese exotische Fantasie hineingeworfen wurde, so unvermittelt wird die Fantasie erneut als Teil der historisch und geografisch vernetzten Welt enthüllt  : Über die großen Städte des Kongo, sage ich euch, haben die Herrscher der Urwälder keine Macht. Ihre Befehle, die in ihrer Welt sicheren Tod bringen, erreichen die Menschen in den Städten nicht, die, taub für die Stimmen alter Geister, in Abfallbergen wühlen, ein Essen zu finden, und aus Tümpeln trinken, die die Notdurft derer sind, die weiter oben wohnen. […] Der Herrscher könnte verhungern, es sähe ihn niemand, es hülfe ihm keiner, […] denn die Zahlungsmittel, mit denen er sich ausgerüstet hatte – Gold, Edelsteine, Kupferdraht –, waren nicht die der Stadt. […] Hier brauchst du deine Visa-Card, um Essen zu bezahlen. […] Die Herrscher wollen alle einen Sexshop besuchen, ein McDonald’s, ein Spielsalon voller Slot-machines und vor allem ein Kino. (IK 87–8)

Und wie Widmer die Fantasie von Schwarzafrika ausbaut, lässt sie sich immer weniger von der heute in den Medien verbreiteten Fantasie afrikanischen Leidens unterscheiden  : In Kinshasa, in Kisangani drängen sich die, die die Wälder verlassen haben und nie mehr zurück können. […] Sie haben nichts mehr. Kein Dach überm Kopf, kein Essen, keinen Freund, keine Ahnen, keine Geister. Keinen Herrscher. – Nur einen Fernseher haben sie, den ja. Alle haben einen Fernseher, ausnahmslos. (IK 90)

Dann aber verwandelt sie Widmer in eine Reflexion über das Machen und Vermarkten von gemeinsamen Fantasien  : Weil es nichts Wirkliches in den Städten gibt – ich weiß es, ich sage es euch –, wird das Unwirkliche wirklich. Es müssen nur genügend Menschen vom gleichen träumen, das gleiche fürchten, vom gleichen sprechen, dann ist es nur allzu bald so wirklich, wie die Herrscher in der Waldzeit waren. (IK 91) Oft ist der gemeinsame Wahnsinn harmlos, lustig eigentlich, etwa wenn alle zusammen sicher sind, dass sie den Hauptgewinn der Lotterie gewinnen. Achteinhalb Millionen Zaires, auch wenn sie kein Los gekauft haben, wenn es keine Lotteriegesellschaft gibt, und kein Geld, das ausbezahlt werden könnte. Macht nichts, ein paar Biere drüber. (IK 91–2)

Kollektive Fantasie wird zu einer komplizierten Mischung aus Erinnerung, Illusion, Angst und Medienjargon. Und doch betont Widmer die Materialität, die Verkörperung, die dazu führt, dass gemeinsame Fantasien die Grenze zum Alltagsleben überschreiten und Wirklichkeit werden. Während die Dämonen aus dem Wald, die den Flüchtlingen in die Städte folgen, nichts als von den Fernsehstudios ins Leben gerufene Fantasmen sind, gibt es eine kollektive Fantasie, die stets dabei ist, Realität zu werden  : Der Löwentyrann, der zu jeder Zeit aus dem Fernsehbildschirm springen könnte, ist Mobutu Sese Seko.

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Mobutu erscheint im letzten Abschnitt, wo er der alljährlichen Versammlung der Könige als mächtigster aller Könige beiwohnt. Zufällig trifft ihn Kuno, der, als Schwarzer getarnt, Willys Großwesir spielt. Mobutu begnadigt ihn und gibt ihm seine Visitenkarte, genau wie Hitler Fritz Berger damals die Visitenkarte während eines Trinkfests in Berchtesgaden überreicht hatte. Später, als die Brauerei von bewaffneten Soldaten angegriffen wird, wählt Kuno Mobutus Geheimrufnummer und wird sofort gerettet. Kuno hat sich dem Anschein nach in allem, was er berichtet, geirrt, von seiner Fähigkeit, dem Bund mit dem Bösen auszuweichen, bis hin zu seiner eigenen Identität. Die Geschichte von Kunos Selbstfindung bei der Reise in den Kongo ist auch die Geschichte seiner allmählichen Auflösung als stabiles Subjekt. Wenn wir am Ende des Buches angelangt sind, ist an Kuno recht wenig von dem übrig geblieben, was wir in den ersten zwei Teilen als Kuno kennen lernten. Geblieben ist im Grunde als einzig konstantes Element nur seine Stimme. Und wie sollte der Protagonist dieses Romans bestehen  ? Widmer hat die Unfähigkeit des Subjekts im Kampf ums Überleben in der mythischen Welt schon deutlich gezeigt. Dazu noch hat er am Beispiel der Vätergeneration, aber auch der Asylsuchenden gezeigt, wie brüchig eine Identität ist, wenn sie im Kontext politischer Machtspiele erzählt wird. Nun sehen wir im Zusammenbruch von Kunos Identität die Unfähigkeit des erzählen­ den Ichs, die subjektive Einheit im Akt des Erzählens zu gewährleisten. Zum einen wird die Identität zum Witz, der auf die Haut geschrieben wird, zu einer Ansammlung von Sprachverzerrungen, Fehlleistungen in der Alltagsrede. Auf der anderen Seite reduziert sich die Identität auf den stets verschwindenden und immer schon verschwundenen Augenblick des Schreibens. Im Baumhaus im Kongo ist Kunos Stimme untragbar geworden – ein Schwarzer erzählt von seiner weißen Kindheit, ein Schreibender beschreibt die Erstarrung des Lebens beim Schreiben und belebt dabei sein unmögliches Leben. Wenn es doch eine Beständigkeit des Subjekts geben soll, dann muss sie in der Materialität von eher am Rande sichtbaren Zeichen gesucht werden. Die Subjektivität muss, wie die Lacansche Metonymie, als Zeichen gelesen werden, das immer nur auf das Begehren deutet, Subjekt zu sein. Hier setzt das Projekt der postkolonialen Literatur ein. Das Aufzeigen der Labilität des Subjektes als ethnisch und geschlechtlich bestimmtes Individuum, aber auch als historisches Wesen ist eine bevorzugte Strategie und Zielsetzung der postkolonialen Literatur. Sie nimmt das Gesicht der blinden Natur in den bestehenden diskursiven Traditionen wahr und hält es erneut innerhalb von historisierenden Rahmen fest. Das geschieht nicht durch Entmythologisierung der Natur in der Erzählung historischer Kontinuitäten, sondern durch Neubelebung des Dialogs zwischen Natur und Geschichte. Was dabei entdeckt wird, ist die Kraft geografischen, verräumlichten Wissens. Die geografische Differenz bietet die Linse, durch die das historische Gesicht der Natur und das natürliche Gesicht der Geschichte gesehen werden kann. Dabei wird die geografische Bestimmung der Subjektivität in Frage gestellt. Hier lässt sich Widmers Roman tatsächlich als Neulektüre einer

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Entdeckungsreise lesen. Denn die Entdeckungsreise, die Conrad beschreibt, gilt letztendlich nicht den Oberläufen des Kongo-Flusses, sondern der geografischen Bestimmung der Subjektivität. In den Fußstapfen von Conrad führt uns Widmer auf eine merkwürdige Entdeckungsreise. Was entdeckt wird, ist nicht das Herz der Finsternis im tiefsten Afrika, auch nicht in der vorgeschichtlichen Vergangenheit Europas. Entdeckt wird auch nicht das finstere Herz im Menschen überall auf der imperialistisch strukturierten Welt, im Kongo wie an der Themse oder am Rhein. Widmer entdeckt in der Relektüre von Conrads Roman das Traumhafte der diskursiven Identitätsgestaltung im Imperialismus, Faschismus und in der Globalisierung. Das Spiel, das Widmer mit dem Leser treibt, zeigt die Unmöglichkeit, seine traumhaften Identitäten richtig zu lesen. Beim Lesen von Im Kongo lernen wir Kuno Löschers Stimme kennen, die Stimme eines Schweizer Mannes in seinem sechsten Jahrzehnt, der im Altersheim arbeitet. Wir hören von seinen Kindheitserinnerungen in Zürich, seinem langweiligen bürgerlichen Vater, seinem eigenen langweiligen Leben. Dann, im dritten Kapitel begreifen wir allmählich, dass die Ich-Erzählung, die wir lesen, im Baumhaus im Kongo am Laptop von einem schwarzen Mann geschrieben wird, der einmal ein weißer Schweizer gewesen ist, dessen Geschichte in die verdeckte Geschichte der Schweiz auf unheimliche Weise verwickelt ist. In der bereits entdeckten Welt ist die Erzählung des eigenen Lebens wie eine Reise gestaltet, die man – so beschreibt Widmer Conrads Herz der Finsternis – „Schritt für Schritt wiederholen könnte, und ist dennoch ein Traum, wie im Traum geschrieben, mit der Sicherheit eines Traums, der bekanntlich keine Fehler macht.“17

17 Widmer  : Nachwort, S. 198.

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Schreiben als Wortergreifung und Gegendiskurs Yambo Ouologuems intertextuelles Spiel mit kolonialen und antikolonialen Bildern

Der nigerianische Romancier Chinua Achebe hat immer wieder bekräftigt, dass sein Impetus zu schreiben die Irritation angesichts der Darstellung Afrikas in der europäischen und amerikanischen Literatur gewesen sei. Ausdrücklich nennt er den berühmten Roman Joseph Conrads, Heart of Darkness, als Beispiel einer solchen problematischen Darstellung. In der Tat tauchen die Schwarzen bei Konrad allein als stumme Schatten im Hintergrund auf. Sie begleiten die Geschichte wie Fantome, stellen aber keine Subjekte dar, die an ihrer Gestaltung zu partizipieren vermögen. Chinua Achebe dachte natürlich auch an die unzähligen Berichte und Erzählungen von Entdeckungsreisenden, Abenteurern und Wissenschaftlern, die vor und während der Kolonialzeit Afrika ‚erschlossen‘ und dabei ein Bild von Afrika konstruiert haben, dessen Logik nach dem Muster des von Edward Said analysierten Orientalismus funktionierte. Der erste Roman Chinua Achebes, Things Fall apart (1958), stellt einen Versuch dar, Afrikaner realistischer darzustellen, sie als sprechende, handelnde und fühlende Personen mit Eigensinn, mit Willen und mit Motivationen zu inszenieren. Damit begründet er eine Tradition des Schreibens als Wortergreifung und Gegendiskurs. Der Roman Le Devoir de Violence, den Yambo Ouologuem zehn Jahre später in Paris veröffentlicht, wird gern als ein Versuch interpretiert, mit dieser Tradition zu brechen. Chinua Achebe selbst allerdings äußert sich zwar kritisch über das Bild Afrikas, das in Yambo Ouologuems Roman entworfen wird, distanziert sich aber nicht vom ihm. Im Gegenteil, er lobt diesen Roman ausdrücklich als gelungenen Versuch der Reinterpretation der afrikanischen Geschichte. In einem Interview sagt er 1997  : “Yet as a strategy for reinterpreting African history it is two thousand times more successful than Ayi Kwei Armah’s (Two Thousand Seasons). You can see that Ouologuem’s book moves  ; it has an epic scope and movement.”1 Während Kritiker wie Anthony Appiah hier eine Literatur entstehen sehen, die entgegen den Werken der afrikanischen Autoren der ersten Generation ein neues, nicht antikolonialistisches, nicht nationalistisches Schreiben erprobt2, muss Achebe 1 Bernth Lindfors (Hg.)  : Conversation with Chinua Achebe, 1997. Zitiert nach http  ://www.kirjasto.sci.fi/ ouolo.htm. 2 Appiah schreibt nämlich  : “The first generation of modern African novels – the generation of Achebe’s Things Fall Apart and Laye’s L’Enfant noir – were written in the context of notions of politics and culture

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in diesem Werk sein eigenes Bestreben wiedererkannt haben. Dieses Werk setzt seine Bemühungen fort. Aber in einem Punkt hat Appiah recht, die Mittel, die er dabei gebraucht, sind neu. Dem Roman fehlt die ‚falsche Klarheit‘ der ersten Generation. Die gewohnten binären Oppositionen zwischen Guten und Bösen sind verschwunden, aber nicht der Wille, sich mit bestehenden Diskursen auseinander zu setzen. Statt einfach ein ‚richtiges‘ oder ‚authentisches‘ Afrika dem falschen Bild entgegenzusetzen, lässt Yambo Ouloguem diese Bilder auftreten und miteinander streiten. Es handelt sich aber nicht um ein einfaches Spiel zwischen Personen, deren Züge deutlich erkennbar wären und die im Roman schnell und problemlos als Träger von unmissverständlichen Absichten identifizierbar wären. Der Roman ist keine Montage von Zitaten oder Textausschnitten, die als solche ausgewiesen sind, auch wenn der Erzähler ausdrücklich einige Texte nennt, auf die er sich bezieht, gegen die er schreibt oder mit deren Hilfe er spricht. So spricht er von der Negritude, von arabischen Quellen und mündlich tradierten Erzählungen. Andere Texte deutet er nur an, etwa durch die Namen einiger Figuren wie z.B. Spartacus oder Réné Caillé. In einem Fall lässt er eine historische Persönlichkeit auftreten, die für einen bestimmten, nämlich den ethnographischen, Diskurs steht, aber er bezieht sich nicht direkt auf ihr Schreiben, sondern macht aus ihr eine Figur seiner eigenen Erzählung. Diese Figur nennt er Leo Schrobe­nus, womit er auf den deutschen Ethnologen Leo Frobenius anspielt. Natürlich ist diese Figur, genau wie die Namen Spartacus und Réné Caillé, erkennbar als Verweis auf Diskurse, die im Text auftreten, ohne aber als Zitat markiert zu werden. In einem Interview nennt Ouologuem andere Quellen  : “The book was not absorbed. These were ancient, Arabian, medieval, old Portuguese, and old Spanish manuscripts, and I condensed and raised them to the level of legend. Only from the point of view of form is it fiction, for it’s about history and politics”. Weitere hier nicht genannte Quellen wurden von Lesern entdeckt  ; und manche Kritiker meinten, ihn des Plagiats überführt zu haben. Vor allem Graham Greenes It’s a Battlefield und Andre SchwartzBarts Le Dernier des justes (1959) werden als Werke genannt, aus denen er unerlaubt Teile kopiert hätte, weiterhin finden sich Spuren von Victor Hugo, Guy de Maupassant, Pascal, Godard, T.S. Eliot und Emily Dickinson. Auf diese Plagiatsdiskussion kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden  ; anzumerken aber ist, dass sie im Grunde nur einen juristischen Wert und keinen literarischen hat. Aber aus der Diskussion wird deutlich, wie dominant in the French and British university and publishing worlds in the fifties and sixties. This does not mean that they were like novels written in Western Europe at that time  : for part of what was held to be obvious both by these writers and by the high culture of Europe of the day was that new literatures in new nations should be anticolonial and nationalist. These early novels seem to belong to the world of eighteenthand nineteenth-century literary nationalism  ; they are theorized as the imaginative recreation of a common cultural past that is crafted into a shared tradition by the writer […] The novels of this first stage are thus realist legitimations of nationalism  : they authorize a ‘return to traditions’ while at the same time recognizing the demands of a Weberian rationalized modernity.” Zitiert nach  : Richard Serrano  : Against the Postcolonial  : Francophone Writers at the Ends of the French Empire, Lanham u.a. 2006, S. 23.

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sehr der Roman eine Vernetzung von intertextuellen Bezügen darstellt. Wichtig ist also vielmehr zu wissen, welches ästhetische Kalkül diese Interkulturalität begründet. In seinem Roman Le devoir de violence erzählt Yambo Ouologuem von der Geschichte einer Dynastie in einem fiktiven Lande, das er Nakem-Ziuko nennt. Diese Geschichte wird in vier Phasen gegliedert. Die erste erstreckt sich über sieben Jahrhunderte, von 1202 bis 1900, und wird betitelt  : „La legende des Saïfs“. Der Roman beginnt also im Duktus des Epos und erzählt die Geschichte von Herrschern, die fast ununterbrochen über das Nakem-Reich regiert haben. Die sieben Jahrhunderte werden auf knapp 20 von insgesamt 200 Seiten synthetisierend dargestellt. Anders als gewohnte Epen wird die Geschichte nicht als heroische Zeit entfaltet. Im Gegenteil, die Geschichte erscheint als die ewige Wiederholung derselben Prinzipien  : Gewalt, Gräuel, Unmenschlichkeit, Macht, Unterdrückung bestimmen den Rhythmus von Ereignissen, das Verhalten der Helden und die Verhältnisse zwischen den Menschen. Es handelt sich also im Grunde um eine Dekon­ struktion von Epen und dies umso mehr als der Erzähler nicht nur vergangene Geschehnisse darzustellen versucht, sondern kritisch verschiedene Erzählungen desselben Ereignisses in verschiedenen Quellen bespricht. Das, was der Erzähler ausdrücklich als Legende entlarvt, ist weniger die eigene Erzählung als vielmehr die existierenden Darstellungen dieser Geschichte. Gerade die Erzählungen über den einzigen Saïfen, über den allgemein positiv berichtet wird, nämlich Isaac El Heit, der zwischen 1420 und 1498 geherrscht hat, behandelt der Erzähler sehr kritisch und gibt deutlich zu verstehen, dass dieser höchstens als eine Ausnahme zu betrachten sei und keineswegs als ein Paradigma, das eine legitimierende Genealogie begründen könne. Die zweite Phase ist historisch sehr kurz und auch im Roman beträgt sie nur ein paar Seiten. Sie wird betitelt „L’Extase et l’Agonie“. Hier wird der Sieg der Franzosen über den letzten Saïf erzählt, ein Sieg, der keineswegs die totale Entmachtung und Zerschlagung der Herrschaft des Saïfen bedeutet, sondern vielmehr eine gewisse Kontinuität ankündigt. Daher der paradoxe Titel ‚Extase und Agonie‘. Damit wird nicht eine Extase, die in einen Todeskampf mündet, gemeint, sondern vielmehr eine Situation, die sich zunächst als Machtverlust präsentiert, aber sich als Machtgenuss erweist. Saïf wird besiegt, verliert aber nicht die Macht, sondern nutzt vielmehr die Macht der Sieger, um die eigene zu vergrößern. Die dritte Phase ist eigentlich der Kern des Romans und umfasst mehr als zwei Drittel des Buches. Der Duktus des Epos wird durch ein romanhaftes Schreiben ersetzt. Aber die Geschehnisse verlaufen genau nach dem im Epos identifizierten Prinzip. Die erzählte Geschichte ist nur die Wiederholung der langen Geschichte von Nakem. Nur ein neues leitendes Prinzip hat sich durchgesetzt  : Die List. Auch in der Kolonialzeit ist der Saïf Herr der Lage geblieben. Er hat nur gelernt, die Franzosen zu überlisten. Die vierte Phase, betitelt „L’Aurore“ (Morgenröte), suggeriert eine Zukunft, die sich abzeichnet in einer dramatischen Szene zwischen dem Saïfen und dem französischen Bischof Henry. In dieser Szene lässt sich vielleicht die Textperspektive ablesen, aber diese

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Perspektive ist alles andere als eindeutig. Beginnt eine neue Phase der Geschichte von Nakem oder wird sich die Geschichte weiterhin wiederholen  ? Der allerletzte Kommentar des Erzählers deutet eher auf eine Kontinuität und nicht auf einen Bruch hin. Aus welcher Perspektive wird dann die ganze Geschichte erzählt  ? Wie schon gesagt, dekonstruiert der Autor von vornherein die gewohnte Perspektive des Epos, dessen Welt Bachtin als „heldenhafte nationale Vergangenheit, die Welt der ‚Ursprünge‘ und ‚Höhepunkte‘, der nationalen Geschichte, die Welt der Väter und Ahnherren, der ‚Ersten‘ und der ‚Besten‘“3 charakterisiert. Yambo Ouologuem nähert sich der Geschichte nicht in der devoten Haltung eines Menschen, der über eine ihm unerreichbar scheinende Vergangenheit spricht, der er als Nachkomme mit Ehrfurcht gegenüber tritt. Im Gegenteil, seinem Erzähler fehlt die epische Distanz. Er verhält sich streckenweise eher wie ein Historiograph, der von einer Gegenwart ausgehend, die ihm seine Paradigmen liefert, verschiedene epische Erzählmodi der Geschichte kritisch bespricht und als ideologische Konstrukte entlarvt. In einem Epos befinden sich der Erzähler oder „der Sänger wie auch der ­Zuhörer […] in derselben (hierarchischen) Wertebene, während die dargestellte Welt der Helden auf einer völlig anderen unerreichbaren Wert-Zeit-Ebene liegt, die durch die epische Distanz abgetrennt ist.“4 Die Wert-Zeit-Ebene der Helden, die charakterisiert ist durch heldenhafte Haltung und ruhmvolle Taten, wird einer prosaischen und verkümmerten Gegenwart entgegengestellt. Yambo Ouologuem identifiziert den Gegenwarts-Horizont, von dem aus die Vergangenheit gern als Epos dargestellt wird, und inszeniert deren Rekonstruktion ganz explizit als Gegendiskurs. Die Anhänger dieses Gegenwart-Horizonts bezeichnet sein Erzähler polemisch als „rêveurs de la theorie de l’unité africaine“ (Träumer von der afrikanischen Einheit)5 und ihre Haltung als „romantisme nègre“ (Negerromantik  ; 14). Er identifiziert auch die Quellen, aus denen sie den Stoff für ihre Konstruktion einer heldenhaften und zukunftsweisenden Vergangenheit holen, nämlich les „historiens arabes et la tradition orale africaine“ (arabische Historiker und afrikanische mündliche Überlieferung  ; ebd.). Die „tradition orale africaine“, auf die er hier verweist, sind vor allem die genealogischen Preislieder, die Barden, genannt Griots, bei großen öffentlichen Auftritten vortragen. In diesen Liedern wird der Herrscher als würdiger Sprössling seiner heldenhaften Ahnherren gepriesen. Dabei werden ruhmvolle Taten seiner Vorfahren erzählt und dadurch die Geschichte als ein Kontinuum mit dem neuen Herrscher als Garant der Fortsetzung dargestellt. Die ungewollte tragikomische Situation, die oft aus der Diskrepanz 3 Michail Bachtin  : Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989, S. 221. 4 Ebd. 5 Yambo Ouologuem  : Le devoir de violence, Paris 1968, S. 11 (im Folgenden mit Seitenangaben im A ­ nschluss an die jeweiligen Zitate angegeben).

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zwischen diesen emphatischen Lobgesängen und dem Elend einer modernen Gegenwart hervorgeht, wo diese Herrscher total verarmt und sozial deklassiert sind, hat der ivorische Autor Ahmadou Kourouma im gleichen Jahr, in dem Yambo Ouoleguem Le Devoir de Violence veröffentlicht hat, in seinem Roman Le soleil des indépendances dargestellt. Gleichwohl werden diese Preislieder von Historikern als durchaus schätzbare Quellen der Geschichtsschreibung eines Kontinents betrachtet, auf dem die schriftlichen Quellen nicht so zahlreich sind. In einem Artikel über die Griots zitiert Mafeje einen Ethnologen, der 1928 schrieb  : Attached to the court of the chiefs was an important official whose profession was the recording of the praise names, victories, and landatte characteristics of his Master. These ‘praises’ were recited on an occasion which seemed to call for public adulation of the chief, such as defeat of his enemies, the approach of distinguished visitors, the distribution of royal bounty and so forth.6

Griots sind also Genealogisten und Historiker, aber sie sind auch professionelle Künstler, die nicht nur die Kunst des Vortragens beherrschen, sondern auch oft ein Musik­ instrument spielen, singen und tanzen können. Sie sind große Dichter, Meister des Wortes und Rhetoriker. Der Erzähler in Yambo Ouoleguems Le Devoir de Violence übernimmt weitgehend ihren Erzählmodus und Rhythmus sowie ihren rhetorischen Duktus, stellt die entsprechenden Erzählungen aber durch ironische Wendungen und Überhöhung mancher Details in Frage, so dass sie statt als Lobpreisung eher als Kritik erscheinen. So wird er zum Chronisten einer grauenvollen Vergangenheit, die eine Fortsetzung erfährt. Die andere Quelle, aus der die Anhänger einer ‚Negerromantik‘, wie der Erzähler spöttisch jene gegenwärtigen Nationalisten nennt, die in der Vergangenheit eine Grundlage ihres Stolzes suchen, sind die Chroniken Tarik el Fetach und Tarik el Sudan. Der Erzähler von Le Devoir de Violence bezeichnet sie als Bücher von arabischen Historikern. Diese Bezeichnung beruht jedoch auf einem Missverständnis. Es handelt sich um zwei berühmte sogenannte sudanesische Chroniken, die zu den Timbuktu-Manuskripten aus dem 17. Jahrhundert gehören. Tarik al Sudan (Chronik der schwarzen Menschen) ist das Werk von Abd al-Rahman al-Sa’di, das 1653 abgeschlossen wurde, auch wenn es das Datum 1656 trägt. Tarik al-fattah (Chronik der Forscher) wurde von Mahmud b. Mutawakki Ka’ti 1664 geschrieben. Die Bezeichnung ‚arabische Chroniken‘ rührt daher, dass die Manuskripte in Arabisch geschrieben sind und die Autoren arabische Namen tragen. Aber sie sind keine Araber, sondern gehörten zu den städtischen Patriziern der Stadt Timbuktu.7 Sie waren also schwarze Intellektuelle, die allerdings in einem besonderen geistigen Kontext der Is6 Archie Mafeje  : The Role of the Bard in a Contemporary African Community, in  : Journal of Modern African Languages, Vol. 6, Part III, 1967, S. 193. 7 Vgl. Timothy Cleaveland  : Timbuktu and Walala. Lineage and higher education, in  : The meaning of Timbuktu, hg. von Shamil Jeppie und Souleymane Bachir Diagne, Capetown/Dakar 2008.

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lamisierung schrieben. Zu dieser Islamisierung schreibt der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne  : Conversion is not only entering a new religion with its creed, dogma and rituals, [it is] a new self-reappraisal following the adoption of a new cosmology. One visible aspect of conversion has been a radical change in the discourse of identity. This is the case with the Islamized rewriting of certain epics, for example that of Mande.8

Die zwei Chroniken schreiben sich in diesen Versuch der Neu-Selbstverortung in einer Welt mit einer neuen Kosmologie ein. Das erste Zeichen dieses Versuches ist die Übernahme eines arabischen Namens als Autor-Name. Das zweite Zeichen ist die Selbstverfremdung. Damit meine ich einen Prozess, der darin mündet, dass man sich mit den Augen des anderen sieht. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Bezeichnung des Landes und der Menschen  : Bilad al Sudan (Land der schwarzen Menschen). Menschen werden zu Schwarzen, nicht weil sie sich als solche betrachten, sondern weil sie von anderen als solche bezeichnet werden. In dieser Bezeichnung geschieht das, was auf Englisch ‘othering’ genannt wird, d.h. die Tatsache, dass man der andere wird. Dieser Prozess der Anderswerdung setzt immer ein Selbst voraus, das sich als Zentrum, als Eigentlicher konstituiert und das Gegenüber zum anderen macht. In den Chroniken bezeichnen die Mande und die Songhay sich selber als Schwarze, wie sie von den Arabern genannt werden. Auch verschiedene afrikanische Ortsnamen werden arabisiert. Gerade das gehört zu der radikalen Veränderung des Identitätsdiskurses, von dem Souleymane Bachir Diagne spricht. Die Autoren der Chroniken übernehmen nicht nur die Fremdbezeichnung, um sich zu benennen, sie schreiben auch ihre Genealogie und ihre Geschichte neu. Now, in the rewriting of their origins, the Mande present themselves as the descendants of the royalty from Kaybar who converted to Islam after their military defeat. The function of the narrative is quite clear. First, it transforms the conversion of Mande to Islam and its cosmology into an Epic which took place at the very beginning of the Muslim religion, as part of the early Islamic saga in the Arabian Peninsula. Secondly, it legitimizes the mansaya as the continuation of an ancient tradition of royalty in Kaybar (A process of legitimization which is the usual role of myths).9

Die Tarikh-Texte stellen also ein literarisches Genre dar, das versucht, die Geschichte aufgrund einer neu entstandenen politischen Situation, nämlich der marokkanischen Er8 Souleymane Bachir Diagne  : Toward an intellectual history of West Africa. The meaning of Timbuktu, in  : The meaning of Timbuktu, hg. von Shamil Jeppie und Souleymane Bachir Diagne, Capetown/Dakar 2008, S. 24.   9 Ebd.

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oberung von 1591, neu zu ordnen und so zu strukturieren, dass daraus eine Erzählung entsteht, die die neuen Machthaber als Vollender einer geschichtlichen Entwicklung erscheinen lässt, ohne dabei sich selber aus dem Zentrum der Geschichte zu verbannen. Die Genealogie der Mande wird dabei mythisiert. Ihnen werden arabische Ahnen gegeben. Aber gleichzeitig werden ihre Taten als ruhmvoll gepriesen. Wie Paulo F. de Moraes Farias schreibt, “it was a project of reconciliation”10, ein Versuch, die neue Kolonialordnung nicht in Frage zu stellen, aber gleichzeitig sich als Subjekt und nicht nur als Objekt der Geschichte zu präsentieren. Yambo Ouoleguems Vorhaben unterscheidet sich nicht grundsätzlich von diesem Projekt. In Le Devoir de Violence wird die Geschichte des Königreiches Nakem aus einer komplexen Perspektive erzählt. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Autor seinen Roman explizit als Gegenerzählung zu nationalistischen und romantisierenden Perspektiven auf die afrikanische Geschichte organisiert. Daher konzentriert er sein Augenmerk auf Geschehnisse und Fakten, die kein ruhmvolles Bild der Vergangenheit abgeben. Seitenweise wird über Willkür, Grausamkeit aller Sorten wie Versklavung, kaltblütige Ermordungen, Folter, Vergewaltigung, Anthropophagie usw. berichtet. Die Herrscher erscheinen als blutrünstige, heimtückische, rücksichtslose, betrügerische Monster. Manche sind erfolgreich in ihrem Unternehmen der Unterjochung, Ausbeutung oder Plünderung von Dörfern und Städten. Andere scheitern aufgrund von Intrigen oder dem gewaltsamen Eingreifen von Rivalen. Das Volk wird dargestellt als abergläubische und leicht zu manipulierende Masse. Sehr eindeutig wird also aus einer moralischen Perspektive her erzählt. Diese Perspektive wird in dunklen poetischen Worten durch den französischen Bischof Henry zu Beginn des wichtigen letzten Teils angedeutet. Henry erzählt hier von einem Film, den er gesehen hat und dessen Stoff die Geschichte von Nakem gewesen sei. Dieser Film ähnelt in vieler Hinsicht den ersten Teilen von Le Devoir de Violence. Auch wenn der Bischof die Deutung der Geschichte durch den Film nicht teilen mag, stellt seine Rede offensichtlich eine Selbstdeutung des Romans dar. Je regarde l’écran  : tous les moyens sont bons – qui biaisent silencieux, aigus, jamais laïques – exaltant la guerre secrète. Mais pour tous, la force de frappe reste essai sur soi-même bien moins pour exprimer une vision sanglante du monde que pour parvenir à un accord imminent entre la vie et le monde. Ici, ce qui importe, c’est que, toute vibrante soumission inconditionnelle à la volonté de puissance, la violence devienne Illumination prophétique, façon d’interroger et de répondre, dialogue, tension, oscillation, qui de meurtre en meurtre, fasse les possibilités se répondre, se compléter, voire se contredire. Incertitude mais aussi conflit entre le refus de la 10 Paulo de Moraes Farias  : Intellectual Innovation and the Reinvention of the Sahel. The seventeenth century Timbuktu chronicles, in  : The meaning of Timbuktu, hg. von Shamil Jeppie und Souleymane Bachir Diagne, Capetown/Dakar 2008, S. 97.

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décadence et la nostalgie d’une expérience privilégiée où s’impose le souci d’une morale doublée d’une fausse fenêtre ouverte sur le bonheur  : L’âge d’or est pour demain quand tous les salauds crèveront. (199)

Auf diese Deutung kann nicht detailliert eingegangen werden. Hier soll nur auf den ­Dialog hingewiesen werden, der laut Henry in dem Film – und entsprechend auch im Roman – zwischen verschiedenen Perspektiven organisiert wird. Auf der einen Seite eine nostalgische, die auf der Illusion beruht, dass es in der Geschichte eine klare Richtung gibt, nämlich die Erlangung der Freiheit als Wiederherstellung der vergangenen Größe. Auf der anderen Seite eine kritische Perspektive, die die Vergangenheit als Mahnung nimmt für das, was sich in der Zukunft wiederholen kann, und durch ein blutiges Bild zum Nach­ denken über eine Welt einlädt, die nicht wiederhergestellt werden soll. Diese moralische Perspektive wird in einem als afrikanisch erkennbar gemachten Duktus konstruiert. Das Afrikanische des Stils besteht hier in einem bestimmten Rhythmus der Sätze, in einer sentenzartigen Sprechweise und in manchen Ausdrücken, die Sätze eröffnen, unterbrechen und schließen. Dieser Stil ist, wie schon gesagt, dem Muster der Vortragsweise der Griots nachgebildet und simuliert also Mündlichkeit. Eine ähnliche Schreibweise findet sich auch bei dem Schriftsteller Ahmadou Kourouma, der denselben kulturellen Hintergrund wie Yambo Ouologuem hat. Viele Ausdrücke werden in ihrer ursprünglichen Form wiedergegeben und andere werden wortwörtlich ins Französische übersetzt und behalten dadurch einen exotischen, nicht französischen Beiklang. Mit diesem Erzählstil soll suggeriert werden, dass der Roman von einer afrikanischen Perspektive aus erzählt wird. Gleichzeitig flicht der Erzähler von Le Devoir de Violence in seiner Schreibweise Ausdrücke und Bemerkungen ein, die auf eine Außenperspektive hindeuten. Die ersten Zeilen des Romans sind diesbezüglich sehr aufschlussreich. Nos yeux boivent l’éclat du soleil, et, vaincus, s’étonnent de pleurer. Maschallah  ! Oua bismillah  ! … Un récit de l’aventure sanglante de la négraille – honte aux hommes de rien  ! – tiendraient aisément dans la première moitié de ce siècle  ; mais la véritable histoire des Nègres commence beaucoup plus tôt, avec les Saïfs, en l’an 1202 de notre ère dans l’empire africain de Nakem au sud de Fezzan bien après les conquêtes, d’Okha ben Nafi el Fitri. (9)

Der Erzähler beginnt seine Erzählung mit der ersten Person Plural. Ein ‚Wir‘, das man inklusiv oder exklusiv verstehen kann. Auf jeden Fall deutet es auf eine Perspektive, von der aus erzählt wird. Durch die Sprechweise wird diese Perpektive als afrikanisch ausgewiesen. Gleichzeitig wird die Gruppe, deren Geschichte erzählt wird, zunächst durch die Bezeichnung „Négraille“ und durch den Ausdruck „Empire africain“ verfremdet. Ein afrikanisches ‚Wir‘ spricht von sich selbst in der dritten Person. Dieselbe Vorgehensweise haben wir in dem Tarikh-Genre aus dem 17. Jahrhundert festgestellt und Selbstverfremdung genannt.

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In die afrikanischen Perspektiven mischt sich also eine fremde Perspektive. Sie verdankt sich Spuren der Tarikh-Texte, die der Erzähler als eine der Quellen seiner Erzählung angibt. Aber sehr schnell wird deutlich, dass nicht allein diese Texte die fremde Perspektive produzieren. Das Wort „Négraille“ stammt aus den rassistischen Texten der französischen Kolonialliteratur und bezeichnet die Gesamtheit der Neger. Gewiss, entwertende Fremdbezeichnungen wurden oft und zwar unter den Sklaven zu valorisierenden Selbstbezeichnungen umfunktioniert. Das kann man bei Aimé Césaire beobachten. So ist in Martinique bis heute die Bezeichnung ‚Nègre‘ einfach Synonyme für Mann oder Kerl und positiv konnotiert, auch wenn gleichzeitig ein kompliziertes Verhältnis zur Rassenzugehörigkeit, die durch dieses Wort im normalen französischen Gebrauch suggeriert wird, besteht.11 Trotzdem verweist diese Bezeichnung hier deutlich auf eine Fremdperspektive. Dies wird noch klarer in anderen Sätzen. So spricht der Erzähler von „L’une des plus sinistres marques de cette Afrique fantôme“ (22). Diese Bezeichnung verweist auf den berühmten Titel des Buches, das Michel Leiris nach seiner Teilnahme an der durch den Ethnographen Marcel Griaule organisierten Expedition nach West- und Ostafrika 1931 bis 1933 in Paris veröffentlicht.12 Dieses Buch ist ein Reisetagebuch mit ethnographischen Eintragungen sowie ethnologischen und allgemeinen philosophischen Kommentaren. Die Szenen auf die sich der Erzähler von Le Devoir de Violence bezieht, um von Afrika als Phantom zu sprechen, haben nichts mit den Eintragungen von Michel Leiris zu tun. Aber den Titel dieses Buches gebraucht er als Zeichen, um einen bestimmten Diskurs, den er in den eigenen mischt, nämlich den ethnographischen Diskurs, zu markieren. Man findet auch Ausdrücke wie „le nègre n’ayant pas d’âme mais seulement des bras“, oder auch „comme si nègre on eût du véritablement […] n’être que sauvage“ (27). Sie werden alle ohne kritische Distanz einfach als Erzählerkommentar verwendet. Und diese Ausdrücke sind klare Zitate aus dem kolonialen Diskurs. Die Erzählperspektive besteht also aus einem Palimpsest von unterschiedlichen diskursiven Horizonten, die alle auf verschiedene Darstellungsmodi Afrikas verweisen  : Der moralische, von der Gegenwart her bestimmte Horizont, der die Geschichte mahnend und entlarvend überspannt  ; der rassistische, aus den europäischen Diskursen zusammengestellte Horizont  ; der ethnographische, mal positiv, mal negativ kategorisierende Horizont und schließlich ein nationalistischer, die Vergangenheit romantisierender Horizont. Der Roman positioniert sich in einem sich konstituierenden afrikanischen literarischen Feld, wo der letztere Horizont vorherrscht. Daher wird dieser ausdrücklich kritisch behandelt und zwar von dem moralischen Horizont her. Die anderen werden anscheinend unkritisch übernommen. Aber sie treten in Dialog mit weiteren Diskursen, die der Erzähler in den Text einbaut, und zwar dem universalistischen und anthropologischen Diskurs. Sowohl der rassistische als auch der ethnographische Diskurs konstruieren ein partikularisierendes 11 Vgl. die Analyse von Frantz Fanon in Ders.: Peau noire Masque blanc, Paris 1952. 12 Michel Leiris  : L’Afrique fantôme, Paris 1981.

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Bild von Afrika und von Afrikanern. Diese werden in ihrem Unterschied zu anderen Menschen dargestellt. Das ethnographische Paradigma beschreibt Souleymane Bachir Diagne wie folgt  : The mentality of the Africans (their mental activities could not be dignified with a word like ‘thought’) was studied in some continuity with hegelianism given the premise that this mentality was considered to function as the ‘other’ of the reason and the philosophical spirit. Lucien Levy-Bruhl distinguished himself in the enterprise of characterizing the natives’ mentality as foreign to ‘our logic’, ‘our’ rationality and ‘our’ capacity to think and live by a consistent system of sound principles.13

In dem gewohnten europäischen Diskurs wird Afrika also, ähnlich wie der Orient14 als das Andere Europas, mal positiv, mal negativ, auf jeden Fall aber als absolut anders dargestellt. Es dient als Kontrastfolie zur Konstruktion einer partikularen europäischen Identität. In Le Devoir de Violence vermittelt der Erzähler den Eindruck, als übernehme er diese manichäische binäre Konstruktion. Die Darstellung der afrikanischen Vergangenheit erscheint daher zunächst als Bestätigung einer Andersartigkeit der Afrikaner, die sich durch ihre Willkür, ihre Gewalttätigkeit, ihre Grausamkeit und ihre Unmenschlichkeit als eine sonderbare Spezies der Menschheit erweisen. Im Roman erscheint aber kaum ein Gegenbild, das eine andere Spezies der Menschheit kontrastierend abgeben könnte. Der Bischof Henry könnte höchstens als ein solches Gegenmodell betrachtet werden. Aber er ist im Roman eine Ausnahme und keineswegs repräsentativer Typus einer Rasse oder einer wie auch immer definierten Spezies. Die französischen Eroberer und die Kolonialbeamten sind von den Afrikanern in puncto Grausamkeit, Willkür und Unmenschlichkeit nicht verschieden. Ganz konsequent baut also der Autor die Möglichkeit einer kontrastierenden Kategorisierung von Menschen ab, auch wenn er die klassifizierenden rassischen und ethnischen Kategorien verwendet. Dadurch werden die Afrikaner zu normalen, banalen Menschen. Ihre Verhaltensweise und Einstellung verlieren ihre ethnographische Eigentümlichkeit und werden zu menschlichen Eigenschaften. Die Erzählung wird zur Darstellung von allgemein menschlichen Handlungsweisen, auch wenn sie in unterschiedlichen kulturellen Einkleidungen erscheinen. Die Afrikaner werden dadurch, entgegen verschiedenen im Text erscheinenden Diskursen wieder in die Menschheit eingegliedert. Und dabei erscheinen sie weder als bessere noch schlimmere Repräsentanten dieser Menschheit. Sie befinden sich natürlich in der Gegenwart in einer besonderen historischen Situation, aber sie handeln nach Mustern, die weder besonders typisch, noch besonders neu sind. Der Bischof Henry spricht im vorletzten Teil des Romans von dem Saïfen, dem durch die Kolonisation zum Vasallen degradier13 Diagne  : Toward an intellectual history of West Africa, S. 23. 14 Vgl. Edward Said  : Orietalism, London u.a. 1978.

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ten Herrscher von Nakem-Zivko, von dem er weiß, dass er ihn zu töten beabsichtigt und sagt  : „Je vais chez Machiavel ou Judas“ (Ich gehe zu Machiavel oder Judas  ; 196). Damit liefert er zwei mögliche Interpretationsraster des Handelns dieser faszinierenden Figur. Beide Raster machen aus ihm archetypische menschliche Modelle. Er ist Judas, wenn man ihn aus der französischen Perspektive beurteilt. Er ist Machiavelli, wenn man ihn nach der Machtlogik beurteilt. Er beabsichtigt Henry zu töten, genauso wie viele französische Kolonialbeamte und Missionare, die er auf eine so raffinierte Art und Weise umgebracht hat, dass die Kolonialmacht ihn nicht überführen konnte. Er tut es aber nicht einfach aus Lust am Töten, sondern weil diese seine Macht gefährden. Auch Henry gefährdet seine Macht. Der Saïf wird ihn aber am Ende nicht töten. Und dies deutet auf das Ende der Macht-Logik hin. Aber auf jeden Fall handelt er logisch und konsequent, wenn er versucht, seine Macht mit List erfolgreich gegen die Kolonialherren zu verteidigen, die genau wie er selbst vorgehen. In einem Schlussgespräch kommen Henry und der Saïf auf diese Logik zu sprechen. – L’homme est dans l’histoire et l’histoire est dans la politique. Nous sommes déchirés par la politique. Il n’ya ni solidarité ni pureté possible. – L’essentiel c’est de désespérer de la pureté, et de croire qu’on a raison d’en espérer. L’amour n’est pas autre. La politique ne connait pas le but, mais lui forge un prétexte. C’est parce qu’ils sont mauvais forgerons que les régimes s’écroulent. – Mais il faut des maladroits, puisqu’il n’ya peu de politique honnêtement exprimée, ou peu d’honnête expression en politique. (201)

In diesem Gespräch zeigt sich deutlich, dass sich beide genau verstehen. Beide handeln nach einer unerbittlichen Logik der Machtbewahrung und dabei geht keine Partei zimperlich vor, auch wenn der Bischof das moralische Prinzip als einen Horizont, durch den diese Machtlogik durchbrochen werden kann, durchscheinen lässt. Der Saïf ist Machiavelli, das heißt der Inbegriff einer durchdachten, raffinierten und intelligenten Strategie der Machtergreifung, der Machtverteidigung und der Machtkonsolidierung. Das nennt Saïf hier schlicht Politik. Und diese Logik durchzieht die ganze Geschichte der Saïfen und speziell die Geschichte des letzten Herrschers, die im Roman in aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Er verwendet seine ganze Energie und Intelligenz, um in einem Kontext, wo dies alles andere als selbstverständlich geworden ist, ein Herrscher und handlungsfähiges Subjekt zu bleiben. Der Text zeigt sich kritisch gegenüber dieser universalen Neigung, Macht zum Selbstzweck zu erheben und die Autonomie der Herrscher auf Kosten der Autonomie und des Glücks so wie des Lebens anderer Menschen zu realisieren. Aber er erkennt, dass diese Logik keine spezifische Eigenschaft der Saïfen oder der Afrikaner darstellt, sondern ein anthropologisches Muster, das nur durch ein moralisches Prinzip überwunden werden kann. Daher zeichnet er eine Geschichte Afrikas als Kontinuität der Willkür und der Grausamkeit, in der die Kolonisation nur eine der Gestalten ist und die sich

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als solche auch in der postkolonialen Zeit fortsetzen kann, wenn keine Lehre aus ihr gezogen wird. Dadurch, dass Ouologuem diese Geschichte zeichnet sowie die Logik, die dahinter steckt, führt er Afrika noch einmal in die Menschheit zurück, aus der es durch manche eurozentrische Diskurse verbannt worden war. So z.B. in der Philosophie Hegels, wo Afrika als geschichtsloser Kontinent präsentiert wird, der durch Sklaverei und Kolonisation erst in die menschliche Geschichte eingeführt wird. Le Devoir de Violence konstruiert also in mancher Hinsicht einen Gegendiskurs zu europäischen, aber auch zu arabischen Diskursen einer Sonderstellung Afrikas in der Menschheit und schreibt sich daher durchaus in das Programm von Chinua Achebe ein, der die afrikanische Literatur als Wortergreifung von Afrikanern in einem kolonialen und nach­ kolonialen Kontext betrachtet. In seiner Auseinandersetzung mit Conrads Heart of Darkness schreibt Chinua Achebe  : As I said earlier Conrad did not originate the image of Africa which we find in his book. It was and is the dominant image of Africa in the Western imagination and Conrad merely brought the peculiar gifts of his own mind to bear on it. For reasons which can certainly use close psychological inquiry the West seems to suffer deep anxieties about the precariousness of its civilization and to have a need for constant reassurance by comparison with Africa. If Europe, advancing in civilization, could cast a backward glance periodically at Africa trapped in primordial barbarity it could say with faith and feeling  : There go I but for the grace of God. Africa is to Europe as the picture is to Dorian Gray – a carrier onto whom the master unloads his physical and moral deformities so that he may go forward, erect and immaculate.15

Das Bild Afrikas und der Afrikaner, die er in dem Roman von Conrad findet, bezeichnet Achebe als einen Topos, der zu dem Versuch Europas gehört, ein Anderes seiner selbst zu konstruieren, um sich seiner eigenen fortgeschrittenen Humanität und Kultur zu vergewissern. Die Humanität der Afrikaner wird verleugnet, damit die Humanität der Europäer umso offensichtlicher für die Europäer wird. Statt nun die Humanität der Afrikaner nachzuweisen und ein positives Bild Afrikas zu entwerfen, zeichnet Ouloguem ein inhumanes Bild Afrikas, das aber nicht als ein spezifisches und typisches Bild Afrikas präsentiert wird, sondern als das Bild der politischen Rationalität schlechthin, also ein universales Bild. Afrika hört auf, das Andere Europas zu sein und wird einfach zum Spiegelbild der Menschheit.

15 Chinua Achebe  : An Image of Africa. Racism in Conrad’s ‘Heart of Darkness’, nachgedruckt in  : Heart of Darkness. An autoritative Text, backgrounds and sources, criticism, hg. von Robert Kimbrough, New York/ London 1988, S. 251–261, hier 261.

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Unheimliche Begegnungen  : Abenteuerliteratur, Psychoanalyse, Moderne1

Im Folgenden werde ich mich mit der unheimlichen Verspätung befassen  : mit einer Empfindung, die um 1900 europäische und vor allem deutsche Reisende befiel, der Empfindung, zu spät gekommen zu sein, um ein exotisches ‚Fremdes‘ anzutreffen. Auf ihren Reisen in entlegene Länder stießen sie überall auf Teile Europas. Hanns Heinz Ewers zum Beispiel machte sich im Jahre 1911 auf den langen Weg ins ländliche Indien ohne etwas, „was ‚echt‘ indisch ist“, zu entdecken  : Er traf Inder an, die Smokings trugen, ausgezeichnet Englisch sprachen und deutsche Volkslieder auf dem Grammophon spielten.2 Der Held aus Norbert Jacques’ Heisses Land  : Eine Reise nach Brasilien aus dem Jahr 1911 entdeckte, wie wir noch sehen werden, eine Reihe deutscher Kolonien im brasilianischen Regenwald, die alle bereits Namen deutscher Städte trugen. Ebenso beschreibt Stefan Zweig bei seinem Besuch 1909 in der indischen Stadt Gwalior seine frustrierende Suche nach Andersartigkeit  : „der Wanderer sucht immer das andere, das Fremde und wird in Indien nicht Europa wiederfinden wollen“.3 Doch tatsächlich entdeckten deutsche Reisende überall Europa, nicht zuletzt, weil damals die letzten leeren Flecken von der Landkarte verschwanden  : die ehemals weißen Stellen des Nord- und Südpols, die Gipfel des Himalayas und die Gletscher Grönlands waren nun von Flüssen, Pfaden und Bergen bedeckt. Ebenso wurden die Landkarten des Kongos, die einst nur fantastische Zeichnungen von Löwen, Elefanten und Giraffen geziert hatten, durch modernes kartographisches Material ersetzt.4 Dieses Ein- und Anordnen wirkte mit der post-darwinistischen 1 Es handelt sich hier um einen Pilotartikel für mein laufendes, umfangreicheres Projekt Uncanny Encounters zum Verhältnis von Moderne, Psychoanalyse und Abenteuerliteratur. Ich danke der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Canadian Social Sciences and Humanities Research Council für ihre Unterstützung. Teile dieses Artikels erschienen auf Englisch unter dem Titel���������������������������� “Uncanny Encounters. Adventure Literature, Psychoanalysis, and Ethnographic Exhibitions”, in  : Literature and Science/Literatur und Wissenschaft, hg. von Monika Schmitz-Emans und Manfred Schmeling, Würzburg 2008, S. 139–157. Ich danke Maria Euchner für die Übersetzung, Simran Karir für die bibliographische Hilfe, und Hansjörg Bay und Wolfgang Struck für die hilfreiche Kritik der deutschen Version. 2 Hanns Heinz Ewers  : Indien und ich, München 1919, S. 162ff. 3 Stefan Zweig  : Gwalior [1909], in  : Länder, Städte, Landschaften, Frankfurt/M. 1981, S. 69. 4 Zur kartografischen Geschichte Afrikas von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg vgl. Imre Josef Demhardt  : Die Entschleierung Afrikas. Deutsche Kartenbeiträge von August Petermann bis zum Kolonialkartographischen Institut, Gotha/Stuttgart 2000  ; ders.: Kolonialkartographie, in  : Vermessen. Kartographie der Tropen, hg. von Viola König, Berlin 2006, S. 60–65  ; Andreas Nicklisch  : Auf der Suche nach den Nilquellen, ebd. S. 52–59.

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Evolutionstheorie und der Präsenz ‚primitiver‘ Völker in Europa zusammen – was keine Angst vor Andersartigkeit, sondern vor Ähnlichkeit verursachte, und mit ihr eine neue, unheimliche Art und Weise, über diese Ähnlichkeit zu sprechen. Anhand der Untersuchung populärer Reiseliteratur, psycho-philosophischer Theorie und moderner Literatur werde ich aufzeigen, inwiefern diese drei Textsorten eine ähnliche Angst ausdrücken und inwiefern ihre konventionellen Kategorien im Zeitalter des angeblichen Endes der Alterität zerfielen. I. Unheimliche Abenteuer  : Deutsche im Dschungel Jacques’ Reisebuch Heisses Land  : Eine Reise nach Brasilien endet auf eine Art und Weise, die sich am besten als unheimlich beschreiben lässt.5 Nachdem der Protagonist die erforderlichen Aufregungen der Reiseliteratur des Fin de siècle überstanden hat – die stürmische Seefahrt, die Liebesaffäre mit dem schönen, dunkelhäutigen Mädchen, Malaria und die gewalttätige Konfrontation mit den ‚Eingeborenen‘ – beschwert er sich darüber, wie europäisch Brasilien geworden sei. Er wagt sich immer tiefer in den Dschungel, weiter weg von ihm vertrauten Gebieten, und sucht nach den „Grenzen der Welt“.6 Als er sich dem mysteriösen Gebirge nähert, das er „Gebirge des Wunders“ nennt und hinter dem sich „jungfräuliche[s] Land“ verbirgt, sucht er nach den ersehnten ‚Eingeborenen‘.7 Doch stattdessen stößt er, nachdem er sich durch das letzte Dickicht gearbeitet hat, auf Deutsche  : Deutsche, die unter horrenden Umständen – oft am Rande des Todes – in Kolonien leben, die befremdlicherweise „Namen großer deutscher Städte […] Berlin, Hamburg, Bremen, usw.“ tragen.8 Das Herz der brasilianischen Finsternis ist, allem Anschein nach, ein deutsches. Diese unheimliche Erfahrung (in Freuds Worten die unerwartete Rückkehr des „Altbekannten Längstvertrauten“9) gewinnt in den letzten Absätzen des Buches an Intensität, als der Erzähler noch tiefer in den Tropenwald dringt. Er entdeckt eine seltsame alte Kiste, in der sich Schlangenhäute, Tukanfedern und Gürteltierpanzer befinden. Nachdem 5 Heisses Land (ursprünglich Heisse Städte genannt) basiert teilweise auf Jacques’ Reise nach Brasilien im Jahr 1907. Der Text fand allgemeinen Anklang, obwohl er auch avantgardistische Elemente, wie den spieleri­ schen Wechsel zwischen Reisebericht und Roman und zwischen Ich- und Er-Erzählung besitzt. Zeitgenössischen Rezensenten zufolge inspirierte er vor allem jüngere Schriftsteller. Das Buch erfuhr zwölf Auflagen und erhielt 1924 den akkurateren Titel Heisses Land. Vgl. Günther Scholdt  : Der Fall Norbert Jacques. Über Rang und Niedergang eines Erzählers (1889–1954), Stuttgart 1976, S. 172. 6 Norbert Jacques  : Heiße Städte. Eine Reise nach Brasilien, Berlin 1911, S. 205. 7 Ebd., S. 211. 8 Ebd., S. 226. 9 Sigmund Freud  : Das Unheimliche [1919], in  : ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, 10 Bde. und ein Erg.bd., Frankfurt/M. 1969–1975, Bd. 4, S. 244.

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er diese Stück für Stück herausgenommen hat, stößt er zuletzt, ganz unten, auf ein altes Buch mit einem zerfetzten Einband. Das Buch ist auf Deutsch geschrieben.10 Während er es durchblättert, findet er auf der ersten Seite einen durchgestrichenen deutschen Namen. Wie sich herausstellt, war der vorige Besitzer ein „verrückter“ Deutscher, der in den Dschungel gekommen war und sonderbare, langatmige Reden an andere Kolonialisten gehalten hatte, um eines Tages einfach spurlos zu verschwinden.11 Unser gebildeter Protagonist ist von dieser Begegnung mit seinem intellektuellen Doppelgänger – einem deutschen “Mister Kurtz” im finsteren Kern Brasiliens – sowohl bestürzt als auch bewegt, und er sieht vom Buch auf, um auf das Gebirge des Wunders zu starren, von dem ein Dunst „heimliche[n] Blut[es]“ ausgeht. Er behauptet, dieser Dunst sei alles, was „uns“ von denen trennt, „die noch Tiere sind“.12 Da diese Begegnung für die deutsche Abenteuerliteratur zu Beginn des Jahrhunderts paradigmatisch ist, lohnt es sich, sie etwas näher zu betrachten. Zunächst ist da die Begegnung an sich  : die unbehagliche Konfrontation des Protagonisten mit seinem Spiegelbild in einer Welt, die das wundersame, unergründliche Fremde enthalten sollte. Dann kommt die enttäuschte, ja sogar verärgerte Reaktion auf diese überraschende Ähnlichkeit  : der Held verabscheut seine deutschen Vorgänger dafür, dass sie sich „die Jungfernschaft des schönen, alten unberührten Bodens“ genommen und noch mehr dafür, dass sie den Dschungel in „ein verrohtes, kleines Europa“ verwandelt haben. Die Tatsache, dass Deutsche tausende von Meilen reisten, um den Tropenwald in Europa zu verwandeln, zeigt lediglich, dass sie „närrisch“ und „roh“ sind.13 Angesichts dieser frustrierenden Gleichförmigkeit konstruiert der Protagonist letzten Endes die Fantasie eines Fremden, das, von Europäern noch unberührt, auf der anderen Seite des Gebirges des Wunders weilt. Diese Minierzählung – mitsamt dem Unbehagen, der Wut und der sturen Hoffnung – bildet einen exemplarischen Mikrokosmos für meine Hypothese zur deutschen Reiseliteratur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen  : dass sie unheimlich ist. Sie beschreibt den Schock, die Enttäuschung und die melancholische Illusion von Reisenden, die das unheimlich Vertraute dort antrafen, wo sie das spektakulär Fremde erwartet hatten. Auch wenn ich vom ‚frühen zwanzigsten Jahrhundert‘ und der ‚deutschen‘ Literatur spreche, übersehe ich dabei nicht, dass es lange vor der Jahrhundertwende unheimliche Begegnungen gab, und dass Reisende anderer europäischer Nationen solche Erfahrungen ebenfalls dokumentierten. James Clifford beschreibt den „Squanto-Effekt“, als britische 10 Bei dem Buch handelt es sich um Wilhelm Raabes Abu Telfan (1867), das nicht zufällig einen weiteren deutschen Vorgänger in exotischen Gebieten beschreibt  : Leonhard Hagebucher ist soeben von gefährlichen Abenteuern in Afrika zurückgekehrt, einschließlich von elf Jahren Gefangenschaft bei einem Stamm im ‚Tumurkieland‘. 11 Jacques  : Heiße Städte, S. 228. 12 Ebd., S. 229. 13 Ebd., S. 225.

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Pilger 1620 in die erstaunlich wilde Neue Welt reisten (als man den Kiefernduft aus fünfzig Meilen Entfernung wahrnehmen konnte  !)  : Sie stellten fest, dass ihr indianischer Helfer Squanto, der gerade aus England zurückgekehrt war, besser Englisch sprach als viele der Matrosen.14 Ähnlich hat Stephen Greenblatt die unheimlichen Informanten, Unterhändler und Vermittler beschrieben, die in spanischen, britischen und französischen Berichten über die neue Welt aus dem sechzehnten Jahrhundert auftauchen. Doch wie Greenblatt betont, heben diese Vermittler letzten Endes die Haupttrope der Reise­ literatur der Renaissance nicht auf  : die Verwunderung darüber, das Wunderbare zum ersten Mal zu erblicken.15 Wann wird die ‚Verwunderung‘ durch das ersetzt, was ich Unheimlichkeit nenne  ? Der Vorgang ist ein langsamer und voller Überschneidungen  : die Verschiebung beginnt bereits im sechzehnten Jahrhundert mit Cortez  ; beide Phänomene sind in der Romantik von besonderer Bedeutung, und die Verwunderung überlebt die Jahrhundertwende – wenn auch nur als linguistische Illusion, als die Hoffnung, dass ein „Gebirge des Wunders“ noch unberührte ‚Eingeborene‘ birgt. Trotz dieser historischen Ambivalenzen vertrete ich jedoch die Ansicht, dass die Unheimlichkeit gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine bestimmte diskursive Wichtigkeit erhält. Globale Entwicklungen des ausgehenden Jahrhunderts – post-darwinistische Evolutionstheorien, der Anfang der Völkerschauen, der ‚Wettlauf um Afrika‘, die Kongokonferenz und der spätere Wettlauf um die Eroberung des Süd- und Nordpols – verstärkten zwei Hauptströmungen, die die Verwunderung schon seit langem unterminiert hatten. Erstens verstand man nun die nicht-westliche Welt konkret unter einem realpolitischen Aspekt  : als Sphären, die dem Ressourcenerwerb und gnadenlosen nationalen Interessen dienten und nicht als Räume für mögliche wundersame Begegnungen mit Nicht-Europäern. Die allgemein bekannten Gräueltaten des Imperialismus bekräftigten diese Entmystifizierung. Zweitens realisierten die Reisen­den, dass es keinen unberührten Boden mehr gab, selbst wenn diese Einsicht, wie in Heisses Land, zu einer noch stärkeren Sehnsucht danach führte. Abenteurer und Kartographen vermaßen die letzten Grenzen der Erde, und der Durchschnitts­reisende wurde von einer Welt enttäuscht, in der es nichts Neues mehr gab. Wie Ali Behdad zeigt, begann der Reisende sich als tragisch ‚verspätet‘ zu verstehen  : dazu bestimmt, nur dort einzutreffen, wo andere bereits zuvor gewesen waren.16 Doch warum sollte dieses Gefühl von unheimlicher Verspätung vor allem auf deutsch­ sprachige Reisende zutreffen  ? Betrifft es nicht ebenso die Briten oder Franzosen  ? Behdad und Chris Bongie behaupten, die “age of colonial dissolution” sei die Zeit, in der sich alle reisenden Europäer als Nachahmer wahrnahmen (Flaubert in Ägypten, Segalen

14 James Clifford  : Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997, S.18f. 15 Stephen Greenblatt  : Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Chicago 1991, S. 132. 16 Vgl. Ali Behdad  : Belated Travelers. Orientalism in the Age of Colonial Dissolution, Durham 1994, S. 1–17.

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in China, Conrad in Afrika).17 Obwohl dieses allgemeine Empfinden des Zuspätkommens zur Zeit der Jahrhundertwende nicht zu leugnen ist, war dieses Gefühl, auf unheimliche Weise überfällig zu sein, unter deutschsprachigen Reisenden jedoch extremer. Man betrachte einige weitere herausragende Beispiele. Georg Wegener überquert 1900 den „unermeßlichen“ Pazifik und landet schließlich auf Deutsch-Samoa, wo er nicht auf exotische ‚Eingeborene‘ mit ihrem „bunten Gewühl und Geschrei“, sondern auf ordentliche, deutsche Beamte trifft („ein bißchen nüchtern“, wie er meckert).18 Max Dauthendey stößt im Vorkriegs-Mexiko wiederholt auf die Geister spanischer Kolonialverbrechen und auf eine mysteriöse Holländerin, die ihm immer wieder über den Weg läuft.19 Emil Nolde entdeckt, dass die ‚Eingeborenen‘ im Dschungel von Deutsch-Neuguinea 1913 „frisiert“ sind und „fast angezogen wie wir“.20 Nolde gibt den deutschen Kolonialisten die Schuld an dieser Verunreinigung, doch auch den ursprünglichen Tätern – den Briten –, die er für ihre Allgegenwärtigkeit, ihre Sprache (“stores” und “globetrotter”) und für ihre militärischen Gräueltaten tadelt (diese „brutal[en] […] absolute[n] Herrscher“ haben einen Lebensstil „vernichtet“).21 Die anti-britischen Beschimpfungen Noldes sind typisch für den nationalistischen, deutschen Exotismus, dem zufolge die Deutschen die besseren Kolonialisten sind, doch diese Selbstgerechtigkeit lässt sich nicht von der psychologischen Enttäuschung trennen. Nolde leidet am Zuspätkommen und vor allem daran, die Ankunft auf zweiter Ebene zu wiederholen. Wie die meisten Deutschen erreicht er ein Gebiet, das bereits von anderen Deutschen, zuvor aber von den ersten europäischen Abenteurern, zertrampelt worden ist  : von Briten, Portugiesen, Spaniern, Franzosen und Holländern. Dieses doppelte Zuspätkommen verstärkte das ohnehin unbehagliche Gefühl der Wiederholung. Zu diesem historischen Grund kommt ein psycholinguistisches Element hinzu. Wie Freud, und später auch Heidegger, zeigt, ist Deutsch die einzige Sprache, in der das Wort ‚unheimlich‘ einen expliziten Bezug zu ‚Heim‘ hat. Genauer gesagt, entsteht in der dialektischen Beziehung zwischen heimlich und un-heimlich eine unbehagliche Verwirrung des „Zuhause-seins“ und des „Nicht-Zuhause-seins“.22 Diese Sonderbarkeit beginnt mit dem Wort heimlich, das ursprünglich „vertraut“ und „heimisch” bedeutete und erst später die Bedeutung von „versteckt“ und „gefährlich“ annahm.23 Daher bezeichnet heimlich sich selbst und gleichzeitig sein Gegenteil, was Freud zur Bemerkung veranlasste, unheimlich 17 Zu Flaubert vgl. ebd, S. 53–72  ; zu Segalen und Conrad vgl. Chris Bongie  : Exotic Memories. Literature, Colonialism, and the Fin de Siècle, Stanford 1991, S. 107–143 bzw. 33–46 und 144–187. 18 Georg Wegener  : Der Zaubermantel. Erinnerungen eines Weltreisenden, Leipzig 1922 [1919], S. 126, 135, 136. 19 Max Dauthendey  : Raubmenschen, Berlin/Darmstadt 1951, S. 113f., 130, 277–81. 20 Emil Nolde  : Welt und Heimat. Die Südseereise. 1913–1918, Köln 1965, S. 91. 21 Ebd., S. 57, 119, 89. 22 Martin Heidegger  : Sein und Zeit, in  : Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt/M. 1977 [1927], S. 250f. 23 Freud  : Das Unheimliche, S. 244, 250.

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sei „irgendwie eine Art von heimlich“.24 Weil heimlich seine Umkehrung in sich trägt, könnte man sagen, dass es ein fremdes und geheimnisvolles, also ein unheimliches Lexem ist. Es könnte gut sein, so meine These, dass Deutschsprechende aus diesem Grund eher auf die unbehagliche Situation des Reisens um die Jahrhundertwende eingestellt waren – sei es bewusst oder unbewusst. Diese Besonderheit der deutschen Diktion deutet an, warum der Held aus Heisses Land das Gebirge des Wunders nicht überquert, um die ersehnten ‚Eingeborenen‘ aufzusuchen  : er fürchtet, das „heimliche[ ] Blut“ auf der anderen Seite sei nicht nur ‚versteckt‘ und ‚gefährlich‘, sondern auch ‚heimisch‘ und ‚vertraut‘. Letztendlich wagt er die Überquerung nicht und das Buch endet an dieser Stelle. II. Unheimliche Theorien  : Freud, der Wilde So wie der Diskurs über die Unheimlichkeit des Reisens sich nur langsam über Jahrhunderte entfaltete, so dauerte auch die Konzeptualisierung des Unheimlichen. Die Unheimlichkeit wurde erst nach der Aufklärung theoretisch möglich, insbesondere nach Descartes’ Versuch, eine irrationale Welt auszuklammern, die in ihrer Fremdheit die Fähigkeit des modernen Subjekts, logisch zu denken, beeinträchtigt.25 Letztendlich gelingt es Descartes nicht, einen vertrauteren Kosmos zu schaffen. Eher konstruiert er, wie viele der ihm folgenden Aufklärer, eine fragwürdige Differenzierung zwischen Geist und Körper – zwischen Ich und Nicht-Ich. Ähnlich versucht John Locke einen Horizont zu konstruieren, der ein für alle Mal die “bounds between the enlightened and dark parts of things” festlegen sollte.26 Doch da solch eine Grenze unhaltbar ist, schafft sie nur ein unmögliches Verbot, das letzten Endes die Macht der Fremdheit verstärkt, die Descartes abzuschaffen versucht hatte. Das Fremde und das Vertraute vermischen sich unweigerlich, was unzulässig, unnatürlich – und daher signifikant – zu sein scheint. Der Anlass für das Unheimliche ist geboren. Die Aufklärung produziert also die philosophischen Umstände des Unheimlichen, doch der Begriff ‚unheimlich‘ nimmt seine moderne Bedeutung erst zur Wende des neunzehnten Jahrhunderts an. Grimms Wörterbuch verzeichnet den ersten Gebrauch von „unheimlich“ im Sinne von „schauerlich“ und „grauenvoll“ um 1800.27 Kurz darauf, in den 1830er Jahren, begannen deutschsprachige Denker, allen voran Schelling, das Un24 Ebd., S. 250. 25 Vgl. Samuel Weber  : The Legend of Freud, erweiterte Auflage, Stanford 2000, S. 20  ; sowie Greenblatt (Marvelous Possessions, S. 19), für den Descartes “the endpoint of the mental world of the early modern voyagers and the inception of a different and more familiar world” markiert. 26 John Locke  : An Essay Concerning Human Understanding, London o. J. [1689], S. 4 (Book I, Chapter I [“Introduction”], Section 7)  ; vgl. Terry Castle  : The Female Thermometer. Eighteenth-Century Culture and the Invention of the Uncanny, Oxford 1995, S. 9. 27 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm  : Deutsches Wörterbuch, Bd. 24, München 1984, S. 1057.

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heimliche zu theoretisieren. Schellings Definition des Unheimlichen als „alles was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist [sic]“, erinnert an die Visionen E.T.A. Hoffmanns und anderer Romantiker von etwas Schrecklichem, das unter der aufgeklärten Oberfläche Europas lauert, obwohl Schelling ganz unromantisch dafür plädierte, das Unheimliche solle wahrlich unterdrückt werden.28 Etwas später stellte Karl Marx dar, wie der Kapitalismus durch die Verhüllung von zwei unheimlichen – unsichtbaren, doch spukhaft gegenwärtigen – Entitäten, nämlich ‚Waren‘ und ‚Kapital‘, gedeiht. Wie Samuel Weber zeigt, beschreibt Marx Waren als „sinnlich übersinnliche“, „phantasmagorische“ Dinge und Kapital als „verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmässig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“29 Und schließlich proklamierte Nietzsche, der Nihilismus sei der „unheimlichste aller Gäste“ – ein Ausruf, mit dem später sein Wille zur Macht beginnen sollte.30 Diese Bemerkungen aus dem neunzehnten Jahrhundert waren unsystematisch, und man konnte noch nicht vom Begriff des ‚Unheimlichen‘ sprechen. Der Prozess der Theoretisierung gewann erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts entscheidend an Boden als 1906 der Psychiater Ernst Jentsch die Wichtigkeit des ‚Unheimlichen‘ für die frühe Psychoanalyse entdeckte. Unheimlichkeit sei ein Gefühl „psychische[r] Unsicherheit“  : darüber, zum Beispiel, ob die Gegenstände um uns herum beseelt oder entseelt sind.31 28 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling  : Philosophie der Mythologie (1842), in  : Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, 5. Ergänzungsband, München 1959, S. 515. Für Schelling musste das Unheimliche als erster Schritt zur proto-nietzscheanischen Wiedergeburt antiker Lyrik überwunden werden. Homer war nur möglich, „nachdem die Gewalt jenes unheimlichen Princips [sic], das in den früheren Religionen herrschte, in dem Mysterium niedergeschlagen war“ (S. 515). Dieser selten zitierte Satz aus der Philosophie der Mythologie folgt unmittelbar auf den berühmten von Freud zitierten. Anthony Vidler ist einer der wenigen Kritiker, die diesen umfassenderen Kontext der Philosophie der Mythologie erläutern, doch entwickelt er den Konflikt zwischen Schellingscher Unterdrückung und romantischer Freudscher Aufdeckung nicht und schließt unrichtigerweise, Schelling “summarize[s] the idea of unheimlich as evoked by the romantics” (Anthony Vidler  : The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely, Cambridge 1992, S. 26–27). Die zu Schellings Lebzeiten unveröffentlichte Philosophie der Mythologie entstammt einer Reihe von Vorlesungen, die er zunächst in München hielt, irgendwann nach seinem Aufenthalt 1820–27 in Erlangen und vor seinem Umzug 1841 nach Berlin (Bruno Jahn [Hg.]  : Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, München 2001, S. 365). 29 Karl Marx/Friedrich Engels  : Das Kapital, Bd. 1, in  : Marx/Engels  : Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 86, 247. Weber verlangt am Ende seines Buches nach einer Untersuchung des “historical status” des Unheimlichen (Weber  : Legend of Freud, S. 234), doch übernimmt er diese Aufgabe nicht selbst, wie ich es hier tue. Für eine kurze historische und politische Einordnung des Unheimlichen siehe Vidlers “Introduction”. Zu Marx und dem Unheimlichen vgl. auch Jeffrey Mehlman  : Revolution and Repetition. Marx/Hugo/Balzac, Berkeley 1977, S. 8 und Nicholas Royle  : The Uncanny, New York 2003, S. 4. 30 Friedrich Nietzsche  : Nachgelassene Fragmente (Herbst 1885-Herbst 1887), in  : Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 8.1, Berlin 1974, S. 123. 31 Freud paraphrasiert Jentschs „psychische Unsicherheit“ (Ernst Jentsch  : Zur Psychologie des Unheimlichen,

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1927 behauptete Heidegger, das moderne Leben selbst sei durch eine unheimliche Unsesshaftigkeit gekennzeichnet, durch ein „Un-zuhause“-sein  : „In der Angst ist einem ‚unheimlich‘“.32 Zwischen diesen beiden Untersuchungen publizierte Freud seine berühmte Abhandlung über Das Unheimliche. Er begann mit der Ambivalenz, die dem Wort ‚heimlich‘ innewohnt, und unterminierte – wie Jentsch und Heidegger – die kartesische Trennung zwischen dem Fremden und dem Vertrauten. Innerhalb des ‚Heimlichen‘ geistert das ‚nicht Heimische‘ im ,Heimischen‘ herum und umgekehrt. Doch während sich Jentsch und Heidegger auf die Fremdheit des Unheimlichen konzentrierten – auf die Überschreitung der „Grenze des Heimischen“33 – bestand Freud auf dem Heimischen des Unheimlichen, auf der drückenden Vertrautheit, die „im Verborgenen bleiben sollte“. Begriffliche Untersuchungen über das Unheimliche waren daher bereits im Gange, als deutsche Reisende begannen, über unheimliche Begegnungen in entlegenen Ländern zu schreiben  ; doch die Idee wurde mitnichten befriedigend formuliert, und es wäre falsch zu behaupten, ein philosophischer Diskurs des Unheimlichen hätte diese Abenteuergeschichten vorgeschrieben. Es ist genauso gut möglich, dass das Gegenteil ebenfalls zutraf  : dass die immer wiederkehrenden Berichte unheimlicher Begegnungen – in Verbindung mit vielen weiteren Faktoren – die neuen Ansätze von Jentsch, Freud und Heidegger hervorriefen.34 Unheimlichkeit entspringt aus zwei intellektuellen Schlagworten der Moderne  : Entfremdung, erzeugt durch die Industrialisierung des Arbeitsplatzes und die Massenmigration vom Land in die Stadt, und Heimatlosigkeit, entstanden durch Kriege und eine zunehmend ungleiche Vermögensverteilung.35 Und auch die Angst vor fremd-vertrauten Dingen, die von „kolonialen Abenteurern“ mitgebracht worden waren, hätte zur Wucherung der unheimlichen Theorien um 1900 beitragen können.36 Man betrachte beispielsweise Freuds Gebrauch einer populären exotistischen Quelle für seine eigene Theoretisierung des Unheimlichen. Freud stieß auf eine Geschichte aus dem englischen Strand Magazine aus dem Jahr 1917, die, trotz der Tatsache, dass sie „eine recht einfältige Geschichte“ war, doch eine „unheimliche Wirkung“ hatte, die „ganz hervorragend“ war.37 Die Geschichte mit dem Titel The Inexplicable stellt Geschöpfe aus den in  : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 8, 1906, S.  196) als „intellektuelle Unsicherheit“ (Freud  : Das Unheimliche, S. 256). 32 Heidegger  : Sein und Zeit, S. 250f. 33 Martin Heidegger  : Einleitung in die Metaphysik, Tübingen 1976. Basierend auf den Vorträgen von 1935, S. 116. 34 Ähnlich argumentiert Greenblatt im Blick auf den Diskurs der „Verwunderung“ während des Zeitalters der europäischen Expansion  : die anfänglichen philosophischen Konzeptualisierungen vermengen sich mit Reiseberichten aus der neuen Welt (Marvellous Possessions, S. 19). 35 Vgl. Vidler  : Architectural Uncanny, S. 9. 36 Allan Lloyd Smith  : The Phantoms of Drood and Rebecca. The Uncanny Reencountered through Abraham and Torok’s ‘Cryptonomy’, in  : Poetics Today 13, 1992, S. 284. 37 Freud  : Das Unheimliche, S. 267.

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fernen Winkeln der britischen und deutschen Kaiserreiche dar – der neuguineischen Sümpfe –, die das Zuhause eines frisch vermählten Ehepaars in einem Londoner Vorort heimsuchen  : „loathly monsters“ kriechen in die „very unromantic“ Welt von „119 Glaze­ brook Terrace“.38 In der entgegengesetzten Richtung – die der Logik der Unheimlichkeit zufolge jedoch dieselbe ist – betrachte man Freuds Definition des „Unheimlichen“ als „eine unbeabsichtigte Wiederholung“39, veranschaulicht durch die Reise in ein Land, das sich, wie in Heisses Land, als erschreckend erkennbar entpuppt  : Ein Mann träumt „von einer Örtlichkeit oder Landschaft […]“ und sagt sich  : „Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal.“40 Auf ähnliche Weise beschreibt Freud das ‚Unheimliche‘ als eine persönliche Reise in ein unerwartet vertrautes Gebiet  : auf seiner „Entdeckungsreise“ in einer ihm unbekannten italienischen Stadt verirrt er sich, um auf Umwegen immer zur selben Stelle zurückzukehren.41 Tatsächlich strukturiert er seinen gesamten Aufsatz als solch eine exotische Wiederkehr. Indem er eine Art Brief verfasst, den er aus einem „abseits liegende[n]“ „Gebiet“ schickt42, wiederholt Freud auf intellektueller Ebene sein eigenes Reiseerlebnis in Italien  : immer wieder kehrt er zu den Ideen zurück, die ihm keine Ruhe lassen – Verdrängung, Kastration, Animismus, intellektuelle Unsicherheit, Wiederholungszwang und Todestrieb. Freuds Verbindung des Unheimlichen mit dem exotischen Reisen reicht bis auf Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker zurück. Totem und Tabu wurde 1911 verfasst (im selben Jahr wurde Heisses Land veröffentlicht) und stellt Freuds anfängliche Entwicklung des Begriffs ‚unheimlich‘ vor.43 Hier verbindet Freud seine Reisemetapher mit der Figur des Wilden, der unheimlich scheint, weil er uns unerwartet an etwas Altes und längst Vertrautes erinnert, das wir vergessen haben  : an den Urmenschen, von dem wir alle abstammen, mitsamt seinen „abergläubischen Erwartungen“ und seiner „animistische[n] Denkweise“.44 Die Wilden scheinen „unser“ unzivilisiertes Gegenüber zu sein, doch wie Freud in Das Unheimliche bekräftigt, repräsentieren sie eigentlich „unsere primitiven Urahnen“.45 Freuds Idee ist nicht neu  ; sie stammt aus 38 L. G. Moberly  : The Inexplicable, in  : Strand Magazine 54, Nr. 324, Dezember 1917, S. 578, 572. 39 Freud  : Das Unheimliche, S. 160. 40 Ebd., S. 267. 41 Ebd., S. 260. 42 Ebd., S. 243. 43 Freud erwähnt das Unheimliche beiläufig in einigen frühen Werken – einschließlich von Die Traumdeu­tung (1900), Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909, der „Rattenmann“) und Eine Kindheitserinnerung des Leonardo Da Vinci (1910) – doch beginnt er erst in Totem und Tabu, wo er sich Gedanken zu den früheren Einblicken des Rattenmanns macht, es als kritischen Terminus zu entwickeln. 44 Sigmund Freud  : Totem und Tabu [1912/13], in  : Studienausgabe, Bd. 9, S. 374. 45 Freud  : Das Unheimliche, S. 270. Freud behauptete 1919, er grabe eine frühere Version von Das Unheimliche aus, um diese zu revidieren. Obwohl sich das genaue Entstehungsdatum nicht feststellen lässt, lassen die zwei Verweise auf Totem und Tabu in Das Unheimliche darauf schließen, dass Freud Das Unheimliche bereits

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der post-darwinistischen Kulturethnographie seiner Zeit, vor allem der ‚vergleichenden Methode‘, der zufolge sich alle Völker auf derselben Evolutionsbahn in Richtung der europäischen Zivilisation bewegen. ‚Primitive‘ sind unheimlich gegenwärtig und vergangen zugleich  : sowohl zeitgenössische Wilde in Australien, als auch „unsere“ eigenen europäischen Vorväter. Darüber hinaus behauptete die für Freud entscheidende ‚Rekapitulationstheorie‘, die Ontogenese rekapituliere die Phylogenese  ; das heißt der einzelne Organismus wiederhole in seiner persönlichen Entwicklung die Evolutionsgeschichte der gesamten Spezies.46 So wie die Gesellschaft von der Unzivilisiertheit zur Barbarei und dann zur Zivilisation vorangeschritten ist, so entwickelten sich auch Kinder von der Kindheit zur Jugend und hin zum Erwachsenendasein. Indem man zeitliche und räumliche Alterität miteinander vermischte, wurden die Primitiven von diesen Theorien doppelt unheimlich gemacht  : Geister, die in den europäischen Vorfahren und in den europäischen Kindern herumspukten.47 Dieser unheimliche Geist existierte nicht nur in wissenschaftlichen Büchern. Ab 1870 zogen viele Völkerschauen durch Europa. Zwischen 1870 und 1910 gab es beispielsweise in Wien mindestens 50 solcher Ausstellungen, die die Titelblätter der Wiener Zeitungen dominierten.48 Am bemerkenswertesten war die berühmte Aschanti-Schau 1896 im Pra1913, zeitgleich mit der Veröffentlichung von Totem und Tabu, begonnen hatte (vgl. Freud  : Das Unheimliche, S. 242). 46 Zur “comparative method” und der Theorie der “recapitulation” vgl. George Stocking  : Victorian Anthropology, New York 1987, S. 150–85 bzw. S. 219 und 228f.; zu deren Bedeutung für Freud vgl. Celia Brickman  : Aboriginal Populations in the Mind. Race and Primitivity in Psychoanalysis, New York 2003, S. 44–80. 47 Hier zeigt sich die Unheimlichkeit, die der Verleugnung der “coevalness” in Bezug auf “primitives” im Europa des neunzehnten Jahrhunderts innewohnt (vgl. Johannes Fabian  : Time and the Other. How Anthropology Makes Its Objects, New York 1983, S. 25–69, 156–65). Indem er zugleich der Vergangenheit und der Gegenwart angehört, rächt sich der Wilde in Gestalt eines Geistes. 48 Werner Michael Schwarz  : Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870–1910, Wien 2001, S.  16. Zu einer detaillierten Untersuchung von Völkerschauen im Wien jener Zeit, vgl. Schwarz’ gesamtes Buch. Zu den Autoren der zunehmenden Sekundärliteratur über deutsche und österreichische Völkerschauen im Fin de siècle gehören Hilke Thode-Arora  : Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen. Frankfurt/M. 1989  ; Ian Foster  : Peter Altenberg und das Fremde, in  : Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne, hg. von Anne Fuchs, Theo Harden und Eva Juhl, Heidelberg 1995, S.  333–342  ; Gabi Eißenberger  : Entführt, verspottet und gestorben. Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos, Frankfurt/M. 1996  ; Eric Ames  : From the Exotic to the Everyday. The Ethnographic Exhibition in Germany, in  : The Nineteenth-Century Visual Culture Reader, hg. von Vanessa R. Schwartz und Jeannine M. Przyblyski, New York 2004, S.  313–327  ; Stephan Besser  : Schauspiel der Scham. Juli 1896. Peter Altenberg gesellt sich im Wiener Tiergarten zu den Aschanti, in  : Mit Deutschland um die Welt, hg. von Alexander Honold und Klaus Scherpe, Stuttgart 2004, S.  200–208  ; Nana Badenberg  : Zwischen Kairo und Alt-Berlin. Sommer 1896. Die deutschen Kolonien als Ware und Werbung auf der GewerbeAusstellung in Treptow, in  : ­Honold/Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, S. 190–199  ; Markus Joch  : Halbwilder Westen. Juni 1905. Buffalo Bill reitet im Groschenheft, in  : Honold/Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, S. 320–28  ; Anne Dreesbach  : Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung ‚exo-

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ter, als der vierzigjährige Freud Patienten in der nahe gelegenen Berggasse empfing. Von der Westküste Afrikas nach Wien gebracht, lockten 70 Aschanti-Männer, -Frauen und -Kinder drei Monate lang Rekordbesucherzahlen an. Die Zeitungen proklamierten ein regelrechtes „Aschanti-Fieber“.49 Doch immer wieder beobachteten Besucher, dass die Wilden alles andere als primitiv waren. Die Aschanti sollten Wilde spielen, wie eine Frau in einem Gemisch aus Englisch und Deutsch beklagte  : „Wilde müssen wir vorstellen, Herr, Afrikaner. Ganz närrisch ist es. In Afrika könnten wir so nicht sein. Alle würden lachen […] Quite foolish. Man wünscht es, dass wir Thiere vorstellen.“50 Besucher der Berliner Kolonialausstellung im Sommer 1896 bemerkten auch, dass die Primitiven auf unheimliche Weise wie „wir“ waren  : über die Hälfte waren Christen und viele sprachen ausgezeichnet Deutsch, darunter ein Samuel Garber, der Berlinerisch perfekt beherrschte.51 In ihrer Freizeit sangen sie oft deutsche Volkslieder, wie „Die Wacht am Rhein“, und äfften das Publikum nach, indem sie sich unsichtbare Monokel aufsetzten und mit Gehstöcken umherstolzierten.52 Viele Afrikaner blieben später in Berlin  ; zum Beispiel Martin Dibobe, der als Zugführer der U-Bahn Linie 1 tätig war und daraufhin als europäisierter „Hosen-nigger“ beschimpft wurde.53 Dasselbe Problem von Überzivilisierung durchdrang die Indianerausstellungen, die seit der Zeit, als Karl May in den 1870er Jahren in Dresden zum ersten Mal eine sah, durch Deutschland zogen.54 Den Indianern, die problemlos Englisch sprachen, musste oft „ein indianisches Betragen“ beigebracht werden  : Die Männer wurden im Pfeil-und-Bogen-Gebrauch unterrichtet, die Frauen im Sticken und die Kinder im „primitive[n] Familienleben.“ Viele Besucher – wie Jacques’ Held aus Heisses Land – waren von diesem Mangel an Authentizität enttäuscht, vor allem, wenn aufgrund des Mangels an ‚echten‘ Indianern „kostümierte Deutsche“ ihre Rolle

tischer‘ Menschen in Deutschland, 1870–1940, Frankfurt/M. 2005  ; Volker Mergenthaler  : Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936), Tübingen 2005  ; David Kim  : The Task of the Loving Translator. Translation, Völkerschauen, and Colonial Ambivalence in Peter Altenberg’s ‚Ashantee‘ (1897), in  : Transit 2.1, 2006, Aufsatz 60404  ; Eric Ames  : Carl Hagenbeck’s Empire of Entertainments, Seattle 2009. 49 R[obert] F[ranceschini]  : Das Aschanti-Fieber, in  : Neues Wiener Tagblatt, 276, 7 Oktober 1896, S. 1–3. 50 Peter Altenberg  : Ashantee, Berlin 1897, S. 14. 51 Amtlicher Bericht über die erste Deutsche Kolonial-Ausstellung (Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896), hg. vom Arbeitsausschuß der Deutschen Kolonial-Ausstellung, Redaktion  : Gustav Meinecke. Berlin 1897, S. 213  ; zitiert in Badenberg  : Zwischen Kairo, S. 194. 52 Amtlicher Bericht, S. 37f.; zitiert in Badenberg  : Zwischen Kairo, S. 197. 53 Zu Martin Dibobe, vgl. Paulette Reed-Anderson  : Rewriting the Footnotes. Berlin and the African Diaspora, Berlin 2000, S. 47ff.; Badenberg  : Zwischen Kairo, S. 197f. 54 May schrieb seine sagenhaft populären Indianergeschichten, ohne in Amerika gewesen zu sein, was er erst spät in seinem Leben (1908) nachholte. Zuvor hatte er Indianer nur bei den Völkerschauen des Dresdner Zoos nach 1874 und in den Sioux-Indianerschauen von Buffalo Bill 1890 und 1906 gesehen ( Joch  : Halbwilder Westen, S. 327).

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übernahmen.55 Ein fünfjähriger Junge beklagte sich bei Buffalo Bill Codys ‚Wild West‘Indianerschau 1906 in Wien darüber, dass das ganze nur ein „Theater“ sei.56 Im Rahmen dieser ethnographischen Theorien und populären Schauen entwickelte Freud seine Idee des unheimlichen Wilden. Einst längst vergessen (unsere toten „Ur­ ahnen“) und doch überraschend präsent (im Wiener Prater und in unseren Psychen), wurde der primitive Mensch für Freud mehr als nur ein unheimliches Beispiel unter vielen  : er wurde zur unheimlichen Figur par excellence. Freud zufolge tragen alle Europäer das Unzivilisierte nach wie vor in sich, was sich anhand ihrer täglichen Begegnungen mit dem Unheimlichen beweisen lässt  : sie sind nicht in der Lage, die magische Denkweise, die so typisch für die „Primitiven“ ist, zu überwinden.57 Freud geht sogar so weit, diese Unzivilisiertheit im Unbewussten selbst zu sehen, wenn er es als „psychische Urbevölkerung“ bezeichnet.58 Auch wenn Freud die „Primitiven“ zweifelsohne auf einer niedrigeren Evolutionsstufe ansiedelt, platzierten ihn seine Theorien ins Lager der evolutionären Universalisten, die den Wilden geistige Tätigkeiten zusprachen, die „unseren“ eigenen sehr ähnelten, und die Primitivität als Teil der psychischen Zusammensetzung Europas betrachteten. Aus diesem Grund hielt Freud in Totem und Tabu fest, dass er Kritik erwarte  : er setze sich dem Vorwurf aus, „dass wir den heutigen Wilden eine Feinheit der seelischen Tätigkeiten zumuten, die weit über die Wahrscheinlichkeit hinausgeht“.59 Anhand von Freuds Präventivverteidigung sieht man die aufkommende politische Wirkung des unheimlichen Wilden. Der verwestlichte „Primitive“ war mehr als nur eine Metapher für die Wiederkehr des Verdrängten  ; er brachte Europas sorgfältig konstruierte Beziehung zum ‚Fremden‘ ins Wanken. Der Wilde kam nahe genug an die ‚Zivilisation‘ heran, um sie in Schrecken zu versetzen.

55 Diese Zitate beziehen sich auf die „Wild-West-Show“ des Zirkus Sarrasani aus dem Jahre 1926 (ThodeArora  : Fünfzig Pfennig, S. 29). Zu den früheren „Buffalo Bill“-Indianerschauen der Jahre 1890 und 1906, vgl. Ebd., S. 22–27  ; Schwarz  : Anthropologische Spektakel, S. 205–222  ; Joch  : Halbwilder Westen. 56 Illustriertes Wiener Extrablatt, 144, 26 Mai 1906, S. 8f.; zitiert in Schwarz  : Anthropologische Spektakel, S. 218. 57 Freud  : Das Unheimliche, S. 263. Freud legt in Totem und Tabu erstmals dar, dass die „unheimlichen“ Gefühle des modernen Menschen von seinem verkümmerten, primitiven Glauben an den „Animismus“ und an die „Allmacht der Gedanken“ herrühren (Totem und Tabu, S. 374). In Das Unheimliche führt Freud diese Behauptung weiter aus  : „Unheimlichkeit“ entsteht, wenn wir versehentlich über die primitiven „Reste animistischer Seelentätigkeit“ stolpern (Das Unheimliche, S. 263  ; vgl. auch 258, 270). 58 Sigmund Freud  : Das Unbewußte [1915], in  : Studienausgabe, Bd. 3, S. 154. Zu den philosophischen Vorgängern dieses „wilden“ Freudschen Unheimlichen aus dem neunzehnten Jahrhundert gehört besonders Jean Paul, der das Unbewusste als „dieses wahre innere Afrika“ bezeichnete ( Jean Paul  : Selina, in  : Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 2. Abteilung, Bd IV, Weimar 1934, S. 291). Vgl. Ludger Lütkehaus (Hg.)  : „Dieses wahre innere Afrika“. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Gießen 2005. S. 7–45. 59 Freud  : Totem und Tabu, S. 150.

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Doch Freud bekam wahrscheinlich selbst einen unheimlichen Schrecken. Im Wien Freuds konvergierten die koloniale und antisemitische Rhetorik, wo Juden, die „Neger Europas“, in der ethnologischen Literatur immer wieder als schwarz oder dunkelhäutig bezeichnet wurden  : als „Afrikaner“, „Mulatten“, „jüdisch-negroid“ und als Mitglieder einer „dunkelhäutigen Mischlingsrasse“.60 Diese Stereotypisierung wurde beispielhaft in der rechtsgerichteten Berichterstattung der Aschanti-Schau demonstriert, als eine satirische Wiener Zeitschrift den „leicht aufzeiglich[en]“ Vergleich zwischen den „Fetischtänze[n] der Aschanti-Wilden“ und den orthodoxen Ritualen der im benachbarten Leopoldstädter Ghetto lebenden Juden bemerkte.61 Diese Verwandtschaft zwischen Juden und Wilden beunruhigte viele bereits assimilierte Juden im zunehmend antisemitischen Wien, was dazu führte, dass sie sich von den Ostjuden noch mehr distanzierten – auch wenn sie, wie Freud, selbst Ostjuden aus Leopoldstadt waren.62 Dieses Bild des Juden als Wilder dürfte Freuds Angsterfahrung, die er sonst bei anderen diagnostizierte, intensiviert haben  : die „Primitiven“ waren allen Europäern unheimlich ähnlich, den Juden aber besonders. Wie Freud einige Jahre nach der Aschanti-Schau schrieb, betrachtete er sich eher als „Abenteurer“ denn als Wissenschaftler63  ; wie der Held aus Heisses Land drang er in exotisches „Neuland“, um dort einen Wilden zu finden, der dem ‚schwarzhaarigen‘ Arzt, der gekommen war, um ihn zu untersuchen, bestürzend ähnlich sah.64

60 Sander Gilman  : Freud, Race, and Gender, Princeton 1993, S.  19–22  ; Daniel Boyarin  : What does a Jew want  ? or, The political Meaning of the Phallus, in  : The Psychoanalysis of Race, hg. von Christopher Lane, New York 1998, S. 220  ; Sander Gilman  : The Case of Sigmund Freud. Medicine and Identity at the Fin de Siècle, Baltimore 1993, S. 13  ; ders.: Inscribing the Other, Lincoln 1991, S. 21. Vgl. Brickman  : Aboriginal Population, S. 163. 61 Kikeriki, 8. Okt. 1896  ; vgl. Foster  : Peter Altenberg, S. 340  ; Besser  : Schauspiel, S. 201. 62 Zum Ostjuden als “primitive” und “barbarian” vgl. Sander Gilman  : Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, S. 99, 270–86. Vgl. außerdem Dennis B. Klein  : Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement, New York 1981, Kapitel 1 und 2, vor allem S. 12f. und S. 16–18 (zur Einstellung der Wiener Juden zu den ‚Ostjuden‘) und S. 48–55 (zu Freuds Einstellung zu den ‚Ostjuden‘). Klein schreibt  : “Jews already living in Vienna […] began to feel the uncomfortable pressure of association, especially if they were living in or near the refuge quarters of the Leopoldstadt. From this point on [the 1870s] Jews resented the unassimilated Ostjud ” (S. 12). 63 Sigmund Freud  : Briefe an Wilhelm Fliess, 1874–1904, hg. von Jeffrey Moussaieff Mason, Frankfurt/M. 1986, S. 237. 64 Sigmund Freud  : Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933], in  : Studienausgabe, Bd. 13, S. 451. Während seiner Selbstanalyse erinnert sich Freud an seine junge Mutter, die ihn als „einen kleinen Mohren“ bezeichnete, da er „soviel wirres schwarzes Haar“ hatte (Freud  : Die Traumdeutung [1919], in  : Studienausgabe, Bd. 2, S. 333). Vielleicht beschreibt Freud den Schreibprozess von Totem und Tabu 1911 deshalb als ‚unheimlich‘ (Sigmund Freud/C. G. Jung  : Briefwechsel, hg. von William McGuire und Wolfgang Sauerländer, Frankfurt/M. 1974, S. 483f.).

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III. Unheimliche Literatur  : Hesse in Indien Freud und Jacques sind also beide fasziniert von der Entdeckung, dass sich Europäer und Primitive näher stehen als zunächst vermutet. Die Ähnlichkeit dieses Anliegens in Jacques’ populärem und dennoch theoretischem Reiseroman und in Freuds wissenschaftlichem und dennoch literarischem Aufsatz ist bemerkenswert. Die beiden Gattungen kehren ständig zur selben Stelle zurück und belegen somit die diskursive Wichtigkeit der Unheimlichkeit und darüber hinaus ihren Effekt auf die Gattungen selbst  : Abenteuerliteratur und Psychoanalyse beginnen einander zu ähneln. Die sogenannte ‚hohe‘ moderne Literatur teilt diese diskursive Besessenheit und unheimliche formale Unschärfe. Das Exotische und das Heimische kontaminieren sich hier auch gegenseitig  ; der Freudsche „dunkle Kontinent“ wandert in die europäische Psyche, und die Ureinwohner bevölkern ‚unseren‘ Geist.65 Auch hier vermischen sich populäre und theoretische Diskurse. Man betrachte, in welch wissenschaftlichem Ton Kafkas Affe Rotpeter spricht, den Kafka aus Zirkus- und Abenteuergeschichten übernahm, um schließlich vor der „kleinen halbdressierten Schimpansin“ Angst zu haben, die ihn in seine primitive GroschenheftVergangenheit zurückversetzt.66 Es gibt zahlreiche ähnliche Beispiele in der modernen Literatur, wo die Protagonisten Europa nie verlassen und das Exotische stattdessen zu ihnen kommt  : in einer Prag ähnlichen Stadt (in Kafkas Verwandlung), am östlichen Rand der Alpen (in Musils Grigia und zu Beginn von Hofmannsthals Andreas) und in einem sonderbar rückständigen und exotisierten Italien (am Ende von Andreas und in Manns Der Tod in Venedig). Bemerkenswert ist Manns Beschluss, angelehnt an Berichte über asiatische Epidemien, Gustav Aschenbachs Reise gen Süden als Reise in ein „tropisches Sumpfgebiet unter dickdünstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer“ zu stilisieren, das von der Cholera des „Ganges-Deltas“ heimgesucht wurde.67 Das beste Beispiel für die diskursive Unheimlichkeit der Moderne ist vielleicht Hermann Hesse, der populäre Reiseberichte sowie experimentelle Romane verfasste und sich ausdrücklich mit psychoanalytischer Theorie befasste. Als populärer Exotist, Modernist 65 Sigmund Freud  : Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen [1926], in  : Studien­ ausgabe, Ergänzungsband, S. 303. 66 Franz Kafka  : Ein Bericht für eine Akademie, in  : Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt/M. 1994, S.  313. Zu den populären Quellen von Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ vgl. Walter Bauer-Wabnegg  : Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik, Erlangen 1986, S.127–159  ; John Zilcosky  : Kafka’s Travels. Exoticism, Colonialism, and the Traffic of Writing, New York 2003, S. 108. 67 Thomas Mann  : Der Tod in Venedig, in  : Frühe Erzählungen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. von Terence J. Reed, Bd. 2.1, Frankfurt/M. 2004, S. 504, 578. Zu Manns Gebrauch zeitgenössischer medizinischer Auseinandersetzungen in Der Tod in Venedig und anderen Werken vgl. Hans Wolfgang Bellwinkel  : Natur­wissenschaftliche Themen im Werk von Thomas Mann, in  : Naturwissenschaftliche Rundschau 45, 1992  ; Yahya Elsaghe  : Die imaginäre Nation. Thomas Mann und ‚das Deutsche‘, München 2000, S. 44ff.

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und Psychoanalyse-Schüler in einem liefert Hesse das perfekte Beispiel von moderner Unheimlichkeit, die das Spannungsfeld von Reisebericht, ‚hoher‘ Literatur und Theorie umfasst. Besonders passend ist Hesses Aus Indien, eine bunte Mischung von Aufsätzen, Tagebucheinträgen und Gedichten, die er während seiner dreimonatigen Reise nach Südostasien 1911 verfasste, demselben Jahr, in dem Jacques Heisses Land veröffentlichte und Freud begann, Totem und Tabu zu schreiben. Hesse reiste dicht auf den Fersen der bekanntesten Literaten Deutschlands – Jacques, Bonsels, Zweig, Dauthendey und Kellermann – nach „Indien“, welches sein Großvater im vorigen Jahrhundert auf einem Ochsenkarren bereist hatte, in der Hoffnung Europas Konsumorientierung und Industrialisierung zu entkommen  : „[M]eine Reise war eine Flucht. Ich floh es [Europa] und haßte es beinahe, in seiner grellen Geschmacklosigkeit, seinem lärmigen Jahrmarkt­ betrieb, seiner hastigen Unruhe, seiner rohen, tölpelhaften Genußsucht.“68 Doch Hesses Flucht scheitert. Er erleidet eine Reihe von „indischen Enttäuschungen“, die immer wieder durch dasselbe verursacht werden  : Europa ist allgegenwärtig, und die Asiaten sind erschreckend ähnlich wie ‚wir‘ geworden.69 Hesses Beispiele des „brutal europäisiert[en]“ Südostasiens sind zu zahlreich, um sie hier aufzulisten, doch hier ist eine Stichprobe70  : ein Grammophon in Penang spielt nervige „oberbayrische Jodelquartette“, malaysische Straßen imitieren „die geschmacklosesten Straßen deutscher Mittelstädte“, ein Kino in Ipoh zeigt „üble europäische Filme“ und die europäisierten ‚Eingeborenen‘ sprechen Englisch, oft besser als Hesse selbst.71 Hesses einzige Freude liegt im „echt“ Exotischen, wie er es nennt – zum Beispiel in der „Urlandschaft“ des höchsten Berggipfels Sri Lankas oder in einigen schönen, chinesischen Mädchen – doch solche Momente sind rar.72 Seine Hauptgefühle sind Schrecken, Enttäuschung, Melancholie und Ekel. Er schäumt vor Wut, als er den Holländern dabei zusieht, wie sie den Dschungel durch Abholzung zerstören, nachdem sie „die Ureinwohner niedergeschossen“ haben.73 Als Europäer fühlt er sich mitverantwortlich  : „mehr als [der] Schmutz und [das] Fieber“ machen diese Erkenntnisse Hesses Reise zu einer „peinlich[en]“ Erfahrung, die ihn – an der Ruhr erkrankt und von Opium geschwächt – in eine „unerträgliche Depression“ stürzt.74 Noch stärker als den Helden aus Heisses Land trifft Hesse Indiens Unheimlichkeit, was er bei einem Kinobesuch in Singapur beschreibt  : über „unzählige langzopfige Chinesenköpfe“ 68 Hermann Hesse  : Aus Indien. Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen [1913], Frankfurt/M. 1982, S. 241. 69 Ebd., S. 106. 70 Ebd., S. 135. 71 Ebd., S. 25, 57f., 141, 12, 92, 178. Hesse findet es „lästig“, daß „fast alle Natives, mit denen man zu tun kriegt, besser Englisch sprechen als ich“ (S. 182). Zu Hesses schlechtem Englisch, vgl. Ralph Freedman  : Hermann Hesse. Autor der Krisis. Eine Biographie, übers. von Ursula Michels-Wenz, Frankfurt/M. 1991, S. 194. 72 Hesse  : Aus Indien, S. 178, 106, 168, 169. 73 Ebd., S. 41. 74 Ebd., S. 58, 166.

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blickend, um einen populären, europäischen Film über Paris zu sehen, erleidet Hesse die „Unwirklichkeit […], welche diese westlichen Angelegenheiten hier zwischen Chinesen und Malayen annehmen“.75 Diese „Unwirklichkeit“ – ähnlich Freuds unheimlichem Gefühl, die Wilden seien wie er – erscheint in Aus Indiens hybridem Meisterwerk Robert Aghion, das die unheimliche gegenseitige Befruchtung theoretischer und populärer Formen veranschaulicht. Der Text beginnt im Stil eines polemischen Essays gegen den Kolonialismus – „Man hatte eine Menge von erschrockenen Eingeborenen da draußen wie Raubzeug verfolgt und niedergeknallt, und der gebildete christliche Europäer hatte sich in Amerika, Afrika und Indien benommen wie der in den Hühnerstall eingebrochene Marder“76 – und verwandelt sich dann in eine Kurzgeschichte  ; diese handelt vom jungen Pastor Aghion, der mit utopischen Hoffnungen, die jedoch schnell erlöschen, nach Indien reist. Da diese Erzählung den erniedrigenden Homogenisierungsprozess des Kolonialismus entlarvt, haben Kritiker sie mit einer gewissen Berechtigung als antikolonial bezeichnet.77 Doch wenn Hesse hauptsächlich daran gelegen war, die historischen Kolonialverbrechen offen zu legen, warum führte er seinen Essaystil nicht weiter  ? Wieso geht er zur Fiktion über  ? Hesse verfasste etliche politische Essays im selben Ton wie zu Beginn von Robert Aghion. Wieso entschied er sich dafür, diesen – nach nur zwei Seiten – abzubrechen und eine Geschichte zu beginnen  ? Vielleicht realisierte Hesse, wie Conrad ein Jahrzehnt zuvor, dass die finsteren, oft unbewussten Widersprüche des Kolonialismus eher beim fantasievollen Schrei­ ben zur Oberfläche dringen als bei der essayistischen Logik. Doch beim Genrewechsel in Robert Aghion steht noch mehr auf dem Spiel  : Hesse wird klar, dass sein Thema – die unheimliche Homogenisierung der Welt durch den Kolonialismus – nach einer gleichermaßen unheimlichen Form verlangt. So wie Robert Aghion über die Angleichung Europas und Asiens erzählt, so zeigt der Text, inwiefern ein theoretischer Essay über dieses Thema seine Form nicht beibehalten kann. Abschließend wird deutlich, dass Hesses Aus Indien, Jacques Heisses Land und Freuds Totem und Tabu – alle im Jahre 1911, dem Höhepunkt deutscher Kolonialmacht, veröffentlicht oder verfasst – sich über einen wichtigen Punkt einig sind  : die Entfernung zwischen Europa und seinem ‚Fremden‘ hat sich radikal verringert. Obwohl kein Platz mehr verbleibt, diesen Gedankengang weiterzuführen, möchte ich mit dem Vorschlag schließen, dass wir die moderne Trope der Unheimlichkeit aus dem Blickwinkel ihrer diskursiven Reichweite durch die Gattungen hindurch neu überdenken sollten. Ich stimme also nicht mit Andreas Huyssens klassischem Argument überein, die Moderne spalte sich von der Populärkultur ab  ; stattdessen bin ich der Ansicht, die populäre Reiseliteratur und das ‚hohe‘ literarische Theoretisieren schufen gemeinsam die ‚Unheimlichkeit‘, wie 75 Ebd., S. 84f. 76 Ebd., S. 279. 77 Fritz Böttger  : Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit, Berlin 1974, S. 171.

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wir sie heute verstehen.78 In dem Moment, als die Reiseliteratur das angebliche Ende der Alterität am Amazonas und auf dem indischen Subkontinent betrauerte, stellte die Moderne die gegensätzliche – aber auf unheimlich Art gleiche – Behauptung auf  : das exotische Fremde sei in Manns Venedig, in Hofmannsthals Alpen, in Kafkas Schlafzimmer, in Freuds Arbeitszimmer und in Hesses 1927 veröffentlichtem Der Steppenwolf in das Herz europäischer Städte eingedrungen. Ich sehe hierin keine strikt kausale Beziehung, sondern eher ein kulturhistorisches Geben und Nehmen  : die populäre Trauer um das verschwindende Fremde katalysierte die moderne und psycho-philosophische Theoretisierung  ; gleichzeitig brachte die Konzeptualisierung des Unheimlichen gewöhnliche Reisende dazu, die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen und zwischen dem vertrauten Heimischen und dem Exotischen zu verwischen – um den verspäteten Deutschen, den eigentlich ‚Wilden‘ der Moderne, im Dschungel zu erblicken. Diese Begegnung erstreckt sich daher über die literarische und kulturelle Geschichte hinaus zu einer Diagnose der Globalisierung an sich. Die Globalisierung produzierte die unheimliche Begegnung – das Vertraute innerhalb des Fremden – um 1900, und mit ihr gingen Sorgen um die Identität des Reisenden einher. Wie konnte der Reisende wissen, wer er war, wenn der ‚Andere‘ seine Sprache sprach, seine Kleidung trug und seine „oberbayrische“ Musik auf dem Grammophon spielte  ? Wer, so fragte sich der Reisende, bin ich nicht  ? Das Problem lag nicht in der Homogenität der Welt – sie war damals genauso wenig homogen wie heute –, sondern eher in ihrer Unheimlichkeit  : ihrer Ähnlichkeit mit dem Reisenden, wo sie ihm eben überhaupt nicht ähnlich sein sollte. Sein Unbehagen manifestierte sich damals, wie auch heute, im antikolonialen Exotismus, der für so viele Schriftsteller, die hier behandelt wurden, von zentraler Bedeutung war.79 ‚Wir‘ 78 Huyssen vertritt die Ansicht, dass Wissenschaftler in jüngster Zeit sein ursprüngliches Argument über den Bruch zwischen der Hochmoderne und der Massenkultur übertrieben hätten  ; er besteht vor allem darauf, dass er die Teilung stets nur als “powerful imaginary” betrachtet habe (Andreas Huyssen  : High/Low in an Expanded Field, in  : Modernism/Modernity 9.3, 2002, S. 366f.). Doch Huyssen behauptete tatsächlich, dass “[i]n modernism art and literature retained their traditional nineteenth-century autonomy from every day life.” Außerdem erkannte er Peter Bürgers Unterscheidung zwischen der Hochmoderne und der “historical avant-garde” an  : erstere “insisted on the dignity and autonomy of literature”  ; nur letztere “attempted to break the political bondage of high culture through a fusion with popular culture and to integrate art into life” (Andreas Huyssen  : After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington 1986, S. 163, 167). Zur Kritik von Huyssens Standpunkt aus dem Jahr 1986 anhand der Beispiele der Pariser Avantgarde und T.S. Eliots, vgl. Bernard Gendron  : Between Montmartre and the Mudd Club. Popular Music and the Avant-Garde, Chicago 2002, vor allem S. 85f.; David Chinitz  : T. S. Eliot and the Cultural Divide, Chicago 2003, vor allem S. 4f., 81f. 79 Der antikoloniale Exotismus teilt die erklärte “innocence” mit der “anti-conquest narrative” des achtzehn­ten Jahrhunderts, wie Mary Pratt sie nennt, zeichnet sich jedoch, da er sich im Zeitalter des Hochkolonialismus und des manischen Kartografierens entwickelt, besonders durch eine Angst vor globaler Gleichheit und dem Wunsch nach der Aufrechterhaltung – oder Herstellung – von Alterität aus (Mary Louise Pratt  : Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992, S. 7  ; vgl. ausserdem S. 38–85).

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beschließen, den ‚Eingeborenen‘ vor dem Aussterben zu retten, weil wir ihn scheinbar lieben und ihn vor den Mächten des Bösen bewahren wollen  : vor Abholzungsfirmen, internationalen Korporationen und fremden Armeen. Doch hinter dieser ‚Liebe‘ verbirgt sich oft eine Notwendigkeit, der zufolge er der Andere bleiben muss, damit wir uns unterscheiden können – was erklärt, weshalb wir lieber ‚unberührte Stämme‘ retten, anstatt uns um die (eben nicht mehr ‚unberührten‘) Slumbewohner in den großen Städten der Trikontländer zu kümmern. Behält der ‚Eingeborene‘ seine kostbare Alterität nicht, so gerät unser Selbstgefühl ins Wanken. Es wird nicht lange dauern, bis unsere Aggression zum Vorschein kommt, mit der wir zunächst die bösen Kolonialisten (die Engländer oder Holländer oder heutzutage die Amerikaner) und dann den unheimlich assimilierten Anderen betrachten  : den „Hosen-nigger“ der Kolonialzeit, den assimilierten Deutsch-Juden im ‚dritten Reich‘80 oder, in unserer unmittelbaren Gegenwart, den arabischen ‚Schläfer‘, der unter uns lebt und arbeitet.

80 Zum ‚unheimlichen‘ assimilierten Juden, vgl. Alain Finkielkraut  : Le Juif imaginaire, Paris 1980, S. 88 („Ce n’est pas malgré leurs efforts de normalisation, ainsi qu’on le croit communément, que les Juifs subirent l’épreuve du génocide, c’est en réponse à cette tentative même. Plus ils se déjudaïsaient et plus ils faisaient peur“)  ; vgl. ausserdem Zygmunt Bauman  : Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989, S. 56–62  ; Paul Lawrence Rose  : German Question/Jewish Question. Revolutionary Antisemitism from Kant to Wagner, Princeton 1990, S.  41  ; Susan Shapiro, The Uncanny Jew. A Brief History of an Image, in  : Textures and Meanings. Thirty Years of Judaic Studies at the University of Massachusetts Amherst, hg. von L. Ehrlich u.a., Amherst 2004, S. 157–159.

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„Zeitrassen“ Chronotopos und anthropologische Relativität in Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915)

In Robert Müllers Tropen-Roman wird die Reise in den südamerikanischen Dschungel, die Schatzsuche und Kolonisierungsprojekt zugleich ist, zum literarischen Gründungsakt eines neuartigen Wissens vom Menschen. Die Engführung von Geographie und Rhetorik, von klimatischer Zone zwischen den Wendekreisen und den Wendungen poetischer Sprache, wie sie der Titel Tropen vollzieht, verleiht der Bewegung des Reisens eine ‚vierte‘ Dimension  : In metaphorischer Bezugnahme auf die Raumzeit der modernen Physik entwirft der Roman, indem er die Geschichte einer Expedition in den brasilianischen Urwald erzählt, Ansichten anthropologischer Relativität. Dabei wird die Einheit des Menschengeschlechts entlang verschiedener raumzeitlicher Indizes literarisch in eine temporale Vielfalt von Ethnien auseinandergelegt. Verbunden ist damit nicht nur eine Aufnahme und experimentelle Fortführung zeitgenössischer Rassentheorien, sondern auch die weitreichende Fragestellung nach dem Schicksal, das anthropologischer Theorie und Theorie überhaupt im modernen literarischen Text widerfährt. Mit den Schreibweisen, die in Müllers Roman entfaltet werden, entsteht eine sprachliche Bewegung, die unaufhörlich von einem Zeichensystem zum nächsten und damit in Bereiche jenseits gesicherter theoretischer Wahrheiten führt – zum „Denkroman“.1 1. Ironie und Zeugenschaft Die Tropen werden zunächst wie ein Abenteuerroman eröffnet, um dann jedoch sehr schnell eigene literarische Verfahren jenseits gegebener Gattungskonventionen auszuprägen. Mit diesen Verfahren ist von Beginn an die Frage nach dem Status theoretischer ­Elemente im Roman verknüpft, wie sie sich im Untertitel Der Mythos der Reise geradezu in Form einer These anzukündigen scheinen, um dann jedoch in einem weiteren Zusatz 1 Robert Müller  : Der Denkroman [1921], in  : ders.: Kritische Schriften III, hg. von Thomas Köster, Paderborn 1996, S. 30–32  ; zuvor findet sich der Begriff z.B. in der Korrespondenz Müllers, vgl. ders.: [Brief an Hermann Bahr vom 26.5.1920], in  : ders.: Briefe und Verstreutes, in Zusammenarbeit mit Thomas Schwarz hg. von Eva Reichmann, Oldenburg 1997, S. 72–76, hier 72, mit dem Zusatz  : „Ich verweise auf mein Buch ‚Tropen‘“.

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(­ Urkunden eines deutschen Ingenieurs) auf Dokumente sprachlicher Äußerungen zurück­ geführt zu werden.2 Der deutsche Ingenieur Hans Brandlberger, Ich-Erzähler des Romans, sowie seine beiden Reisegefährten van den Dusen, ein holländischer Offizier, und der berühmte Abenteurer und Projektemacher Jack Slim sind mit Booten auf dem Amazonas in den Urwald des inneren Südamerika vorgedrungen. Über Wochen leben sie in einem Dorf der Dumara, an deren Alltag und an deren heidnischen Festen sie teilnehmen. Doch es gelingt ihnen nicht, sich bei den Menschen des Urwalds dauerhaft Achtung zu verschaffen. Brandlberger sieht sich nicht nur einer fremden Kultur gegenüber, sondern zugleich einer anderen Weltzone, einer überlegenen Weise des Seins. Gleichwohl gibt sich der Ent­ deckungsreisende, wie zur Kompensation seiner schwierigen Lage, ungehemmt kolonialen Wunschphantasien hin  : Meine Anstrengungen, meine Siege, meine Einfälle waren fruchtlos. Ich war der Schwächere in diesem Kampfe mit der fremden wilden Seele, die aus Land, Tier und Mensch zu mir flüsterte. Ich rang mit einer Erde, mit einem Klima, mit einer Existenz, mit einem Prinzip von all diesem, das höhere Art darstellte, als die, aus der ich lebte. […] Es wurde Abend. Der Nachmittag, die warme Zeit, verging mit Schlafen und Lungern. Aus Nervosität begann ich zu träumen, aus purer Langeweile, um mich mit irgend etwas zu beschäftigen. […] Sollte ich […] das Land der Dumaraleute erobern, eine Stadt gründen, Eisen­bahnen anlegen, Kaffee- und Maniokplantagen errichten, eine Armee nach preußischem Muster ­formieren […] oder eine Ingenieurschule für heranwachsende Indianer unter meiner höchst­eigenen Leitung  ? O, Brasilien ist ungeheuer und ein Land der Zukunft, wer aber weiß etwas von Brasilien und wer kennt seine Seele als ich, der Dichter  ? Ich bin dazu geschaffen, sein Kaiser zu werden, ich gründe nicht bloß ein Reich, ich gründe eine Rasse, ich erfinde ihr eine eigene moderne Seele nach dem neuesten Schnitte, ich kreiere einen brasilianischen und menschlichen Erztypus, in dem die Talente aller Organismen vereinigt sind. […] Oder soll ich bescheidener sein und nur das ganze Dorf zusammenpacken und eine Zirkustournee durch heimatliche europäische Großstädte antreten  ?3

Die Szene, die hier vorgestellt wird – wenn man darin überhaupt eine Szene erkennen kann –, ist für Müllers Roman charakteristisch. Theoretische Reflexionen über die Lage des Reisenden auf der einen Seite, Tagträume über seine Möglichkeiten und sein Begehren auf der anderen Seite überwuchern die Schilderung des exotischen Ortes. Der fremde Schauplatz kommt weniger zur Darstellung, als dass er den Anlass von Beobachtungen gibt, die sich zu kreisenden Gedanken und Phantasien verselbstständigen. Immer wieder 2 Robert Müller  : Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, hg. von Robert Müller Anno 1915, Paderborn 1990. 3 Müller  : Tropen, S. 83f. Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden unmittelbar im Text mit Nennung der Seitenzahlen nachgewiesen.

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wird im Roman – wie in dieser Passage – die Reiseerzählung in eine Gedankenschilderung transponiert. Hier geschieht dies einerseits erzählerisch auf dem Wege des inneren Monologs, der die Stimme des Ich-Erzählers im Wechsel vom Präteritum zum Präsens mit der Sicht des Protagonisten verschmilzt. Andererseits erfolgt der Übergang in die Gedankenwelt rhetorisch auf dem Wege der Ironie  : Zu deutlich ist hier die Ohnmacht des Helden hervorgehoben, als dass seine Herrschaftsvisionen wörtlich als Pläneschmieden aufgefasst werden könnten. Auf diese Weise ist die Lektüre herausgefordert, all das, was die Hitze der tropischen Landschaft gedanklich gebiert, als uneigentliche Rede zu überdenken  : Jede Einsicht, die der Roman in Worte fasst, besteht nur auf Widerruf, ist Provisorium  ; die Tropen selbst sind nicht mehr als ihre eigene unbeständig flackernde Halluzination. „Was spreche ich da viel von den Tropen  ? Der Wilde kennt sie nicht, nur der Nordländer, sie sind ihm ein Tropus für seine Glut und das verzehrende Fieber in seinen Nerven.“ (185) Die Verbindung von innerem Monolog und Ironie ist die exemplarische Ausprägung einer Struktur, die den Roman insgesamt durchzieht. „Derselbe Satz, von zwei Mündern u. Stimmbandsystemen gesprochen, ist nicht derselbe.“4 So wird das Spiel mit der Vereinigung und Trennung verschiedener Stimmen, das sich im inneren Monolog zwischen Erzähler und Helden vollzieht, in verschiedenen Zusammenhängen weitergeführt. „O, Brasilien ist ungeheuer und ein Land der Zukunft, wer aber weiß etwas von Brasilien und wer kennt seine Seele als ich, der Dichter  ?“ Durch den hier bekundeten Anspruch auf dichterische Potenz wird zugleich das Problem der Autorschaft in die heterogenen Stimmlagen des Romans mit einbezogen. In einem weiteren inneren Monolog, der ebenfalls deutlich ins Zeichen der Ironie gestellt ist, imaginiert sich der Protagonist als derjenige, der ein Buch namens Tropen hätte geschrieben haben können, wenn er nicht, am „Tropenkoller“ (175) leidend, im Dschungel zugrundegegangen wäre  : [D]ies ist riesig bedauerlich, denn ich werde das Buch, das ich über meine Erfahrungen vom Verkehr und der Wirkung von Mensch auf Mensch schreiben wollte, nie mehr schreiben. Ich hätte es „die Tropen“ genannt  ; nicht nur dem Milieu zuliebe […]  : sondern aus Hinterlist, aus Spitzfindigkeit, weil alles Gegebene immer nur eine poetische Methode, ein Tropus ist, und weil mich dieses seltsame Gewächs reizt, […] dessen Säfte doch immer wieder mein eigenes rollendes Blut sind und nichts Fremdes. (184)

Nicht nur geriert sich der Ingenieur Brandlberger schon unterwegs, wenn er ein Reisender ist, als ein Poet, so dass die Chronologie von Erleben und Schreiben der Expedition in einer Art Hysteron-Proteron zweifelhaft wird. Zugleich wird Brandlberger tatsächlich vom Roman explizit als Verfasser des vorliegenden Textes ausgewiesen. Der vollständige Titel lautet  : Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915. Immer unklarer wird, wer für den Wortlaut des Textes 4 Müller  : [Brief an Hermann Bahr vom 26.5.1920], in  : ders.: Briefe und Verstreutes, S. 73.

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Verantwortung trägt. Im Vorwort des Herausgebers5, als welcher Robert Müller fungiert, wird betont, dass er das Manuskript gegen den Willen der Zeitschrift publiziere, für die es eigentlich vorgesehen gewesen sei und die es als unbrauchbar zurückgewiesen habe. „Der Gang der Erzählung“, so warnt der Herausgeber die Leser, „wird durch langwierige Ausführungen unterbrochen und die Technik des Vortrages ergeht sich streckenweise in so ungeheuerlichen philosophischen Abschweifungen, daß es fraglich erscheint, ob der Verfasser überhaupt je so etwas wie einen erzählenden Stil beabsichtigt habe.“ (6) Weiter schreibt der Herausgeber über Brandlberger  : „Er war keineswegs ein klarer und in seinen Absichten ausgesprochener Mensch  ; dies geht aus seinen Schriften nur allzu deutlich hervor  ; er wollte vielleicht, während er Zeugenschaft ablegte, zu vieles zugleich, denn er besaß eine einzige Tugend  : er war gründlich  ! So daß man seiner Arbeit zwar nicht die eines Kunstwerkes, aber immerhin die eines Dokumentes zuweisen kann.“ (7) Der literarische Wert des Manuskript wird deutlich relativiert, um zugleich die „Tugend“ der Zeugenschaft hervorzukehren. Damit ist jedoch um so mehr die Frage aufgeworfen, wovon diese „Urkunden eines […] Ingenieurs“ eigentlich Zeugnis ablegen könnten. Dies ist die Grundfrage, mit der sich die Lektüre des Romans konfrontiert sieht und die den entscheidenden Schlüssel zu seiner Deutung bietet. Es scheint sich um ein Zeugnis zu handeln, das dem Verfasser eigentümlich über den Kopf gewachsen und von seinen Intentionen abgelöst ist oder zu ihnen in einem ungeklärten, ‚unausgesprochenen‘ Verhältnis steht, ungeachtet der zahlreichen philosophischen Digressionen. Die Frage nach dem, was ‚beurkundet‘ wird, betrifft die Relation von Zeugnis und philosophischem Denken, von Dokument und Theorie. 2. Relativität der Theorie In den Maskeraden der Autorschaft, in der fingierten Authentizität (die aber durch den Untertitel des Buches Mythos der Reise sogleich wieder konterkariert wird) sowie in den durchlässigen Grenzen zwischen Traum und Realität, Erzählung und Gedankenspiel, Bericht und Fiktion, wird das klassisch-romantische Erbe des Textes kenntlich  : eine Korrelation „äußere[r] Realität“ und „innerpsychischer Wirklichkeit“6, die bei Müller nicht zuletzt deutlich auf frühe sinnesphysiologische Forschungen Goethes und Johannes Müllers zurückverweist.7 Aber darin erschöpft sich die Beschaffenheit des 5 Zur Funktion des Vorwortes vgl. Ingrid Kreuzer  : Robert Müllers „Tropen“. Fiktionsstruktur, Rezeptions­ dimensionen, paradoxe Utopie, in  : Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers, hg. von Helmut Kreuzer und Günther Helmes, Göttingen 1981, S. 101–145, hier 102–109  ; Stephan Dietrich  : Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa, Siegen 1997, S. 17– 22. 6 Volker Zenk  : Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Oldenburg 2003, S. 12. 7 Vgl. Jutta Müller-Tamm  : Vision und Visualität. Zum Verhältnis von Wahrnehmungswissenschaft und Po-

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Textes nicht8, denn diese Nachfolge klassisch-romantischer Poesie und Wahrnehmungs­ wissenschaft wird im Text selbst thematisch, sie tritt selbst wie in Anführungszeichen in Erscheinung. „Ihnen, Johnny, fehlt noch manches“, so muss sich Johannes Brandlberger im Roman sagen lassen. „Sind Sie nicht ein wenig romantisch  ? Haben Sie nicht, wenn ich Sie recht durchschaue, zu sehr das kleinliche Bedürfnis, zu stilisieren, alles zu dem zu machen, was Ihr Poesie […] nennt  ? Nein  ? Nun, es kommt mir eben doch so vor. Mein Lieber, […] seien Sie pur in Ihrem Erleben  ! Nicht steigern, um Gottes willen nicht steigern  ! Verfluchte deutsche Sucht  !“ (144) Die Figur, die so zu Brandlberger spricht, nennt sich Jack Slim. Er ist der große Antagonist des Ich-Erzählers, dem schon der Herausgeber im Vorwort beinahe mehr Aufmerksamkeit widmet als der Person des Verfassers selbst.9 Jack Slim ist der Anführer der Expedition, ein rätselhafter Mensch, Abenteurer, Weltmann mit Kontakten zu internationalen Geschäftemachern und Diplomaten. Im Gepäck hat er einen seltsam beschrifteten Stein, der den Weg zu einem Schatz weisen soll. Aber die Schatzsuche, ihrerseits ein romantisches Motiv, gerät zur Nebensache. Wie für Brandlberger ist auch für ihn die Entdeckungsreise weniger wichtig als das Philosophieren über die Reise. Stets gibt er den Ton an, doziert, breitet wortreich und überheblich aus, was und wie zu denken sei. Mit Jack Slim als dem Gegenpart des Erzählers wird alles Reflektieren, Träumen und Ahnen des Romans agonal. Alle Formulierungen, alle Worte geraten ins Zwielicht, sofern ihre Urheberschaft umstritten ist  : „[…] Darüber haben wir schon gesprochen, wie  ? Übrigens, was Sie da […] gesagt haben, ist richtig, es stammt ja von mir.“ „Nein“, sagte ich verwundert, „das tut es nicht. Denn ich erinnere mich ganz deutlich an die Entstehung des Wortes. Ich könnte schwören, daß es von mir stammt. […]“ „So  ?“ sagte Slim gedehnt und sah mich lächelnd an. Er war maßlos eitel. Er schien mir wie ein Vampir, der die Gedanken und Ideen der anderen an sich saugte. (136)

Auf diese Weise werden alle Gedanken, die der Text artikuliert, in einen Schwebezustand versetzt. Mit der Zweifelhaftigkeit ihres Urhebers steht zugleich ihre ‚Richtigkeit‘ zur Disposition. Und nicht nur das  : Auch die Autorschaft des Romans als Ganzem wird hier zum Thema gemacht. Denn Jack Slim ist auch Schriftsteller und hat als solcher entsprechende etik bei Hermann Bahr und Robert Müller, in  : „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel, München 2005, S. 173–187. 8 So auch der Befund bei Werner Kummer  : Robert Müllers Tropen  : Ein fünfdimensionaler kubistischer Mythos, in  : Mythos im Text. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Rolf Grimminger und Iris Hermann, Bielefeld 1998, S. 160. 9 Zu Spekulationen über die Figur des Jack Slim als eines Alter Ego des Autors Robert Müller vgl. auch Wolfgang Reif  : Robert Müllers „Tropen“, in  : Kreuzer/Helmes (Hg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus, S. 39–85, hier 44.

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Pläne  : „‚In dieser Art soll mein Buch sein, Johnny. Es soll ‚Tropen‘ heißen  ! – ‚Soso, Tropen‘, sagte ich, ‚das klingt sehr gut. Nein, das ist einfach fabelhaft, das ist ja ein gefundenes Stück. Das hat so was Vielsagendes. […]‘“ (202)10 Der ‚vielsagende‘ Buchtitel Tropen erscheint also als das wesentliche Fundstück jener Reise, die vor allem als Schatzsuche und Entdeckungsfahrt gedacht gewesen ist. Für dieses Fundstück, nicht für mehr und nicht für weniger, reist man in Müllers Roman in die Tropen. Es geht nicht um materiellen Wert – bei dem vermeintlichen Schatz handelt es sich nur, wie sich zeigt, um ein Depot verrotteter Waffen früherer Kolonisatoren –, sondern es geht um Stimmen, Worte, Wendungen, die 1. in ihrer Besonderheit und zugleich 2. in ihrer Uneigentlichkeit zum Vorschein gebracht werden. Von daher hat die Lektüre des Romans mit zweierlei Vorbehalten zu rechnen, die für seine Literarizität bestimmend sind und die insbesondere den Status von ‚Theorie‘ im Zusammenhang des Textes betreffen. Zum einen ist die narrative Beschaffenheit des Romans zu bedenken, für die jede Äußerung – jede Deskription und jede Schilderung beobachteter, geträumter oder geahnter Geschehnisse – an die Spezifizität und die Bedingtheit einer Stimme gebunden ist. Zum anderen ist es erforderlich, den Roman ‚beim Wort‘ zu nehmen in seinem Versuch, eine Bestandsaufnahme sprachlicher Figuren und rhetorischer Verfahren zu leisten, die den Mythos der Reise allererst hervorbringen. In seinen narrativen und rhetorischen Durchführungen erlangt der Roman seine besondere literarische Qualität, und nicht etwa durch philosophische Thesen  ; und dabei verfährt er, anders als es scheinen mag, nicht in erster Linie metasprachlich.11 Während in vielen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Robert Müllers Werk der Tropen-Roman immer wieder als „Amalgam aus Literatur und Theorie“12 beschrieben worden ist, muss festgestellt werden, 10 Vgl. dazu J. J. Oversteegen  : Spekulative Psychologie – Zu Robert Müllers ‚Tropen‘, in  : Kreuzer/Helmes (Hg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus, S. 146–168, hier 147  : „Tropen hat die Form einer ‚mise en abyme‘  : der Erzähler der Haupterzählung, Brandlberger, trägt sich selbst mit dem Gedanken an ein Buch […], dem er den Titel ‚Die Tropen‘ geben will. […] Dabei darf man nicht vergessen, daß Robert Müllers Buch zehn Jahre vor Gides ‚Les Faux Monnayeurs‘ geschrieben wurde. – In der Erzählung tritt dann noch eine Figur auf, die ein Buch mit dem Titel Tropen zu schreiben beabsichtigt  : die zweite Hauptfigur Slim […]. Damit geht Müller über Gide hinaus, auch was den Effekt betrifft. Denn dieses Werk Tropen, das wir vor uns haben, ist nicht, wie man erwarten könnte, eines jener zwei geplanten Bücher. Es hat Züge von beiden, weicht aber auch auf wichtigen Punkten von beiden ab“. 11 Vgl. dazu Roland Barthes  : Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt/M. 2008, S. 40  : „Schreiben ist nur im vollen Sinne Schreiben, wenn es sich jeder Metasprache verweigert“. Vgl. dazu auch Roman Jakob­sons Entgegensetzung von poetischer und metasprachlicher Funktion  : „Dichtung und Metasprache sind […] diametral entgegengesetzt  : in der Metasprache dient die Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der Dichtung hingegen dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz“. Roman Jakobson  : Linguistik und Poetik, in  : ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/M. 1993, S. 95. 12 Christian Begemann  : Tropische Welten. Anthropologie, Epistemologie, Sprach- und Dichtungstheorie in Robert Müllers „Tropen“, in  : Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik, hg. von Anil Bhatti und Horst Turk, Bern u.a. 1998, S. 81–91.

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dass ‚Theorie‘ in diesem Roman nicht zu haben ist. Allenfalls finden sich Theoreme darin, deren narrative und rhetorische Formung in den Vordergrund tritt – thetische Setzungen, die sich früher oder später als Bestandteile eines Deliriums oder einer Trance zu erkennen geben.13 Die Konsequenzen, die diese Verfahrensweisen des Romans zeitigen, werden auch mit der Kategorie des ‚Essayismus‘, die auf die Tropen häufig angewandt worden ist, nicht in jedem Fall deutlich bezeichnet. Denn gerade die Perspektive auf essayistische Elemente des Romans hat immer wieder dazu verführt, eine Paraphrase seiner „Gedankenfolge“ für möglich zu halten14, durch die der Text als ein „theoretisierend-reflektierendes Werk über den Exotismus“15 auf einen thesenhaften Gehalt hin lesbar gemacht werden könnte.16 In einem kurzen Text zum „Denkroman“ hat Robert Müller formuliert, dass „[u]nser Geschlecht […] an einer Grenze steht“, „wo Geschichte, also auch Geschichten, nicht mehr mit lesebuchartigen Verläufen Ausdruck werden“. Vor diesem Hintergrund erscheine „aller alte Roman verlogen. Wahrheit in der denkenden Analyse und radikale Reinheit, die zu einer Lebensverhältnistheorie wie der von Einstein führt […], sind der innere Wert des modernen Romans“.17 Man könnte versucht sein, daraus ein Argument zugunsten von ‚Theorie‘ in Müllers Tropen-Roman abzuleiten. Wichtig ist aber, dass es Müller nicht um eine generelle Verabschiedung von „Geschichte“ oder „Geschichten“ geht, sondern um eine Absage an deren konventionelle chronologische Organisation. Sein Hinweis gilt in diesem Zusammenhang einer sehr spezifischen Art der Theoriebildung, nämlich der Einsteinschen Physik, die Müller mit seiner Übersetzung des Begriffs ‚Relativitätstheorie‘ in ‚Lebensverhältnistheorie‘ als eine exemplarische Wissensform in Anspruch nimmt.18 Durch diese Beispielhaftigkeit aber beginnt sie im Grunde schon ihren Theoriestatus einzubüßen. Einsteins physikalisches Weltbild liefert für den Roman Tropen einen Erkenntnishorizont, der Gewissheiten zerstört statt sie zu verbürgen. Die Gegebenheiten von Raum und Zeit, wie sie durch Einstein in Frage gestellt worden sind, werden auch durch den Erzähler des Romans tangiert. In einem der zahlreichen inneren Monologe postuliert er die „Überwindung der Dimensionen“  : 13 Vgl. Dietrich  : Poetik der Paradoxie, S. 46  : „Nach Maßgabe von Relativität und Perspektivierung eignet auch den Aussagen und Kompositionsprinzipien des Romans jene […] Transitorik, die alles Gegebene immer nur für einen kurzen Moment und unter bestimmten Voraussetzungen für gültig erklärt und im Augenblick darauf das genaue Gegenteil behaupten kann.“ Dietrich verweist in diesem Zusammenhang auf Machs Analyse der Empfindungen. 14 Reif  : Robert Müllers „Tropen“, S. 48. 15 Kreuzer  : Robert Müllers „Tropen“, S. 101. 16 ‚Essayismus‘ als Kategorie wäre für Müllers Text in dem Maße produktiv zu machen, wie damit weniger theoretisierende Züge als vielmehr Verfahren des Wechsels zwischen heterogenen Textebenen, d.h. Aspekte der Intertextualität verbunden würden. Vgl. dazu Birgit Nübel  : Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin 2006. Zur Relevanz intertextueller Strategien bei Müller s.u. 17 Müller  : Der Denkroman, S. 30f. 18 Vgl. dazu Stephanie Heckner  : Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers, Wien/Köln 1991, S. 53f.

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Die Zeit ist als vierte Dimension entlarvt. Gibt es keine fünfte, und kann man jene nicht bewegen  ? Ha, ich probier’s  ! Ich stemme mich mit beiden Schultern gegen die Zeit, ich suche sie aus ihrer Bahn zu drängen, ich fordere mich zum Gewaltakt heraus. Eine Linie, aus sich selbst gedrängt  ? Eine Fläche, gut  ! Wenn ich nun denke – ich ahne es schon  ! und zu gleicher Zeit dawider denke – hurra, da haben wir’s  ! Denken ist zeitlich. Wenn ich nun denke und zugleich dawider denke, so verschiebe ich die Zeit in einer höheren Anschauungsform, die nicht Zeit ist. Die Zeit wird senkrecht zu sich selbst gebracht. Ich erhalte eine neue Dimension. Der Block Zeit hat sich gerührt, er schweigt zitternd, eine Dämmerung von Ruck, ein Hauch von Erfolg ist es gewesen. Paßt auf, wir kriegen die Zeit noch herum  ! Können Sie um die Ecke sehen  ? Wir aber, wir denken um die Ecke. Wir denken in Winkeln, Kanten und Kristallen. […] Uff, wie es anstrengt  ! (118f.)

Die Anstrengung des Denkens, die sich hier in der Metapher körperlicher Arbeit artikuliert, kann von den Resultaten des Denkens nicht abgelöst werden. Solche Resultate – ohnehin sind sie nur „ein Hauch von Erfolg“ – vergehen, sobald der Einsatz, der sie möglich macht, aufhört. Bezug nehmend auf die Relativitätstheorie als eine Herausforderung an das Denken, wird das Denken selbst relativiert. Die Frage nach der fünften Dimension, die aus einer Bewegung der vierten Dimension, der Zeit, zu gewinnen wäre, erhält ihre Antwort nur provisorisch, und wird zur „Bewußtseinslage“, zur „zerebralen Bewegung“.19 ‚Theorie‘ aber ergibt sich daraus im Roman nicht, es sei denn eine Theorie, die in nichts den geläufigen Erwartungen an Theorie entspricht – eine Denkbewegung, die sich in ihrem eigenen Geschehen erschöpft und die, indem sie als Teil einer Geschichte fungiert, herkömmliche Formen des Epischen ersetzt. Es handelt sich um Bewusstseins-Dokumente, die im Lichte einer metaphorischen Verrückung der Zeit eine a‑chronologische Historie bezeugen. Als solche fügen sie sich keiner der bisherigen Formen der Historiographie, die bis dahin stets einem zeitlichen Nacheinander verpflichtet gewesen sind. Man hat es nicht einfach nur mit der „Radikalisierung eines Gedankens […] aus dem relativistischen Historismus des 19. Jahrhunderts“ zu tun, jenes „Gedankens einer Gleichwertung historischer Epochen und Kulturen, wie er sich etwa in Rankes Diktum ausdrückt, sie seien alle ‚unmittelbar zu Gott‘“.20 Müllers „Denkroman“ sieht sich nicht mehr in dieser Tradition, sondern er bezieht sich eher auf Nietzsche  : Denn die „Bewußtseinslagen“, die der Roman aufhäuft, sind agonal aufeinander bezogen, indem sie, statt ihre Gleichwertung zu bekräftigen, ihre Wertung gegenseitig in Frage stellen. „Es scheint“, so heisst es etwa in Jenseits von Gut und Böse, „dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt  ? Und dass der ‚tropische Mensch‘ um jeden Preis dis19 Ebd., S. 31. 20 So Moritz Baßler  : Jäger der verlorenen Pace und Robert Müller  : Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915), in  : Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Berlin/New York 2008, S. 128–153, hier 141.

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kreditiert werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung  ?“21 3. Die „Sprachigkeit“ der Rasse Das Schicksal der Theorie legt in Müllers Roman Zeugnis ab vom Mythos der Reise. Indem der Roman in vielstimmigen Digressionen gedankliche Auswüchse des tropischen Klimas erzählt, werden die Tropen selber gedanklich. Sie werden zum Tropus einer Exterritorialität des Denkens. Dass das Denken von einer weitläufigen Bewegung im Raume abhängig sei, das ist der Mythos der Reise, mit dem das Denken seine eigenen möglichen Dimensionen verkennt. Die Urkunden eines deutschen Ingenieurs sind Dokumente einer Alterität, die dem Denken selber innewohnt und die es immer wieder aufzusuchen gilt. Dabei sind die Tropen insofern „Denkroman“, als sie die konventionellen literarischen Formen der Reiseerzählung überschreiten. Das gilt einerseits im Hinblick auf die Abenteuerromane Karl Mays, mit denen Robert Müller durchaus sympathisiert und deren fingierte Reisebeschreibungen er als Aufzeichnungen ‚innerer‘, ‚seelischer‘ Entdeckungsfahrten bejaht22, deren „infantile“, „zurückgebliebene“ Imaginationen er dabei jedoch, „durch verschiedene Erkenntnismedien gebrochen“, als Denkanstrengungen produktiv missversteht.23 Andererseits werden in den Tropen zugleich koloniale und ethnographische Diskurse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verarbeitet. In den Reiseberichten des klassischen Philologen und Völkerkundlers Theodor Koch-Grünberg24, der bei mehreren Expeditionen in das Amazonasgebiet den dortigen indianischen Bevölkerungen begegnete25, finden sich etwa Beschreibungen von ekstatischen Tänzen der Amazonas-Indianer, die den vergleichbaren Schilderungen in den Tropen Robert Müllers26 als Vorlage gedient 21 Friedrich Nietzsche  : Jenseits von Gut und Böse, in  : ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 5. Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral, München 1999, S. 9–243, hier 117. 22 Vgl. Robert Müller  : Das Drama Karl Mays, in  : ders.: Kritische Schriften I., Paderborn 1993, S.  13–18  ; ders.: Nachruf auf Karl May, in  : ebd., S. 34–36  ; ders.: Totenstarre der Phantasie. In  : ebd., S. 40–44. Vgl. auch Franz Cornaro  : Robert Müllers Stellung zu Karl May, in  : Expressionismus – Aktivismus – Exotismus, hg. von Kreuzer und Helmes, S. 261–272  ; Hans Wollschläger  : Sieg – großer Sieg. Karl May und der Akademische Verband für Literatur und Musik, in  : Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1, 1970, S. 92–97. 23 Robert Müller  : [Brief an Julius von Ficker vom 4. März 1912], in  : ders.: Briefe und Verstreutes, S. 42–46, hier 43. 24 Theodor Koch-Grünberg  : Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien, 1903–1905. 2 Bände, Berlin 1909/10. 25 Vgl. dazu Thomas Schwarz  : Inszenierung von imperialer Macht im Erstkontakt. Theodor Koch-Grünbergs Amazonas-Ethnographie und Robert Müllers Tropen-Roman, in  : KulturPoetik 7, 2007, S. 199–214. Ausführlicheres zu den Kontexten des Romans in ders.: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus, Heidelberg 2006. 26 Vgl. Müller  : Tropen, S. 87–96.

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haben könnten. Durch solche Anschlüsse an die Berichte von Forschungsreisenden vollzieht sich bei Müller eine Relektüre kolonialer Entdeckungsreisen, die bei der Überschreitung gegebener Schreibweisen der Reiseliteratur nicht stehenbleibt, sondern im literarischen Exotismus einen grundlegenden Mythos des reisenden Entdeckens erkennt. Wenn die Beschaffenheit der Menschen in den Texten der Forscher als eine Vielfalt von Rassen erscheint, die verschiedenen Weltgegenden angehören, so wird in den Tropen die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass diese räumliche Ordnung von Alterität sich als imaginär erweist  : weil Fremdheit schon in der modernen Großstadt mit ihrem „polyphone[n] Geflecht transindividueller Bezüge“ ihren konkreten Schauplatz hat27 und in letzter Konsequenz als Frage differierender Bewusstseinslagen aufgefasst werden kann. Für Müllers Roman ist dies der entscheidende Ausgangspunkt der Frage nach einer „neuen Menschlichkeit“ (70). Im Begriff der „Zeitrasse“28 wird bei Müller angezeigt, dass die anthropogeographische Bestimmung von Rassen durch eine raumzeitliche Markierung verschiedener Rassen hinterfragt und überboten werden soll. Für die Differenz von Rassen erscheint die Gegebenheit divergierender Chronotopoi unabdingbar. Der Begriff des Chronotopos, wie Bachtin ihn unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Einsteins Konzept der relativistischen Raumzeit geprägt hat, gewinnt in der Literaturtheorie einen eigentümlich unklaren metaphorischen Status  : „Wir übertragen ihn“, schreibt Bachtin, „auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher.“29 In Müllers Roman dagegen funktioniert das Konzept der Raumzeit rückhaltlos metaphorisch. Dabei antizipiert er von seiner Anlage her die Bachtinsche Einsicht, dass „das Bild vom Menschen in der Literatur […] immer chronotopisch“ beschaffen sei.30 Wenn in Bachtins Analysen verschiedener Typen des Romans kulturhistorisch unterschiedliche Raum-Zeit-Relationen erkennbar werden, so erscheint in Müllers Text die Darstellung menschlicher Rassen an spezifische Chronotopoi gebunden, deren Konstitution sich im Schreiben vollzieht. Wie etwa in den Schilderungen der ekstatischen Tänze der Indianer die andere raumzeitliche Beschaffenheit rauschhafter Erfahrungen zugleich sprachlich umgesetzt wird, so werden insgesamt in den Brüchen und in der Haltlosigkeit thetischer Setzungen, die die Verfahren des Romans bestimmen, Chronotopoi in ihrer Diversität verfügbar gemacht. Weit entfernt, noch in der Kohärenz und der immanenten Stimmigkeit raumzeitlicher Bezugssysteme fungieren zu können, werden sie ins Metaphorische zurückgenommen. Wie die Tropen ein Tropus sind, so sind die Chronotopoi sprachliche Operationen, die durch Umsetzungspraktiken disponibel gemacht werden können.

27 Thomas Köster  : Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers, Paderborn 1995, S. 14  ; zum Roman Tropen bes. S. 126–167. 28 Robert Müller  : Die Zeitrasse, in  : ders.: Kritische Schriften II, Paderborn 1995, S. 22. 29 Michail Bachtin  : Chronotopos, Frankfurt/M. 2008, S. 7. 30 Ebd., S. 8.

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Umsetzungs-Praktiken, Verfahren der Transposition  : Man kann diese Vorgehensweisen von Müllers Roman auf verschiedene Arten bezeichnen  ; so hat man sie etwa ‚kubistisch‘ genannt.31 Dies wäre aber nichts anderes als eine weitere Metapher, eine von vielen, die der Roman selbst unterbreitet, und die gegenüber den zahlreichen anderen Metaphern kaum privilegiert werden kann. Mit Rücksicht auf die Vielstimmigkeit des Romans, durch die er sich auszeichnet, hilft daher vielleicht eine erneute Bezugnahme auf Bachtin bei einer genaueren Beschreibung von Müllers Verfahren weiter, und zwar im Anschluss an Kristevas Zuspitzung von Bachtins Dialogizitätskonzept in der Revolution der poetischen Sprache. Hatte Kristeva in früheren Überlegungen den Begriff der Intertextualität ins Spiel gebracht, um den Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen zu bezeichnen32, so spricht sie hier von einem Vorgang der Transposition, der Um-Setzung  : dem Akt der Zerstörung einer thetischen Setzung und der Bildung einer neuen.33 Genau dies ereignet sich fortwährend in Müllers Roman  : thetische Setzung, Zerstörung dieser Setzung, Bildung einer neuen. In den Tropen vollziehen sich in der Tat unentwegt Übergänge von einem Zeichensystem zu einem anderen. Und diese Übergänge, man nenne sie Transpositionen oder doch Intertextualität, wie es üblich geworden ist, erfüllen bei Robert Müller eine ganz spezifische, sehr dezidierte Funktion  : Sie sind sprachliche Realisierungen anthropologischer Relativität. Sie begründen ein neues Wissen vom Menschen, indem sie eine Vielheit raumzeitlicher Symbolisierungspraktiken als seine unfestlegbare ‚Natur‘ bestimmen. Es ist eine merkwürdige und befremdende Konstellation, aber in Müllers Tropen-Roman wird sie geschaffen  : eine radikale Praxis der Intertextualität und die emphatische Differenzierung von Menschenrassen werden zu zwei Seiten ein und desselben Sachverhalts. Dabei scheint es, als würde das, was unter ‚Rasse‘ zu verstehen wäre, in einem „fortschreitenden Weltvermischungsprozeß“34 bis an die Grenze zu seiner Auflösung geraten. So ist etwa, wie Müller in einem 1920 publizierten Essay erläutert, die „Diskrepanz, die zwischen dem Juden und de[n] anderen Europäer[n] zweifelsohne besteht, […] nur eine zuständliche, keine menschlich-wesenhafte“.35 Das ‚Jüdische‘ verdanke sich einem „Inkubismus des Wortes“36, und „[s]o hat sich eine jüdische Rasse gesammelt um den unsubstanziellen Kern 31 Vgl. Werner Kummer  : Robert Müllers Tropen  : Ein fünfdimensionaler kubistischer Mythos, in  : Mythos im Text. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Rolf Grimminger und Iris Hermann, Bielefeld 1998, S. 151–161. 32 Julia Kristeva  : Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in  : Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt/M. 1972, S. 345–375. 33 Julia Kristeva  : Die Revolution der poetischen Sprache, übers. von Reinold Werner, Frankfurt/M. 1978, S. 69. 34 Robert Müller  : Der Jude, in  : ders.: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, Paderborn 1992, S. 43–63, hier 60. 35 Ebd., S. 48. 36 Ebd., S. 49.

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[…] einer allgemeinen menschlichen Fähigkeit herum“37, die, als eine besondere, affektive Beziehung zum Wort, in den kulturellen Zusammenhängen anderer ‚Rassen‘ zur Geltung zu gelangen vermag. Wie sehr das Unternehmen des Tropen-Romans, auf dem Wege textueller Transpositionen ‚rassische‘ Verschiedenheiten verfügbar zu machen, ein literarisches und wie wenig es ein theoretisches ist (im Sinne von Jakobsons Entgegensetzung von Dichtung und Metasprache38), möge der Vergleich mit einem kurzen Essay Robert Müllers aus dem Jahre 1917 zeigen. Überschrieben mit Die Zeitrasse, heißt es dort  : Es war ein Irrtum der Weltgeschichte, uns die Ereignisse immer nur in statuesken Persönlichkeiten oder in deren Ideen zu spiegeln. Die wirkliche Weltgeschichte bewegt sich in Menschheitscharakteren weiter, wobei gar nicht gesagt werden kann, daß diese Weiterbewegung eine Entwicklungsleiter darstelle […]. Die historischen Charaktere verlaufen nebeneinander, sie sind simultan vorhanden, heute gerade so wie vor 2000 Jahren, als die großen europäischen Durchdringungsprozesse begannen. Gewisse Lebensformen halten sich allerdings gar nicht und sterben aus. Die übrigen bleiben und existieren nebeneinander. […] Sie haben eine eigene Sprachigkeit, eine Stimme, einen Raum. […] Man muß die Menschheit […] mit astronomischen Massen messen, so ungeheuer groß ist für unsere Fassungskraft ihre zeiträumliche Ausdehnung, die Evolution der Menschheit ist das Emportauchen neuer Ich-Schichten. […] Einstein sagt […]  : Die Zeit ist keine selbständige Funktion […]. Die Zeit ist vierte Dimension, ist die alte klassische raumkörperliche Funktion in einer neuen Bewegtheit, Zeit ist, wie ich es ausdrücken will, ein Nebeneinander von Raumgegenwarten. So weit Einstein. Einsteins Tat ist Revolution auf dem Gebiete der Wissenschaft, mehr, der Welterklärung.39

Die verschiedenen Rassen oder „Menschheitscharaktere“ mit ihrer „Stimme“, ihrer „eige­ ne[n] Sprachigkeit“ werden hier mit der Relativitätstheorie kurzgeschlossen. Dies ist der Horizont, vor dem Müllers Roman gelesen werden kann. Aber der Sachverhalt einer anthropologischen Relativität wird mit solchen theoretischen Überlegungen noch nicht evident. Das Wissen von der anthropologischen Relativität gibt es nur im literarischen Text, im Roman. Dieses Wissen ist ein genuiner Effekt poetischer Praktiken, die auf Wegen der Um-Setzung die Offenheit rassischer Differenzierungen als intertextuell allererst greifbar macht. Anthropologische Relativität lässt sich nicht einfach erklären, explizieren40, sondern sie bedarf der Implikation. Dies zeigt der Tropen-Roman, und es ist erstaunlich 37 Ebd., S. 51. 38 Vgl. oben Fußnote 11. 39 Müller  : Die Zeitrasse, S. 22f. 40 Vgl. dagegen Christian Liederer  : Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poeti­ schen Werk des Expressionisten Robert Müller, Würzburg 2004. Dort wird mit beträchtlichem exegetischen Aufwand ein dreistufiges Modell der Menschheitsentwicklung aus Müllers Schriften und insbesondere aus dem Tropen-Roman herausgelesen.

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zu beobachten, wie er Vorstellungen der Rasse mobilisiert, um dieser anthropologischen Reichweite poetischer Schreibweisen inne zu werden. Auf der anderen Seite lässt sich sagen, dass der Roman Theorien als Reaktionsbildung auf anthropologische Relativität lesbar macht. Rassenanthropologische Theorien bilden sich im frühen 20. Jahrhundert, schematisch gesprochen, weil die Ahnung anthropologischer Relativität nicht abgewiesen werden kann. In dieser Funktion führen Rassentheorien naturgemäß nicht dazu, diese Relativität zu bejahen, sondern sie scheinen im Gegenteil einen Ausweg daraus zu eröffnen. Dies gilt nicht zuletzt für den modernen Antisemitismus, dessen Feindschaft gegen sogenannte „jüdisch[e] Element[e]“ sich Robert Müller in zum Teil erschreckenden Formulierungen zu eigen gemacht hat.41 Es handelt sich hier um mehr als nur eine „Geschmacksbarriere“, die sich für die heutige Lektüre im poetischen Spiel der Paradoxien letztlich doch überwinden und auflösen ließe.42 Man kann vielmehr sehr skeptisch sein, ob Müllers Roman gegen die Insistenz der festschreibenden Rassendiskurse tatsächlich etwas auszurichten vermag. Und dies nicht allein aufgrund des Umstands, dass ein Roman die Welt nicht bewegen kann, sondern wegen der tiefgreifenden Widersprüche, über die der Tropen-Text selbst nicht hinausgelangt. So ist Jack Slim, dieser staatspolitische Antisemit, wie Robert Müller ihn in einem anderen Text nennt43, zwar eine genuine Figur der Intertextualität. Doch dies wird vor allem in seiner Relation zu dem Erzähler Brandlberger kenntlich, mit dem er fortwährend um den Status der Autorschaft zu wetteifern scheint. Die Wilden aus dem Dschungel hingegen, die im Roman eine Rolle spielen, allen voran das Indianermädchen Zana, „die menschliche Wildkatze“ (237), „die Hündin“ (199), sind nur Leiber. Sie sprechen nicht, haben keine Stimme  ; hier ist es mit der „Sprachigkeit“ der Rasse vorbei. Hier scheint der Roman der schwülen Erotik des Exotischen, gegen die er opponiert, nicht entkommen zu können, sofern sich Unterschiede der Rassen und der Geschlechter wechselseitig verstärken.44 Anthropologische Relativität scheint selbst ein exklusives europäisches Rassenkriterium zu sein. „Ich bin, so wie Sie mich hier sehen, das Produkt eines Trainings. Denn Rasse besitze ich nicht  ; das heißt, ich habe alle Rasse in mir, ich bin eigentlich, was der Franzose eine deraciné nennt. Dies ist meine Rätselhaftigkeit […]. Training ist ein verkürztes Verfahren für Rasse. Rasse hat die Hündin Zana und jedes Tier hier im Walde. Ich aber habe Training“ (199). In der durch den Roman sprachlich vollzogenen Einübung rassischer Qualitäten werden diese einerseits entsubstanzialisiert, sie werden virtuell  ; aber das symbolische Spiel, durch welches sie verfügbar sind, muss andererseits – Privileg, das es ist – eine Vertiefung von Rassenunterschieden bedingen.

41 Müller  : [Brief an Hermann Bahr vom 26.5.1920], in  : ders.: Briefe und Verstreutes, S. 73. 42 So jedoch Baßler  : Jäger der verlorenen Pace, S. 150–152. 43 Robert Müller  : Der Slimismus, in  : ders.: Briefe und Verstreutes, S. 132–135, hier 134. 44 Dies wird etwa auch deutlich in Müllers Gedicht An die Jüdin. Vgl. Robert Müller  : Irmelin Rose und andere verstreute Texte/Bolschewik und Gentleman, Paderborn 1993, S. 111–114.

Pierre Kodjio Nenguié

Alfred Döblins Relektüre imperialistischer Entdeckungsreisen in der Amazonas-Trilogie Macht, Eroberung und Überlebensstrategien in (post-)kolonialen Begegnungsprozessen

Alfred Döblins Amazonas1 wurde im Kontext des Exils geschrieben.2 Zwischen 1935 und 1937 entstanden die zunächst im Amsterdamer-Querido-Verlag erschienenen Romane Die Fahrt ins Land ohne Tod und Der blaue Tiger, die nach dem zweiten Weltkrieg durch Aufspaltung des zweiten Romans in die Teile Der Blaue Tiger und Der neue Urwald zur Amazonas-Trilogie wurden.3 Sie steht in engem Zusammenhang mit drei wichtigen Essays, nämlich Der Geist des naturalistischen Zeitalters (Dezember 1924), Der historische Roman und wir ( Juni 1936)4 und Prometheus und das Primitive (1938).5 Mit der Amazonas-Trilogie knüpft Döblin an seine Beschäftigung mit fremdkulturellen Motiven an, die nicht nur in dem Roman Die drei Sprünge des Wang-lun, sondern auch im Epos Manas gegenwärtig ist. Während in diesen früheren Texten die Verarbeitung chinesischer und indischer Mythen vor dem Hintergrund einer zivilisationskritischen Auseinandersetzung zentral waren, greift Döblin in Amazonas erzählte Entdeckungsreisen in Südamerika auf. Wo in der Forschung zu Döblins Amazonas-Trilogie das Thema ‚Kolonialismus‘ überhaupt behandelt wurde6, rückte das Relektüre-Moment des Textes, seine Verarbeitung des historischen Wissens über imperialistische Prozesse, meist nur am Rand in den Blick. Im Folgenden soll daher Döblins Relektüre europäischer Entdeckungsreisen im Mittelpunkt stehen. Zunächst wird Döblins Diskurs über den Imperialismus rekonstruiert. Dann gilt das Augenmerk seiner Verarbeitung, Darstellungsweise und Lesart des intertextuell angeeigneten Wissens über koloniale Eroberungsprozesse. Schließlich wird Döblins Lesart 1 Alfred Döblin  : Amazonas. Romantrilogie, Teil I–III, hg. von Werner Stauffacher, Olten 1988. Die drei Bände der Trilogie heißen heute Land ohne Tod (LOT), Der blaue Tiger (DBT) und Der neue Urwald (DNU). Zitiert wird mit den angegebenen Siglen nach dieser Ausgabe. 2 Vgl. Alfred Döblin  : Briefe, hg. von Heinz Graber, München 1988, S. 181–241. 3 Vgl. Armin Arnold  : Alfred Döblin, Berlin 1996, S. 65. 4 Alfred Döblin  : Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. von Erich Kleinschmidt, Olten/Freiburg im Breisgau 1989, S. 168–190 und 291–316. 5 Alfred Döblin  : Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten/Freiburg im Breisgau 1972, S. 346f. 6 Vgl. Pierre Kodjio Nenguié  : Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin (1878–1957). Literatur als Dekonstruktion totalitärer Diskurse und Entwurf einer interkulturellen Anthropologie. Band II, Stuttgart 2005, S. 524–533. Dort auch eine ausführliche Diskussion der Forschungsliteratur.

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interkultureller Prozesse im (post-)kolonialen Kontext, seine kritische Auseinandersetzung mit historischen und zeitgenössischen Fragen diskutiert. 1. Döblins Diskurs über den Imperialismus  : Der Geist des naturalistischen ­Zeitalters (1924), Prometheus und das Primitive (1938) und Die Mainzer ­Gespräche über das Thema Europa (1951) ‚Imperialismus‘ oder ‚Kolonisation‘ sind für Döblin keine Fremdwörter. Seine kritische Reflexion dieser Themen belegen die Essays Der Geist des naturalistischen Zeitalters (1924) und Prometheus und das Primitive (1938) ebenso wie die frühen Nietzsche-Essays. Die Begriffe ‚Machtwille‘, ‚Imperialismus‘ und ‚Kollektivismus‘ sind hier weitgehend deckungsgleich. Dabei stellen Döblin zufolge Metaphysik, Religion und Technik den geistigen Zusammenhang dar.7 Die Bändigung der Natur des Einzelmenschen und der expansionistische Gesellschaftstrieb bilden Argumentationsfiguren, die ganz allgemein die Unterwerfung des Menschen rechtfertigen. Besonders der Kapitalismus wird für „den unersättlichen Ausdehnungstrieb“, die „Erschließung der natürlichen Welt“8 und die Unterwerfung des Menschen verantwortlich gemacht. Die expansionistische Wende und der cartesianische bzw. anthropozentrische Wille kennzeichnen nicht nur das naturalistische Zeitalter, sondern greifen auch ineinander und tragen zur Beschleunigung des Imperialismus und des Krieges bei. In dem Essay Prometheus und das Primitive führt Döblin jedoch ganz gezielt die Begriffe „Prometheus“ und „das Primitive“ ein, um die Handlungs- und Denklogik des metaphysischen bzw. theologischen und des naturalistischen bzw. wissenschaftlichen Menschen voneinander abzuheben. Während die prometheische Handlungs- und Denk­ logik dem technischen und industriellen Imperialismus gleichgestellt wird, wird der sich der Natur unterwerfende Mensch zum Prototyp des Primitiven erhoben. Paradigmatisch für Döblins kritische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus sind Die Mainzer Gespräche über das Thema Europa (1951) mit seinen Zeitgenossen Carl Mumm und Ernst Kreuder. Auch hier findet der Imperialismus seine Wurzeln in der Technik, der Industrie und der Wissenschaft. Anders jedoch als in den genannten Essays wird das Thema ‚Christentum und Kolonialismus‘ kontrovers diskutiert. Die negative Rolle der Kirche bei der Unterdrückung und bei der Unterjochung anderer Völker im Abendland und in Kolonialgebieten wird kritisch hinterfragt. Wenn Döblin und Mumm sich einig sind in der Bloßstellung des imperialistischen Geistes, so bleibt der Autor beim Nennen des europäischen Sündenbocks behutsam. Er unterscheidet zwischen dem echten Christentum 7 Vgl. Alfred Döblin  : Der Geist des naturalistischen Zeitalters, in  : Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 168–189 und ders.: Prometheus und der Primitive, in  : ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, S. 346–367. 8 Alfred Döblin  : Der Geist des naturalistischen Zeitalters, S. 180.

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und jenem Machtwillen, der nichts mit dem Christentum zu tun habe, dieses jedoch für Eroberungszwecke instrumentalisiere.9 Döblin greift über den ‚Kolonialismus‘ im engeren Sinn hinaus, wenn er grundlegende europäische Ideologeme sowie das Verhältnis Europas zu anderen Völkern und Kulturen kritisch reflektiert. So werden die Asymmetrie zwischen Europa und der übrigen Welt, die Kritik an der europäischen Humanität, am Selbstverständnis Europas sowie an Kolonial­ gräueln hörbar. Der Kolonialismus des 20. Jahrhunderts stellt also jenen ungeheuer aggressiven und expansiven Geist oder Ungeist der Eroberung dar. Dabei erscheint er als Verbrechen und als Unterwerfung der vermeintlich rückständigen Rassen durch industrielle und imperialistische Konstruktionen von gigantischem Ausmaß. Fazit  : Der Imperialismus stelle insofern einen außerchristlichen Prozess dar, der auf eine säkulare Machtkonstellation zurückgehe. Sie bringe Politik und Theologie zusammen. Zusammenfassend verbindet Döblin in seiner Auseinandersetzung mit dem Imperialismus Modernitäts-, Modernisierungs- und Entwicklungsdiskurse seiner Zeit mit historischen Eroberungsprozessen und zeigt, wie der innere und der äußere Imperialismus ineinandergreifen.10 2. Amazonas als epische Inszenierung imperialistischer Entdeckungsreisen und Prozesse  : Beobachten, Lesen und Wieder-Schreiben Betrachten, Lesen und Wiederschreiben bilden eine ästhetische Trias in Döblins epischer Inszenierung imperialistischer Prozesse. Die Frage nach den Quellen von Döblins Amazonas führt zu jener Lektüre von Kierkegaards Entweder – Oder in der Pariser Bibliothèque Nationale, von der er durch bebilderte Ethnographien weggelockt wurde. Döblins Faszination für das Element ‚Wasser‘, die sich in seinem naturphilosophischen Essay Ich über die Natur und in Berge Meere und Giganten offenbart, lassen die Südamerikakarten mit dem Amazonas zum neuen ästhetischen Fokus werden  : „Nun der Amazonenstrom. Ich vertiefte mich in seinen Charakter, dieses Wunderwesen, Strommeer, ein urzeitliches Ding. Sein Ufer, die Tiere und Menschen gehörten zu ihm.“11 Döblins Interesse am Amazonas war aber von vornherein keine naive Faszination für die kartographische Reproduktion einer fremdkulturellen Topographie. Die Betrachtung der Atlanten verband er mit der Faszination für südamerikanische Ureinwohner und ihre (Kolonial)geschichte. Döblins Romantrilogie bezieht sich auf eine Fülle historiographischer, ethnographischer und mythischer

  9 Vgl. Alfred Döblin/Ernst Kreuder/Carl Mumm  : Mainzer Gespräche, Marbach am Neckar 1951, S. 9–13. Der Text liegt in den Marbacher Beständen vor (siehe bes. S. 11ff.). 10 Vgl. Kodjio Nenguié  : Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin, S. 524–531. 11 Alfred Döblin  : Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, hg. von Anthony Riley, Olten/ Freiburg im Breisgau 1980, S. 446f.

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Quellen, die ausdrücklich die Eroberung Südamerikas beschreiben.12 Döblins archäologisches Verfahren besteht darin, Aspekte der Geschichte der europäisch-indianischen Begegnungen episch umzugestalten. Die intertextuelle Aneignung historischen, mythischen und ethnologisch-ethnographischen Materials im Schreibprozess nährt sich von Döblins Willen, koloniale Entdeckungsprozesse eigensinnig zu deuten und die darin sich vollziehenden interkulturellen Prozesse kritisch zu reflektieren. Der Essay Der historische Roman und wir skizziert die Prämissen von Döblins Schreibverfahren  : Jeder Roman habe einen Fond Realität nötig und sei ein Medium der Erkenntnis persönlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Der Autor versetze sich in die Rolle eines Wissenschaftlers, eines Arrangeurs, eines Politikers oder eines Journalisten. Der „sonderbare Entstehungsprozess eines historischen Romans“ münde in ein Spiel mit Dokumenten und Realitäten sowie in eine Umwandlung des Stoffes.13 Die Trilogie behandelt die europäische Entdeckung Amerikas. Das Romangeschehen spielt auf südamerikanischen und europäischen Schauplätzen. Die für den modernen Roman typische Struktur ist augenfällig. Döblins Trilogie folgt keiner linearen Erzählweise  ; vielmehr werden Romangeschehnisse bruchstückhaft und multiperspektivisch derart dargestellt, dass eine chronologische Rekonstruktion von Phasen der Eroberungsprozesse, wie man sie sonst in Geschichtsdokumenten trifft, erst eine mühsame Lesetätigkeit erfordert. Döblin berichtet nicht wie frühere Autoren von den eigenen Reiseerfahrungen in Südamerika. Vielmehr fundiert er sein Geschehen in der Lektüre von mythologischen und kolonialgeschichtlichen Prätexten.14 Die Darstellung der den Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert umfassenden Eroberungsprozesse überschneiden sich mit unterschiedlichen weltgeschichtlichen Zivilisations- und Geschichtsprozessen. Döblins Romantrilogie Amazonas bietet eine dialektische Struktur, in der sich Geschichte, Gegenwart und Utopie zusammenfügen. Koloniale und postkoloniale Prozesse werden darin zum Erzählstoff verarbeitet. Die Handlung beginnt am Amazonasgebiet mit 12 So Theodor Koch-Grünberg  : Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien 1903/1905, 2 Bände, Berlin 1909  ; Ders  : Indianermärchen aus Südamerika, Jena 1927  ; Dr. Fotz Krause  : In den Wildnissen Brasiliens und Ergebnisse der Leipziger Araguaya- Expedition 1908, Leipzig 1911  ; R.P. Pierre Charlevoix/S.J. François-Xavier  : Histoire du Paraguay. 3 Bände, Paris 1756  ; Alfred Metraux  : La religion des Tupinamba et ses rapports avec celle des autres tribus Tupi-Guarani, Paris 1928  ; Voltaire  : Candide ou l’optimisme, Paris 1957  ; Werner Stauffacher stellt diese Quellen im Vorwort zu Amazonas zusammen (S. 224, 247ff.). 13 Alfred Döblin  : Aufsätze zur Literatur, Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S. 181f.; vgl. auch S. 174, 176, 178f. 14 Von den drei Romantiteln, die die Trilogie bilden, weisen Land ohne Tod und Der blaue Tiger intertextuelle Bezüge zu den indianischen Legenden und Mythen Von Land ohne Tod und Der blaue Tiger auf, deren Symbole und Themen in die Trilogie eingeflochten sind. Der Titel des dritten Romans, Der neue Urwald, ist dagegen eine reine Erfindung des Autors. Döblins epische Wiederentdeckung südamerikanischer Amazonen im Amazonasgebiet, auch sein imaginäres Reisen nach Südamerika bezieht sich auf ‚reale‘ und ‚fiktive‘ Textzeugnisse.

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den Amazonenlegenden, wodurch die kulturelle Identität und Identitätskrise der Amazonasvölker rekonstruiert wird. Döblins Kritik an der Vernichtung der indianischen Natur und Kultur durch die Konquistadoren wird deutlich. Dabei fällt auf, dass die europäische Eroberung zugleich durch den Goldhunger, die Profit- und Machtgier sowie die Zivilisierungsmission erklärt wird. Im Mittelpunkt steht auch die durch die christliche Humanität legitimierte geistige und religiöse Eroberung der Indianer. Döblins Schreibstrategie im ersten Band der Trilogie besteht darin, Las Casas’ angeblichen christlichen Humanismus dem wirtschaftlich und religiös motivierten Kolonialismus gegenüberzustellen. Der zweite Roman, Der Blaue Tiger, bietet eine weitere Darstellung der kolonialen Tragödie. Der Erzähler legt hierbei den Fokus auf das jesuitische Experiment, nämlich den vorläufigen Verzicht auf die Ausrottung und Versklavung der Indianer. Das Scheitern des jesuitischen Projekts bildet die Pointe. Der dritte Band der Trilogie, Der neue Urwald, führt den Leser in den Dschungel der modernen Stadt. Der Roman erzählt von geschichtlichen, wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Prozessen im Amazonasgebiet, in Europa und in der Welt. Abgesehen von Kolonisierungsprozessen werden die Natur, die Menschen und Kultur in Südamerika aus post-kolonialer Sicht dargestellt. Die Widersprüche kolonialer Eroberungen, der Alltag und die Entwicklung der Indianer werden thematisiert. Im Zusammenhang gelesen stellt die Amazonas-Trilogie somit die epische Relektüre europäischer Entdeckungsreisen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert dar. 3. Eroberung, Kultur und Macht in Amazonas  : Die Körper des Kolonisierten als Zielscheibe der Macht Auch wenn der Fokus der Trilogie auf den portugiesischen und spanischen Imperialismus gelegt wird, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Eroberer aus anderen europäischen Nationalitäten an der Kolonisierung beteiligt waren. Die Trilogie entwirft daher auch einen Kultur-, Religions- und Rassenkampf zwischen Südamerikanern (Indianern und Weißen). Dass ‚(Re)-Writing‘ und ‚Re-Mapping‘ zu den Schreibstrategien des Autors gehören, belegt das Wieder- und Widerschreiben kolonialanthropologisch tradierter Topoi, so zum Beispiel im Bild sittenverletzender, männerversklavender, männermordender, männerverachtender und männeressender Kannibalen-Amazonen. Döblin schreibt zunächst die sonst in Südamerika-Erzählungen anzutreffende Verbindung von wilden Topographien und wilden Indianern fort, indem er Bilder des Horrors, des Grauens und der Grausamkeit im Urwald darstellt. Derartige Bilder weisen jedoch eine Erinnerungsfunktion auf. Dann geht es dem Autor darum, die in der Kolonialgeschichte dokumentierte Gegenüberstellung von Kulturen und Rassen einerseits und von Barbarei und Zivilisation anderseits zu reinszenieren. Generell nimmt Döblin jene Denkfigur der wilden Amazonen wieder auf, um sie nicht etwa als Eroberungsstrategie oder Argumentationsfigur zu verwenden, sondern, und stärker noch, um die ‚koloniale Metaphysik‘ zu hinterfragen. Ähnlich

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verfährt Döblin im zweiten Band der Trilogie, wenn er das Projekt der humanistisch gesinnten jesuitischen Republik vorführt. Dass die Figur Mariana Las Casas’ Double darstellt und dessen christlicher Humanismus zumindest zu Beginn der Republik als Paradigma angenommen wird, bevor er in der mit dem Scheitern der Republik zusammengehenden kolonialen Härte aufgelöst wird, liegt auf der Hand. Auch im zweiten Band fungiert die Gegenüberstellung zweier Logiken (der Logik des offenen und brutalen Kolonisators und derjenigen des kleinen und subtilen Kolonisators) als Schreibstrategie. Die Darstellung der indianischen Kultur- und Identitätskrise im ersten Kapitel des ersten Romans deutet auf einen von innen induzierten Untergang der Amazonen- und Indianervölker sowie auf das Fehlen eines nationalistischen Anführers und einer entsprechenden Identitätspolitik. Deutlich wird dies in der Reaktion des mythischen Flussgotts Sukuruja, der den Fluss verlässt. Die koloniale Eroberung, eigentlich eine Zivilisierungsmission, setzt zwar der Gewalt der Kannibalen-Amazonen ein Ende, allerdings mittels Gewalt. Dieser Gewaltakt, der einer Modernisierung der Sitten und einer Zerstörung des politischen Systems der Indianervölker gleichkommt, verschärft derart deren Identitäts- und Kulturkrise, dass sie gewissermaßen den Untergang der Amazonen- und Indianer­völker erklärt. Die europäische Eroberung ist durch körperliche Gewalt gekennzeichnet. Die Porträts der meisten Konquistadoren (Ambrosius Alfinger, Quesada, Alcobazo, Nikolaus Federmann, Sandoval, Lopez oder Belalcazar etwa) sind hierfür Belege. Der Gouverneur von ­Maracaibo Alfinger, „der Grausamste der Grausamen“, mordet und jagt ‚Dunkelhäute‘ mit Bluthunden. Er ist stets „zu Krieg, Mord, und Abenteuer“ bereit, setzt ganze Dörfer in Brand und richtet Konzentrationslager ein (LOT, 87ff  ; 88–94). Im Allgemeinen verwenden Paolisten, Dominikaner und Jesuiten zwar nicht dieselbe Strategie, sind sich aber im Willen zur Beherrschung der Indianer einig (vgl. LOT, 115). Die Besitzgier motiviert die imperialistische Eroberung, zumal die Entdeckung eines Traum- und Goldlands unterstellt wird (vgl. LOT, 113). Verachtung, Versklavung, Unterdrückung, Erpressung, Ermordung, Krieg und Konzentrationslager bilden einige Machttechnologien der zu Barbaren gewordenen Kolonisatoren. So deutet sich in der Konstellation ‚Eroberung, Kultur und Macht‘ an, dass der Autor ebenso wie der Geschichtsschreiber die Macht hat, eine Krisengesellschaft, die Wildheit des Raums und der Kultur zu erfinden, um den kolonialen Zivilisationsprozess zu legitimieren. Wie noch aufzuzeigen sein wird, hat er aber auch die Macht, den kolonialen Diskurs in Frage zu stellen. 4. Die neuen Eroberer und ihre Machttechnologien  : Pazifismus, Modernisierung und Entfremdung als Eroberungsstrategien in Der Blaue Tiger In dem Roman Der Blaue Tiger überlappt sich die körperliche Gewalt mit neuen Machttechnologien. Portugiesische Eroberer setzen wie ihre spanischen Kollegen brutale Gewalt ein. Sie greifen aber zugleich die Strategie des ‚wohlmeinenden Kolonisators‘ auf, die Las

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Casas am Ende des ersten Bandes der Trilogie anwendet und die auf der Rhetorik des friedlichen Zusammenlebens beruht. Dieser Verzicht auf körperliche Gewaltformen entspricht insgesamt einem Strategiewechsel, in dem europäische Kolonisatoren mit solchen Machttechnologien (Entfremdung, Modernisierung und Christianisierung) experimentieren, die mentale, psychische und traumatische Folgen mit sich bringen und die wie im ersten Band der Trilogie den Raum für die Stereotypisierung als ideologische und diskursive Strategie schaffen. Bei der Kolonisierung und Christianisierung der Indianer greifen die Konquistadoren Nobrega, Pedro Alvarez und Martin Alonso nach wie vor auf Gewalt zurück  : „Du hast uns eingeschärft, wir sind keine Mönche und gesagt  : Ignaz von Loyola hat uns aufgestellt, damit wir als Armee Christi in die Welt marschieren […]. Was kann ich anders, als dir folgen  : Ich habe keinen Willen als den des Ordens“ (DBT, 58), beteuert der Obere. So wird die pazifistische Eroberungsstrategie, die zur Errichtung der Jesuitenrepublik führt, zum problematischen Experiment (vgl. DBT, 30). Im Gespräch mit Mariana meint der Obere  : „Hatten wir die Aufgabe, die Paolisten zu bezwingen  ? Wir sind der Heiden, der farbigen Leute wegen gekommen. Wir tun, was dem alten Las Casas nicht geglückt ist, Mariana“ (DBT, 57–58). Neben der körperlichen Gewalt und dem Pazifismus bildet die Liebe zu den ‚Dunklen‘, wie Pater Emanuel betont, die beste Eroberungsstrategie (vgl. DBT, 60f.). In der friedlichen Eroberung halten die Kolonisatoren an ihrer Ideologie und ihren Denkschemata fest. So verhelfen der Pazifismus, die Liebe und der christliche Humanismus nicht einmal dazu, ein interkulturelles Zusammenleben zwischen den Kolonisatoren und ihren Opfern zu fördern (vgl. DBT, 30). Vielmehr gleichen die Körper der Eroberten Foucaults gelehrigen Körpern, die zur Zielscheibe der Macht werden.15 Eine andere Machttechnologie bildet die Entfremdung. Durch die Einführung der christlichen Lehre werden indianische Religions- und Kulturinhalte zurückgewiesen. Sie werden als ‚wild‘, ‚abergläubisch‘ und ‚irrational‘ eingestuft. In der Darstellung religiöser und kultureller Asymmetrien werden in der gesamten Trilogie Dekulturationsprozesse vor Augen geführt. Besonders in kirchlichen Messen kommt die religiöse und literarische Entfremdung zum Ausdruck. In Pater Emanuels Zug bei Sao Paolo zum Beispiel befinden sich ‚Dunkle‘, die mit großer Begeisterung die christlichen Lieder singen. Dabei lernen Kinder die wunderbaren Lob-, Bitt-, und Beschwörungslieder. Die Älteren unter ihnen entwickeln einen ungeheuren Hang, andere zu bekehren (vgl. DBT, 30, 73f.). Auch die Umbenennung von Orten verwischt die Geschichte der Indianer und lässt sich als Bestandteil des Entfremdungsprozesses auffassen (vgl. DBT, 26–30). Die Modernisierung stellt eine Wunderwaffe der friedlichen Eroberung dar. Glaube, Eroberung und Modernisierung fügen sich zusammen. Die Entwicklung der Indianer­ reiche wird in den kolonialen Zivilisationsprozess einbezogen. Sie wird in Der Blaue Tiger 15 Vgl. Michel Foucault  : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seiter, Frankfurt/M. 1994, S. 173f.

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als „neues Christentum“ bezeichnet  : „Jetzt wird Christentum gebaut. Wir bauen es in Holz und Lehm und in Matten zum Schlafen und in Straßen“, meint Pater Faber (DBT, 152). Im Erwerb von Fähigkeiten, mit dem Stein umzugehen, im Hausbau, im Ziegelbrennen und im Teppichknüpfen liegt die neue Entwicklungspraxis. Sie fungiert als Surrogat für das „brutale Christentum“ und stellt eine zynische Variante des e­ uropäischen Kolonialismus dar. Durch den eingeleiteten Modernisierungsprozess vollzieht sich eine Transformation der Natur, der Sitten sowie der Verhaltens- und Denkweisen. Der Roman macht jedoch deutlich, dass sie eine asymmetrische Arbeitsteilung und einen ungleichen Technologietransfer voraussetzt. Zahlreiche Stellen belegen, dass der Moderni­sierungsprozess zur Ankurbelung der örtlichen Produktion von Rohstoffen sowohl im kolo­nialen als auch im postkolonialen Neuindien dient. Die Angliederung der indianischen ­W irtschaft an die kapitalistische Weltwirtschaft wird nicht nur in der Ausbeutung der Natur- und Bodenschätze deutlich, sondern ruft auch einen jahrhundertelangen Verarmungsprozess der Kolonisierten hervor. Die in Amazonas verwendeten Eroberungsstrategien sind in jeder kolonialen Situation durch Unrecht, Illegitimität, Willkür und Gewalt gekennzeichnet. In seiner berechtigten Kritik an der Kolonialasymmetrie in Afrika macht Achille Mbembe darauf aufmerksam, dass sich in afrikanischen Kolonien die Machtphantasie jeweils in der Hegelschen und Bergsonschen Tradition einschreibt.16 Die letztere denkt koloniale Macht- und Autoritätsbeziehungen mit dem liberalen Freiheitsdiskurs in der Metropole zusammen und schafft einen Machtraum, in dem die Freiheiten des Kolonisierten formell anerkannt werden. Gleichzeitig aber wird die Menschenwürde des Kolonisierten negiert, insofern er als vertrautes Tier und Ding erscheint.17 Auch in Döblins Romantrilogie kommen beide Machtsysteme zur Geltung. Das erste stellt das Bild des den Kolonisierten ausbeutenden, negierenden und brutalisierenden Usurpators dar, während das zweite dem Bild des kleinen und wohlmeinenden Kolonisators gleichkommt.18 Im Allgemeinen verkörpern die humanistisch gesinnten Jesuitenväter den von Albert Memmi skizzierten Prototyp des kleinen Kolonisators. Er steht für die religiöse und geistige Entfremdung des Kolonisierten ein, bleibt jedoch in einer Ambivalenz verfangen, weil er sein Eroberungsobjekt begehrt. Gar keine Frage, dass beide diskursive Praxen mit ihren Machttechnologien psychische Störungen erzeugen.19 Hier liefert Homi Bhabhas postkoloniale Theorie einen interessanten Reflexionsrahmen zur Analyse von Kultur- und Identitätsprozessen in der post-kolonialen Situation. Homi Bhabha zufolge 16 Vgl. Achille Mbembe  : On the Postcolony, Berkeley u.a. 2001, S. 26f. 17 Vgl. ebd., S. 27. 18 Vgl. Albert Memmi  : Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts mit einem Nachwort von Jean Paul Sartre, übers. von Udo Rennert, Frankfurt/M. 1980, S. 27ff. Maria Do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan  : Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 89–94. 19 Vgl. Frantz Fanon  : Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt/M. 1981, S. 210– 245.

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werden bei der Repräsentation der Andersheit das Stereotyp, die Diskriminierung und die Ambivalenz zu Hauptstrategien der Destabilisierung der Identität. Hier stellen Mimikry und Farce affektive und ideologische Strategien dar. Sie kristallisieren sich zum einem in der unvollständigen Internalisierung von Werten und Formen der beherrschenden Macht durch den Kolonisierten heraus. Zum anderen bleibt der Transformationsprozess der lokalen Kultur durch den Kolonisierungs-und Modernisierungsprozess immer unvollendet.20 Die entfremdeten Indianervölker in Döblins Amazonas bilden hier in der Kolonial­ geschichte außereuropäischer Völker nur ein Beispiel unter anderen. Sie stellen christiani­ sierte Kolonialsubjekte dar, die sich jedoch weigern, auf ihre kulturelle und religiöse Identität zu verzichten. Das Bekenntnis zur christlich-abendländischen Kultur gewährt keine vollständige Subjekttransformation. Kolonisierte und Kolonisatoren werden in der (post-) kolonialen Situation interkulturellen Prozessen ausgesetzt, zumal sich die im Rahmen des Kolonialdiskurses fixierten Identitäten des Kolonisators und des Kolonisierten sowie das westliche Wissens- und Repräsentationssystem als „instabil und fragil“ erwiesen haben. Gewollt oder ungewollt bleiben die beiden Akteure in „einer komplexen Reziprozität“ verfangen.21 5. Kolonialismus, Repräsentation und Interdependenz Koloniale Begegnungen offenbaren die Dialektik von Fremd- und Selbstdeutung. Die Akteure konstruieren gegenseitig ihre Bilder. Dabei wird der Indianer mit dem Wilden, dem Archaischen und dem Bösen assoziiert. Erinnert sei hier nicht nur an das negative Bild der Amazonen, sondern auch an negative und durchaus verfechtbare Konstruktionen der Indianer. Ein konkretes Beispiel bietet die Verwechslung einer Rettungs- und Heilungsaktion mit einer Giftattacke, wobei den Indianern Kannibalismus vorgeworfen wird. Der Rückgriff auf den Kannibalismus-Topos fungiert auch bei der Entdeckung Amerikas als ideologische und rassenkonstruktive Legitimation der kolonialen Gewalt an außereuropäischen Völkern.22 Döblin hat eine kritische Position gegenüber der kolonialdiskursiven Verwendung, wenn er denselben Topos gegen den Eroberer wendet und dabei die Irritation 20 Vgl. Homi K. Bhabha  : Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 97–124, 126–136. 21 Castro Varela/Dhawan  : Postkoloniale Theorie, S. 85. 22 Vgl. Kirkpatrick Sale  : Das Verlorene Paradies. Christoph Kolumbus und die Folgen, übers. von Brigitte Rapp, Hamburg 1993, S.158  ; Ania Loombia  : Colonialism/Postcolonialism, New York 1988, S.  54  ; Alexander von Humboldt  : Die Reise nach Südamerika, Göttingen 1990, S. 347–348 und 373–374. Vgl. auch Stuart Hall  : Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hg. und übers. von Ulrich Mehlem u.a., Hamburg, S.164ff.; Franco Marenco  : Koloniale Aneignung und europäische Autorität  : Schreiben und Macht im Diskurs der Entdeckungen, in  : Ränder der Moderne, hg. von Robert Weimann, Frankfurt/M. 1997, S. 118–149, bes. 128–133.

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des Kolonisators auf den Punkt bringt. Der Erzähler kommentiert  : „[…] Die Weißen seien Götter oder götterähnlich, diese Männer und Frauen sollten den Weißen gehören, als Opfer zum Töten und Verzehren“ (LOT, 118). Umgekehrt nennen Indianer die Konquistadoren Alonso und Pedro „Geister“ und „Abgeschiedene“, weil ihre Haut ohne Farbe sei. Zudem werden die Kolonisatoren als fremde „Meerfische“ (LOT, 21, 24) angesehen. Ihr Eindringen wird als Schicksalsschlag und Weltuntergang gedeutet (vgl. LOT, 111, 126). Der von außen induzierte Entfremdungsprozess wird durch die Abwendung des Sonnengotts von dem Volk oder durch den Bruch mit religiösen Riten erklärt. Bilder von schreienden und weinenden ‚Dunkelhäutigen‘ im Cundinamarcareich und bei dem Volk der Usaken finden ihre Erklärung darin, dass sie ‚Weißhäutige‘ für unheimliche Geister und Tiere halten und sich vor Grauen auf die Gesichter werfen.23 In der Hermeneutik fremdkultureller Zeichen wird die Komplexität des kulturell und religiös Anderen deutlich. So zum Beispiel, wenn es um die Bedeutung der Kleidung in der Indianerkultur geht. Diese geht über einen dekorativen Aspekt hinaus. Farbe, Bilder und Material tragen eine Symbolik, die von den Weißen nicht entziffert werden kann. Das zeugt von der Komplexität der Semiotik indianischer Kulturkodes, bei deren Entzifferung der Kolonisator auf den Kolonisierten angewiesen ist. Der Erzähler ironisiert die Unfähigkeit der Kolonisatoren, die darin versteckten Codes und literarischen Arbeiten zu verstehen, wenn er diese Unfähigkeit als Zeichen des Analphabetentums betrachtet. Zugleich verweist diese Ironisierung auf die Defizite des westlichen Repräsentations- und Wissenssystems.24 Machtpositionen, Metaerzählungen, Kulturaxiome sind wichtig für das Fremdverständnis und die Selbstdeutung. Diese auf einer binären Teilung fußende epistemologische Asymmetrie geht auf die Kolonialanthropologie zurück, ist aber auch in der europäischen und außereuropäischen Volksphantasie verankert. Nicht selten finden sich Textsituationen, in denen der Kolonisator auf den Kolonisierten angewiesen ist. Ein Beispiel wird bei der jesuitischen Entdeckung des brasilianischen Urwalds vorgeführt. Im Kapitel Indianische Messe sind es die ‚Dunklen‘, die gezwungenermaßen den Jesuitenvätern den Weg weisen und so ihre Kenntnis der Geographie, Topographie und Natur in den Dienst der Landbesetzer stellen (vgl. DBT, 75). Die christlichen Entdecker dagegen ängstigen sich vor den Kräften der unvertrauten Natur. Sie erscheinen hierbei nicht als Prototyp des mutigen Menschen, sondern verstecken sich hinter den Rücken der Eroberten, auf deren Hilfe sie angewiesen sind  : Ließen ihre dunklen Freunde sie [die Jesuitenväter] im Stich, waren sie von einem Tag zum andern verloren. Sie fanden nicht den Weg nach vorn und nach rückwärts. Sie hatten nicht die 23 Vgl. LOT S. 207, 208, 112, 113. 24 Zur Einführung siehe Lucien Levi-Bruhl  : Das Denken der Naturvölker, Wien 1926 und ders  : Die geistige Welt der Primitiven, Düsseldorf 1959.

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Technik, rasch Boote aus dem vorhandenen Material zu verfertigen, um Wasser zu überschreiten. (DBT, 76).

Jesuitenväter werden in der fremden Topographie zu Ahnungslosen, die auf das indianische Orientierungs- und Wissenssystem angewiesen sind. Daraus ergibt sich, dass Indianer gute Topographen, Techniker und Geographen, aber auch gute Ethnologen der eigenen Kultur darstellen. Die symbolische, kulturelle und religiöse, wirtschaftliche, seelische und territoriale Eroberung vollzieht sich dank der Orientierungshilfe und dank der Hinweise der Eroberten. Zwei Diskurse zeichnen sich hier ab. Der christlich-imperialistische und der lokale. Der erste Diskurs stellt den kolonialen Lügen- und Machtdiskurs dar und zeichnet sich durch Konstruktion, Selbstprojektion, Diskriminierung und Stereotypisierung aus, wobei Indianer als Machtsubjekte und Barbaren25 wahrgenommen werden. Gleichzeitig zeichnen die Eroberer eine neue Landkarte von Indianerreichen, auf der alte Reiche durch neue europäisch klingende Ortsnamen ersetzt werden. Dieser Ersetzungsprozess umfasst die religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Identitäten und zieht Grenzen zwischen Europäern und Indianern. Mit der neuen Karte Neuindiens werden ein Lebensraum für die marginalisierten Indianer und neue Zentren für den Eroberer geschaffen. Die erlebte Machtasymmetrie ruft ein Widerstandspotential hervor, das sich im Antikolonialismus einiger Figuren artikuliert. Er bildet einen subversiven Gegendiskurs. Antikolonialismus und Hybridität stellen zwei Figurationen in der Trilogie dar, die ein dekonstruktives Potenzial aufweisen. Döblin dekonstruiert anhand von beiden die Bipolari­ tät des Eigenen und des Fremden. Zwei Beispiele zeugen von dem Bewusstwerdungs­ prozess der Kolonisierten. Das erste ist das von Cuzumarra, der zu Beginn von Land ohne Tod den Antikolonialismus und die Identitätsrekonstruktion artikuliert. Sein Diskurs findet jedoch kein Gehör bei den barbarischen und anarchischen Amazonen. Das zweite Beispiel lässt sich in der kritischen Haltung des Indianers Zippa beobachten. Bei seiner ersten Begegnung mit kirchlichen Eroberern heißt es  : Euer Papst und der König leben jenseits des Meeres. Niemand hat sie hier gesehen. Sie kennen uns und unser Land nicht. Wie kann der Papst dem König ein Land schenken, das er nicht kennt und das ihm nicht gehört […]. Papst und König müssen beide ohne Verstand sein. (LOT, 138)

Auf der europäischen Seite formulieren Las Casas und Mariana ebenso wie Zippa und Cuzumarra einen Gegendiskurs. Sie sind zwei wohlmeinende Vertreter des antikolonialhumanistischen Diskurses. Zwar verbindet Las Casas zum Beispiel territoriale mit seelischer Eroberung sowie die Bibel mit der Macht. Dadurch verstärkt sich die Macht der 25 Vgl. Christophe Rufin  : Die neuen Barbaren. Der Nord-Süd-Konflikt nach dem Ende des Kalten Kriege, übers. von Joachim Meinert, München 1996.

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Usurpatoren. Zugleich erscheint er jedoch als antikolonialer Humanist. Seine Kritik an der Ermordungsstrategie der Paolisten, an Puertos Gelübde sowie seine kritische Auseinandersetzung mit der totalitären Ideologie der Kirche verwandeln ‚den kleinen Kolonisator‘ in einen ‚Erretter und Messias‘der Indianer, obwohl er weiterhin in eurozentrischen Kategorien und Mythologemen denkt. Seinen humanistischen, poly-genetischen und interkulturellen Ansatz fasst er folgendermaßen zusammen  : Wenn Völker sich zuerst begegnen, so kennen sie voneinander nicht die Sprache und nicht die Sitten, und wenn sie gar aus zwei Erdteilen kommen, kommt es leicht zu Zwistigkeiten. Aber es kommt auch die Stunde, wo man sich versteht. Denn wir haben zweierlei Farben, aber dieselben Menschen, von dem einen einzigen Gott geschaffen, und der eine Heiland ist für alle erschienen. (LOT, 226)

Bei Döblins Las Casas fehlt der Wunsch nach Bereicherung und der Bemächtigungstrieb, der im Essay Prometheus und das Primitive den prometheischen Menschen kennzeichnet. In der Tat legt Döblin seine europakritischen und humanistisch gesinnten Positionen in den Mund von Las Casas und auch Mariana, um jene Verbrecher zu demaskieren, die im Namen der christlichen Ideologie andere Völker plündern und ermorden (vgl. LOT, 223).26 Im Gegensatz zu gewaltsamen Konquistadoren plädiert er für das interkulturelle Zusammenleben und gegen die Kolonialasymmetrie. Las Casas’ Übernahme der Lebensweise der Indianer etwa wird in seinem Tod deutlich. Er stirbt mit einem Kruzifix in den Armen des Flussgeistes Sukuruja. In der Suche nach dem „Land ohne Tod“, dem imaginären und utopischen Raum verfällt Las Casas der Naturverbundenheit und dem kultisch-mythischen Naturleben der Indianer (vgl. LOT, 251). Eine andere Figur mit ambivalenten Zügen ist Mariana. Seine Humanität wird im zweiten Roman ausgewiesen. Im Gegensatz zu Pater Emanuel vertieft er sich in die Seele seiner ‚Dunklen‘, lernt viel über die indianische Kultur, Sprache, Kosmogonie und Theogonie, bevor er verzaubert wird. Seine Konversion zur indianischen Weltanschauung wird dort deutlich, wo er sich dem Verzauberungsritual aussetzt, mit dem Flussgeist kommuniziert, heidnische Gesänge mitsingt, und einem Todesritual beiwohnt (vgl. DBT, 94, 100). Er verwandelt sich gleichsam in einen Ethnographen und Ethnologen, der nicht nur um das Verständnis der Indianerkultur bemüht ist, sondern sich darüber hinaus auch in sie einlebt. Mit seinem Tod findet Mariana Eingang in die Kultur der Indianer. Dieser Tod lässt sich aber auch als Ausdruck des Zwiespalts zwischen der europäischen und indianischen Kulturordnung deuten. Schließlich könnte dieser Tod als Rache des Flussgeistes verstanden 26 Erinnert sei an Döblins Reflexionen in Mainzer Gespräche, in denen der Autor zwischen „getauften Söldnern“ und „echten Christen“ unterscheidet. Döblin bleibt ebenso wie seine Figur ein problematischer Wider­standskämpfer und ein Antikolonialist, der Glauben und Kolonialismus voneinander trennt. Las ­Casas blendet wie Döblin den christlich motivierten Imperialismus aus.

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werden (vgl. DBT, 102ff.). Seine Liebe zu den Indianern, ‚Dunklen‘ sowie deren Kulturen stellt ihn in die Nähe von Las Casas. Beide Figuren dürften als ‚interkulturelle Vermittler‘ wahrgenommen werden. Erhardt Jacob stellt zu Recht fest, dass es bei den Weißen zu Resonanzen kommt.27 Zwar sind nicht alle Eroberer davon betroffen, aber einige haben eine ungewöhnliche Anpassungsfähigkeit. „Resonanzannäherung“ geschieht, so Döblin, „mit Bedacht und mehr oder weniger Bewusstheit und je nach der Plastizität, der Wandlungsfähigkeit der gegebenen Person“. „Kraft der Möglichkeit des Mitschwingens, der Resonanz steht der Mensch mit seiner Umwelt und mit dem Ur-sinn im Zusammenhang“.28 Die ambivalente Positionierung Las Casas’ und Marianas stellt im Grunde eine rhetorische Figur dar, durch die ‚animistische Kulturen‘ rehabilitiert und den anderen Weltreligionen angenähert werden. Hier geht es um die Erkenntnis, dass sich das imaginäre „Land ohne Tod“, das Symbol des Paradieses, jeder topografischen Verortung entzieht. Als zum Christentum konvertierter deutscher Jude thematisierte Döblin bereits in Die Drei Sprünge des Wang-Lun und Manas sowie in den philosophischen Texten Ich über der Natur und Unser Dasein die buddhistischen, konfuzianischen, taoistischen, hinduistischen und shivaistischen Weltauffassungen, denen Döblin einen latenten Animismus zuschrieb. Dabei beschäftigte er sich auch mit dem religiösen und kulturellen Fundamentalismus, den er zuerst in der europäischen Religions- und Kulturgeschichte hatte beobachten können. Er war sich dessen bewusst, dass in den Weltreligionen eine Vielfalt von Wegen zum Paradies führt. Zwar kann man an den Figuren Las Casas und Mariana Beispiele von bewusst gewollten interkulturellen Beziehungen erkennen, aber insgesamt vollzieht sich in der Kolonial­ logik eine Dynamik der Interkulturalität ohne Zutun der darin implizierten Akteure. Der Kapitän Lopez muss mit ansehen, wie sich seine Soldaten der Kultur und Religion der Braunen, also dem indianischen Animismus assimilieren, wenn sie sich wie die Einheimischen bemalen (vgl. LOT, 170f.). Das auf Disziplinierung, Normierung und Sanktio­ nierung beruhende Kolonialsystem betrachtet diese Annäherung an den indianischen Animismus als „Unordnung“ und „Verwilderung“ (LOT, 172f.). Die Anhänglichkeit der weißen Soldaten an die braunen Menschen hebt sich von der kolonialen Zerstörungswut ab. Das Bekenntnis der Braunen zum Christentum deutet sich umgekehrt dort an, wo sie in ihre Maskenhütte eindringen, um ihre Heiligtümer zu vernichten, wobei nur noch das Holzkreuz erhalten bleibt (vgl. LOT, 172). Im Bekenntnis zur Kultur und Religion des Anderen zeichnet sich allerdings ein Unterschied ab  : Die Konquistadoren bekennen sich freiwillig zur fremden Kultur und Religion, während die Indianer gezwungenermaßen oder auf den Rat der Eroberer hin ihre Kultur und Religion aufgeben. Das aus dem Kulturkontakt erwachsene ‘Going Native’ der Kolonisatoren kann dem eurozentrischen Machtdiskurs entgegengehalten werden. Der ‚Verwilderungs- und Ver27 Vgl. Jacob Erhardt  : Alfred Döblins Amazonas-Trilogie, Worms 1974, S. 39–46. 28 Alfred Döblin  : Unser Dasein, München 1988, S. 39, S. 176.

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zauberungsprozess‘ sowie das auf individuellen Entscheidungen basierende Bekenntnis zur ‚exotischen‘ und ‚archaischen‘ Kultur machen nicht einmal halt vor eben diesem Diskurs. Die Überwindung ethnozentrischer Machtpositionen wird im Bekenntnis zu fremdkulturellen Sitten anschaulich. Ein solches Bekenntnis unterscheidet sich von ‚Mimikry und Farce‘. Freiwillige Anpassungsprozesse treten an die Stelle von Macht­ asym­metrien. Die interkulturelle Positionierung einiger Figuren geht Hand in Hand mit Begleitprozessen (Kultur- und Religionssynkretismus, Zwiespalt, Doppelleben und Entfremdung). Die ‚kolonial erzwungene Interkulturalität‘ schafft Figuren mit hybriden Identitäten, die zwar nicht sehr repräsentativ sind, dem ethnozentrischen Denken aber entgegenwirken. Ausblick Döblins Vorschlag für die jüdischen Minoritäten bestand in deren massenhafter Ansiedlung in kleinen Territorien, die in mancher Hinsicht mit den kolonialen Eroberungen in Amazonas vergleichbar ist. Döblin zufolge sollten „außereuropäische schwach bewohnte Länder“ „zur Verfügung gestellt werden“, um Lebensraum zu schaffen für zerstreute jüdische Massensiedlungen und damit zugleich Nationalismen vorzubeugen.29 Für Döblin war die außereuropäische Kolonisation das Ergebnis einer zukünftigen Kollektivarbeit der Staaten. Er stellt sie sich als „die kollektive Weltkolonisation“ und „das große politische Thema der Zukunft“ vor, bei dessen Behandlung auch das ‚Judenproblem‘ eine Lösung finden konnte. Begrüßenswert war für ihn die „Großkolonisation“ als „Erschließung der bisher nur „entdeckten“, „politisch umrandeten und wirtschaftlich brachliegenden Riesenterritorien „Afrika“, „Australien“, „Südamerika“, die definitiv zur „Drainage der Kriegs­ instinkte und zur Ablösung des Kriegführens“30 diene. Solche Äußerungen lassen Döblins Engagement gegen den Kolonialismus problematisch erscheinen. Seine Duldung der Kolonisation anderer Völker und Räume zugunsten der Rettung der jüdischen Minderheit klingt widersprüchlich. Der Versuch, aus der kolonialen und eurozentrischen Logik herauszukommen, scheitert deshalb, weil sich der Autor zwischen unterschiedlichen Fronten befand. Zudem hatte er stets gleichzeitig verschiedene Identitäten zu verhandeln. Döblin führt in Amazonas und in den eben erläuterten Stellungnahmen zur Weltkolonisation die mit eigener Exil-/Migrationserfahrung zusammenhängenden Eroberungsphantasien vor. Dass er den nicht fernliegenden modernen Kolonialismus auf die frühe Kolonisation sowie auf den Nazismus bezieht, bleibt eine spannende Pointe. Seine ambivalenten Stellungnahmen zum Kolonialismus erinnern an die Eigenlogik des ‚kleinen Kolonialismus‘ (Memmi) oder an die Bergsonsche Tradition, 29 Alfred Döblin  : Schriften zu jüdischen Fragen, Zürich/Düsseldorf 1997, S. 59. 30 Ebd., S. 196ff.

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in der der Täter mit seinem Opfer zu sympathisieren scheint. Ihr Bezug zur Relektüre Las Casas’ wird dort deutlich, wo ein christlich-humanistischer Kolonisator gleichzeitig als Handhaber brutaler Machtpolitik entlarvt und in seinem Humanismus bestätigt wird.

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Kannibalische Revisionen Von den Kupferstichen Theodor de Brys zu Nelson Pereira dos Santos’ Film Como era gostoso o meu francês

I. Heterologien Reiseliteratur ist für Michel de Certeau der Ort, an dem sich eine Praxis konstituiert, die in der Frühen Neuzeit zum ersten Mal sichtbar wird und die in der modernen Geschichtsschreibung bzw. der Ethnologie schließlich zur Wissenschaft werden wird  : die „Heterologie“ oder die „Wissenschaft vom Anderen“.1 Derjenige, der über das Andere berichtet, es zum Sprechen bringt, wird dabei zum Übersetzer, der das Andere zu kennen und es in den Kategorien des Eigenen verständlich machen zu können glaubt.2 Doch wenn die Heterologie darauf abzielt, das Andere dem Innenraum einer Wissensordnung einzugemeinden, erscheint dieses Andere dabei als etwas, das nicht restlos in dieser Eingemeindung aufgeht. Vielmehr entgleitet stets ein irreduzibler Rest an Alterität als das nicht Fassbare, das Unheimliche. Doch gerade durch diesen irreduziblen Rest bleibt die Heterologie dem Anderen, das sie sich anzueignen versucht, immer verhaftet. Als solche hervortreten können die Spuren des Anderen, so Certeau, am ehesten in der Literatur, und hier wiederum besonders in der fiktionalen Reiseliteratur. Dies erläutert Certeau am Beispiel von Daniel Defoes Robinson Crusoe  : Die Spuren im Sand, die Robinson Crusoe auf seiner Insel findet, entsprechen der Spur des Anderen, bevor es bekannt ist und dem Eigenen eingemeindet werden kann. Es handelt sich um eine Spur, derer man nie vollständig habhaft werden kann und die im Modus des „Vorbeigegangenseins“ erscheint.3 Die Unübersetzbarkeit der Spur des Anderen verweist für Certeau aber nicht nur auf die Fiktion, sondern letztlich auf eine uneinholbare Alterität theologischer Art  : Certeaus Heterologie ist unlösbar mit der Denktradition der Mystik als einer Praxis der Auslieferung an das Andere verbunden.4 Heterologien entfalten sich für Certeau – und das ist die mediengeschichtliche Impli1 Die wichtigsten Beiträge Certeaus zur Heterologie sind v.a. in einer englischsprachigen Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen mit dem Titel Heterologies  : Discourse on the Other, Minneapolis 2006 (zuerst 1986) erschienen. Ein Teil der dort versammelten Beiträge findet sich in französischer Sprache in  : Histoire et psychanalyse entre science et fiction, hg. von Luce Giard, Paris 2002 (zuerst 1987)  ; vgl. dort v.a. L’absent de l’Histoire, S. 208–218. 2 Vgl. Michel de Certeau  : La science de la fable, in  : ders.: L’invention du quotidien 1. Arts de faire, hg. von Luce Giard, Paris 1990, S. 232–235. 3 Vgl. zu Robinson Crusoe und der Heterologie Certeau  : L’absent de l’Histoire, S. 215–218. 4 Der Mystik hat Certeau eine seiner vielleicht wichtigsten Studien gewidmet  : La fable mystique, Paris 1982.

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kation des Begriffs – stets an der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sie implizieren eine Übersetzungsleistung besonderer Art  : Diese Übersetzung findet nicht einfach zwischen zwei Sprachen statt, sie ist vielmehr intermedial und erfolgt aus der Oralität in die Schrift. Noch mehr als die Übersetzung zwischen zwei Sprachen lässt diese Form der Übersetzung gleichzeitig einen unübersetzbaren Rest hervortreten, der nicht bzw. nur als Spur in die Schriftlichkeit eingeht.5 Gegenüber dem radikalen, letztlich theologisch geprägten Alteritätsdenken bei Certeau soll hier der Begriff der Heterologie zwar heuristisch weiter benutzt werden, um davon ausgehend aber das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in etwas anderer Weise als Certeau zu befragen  : Eine erste Frage wäre, was aus dem Konzept der Heterologie wird, wenn es nicht mehr ausschließlich auf der Grenze von Mündlichkeit und Schriftlichkeit operiert, wie bei Certeau, sondern auf dem Feld der visuellen Kultur, d.h. wenn es nicht oder nicht nur eine Heterologie, sondern (auch) eine ‚Heterovision‘ konstituiert. Kann hier die scharfe Grenze zwischen Einschreibung als überlegene Kulturtechnik und deren Abwesenheit, die ein radikales Anderes hervortreibt, überhaupt noch aufrecht erhalten werden oder geht es vielmehr darum, eine relative Grenze zwischen unterschiedlichen medialen Praktiken anzunehmen, die dem Dargestellten nie den Status absoluter, irreduzibler, sondern relativer, vergleich- und verhandelbarer Alterität zuweist  ? Vor allem um eine zweite Frage soll es in den folgenden Überlegungen gehen  : Wie verändert sich das certeausche Modell der Heterologie, wenn es in eine Kette von textuellen Neubeschreibungen bzw. bildlichen Revisionen eingespeist wird, an der auch die ursprünglich nur Beschriebenen bzw. Abgebildeten aktiv Anteil nehmen  ? Kann dabei aus der irreduziblen Alterität, die Certeau interessiert, die Grundlage für ein Eigenes werden  ; anders gesprochen  : kann das Andere der heterologischen Zuschreibung in solchen Wiederholungen zu einem Eigenen, zu einer Auto-Logie bzw. einer Auto-Vision werden  ? Das Andere, das Robinson Crusoe beim Anblick der fremden Fußspuren im Sand seiner Karibikinsel erschreckt, ist bekanntlich mit dem Attribut des Kannibalismus belegt  : Die Anthropophagie ist seit der Antike eine Alteritätsfigur par excellence, die für die Untersuchung von Heterologien besonders ergiebig scheint. Und in der Tat entwickelt Michel de Certeau sein Konzept der Heterologie selbst an dem Gegenstand, um den es 5 Es würde hier zu weit führen, den berühmten Stich von Jan van der Straet über die Allegorie Amerikas als in einer Hängematte liegender, sich nackt darbietender weiblicher Körper, als mögliches Paradigma einer Heterologie zu interpretieren, bei der sich, so zumindest Certeaus Interpretation, der stehende Eroberer Amerigo Vespucci mit seinen Instrumenten des westlichen Wissens wie in eine jungfräuliche weiße Seite ‚einschreibt‘. Vgl. die kurze Diskussion des Stichs von van der Straet im Vorwort von Michel de Certeau  : L’écriture de l’Histoire, Paris 1978, S. 3 (dieses Vorwort fehlt in der ersten Ausgabe von 1975), sowie die ausführliche kritische Diskussion, die diese These nach sich gezogen hat, u.a. bei José Rabasa  : The Nakedness of America, in  : ders.: Inventing A-M-E-R-I-C-A, Norman/London 1993, S. 23–37, sowie bei Maike Christadler  : Giovanni Stradanos America-Allegorie als Ikone der Postcolonial Studies, in  : Kunst und Politik, Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, 2002, H. 3, S. 17–33.

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im Rahmen dieses Beitrags gehen soll, nämlich am Beispiel der in frühneuzeitlichen Reiseberichten topisch als Kannibalen bezeichneten Tupi-Indianer Brasiliens. Darüber gibt ein von Luce Giard posthum veröffentlichtes Forschungsprojekt Certeaus aus dem Jahr 1978 Aufschluss, das in dieser Form nie zu Ende geführt wurde, das aber mit dafür verantwortlich sein dürfte, dass das Konzept der Heterologie in den publizierten Schriften Certeaus immer wieder auftaucht.6 Die Fußspur des karibischen Kannibalen Friday führt also schon in den Schriften Certeaus zurück zur Beschäftigung mit Kannibalen-Darstellungen in den Reiseberichten der Frühen Neuzeit  : Das radikal Andere des Kannibalismus bei Defoe ist selbst bereits die Spur einer textuellen Relektüre bzw. möglicherweise auch einer bildhaften Revision, das die heterologische ‚erste‘ Begegnung de facto auf eine immer schon vorausliegende Szene zurückverweist. Eine solche Kette von HeterologieDiskursen ließe sich von der frühen Neuzeit relativ bruchlos bis in die Antike zurückverfolgen. In der Folge soll es aber weniger um den chronologischen Weg zurück in die Antike als vielmehr um die umgekehrte Fortsetzung der Kette von Relektüren bzw. Revisionen der kannibalischen Heterologie in Brasilien von der Frühen Neuzeit in die Moderne gehen. Nachdem der Kannibale (caníbal) durch Kolumbus bei seiner ersten Amerikareise erfunden wurde7, hat er sich, so zumindest der Eindruck, den man aus der Lektüre von frühneuzeitlichen Reiseberichten gewinnt, im 16. Jahrhundert vor allem in Brasilien ‚niedergelassen‘  : Es geht in dieser Migrationsgeschichte nicht um eine tatsächliche ‚Wanderung‘ des Stamms, der der Bezeichnung ‚Kannibale‘ seinen Ursprung gegeben hat, nämlich der ‚Kariben‘, von denen sich auch die Bezeichnung ‚Karibik‘ herleitet  ; es geht vielmehr um eine Wanderung der Zuschreibung des Kannibalismus, die sich, wie sich zeigen lässt, tatsächlich als eine Wanderung von der kannibalischen ‚Urszene‘ bei Kolumbus in der Karibik bis ins Innere des brasilianischen Urwalds vollzieht.8 Mitte des 16. Jahrhunderts spielen sich in der frühneuzeitlichen Reiseliteratur mehrere kannibalische Schreibszenen ab, die diese Lokalisierung der Kannibalen in Brasilien bekräftigen. Dies geschieht vor allem durch die Darstellung der brasilianischen Tupinamba bei Hans Staden und Jean de Léry. Beide verändern allerdings auch die ursprüngliche, von Kolumbus in die ‚Neue Welt‘ getragene heterologische Konstellation des Kannibalismus insofern, als sie von Begegnungen mit den Kannibalen berichten, die man nicht nur am Rand der Welt (wie in der Antike) oder auf geheimnisvollen Nachbarinseln (wie bei Kolumbus) vorfindet9, sondern mit denen man in direkte Interaktion treten kann. Den6 Michel de Certeau  : Travel Narratives of the French to Brazil  : Sixteenth to Eighteenth Centuries, in  : Representations, 1991, H. 33, S. 221–226. Vgl. im gleichen Sonderheft zum Thema “The New World” über dieses Projekt Luce Giard  : Epilogue  : Michel de Certeau’s Heterology and The New World, ebd., S. 212–220. 7 Vgl. dazu grundlegend Frank Lestringant  : Le cannibale. Grandeur et décadence, Paris 1994, v.a. S. 43–55. 8 Vgl. dazu Verf.: Cannibales sur la carte. Essai de localisation, in  : Visualisierung und kultureller Transfer, hg. von Kirsten Kramer und Jens Baumgarten, Würzburg 2009, S. 257–274. 9 Vgl. zur Antike, insbesondere zu Herodot, James Romm  : The Edges of the Earth in Ancient Thought  : Ge-

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noch bleibt der Kannibale die bevorzugte Alteritätsfigur der europäischen Reiseliteratur, selbst dort, wo er nicht als Prototyp des bösen Wilden (wie etwa Shakespeares Caliban) fungiert, sondern eher als dessen Gegenteil, wie bei Michel de Montaigne.10 Allerdings wird in den Kannibalismus-Texten des 16. Jahrhunderts die Unterscheidung zwischen den zivilisierten Europäern und den primitiven Ureinwohnern Amerikas erneut in die Unterscheidung zwischen den Europäern selbst eingetragen, wenn vor dem Hintergrund des Eucharistiestreits Katholiken von protestantischer Seite zu Kannibalen gemacht werden, deren Handeln weit grausamer sei als das der ‚echten‘ Kannibalen  : Die Religionskriege des 16. Jh. erscheinen somit als re-entry der Unterscheidung von Zivilisation und Wildheit in die westliche Zivilisation, die eine forcierte ‚Heterologisierung‘11 im Inneren betreibt und somit im Streit der Konfessionen die Eroberung der neuen Welt mit anderen Mitteln weiterführt.12 Heterologische Konstellationen prägen, so ist zu vermuten, noch die Psychoanalyse sowie die Kulturtheorie Freuds, von der Certeau ganz zu Recht annimmt, sie sei einer der Orte, an der die koloniale Heterologie in der Moderne ihre Fortsetzung findet  : Wenn Freud in Totem und Tabu den kannibalischen Akt des Vatermordes und -verzehrs, der in der Folge tabuisiert würde, an den Beginn der menschlichen Zivilisation setzt, so spukt das Gespenst des Kannibalischen als des radikal Anderen dabei weiterhin durch die Kultur­ theorie des 20. Jahrhunderts.13 Nur ist dieses Andere bei Freud kein ‚äußeres‘ Anderes mehr, das Alterität topographisch vom Eigenen abgrenzt, sondern diese äußere geographische Differenz ist für Freud in eine innerpsychische Differenz verlagert worden, was der Heterologie aber letztlich nur einen neuen Schauplatz eröffnet. Nicht lange nach Freud wird – und hier setzen die folgenden Überlegungen zur Transformation radikaler Heterologien samt ihrer Nebeneffekte an – in der Heimat der frühneuzeitlichen Kannibalismuszuschreibung, d.h. in Brasilien, die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, dass das heterologisch Andere des Kannibalismus selbst eine Stimme erhält und wie es aus der Rolle des radikal Anderen heraustreten kann. Das berühmte Manifesto antropófago des brasilianischen Modernisten Oswald de Andrade aus dem Jahr 192814 ography, Exploration, and Fiction, Princeton 1992  ; zu Kolumbus und den Kariben/Kannibalen vgl. grundlegend Peter Hulme  : Colonial Encounters  : Europe and the Native Caribbean, London 1986. 10 Vgl. zu Montaigne und Shakespeare Frank Lestringant  : Le Brésil de Montaigne  : Le Nouveau Monde des Essais, Paris 2005, v.a. die Einleitung, S. 7–60, sowie die sich anschließende Textauswahl, u.a. aus Shakespeares The Tempest (ebd., S. 225–228). 11 Diese ‚Heterologisierung‘ entspricht dem, was Gayatri Chakravorty Spivak als “othering” bezeichnet hat. Vgl. Bill Ashcroft u.a. (Hg.)  : Post-Colonial Studies  : The Key Concepts, London 2006, s.v. othering. 12 Vgl. dazu Frank Lestringant  : Une sainte horreur ou Le voyage en Eucharistie, Paris 1996. 13 Insbesondere natürlich Sigmund Freud  : Totem und Tabu, Frankfurt/M. 1991 (zuerst 1912–1913), Teil IV  : Die infantile Wiederkehr des Totemismus, S. 151–217. 14 Oswald de Andrade  : Manifesto antropófago, in  : ders.: A Utopia antropofágica, São Paulo 1995, S. 47–52. Deutsche Übersetzung in Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.)  : Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, Stuttgart/Weimar 1995, S. 380–383.

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kann als ein besonders folgenreicher Versuch betrachtet werden, die Heterologie über den Kannibalen, die diesen in der Position des unheimlichen Anderen gefangen hält, zugunsten einer ‚Autologie‘ des Sprechens des Kannibalen über sich selbst aufzulösen, indem es die antropofagia zur positiven Selbstbeschreibung umwertet. Der Kannibalismus als Merkmal der nationalen und kulturellen Identität Brasiliens15 wird dabei metaphorisiert zu einer ‚Schreibszene‘ der zitierenden Aneignung als kulturelle Praxis der Einverleibung, bei der das ‚Auffressen‘ als Metapher der skripturalen Aneignung europäischer Kultur verstanden wird.16 Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, wie Oswald de Andrade mit der Gattung des Manifests, die aus den europäischen Avantgarden stammt, umgeht, indem er sie sich zitierend ‚einverleibt‘.17 Es bleibt jedoch trotz des brasilianischen Modernismus die Frage, ob die Markierung des Heterologischen so einfach aufgelöst werden kann  : Der spielerische Kurzschluss zwischen dem Einverleiben im buchstäblichen und im übertragenen Sinn der schriftgestützten Aneignung, den das Manifesto antropófago vornimmt, kann nicht über grundlegende Schwierigkeiten in der Aneignung der kannibalischen ‚Heterologie‘ als Ausdruck der eigenen, brasilianischen Identität hinwegtäuschen  : De facto kann das Manifest, so ließe sich behaupten, der Heterologie nicht ganz entkommen, da es nämlich die europäische Fremdzuschreibung in eine affirmierte Selbstzuschreibung umwandelt. Eine vergleichbare, aber sowohl medial als auch im Umgang mit dem historischen Material von vornherein differenzbewusst vorgehende Wiederaufnahme der kannibalischen Heterologie aus brasilianischer Sicht nimmt der Film Como era gostoso o meu francês von Nelson Pereira dos Santos vor, um den es in der Folge gehen soll18  : Bei diesem Film handelt es sich nicht in erster Linie um eine schriftgestützte zitierende Aneignung von theologischen, historio­ graphischen und ethnologisch-kulturtheoretischen Texten über den Kannibalismus von den Briefen der Jesuiten bis zu Sigmund Freud. Er setzt sich vor allem auf bildlicher Ebene mit den wohl bekanntesten visuellen Darstellungen des Kannibalismus in der Frühen Neuzeit, den Kupferstichen Theodor de Brys auseinander. 15 Es gehört zu den Eigenheiten des brasilianischen Identitätsdiskurses im frühen 20. Jahrhundert, dass er sich in einer postkolonialen Situation mit dem Stamm der Tupinamba identifiziert, wie er im Zeitalter der Eroberung Brasiliens in der Frühen Neuzeit von den europäischen Eroberern beschrieben wurde. Diese konstitutive Verschiebung bildet den Ausgangspunkt für den in diesem Beitrag unternommenen Versuch, die Grenzen der Verwandelbarkeit von kolonialer Heterologie in postkoloniale Sprachen über die eigene Identität aufzuzeigen. 16 Vgl. zur Metaphorik der Einverleibung in Bezug auf das das Zitat und die Schrift Maggie Kilgour  : From Communion to Cannibalism  : An Anatomy of Metaphors of Incorporation, Princeton 1990. 17 Bereits vor Andrade hatte Francis Picabia 1920 ein Manifeste cannibale Dada veröffentlicht. Vgl. Asholt/ Fähnders  : Manifeste, S. 192. 18 Wörtliche Übersetzung  : „Wie schmackhaft war mein Franzose“. Der englische Verleihtitel fügt noch ein Wort hinzu, das den Kannibalismus stärker verniedlicht als dies wohl ursprünglich intendiert war  : “How tasty was my little Frenchman”. Ich verwende die DVD-Ausgabe New York 2007, auf die ich mich im Folgenden im laufenden Text mit Zeitangabe beziehe.

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II. Von Theodor de Bry zu Nelson Pereira dos Santos Vor der Untersuchung des Films selbst sind einige Bemerkungen zum filmgeschichtlichen Umfeld19 angebracht, in dem die Berufung auf den Kannibalismus zu einer eigenen Strömung der brasilianischen Kultur in der Tradition des Modernismus bei Oswald de Andrade wird. Nelson Pereira dos Santos (*1928) gilt in Brasilien als Vater des Cinema Novo, des ‚Neuen Kinos‘ der 50er-Jahre, das in Brasilien, beinflusst durch den italienischen Neorealismo, sogar früher als die Nouvelle Vague in Frankreich und das Novo Cinema in Portugal Fuß fasst. Verantwortlich dafür sind vor allem zwei direkt in neorealistischer Tradition stehende Filme von Pereira dos Santos aus den 50er Jahren über Rio de Janeiro (Rio 40 graus von 1955 und Rio zona norte von 1957). Vor allem in den 60er Jahren, die vom Beginn der Militärdiktatur im Jahr 1964 geprägt sind, bildet sich im brasilianischen Kino ein politischer Autorenfilm heraus, dessen Exponenten Pereira dos Santos’ Sertão-Film Vidas secas (1964) sowie die allegorischen Filme von Glauber Rocha (v.a. Deus e o diabo na terra do sol von 1964 und Terra em transe von 1967) sind, der mit seinen programmatischen Aussagen dem Cinema Novo auch eine explizite Poetik verschafft.20 Gegen Ende der 60er- und zu Anfang der 70er-Jahre schließlich sucht, immer noch unter den Bedingungen der Militärdiktatur, das Cinema Novo den Schulterschluss mit der Populärkultur, wobei unter dem Label des Tropicalismo die Utopie eines umfassenden hybrid-inkorporativen kollektiven Identitätsmodells entworfen wird, das, so zumindest das Programm, auch die Populärkultur umfasst.21 In diese Phase des Cinema Novo fallen mit der Verfilmung von Macunaíma von Joaquim Pedro de Andrade (1968) und Como era gostôso o meu francês von Pereira dos Santos aus dem Jahr 1971 zwei Filme, die explizit auf das modernistische Konzept der Antropofagia nach Oswald de Andrade zurückgreifen und eine gleichnamige, mit dem Tropicalismo in enger Verbindung stehende Bewegung begründen.22 Dabei scheint es aber ganz so, als würde der zunächst auflebenden Euphorie eines populären integrativen brasilianischen Identitätsbegriffs gegen Ende dieser Phase bei Pereira dos Santos bereits eine nachdenklichere Gegenlektüre entgegensetzt – eine Gegenlektüre, die sich vor allem angesichts der Militärdiktatur in Brasilien der Spuren der kolonialen Heterologie bewusst bleibt.23 19 Vgl. zum Folgenden den Überblick bei Lisa Shaw  : Brazilian National Cinema, London 2007. 20 Vgl. v.a. Glauber Rocha  : Estética da Fome, in  : ders.: Revolução do Cinema Novo, São Paulo 2004, S. 63–66. 21 Exemplarisch sei hier nur Caetano Velosos Album Tropicália von 1969 erwähnt, das in einer Mischung von brasilianischer Volksmusik, Bossa Nova, Rock und sogar Avantgardemusik das hybride Identitätsmodell der späten Sechzigerjahre musikalisch umsetzt. Vgl. dazu rückblickend Caetano Veloso  : Verdade tropical, São Paulo 1997. 22 Vgl. dazu den informativen Überblick bei Lúcia Nagib  : To Be or Not to Be a Cannibal, in  : dies.: Cinema Novo, New Cinema, Utopia, London/New York 2007, S. 59–80. 23 Vgl. zu dieser distanzierten Perspektive auf die Utopie der umfassenden brasilianischen Identität den Beitrag von Luís Madureira, dem die vorliegenden Überlegungen wichtige Einsichten verdanken  : Cannibal

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Von seinem Sujet her ist Como era gostoso o meu francês als hybride Verfilmung der wichtigsten Renaissance-Texte von Brasilienreisen zu verstehen – neben Hans Stadens Wahrhaftiger Historia von 1557 bezieht er auch zahlreiche andere historische Quellen, allen voran von Jean de Lérys Histoire d’un Voyage en terre de Brésil von 1578, ein24  : Der Film erzählt die Geschichte des Franzosen Jean, der mit der französischen Expedition des Hugenotten Villegagnon in der Guanabara-Bucht (heute die Bucht von Rio de Janeiro) an der Besiedelung des Fort Coligny in der kurzlebigen französischen Kolonie namens „France antarctique“ ab 1555 beteiligt ist, bevor die Reste dieser Besiedelung schließlich 1567 von den Portugiesen zerstört werden. Schon bald nach der Gründung der Kolonie kommt es zu internen Streitigkeiten der Franzosen, die sich an religiösen Fragen und vor allem an Villegagnons wenig protestantischem Verständnis des Abendmahls entzünden, wie dies ausführlich bei Jean de Léry dargestellt wird.25 Vor diesem Hintergrund wird die Ausgangssituation des Films verständlich  : Jean, der männliche Protagonist, rettet sich vor seiner von Villegagnon verfügten Hinrichtung als ‚Verschwörer‘ durch die Flucht in den Urwald, die ihn auf Umwegen zu den Tupinamba-Indianern führt. In der Folge lehnt sich der Plot des Films eher an die Geschichte von Hans Staden an, der mehrere Monate bei den Tupinamba lebt, bevor er schließlich durch geschicktes Taktieren freikommt. Auch Jean in Pereira dos Santos’ Film verhält sich gegenüber den Indianern taktisch  : Zunächst wird er von dem Stammeshäuptling Cunhambebe für einen Portugiesen gehalten, weil er bei den feindlichen Tupiniquins gefangen genommen wurde. Er wird aber bald zum wichtigen Unterstützer der Tupinamba und ihres Häuptlings in seinem Kampf gegen die Tupiniquins, da er als Kanonier mit den europäischen Waffen umzugehen weiß, von einem französischen Händler Schießpulver bekommt und Cunhambebe glauben lässt, er selbst habe die besondere Macht, das Schießpulver herzustellen. Damit verfügt er auch über eine relative Machtposition und Unabhängigkeit gegenüber den Tupinamba, die er zu seiner Befreiung ausnutzen zu können glaubt. Anders als bei Hans Staden scheitert aber Jeans Taktieren letztlich an seiner indianischen Lebensgefährtin Seboipepe. Allegories  : Cinema Novo and the “Myth” of Popular Cinema, in  : ders  : Cannibal Modernities. Postcoloniality and the Avant-Garde in Caribbean and Brazilian Literature, Charlottesville/London 2005, S. 111–130. Zu den Problemen, die Nelson Pereira dos Santos mit der Zensur hatte, vor allem wegen der in dem Film gezeigten Nacktheit, sowie zum unterschwelligen politischen Aktualitätsbezug des Films als mögliche Allegorie auf die brasilianische Diktatur vgl. Cristina Duarte  : „Des bêtes portant la figure humaine …“. La lettre de Villegagnon à Calvin dans la séquence inaugurale du film brésilien „Qu’il était bon mon petit Français“, in  : La correspondance dans le monde méditerranéen (XVIe-XXe siècle), hg. von Vincent Parello, Perpignan 2008, S. 159–176. 24 Vgl. folgende Ausgaben  : Hans Staden  : Die wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute, Stuttgart 1984  ; Jean de Léry  : Histoire d’un voyage en terre de Brésil, hg. von Frank Lestringant, Paris 1994. 25 Vgl. Léry  : Histoire d’un voyage, Kap. VI, S. 161–196. Zum Hintergrund vgl. Frank Lestringant  : Le huguenot et le sauvage, Genève 2004.

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Mit der weiblichen Protagonistin, der Witwe von Cunhambebes verstorbenem Bruder, kommt eine nicht auf historischen Quellen aus dem 16. Jahrhundert beruhende Person ins Spiel. Die intertextuelle Folie dafür ist der sehr viel später entstandene Roman Iracema des romantischen Schriftstellers José de Alencar, der die Beziehung zwischen der Häuptlingstochter Iracema (als Anagramm für ‚America‘) und einem portugiesischen Eroberer beschreibt.26 Doch im Gegensatz zum Schluss von Alencars Roman, der die Vereinigung von Kolonisatoren und Kolonisierten in der Geburt eines Mestizen-Kinds beschreibt, während die Mutter in der Tradition romantischer literarischer Frauenfiguren bei der Geburt des Kindes ihr Leben opfert27, bleibt in Como era gostoso o meu francês die Utopie der generationenübergreifenden Mestizierung (port.: mestizagem/span  : mestizaje) ausgespart, die die lateinamerikanische Identitätsdebatte seit der Entstehung der Nationalstaaten prägt.28 Außerdem ist es nicht die indigene Protagonistin, die geopfert wird, sondern – und hier setzt sich der Film nicht nur von der romantischen, sondern auch von der frühneuzeitlichen Folie ab – der europäische ‚Held‘ in einem kannibalischen Ritual, nachdem die Fluchtpläne Jeans von Seboipepe erkannt und durchkreuzt worden sind. An dieser Gestaltung des Plots lässt sich bereits deutlich der dialogische Anspruch der Films im Umgang mit seinen kolonialen und modernen literarischen Prätexten ersehen. Darauf soll nun anhand eines konkreten Beispiels näher eingegangen werden, bevor die Revision des kannibalischen Rituals bei Pereira dos Santos auf visueller Ebene untersucht werden soll.29 Audio-Vision und ironische Gegendarstellung  : Der Prolog

Wie die französische Nouvelle Vague betrachtet auch das brasilianische Cinema Novo das Zusammenspiel von Bild und Ton nicht als Dispositiv zur Stiftung einer möglichst nahtlosen Illusion, sondern treibt mit Vorliebe die Brüche im audiovisuellen Kontinuum des 26 José de Alencar  : Iracema. Lenda do Ceará, edição do Centenário, Rio de Janeiro 1965 (zuerst 1865). 27 Durch den Bezug auf Iracema wird der Film-Plot um das ergänzt, was in den frühneuzeitlichen Reiseberichten nie direkt Thema wird, nämlich um eine erotische Beziehung des europäischen Protagonisten mit einer jungen Indianerin. Bereits bei Alencar trägt diese Liebe – abgesehen vom Schluss – durchaus Züge weiblicher Emanzipation aus der Rolle der passiven Geliebten zur aktiven Kriegerin, die von Nelson Pereira dos Santos gezielt bis hin zu Seboipepes kannibalischem Akt am Schluss verstärkt werden. 28 Vgl. dazu Juan E. De Castro  : José de Alencars’s „Iracema“  : Mestizaje and the Fictional Foundation of Brazil, in  : ders.: Mestizo Nations. Culture, Race, and Conformity in Latin American Literature, Tucson 2002, S. 43–54. 29 Die folgenden Ausführungen basieren nicht zuletzt auf Anregungen aus einem MA-Seminar in Erfurt zu historischen Kannibalismusdarstellungen im WiSe 2008/09 sowie aus einem weiteren, gemeinsam mit Wolfgang Struck durchgeführten Seminar zu Kannibalen im Film im SoSe 2009 – von den zahlreichen Beiträgen der SeminarteilnehmerInnen seien stellvertretend die Arbeiten von Christiane Neumann und Mareike Upheber genannt.

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Films hervor.30 In Como era gostoso o meu francês äußert sich das programmatisch im Prolog des Films, in dem die Vorgeschichte von Jean vor seiner Ankunft bei den Indianern gezeigt wird, mit der die ereignishafte Grenzüberschreitung des Filmsujets beginnt. Dort tritt eine extradiegetische Off-Stimme wie ein anachronistischer Radiosprecher auf, der die neuesten Nachrichten aus den Kolonien mitteilt.31 Bei dem, was der Sprecher berichtet, handelt es sich aber de facto, wie sich allerdings erst am Ende des Prologs durch Nennung der Quelle herausstellt, um einen Brief von Villegagnon an Calvin vom 31. März 1557.32 Darin werden u.a. die ersten Eindrücke Villegagnons von seiner Begegnung mit den Eingeborenen festgehalten, die er als „wahre Tiere in Menschengestalt“ („verdadeiros animais com figuras de homens“, 0  :00  :47) bezeichnet, und es wird davon berichtet, wie sich 26 Söldner aus niederen, „fleischlichen“ Beweggründen („incitados por sua cupidez carnal“, 0  :02  :20) zu einer Verschwörung gegen Villegagnon zusammengerottet hätten. Schon der Anachronismus von Radiosprecher und historischem Briefwechsel macht skeptisch gegenüber der Zuverlässigkeit des Off-Sprechers, der sich als vertrauenswürdiger auktorialer Erzähler geriert. Seine Glaubwürdigkeit wird aber vor allem auf der visuellen Ebene des Films erschüttert  : Was man sieht, ist von Anfang an das explizite Dementi des Berichts Villegagnons. Während dieser von der Wildheit und Unzivilisiertheit der Eingeborenen berichtet, sieht man, wie die Indianderfrauen die Franzosen freundlich mit Gastgeschenken empfangen, was diese zur Anbahnung erster erotischer Kontakte nutzen. Ebenso werden die angeblichen Verschwörer im Bild als friedliche, ja trotz ihrer schlechten Behandlung durch Villegagnon geradezu bukolisch gestimmte Zeitgenossen dargestellt, deren unbewaffnetes Treffen mit den Indianern eher an ein „Déjeuner sur l’herbe“33 erinnert als an eine Konspiration. Auf die Spitze getrieben wird die Kontrafaktur der Berichterstattung Villegagnons jedoch durch dessen Aussage, einem der Verschwörer seien am Tag nach der Gefangennahme seine Fesseln abgenommen worden, damit er sich besser verteidigen könne („afim que pudesse melhor defender a sua causa“, 0  :03  :10). Gleichzeitig sieht man den in Ketten gelegten Jean, der auf einen Felsen über dem Meer geführt wird. Und während Villegagnon weiter berichtet, wie der Verschwörer zu fliehen versucht und dabei im Meer ertrinkt, sieht man, wie er von Soldaten in Begleitung eines Geistlichen mit der offensichtlichen Absicht ins Meer gestoßen wird, ihn zu ertränken. In der Widersprüchlichkeit von Ton und Bild erfolgt also eine ironische Revision von Texten aus der Kolonialzeit in dem Sinn, dass Pereira dos Santos in den Bildern die mög30 Vgl. dazu allgemein Gesine Hindemith  : Sonographie. Die Macht des Akustischen im französischen Autorenkino, Diss. LMU München 2010. 31 Vgl. zu dieser Beobachtung Duarte  : Des bêtes, S. 166f., die dies als Indiz für eine politische Anspielung des Films auf die herrschende Propaganda der Militärdiktatur in Brasilien nimmt. 32 Vgl. dazu Duarte  : Des bêtes, bei der sich der Brief Villegagnons in voller Länge abgedruckt findet (S. 172– 175), sowie die Analyse von Madureira  : Cannibal Allegories. 33 Dabei ist nicht nur an Manets Gemälde, sondern auch an Jean Renoirs gleichnamige Verfilmung von 1959 zu denken, auf die Nelson Pereira dos Santos hier anspielt.

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liche alternative Lebensgeschichte einer Person erzählt, die in dem Brief Villegagnons als ‚infamer‘ Mensch aus der Überlieferung herausfällt.34 Gerade dieser für Villegagnon eines verdienten Todes gestorbene Aufständische ist für Pereira dos Santos ein ‚Untoter‘, der es dem Film erlaubt, seine bildgestützte Revision der Kolonialgeschichte vom Buchstaben des kolonialen Prä-Textes zu lösen. An dieser Stelle erfolgt die Artikulation zwischen den Leerstellen der kolonialen Berichterstattung aus der Sicht Villegagnons und dem bei Hans Staden berichteten Schicksal der Gefangenschaft bei den Tupinamba, wovon dieser in seinem Text als autodiegetischer Erzähler berichtet. Die ironische Distanz von Nelson Pereira dos Santos’ Film bewahrt sich demgegenüber die Möglichkeit, sich in keinem Moment ganz mit dem Protagonisten Jean zu identifizieren, sondern die Perspektive in der Schwebe zu lassen. Dies ist für die Frage der kannibalischen Heterologie, wie nunmehr gezeigt werden soll, von entscheidender Bedeutung.35 Zur Erzählung des weiteren Schicksals Jeans folgt der Film weniger der autodiegetischen textuellen Perspektive des Textes Stadens als vielmehr der zumindest vom optischen Standpunkt her distanzierteren visuellen Perspektive der Kupferstiche Theodor de Brys aus dessen illustrierten Amerika-Reisen am Ende des 16. Jahrhunderts. Kupferstich und Filmbild  : Der Vorspann als Erzählmatrix

Theodor de Bry (1528–1598) lässt sich, aus Lüttich stammend, als calvinistischer Kupfer­ stecher zur Zeit der Religionskriege in Frankfurt nieder und wird dort zu einem der bekanntesten Verleger seiner Zeit. Wesentlich zu dieser Bekanntheit trägt ab 1590 seine Sammlung von Amerika-Reisen bei, die die Entdeckung und Eroberung der ‚Neuen Welt‘ in teilweise in vier Sprachen publizierten Editionen (Latein, Deutsch, Englisch und Französisch) aus protestantischer Perspektive beschreibt. Indem sich de Bry größtenteils nicht auf die katholischen, vor allem in Spanien entstehenden crónicas und relaciones der spanischen Conquista stützt, sondern auf spanienkritische Darstellungen, trägt er wesentlich zur Verbreitung der so genannten leyenda negra der spanischen Conquista bei. Gleichzeitig stellt er die protestantische Besiedelung Amerikas als weniger brutal und möglicherweise sogar als Erfüllung einer theologischen Mission dar, nämlich als Rückkehr ins gelobte Land.36 Es ist besonders der dritte Band der America-Reisen, der 1593 erstmals erscheint, in dem die für de Bry typische 34 Zur Geschichtslosigkeit der ‚infamen Menschen‘ vgl. Michel Foucault  : La vie des hommes infâmes, in  : ders.: Dits et écrits III, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Paris 1994, S. 237–253. 35 Diese Dialogizität unterscheidet Nelson Pereira dos Santos’ Film auch von der Neuverfilmung der Geschichte Stadens durch Luís Alberto Pereira unter dem Titel Hans Staden von 1999, die sich durchgängig an die Perspektive Stadens anlehnt und den Text Stadens nicht als eine dialogisch zu behandelnde Vorlage unter vielen betrachtet, sondern als ‚faktuale‘ Quelle historischer Wahrheit. Vgl. zum Vergleich zwischen den beiden Filmen auch Nagib  : To Be or Not to Be. 36 Vgl. den programmatischen Einstieg mit der Darstellung des Gartens Eden zu Beginn des ersten Bandes der America-Serie über das nordamerikanische Virginia. Alle Kupferstiche der America-Serie sind wiedergegeben in  : America de Bry 1590–1634, hg. von Gereon Sievernich, Berlin/New York 1990, hier 15.

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Abb. 1: Szene aus Nelson Pereira dos Santos: Como era gostoso o meu francês (0:04:46)

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Abb. 2: Szene aus Nelson Pereira dos Santos: Como era gostoso o meu francês (1:18:04)

Kombination von Kupferstichen und dem Wiederabdruck von Amerika-Reiseberichten eine besondere Komplexität gewinnt, und es ist auch dieser Band, der die Grundlage für die Darstellung von Kannibalen bildet, die die gesamte Frühe Neuzeit nachhaltig geprägt hat.37 In diesem Band finden sich sowohl die Texte von Hans Stadens Wahrhaftiger Historie als auch von Jean de Lérys Histoire d’un voyage, auf die sich, wie bereits dargestellt, Pereira dos Santos’ Film im Wesentlichen stützt. Beide Berichte werden begleitet von einer ikonographischen Serie von Kupferstichen, die sich selbst bereits in eine Serie von Vor-Bildern einschreibt, allen voran die Holzstiche in der Erstausgabe von Stadens Wahrhaftiger Historie von 1557. Die besondere Bedeutung von de Brys Kupferstichen für Pereira dos Santos’ Film wird im sich an den gerade analysierten Prolog unmittelbar anschließenden Vorspann (0  :03  :500  :06  :25) explizit deutlich gemacht. Dort alternieren Inserts mit dem Titel des Films und den Namen der beteiligten Schauspieler mit Detailaufnahmen von den Stichen aus dem dritten Teil von de Brys America-Reisen. Diese Aufnahmen sind alles andere als bloße Präliminarien  ; sie haben eine entscheidende Matrix-Funktion für die Narration des Films.38 Schon hier ist auffällig, dass nicht die Stiche als ganze gezeigt werden, sondern Ausschnitte daraus in Großaufnahme, die zusätzlich noch durch Zoombewegungen begleitet werden. Es ist weiterhin feststellbar, dass die Kamerabewegung des zooming out dabei häufiger vertreten ist als diejenige des zooming in  : Die Bewegung der Kamera kann unter Umständen als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Bilder des Films aus Details der Stiche heraus entwickelt werden. Und in der Tat kehren die meisten der im Vorspann gezeigten Details, wie z.B. die Kopfbemalung des Opfers des kannibalischen Rituals oder die Keule, mit der es erschlagen wird, später im Film wieder (vgl. Abb. 1/Abb. 2). 37 Lateinischer Originaltitel  : Americae tertia pars. Memorabile[m] provinciae Brasiliae historiam continens […], Frankfurt/M. 1593. Vgl. die Stiche in  : America de Bry, S. 110–147. 38 Zum Vorspann des Films als Schwelle zur Narration vgl. allgemein Alexander Böhnke  : Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums, Bielefeld 2007, S. 72–78.

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Abb. 3: de Bry, America, Buch III, 2. Teil (America de Bry, S. 137)

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Abb. 4: Szene aus Nelson Pereira dos Santos: Como era gostoso o meu francês (1:18:22)

Damit werden de Brys Stiche in den Stand eines story boards erhoben, das bis in kleinste Einzelheiten die mise en scène des Films steuert. Das Filmset erscheint beispielsweise als der Nachbau der Kulisse eines indianischen Dorfs mit dem Platz zwischen den Strohhütten, an dem sich die Frauen zum Tanz versammeln und dem boucan, dem Holzrost, auf dem die Fleischstücke geröstet werden. Selbst die Kamera begibt sich am Ende des Films in eine Perspektive, die derjenigen der erhöhten Vogelperspektive entspricht, mit der de Bry zu Beginn seiner Serie von Stichen die topographische Anordnung der Bauten des Dorfes erkennbar macht (vgl. Abb. 3/Abb. 4). Dieser narrative oder sogar proto-filmische Charakter der visuellen Darstellung ist bereits in den Kupferstichen selbst angelegt.39 Die besondere Leistung de Brys, die sich auch für eine weitere filmische Bearbeitung der Stiche anbietet, ist die Integration der Stiche in ein weitgehend homogenes Setting, das die Bilder standardisiert und noch deutlicher als etwa in den vorangehenden Ausgaben der Wahrhaftigen Historie von Staden narrativiert. Grundlage aller Stiche ist bei ihm, der als Kupferstecher auch Karten verfertigt hat, dabei häufig eine aperspektivische Kartendarstellung, die als räumliche Matrix der dargestellten Szenen dient und die Suggestion einer vollständigen kartographischen Lokalisierbarkeit der Ereignisse, von der Landkarte am Anfang eines jeden Bandes der America-Serie, bis hin zu den Details auf den einzelnen Karten erzeugt.40 Die Abfolge der einzelnen Bilder 39 Man muss dabei nicht einmal so weit gehen wie Jörg Jochen Berns  : Film vor dem Film  : Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, der Bildmedien der Frühen Neuzeit generell eine Tendenz zum Bewegungsbild unterstellt, die erst Jahrhunderte später im Film ihre technische Realisierung findet. In diesem spezifischen Fall trifft aber die von Berns disgnostizierte Proto-Filmizität der de Bryschen Stiche durchaus zu. 40 Vgl. dazu Verf.: Die Karte als imaginierter Ursprung. Zur frühneuzeitlichen Konkurrenz von textueller und kartographischer Raumkonstitution in den America-Reisen Theodor de Brys, in  : Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext (Germanistisches DFG-Symposium 2004), hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart/Weimar 2005, S. 73–99.

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ist teilweise zu comicartigen Sequenzen angeordnet, wobei nicht nur zwischen den Bildern, sondern zum Teil auch in ihnen Bewegungsfolgen dargestellt werden. Die Simultaneität einer Momentaufnahme wird so zur Sukzession verschiedener Bewegungsmomente innerhalb eines Stiches erweitert – ein Vorgehen, das die Ethnologin Bernadette Bucher, eine der genauesten Interpretinnen der Stiche in Anschluss an die strukturale Anthropologie von Lévi-Strauss, als „Rotationsmethode“ bezeichnet hat.41 Die Suggestionskraft dieser Bilder-Geschichte war offensichtlich so hoch, dass in späteren Sammel-Ausgaben der America-Reisen teilweise auf die vollständige Wiedergabe der Reiseberichte verzichtet wurde und an ihrer Stelle nur noch die Stiche mit ihren Bildunterschriften als Bilder­ geschichten präsentiert wurden, die sich von der schriftlichen Vorlage emanzipiert haben.42 Damit hat de Bry wesentlichen Anteil an der Entstehung einer wirkungsmächtigen visuellen Kultur des Kannibalismus ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, auf die Pereira dos Santos fast vierhundert Jahre später zurückgreift. Auch seine Geschichte folgt nicht primär der an den Text gebundenen Erzähllogik Hans Stadens, der nur dadurch zum Erzähler werden kann, dass er überlebt. Sie folgt vielmehr der Logik einer Bilderserie, die sich von der homodiegetischen Erzählerperspektive löst und auf den Höhepunkt der Hinrichtung des Gefangenen zuläuft. In der Ablösung vom Text emergiert aus den Filmbildern ein indigenes Ritual der Tupinamba, das zunächst den Eindruck erwecken könnte, gleichsam autonom, ohne den heterologischen Blick eines Europäers, für sich zu stehen und stattdessen eine fiktionale AutoVision der indianischen Identität zu realisieren. Auf eine solche Perspektive lässt auch der Titel des Films schließen, der die Aussage von der Schmackhaftigkeit des verspeisten Franzosen aus der Perspektive der Tupinamba und vor allem aus derjenigen der ehemaligen Geliebten Seboipepe zu formulieren scheint. Doch dieser Anschein von Autonomisierung trügt, denn im Grunde macht Pereira dos Santos vom Vorspann an deutlich, dass diese Suggestion einer Autonomie der indianischen Perspektive doch komplett aus einer europäischen Ikonographie heraus entsprungen ist – das scheinbare ‚Original‘ ist also immer bereits gedoppelt. Auf diese manifeste Spannung zwischen den historischen Quellen einer kolonialen Heterologie und der filmischen Suggestion einer fiktionalen Auto-Vision gilt es nun abschließend noch näher einzugehen. Kannibalische Blicke  : Der Schluss

Pereira dos Santos’ Film schließt, wie dargestellt, mit der visuellen ‚Verlebendigung‘ einer scheinbar indigenen Tradition, deren Quellen aber selbst wiederum in den in Europa 41 Vgl. dazu Bernadette Bucher  : La sauvage aux seins pendants, Paris 1977, v.a. S. 34. 42 Vgl. Susanna Burghartz  : Transformation und Polysemie. Zur Dynamik zwischen Bild, Text und Kontext in den Americae der de Bry, in  : Text und Bild in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. Westliche Zeugnisse über Amerika und das Osmanische Reich, hg. von Ulrike Ilg, Venezia 2008, S. 233–268, 321–325.

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entstandenen Stichen Theodor de Brys liegen. Die scheinbare indianische Auto-Vision ist also de facto immer schon von den Spuren einer europäischen Darstellungstradition durchzogen, die die Markierung der Heterologie nicht vollständig abstreifen kann. Die Wiederholung hat somit einen dekonstruktiven Effekt, der das scheinbar Eigene immer schon als Vermitteltes, Fremdes ausweist.43 Der Film Como era gostoso o meu francês bleibt sich der Markierung dieses Bruchs stets bewusst. Doch es stellt sich die Frage, ob man die Wiederholung nur dekonstruktiv lesen oder auch anders verstehen kann. Auch die Schlussszene des Films ist nämlich von einer Wiederholungsstruktur geprägt, d.h. das Ritual der Hinrichtung Jeans ist im Film gedoppelt  : Zu einem Zeitpunkt, als er noch fest an seine Flucht glaubt, wird er von Seboipepe erstmals in den Ablauf des Rituals eingeweiht (1  :11  :10–1  :14  :00)  : Wenn Jean dabei im Spiel lernt, was er im Moment seiner Tötung zu sagen und wie er zu handeln habe, ist das für ihn bis auf Weiteres nur ein folgenloses ‚Als-ob‘, das zunächst nicht im Tötungs-, sondern im Liebesakt zwischen den beiden endet (vgl. den gespielten Tötungsakt durch den Schlag Seboipepes mit einer imaginierten Keule, 1  :13  :20). Danach möchte er fliehen, wird daran jedoch von Seboipepe in Amazonen-Manier mit Pfeil und Bogen gehindert.44 Jetzt erst beginnt das eigentliche Ritual, diesmal mit der Folge der tatsächlichen Hinrichtung Jeans. Vor seiner Tötung richtet Cunhambebe an den Franzosen Jean die rituellen Worte, auf die Seboipepe ihn vorbereitet hat („Ich bin gekommen, um dich zu töten, weil deine Leute viele von unseren getötet und aufgegessen haben.“) Jean führt insofern das Ritual fort, als er genau die vorgesehenen Worte antwortet  : „Wenn ich sterbe, werden meine Freunde kommen, um mich zu rächen.“ (1  :17  :50–1  :18  :20) Doch er tut dies auf Französisch und nicht, wie zuvor mit Seboipepe einstudiert, in Tupi-Guarani, der Sprache der Tupinamba.45 Die tragische Ironie dieses Sprachwechsels ist, dass sich die von Jean geäußerte Prophezeihung nur allzu bald erfüllen wird, wenn man das Kommen der Freunde auf die Europäer bezieht, die die Indianer Brasiliens schon bald nach Jeans Tod nahezu ausrotten werden – dadurch geht die Stammesrache aus der ‚kalten‘ Wiederholung des kannibalischen Ritus in eine ‚heiße‘ Vorschau auf die kolonialgeschichtliche Unterwerfung der Tupinamba über.46 Hier führt die Wiederholung nicht so sehr zur Dekonstruktion des Rituals, das nur über einen europäischen Blick vermittelt ist. Vielmehr wird umgekehrt die Eroberungs­ 43 Diese Beobachtung lässt sich auch auf die Schauspieler beziehen, die die Tupinamba spielen. Die bekannte Darstellerin von Seboipepe, Ana Maria Magalhães, ist beileibe keine ‚echte‘ Tupinamba-Indianerin, sondern, wie alle anderen Tupinamba-Darsteller auch, eine Schauspielerin, die ihr ‚indianisches‘ Aussehen einer deutlich erkennbaren roten Bemalung verdankt. 44 Dies dürfte ein Echo des Beginns von Iracema sein, wo Iracema den Portugiesen Martim bei der ersten Begegnung mit einem Pfeil verwundet (Alencar  : Iracema, Kap. II, S. 51f ). Doch während sich bei Iracema die Kriegs- in eine Liebeswunde verwandelt, verläuft die Entwicklung in Como era gostoso o meu francês gerade umgekehrt. 45 Die Tupi-Dialoge des Films stammen von dem brasilianischen Regisseur Humberto Mauro. 46 Zu ‚heißen‘ und ‚kalten‘ Kulturen vgl. Claude Lévi-Strauss  : La pensée sauvage, Paris 1962, S. 278ff.

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Abb. 5: Szene aus Nelson Pereira dos Santos: Como era gostoso o meu francês (1:18:55)

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Abb. 6: Szene aus Nelson Pereira dos Santos: Como era gostoso o meu francês (1:18:58)

geschichte Brasiliens aus der imaginierten Perspektive einer „kalten“ Gesellschaft sichtbar  : Die Frage, die der Film aufwirft, ist diejenige, ob die Eroberung Brasiliens und mit ihr die neuzeitliche Weltgeschichte letztlich nichts weiter ist als die Fortführung der kannibalischen Stammesrache mit anderen Mitteln.47 Dass der Film die Beantwortung der Frage nach der depotenzierenden oder aber nach der re-ritualisierenden Funktion der Wiederholung bewusst offen lässt, zeigt wiederum auf der bildlichen Ebene die Schlusseinstellung  : Am Ende des Films steht der kannibalische Akt, der Seboipepe kauend dabei zeigt, wie sie offensichtlich ein Stück ihres Geliebten verspeist (vgl. Abb. 5). Doch der Film zeigt nicht nur diesen Akt  : Er zeigt kurz darauf auch den Blick von Seboipepe, wie sie, immer noch kauend, direkt in die Kamera blickt (vgl. Abb. 6). Mit dem bewussten Einsatz dieser nach den Regeln der klassischen mise en scène verpönten Einstellung48 erweist Pereira dos Santos der französischen Nouvelle Vague seine Reverenz  : Der Film, der diese Bewegung begründet, François Truffauts Les 400 coups von 1959, endet mit einem Kamerablick des Helden Antoine Doinel, der das diegetische Universum des Films durchbricht und dadurch in Frage stellt. Die ‚frontale‘ Konfrontation des Zuschauers mit der erzählten Geschichte, die sein Verhältnis zur filmischen Diegese in Frage stellt, findet ihre Fortsetzung unter anderem in einem weiteren Nouvelle-VagueFilm, der thematisch und auch chronologisch Pereira dos Santos’ Kannibalen-Film noch sehr viel näher steht, nämlich Jean-Luc Godards Weekend von 1967. Dieser Film endet 47 Im letzten Text-Insert des Films kann man den stolzen Bericht des portugiesischen Eroberers von Fort Coligny, Mem de Sá lesen, der sich damit brüstet, so viele Eingeborene getötet zu haben, dass ihre Leichen eine Meile weit am Strand verstreut liegen (1  :19  :30). 48 Vgl. zu einer differenzierten Sicht darauf, wann der Blick in die Kamera diegetisch eingebunden werden kann und wann nicht, Pascal Bonitzer  : Les deux regards, in  : Cahiers du cinéma, avril 1977, H. 275, S. 40– 46. Es ist jedoch davon auszugehen , dass der Blick in die Kamera in der Schlusseinstellung eines Films einen markierten Fiktionsbruch darstellt, der nicht mehr diegetisch aufgefangen werden kann.

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mit einer Einstellung, die die weibliche Protagonistin Corinne beim Verzehren eines Fleischstücks zeigt, das möglicherweise von ihrem Mann stammt, der zuvor von einer Gruppe von Hippie-Partisanen, bei der Corinne gelandet ist, getötet worden ist (vgl. Abb. 7).49 In dieser KannibalismusSzene läuft die Gewalt-Isotopie des ganzen Films auf einen eher beiläufig erwähnten Abb. 7: Szene aus Jean-Luc Godard: Weekend Höhepunkt zu, dessen Dramatik durch das (1:19:15) Hippie-Dekor und den komisch wirkenden Kannibalen-Koch vor seinem grotesk überdimensionierten dampfenden Kessel mit den Fleischstücken allerdings sofort wieder in Frage gestellt wird. In der folgenden Einstellung endet der Film mit dem Insert „fin de conte“ – „Fin de cinéma“, womit Godard gerade hier, am eigentliche dramatischen Höhepunkt seines Films, jegliche Möglichkeit zur Identifikation mit den Kannibalen wie auch zur Entrüstung über sie unterläuft. Indem nun Pereira dos Santos auf Godard anspielt, bricht er in der Schlusseinstellung seines eigenen Kannibalen-Films noch einmal nachdrücklich die Illusion, dass man in eine Inszenierung des Kannibalismus ganz eintauchen und somit zu einer reinen kannibalischen Auto-Vision gelangen könnte. Gleichzeitig ist es aber möglicherweise gerade dieser die Immanenz der Fiktion durchbrechende Blick, der darauf verweist, wie virulent das Faszinationspotenzial einer kannibalischen Ordnung nicht nur für die Kolonialzeit, sondern auch für die moderne Gesellschaft ist. Pereira dos Santos’ Como era gostoso o meu francês wahrt, anders als der brasilianische Modernismus und Teile der Antropofagia-Bewegung der späten Sechzigerjahre, immer eine gewisse Distanz zum Kannibalismus als Identitätsmodell, ohne dabei umgekehrt in die lustvolle Verwerfung des Kannibalismus zu verfallen, die beispielsweise das Genre der italienischen Kannibalenfilme, ebenfalls in den frühen Siebzigerjahren zelebriert.50 Die Besonderheit des Films von Pereira dos Santos liegt darin, dass es ihm unter Zuhilfenahme der filmischen Mittel der Nouvelle Vague gelingt, das Verhältnis des Filmzuschauers zum Kannibalismus in der Schwebe zu belassen. Der Blick Seboipepes an der Grenze des filmischen Diegese bewahrt den Filmzuschauer damit so49 Jean-Luc Godard  : Weekend. Jean-Luc Godard Collection No. 2, DVD München 2006 (1  :39  :00–1  :39  :30). Allerdings blickt Corinne dabei nie ganz direkt in die Kamera wie Seboipepe bei Nelson Pereira dos Santos – die illusionsdurchbrechenden Signale sind aber bei Godard auch so deutlich genug. Für den Hinweis auf die Schlusseinstellung von Weekend möchte ich Hanno Ehrlicher danken, der mich auch auf Luiz Alberto Pereiras Neuverfilmung von Hans Staden hingewiesen hat. 50 Diese Reihe beginnt mit dem ersten Film der Mondo-Cannibale-Serie von 1972 und reicht bis zu Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust (1980). Vgl. zur Gewaltdarstellung in den Filmen dieser Serie Christian Moser  : Kannibalische Katharsis, Bielefeld 2005, S. 83–108.

Kannibalische Revisionen

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wohl vor der rückhaltlosen Positivierung des Kannibalischen als auch vor seiner Verurteilung als radikal Anderes, das sich aber dennoch seinen Weg zurück ins Bewusstsein bahnt. Pereira dos Santos macht die radikale Heterologie des Kannibalischen nach Michel de Certeau zu einer relativen, d.h. er verweist mit dem Blick der Kannibalin in die Kamera nicht auf einen unveränderlichen ‚Bodensatz‘ wilder Alterität, sondern auf die Problematik der Grenzziehung zwischen kannibalischer Wildheit und Zivilisation als solcher.

Sabine Wilke

El Dorado oder der Raum zwischen Fakt und Fiktion als medialer Verhandlungsort von Umschreibungen des Archivs in Werner Herzogs Aguirre oder der Zorn Gottes (1972)

Die Legende von El Dorado, dem Güldenen, tief in den Sümpfen des Amazonas Beckens, entspringt der Zeit der spanischen Eroberung der Neuen Welt und hat sich wie ein Lauffeuer unter den Conquistadores des sechzehnten Jahrhunderts verbreitet und von Generation zu Generation, von mündlicher Überlieferung zu mündlicher Überlieferung verändert. Aus dem Güldenen wurde ein goldener Indianerhäuptling, ein goldener König, später dann ein Ort, ein Königreich, eine unermesslich reiche Stadt, in der ein goldener König leben soll.1 Die ersten Spanier, die sich mit Hilfe von mehreren hundert Soldaten und mehreren tausend Indianern auf die Reise gemacht haben (so die Legende), um El Dorado zu finden und für Spanien zu erobern, waren Francisco Orellana und Gonzalo Pizarro, die 1541 aus Quito in das Amazonas Becken aufbrachen.2 Pizarro brach, nachdem zu viele Mitglieder der Expedition an Hunger und Krankheit starben, die Suche ab, schickte aber Orellana mit einer kleinen Erkundungstruppe weiter den Fluss hinunter. Orellana war dann der erste, der den Amazonas bis zum Atlantik durchfahren hat und an der Mündung von einem Stamm kriegerischer Indianerinnen angegriffen wurde, eine Episode, die dem Fluss seinen Namen gegeben hat. El Dorado wurde nicht gesichtet. Ein Priester namens Gaspar de Carvajal hat eine handschriftliche Chronik hinterlassen, Relación del nuevo descubrimiento del famoso río grande que descubrió por muy gran ventura el capitán Francisco Orellana, von der Teile in Gonzalo Fernández de Oviedos Historia general y natural de las Indias, geschrieben 1542, aber nicht veröffentlicht bis 1855, eingeflossen sind, und die dann erst vollständig 1894 als Teil einer Geschichte des Amazonas veröffentlicht wurde – eine komplexe Quellenlage also und ein Archiv voller Geschichten, geborgten Wissens, Zuschreibungen, hyperbolischen Erzählungen und dramatischen Inszenierungen.3 1 Vgl. Adolphe Francis Bandelier  : The Gilded Man (El Dorado) and Other Pictures of the Spanish Occu­ pancy of America, New York 1893, S. 87. 2 Vgl. Clements R. Markham  : Introduction, in  : The Expedition of Pedro de Ursúa & Lope de Aguirre in Search of El Dorado and Omagua in 1560–61, translated from Fray Pedro Simon’s ‘Sixth Historical notice of the conquest of Tierra Firme’ by William Bollaert, London 1861, S. ii. 3 Vgl. Gaspar De Carvajal/Gonzalo Fernandez Orviedo y Valdes/Jose Toribio Medina/Paul Yeyes y Reyes  : Relación del nuevo descubrimiento del famoso río grande que descubrió por muy gran ventura el capitán Francisco de Orellana, Quito 1942. Zur Quellenlage vgl. auch Elena Mampel Gonzáles/Neus Escandall Tur  : Lope de Aguirre. Crónicas 1559–1561, Barcelona 1981  ; Augusto Guarino  : La Spedizione di Ursúa e

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Orellana und Pizarro waren nicht die Einzigen, die sich auf die Suche nach El Dorado gemacht haben. Ihnen sind andere gefolgt, unter ihnen Phillip von Hutten (1541– 45), Pedro de Ursúa und Lope de Aguirre (1560), später dann auch Sir Walter Raleigh (1595).4 Ursúas und Aguirres Expedition hat Peru 1560 mit 300 Mann (und Ursúas Geliebter sowie Aguirres Tochter) verlassen. Aguirre hat, um seinen geheimen Plan, Peru zu erobern und gegen Spanien zu rebellieren, durchzusetzen, Ursúa dann köpfen lassen, Fernando de Guzmann zum ,Prinz von Peru‘ erklärt, dann Guzmann ermordet, als der Aguirres Pläne hinterfragt hat, und ist mit einer Gruppe von Vasallen den Fluss heruntergefahren bis zur Mündung des Amazonas. Als sie Venezuela erreichten, sind sie von spanischen Truppen, die mittlerweile von der Rebellion gehört hatten, in Empfang genommen worden. Einer der wenigen Soldaten, der Aguirres Rebellion nicht mitgemacht und der überlebt hat, Francisco Vázquez, hat ein Manuskript hinterlassen, Relación verdadera de todo lo que sucedió en la Jornada de Omagua y Dorado, das von den Taten Lope de Aguirres in einem äußerst kritischen Licht erzählt.5 Dieser Bericht gibt den ausführlichen Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung Aguirres wieder, „La carta del tirano“, der mit „Lope de Aguirre, el Peregrino“ unterschrieben ist, ein Text, der an „Rey y Señor“ Felipe, den spanischen König, sich richtet und von den Herausforderungen der Conquista und dem Fehlen von Anerkennung durch die Krone spricht.6 Vázquez’ Bericht können wir auch den Kern der Beschreibung von Aguirres Aussehen und Charakter entnehmen, die sich in späteren Texten wiederfinden und gleichzeitig aber auch ausweiten wird  : „Era este tirano Lope de Aguirre hombre casi de cincuenta años, muy pequeño de cuerpo, y poca persona  ; mal agestado, la cara pequeña o chupada  ; los ojos que, so miraba de hito, le esteban bullendo en el casco, especial cuando enojado.“7 Wie weit diese Charakterisierung den Tatsachen entspricht, kann hier nicht geklärt werden. Klar ist, dass sie einem regimefreundlichen Diskurs entnommen und von daher mit Vorsicht zu genießen ist. Aleida Anselma Rodriguez hat in ihrer Studie die Frage aufgeworfen, was wäre, wenn wir die Geschichte Lateinamerikas nicht als Abfolge von Conquista, postkolonialer Unabhängigkeit und darauf folgender Nationenbildung begreifen, sondern als Geschichte der Rebellion gegen die spanische Krone.8 Eine solche Sichtweise würde die Ereignisse um Ursúas Expedition und die Figur Aguirres in ein ganz anderes Licht rücken.

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la Rivolta di Lope de Aguirre nella ‚Jornada de Omagua y Dorado‘ di Vásquez e di Pedrarias, Cagliari 1985  ; Pedrocle Ursúa  : Relación de Todo Lo Que Sucedió En La Jornada de Omagua y Dorado heche por el Gobernador Pedro de sua, Madrid 1881. Vgl. Markham  : Introduction, S. i. Vgl. Aleida Anselma Rodriguez  : Arqueología de Omagua y Dorado, Rende 1990, S. 16. Francisco Vásquez  : Jornada de Omagua y Dorado. Crónica de Lope de Aguirre, el Peregrino, Madrid 1881, S. 123. Ebd., S. 147. Rodriguez  : Arqueologia, S. 147.

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Weiterhin existiert eine Zusammenfassung der Expedition von einem Zeitgenossen, Don Toribio de Ortiguera, der zwar nicht selbst dabei war, der aber viele Details von den Zurückkehrenden erfragt und daraus eine Geschichte der Expedition gemacht hat.9 Veröffentlicht wurden die Ereignisse um Ursúa und Aguirre zum ersten Mal in einer Elegie von Juan de Castellanos 1588, also in einer Nachdichtung.10 Die Quelle, auf die sich die Forschung am meisten stützt, ist allerdings weder von einem Augenzeugen noch von einem Zeitgenossen verfasst worden, sondern von einem Mönch etliche Jahrzehnte nach den Ereignissen  : Pedro Simon hat 1623 mit der Niederschrift der Noticias historiales begonnen, die zum ersten Mal eine Version der Expedition von Ursúa und Aguirre darstellen, die auf historischer Recherche und einer größeren Balance von Perspektiven beruht. Der sechste Band seiner Chronik, der die Ereignisse um Ursúa und Aguirre behandelt, wurde für die Hakluyt Society ins Englische übersetzt und kann eingesehen werden in dem Band The Expedition of Pedro de Ursúa & Lope de Aguirre in Search of El Dorado and Omagua in 1560–61, aus dem ich im Folgenden zitieren möchte. Simon gibt im 52. Kapitel des sechsten Bandes seiner Noticias historiales folgende Charakterisierung Aguirres, die im Kern auf die Passage in Vázques zurückgeht, aber wesentlich ausführlicher das Bild des Tyrannen gestaltet  : When the traitor was killed, he was little more than fifty years of age, of short stature, and sparely made, ill-featured, the face small and lean, black beard, the eyes like a hawk’s, and when angry  ; he was a great and noisy talker, when well supported he was most determined, but without support he was a coward  ; he was very hardy, and could bear much fatigue, on foot as well as on horseback  ; he always went armed, and well protected, and never was without one or two coats of mail, a breast-plate of steel, sword, dagger, arquebuse, and lance  ; he slept but little, especially at night, but he reposed during the day, he was the enemy of good men and good actions, particularly of praying, and he would allow no one to pray in his presence.11

Dies ist nicht gerade die Charakterisierung eines Verrückten, sondern mehr die Beurteilung eines Menschen, der konsequent die Gewalt der Kolonialmacht für eigene Zwecke einsetzt. Simons abschließendes Urteil bestätigt das  : Aguirre killed Pedro de Ursúa and many others, and in the short space of five months and five days, the duration of the reign of his tyranny, he took the lives of sixty Spaniards  ; among them one priest, two monks of the order of Santo Domingo, four women, and his own daughter  ; destroyed four Spanish towns, pillaging all the estates he came near, of all of which he spoke   9 Vgl. Markham  : Introduction, S. xxxii. 10 Vgl. ebd., S. xxxiv. 11 Pedro Simon  : The Expedition of Pedro de Ursúa and Lope de Aguirre in Search of El Dorado and Omagua in 1560–61, London 1861, S. 230f.

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very differently in the letter he wrote to the king  ; in which he said that the reason why he had rebelled, and thrown off his allegiance, was because his services had not been rewarded.12

Nach Simon folgen weitere sekundäre Zusammenfassungen mit jeweils anderen Gewichtungen, wie die von Bischof Piedrahita aus dem siebzehnten Jahrhundert, von Oviedo y Baños im achtzehnten Jahrhundert und eine Neuausgabe der Ereignisse um Pedro de Ursúa im späten neunzehnten Jahrhundert.13 Bandelier wagt sich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts an eine der ersten wissenschaftlichen Studien des Mythenkomplexes um El Dorado, The Gilded Man and other Pictures of the Spanish Occupancy of America, die sich recht kritisch mit Ursúa und lobend mit Aguirre auseinandersetzt. Aguirre wird hier geschildert als begnadeter Redner und durchsetzungsfähiger Politiker.14 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Chroniken und Nachdichtungen dieser berüchtigten Expedition in das Amazonasbecken El Dorado als Phantom inszenieren, das mit jeder weiteren Expedition und jeder weiteren Nachdichtung immer mehr in die Ferne rückt, gleichzeitig aber immer deutlicher und radikaler die Logik der Conquista hervorkehrt und damit im Ansatz bereits hinterfragt. Je sinnloser die Suche nach El Dorado, umso gewalttätiger wird der Pfad ins Nichts beschritten – bis schließlich El Dorado im tropischen Sumpf in der Form eines weitgespannten Netzwerks von Missionen überhaupt erst entsteht, wie Massimo Livi Bacci erneut anhand der Geschichte der Jesuitischen Missionen behauptet hat.15 Die Logik der Kolonisation generiert ihre eigenen Mythen. Aber es ist nicht nur die Suche nach El Dorado, die sich im Archiv potenziert und über sich hinauswächst. Das Archiv selbst breitet sich rhizomatisch aus und generiert Diskurse über die Tropen, über Tropenwälder und Tropenflüsse, die bis heute gültige narrative und imagologische Modelle liefern zur Beschreibung der Natur und Kultur dieser Klimazone. David Arnold hat das mit dem Prozess der Tropikalisierung zu beschreiben versucht. Damit meint er die Tatsache, dass ganze Landstriche, in unserem Fall das innere Amazonasbecken, in Texten und Bildern der Kolonialmächte als Objekt von Ängsten und Wünschen projektiv inszeniert werden. Sein Buch The Tropics and the Traveling Gaze nennt er einen “essay in ‘spatial history’. It is concerned with European responses to an unfamiliar landscape, about the land as an object of colonial fear and desire, utility and aesthetics”.16 Arnold hinterfragt die Vorstellung, dass irgendetwas ‚Natürliches‘ dahinter stecke, dass einige Gebiete der Erde ‚Neu-Europa‘ wurden und andere – wie die Tropen – zu Zonen deklariert wurden, die nicht betreten werden durften. Seiner Meinung nach handelt es sich bei den 12 Vgl. Ebd., S. 236. 13 Vgl. Markham  : Introduction, S. xxxix. 14 Vgl. Bandelier  : The Gilded Man, S. 99. 15 Vgl. Massimo Livi Bacci  : Conquest. The Destruction of the American Indios. London 2007  ; Massimo Livi Bacci  : El Dorado in the Marshes, London 2009. 16 David Arnold  : The Tropics and the Traveling Gaze. India, Landscape, and Science 1800–1856, Seattle 2006, S. 3.

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Beurteilungen der tropischen Zone in den Texten und Bildern der Kolonialmächte um Zuschreibungen, die eine ganz bestimmte Politik verfolgen  : “it was the idea of the tropics – warm, fecund, luxuriant, paradisiacal and pestilential – that was in many respects the most influential source of inspiration and innovation and had the most prodigious effect upon scenic appraisal and scientific practice”.17 Ein wichtiger Teil der Tropikalisierung verschiedener Landstriche (in Arnolds Fall Indiens) sei auch die systematische Ausklammerung indigener Wissenssysteme. Ein berühmter Fall einer solchen Tropikalisierung in unserer Zeit ist beispielsweise Claude LéviStrauss’ Beschwörung von Brasilien, das er fünfzehn Jahre vor Niederschrift der Tristes Tropiques bereist hatte. Zunächst entstehen darin die Tropen als genauer Gegensatz zu den Landstrichen der gemäßigten Zone  : Lévi-Strauss stellt sich Brasilien als eine Verkettung von Palmenblättern vor in einer Luft, die stark parfümiert riecht.18 In die Tropen reist man auch nicht unvorbereitet  ; man liest die Vorgänger, Bougainville etc., die die Tiefe der brasilianischen Wälder beschreiben als einen ursprünglichen Zustand.19 Hiermit befinden wir uns im Kern der Tropikalisierung, der wiederholten Zuschreibung von tropischer Natur als ursprünglicher Natur  : Die Blätter sind dunkler und von einem Grün, das eher an Mineralien als an die organische Welt erinnert, eher an Jade und Turmalin.20 Diese Ur-Natur, näher zur Welt der Mineralien als zu der der Pflanzen, ist dem Europäer ganz unbekannt. Er kann sie nicht klassifizieren und einschätzen. Der Erzähler und Weltenbummler von Richard A. Bermanns Geschichte vom Urwaldschiff von 1927 bedient sich ähnlicher Bilder, um den Urwald des tropischen Brasiliens zu beschreiben  : Dies hier ist nicht das Land der Menschen, und der Mensch gehört eigentlich nicht hierher. Diese ungeheure schöpferische Überfülle der Waldnatur, diese große Spenderin wimmelnden Lebens hat hier in diesem großen feuchtwarmen Treibhaus die Arten vertausendfacht, die Gattungen. Alles, was schwimmt oder fliegt oder kriecht oder klettert, gedeiht in dieser nassen Waldwelt ungeheuerlich.21

Alle diese Bilder zeugen von der Zuschreibung extremer Fremdheit auf die Tropen, die erschrecken, aber gleichzeitig auch anziehend wirken.22 Werner Herzog wird sich in seinem Tropenfilm durch diese vielschichtigen Lagen durcharbeiten müssen. Elias Canetti hat in diesem Jahrhundert für die deutsche Literatur den Tropenwald als Antithese des 17 Ebd., S. 7. 18 Vgl. Claude Lévi-Strauss  : Tristes Tropiques, Paris 1955, S. 39. 19 Vgl. ebd., S. 83. 20 Vgl. ebd. 21 Richard A. Bermann  : Das Urwaldschiff. Ein Buch vom Amazonenstrom, Berlin 1927, S. 103. Den Hinweis auf Bermann verdanke ich Axel Dunker. 22 John Ascarate  : Extreme Foreignness. German Constructions of Latin America from the Early Modern to the Postmodern, unveröffentlichte Dissertation, Berkeley 2005, S. 15.

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deutschen Waldes gesetzt  : „Chaos statt Strammstehen, buntes Durcheinander statt Uniformgrün, Biodiversität statt Monokultur“ ist seine Einschätzung des Gegensatzes.23 Deutschland ist heute noch der größte Geldgeber für den Schutz des Tropenwaldes und seine Reinszenierungen weltweit.24 Das Archiv von literarischen und nicht-literarischen Tropenreisen enthält eine ganze Reihe von narrativen und imagologischen Modellen, die sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickeln zu einem tropikalisierenden Verfahren, das in postkolonialen Texten und Bildern, Fotographien und Filmen als solches reinszeniert wird. Wie das geschieht, möchte ich an Hand von Werner Herzogs mittlerweile zum Status eines Kultfilms avancierten Film Aguirre oder der Zorn Gottes von 1972 diskutieren.25 Der Exzess der Quellen wird potenziert durch die Hinzunahme von rein fiktiven Bezügen, geborgten Figuren, historischen Reinszenierungen und einer Reihe von Bildern, die das Projekt selbst, die Suche nach El Dorado und die Rebellion gegen die spanische Krone, systematisch in Frage stellen. Ein Prozess der Fortbewegung – es geht um die Darstellung einer Expeditionsreise, zu einem großen Teil um eine Flussreise – zirkuliert immer mehr und kommt letztendlich zum totalen Stillstand. Das Archiv implodiert. Was bleibt sind dokumentarische Bilder über tropische Natur. Der Betrachter von Herzogs Filmen hat eine schwere Aufgabe. Nicht nur sind die Filme selbst oft enigmatisch und beim ersten Schauen kaum in ihrer Komplexität fassbar  ; sie sind zudem noch eingehüllt in einen Diskurs der vorgeformten Auslegung, der ganz bewusst von Herzog in eine ganz bestimmte Richtung gesteuert wird und den man nicht unkritisch in die Analyse miteinbeziehen darf. Timothy Corrigan, der einen der ersten Sammelbände mit Analysen zu Herzogs Werk herausgegeben hat, nennt dieses Phänomen Herzogs monolithische Inszenierung seiner selbst und überschreibt seine Einleitung zu dem von ihm zusammengestellten Sammelband mit Beiträgen zu Herzog mit dem Titel “Producing Herzog from a Body of Images”.26 Corrigan bezeichnet Herzogs Filme von daher auch als Fata Morgana  : sie produzieren sich selbst als obskure Wunschobjekte, die aber bei näherem Hinsehen gleich wieder verschwinden  : “Herzog’s movies produce themselves as a singular, repeatedly created and destroyed body whose imagistic density and lack of a center (spread from the Canary Islands to Wisconsin) make them, to put it simply, extremely difficult to designate”.27 Um diese Fata Morgana einzukreisen, möchte ich ganz spezifische Bilder in den Kontext unserer Fragestellung nach den Verfahren von 23 Zitiert in Michael Flitner  : Gibt es einen deutschen Tropenwald  ? Anleitung zur Spurensuche, in  : Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, hg. von Michael Flitner, Frankfurt/M./New York 2000, S. 9–22, hier 10. 24 Vgl. ebd., S. 12. 25 Vgl. Werner Herzog  : Aguirre or the Wrath of God, Werner Herzog Filmproduktion 1976, DVD. 26 Vgl. Timothy Corrigan (Hg.)  : The Films of Werner Herzog. Between Mirage and History, New York 1986, S. 3. Vgl. auch Ronald Fritze  : Werner Herzog’s Adaptation of History in ‘Aguirre, The Wrath of God’, in  : Film and History 15, 1985, S. 74–86. 27 Ebd., S. 9.

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Reinszenierungen von Entdeckungsreisen rücken, den ich zu Anfang dieses Beitrags mit der Beschreibung des Archivs zu El Dorado angerissen habe. Was macht Herzog mit diesem Archiv  ? Diese Frage ist in der ersten Rezeption des Films zunächst ganz unproblematisch beantwortet worden. Die Rezensenten in der New York Times, im New Yorker, im Times Magazine, aber auch die ersten Analysen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften waren alle der Meinung, Herzog sei den historischen Ereignissen, soweit bekannt, gefolgt beziehungsweise seine Ersetzungen von Figuren in andere Zeitläufe, insofern überhaupt bemerkt, seien durchaus einleuchtend und stünden mit dem Sinn der Geschichte vollkommen in Einklang.28 Wenn wir näher hinschauen, hat sich Herzog jedoch relativ frei an die Umschreibung des Archivs gemacht, verschiedene Zeitebenen montiert, Figuren aus anderen Kontexten eingesetzt, erfundenen Figuren erfundene Biographien und Dialoge gegeben, Boote mit Flößen ersetzt und Kanonen mit auf die Expedition geschickt. Wie ist Herzog auf dieses Thema gekommen  ? Angeblich war er bei einem Freund zu Besuch und ist dort zufällig auf ein Buch über Entdeckungsreisen gestoßen, in dem eine halbe Seite über Aguirre stand. Daraufhin sei er sofort nach Hause gerannt und habe einen Entwurf zu einem Filmscript innerhalb von zwei Stunden geschrieben, wovon einige Seiten dann leider verloren gegangen seien auf einer Reise mit seiner Fußballmannschaft.29 Herzog tut so als habe er das Archiv sozusagen überhaupt nicht konsultiert und als sei der Film quasi eine freie Erfindung, die wenig mit der Überlieferung des Mythos von El Dorado gemein hat. Die Analyse zeigt aber, dass die Auseinandersetzung mit dem Archiv sich intensiver gestaltet hat, als die Anekdote über die Entstehung der Idee für den Film vermuten lässt. Als wichigsten Kunstgriff hat Herzog die Handlungsverläufe der zwei Expeditionen von Orellana und Pizarrro von 1540 und von Usúa und Aguirre von 1560 verschmolzen. Gonzalo Pizarro und Gaspar de Carvajal werden zu Teilnehmern der späteren Expedition. Der Mönch behält seine Funktion als Chronist bei und fungiert als Erzähler des Films bis zum Zeitpunkt seines Todes gegen Ende des Films. Dem Film geht folgender historischer Erklärungstext als Vorspann voran  : Nach der Eroberung und Ausplünderung des Inkareiches durch die Spanier erfanden die Indianer in ihrer Not die Fabel vom Goldland El Dorado, das in den unbegehbaren Sümpfen der Amazonasquellflüsse liegen sollte. Ende 1560 brach zum erstenmal eine große Expedition spanischer Abenteurer unter Gonzalo Pizarro vom peruanischen Hochland aus auf. Das einzige Zeugnis, das wir von dieser spurlos verschwundenen Expedition haben, ist das Tagebuch des Mönchs Carvajal.30 28 Vgl. Victoria M. Stiles  : Fact and Fiction. Nature’s Endgame in Werner Herzog’s ‘Aguirre, the Wrath of God’, in  : Literatur/Film Quarterly 17, 1989, S. 162f. 29 Vgl. Herzog  : ‘Aguirre’, DVD, Kommentar. Siehe auch Werner Herzog  : Herzog on Herzog, hg. von Paul Cronin, New York 2002, S. 77. 30 Herzog  : ‘Aguirre’, DVD.

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Anhand von Quellenvergleichen können wir genau erkennen, wo Herzog der geschichtlichen Überlieferung folgt und wo er abweicht und Zeichen setzt. Brad Prager, in seiner Interpretation des Gesamtwerks von Herzog, hat hierzu folgende Theorie geäußert  : Herzog may have included Pizarro and Carvajal in his film because the former name was familiar from colonial history and the latter’s presence helps underscore the interconnections between colonialism and the Church. One should also note that an explorer named Francisco de Orellana was on the first expedition, and the published screenplay of Aguirre, Wrath of God, twice mentions the possibility of finding traces of Orellana’s party, though it also states that this expedition was from three years earlier rather than twenty. The remnants from Orellana’s expedition might be understood to appear in the form of a boat that Aguirre’s men see high up in a tree towards the end of the film.31

Elemente des Archivs werden in Filmbildern neugestaltet. Erfundene Figuren kommen hinzu nach einem metonymischen Assoziationsprinzip  : der afrikanische Diktator Okello beispielsweise, ein Freund Idi Amins und wie dieser dem tyrannischen Wahn verfallen, bekommt eine Rolle als schwarzer athletischer Sklave, dessen Funktion es ist, mit seinem Aussehen und seiner physischen Kraft die Indianer zu erschrecken. Zu dieser Figur gibt Prager die folgenden Hintergrundinformationen  : Herzog was in contact with Okello a few years earlier, and while he was filming The Flying Doctors of East Africa (Die fliegenden Ärzte von Ostafrika, 1969) he had planned to capture Okello on film as well. Herzog explains  : “I was actually in contact with Okello for a time. He wanted me to translate and publish his book, something thankfully I never did … Okello would deliver incredible speeches full of his hysterical and atrocious fantasies over the loudspeaker system from his aeroplane, the climate and taste of which were strong influences on the language that Aguirre uses” (Cronin 2002, 50–51). Herzog was impressed by this controversial figure, and of Aguirre’s most famous speech in which he says “I am the wrath of God. The earth I walk on sees me and quakes”, Herzog says, “this is John Okello who is speaking” (A ch. 20, 1  :18  :39). Herzog also named a character in his film after him, as a conspicuous reminder of Okello’s influence.32

Wichtig hier sind die Verschiebungen und Erweiterungen des Archivs  : der begnadete Redner und durchsetzungsfähige Tyrann der zeitgenössischen Quellen bekommt die Attribute einer Figur aus einem anderen Kontext und einer anderen Zeit, dessen Name und ethnische Identität aber auf eine Nebenfigur übertragen wird. Der Film weist so über sich selbst hinaus, von der spanischen Conquista in die Zeit der postkolonialen Kämpfe in Afrika. Man könnte von hier aus kurzschließen, dass aufgrund solcher metonymischer Asso31 Brad Prager  : The Cinema of Werner Herzog. Aesthetic Ecstasy and Truth, New York 2007, S. 27. 32 Ebd., S. 27f.

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ziationen es in Aguirre um die zeitlosgelöste Studie von Tyrannei und Wahnsinn geht. Damit würde man das Verfahren der metonymischen Verkettung als Interpretations­rahmen nehmen, ohne deren Verschiebungen zu registrieren und so in eine Sackgasse laufen. Der Film ist viel komplizierter und komplexer gestaltet, als dass man ihn auf eine solche Formel reduzieren könnte. Letztendlich geht es überhaupt nicht um Tyrannei und Wahnsinn, sondern um die Reinszenierung von tropischer Natur in Filmbildern. Neben Okello gibt es noch andere hinzugedichtete Figuren wie zum Beispiel den indianischen Sklaven Balthasar, der sein Schicksal gegenüber Flores mit gesenktem Blick wie folgt umschreibt  : Seuchen sind über mein Volk gekommen, Erdbeben und Überschwemmungen, aber was die Spanier uns angetan haben ist noch viel viel schlimmer. Sie gaben mir den Namen Balthasar, doch mein wahrer Name ist Runo Rimac … Das heisst derjenige, der spricht. Ich war ein Prinz in diesem Land, alle anderen mussten vor mir auf den Boden blicken und niemand durfte mir in die Augen sehen. Aber nun bin ich in Ketten, wie mein Volk. Jetzt muss ich auf den Boden schauen. Fast alles hat man uns weggenommen. Ich kann nichts dagegen tun, ich bin machtlos. Du tust mir aber auch leid. Ich weiss, es gibt keinen Ausweg aus diesem Urwald.

Was bedeutet es, dass Herzog die Reinszenierung eines aus zwei historischen Expeditionen bestehenden Konglomerats mit erfundenen Figuren bevölkert, die das Projekt der Conquista aus (zugeschriebener) indigener Perspektive kommentieren  ? Diese Stimmen sind Teil eines anderen Archivs und ergänzen die zeitgenössischen Quellen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie Herzogs Erfindung sind. Rebecca Weaver-Hightower hat die Tatsache der Darstellung dieser Figuren auf der Leinwand und die Tatsache, dass sie derart postkolonial anmutende Dialoge sprechen dürfen, als willkommene Korrektur des Archivs interpetiert  : “Though otherwise loosely retelling the ‘official’ story of Aguirre’s insurrection and colonial conquest as taken from questionable first-hand accounts gathered from the survivors among Aguirre’s men, Herzog’s version shows colonial exploration not as heroic or civilizing but as cruel, exploitative, and greed-driven”.33 Das haben bereits die Quellen des Archivs geleistet. Obwohl es stimmt, dass indigene Stimmen keinen direkten Einlass in diese Texte gefunden haben, sind doch die Texte der Überlebenden und der späteren Chronisten und Nachdichter direkt und offen mit Kritik an der Conquista. Es ist einfach nicht wahr, dass die Geschichte der Conquista – und hier speziell die Geschichte von der Suche nach El Dorado – völlig homogen und unkritisch nur aus spanischer Herrschafts­ perspektive tradiert wurde. Bereits das Archiv enthält genügend Hinweise auf die brutale Gewalt und Unterdrückung, den zum Teil erfolgreichen Widerstand der indigenen Bevölkerung sowie die fragwürdige Rolle der Kirche in diesem Prozess. Die Geschichten von El 33 Rebecca Weaver-Hightower  : Revising the Vanquished. Indigenous Perspectives on Colonial Encounters, in  : Journal in Early Modern Cultural Studies 6, 2006, S. 90.

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Dorado sind keine heroischen Erfolgsgeschichten. Die meisten Expeditionsteilnehmer sind bei der Suche umgekommen  ; El Dorado wurde nie entdeckt  ; die kleinen Entdeckungs­ erfolge, die damit verbunden waren, sind mit einem viel zu hohen Preis erkauft worden. Herzog enthält uns systematisch alle, wenn auch noch so geringen, Erfolgssignale vor. Alle Expeditionsmitglieder kommen um (nicht nur die meisten), auch die Sklaven. Der Dschungel (und mit ihm die ansässigen, aber gesichtslos bleibenden Indianer) verschlingt die Expedition. Weaver-Towers Punkt, dass Herzogs Film visionär sei dadurch, dass er die Spanier als vollkommen machtlos und die Indianer als erfolgreich resistent porträtiere und somit dem Mythos des fehlenden Widerstands der lokalen Bevölkerung entgegenwirke, scheint mir von e­ iner Beurteilung der Quellenlage auszugehen, die die Heterogenität des Archivs unterschätzt. Die Kritik der spanischen Expansion ist in den Quellen und den Geschichtsbüchern in ihrer Exzessivität bereits angelegt. Der europäische Diskurs der Kolonisierung nicht-europäischer Erdteile enthält immer schon dekonstruktive Elemente. Ausser den hinzugedichteten Figuren gibt es auch wesentliche Veränderungen in der Handlungsfolge. Statt Aguirre und seine wenigen übrig gebliebenen Vasallen auf der Insel Margarita vor der Küste Venezuelas zu zeigen (in einer Art Erfolgsgeschichte), wie sie den Amazonas herunterfahren, dann von spanischen Truppen gefangen genommen werden, frisst der Dschungel alle Expeditionsmitglieder bis auf Aguirre auf, der zum Schluss alleine und vollkommen dem Wahnsinn verfallen auf dem Floß in einem Strudel kreisend nur noch mit Affen umgeben ist und seinen berühmten, von den Reden Okellos inspirierten (zum großen Teil inneren) Monolog hält  : Wenn wir das Meer erreichen, werden wir ein größeres Schiff bauen und alle nach Norden segeln und Trinidad der spanischen Krone entreissen. Von da aus werden wir weitersegeln und Cortez Mexico wegnehmen. Was für ein großer Verrat wird das sein  ! Dann werden wir ganz Neuspanien in der Hand haben und wir werden Geschichte inszenieren, wie andere Stücke auf dem Theater. Ich, der Zorn Gottes, werde meine Tochter heiraten und mit ihr die reinste Dynastie gründen, die je die Erde gesehen hat. Zusammen werden wir über diesen ganzen Kontinent herrschen. Wir halten durch. Ich bin der Zorn Gottes. Wer sonst ist mit mir  ?

Hier findet vielleicht die größte Manipulation des Archivs statt  : die Inszenierung der Geschichte als Fiebertraum. Der tropische Dschungel wird zum dominanten Charakter in diesem Film. Die Schauspieler und die Filmcrew mussten solche enormen Strapazen durchmachen (tagelange Fussmärsche durch Schlamm bei schwüler Hitze, Floßfahrten durch gefährliche Strudel usw.), weil es in diesem Film letztendlich nicht um ein Studium von Wahnsinn geht, sondern um die Dokumentation tropischer Natur. Die Menschen verschwinden einer nach dem anderen, ohne Rücksicht auf Stand, Geschlecht oder Hautfarbe, aber die Bilder von der tropischen Tierwelt und von in Szene geetzter Natur werden immer dichter und intensiver. Dana Benelli hat sogar behauptet, dass Landschaft in diesem Film vorgängig sei  : “before there is character there is landscape … The world is

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displayed as vast, natural (ahistorical) and indifferent to humanity. The individual is presented as a miniscule element of this whole, ever in danger of being engulfed and lost in the world’s vastness”.34 Ich möchte hier sogar behaupten, dass der Film sich aus der Konfrontation mit der tropikalisierten Bildwelt speist, wie sie in Richard A. Bermanns Geschichte vom Urwaldschiff paradigmatisch entsteht  : das endlose Wasser des amazonischen Urwalds, die unvermischten Farben, der schwarze Wald, die vielen Zuflüsse, die Fülle von Fischarten, Schildkröten und Schlangen, der zauberische Gesang der Nächte und das endlose Pflanzendickicht und -gestrüpp.35 Herzog stellt diese Bildwelt künstlerisch nach. Seine dokumentarischen Aufnahmen studieren die tropische Natur des Amazonasflusses nicht ungefiltert und naiv darstellend, sondern so wie sie durch das Verfahren der Tropikalisierung in unser Archiv eingegangen ist. Mit anderen Worten, es wird nicht Natur an sich dokumentiert, sondern ein Archiv von Bildern von Natur. Der Film ist komplett vor Ort gedreht worden ohne Nachdrehungen im Studio und mit einem geringen Anteil von ‘special effects’, immer noch mit der legendären 35 mm Kamera, die Herzog zu Anfang seiner Karriere aus der Münchner Filmschule entwendet und mit der er alle seine frühen Filme gedreht hat. Viele Einstellungen sind spontan und nur einmal aufgenommen worden, sozusagen als sie sich ergeben haben, und haben dokumentarischen Charakter. Wie das funktioniert, möchte ich anhand einer Reihe von Szenen diskutieren, angefangen mit der Eingangssequenz. In der Tat ist Landschaft hier vorgängig. Der Film beginnt mit einem Schwenk über die Anden in der Tradition des Bergfilms. Die erste Einstellung zeigt aber nicht so sehr einen majestätischen Überblick von sonnengetränkten Gletschern aus der Vogelperspektive, sondern steile Felsen in Nebel gehüllt. Tim Grünewald hat in seiner Dissertation zur Kritik von ‘Whiteness’ im Neuen Deutschen Film diese Szene in Hinblick auf die Lichtregie untersucht  : The first frame shows a steep mountain slope that is covered in dense fog. Thus the screen is predominantly white. The rocks, shrubs, and eventually a long line of people walking down a narrow path become visible, as the camera zooms in and pans out. Both the descent of the people and the camera’s pan suggest downward movement. Then the film cuts to an extreme long shot in which the screen is almost exactly split in the middle, showing the dark mountain slope on the left and white clouds to the right .… Then the camera begins a straight, slow downward pan, which causes the dark mountains to gradually take up more space of the frame until only a tiny sliver of the screen shows clouds in the top right corner.36 34 Dana Benelli  : The Cosmos and its Discontents, in  : The Films of Werner Herzog. Between Mirage and History, hg. von Timothy Corrigan, New York 1986, S. 92. 35 Vgl. Bermann  : Das Urwaldschiff, S. 8. 36 Tim Grünewald  : The Critique of Whiteness, unveröffentlichte Dissertation, Seattle 2008. S.  138f. Die Rechte für die Bilder liegen bei der Werner Herzog Filmproduktion.

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Abb. 1

Die Szene spielt in Machu Picchu in Peru, der berühmten Ausgrabungsstätte der Inkas. Aber im Gegensatz zu den üblichen kommerziellen Aufnahmen von Machu Picchu, die in Werbebroschüren zu finden sind, sehen wir in Aguirre keine Ruinen vor dem Hintergrund von majestätischen Bergketten. Für Grünewald stellt dieser Film durch seine Lichtinszenierung eine radikale Inversion (und damit Kritik) der dominanten Ideologie von Weisheit in der Geschichte des deutschen Films dar. Gerade auch durch die Besetzung der Hauptrolle mit dem sehr blonden Klaus Kinski arbeite der Film sich durch die Ideologie von ‘Whiteness’ durch, die er durch die Absurdität der Klimax in Frage stellte  : “Aguirre can be read as an allegory of whiteness. As such it is an attempt to expose and deconstruct the ideology of whiteness.… The topography of whiteness in the visual and narrative composition of Aguirre sets out to follow the traditional imagination of whiteness in the West, then proceeds to bring it to an absurd climax, before it is radically redefined in the film’s conclusion”.37 Am Schluß sehen wir noch einmal ein ganz helles Bild, das Bild der gleißenden, durch die schwüle Luft gefilterten tropischen Sonne, als vorletzte Einstellung des Films vor dem Abspann. Dadurch entsteht eine ikonographische Einrahmung der Handlung in Bildern von Weisheit, deren Kodierung als Farbe der Herrschaft durch die Verbindung mit der absurden Handlung unterminiert wird. 37 Grünewald  : The Critique of Whiteness, S. 136.

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Abb. 2

John Davidson hat diese Eingangszene interpretiert vor dem Hintergrund der gängigen Ästhetik von Landschaftsbildern und Landschaftsfilmen und festgestellt, dass sich Herzog ambivalent positioniert vis-a-vis bestimmter struktureller Parallelen  : “Herzog both plays up and disrupts the sense that we are either in [Caspar David] Friedrich’s realm of overawed subjectivity, or in a safe mountain Heimat, or accompanying Riefenstahl’s descent from the clouds with the Führer. We are somehow in each …”.38 Wir gehen durch die geltende Landschaftsästhetik hindurch und kommen an einen Punkt, an dem diese Geltung nicht mehr greift. Genauso wie wir durch das Archiv von El Dorado hindurchgehen, nur um am Ende anzukommen. Die wichtigste Beobachtung, die Davidson in diesem Zusammenhang machen kann, ist, dass Herzog uns nur flache Oberflächen­bilder gibt, die zwar Tiefe suggerieren (ständig wird Bezug genommen auf das, was tief im Dschungel sich befindet), die aber in Wahrheit dann vom Zuschauer aufgefüllt werden, ohne dass dieser sich dessen bewusst ist. Davidson kann zeigen, wie Herzog eine flache Darstellung des Tropenwaldes mit lediglich angedeuteter Tiefe liefert, die vom Zuschauer dann hinzugedichtet wird, denn die Quelle der Gefahr, die aus der Tiefe des Dschungels droht, bleibt unklar.39 Anstatt filmische Dramatik durch Bildkomposition und Montage 38 John E. Davidson  : As Others Put Plays upon the Stage. Aguirre, Neocolonialism, and the New German Cinema, in  : New German Critique 60, 1993, S. 121. 39 Vgl. John E. Davidson  : Das Land, das Gott unvollendet ließ. Werner Herzog und der Tropenwald seines

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zu erzeugen, wie das der Bergfilm noch gemacht hat, zeigen Herzogs Tropenfilme sich gleichende und lang andauernde Aufnahmen einer immer langsamer werdenden, zum Schluss nur noch um sich selbst kreisenden, aber stetig sich bewegenden Kamera, wobei Spannung erzeugt wird, die sich auf unsichtbare Elemente stützt – Elemente, die vom Betrachter mit Bildern aufgefüllt werden (beispielsweise mit Bildern der Indianer, die die Pfeile auf die Flöße abschießen). Die Kenntnis dieses Tricks feit uns vor Kurzschlüssen über die Ästhetik Herzogs, die ihn in eine unproblematische Nähe zur romantischen Tradition stellen.40 Außer der Flachheit der Bilder, die Tiefe suggerieren, die vom Zuschauer ausgefüllt werden muss, ist es ihre Unabgeschlossenheit durch die Art der Rahmung, die ebenfalls in die Richtung weist, die von Davidson analysiert wurde  : der Blick auf die Landschaft geht über den Ausschnitt hinaus, den wir auf der Leinwand sehen. Brad Prager hat in dem Zusammenhang zeigen können, dass genau an diesen Stellen der Film umkippt ins Genre des Dokumentarfilms, eine Idee, die ich anhand einiger Bilder im Folgenden weiterentwickeln möchte  : The natural landscapes that extend beyond the edges of the screen are not the only means the film has of exceeding the borders of its frame. As with most of Herzog’s films, this one also attempts to break down the boundary that divides the work from the native Americans who were involved in the film’s production … Herzog wants us to perceive that the film was all quite real  : he hopes that its physicality, the brutality of the facts behind its production, so to speak, force their way through the screen and create a sensation that cannot be otherwise fabricated … Regardless of the status of the film as a narrative feature film, these are things that must be ‘documented’.41

Die Bilder der pfeilschießenden Indianer in der imaginierten Tiefe des Dschungels, die der Betrachter des Films liefert, werden somit in ihrer Konstruiertheit erkennbar, weil deren Produktion dokumentiert wird in einem komplexen Verständnis von Dokumentation. Eine flache, Tiefe lediglich suggerierende Darstellung des tropischen Dschungels, bei der wir die Tiefe auffüllen müssen, wird unterbrochen von Bildern des Stillstands, eine Art cinematographisches Stilleben. Nach den ersten Einstellungen und dem Abstieg der Expedition mit der gesamten Entourage bestehend aus Lamas, Schweinen, Geflügel in Käfigen, Damen in Sänften, indianischen Sklaven in Ketten, die von Aguirre wie Vieh angetrieben werden, schweren Kanonen, die im Sumpf stecken bleiben etc. aus Neuen Deutschen Kinos, in  : Der deutsche Tropenwald  : Bilder, Mythen, Politik, hg. von Michael Flitner, Frankfurt/M./New York 2000, S. 263–278, hier 264. 40 Vgl. Brigitte Peucker  : Werner Herzog. In Quest of the Sublime, in  : New German Filmmakers. From Oberhausen through the 1970s, hg. von Klaus Phillips, New York 1984, S. 193. 41 Prager  : The Cinema of Werner Herzog, S. 31–32.

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Abb. 3

den Anden in das Amazonasbecken ist es die extrem lange Einstellung des rauschenden Flusses, zunächst in einer Totalen, dann in Nahaufnahme, die die Fortbewegung der Gruppe behindert. Dieser Einstellung geht ein kurzer Austausch zwischen Aguirre und Pizarro voran. Aguirre blickt auf den Fluss von oben und meint „Den Fluss kommt niemand lebend hinunter“ und ausgerechnet Pizarro, der sehr bald die Expedition abbrechen wird, entgegnet „Und ich sag dir, es geht doch“. Der Mechanismus der Tropikalisierung von Natur entsteht vor unseren Augen und wird erkennbar als retheatralisiertes Tableau, das verschiedene Bildtraditionen nachstellt.42 Der quintessentielle tropische Fluss, der vollkommen außer Rand und Band geraten ist, wild und voller Schlamm rauscht, über Nacht ohne Voranzeichen um fünfzehn Fuß ansteigt, lebensgefährliche Strudel und Wasserfälle birgt, seine Wildheit in jedem Moment offen inszeniert, Fortbewegung und Stillstand in jedem Moment dialektisch konterkariert, wird zum Hauptdarsteller des Films. Nachdem die Truppe unter dem Kommando Ursúas, die zur Erkundung der Gegend weitergeschickt wurde, Flöße gebaut hat und ihr Glück auf dem Fluss versucht, ist es ein gefährlicher Strudel, in dem eins der Flöße sich verheddert und stecken bleibt. Das Floß 42 Vgl. Gregory Waller  : Aguirre. The Wrath of God. History, Theater, and the Camera, in  : South Atlantic Review 46, 1981, S. 55–69.

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Abb. 4

fährt im Kreis ohne Aussicht auf Rettung. Herzog arbeitet sich hier nicht nur durch die Muster der Tropikalisierung durch, sondern auch durch die Darstellungstradition mythischer Themen wie zum Beispiel dem Floß der Medusa.43 Géricault inszeniert ein Moment in der tragischen Geschichte der französischen Fregatte Méduse, die 1816 vor der Küste von Mauretanien aufgelaufen ist und auf der mindestens 147 Menschen 13 Tage lang ohne Wasser und Proviant elend zugrunde gingen. Lediglich 15 haben überlebt, indem sie zu Kannibalen wurden. Der Hilfstrupp kommt bei Herzog wie auch bei Géricault zu spät  : bis auf einen Mann und die zwei einheimischen Ruderer werden alle Mitglieder der Floßtruppe erschossen aufgefunden, niemand weiß, wer geschossen hat oder wo die Über­ lebenden geblieben sind. Ein Mitglied der Hilfstruppe wird auf dem Rückweg ins Lager von einer Schlingpflanzenfalle in die Luft gezogen und erhängt. Keiner weiß, wer dahinter steckt. Der Urwald bleibt gesichtslos die Einheimischen verschmelzen mit der Umgebung. Hier findet eine Auseinandersetzung Herzogs mit dem Kolonialdiskurs und dem Diskurs der Tropikalisierung statt  : so wie der Fluss eine wilde und eine sanfte Seite hat, ist auch die indigene Umgebung einerseits durch sprechende Akteure, andererseits durch unsichtbare Indianer im Dschungel vertreten. John Davidson empfindet das als widersprüchlich.44 Ich 43 Den Hinweis auf Géricault verdanke ich Volker Mergenthaler. 44 Vgl. Davidson  : As Others Put Plays upon the Stage, S. 124f.

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Abb. 5

meine, das hat etwas zu tun mit den Verhandlungsstrategien, die der Film vis-a-vis der Bilder des Archivs gebraucht. Kritik des Archivs und der damit verbundenen Diskurse erfolgt durch Erweiterung der intern angelegten Widerspüche. Weitere Bilder, die nichts mit der Handlungsführung zu tun haben, die die Erkundungstruppe nicht vorwärts treiben  : die Szene, in der Aguirre seiner Tochter das kleine Faultier in seiner Hand bringt (Abb. 4)  ; danach die lange Einstellung, quasi eine physio­ gnomische Studie des peruanischen Flötenspielers, der die Expedition bis zum bitteren Ende begleitet  ; die langen Einstellungen, die die beiden Frauen in stilisierter Pose und fast bewegungslos zeigen  ; die Szene mit der Mumie, die von mehreren Seiten aus gezeigt und sehr theatralisch in Pose gesetzt ist  ; das Pferd, das vom Floß geschickt wird, ans Ufer schwimmt und die Truppe auf dem Floß anschaut  ; die Szene, in der Inez in den Dschungel geht  ; und die Maus, die ihre zwei Jungen eins nach dem anderen in ein anderes Nest transportiert (Abb. 5). Der Schmetterling, der auf der Hand eines Expeditionsteilnehmers landet und dessen Flügelbewegungen wir in einer langen Einstellung von verschiedenen Seiten aus betrachten dürfen, gehört auch in die Reihe dieser Filmbilder. Schließlich der Kahn im Baum, an dem immerhin zwei Dutzend Männer zehn Tage lang gearbeitet haben nur um eine kurze Szene zu filmen, die andeuten soll, dass die Männer auf dem Floß vollkommen ihren Realitätssinn verloren haben. Hier ist es interessant zu beobachten, wie Herzog die Ebene der Filmhandlung und die Produktionsebene miteinander verschränkt,

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Abb. 6

denn gerade die Bilder, mit denen der Film den Realitätsverlust der Konquistadoren darstellt, gehören zu den konstruiertesten Einstellungen des Films überhaupt, die wiederum Bilder aus dem Archiv zitathaft verwenden (man denke beispielsweise an die dadaistische Technik der Bildkomposition  ; Abb. 6). Die stilisierte Todeszene von Flores und zum Abschluß das Bild mit den Affen auf dem Floß und der Blick in die gleißende Sonne funktionieren ebenfalls als Bilder, die das Archiv inszenieren, seine Geltung überprüfen und cinematographisch nachstellen. Das sind alles Bilder, die nicht so sehr einem narrativen Spielfilm entstammen, sondern die ein Objekt in einem Ausschnitt quasi dokumentarisch zeigen, so dass wir es von mehreren Seiten aus studieren und dessen Bildkomposition bedenken können. Diese Einstellungen bringen die Handlung des Films nicht voran. Sie funktionieren auf einer anderen Ebene und das ist die Ebene, um die es mir letztendlich geht. Das Archiv – das heißt die Nacherzählungen der Suche von El Dorado – wird in Bilder übersetzt in Form einer Abfolge von Fortbewegung und Stillstand, die am Ende ganz in Stillstand aufgelöst wird, eine quasi organische Verlangsamung, die in dem Bild der gleißenden Sonne eingefangen wird. Der Film funktioniert als stilisierte Inszenierung eines bereits sehr heterogenen und widersprüchlichen Archivs, dessen narrative Elemente von Exzess in Filmbilder übersetzt werden. Diese Übersetzungsstrategien werden dann noch einmal auf der Filmebene selbst verhandelt. Wir bewegen uns von der vernebelten Berghöhe in das der gnadenlosen Sonne

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ausgesetzte Flussdelta durch den tropischen Dschungel hindurch, wobei der Dschungel die Dialektik von Fortbewegung und Stillstand diktiert, die allmählich in eine ewige Kreisbewegung mündet. Die tropische Natur setzt sich in ihrer Materialität durch. Sie ist nicht zu einer Metapher degradiert oder muß etwa die innere Gefühlslage der Charaktere äußerlich darstellen. Das verhindert die dokumentarische Einstellung der Kamera gegenüber den Objekten, die in diesem Bildausschnitt untersucht werden. Prager hat diesen Effekt von Herzogs Film wie folgt diskutiert  : “The discovery that any of these images had not been documented but manufactured would, in Herzog’s view, undercut their strength …. It is necessary that their realness or authenticity pour through, and it is that which presses against the limits of the frame”.45 Eines der Gründe, warum das auch gelingt, ist die Hintergrundmusik Popul Vuhs. Holly Rogers hat aus musikwissenschaftlicher Perspektive die Verbindung von Text und Musik in Herzogs Amazonasfilmen untersucht und von musikalischen ‘stills’ gesprochen, die besonders den cinematographischen Stilleben unterliegen und die den Effekt der simulierten Tiefe unterstützen  : Aguirre’s non-diegetic music appears to restore dimensions lost in the visual inertia. Counteracting the still forest effigy with sonic eruptions, the Lacrimé opens up another spatial place within the painted landscape, creating depth  : during these musical scenes, it appears as though the forest is brought into a reality that the explorers can understand.46

Der Wald wird somit zu einer Landschaft, die als musikalisches Ganzes inszeniert wird. Letztendlich ist es aber das Fehlen von Einfluss, den die Entdecker auf die tropische Natur haben, was durch die ewig sich wiederholende Musikschleife angedeutet wird. Der Urwald kann von dieser Gruppe nicht durchdrungen werden. Er inszeniert sich in jedem Stilleben von neuem selbst wieder. Thomas Waldemer, der ebenfalls die Quellenlage untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass Herzog eine widerspüchliche Botschaft hinterlässt, indem er die historischen Quellen bearbeitet und neue Elemente hinzufügt, dann aber gerade eine solche erfundene Person wie Balthasar seine Geschichte erzählen lässt und damit das Primat von Geschichte doch zu privilegieren scheint.47 Die Kritik der Conquista ist aber bereits in der Tradition angelegt. Die spanischen Quellen machen aus Aguirre ein Monster. Ein Verräter Spaniens konnte schlechterdings kaum als positiver Held geschildert werden. Gegen den Aguirre der Chroniken stellt Klaus Kinski einen fast harmlosen Charakter dar, der im

45 Prager  : The Cinema of Werner Herzog, S. 32. 46 Holly Rogers  : Fitzcarraldo’s Search for Aguirre. Music and Text in the Amazonian Films of Werner Herzog, in  : Journal of the Royal Musical Association 129, 2004, S. 84. 47 Thomas P. Waldemer  : ‘Aguirre, the Wrath of God’ and the Chronicles of Omagua and Dorado, SECOLAS 26, 1995, S. 46.

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Nachempfinden der expressionistischen Darstellungstradition seine Rolle spielt.48 Aber im Gegensatz zu dieser Tradition, wo die Umgebung einen symbolischen Ausdruck der seelischen und emotionalen Situation der Figur darstellen musste, ist der tropische Urwald bei Herzog von dieser Bürde befreit und tritt selbst als Akteur in Erscheinung. Aguirre oder der Zorn Gottes verhandelt die Umschreibung des kolonialen Archivs auf medialer Ebene, indem die Exzessivität der Quellen in Bilder umgesetzt wird. Diese Verhandlung auf der Ebene des Films führt zu einer komplexen und vielschichtigen Auseinandersetzung mit der Bildtradition.

48 Vgl. Lutz Koepnick  : Colonial Forestry. Sylvan Politics in Werner Herzog’s Aguirre and Fitzcarraldo, in  : New German Critique 60, 1993, S. 135.

Rupert Gaderer

Nachfahren August von Goethes Italienreise im Jahr 1830

„[…] ich will leben, fahren und sehen.“ August von Goethe an Johann Wolfgang von Goethe, Lausanne, 4. Mai 1830

1. Rom  : Friedhof des Namenlosen Dieser Ort, der unter vielen Namen bekannt ist, versammelt Generationen von Reisenden, die es sich zum Ziel machten, das Sehnsuchtsland Italien zu entdecken. Am Cimitero acattolico (dt. Friedhof der Nicht-Katholiken) wurden seit dem 18. Jahrhundert zumeist protestantische Reisende begraben, da es Nicht-Katholiken nach dem katholischen Kirchenrecht verwehrt war, auf katholischen Friedhöfen beerdigt zu werden. Offiziell erwähnt wurde dieses römische Sammelbecken verstorbener Protestanten erstmals in einer Stadtkarte von Giambattista Nolli aus dem Jahr 1748. Die heute noch erhaltenen Grabsteine am „Gottesacker der Protestanten am Tore St. Paolo […] wie geschaffen für die Schwermut, immer still und öde“1, wie Wilhelm Waiblinger in dem Gedicht Der Kirchhof (1829) seine spätere Begräbnisstätte nannte, zeigen auf den Tod von Reisenden in Rom. Gleichfalls lassen sich das Leben, zurückgelegte Wegstrecken, erreichte und unerreichte End- und Anfangspunkte sowie die Zeitdauer von Italienaufenthalten mittels ihrer Inschriften entziffern. Durch die Grabsteine am Cimitero degli artisti e dei poeti (dt. Friedhof der Dichter, Denker und Künstler), wie die Ruhestätte auch genannt wird, wird die lange Tradition des Nachfahrens von Schriftstellern, die ihre Reise nördlich der Alpen antraten, erkennbar  : die immer wieder von neuem aufgesuchten und ausgetretenen Fußwege, die vorgezeichneten Kutschenrouten der Kavalierstour, jene kaum voneinander abweichenden Wege der enzyklopädischen, spätaufklärerischen oder bürgerlichen Bildungsreise südlich der Alpen.2 Sie dokumentieren und entfalten am Cimitero dei 1 Wilhelm Waiblinger  : Der Kirchhof, in  : ders.: Werke und Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden, Bd. 1, hg. von Hans Königer, Stuttgart 1980, S. 179–181, hier 179. 2 Aus der Vielzahl der in den letzten Jahren verfassten Forschungsliteratur vgl. Peter J. Brenner  : Der Reisebericht in der deutschen Literatur, Tübingen 1990  ; Irmgard Egger  : Italienische Reisen. Wahrnehmung und Literarisierung von Goethe bis Brinkmann, München 2006  ; Günter Oesterle/Bernd Roeck (Hg.)  : Italien in

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protestanti (dt. Friedhof für Protestanten), auch diese eine gängige Bezeichnung in Rom, eine Abfolge von Reisenden in der Zeit  : Generationen des Nachfahrens. Einige ausgewählte Grabinschriften des Friedhofs werden in Ingeborg Bachmanns Essay Was ich in Rom sah und hörte (1955) ins Zentrum gerückt. Sie sind Ausgangspunkt einer literarischen Reflektion über Erinnern und Vergessen von Verstorbenen in der Fremde  : In Rom habe ich in der Früh vom Protestantischen Friedhof zum Testaccio hinübergesehen und meinen Kummer dazugeworfen. Wer sich abmüht, die Erde aufzukratzen, findet den der andern darunter. Für den Friedhof, der an der Aurelianischen Mauer Schatten sucht, sind die Scherben auf dem Testaccio nicht gezählt, aber gering. Er hält sich eine große Wolke wie eine Muschel ans Ohr und hört nur mehr einen Ton. In den sind eingegangen  : ‚One whose name was writ in water‘, und neben Keats Versen eine Handvoll Verse von Shelley. Von Humboldts kleinem Sohn, der am Sumpffieber starb, kein Wort. Und von August von Goethe auch kein Wort. Von den stummen Malern Karstens und Marées sind einige Linien geblieben, ein Farbfleck, ein wissendes Blau. Von den anderen Stummen wußte man nie etwas.3

‚One whose name was writ in water‘ bezieht sich auf die von John Keats selbst gewählten Verse auf seinem Grabstein im ältesten Bereich des Friedhofs, dem Parte antica. Die ,Handvoll Verse‘ verweist auf die Inschrift auf Percy Bysshe Shelleys Grabstein in der Zona vecchia, drei Zeilen aus dem Gesang von Ariel in William Shakespeares Der Sturm (1623)  : “Nothing of him that doth fade / but doth suffer a sea-change / Into something rich and strange.”4 Aber nicht lediglich die Anwesenheit von Versen und Worten konstituiert ein Erinnern, sondern gerade ihre Abwesenheit. Um dies zu erreichen, werden zwei Söhne aufgerufen, ersterer Wilhelm von Humboldt, Sohn des preußischen Staatsmanns und Sprachforschers Wilhelm von Humboldt, begraben im Parte antica, letzterer Julius August Walther von Goethe, einziges das Kindsbett überlebender Nachfahre des weimarischen Geheimrats und (unter anderem) Sprachforschers Johann Wolfgang von Goethe, beerdigt in der Zona prima, dreizehnte Reihe, Nr. 53. Beide Nachfahren werden im Augenblick ihrer eigenen Sprachlosigkeit ausgesprochen, um auf die Präsenz ihrer Vergangenheit in der Gegenwart hinzuweisen  : „Von Humboldts kleinem Sohn, der an Sumpffieber starb, kein Wort. Und von August von Goethe auch kein Wort.“5 Diese Thematisierung der fehAneignung und Widerspruch, Tübingen 1996  ; Gunter E. Grimm/Ursula Breymayer/Walter Erhart (Hg.)  : „Ein Gefühl von freierem Leben“. Deutsche Dichter in Italien, Stuttgart 1990  ; Helmut Pfotenhauer (Hg.)  : Kunstliteratur als Italienerfahrung, Tübingen 1991. 3 Ingeborg Bachmann  : Was ich in Rom sah und hörte, in  : Dies.: Werke, Bd. 4, hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, 5. Aufl. München u.a. 1993, S. 29–34, hier 34. 4 „Nichts an ihm, das soll verfallen, /Das nicht wandelt Meereshut /In ein reich und seltnes Gut.“ William Shakespeare  : Der Sturm, in  : ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 2, aus dem Englischen übersetzt von August Wilhelm Schlegel u.a., hg. von Anselm Schlösser, 5. Aufl. Berlin u.a. 1994, S. 595–667, hier 612. 5 Bachmann  : Was ich in Rom sah und hörte, S. 34.

Nachfahren

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lenden Worte gegen Ende des Essays ruft eine Möglichkeit des Erinnerns an die von der Geschichte Vergessenen und Verschütteten auf. Die fehlenden Worte beziehen sich auf die tatsächlich verslosen Grabinschriften Wilhelm von Humboldts und August von Goethes und darüber hinaus im letzteren Fall auf das tatsächliche Fehlen eines Namens auf diesem namensreichen Friedhof. Denn rund zehn Monate nach dem Tod A. v. Goethes in Rom fertigte der ebendort lebende Bildhauer Bertel Thorvaldsen einen Grabstein, wobei J.W. v. Goethe am 29. Juli 1831 die Inschrift des Grabsteins von Weimar aus nach Rom sendete. Die in einem Brief an den Geschäftsträger der hannoverschen Gesandtschaft beim Päpstlichen Stuhl Georg August Christian Kestner übermittelte und später in Stein gravierte Inschrift, „welcher ich der dortigen Kenner Beyfall gleichfalls wünsche“6, lautete  : „Goethe Filius Patri antevertens obiit anno XL“ (dt. Goethe Abb. 1: Grabstein Julius August Walther von Goethes der Sohn, seinem Vater vorangehend, starb vierzigjährig). Diese Grabinschrift, die durch eine Leerstelle konstituiert wird und über deren Zentrum Diskurse wie jener der damnatio memoriae zirkulieren, der Knotenpunkt dieser in den Stein gemeißelten lateinischen Erinnerungsworte ist zweifellos nicht ein Italienreisender, sondern – wie ihnen entnommen werden kann – die Reise eines Vaters und die Reise eines Sohnes. 2. Vor- und Nachfahren in Italien Bevor auf die intergenerativen Beziehungen zwischen J.W. und A. v. Goethes Reiseberichten näher eingegangen werden kann, muss zumindest kurz skizziert werden, dass sich 6 Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abtheilung, Bd. 49, Weimar 1909, S. 24. Nachweise werden bei mehrfacher Nennung im Text mit der Sigle WA und nachfolgender Abteilung, Bandnummer und Seitenzahl angegeben.

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die Reisebewegung der Familie Goethe Richtung Süden auf insgesamt vier Generationen erstreckte. Zunächst Johann Caspar Goethes dem Typ der gelehrten Reise nachfolgende Viaggio per l’Italia fatto nel anno MDCCXL (dt. Reise durch Italien im Jahre 1740)  ; eine acht Monate dauernde Italienreise, aufgezeichnet als fiktives Brieftagebuch in italienischer Sprache. Das an einen fiktiven Empfänger gerichtete italienische Itinerar von J.W. v. Goethes Vater basierte auf dem Konzept der so genannten nützlichen Reise bzw. des enzyklopädischen Reiseberichts, also auf empirischer Ansammlung von unterschiedlichen Sinnesdaten sowie Wissensbeständen und deren Archivierung. Seine Aufzeichnungen werden von mehreren Gebieten der Wissenschaften und Kunst in Italien bestimmt, er verfasste ausführliche Beschreibungen über Geographie, Zoologie, Botanik, Naturwissenschaften, Ökonomie, Staatswissenschaften, Landwirtschaft, Architektur, antike Ruinen, volkstümliche Bräuche, soziale Institutionen, Kuriositätenkabinette, zeitgenössische Dichtung oder den italienischen Katholizismus. Seine Reiseroute folgte dem traditionellen giro, und zwar von Venedig nach Bologna über Rom nach Neapel, um danach nochmals in Rom für mehrere Wochen Station zu machen. Nach dem Aufenthalt an den Ufern des Tibers besuchte er einige Städte in der Toskana, sein Weg führte abermals nach Venedig, um danach die norditalienischen Städte Verona, Mailand und Turin zu besichtigen. J.C. Goethes letzte Station in Italien war die ligurische Hafenstadt Genua, von wo aus er nach Marseille auf dem Wasserweg gelangte, um über Paris und Straßburg nach Frankfurt am Main zurückzukehren. Sein Reisetagebuch, das handschriftliche Original-Manuskript beträgt 1.069 beschriebene Seiten, war ursprünglich nicht für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt, wie er dies einer kleinen ausgewählten Gruppe von Lesern in seiner „Introduzione alle susseguenti lettere“7 (dt. „Vorrede zu nachstehenden Briefen“) mitteilte. Zunächst zirkulierte es nämlich als Italien-Lektüre in der Familie Goethe. Rund hundertfünfundsechzig Jahre nach seiner Fertigstellung wurde es 1932/33 vom italienischen Germanisten Arturo Farinelli in italienischer Sprache veröffentlicht, erste Auszüge in deutscher Sprache publizierte Erwin Koppen, die erste vollständige deutsche Übersetzung wurde von Albert Meier geleistet.8 Das im Elternhaus wahrnehmbare Italien seines Vaters griff der in zweiter Generation reisende Sohn J.W. v. Goethe in seiner Italienischen Reise (1816/1817) auf. Erinnerungen aus der Jugend, gleichfalls imaginierte Italien-Bilder, beschwört er in seiner autobiographischen Reisebeschreibung herauf, wie dies bei dem Eintrag vom 1. November 1786 über Rom erkennbar ist  :

7 Johann Caspar Goethe  : Viaggio in Italia (1740), 2 Bde., hg. von Arturo Farinelli, Rom 1932–1933, S. 1ff. 8 Erwin Koppen (Hg.)  : Goethes Vater reist in Italien, aus dem Italienischen übersetzt von Carl Nagel, bearbeitet und ergänzt von Erwin Koppen, Mainz u.a. 1972  ; Johann Caspar Goethe  : Reise durch Italien im Jahre 1740. (Viaggo per l’Italia), aus dem Italienischen übersetzt und kommentiert von Albert Meier unter Mitarbeit von Heide Holmer, München 1986.

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Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig, die ersten Kupferbilder deren ich mich erinnere, (mein Vater hatte die Prospecte von Rom auf einem Vorsaale aufgehängt) seh’ ich nun die Wahrheit, und alles was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten, in Gyps und Kork schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir […].9

Auch in seinem Langzeitprojekt Dichtung und Wahrheit (1811, 1812, 1814 u. 1833) berichtet er über Radierungen nach römischen Motiven von Giovanni Battista Falda und Alessandro Specchi, die sich im Haus am Großen Hirschgraben in Frankfurt am Main befanden  : Hier sah ich täglich die Piazza del Popolo, das Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von außen und innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten drückten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr lakonische Vater hatte wohl manchmal die Gefälligkeit, eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen.10

Auf diese intergenerativen Überlieferungen von Italienbeschreibungen machte er auch seine Leserin des italienischen Reisetagbuchs, Frau von Stein, sowie wesentlich später die öffentliche Leserschaft der Italienischen Reise aufmerksam, wenn er in seinem Eintrag über Venedig eigene Wahrnehmungen mit denen seines Vaters in Analogie setzte  : „Ich gedachte meines armen Vaters in Ehren, der nichts besseres wußte als von diesen Dingen [Insel der Heiligen Clara, Große Lagune, Canale della Giudecca, Markusplatz, R.G.] zu erzählen. Es ist ein großes, respektables Werk versammelter Menschenkraft […].“11 Später, bei der Überarbeitung des Reisetagebuchs für die Publikation, wurde ein zusätzlicher Satz eingefügt, der die parallel verlaufenden Reiseerfahrungen des Nachfahrens mit denen seines Vorfahrens wirkungsvoller hervorhob  : „Ich gedachte […] Wird mir’s nicht auch so gehen  ? Alles was mich umgibt […].“ (IR, 80) Bei all diesen offensichtlichen, aber auch versteckten Bezugspunkten zu der Unternehmung des Vaters12 haben sich die Modalitäten der Reise und ihre Aufzeichnungen eindeutig von einer reflektierenden Italienreise J.C. Goethes im Kontext der rationalistischen Frühaufklärung zu einer sentimentalen Ita  9 Johann Wolfgang Goethe  : Italienische Reise, in  : ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 15, hg. von Andreas Beyer und Norbert Miller, München u.a. 1992, S. 147. Nachweise werden bei mehrfacher Nennung im Text mit der Sigle IR und Seitenzahl angegeben. 10 Johann Wolfgang Goethe  : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in  : ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16, hg. von Peter Sprengel, München u.a. 1985, S. 17. 11 Johann Wolfgang Goethe  : Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein, in  : ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3/1, hg. v. Norbert Miller und Hartmuth Reinhardt, München 1990, S. 92. 12 Vgl. hier K.R. Eisslers Kommentar zu J.W. v. Goethes beschriebener Liebesepisode mit einer „schönen Mailänderin“ gegen Ende der Italienischen Reise. Eissler nimmt an, dass sich die Liebesepisode auf das Ende J.C. Goethes Reiseberichts bezieht, da auch dieser mit einer „romantische[n] und höchst ehrenvolle[n] Beziehung zu einer jungen Frau [aus Mailand, R.G.]“ endet. K.R. Eissler  : Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786, Bd. 2, hg. von Rüdiger Scholz, Frankfurt/M. u.a. 1985, S. 1176.

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lienreise J.W. v. Goethes im Sinne der ästhetischen Bildungsreise transformiert.13 Schon die Gegenstände und Wahrnehmungsinteressen der beiden Reisenden unterstreichen diesen Wandel der Italienrezeption. Diente J.C. Goethe Italien als Reflexionsfläche für Deutschland, um soziale und kulturelle Missverhältnisse in seiner Heimat aufzuzeigen, so überwiegt bei J.W. v. Goethe eine individuelle Wahrnehmung, die der italienischen Kultur gegenüber weitaus offener eingestellt ist.14 Immer noch wenig untersucht sind Reisetagebuch und -briefe des in dritter Generation Reisenden A. v. Goethes. Zwar wurde noch kurz nach seinem Tod überlegt, diese zu veröffentlichen, wie J.W. v. Goethe am 23. Februar 1831 an Carl Friedrich Zelter schrieb (WA, IV. Abt., Bd. 48, 128), jedoch wurde deren Publikation erst wesentlich später realisiert. Sein Reisetagebuch, -briefe und -dokumente wurden 1999 von Andreas Beyer und Gabriele Radecke veröffentlicht.15 Während seiner rund sechs Monate dauernden Reise führte der Weimarer Cammerherr und Geheime Cammerrath ein Reisetagebuch, dessen Abschnitte er kontinuierlich an J.W. v. Goethe nach Weimar sendete. Seine Ausführungen über das be- und durchreiste Land wurden im familiären Kreis der Goethes im Haus am Frauenplan gelesen, aber auch über diese Adressaten hinaus kursierten seine Sendungen bei der Familie nahestehenden Personen in Weimar. Überstürzt, um sich „von den phisisch moralischen Übeln zu heilen“ (WA, IV. Abt., Bd. 8, 327), so J.W. v. Goethe aus Rom im Januar 1788 zur Begründung seiner Italienflucht in einem Brief an Herzog Carl August, genauso überstürzt und mit der Hoffnung auf Genesung reiste A. v. Goethe von Weimar ab. Sein Reisegefährte schrieb am 24. April 1830 aus Frankfurt am Main hinsichtlich ihrer hastigen Abreise an seine zurückgelassene Braut  : Liebe Hannchen  ! Unsere Abreise aus Weimar wurde über Erwarten so beschleunigt daß ich nicht Zeit hatte Dir von dort aus zu schreiben […] Nicht einmal vom Prinzen habe ich Abschied nehmen können, so sehr waren wir getrieben. Wir fuhren vorgestern morgen aus Weimar und gestern Nachmittag waren wir schon hier, woraus Du siehst daß wir Tag und Nacht gefahren sind […].16 13 Andreas Beyer  : Reisen – Bleiben – Sterben. Die Goethes in Rom, in  : Italienbeziehungen des klassischen Weimar, hg. von Klaus Manger, Tübingen 1997, S. 63–84, hier 71. 14 Einen Vergleich der divergierenden Italienwahrnehmungen um 1740 und 1786–1788, um die „Entwicklung der deutschen Kultur im 18. Jahrhundert zu skizzieren“, unternahm bereits Albert Meier  : Vater und Sohn Goethe. Zwei Generationen deutscher Italienreisender, in  : Ein unsäglich schönes Land. Goethes ‚Italienische Reise‘ und der Mythos Siziliens, hg. von Albert Meier, Palermo 1987, S. 16–41  ; ders.: Vater und Sohn Goethe in Italien. Johann Caspar Goethes „Viaggo per l’Italia“ und Johann Wolfgang Goethes ‚Italienische Reise‘, in  : Goethe-Yǒngu/Goethe Studien 11, 1999, S. 283–305. 15 August von Goethe  : Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. Erstdruck nach den Handschriften, hg. von Andreas Beyer und Gabriele Radecke, München u.a. 1999. Nachweise werden bei mehrfacher Nennung im Text mit der Sigle ARS und Seitenzahl angegeben. 16 Dieser Brief ist abgedruckt in Frédéric Soret  : Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeit 1822–1832. Aus Sorets handschriftlichem Nachlaß, seinen Tagebüchern und seinem Briefwechsel, übersetzt und erläutert von H.H. Houben, Leipzig 1929, S. 418.

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Bereits nach zwei Tagen in Frankfurt am Main angekommen, informiert hier Johann Peter Eckermann seine Braut Johanna Bertram über die für damalige Verhältnisse rasante Reisegeschwindigkeit. Pro Tag 14 bis 15 Stunden, auf engem Raum mit zum Teil mehreren Personen in der so genannten Schnellpost führte ihr Reiseweg über Erfurt nach Frankfurt am Main, um danach mit der Retour Chaise – einem offenen Zwei- oder Vierradwagen – über Heidelberg und Freiburg nach Basel zu gelangen. Je mehr sie sich Italien näherten, umso mehr drosselten sie ihre Reisegeschwindigkeit. In Mailand angekommen, berichtet A. v. Goethe in einem Brief an seine Frau Ottilie von Goethe über den Anlass der Reise  : Wiedergeburt und neues Leben, jenes notorische Motto, das seit Johann Joachim Winckelmann Generationen von Reisenden Richtung Süden aufbrechen ließ. Seit ohngefähr 8 Tagen bessert es sich von Tag zu Tag, alle Systeme kommen ins Gleichgewicht und ich habe die Hoffnung ohne Arzney ganz hergestellt zu werden wenn es so fort geht, wozu Gott ja seinen Segen geben wird. […] Nicht Üppigkeit oder Neugier konnten mich aus meiner Familie reißen, die äußerste Noth trieb mich um den letzten Versuch zu meiner Erhaltung zu machen. (ARS, 212)

Nach Mailand waren die nächsten norditalienischen Reisestationen Verona, Padua und Venedig, von wo aus die Reiseroute wieder retour über Padua und Mailand an die ligurische Küste führte, wo sich Eckermann in Genua von ihm trennte und wieder nach Deutschland zurückkehrte. Alleine setzte er die Reise fort, unterbrochen von einem Kutschenunfall, der ihn zwang, einbandagiert drei Wochen in La Spezia zu bleiben. Dies war der Zeitpunkt, an dem die Reise nach Rom zu kippen drohte. Seine Reiseroute setzte er jedoch nach der Genesung in La Spezia über Pisa fort, in Florenz bestieg er ein Dampfschiff, um nach Neapel zu gelangen, besuchte die nahe gelegenen Ausgrabungen von Pompeji, wo es ihm mit Wilhelm Johann Karl Zahn gelang „zu Ihren Ehren lieber Vater ein Haus aus der Asche wieder an das Licht zu fördern.“ (ARS, 184) „Goethes Haus“, die Casa di Goethe, heute besser bekannt als Casa del Fauno, wurde mit „Dudelsackpfeifer“, „Custoden und anderes Gesindel“, „Wein“ und „Tara[n]tella“ am 8. Oktober 1830 eingeweiht  : „ein mord Specktakel“ (ARS, 185). Von Süden aus erreichte er Mitte Oktober Rom, verteilte dort lithographierte Autogramme seines Vaters, die ihm der Olympier nach Rom mit den besten Grüßen nachgesendet hatte. In der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1830 starb A. v. Goethe in Rom. Zuletzt sind die Aufzeichnungen und Briefe aus Italien des in vierter Generation Reisenden Wolfgang Maximilian von Goethe – A. v. Goethes zweitgeborener Sohn – zu nennen, der als Gesandtschaftsattaché und später als Legationssekretär von 1852 bis 1856 für den preußischen Hof in Rom arbeitete und mehrmals das Land bereiste. Seine Reisenotizen sind bis heute nicht vollständig publiziert worden. In ihnen werden alle vor ihm reisenden Generationen – Urgroßvater, Großvater und Vater – aufgerufen  :

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Es thut mir leid, daß ich mir keine handlichen Abschriften der glücklichen Reisen des Urgroßvaters aus dem Jahre 1739, des Vaters aus dem Jahre 1830 mitgenommen, um auch ihre Erinnerungen hier verfolgen zu können. […] Ich lese wieder des Apapas [ J.W. v. Goethe, R.G.] Reise.17

In diesem Brief an Otto Mejer aus dem Jahr 1859 wird deutlich, dass W.M. v. Goethe sich dessen bewusst war, Teil einer neuen Generation von Reisenden zu sein. Denn die bereits in den 1850er Jahren als Bildungsideal verstandene Nachfahrt und Wallfahrt auf den Spuren des Großvaters könne, so sein Enkel, selbst von diesem nicht wiederholt werden  : „Daß ein so bedeutender Mensch wie Er [ J.W. v. Goethe, R.G.] jetzt noch solch eine unschuldige, harmlose italienische Reise schriebe, wäre ebenso unmöglich […]. Reisen nach Italien sind jetzt Tragödien, keine Schäferspiele mehr.“18 Seine überlieferten Reisebeschreibungen und jene seiner Mutter, Ottilie von Goethe, sowie seines Bruders Walther Wolfgang von Goethe, bilden den Schlussstein einer über vier Generationen dauernden Reisebewegung der Familie Goethe Richtung Süden. 3. Nachfahrender Nachfahre Der Nachfahre und das Nachfahren können als Wissensfiguren der Genealogie verstanden werden, der Fortsetzung und Abfolge, aber auch der Unterbrechung und des Neuanfangs.19 Sie sind beide eingebettet in Wissensüberlieferungen und -produktionen, Re-Inszenierungen und Re-Lektüren von vorfahrenden Vorfahren. An ihnen wird sichtbar, inwiefern Phänomene und Gegenstände unter einer Logik der Herkunft, Ableitung, Wiederholung und Folge gedacht und dargestellt werden. Hinter dem nachfahrenden Nachfahren verbirgt sich eine vielschichtige Verkettung von Natur und Kultur, denn diese Figur signalisiert die Schwelle zwischen Genese und Genealogie, Abstammung und Erbschaft sowie Herkunft und Gedächtnis. Jede Untersuchung solcher nachfahrenden Reisenden zielt früher oder später auf ein Konzept der Ordnung und einen Akt der Periodisierung. Wie sehr sich dieses epistemologische Modell in Darstellungen über A. v. Goethe eingeschrieben hat, zeigen populärwissenschaftliche Aufsätze und Biographien über „Goethes 17 Otto Mejer  : Wolf Goethe. Ein Gedenkblatt, Weimar 1889, S. 70. 18 Ebd., S. 70f. 19 Der Begriff Generation wurde in den letzten Jahren aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive diskutiert und aufgearbeitet, vgl. Sigrid Weigel  : Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006  ; dies.: Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts, in  : Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, hg. von Lutz Musner und Gotthart Wunberg, Wien 2002, S. 161–190  ; Eckart Liebau  : Generation, in  : Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf, Basel u.a. 1997, S. 295–306.

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Sohn“.20 Bei diesen stand vor allem ein genealogisches Diktum im Zentrum, und zwar der Sohn im Schatten des Vaters  ; um den Vater zu potenzieren, wurde der Sohn dezimiert. Nachfahre(n) bezog sich dabei auf einen familiensoziologischen Generationenbegriff, wobei Generation als eine Kategorie verstanden wurde, die es ermöglichte, eine stark wertende Unterscheidung der Abstammungsfolgen vorzunehmen. Aus der Vielzahl sich wiederholender Stereotypen sei lediglich auf Brausewetters Betrachtungen verwiesen.21 Nachfahrende Nachfahren können aber auch als Vertreter einer kollektiv sozial-historischen Gruppierung näher gefasst werden.22 Unter dieser Prämisse können sie als ­Reisende verstanden werden, die sich aufgrund von Erlebnissen, Verarbeitungs- und Handlungsformen zu einer Generation formierten. Gerade hinsichtlich A. v. Goethes Reise ist dies wesentlich, denn sie steht im Zusammenhang mit einer Zäsur in der italienischen Reise­ literatur, nämlich jenem ausgiebig untersuchten Paradigmenwechsel, der durch J.W. v. Goethes Reise südlich der Alpen hervorgerufen wurde. Literaturgeschichtliche Unter­ suchungen bezogen sich dabei auf ein mythisch-narratives Modell, für dessen C ­ hronologie seine Ausflucht in den Süden ein entscheidendes Ereignis darstellte. Hervorgehoben wurde stets, dass sich erst durch J.W. v. Goethes Reise das Konzept der Weimarer Klassik entfalten konnte. Öfters übersehen wird bei solchen literaturgeschichtlichen ­Einteilungen in Epochen, dass diese Reise eine neue Generation von deutschen Italienreisenden evozierte. Reiseautoren um 1800 mussten sich in Abgrenzung zu J.W. v. Goethe, und dies bereits vor der endgültigen Redaktion der ersten beiden Bände der Italienischen Reise (1816/1817) und des Zweiten Römischen Aufenthalts (1829), als eine neue Generation von Reisenden, als entschieden andere Nachfahren inszenieren und stilisieren.23 Rechtshistorisch ist dabei 20 Vgl. Artur Friedrich Leon Brausewetter  : Goethes Sohn, in  : Conservative Monatsschrift, 1918, S. 391–396  ; Wilhelm Bode  : Goethes Sohn, Berlin 1918  ; gerade neuere populärwissenschaftliche Arbeiten fokussieren ihr Erkenntnisinteresse auf diesen Aspekt vgl. Werner Völker  : Der Sohn  : August von Goethe, Frankfurt/M. u.a. 1992  ; Fritz Ebner  : Goethes Sohn August, in  : Goethe. Aus seinem Leben. Reden, Vorträge, Zeitbilder, hg. von Fritz Ebner, 2. Aufl. Darmstadt 2002, S. 213–244  ; Friedrich Weissensteiner  : Kinder der Genies, München u.a. 2007, S. 11–58. 21 „Will man den Sohn Goethes in seinem Kerne erfassen, so ist dieser mit einem Worte [sic] ausgedrückt  : achtunggebietende Mittelmäßigkeit. […] August von Goethe wäre der tüchtigste der Menschen geworden, wenn er nicht der Sohn des Olympiers gewesen wäre […] das Gefühl seiner eigenen Minderwertigkeit dem großen Vater gegenüber […] alles das webt um sein Leben eine eigentümlich wehmütige Tragik. […] er lebte und starb als des großen Vaters Sohn.“ Brausewetter  : Goethes Sohn, S. 391ff. 22 Zu Definitionen historischer Generationenbegriffe vgl. Wilhelm Dilthey  : Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in  : ders. Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart u.a. 1957, S.  31ff. und Karl Mannheim  : Das Problem der Generationen, in  : ders.: Wissens­ soziologie, hg. von Kurt H. Wolff, Berlin u.a. 1964, S. 509–565  ; sowie im Anschluss Helmut Fogt  : Politische Generationen, Opladen 1982 und Ulrich Herrmann  : Das Konzept der „Generation“, in  : Neue Sammlung 27, 1987, S. 364–377, hier 364ff. 23 Vgl. Jörg Drews Untersuchung zu Johann Gottfried Seumes Besuch am Monte Pellegrino in Abgrenzung zu J.W. v. Goethes Beschreibung der Statue der heiligen Rosalie. Diese Passage veröffentlichte J.W. v. Goethe vor der endgültigen Fassung der Italienischen Reise bereits im Oktober 1788 in Martin Wielands Zeitschrift

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von Interesse, dass sich um 1800 ein neuartiger Generationenbegriff bildete, nämlich eine duale Konstellation „zwischen einer älteren und jüngeren Generation“24, wie er auf Seiten staatlicher Regulierungen im Allgemeinen Landrecht für die königlich preußischen Staaten (vom 1. Juni 1794) oder durch neue Erbschaftsregeln im Code Napoléon (1804) ablesbar ist. Nachfahre(n) bezieht sich somit auch auf kollektive Erfahrungen und kollektive Identitäten, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Generationen von Reisenden. In A. v. Goethes Reiseaufzeichnungen wird die Gewissheit ausgesprochen, immer schon nach dem Vater in Italien anzukommen, als Nachfahre in den Spuren des Vorfahrens zu reisen. Gesteigert wurde dies dadurch, dass J.W. v. Goethe bis zum 15. Mai 1801 – zumindest offiziell – keinen direkten Nachfahren hatte. Erst dann nämlich unterzeichnete Herzog Carl August das Gesuch um die Legitimierung seines unehelichen Sohnes mit Christiane Vulpius  : […] Ich habe einen natürlichen Sohn, August, dessen Wohlfarth ich auch in Ansehung seiner bürgerlichen Existenz auf die Zukunft gern sichern möchte. In dieser Betrachtung halte ich mich sogar verpflichtet, Ew. p hierdurch unterthänigst zu bitten, denselben propter natales mit einem Legitimations-Decret zu begnadigen. (WA, Abt. IV, Bd. 30, 74)

Der natürliche Sohn durfte damit amtlich den Namen Goethe tragen und wurde offiziell als ein Kettenglied innerhalb der Familie Goethe aufgenommen. Die weitreichende Folge war, dass er und seine beiden Söhne ab diesem Zeitpunkt erbberechtigt waren. Dennoch und deshalb oszillieren sein Reisetagebuch und seine Briefe zwischen der bedingungs­losen Nachfahrt in den Koordinaten Weimars einerseits, dem Bestreben nach Distanzierung gegenüber der Reise seines Vorfahrens andererseits  ; wie es nachfolgend im Mittelpunkt stehen wird. 4. Erlesen  : August von Goethes Italien In seinem italienischen Itinerar schilderte A. v. Goethe seine Besichtigungsziele und Erkenntnisinteressen  : Kathedralen, Hospitäler, Quarantäneanstalten, Schiffswerften, antike Bauwerke, Gemäldesammlungen, physikalisch-technologische Kabinette oder mineralogische Sammlungen suchte der seit 1815 in Weimar zuständige Assistent der Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst während seiner Reise auf. In Mailand Teutscher Merkur. Jörg Drews  : „Ach, Galatea, Du Schöne, Warum verwirfst Du mein Flehen  ?“ Seume in Sizilien, oder  : Besudelung und Sturz zweier Götterbilder, in  : „Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben.“ Johann Gottfried Seume in seiner Zeit, hg. von Jörg Drews, Bielefeld 1991, S. 97–116, hier 113f. 24 Weigel  : Genea-Logik, S. 146, 153f.

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informierte er J.W. v. Goethe, den Dom, das Fresko Das letzte Abendmahl sowie die von Napoleon 1809 gegründete Pinakothek Brera besichtigt zu haben. Dort habe er die „Handzeichnungen von Leonardo […]“, Abgüsse von „[…] Minerva v. Veletri, [den] Franeschen Herkules […]“ sowie „[…] unsere Juno“ (ARS, 28f.) besichtigt. Unsere Juno ist aufschlussreich, denn hier schreibt der ab 1822 zuständige Archivar der umfangreichen Sammlungen am Frauenplan, der nachfahrende Nachfahre und Custos J.W. v. Goethes.25 Der „allgetreue[ ] Archivar“, wie er sich selbst zum 50ten Jahrestag der Ernennung seines Vaters zum Geheimen Legationsrat in einem nicht veröffentlichten Gelegenheitsgedicht adressierte.26 Aber es ist nicht alleine der Archivar, sondern ebenso der Leser von J.W. v. Goethes Werken, der Italien be- und durchreiste. Schon der von ihm konsultierte Reiseführer Handbuch für Reisende in Italien (1826) macht auf diesen Aspekt aufmerksam. Johann Ferdinand Neugebaurs Stadt- und Wegbeschreibungen orientierten sich nicht alleine an einer Reihe enzyklopädischer Reiseberichte, sondern auch an Italien-Topoi, die A. v. Goethe bestens vertraut waren, nämlich jenen aus „Goethe. J.W.v., Aus meinem Leben. Zweite Abtheilung, erster und zweiter Theil.“27 Dementsprechend leitete J.F. Neugebauer die reisenden Leser und Leserinnen in den Spuren von J.W. v. Goethes Italienischer Reise. Ein erlesenes Italien lässt sich zudem anhand offensichtlicher Referenzen finden. In seinem Reisetagebuch, das er beständig an J.W. v. Goethe schickte, lassen sich die Verse aus dem Lied der Mignon „Kennst Du das Land“ (ARS, 36) oder die Verweise auf J.W. v. Goethes Verhaftung wegen Spionageverdachts in Malcesine (IR, 31ff./ARS, 62) sowie auf seine Äußerungen über Lazzaroni in Neapel (IR 404ff./ARS, 171) finden. Bezug genommen wird auch auf die Venetianischen Epigramme (1790) (ARS, 114 u. 117), die er zusammen mit den Römischen Elegien (1795) (ARS, 187) als Lektüre in seinem Reisgepäck mit sich führte und zusammen mit dem Bildhauer Rudolf Freitag (auch  : Freytag) in Neapel deklamierte (ARS, 181 u. 187). Der Sohn beweist dem Vater seine Goethe-Kenntnisse, deren Kulmination erreicht wird, wenn er nach Weimar berichtet, dass er im abendlichen Neapel im Angesicht des Vesuvs die ersten Verse aus Willkommen und Abschied – „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde  !“ – gesungen habe, wobei er die (korrekten) bibliographischen Daten mit sendet  : „(Goethes Werke Ausgabe von 1821, Pag 44.)“28 (ARS, 182) Was diese ausgestellten intertextuellen Bezüge zeigen, ist das Verständnis und die Gewissheit, nicht der Erste zu sein. Das be- und durchreiste Land erweist sich vielmehr als 25 Dabei handelt es sich um den Gipsabguss einer römischen Büste, nämlich die so genannte „Juno Ludovisi“, ein kolossaler Frauenkopf, der gerade um 1800 das Interesse von J.J. Winckelmann, J.G. Herder, J.W. v. Goethe, F. v. Schiller und W. v. Humboldt auf sich zog. 1823 erhielt J.W. v. Goethe von C.F.L. Schultz einen Abguss der „Juno Ludovisi“ geschenkt. Aufgestellt wurde die Büste im „Junozimmer“, dem Empfangs- und Musiksalon im ersten Stock des Hauses am Frauenplan. 26 Lothar Müller  : Abgründige Spiegelungen. Johann Wolfgang und August von Goethe, in  : Väter und Söhne. Zwölf biographische Porträts, Berlin 1996, S. 40–88, hier 63. 27 Johann Ferdinand Neugebaur  : Handbuch für Reisende in Italien, Leipzig 1826, S. 181. 28 Vgl. Johann Wolfgang Goethe  : Goethes Gedichte, Erster Theil, neue Auflage. Stuttgart u.a. 1821, S. 44f.

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Lektüremöglichkeit der literarischen Schriften des Vaters. Das Wissen, das dabei generiert wird, ist jenes eines nachlesenden Nachfahrens, der die Spuren seines Vorfahrens sucht, diese auch findet und damit ein intertextuelles Geflecht aufruft, in dessen Textraum er auf weiten Strecken reist. Seine Reiseaufzeichnungen widmen sich der vergangenen Reise seines Vaters, die es für ihn immer wieder wachzurufen gilt. Gerade diese intensive Auseinandersetzung mit den Italien-Bildern des Vaters erweist sich als Abkapselungsversuch des Sohnes. Seine Reise war seit ihrer Planung als Distanzierungsgestus zu Weimar beabsichtigt, wie er bereits vor seiner Ausflucht in einem Gedicht, das 1829 in der 27. Ausgabe der Weimarer Zeitschrift Chaos publiziert wurde, formulierte.29 Während und auch gegen Ende seiner Reise lassen sich diese Entfernungsbewegungen gegenüber seinem Vorfahren erkennen  ; so in seinem Eintrag über Rom, gerichtet an J.W. v. Goethe in Weimar, kurz vor seinem Tod  : „Es ist das erste mal, im 40t Jahre, daß ich zum Gefühle der Selbstständigkeit gekommen, und unter fremden Menschen Lazaronis, sogar Räubern, Barcaroles und andern, auch vornehmen Gesindel.“ (ARS, 191) Neben diesem Aspekt ist bei der intergenerativen Beziehung zwischen Vorfahre und Nachfahre zudem wesentlich, dass A. v. Goethe zum Entdeckungsreisenden und Agenten wird, indem er das wahrnimmt und beschreibt, was der Vorfahre J. W. von Goethe während seiner Italienreise nicht wahrnehmen konnte. Dies – wie es auch bei einer Blumensendung A. v. Goethes aus Norditalien erkennbar ist30 – ermöglicht es dem Nachfahren, neue Spuren zu finden. Der Vorfahre erhält durch den Nachfahren Informationen, die er während seiner Italienreisen in den Jahren 1786 bis 1788 und von März bis Mai 1790 nicht erhalten hatte. Dabei handelt es sich nicht um Briefsendungen, deren Inhalte Zitate aus den Werken des Vaters sind, sondern der Archivar und Custos führt J.W. v. Goethe von Zeit zu Zeit ins Archiv. Der Sohn erteilt seinem Vater Lektüreanweisungen, wie dies in einer Sendung aus St. Maurice/Sankt Moritz offenkundig ist  : „Donnerstag den 6t May 29 „Ich will nicht mehr am Gängelbande / Wie sonst geleitet seyn, / Und lieber an des Abgrunds Rande / Von jeder Fessel mich befreien. / Und ist auch sichrer Sturz bereitet, /Ich weiche nicht vom schmalsten Pfad, / Um Rechtthun mancher wird beneidet, /Und wohl ist dies die schönste That. / Zerrissnes Herz nimmer herzustellen, /Sein Untergang ist sichres Loos, /Es gleicht vom Sturm gepeitschten Wellen / Und sinkt zuletzt in Thetis Schooß. / D’rum stürme fort in deinem Schlagen, / Bis auch der letzte Schlag verschwand, / Ich geh’ entgegen bess’ren Tagen, /Gelös’t ist hier nun jedes Band  !“ (ARS, 283f.) 30 Ein erlesenes Italien wird ebenso durch Mai-Blumen, die heute noch im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt werden, evident  : Geschützt in zwei Umschlägen, auf denen der Herkunftsort und das Datum in A. v. Goethes Handschrift notiert sind, finden sich Stiefmütterchen und Streifenfarn, Blumen die er am 19. Mai 1830 in der Nähe der Villa Pliniana pflückte, um sie an seinen Vater nach Weimar zu senden. Mit Bleistift ist der Fundort der Blumen notiert  : „Isola Madre […] An der Statue des heil. Borromäus gepflückt.“ Obwohl die oberitalienische Seelandschaft in J.W. v. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/1829) einen zentralen Schauplatz einnimmt, hatte er lediglich den Comer See während seiner Italienreise gesehen. Den Lago Maggiore hingegen, Herkunftsraum Mignons, hatte er nicht besucht. Der nachfahrende Leser berichtet seinem Vorfahren, dass er das wahrnehmen konnte, was seinem Vorfahren verschlossen blieb. Vgl. Müller  : Abgründige Spiegelungen, S. 73f.

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Abb. 2: Grabmal von Galileo Galilei in der Kirche Santa Croce (Florenz)

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früh 3 Uhr von Bex abgefahren um 7 Uhr in St Maurice (hier nehmen Sie den Vojage Pittoresque von der Bibliothek zur Hand, denn es ist alles von hier bis Sesto unvergleichlich treu gezeichnet.)“ (ARS, 19) Und auch in Genua – J.W. v. Goethe besuchte die ligurische Hafenstadt nicht während seiner Reisen in Italien – schreibt er an seinen Vater, dessen Italien noch weiße Flecken besaß  : „Ich erfreute mich an der herrlichen Aussicht auf den Hafen und die Gebirge mit den schönsten Palästen. Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich einer Zeichnung von Gore den Hafen vorstellend. Sie ist in dem rothen Band auf der Bibliothek, sehen Sie sie doch an.“ (ARS, 101) Und später in Florenz verweist er auf zwei Bilder von Hackert  : „Geht auf das Schloß seht den Hackert im rothen Zimmer vor der Gallerie, doch denkt auch die Abendbeleuchtung wie sie Hakert im gegenüber hängenden Stück von Ponte molle dargestellt hat.“ (ARS, 142) Derlei Anweisungen an den Vorfahren bestimmen weiter die Berichte des Nachfahrens aus Florenz  : Das Tagebuch bis incl. 23 Augt. geschlossen und der Post übergeben. Um 8 mit dem Lohnbed. ausgegangen. Zuerst in Kirche Sta. Croce […] Sie ist besonders wegen der Denkmäler berühmter Männer merkwürdig, als das von Dante, Michael Angelo, Machiavelli, Gallilei, Alfieri und Aretin […] ich will keins beschreiben, sondern verweise auf die Monumenti Sepolcrali della Toscana 1819. mit Kupfern. (ARS, 142)

Gerade in Florenz häufen sich solche ausführlichen Anmerkungen an den Vater, ist es doch die Stadt, die J.W. v. Goethe nur flüchtig besuchte und deren Kunstschätze er kaum beachtete. Reist der Sohn in Italien mit und in den Büchern des Vaters, so reist der Vater in den Archiven des Hauses am Frauenplan und der Anna Amalia Bibliothek, geleitet von seinem Sohn  : „Durch deine Beschreibungen wird mir Florenz wieder lebendig, das ich nicht so ausführlich und gründlich gesehen habe wie Du“ (ARS, 245), schreibt der Vorfahre aus Weimar an seinen reisenden Nachfahren in Italien. 5. Post mortem  : Nachleben des Nachfahrens im Vorfahren Bereits kurz nach A. v. Goethes Tod, so schreibt der zu Beginn erwähnte Geschäftsträger der hannoverschen Gesandtschaft beim Päpstlichen Stuhl G.A.C. Kestner an Friedrich von Müller im November 1830, wurde in Rom geplant, dass auf der Beerdigungsstätte A. v. Goethes „ein Monument die Trauerstelle verewigen soll.“ (ARS, 270) Bestattet wurde er genau dort, wo sein Vorfahre sein eigenes Grab in einem Brief an Friedrich Constantin von Stein rund 40 Jahre zuvor im Februar 1788 imaginierte und auch selbst mit Tusche, Feder und Bleistift in Rom zeichnete  : „Du schriebst neulich von einem Grab der Miß Gore bei Rom. Vor einigen Abenden, da ich traurige Gedanken hatte, zeichnete ich meines bei der Pyramide des Cestius, ich will es gelegentlich fertig tuschen, und dann sollst du es haben.“ (WA, VI Abt., Bd. 8, 352)

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Abb. 3: Johann Wolfgang von Goethe: Cestius-Pyramide im Vollmondlicht nach der Imagination gezeichnet (1788)

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde der namenreiche Friedhof in Rom zum Sehnsuchtsort deutscher und englischer Schriftsteller, wurde in Gedichten von Wilhelm Waiblinger, August von Platen oder Percy Bysshe Shelley in der Metrik der Melancholie besungen. Und auch später, lange Zeit nach seiner hesperischen Reise, hielt J.W. v. Goethe, der Verstorbene von morgen, an seiner früheren römischen Selbstinszenierung fest. Eine „beneidenswerthe Ruhestätte an der Pyramide des Cestius“ (WA, IV Abt, Bd. 48, 108) schreibt er an Heinrich Mylius im Februar 1831, sei es, die sein verstorbener Sohn sein Eigen nennen darf. Dass er an jener Stelle nahe der Pyramide des Cestius begraben wurde, wohin „sein Vater, vor seiner Geburt, sich dichterisch zu sehnen geneigt war“ (WA, IV Abt., Bd. 48, 129), berichtete er ebenso im Februar 1831 an Carl Friedrich Zelter. Dabei bezog er sich mehrmals auf seine Römische Elegien, genauer auf die letzten Verse der VIII Elegie, in denen Hermes als Psychopompos die abgeschiedene Seele des lyrischen Ich in den Orkus führen soll  : „Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich / später, / Cestius’ Mal vorbei, leise zum Orkus hinab.“31 Es sind genau diese Verse, auf die er sich in einem Brief einige Monate später an G.A.C. Kestner im Juni 1831 berief, als es darum ging, die Stelle, wo sein Sohn begraben wurde, zu bezeichnen  : „[…] da der Vater, wie jene Elegie bezeugt, jenen Weg zu nehmen gewünscht, so ist es doch ganz eigen, daß der Sohn denselben eingeschlagen, und der Vorfall verdiente wohl ein Merkzeichen.“ (WA, Abt. IV, Bd. 48, 233) Dass sein Nachfahre verstorben sei, erfuhr J.W. v. Goethe am 10. November 1830, woraufhin ein schwerer Blutsturz einsetzte. Zudem war sicherlich seine exzessive literarische Arbeit für die schwere Erkrankung verantwortlich, wie er an C.F. Zelter im Dezember 1830 schrieb  : „Das Ausbleiben meines Sohns drückte mich, auf mehr als eine Weise, sehr heftig und widerwärtig  ; ich griff daher zu einer Arbeit, die mich ganz absorbiren sollte. 31 Johann Wolfgang Goethe  : Römische Elegien, in  : ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3.2, München u.a. 1990, S. 38–82, hier 53.

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Rupert Gaderer

Der vierte Band meines Lebens […]“ (WA, Abt. IV, Bd. 48, 40) Der über zehn Jahre kaum bearbeitete vierte Teil von Dichtung und Wahrheit soll, so in dem Brief weiter, in lediglich vierzehn Tagen fertigstellt worden sein, zumindest so weit, dass er „[…] gedruckt werden könnte.“ (WA, Abt. IV, Bd. 48, 41) Die Flucht vor der Todesnachricht führte ihn in die Arbeit und in die literarische Auseinandersetzung mit der Abb. 4: Julius August von Goethes Grab Reise seines verstorbenen Nachfahrens. Tagebucheintragungen zeugen davon  : „21. [November 1830, R.G.] Fernere Wanderung auf den Gotthard […] 22. [November 1830, R.G.] Die Tour auf dem Gotthard redigirt.“ (WA, Abt. III, Bd. 12, 334) Er redigierte in der Zeit vor dem Blutsturz Passagen seiner Schweizer Reise im Jahr 1775, wobei diese Arbeit auch die Wanderung auf den Gotthard mit einschloss. Der Protagonist kehrt dort Italien den Rücken zu und wandert Richtung Norden zurück, die Rückkehr zur Geliebten ist wichtiger als das verlockende Italien. Mit der Überarbeitung seiner Schweizer Reise kam der Vorfahre in die Nähe der Reiseroute seines Nachfahrens. Und wenn J.W. v. Goethe in Dichtung und Wahrheit zudem schreibt  : „Mein Vater hatte mir einen gar hübschen Reiseplan aufgesetzt und mir eine kleine Bibliothek mitgegeben, durch die ich mich vorbereiten und an Ort und Stelle leiten könnte“32, dann ist mit diesem intergenerativen Verweis nicht alleine J.C. Goethe gemeint, sondern auch er selbst und jener, der am namenreichen römischen Friedhof nahe der Cestius Pyramide ohne Namen blieb.

32 Goethe  : Dichtung und Wahrheit, S. 831.

Yixu Lü

Die Schule der Fremdenfeindlichkeit – erdichtete China-Reisen um 1900

Diese Untersuchung gilt einer Gruppe von längst vergessenen Reise- und Abenteuerroma­ nen, die ihre Existenz weniger künstlerischen Impulsen als vielmehr der Aussicht auf kommerziellen Erfolg in einem eng begrenzten und patriotisch bestimmten historischen Rahmen verdankt. Die einschlägige Epoche beginnt im Jahr 1897 mit der Gründung einer deutschen Kolonie in Qingdao und geht nach dem Abschluss der Friedensverhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und China im September 1901 mit einem Verebben dieser literarischen Mode allmählich zu Ende. Die China-Romane, die in dieser Epoche entstehen, sind hauptsächlich ‚für die reifere Jugend‘ bestimmt und profitieren von einer besonderen Aktualität, deren ideologischer Gehalt in folgenden Sätzen aus dem Vorwort zu Eugen von Enzbergs Drachenbrut. Antheilname Deutschlands an den Kämpfen in China klar umrissen wird  : Seit den unvergesslichen Sommertagen des Jahres 1870 geht zum ersten Male wieder ein erfrischend-patriotischer Zug durch die deutschen Lande. Zum ersten Male sieht sich Deutschland im Konzert der Großmächte an führender Stelle, zum ersten Male weht der kräftige Hauch der Weltpolitik über Germaniens Gaue, zum ersten Male zieht eine bedeutende Zahl deutscher Söhne aus allen Teilen des Reiches über das weite Weltmeer.1

Die chinesische Niederlage lässt – so von Enzberg – den Geist von Sedan wieder aufleben – nur mit einem ungleich größeren Prestigegewinn für Deutschland. Der Autor datiert dieses Vorwort auf den 20. November 1900 und zitiert darin emphatisch bejahend aus der am gleichen Tag gehaltenen Thronrede Wilhelms II.: „Fanatischer Haß und finsterer Aberglaube […] hatten mißgeleitete Massen des chinesischen Volkes zu Greuelthaten getrieben gegen die friedlich unter ihnen weilenden Vorposten abendländischer Civilisation und christlicher Kultur. Aber die Schreckensbotschaft einte, was sonst getrennt.“2 Damit wird der ideologische Bereich abgesteckt, den diese fiktiven China-Reisen durchqueren, denn ohne die militärischen und kolonialen Ambitionen Wilhelms II. und seine rabiate Einstellung zum chinesischen Feind, wie er sie in jener notorischen ‚Hunnenrede‘ zum Ausdruck brachte, mit der er am 27. Juli 1900 seine sich nach China einschiffen1 Eugen von Enzberg  : Drachenbrut. Antheilnahme Deutschlands an den Kämpfen in China, Berlin 1901, S. V. 2 Ebd., S. VI.

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den Truppen verabschiedete, hätte sich die Nachfrage für China-Romane auf dem Markt für deutsche Populärliteratur wohl als weitaus geringer erwiesen. Dass die bürgerliche Gattung des ‚für die reifere Jugend‘ bestimmten Reiseromans zu einer ‚Schule der Fremdenfeindlichkeit‘ umgestaltet wurde, bedarf einer ausführlichen Erklärung mit konkreten Beispielen. Meine These lässt sich dahingehend präzisieren, dass die deutschen Waffengänge in China, so bescheiden diese in Wirklichkeit auch gewesen sein mögen, in Deutschland als schlagender Beweis für die Richtigkeit der „Weltpolitik“ Wilhelms II. gefeiert wurden. So öffnete sich eine neue Marktnische für Schriften, die die Jugend für künftige solche Aktionen begeistern sollte. Aus der Perspektive dieser Jahre stand der deutsche Kolonialismus erst am Anfang einer glänzenden Laufbahn. Die „Weltpolitik“ des Kaisers verlangte einen internationalen Schauplatz, und der Militarismus, von dem diese Politik getragen wurde, benötigte einen Vorrat an Feindbildern, um ein schonungs­ loses Vorgehen von deutscher Seite im Voraus zu legitimieren. Woraus sollte man die erforderlichen Feindbilder schöpfen, wenn nicht aus jenem ‚Riesenreich‘, in dem jüngst nicht nur unschuldige Missionare mit ihren Konvertiten, sondern auch der deutsche Gesandte in Peking aufs Grausamste ermordert worden waren  ? Dass auf solche Untaten eine angemessene und erfolgreiche Strafaktion unter Graf von Waldersee erfolgt war, vollendete das erwünschte nationalistische Muster, und so wurden erzählte Reisen durch China, die sonst vor allem der ethnologischen Belehrung gedient hatten, zur Produktion von Feindbildern umfunktioniert. Dies erforderte besondere Repräsentationstechniken, die im Folgenden zu präzisieren sind. Die Presseberichte über China im Jahr 1900, die ich auch anderweitig behandelt habe, bieten im deutlichen Kontrast zu diesen China-Romanen eine weitaus breitere und differenziertere Skala politischer und ideologischer Haltungen.3 Auf der einen Seite konnte die gemäßigt konservative Kölnische Zeitung am 3. November 1900 ohne Umschweife folgendes Fazit aus den ganzen „chinesischen Wirren“ ziehen  : „Der weiße Mann in Waffen ist in China einmarschirt und hat den gelben Mann in dem Bereiche des besetzten Gebietes auf die Knie gezwungen.“ Auf der anderen Seite jedoch hatten ab August zahlreiche überregionale Zeitungen die so genannten ‚Hunnenbriefe‘ abgedruckt, in denen deutsche Soldaten und auch Offiziere offen, ja häufig empört über viele von der eigenen Seite verübten „Greuelthaten“ – darunter Massenexekutionen von chinesischen Zivilisten – Zeugnis abgelegt hatten. August Bebel sollte in den am 14. November eröffneten Reichstagssitzungen ausgiebig daraus zitieren. Sein entrüstetes Plädoyer gegen die deutsche Kriegsführung in China, das sich direkt auf solche Berichte bezog, wie auch sein scharfer Angriff auf den deutschen Kolonialismus, wurden keineswegs von der Presse verschwiegen oder abgemildert. Für literarische Gegendarstellungen zur patriotisch-kaiserlichen Auffassung der jüngsten Ereignisse in China lag 3 Vgl. Yixu Lü  : Germany’s War in China  : Media Coverage and Political Myth, in  : German Life and Letters 61, 2, 2008, S. 202–214, hier 207f.

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also mehr als genug Material in der Öffentlichkeit vor, aber dieser Tatbestand übte nicht den geringsten Einfluss auf den deutschen Büchermarkt aus. Kein einziger oppositioneller China-Roman ist aus dieser Zeit zu verzeichnen. Die große Mehrheit der jugendlichen Leser war allem Anschein nach gegen die aus den ‚Hunnenbriefen‘ zu ziehenden Schlüsse völlig immun und erwartete im Gegenteil eine Zelebrierung heldenhaften Deutschtums mit chinesischem Kolorit. Sie sollte sie von Autoren wie Paul Lindenberg, Agnes Harder, Eugen von Enzberg und Otto Felsing in Hülle und Fülle erhalten. Diese Hinweise auf den historischen Kontext mussten allen theoretischen Überlegungen vorangestellt werden. Denn die Mehrheit der theoretischen Entwürfe zur Reiseliteratur im Allgemeinen kann nicht ohne weiteres auf jene fiktionalen China-Reisen angewandt werden, die hier zur Diskussion stehen. Diese Reisen sind ausnahmslos ideologisch vorprogrammiert, und zwar im kolonial-patriotischen Sinne. So ‚authentisch‘ manche Texte sich durch die Einflechtung von belehrenden Exkursen und fotographischer Dokumentation auch geben mögen, die Abenteuer in China, die sie inszenieren, sind nicht nur größtenteils durch ein Vorwissen um den Sieg der kolonialen Mächte im Sommer und Herbst 1900 bestimmt, sondern auch noch durch das Bedürfnis geprägt, die Überlegenheit alles Deutschen gegenüber dem Verlierervolk herauszustreichen. Was sie an Begegnungen mit der Fremde zu bieten haben, sind daher in der Regel Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand. Will man diese Texte in Beziehung setzen zu bestimmten Schablonen, die eher theoretischen Überlegungen als historisierender Lektüre entstammen – wie etwa die „Perspektive von Faszination und Bedrohung, Abwehr und Verlangen, Anziehung und Abstoßung“4 – , so muss man von vornherein in Rechnung stellen, dass solche Begriffspaare in einer Diskussion der China-Romane um 1900 fehl am Platze sind. Die Chinesen als solche üben keinerlei „Anziehung“ auf die deutschen Protagonisten aus. Wenn hier von „Verlangen“ die Rede sein kann, so ist dessen Gegenstand niemals in der Fremde zu orten. Vielmehr gilt alles Verlangen der deutschen Heimat oder deren symbolischen Stellvertretern. So kann die ‚Musterkolonie‘ Qingdao als ein Deutschland in Miniatur fungieren, oder aber als ein echt deutsches Zuhause mit vertrautem Familienkreis – mitten in China – für das schwer vermisste Vaterland einstehen. Dazu kommt noch, dass der Themenbereich solcher „für die reifere Jugend“ verfassten Romane völlig entsexualisiert wird, so dass ein jegliches erotisches Verlangen von vornherein strengstens tabuisiert ist. Für diese deutschen Protagonisten gibt es keine chinesischen femmes fatales. Man sollte ebenfalls in diesem spezifischen historischen Kontext gegen vereinfachende Pauschalerklärungen skeptisch sein, von denen folgendes Zitat ein Beispiel abgibt  : „Das autoritäre Moment des europäischen Ethnozentrismus korrespondiert einer irrationalen 4 Gabriele Dürbeck  : Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914, Tübingen 2007, S. 20f. Die Autorin bekennt sich zwar nicht zu diesen Begriffen, führt aber vier weitere Literaturhinweise für sie an, die die Häufigkeit ihrer Verwendung belegen.

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Angst, im Anderen – der ‚gelben Gefahr‘ – unterzugehen.“5 Der so formulierte Topos besitzt einige Attraktivität für die Kulturwissenschaft – vor allem, weil darin die schlichte Überheblichkeit der Kolonisierenden als tiefsinniger und prekärer erscheint, als es von der Geschichtsschreibung verbürgt wird. Nach dem August 1900 war jedoch die „gelbe Gefahr“ – auch für Wilhelm II – zwar nur vorübergehend aber auf markante Weise gebannt. Die Wendung „im Anderen […] unterzugehen“ hat einen unverkennbaren Reiz, entspricht jedoch nicht im Geringsten den Gefahren, denen die Protagonisten der China-Romane um 1900 ausgesetzt sind. Denn diese sind allesamt sehr handfeste Bedrohungen  : korrupte Richter und Gefängnisstrafen, Mord und Totschlag, Verrat und Betrug. Joseph Conrads Heart of Darkness, das vielzitierte Musterbeispiel eines solchen „Untergangs im Anderen“, hat mit der Welt dieser China-Romane keinerlei Verwandtschaft. Andere theoretische Begriffe, die in Bezug auf originale Reiseberichte geprägt wurden, können von beschränktem Nutzen sein, solange man bei deren Anwendung eine angemessene Vorsicht walten lässt. Mary Louise Pratt hat in ihrer Studie Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation den Begriff “anti-conquest” erfunden, den sie folgendermaßen umreißt  : I use this term to refer to the strategies of representation whereby European bourgeois subjects seek to secure their innocence in the same moment as they assert European hegemony. The term “anti-conquest” was chosen because, as I argue, in modern travel and exploration writing these strategies of innocence were constructed in relation to older imperial rhetorics of conquest associated with the absolutist era. The main protagonist of the anti-conquest is a figure I sometimes call the “seeing-man” […].6

Die Versuchung liegt nahe, die Protagonisten deutscher China-Romane um 1900 mit dem Etikett des “seeing-man” in genau diesem Sinne zu versehen. Denn sie sind ausnahmslos jung, ehrlich und unerfahren. Ihre Unschuld sticht in den Erzählungen immer wieder aus dem Dunkel der unliebsamen Eigenschaften ihrer chinesischen Kontrahenten hervor und soll unverkennbar als leuchtendes Beispiel jener “Civilisation” verstanden werden, die den Chinesen völlig fremd ist. Darüber hinaus soll diese Unschuld assoziativ auf das ganze koloniale Unternehmen übertragen werden und dessen kommerziellen, ja ausbeuterischen Aspekt verschleiern. Man darf jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass Pratt sich ausschließlich mit Reiseberichten aus erster Hand und eben nicht mit fiktionalen Erzählungen befasst. Mag der junge Held eines zur Zeit des Boxer-Aufstands spielenden deutschen Romans sich auch 5 Fritz Kramer  : Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1981, S. 69. 6 Mary Louise Pratt  : Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. Second Edition, London/New York 2008, S. 8f.

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als unbeschriebenes Blatt ausnehmen, die Erzählinstanz und auch der Leser wissen es besser  : Alle Naivität ist Teil der Fiktion und wird strategisch eingesetzt, um bestimmten Lesererwartungen und Handlungsmustern zu entsprechen. Was die Protagonisten auf ihren Reisen durch China erleben, sind vorwiegend ausgeklügelte Adaptionen der Lesefrüchte des jeweiligen Autors. Außerdem ist das koloniale Unternehmen Wilhelms II. ja ausgesprochen absolutistischer Art und macht im Zuge der chinesischen Niederlage keinen Hehl daraus, so dass sich diese “seeing-men” im Verlauf der jeweiligen Handlung allesamt zu aktionsfähigen Patrioten mausern. Will man daher in Bezug auf diese Romane zum Begriff der scheinbaren Unschuld des “seeing-man” greifen, so ist es unumgänglich, den jeweiligen Grad an Vermittlung, d.h. an zielbewusster Perspektivierung des Erzählten in Rechnung zu stellen, der bei der Gestaltung eines fingierten first contact eine maßgebliche Rolle spielt. Dazu kommt noch, dass der Verlauf der jeweiligen Reise durch China nicht allein durch die Erfordernisse einer spannenden Handlung, sondern auch durch die bereits erwähnten ideologischen Faktoren bestimmt wird. Als Beispiel der entsprechenden Schreibintentionen darf folgender Passus aus der an „Eltern und Erzieher“ adressierten Vorrede zum 1901 erschienenen Roman Gert Janssens China-Fahrten, Reise- und Kriegserlebnisse eines jungen Deutschen von Otto Felsing gelten  : Denn früh schon treten heutigen Tages die Wirklichkeiten des Lebens an den jungen Menschen heran, und deshalb darf seine Unterhaltungslektüre ihm nicht müßige Hirngespinste oder blutrünstige Indianerabenteuer bieten, […] sondern […], wo es sich um die Gegenwart handelt, ein Bild der realen Welt unserer Tage zeigen […], das wirkliche China […] schildern, […] soweit es sich uns erschlossen hat, und seine Darstellung für die reifere Jugend geeignet ist. Es ist der Versuch gemacht worden, […] im Rahmen einer wahrhaften Geschichte die reale Welt dieses Riesenreiches zu zeigen, dessen volle Erschließung ohne Entflammung eines kriegerischen Weltbrandes zu den großen Problemen gehört, die zu lösen die schwere Aufgabe unseres neuen Jahrhunderts ist. Und ist diese Aufgabe gelöst, ist China erschlossen und fängt es an, in die Reihe der Kulturvölker zu treten – dann erst recht wird es im Mittelpunkte des Interesses der alten Kulturvölker stehen […] Und so ist […] nicht ein fabelhaftes China […] geschildert worden, sondern […] „China wie es ist“, zu der Zeit, wo Deutschlands Söhne mit den Waffen eine Sühne erzwingen mußten für unerhörten Bruch des Völkerrechts, […] der Kulturwelt mit dem Schwerte das erste Thor brachen in die geistige „Große Mauer“ des Altchinesenreiches.7

Die auktoriale Haltung, zu der Otto Felsing sich hier bekennt, dürfte man wohl am treffendsten als ‚pathetischen Realismus‘ bezeichnen. Aus solch emphatischen Bezeugungen der Authentizität lassen sich jedoch einige schiefe Töne sofort heraushören, die den heuti7 Otto Felsing  : Gert Janssens China-Fahrten. Reise- und Kriegserlebnisse eines jungen Deutschen, München 1901, S. I.

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gen Leser auf gravierende Ambivalenzen im Roman selbst gefasst machen. Um eine Formulierung Stephen Greenblatts aufzugreifen, geht es daher im Folgenden darum, „weniger […] zwischen wahren und falschen Darstellungen zu unterscheiden, als um eine Unter­ suchung der Repräsentationspraktiken als solcher“, wobei Schilderungen des Außereuropäischen in erster Linie dazu dienen, Treffendes „über die europäische Repräsentationspraxis aus[zu]sagen“.8 Denn die Doppelbödigkeit einiger Wendungen in diesem kurzen Text lässt Felsings erzählerische Praxis im Voraus als zutiefst problematisch erscheinen. Zum einen soll China geschildert werden, „soweit es sich uns erschlossen hat“ – eine Floskel, die eine kaum glaubwürdige Bescheidenheit in Bezug auf die China-Kenntnisse dieses sich sonst so souverän gebenden Autors vorspielen soll  ; zum anderen stellt für Felsing „die volle Erschließung“ dieses „Riesenreiches“ einen Brennstoff in politischer Hinsicht und eine dringende Herausforderung an die kolonialen Mächte dar, wenn die „Entflammung eines kriegerischen Weltbrandes“ verhindert werden soll. „Erschließung“ kann in diesem Sinne einzig als Deckmantel für eine baldige Aufteilung Chinas durch die noch immer friedlich verbündeten Großmächte stehen – bevor die allzu wohlbekannten Rivalitäten unter ihnen ein Blutbad entfesseln. So wandelt sich die Semantik des Worts „erschließen“ zusehends, und verschiebt sich zuletzt in den heiklen Bereich der unbegrenzten Ausbeutung des „Riesenreiches“ durch die kolonisierenden „Kulturvölker“. Eine vergleichbare Ambivalenz kennzeichnet die Semantik des Begriffs ‚Kultur‘. China wird expressis verbis aus der Kategorie der „alten Kulturvölker“ ausgeschlossen. Für das „Riesenreich“ wird bestenfalls in Aussicht gestellt, es könnte künftig anfangen, „in die Reihe der Kulturvölker zu treten“ – nach der Logik Felsings allerdings dann nur als eine ‚neue‘ Kultur. Diesen wünschenswerten Status wird China erst dadurch erlangen, dass es erfolgreich „erschlossen“ – sprich  : restlos kolonisiert wird. Als Echo auf den Schluss der ‚Hunnenrede‘ Wilhelms II. – „Öffnet der Kultur den Weg ein für allemal  !“9 – müssen bei Felsing die „Söhne Deutschlands“ China erst durch brachiale Gewalt „erschließen“, das heißt für die ‚echte‘ Kultur empfänglich machen  : „der Kulturwelt mit dem Schwerte das erste Thor“ in die „geistige ‚Große Mauer‘“ brechen. Diese ‚zivilisierende‘ Mission sieht einem mittelalterlichen Kreuzzug täuschend ähnlich. Ein so paradoxer Umgang mit dem seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland sprichwörtlichen Alter der chinesischen Kultur darf nicht als Schrulligkeit nur des einen Autors abgetan werden, sondern er stellt ein in den deutschen Romanen um 1900 häufig begegnendes Phänomen dar. In Agnes Harders Roman Wider den Gelben Drachen. Abenteuer und Fahrten zweier deutscher Jünglinge im Lande der Boxer wird es in folgendem Passus artikuliert  : 8 Stephen Greenblatt  : Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden  : Reisende und Entdecker, Berlin 1994, S. 17f. 9 Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., hg. von Ernst Johann, München 1966, S. 91.

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Als Heiner im Winter nach Peking zurückkehrte, fand er die Lage sehr verändert. Schon auf dem Dampfer sprach man beständig von der zunehmenden fremdenfeindlichen Bewegung und von gegen Europäer verübten Grausamkeiten. Das war freilich nichts Neues. Wann hatten die in China, dem Lande der ältesten Kultur, aufgehört, seit Europäer es betreten  ? Aber dieses Mal schien das Ganze ja förmlich in ein System gebracht zu sein. Die Boxer schienen überall zu sein, im ganzen Lande. „Die Boxer haben es gethan,“ hieß es, wenn irgend eine Grausamkeit berichtet wurde. Die Boxer schienen überall zu sein […] Und die Regierung schien sich keine besondere Mühe zu geben, die schlimmen Gesellen los zu werden.10

Hier erscheint das Alter der Kultur Chinas geradezu als Vorbedingung für die darin obwaltenden „Grausamkeiten“. Die zunehmenden Gewalttaten, die jetzt gegen Europäer verübt werden, stellen lediglich eine ‚Systematisierung‘ sonst chaotischer Verhältnisse dar. Versucht man, dieser scheinbar widersprüchlichen Repräsentationspraxis auf den Grund zu kommen, so entlarvt sich sein Subtext als Plädoyer dafür, dass nur eine mit Waffen­ gewalt durchzusetzende Kolonisierung von ganz China solchen chronischen Grausam­ keiten ein Ende bereiten kann. Die Verkoppelung von chinesischem Altertum mit Stagnation oder gar Geschichtslosigkeit ist um 1900 nichts Neues. Man kann bereits bei Hegel über das gegenwärtige China lesen  : „so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wieder erscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte, als die Voraussetzung der Momente, deren Zusammenschließung erst ihr lebendiger Fortgang wird.“11 Neu an dem deutschen China-Diskurs um 1900 ist vor allem der Imperativ, China gewaltsam in die Geschichte hinein zu zerren. So mausert sich Hegels Begriff des „Statarischen“ zur fixen Idee einer durch „Grausamkeiten“ gegen die eigentlichen Kulturträger, die Europäer, bestimmten Dekadenz. Für Abhilfe kann einzig die durchgängige Kolonisierung sorgen. Es ist dann kein Zufall, dass einige hundert Seiten weiter im sehr umfangreichen Roman Harders eben dies in einem versöhnlichen Gespräch zwischen dem deutschen Protagonisten Heiner Oswalt und einem Engländer Mr. Smith ausführlich thematisiert wird. Mr. Smith erteilt Heiner folgende Lektion  : „Wir Engländer betrachten uns nun einmal als die Herren der Erde. Und plötzlich fühlen wir bei jedem Schritt, den wir machen, ein Hemmnis – deutsche Konkurrenz. […] Und dann – das Kolonisieren. Ich will nicht behaupten, daß Sie es schon können –“ er erhob abwehrend die Hand, als Heiner ihn unterbrechen wollte – „nein, wirklich, Sie verstehen es noch nicht. Aber 10 A. Harder  : Wider den gelben Drachen. Abenteuer und Fahrten zweier deutscher Jünglinge im Land der Boxer, Bielefeld/Leipzig 1900, S. 266f. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel  : Die orientalische Welt. China, in  : Deutsche Denker über China, hg. von Adrian Hsia, Frankfurt/M. 1985, S. 160.

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Sie werden es lernen. Wer sehende Augen hat, kann darüber nicht im Zweifel sein. Mein Volk war der reiche Bruder, das Ihrige der arme. Nun will der arme dem reichen in den Weg kommen. Kein Wunder, daß der seine Zähne zeigt.“ „Wenn Sie sich den letzten Satz noch einmal überlegen,“ sagte Heiner, „so werden Sie vielleicht finden, daß in dem Verhältnis der beiden Brüder zu einander der Edelmut nicht gerade bei dem reichen zu finden ist.“12

Die Rivalität zwischen Deutschen und Engländern geistert durch die Kolonialdiskurse in allen China-Romanen dieser Epoche und hat die Funktion, die Deutschen als die moralisch überlegenen Kolonialherren herauszustellen – haben sich die Engländer durch die auch von Otto Felsing ausführlich thematisierten Opiumkriege doch weltweit berüchtigt gemacht. Deutschland hat als zwar verspätete, aber dennoch einzig durch „Edelmut“ angespornte Kolonialmacht die Verpflichtung, das verwahrloste chinesische Volk nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor solch gewissenlosen Kolonialherren wie den Engländern zu retten. Dies wird durch die auktoriale Erzählstimme im Roman Harders bestätigt  : „Deutschland war sich in seinen Söhnen bewußt, daß die Stunde gekommen sei, da es den wichtigen Schritt von der Großmacht zur Weltmacht machen mußte. […] Aber Deutschland brauchte nur der Initiative seines Kaisers zu folgen. Und die Meldung der Freiwilligen bewiesen, daß es dazu bereit sei.“13 Solche fiktionalen Episoden darf man in den Worten des Ethnologen Pierre Marandas als „mythische Diskurse“ bezeichnen, weil sie den „starken Komponenten“ des im gesellschaftlichen Milieu des jeweiligen Verfassers herrschenden „semantischen Systems“ stets den Vorzug geben.14 Anders gesagt  : China wird in solchen Repräsentationen den Werten des damaligen deutschen Patriotismus gemäß umgestaltet. Zu diesem Prozess gehört auch noch – in den Worten des Medienwissenschaftlers Stuart Hall – ein ideologisches Vorverständnis zwischen dem Autor und den Lesern, die die Botschaft des jeweiligen Texts entschlüsseln  : “It is this set of decoded meanings which have an effect, influence, entertain, instruct or persuade, with very complex perceptual, cognitive, emotional […] consequences”.15 Erzählungen, die auf solche Weise gesteuert werden, neigen daher zu emotionellen Vereinfachungen und – so realistisch sie sich auch geben mögen – sie setzen in ihren Evokationen völlig andere Prioritäten als eine nüchterne Wiedergabe verbürgter Fakten. So werden die Belehrungen über China und die Zwischenfälle auf dem Bildungsweg des Protagonisten stillschweigend zur Schule der Fremdenfeindlichkeit.

12 Harder  : Wider den gelben Drachen, S. 520f. 13 Ebd., S. 434. 14 Vgl. Pierre Maranda  : Mythology. Selected Readings, Harmondsworth 1972, S. 12f. 15 Stuart Hall  : Encoding, decoding, in  : The Cultural Studies Reader, hg. von Simon During, London/New York 1993, S. 93.

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Ein solcher mythischer Diskurs, der sehr viel über die Repräsentationspraxis in den einschlägigen Fiktionen verrät, wird am raffiniertesten und mit größter Konsequenz in den beiden Romanen Paul Lindenbergs entfaltet  : Fritz Vogelsang. Abenteuer eines deutschen Schiffsjungen in Kiautschou (1899) und Fritz Vogelsangs Kriegsabenteuer in China 1900. Das Postulat, von dem Lindenberg ausgeht, besteht darin, dass die altersschwache chinesische Kultur kein eigenständiges Überleben dieses Volks mehr gewährleisten kann. Symptomatisch dafür ist, dass die Chinesen seit Jahrhunderten unter der Fremdherrschaft der Mandschus leben müssen – und jetzt dahinsiechen. Denn die Qing-Dynastie ist heillos korrupt und tyrannisch. Das chinesische Volk bedarf offensichtlich der Erneuerung in jeder Hinsicht, ist also eminent rettungsbedürftig, obwohl die große Masse der Chinesen so tief in der Dekadenz steckt, dass sie sogar die eigene Notlage nicht zu erkennen vermag. Die Rettung kann daher erst durch die Ersetzung der bestehenden schlechten Fremdherrschaft durch eine neue, vitale und wohlwollende erreicht werden, die sich um die moralische Erneuerung des Volks kümmert und auch effizient ist. Deutschland ist dazu berufen, die Funktion einer schützenden Fremdherrschaft über China zu erfüllen, nachdem andere Kolonialmächte – vor allem England – aus moralischer Verwerflichkeit versagt haben. Der Erweis der Richtigkeit der deutschen Lösung für China liegt bereits in der Musterkolonie Qingdao vor, deren geordnete und gerechte Verhältnisse in denkbar größtem Gegensatz zu dem sonst im ganzen Lande herrschenden Chaos stehen. Lindenberg hatte dieses Argument in seinem ersten, bereits 1899 veröffentlichten Roman entwickelt. Für die weitere Entfaltung seines Mythos der Deutschen als Retter Chinas bedeuten die blutigen Konflikte von 1900 insofern ein Hindernis, als auch Deutsche von den Aufständischen angegriffen und ermordet werden. Um in seinem zweiten Roman zu vermeiden, dass dieser im ersten sorgfältig entworfene Diskurs durch solche Widersprüche beeinträchtigt wird, greift Lindenberg zu zwei strategischen Verzerrungen der geschichtlichen Situation  : Zum einen soll es überall im Lande ‚gute‘ Chinesen geben, die – auch wenn sie keine Christen sind – die Notwendigkeit einer europäischen Fremdherrschaft einsehen, den Deutschen in dieser Rolle den Vorzug geben und dem Helden Fritz Vogelsang vor dem Krieg und auch im Kriege tatkräftig helfen  ; zum anderen muss der Boxer-Aufstand zu noch einer angestrebten Fremdherrschaft umgedeutet werden, da die Boxer ja bei der Belagerung der Gesandtschaften in Peking mit dem Mandschuregime gemeinsame Sache gemacht haben. Letzteres ist ein starkes Stück, da die große Mehrheit der Boxer in Wirklichkeit aus verarmten chinesischen Bauern bestand16, aber mythische Diskurse erfüllen bekanntlich ihre Funktion dadurch, dass sie reale Widersprüche auf fiktionale Weise auflösen oder verschleiern. Waren jene fiktiven Chinesen, die die Vorteile einer wohlwollenden europäischen Fremdherrschaft wahrnehmen und sie herbeisehnen, für Paul Lindenbergs Mythisierung der blutigen Kämpfe im Jahre 1900 unerlässlich, so gibt es in Agnes Harders stark kont16 Joseph W. Esherick  : The Origins of the Boxer Uprising, Berkeley/Los Angeles 1987, S. 223ff.

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rastierender Version der gleichen Ereignisse überhaupt keine guten Chinesen. Im Gegenteil  : der Held von Wider den gelben Drachen, Heiner Oswalt, wird von seinem chinesischen Diener Afong verraten und ermordet. Sogar eine christliche Erziehung und ein längeres Zusammenleben mit Deutschen können nicht gegen die Unverbesserlichkeit des Chinesen aufkommen. Nachdem er kurz vor seinem Tode die Perfidie seines Dieners endlich durchschaut hat, versinkt Heiner in tiefer Resignation  : „Er mußte sich gestehen, daß er diesem Menschen, um dessen Seele er drei Jahre lang gerungen, heute noch ebenso fern stand, wie am ersten Tage ihres Zusammenlebens.“17 Agnes Harder muss daher ein anderes mythisches Modell für den Kampf um die belagerten Gesandtschaften entwerfen. Zu diesem Zweck rekurriert sie auf das mittelalterliche Nibelungen-Epos. Da ihr Protagonist das letzte Gefecht nicht überleben soll, dient diese literarische Reminiszenz nicht nur dazu, die Chinesen weiter zu enthumanisieren, sondern beschwört auch eine angemessene Untergangsstimmung herauf  : Indessen war der Kampf des deutschen Detachements beendigt. Wie die Nibelungen, die unter falschen Freundschaftsversicherungen an Etzels Hof geladen waren, eingeschlossen in der brennenden Halle kämpften gegen die Hunnen, […] so wollte man durch diesen Ausfall die fast unerträgliche Lage verbessern. Heiner dachte oft an den Vergleich. Die weiße Rasse gegen die gelbe  ! Was so gewaltig aus deutscher Sage herüberklingt durch die Jahrhunderte, was zum erstenmal, wenn der Knabe es vernimmt, sein Herz stolzer schlagen läßt in dem Bewußtsein einer höhern Gesittung, einer edlern Kultur, das zeigte sich hier wieder. Ja, sie waren eingeschlossen gleich den Nibelungen, und unmenschliche Feinde um sie herum. Aber wenn die Brände auch fehlten, was durch das Nibelungenlied klingt bis zum letzten Vers, das Lied von deutscher Treue, Herrentreue und Mannestreue, das tönte auch durch das Knattern der Geschütze am Ausfallthor, als mit aufgepflanztem Seitengewehr und Hurra  ! die Übermacht des Feindes zurückgeworfen wurde.18

In der notorischen Rede des Kaisers vom 27. Juli 1900 waren „die Hunnen unter König Etzel“ zwar in einem völlig anderen Lichte erschienen – nämlich als Vorbilder für die deutschen Streitkräfte in China19 –, aber Harder weicht entschieden von dieser in ganz Deutschland verbreiteten Variante des mythischen Diskurses ab. Wohl war für sie die potente Einfachheit der Losung „Die weiße Rasse gegen die gelbe  !“ unwiderstehlich, weil diese Formel mit so vielen weiteren Ausfällen gegen die Chinesen als solche in ihrem 17 Harder  : Wider den gelben Drachen, S. 503. 18 Harder  : Wider den gelben Drachen, S. 483. 19 Reden des Kaisers, S. 141  : „Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

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Roman genau korreliert. Die Reisen ihres Protagonisten durch China sind ausnahmslos Streifzüge durch Feindesland, und echte Hilfe von chinesischer Seite kommt nur selten und ist dann stets durch Geldgier motiviert. Das äußerst negative Chinabild Harders soll aber keineswegs als besonders radikale und bedauernswerte Abart des kolonialen Diskurses im Klima des Jahres 1900 verstanden werden. Folgendes Zitat aus der Kölnischen Zeitung, das am 18. August auch in der Berliner Morgenpost mit Zustimmung abgedruckt wurde, wiederholt allem Anschein nach die damalige Einstellung zu China einer breiten Bevölkerungsschicht – und könnte auch ohne weiteres die Überzeugung einer jeden deutschen Figur im Roman Harders vertreten  : Man mag im aufgeklärten Europa über die Berechtigung der Abschreckungstheorie gelehrt streiten  : wilden Völkern gegenüber ist sie die einzige, die unmittelbare Wirkung verspricht, und nur nachdem man sie zuerst angewandt hat, wird man daran denken können, die milde und belehrende Sprache der Civilisation zu reden.

Denn Harders Repräsentationstechnik lässt über die mehr als 500 Seiten von Wider den gelben Drachen aus dem Verfall dieser „ältesten Kultur“ effektiv ein „wildes Volk“ entstehen, das einzig durch Waffengewalt im Zaum zu halten ist. Es ist für Harders patriotische Voreingenommenheit dann kennzeichnend, dass das Ende ihres Romans – im schroffen Gegensatz zu den Berichten in allen deutschen Zeitungen – das Treiben der siegreichen alliierten Truppen in der Verbotenen Stadt unmittelbar nach der Entsetzung der Gesandtschaften schlichtweg vertuscht  : Und die Truppen des Heeres, das die Civilisation geschickt hatte, unterbrachen diese Ruhe nicht. Sie stürmten keine Tempel und legten keine Brandfackel an die Paläste. Dann schlossen sie die Tore und stellten Wachen davor. […] Dr. Reinhard, der gleich am Tage des Einzuges Mr. Smith um die Hand seiner Schwester gebeten und sie mit Freuden zugesagt erhalten hatte, sagte, auf die graue Schlange deutend, die im gleichmäßigem Tritt die Purpurstadt verließ  : „Im Namen einer höhern Gesittung  !“20

Da bekanntlich keine deutschen Truppen an der Befreiung der Legationen am 14. August beteiligt waren, weil das deutsche Kontingent die Strapazen des Marsches am Peiho-Fluss entlang nicht ausgehalten hatte und auf halbem Wege umkehren musste, hatte die ganze Presse in Deutschland keinerlei Hemmungen, über die Plünderungen – auch in der Verbotenen Stadt – ausführlich zu berichten, die von russischen, amerikanischen, japanischen und britischen Soldaten unmittelbar nach dem Einmarsch in Peking begangen wurden. Als die Siegsparade der Alliierten, an der einige erheblich später eingetroffene deutsche Truppen auch teilnehmen konnten, am 28. August abgehalten wurde, war die Innenstadt 20 Harder  : Wider den gelben Drachen, S. 531.

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Pekings längst verwüstet, und die kaiserlichen Paläste enthielten keine Schätze oder auch nur tragbare Möbel mehr. Die Autorin wusste sehr wohl, was die deutsche Presse über Raub und Vergewaltigung im Zuge der Befreiung am 14. August berichtet hatte, aber die Schranken ihrer Repräsentationstechnik ließen nicht zu, dass das friedliche Schlusstableau ihres Romans durch eine Kenntnisnahme der alliierten Plündereien verunstaltet werden sollte. So wie die Erfordernisse von Lindenbergs mythischem Diskurs die Boxer förmlich zu fremden Invasoren werden ließen, so vertrug sich eine Opferrolle für Mitglieder der ‚gelben Rasse‘ keinesfalls mit Harders ideologischem Schema. Wichtig ist hier nicht, dass in beiden Fällen die Fiktion allgemein Bekanntes einfach auf den Kopf stellt, sondern dass die innere Dynamik des jeweiligen mythischen Diskurses so stark war, dass sie unliebsame Tatsachen schlicht aus dem Weg räumte. Was lässt sich abschließend aus dem hier abgesteckten Feld für das Thema dieses Bandes gewinnen  ? Zunächst einmal, dass es müßig wäre, nach den Quellen von Autoren wie Otto Felsing, Eugen von Enzberg oder Agnes Harder zu forschen. Um 1900 war China für eine deutsche Leserschaft keineswegs als terra incognita zu bezeichnen  : Es gab seit dem 18. Jahrhundert zahlreiche ins Deutsche übersetzte Reiseberichte, und die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking, Baron von Ketteler, im Juni 1900, sorgte für so viel Aufregung, dass alles was über China je geschrieben worden war oder schnell geschrieben werden konnte, sogleich vermarktet wurde. Der monumentale Band, den der Verleger Kürschner eilig zusammenstellte, ist der eindrucksvollste Beleg dafür.21 Diese schlagartig gesteigerte Nachfrage erklärt außerdem, warum ein Roman von Eugen von Enzberg, der 1900 mit dem Titel Tim der Abtrünnige in Berlin erschienen war, im folgenden Jahr ein zweites Mal aber mit dem Titel Krieg in China in einem anderen Berliner Verlag mit einem bis ins letzte Detail identischem Text veröffentlicht wurde  : Die China-Mode hatte in wenigen Monaten eine solche Konjunktur, dass man den einen Roman ein zweites Mal und zwar unter falscher Flagge verkaufen konnte.22 Wichtiger ist jedoch, dass keine bereits erschienene Quelle für diese Autoren als verpflichtend galt. Ihre Vorlagen wurden den jeweiligen ideologischen Erfordernissen angepasst. Im Falle Paul Lindenbergs scheint zumindest sein erster Roman auf einer eigenen China-Reise zu basieren, weil er offensichtlich mit Baron von Heyking, dem Vorgänger des in Peking ermordeten Gesandten von Ketteler, befreundet war und die ‚Authentizität‘ seiner Texte durch Fotografien aus adeligen Kreisen zu erhöhen suchte. Seine Erfahrungen 21 Joseph Kürschner (Hg.)  : China. Schilderungen aus Leben und Geschichte. Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik, Berlin 1901. Die drei Hauptteile dieses Bandes, „Land und Leute“, „Die Wirren“ und „Erzählendes und Anderes von und aus China“ umfassen insgesamt 1463 Seiten. Zu den literarischen Beiträgen im dritten Teil des Bandes vgl. Yixu Lü  : German Colonial Fiction on China  : the Boxer Uprising of 1900, in  : German Life and Letters 59, 1, 2006, S. 78–100, hier 88ff. 22 Eugen von Enzberg  : Tim der Abtrünnige, Meidinger’s Jugendschriften Verlag G.m.b.H., Berlin 1900  ; Eugen von Enzberg  : Krieg in China. Land und Leute in China und die Expedition der vereinigten Mächte 1900/1901, Globus Verlag, Berlin 1901.

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aus erster Hand tun jedoch nichts, wie wir gesehen haben, um seine China-Fantasien in erkennbare Wirklichkeitsnähe zu rücken. Als “seeing man” nimmt er eben das wahr, worauf er im Voraus gefasst ist. Anders gesagt  : er folgt dem Diktat des von ihm selbst angebahnten mythischen Diskurses. Wo der Stoff für die China-Reisen der jungen Protagonisten einzig aus anderen Büchern stammt, wie im Falle Otto Felsings und Agnes Harders, dort werden die China-Bilder – ja, sogar die Landschaftsbeschreibungen – ideologisch verzerrt. In Wider den gelben Drachen erlebt der junge deutsche Protagonist die Chinesenstadt in Peking zum ersten Mal und wird maßlos enttäuscht  : Ach, Heiner sollte es noch lernen, daß Mauern und Thore die einzigen Bauwerke sind, die man in China bewundern kann  ! Eine Wüste hinter dem Thor, Sümpfe, Einöden, hin und wieder vielleicht ein schmutziges Chinesenhäuschen. Endlich, nach langem Umherreiten, ein Geräusch von Gässchen, schmutziger und erbärmlicher als in Kalgan, mit demselben Gewirr, demselben Gestank. Keine prächtigen Pagoden, keine Paläste und öffentlichen Bauten – eine Kaiserstadt, die eigentlich nichts anderes war als ein großer Misthaufen  !23

Vergleicht man Harders desolate Vision Pekings mit neutraleren Reiseberichten aus derselben Epoche, so macht ihre Evokation des Verfalls einen geradezu surrealistischen Eindruck. Kein Reisender in dieser Zeit findet die Stadt wohlriechend, und von Staub aus der GobiWüste und Schmutz auf den Straßen ist immer wieder die Rede, aber Harders Übertreibungen beschwören eine Stadt herauf, die es auch damals so nicht gab. Warum  ? Weil eine jede Stadt- oder Landschaftsbeschreibung in ihrem Roman folgendem Prinzip unterliegt, das sie wiederholt und apodiktisch proklamiert  : „In China ist alles und jedes reif zum Verfall, alles hält aber äußerlich noch zusammen durch den Kitt der Jahrtausende. Ein Zusammensturz hier würde alles mitreißen. Man fängt also gar nicht mit Verbesserungen an.“24 Welches literarische Interesse haben denn Reisen durch ein solches China  ? Diese Romane sind literarische Mischformen, die viele Elemente dem deutschen Bildungsroman entlehnt haben. Wie Ortrud Gutjahr bemerkt, dient die Reise in dieser Gattung „als Weg der Selbstfindung und zugleich sozialer Integration […] zur Begegnung mit bisher unbekannten soziokulturellen Kontexten“.25 Mit einigen Vorbehalten und Modifizierungen gilt dieses Prinzip für die große Mehrheit der China-Romane, die hier zur Diskussion stehen. Es gibt selbstredend keine Integration in die Welt der Chinesen, sondern das Ziel bleibt die deutsche Ursprungsgesellschaft, von der der junge Protagonist entweder durch eigenes Verschulden entfremdet oder zumindest durch Missgeschick getrennt ist. So fängt Fritz Vogelsang als Schiffsjunge an, der an der Küste Shandongs Schiffbruch erleidet, auf dem Weg zum deutschen Konsulat in Tienjin ausgeraubt und dann von einem 23 Harder  : Wider den gelben Drachen, S. 30. 24 Ebd., S. 74. 25 Ortrud Gutjahr  : Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007, S. 8.

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korrupten Mandarin ins Gefängnis gesteckt wird. Nachdem es ihm gelungen ist zu entkommen, führt seine Bildungsreise durch ganz China. Er verbringt einen längeren Aufenthalt bei einem deutschen Ehepaar in einem Peking, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem „großen Misthaufen“ in Harders Wider den gelben Drachen aufweist. Von dort gelangt er nach vielen Abenteuern und mit Hilfe eines ihm treu ergebenen chinesischen Jungen nach der neu gegründeten deutschen Kolonie Qingdao, die er als ein Stück Heimat empfindet, weil dort „straffe Ordnung und auffallende Sauberkeit“ herrschen.26 Im zweiten Roman ist er Marinesoldat in Qingdao geworden, wird vom Gefühl getragen, dass er in Uniform „ein Stück vollen Deutschtums verkörpere“27, unternimmt in Begleitung eines noch treuen chinesischen Begleiters, der für alles Europäische schwärmt, einen gefährlichen Alleingang durch das Kriegsgebiet zwischen Tienjin und Peking, um die Diplomaten von ihrer bevorstehenden Befreiung zu informieren, wird unterwegs schwer verwundet, aber – einmal am Ziel angelangt – zum Leutnant befördert. Im Verlaufe der beiden Romane macht er eine unverkennbare Entwicklung durch, denn am Anfang ist er der eher passive Zuschauer, handlungsunfähig, ein leichtes Opfer für die gewieften Chinesen. Unterwegs vergewissert er sich seiner deutschen Identität, sammelt Erfahrungen, die ihm die erforderliche Reife verleihen, die ‚guten‘ Chinesen aus der großen Masse heraus zu erkennen und diesen zu vertrauen – auch mit den ‚schlechten‘ auf faire aber wirksame Weise fertig zu werden. Was man bei alledem vermisst – um nochmals mit Ortrud Gutjahr zu reden –, ist genau „die Fähigkeit, das eigene Gewordensein und damit gerade Erziehung und Entwicklung kritisch zu hinterfragen“.28 Denn in allen diesen Romanen hat die Bildung ein vorgegebenes Ziel, nämlich die Reifung zu einem disziplinierten, selbstbewussten deutschen Mann. Reisen durch China sind für diesen Prozess nur insofern von Belang, als sie dem Protagonisten etappenweise ermöglichen, sich seiner deutschen Identität zu vergewissern, und diese ist nicht hinterfragbar. Denn einem persönlichen Mangel des jungen Protagonisten ist stets durch gutes Zureden im patriotischen Sinn abzuhelfen, und die vielen und oft auch handgreiflichen Konflikte mit feindlichen Chinesen geben niemals Anlass zu einer kritischen Besinnung auf das koloniale Unternehmen selbst. Im Gegenteil  : darin liegt die einzig mögliche Rettung für das verlotterte chinesische Volk, und es bedarf keiner weiteren Legitimation. Ja, man darf den Schluss ziehen  : Hier werden Bollwerke gegen sozialdemokratische Nörgeleien errichtet. Ein wesentlicher Aspekt des Bildungsromans im weitesten Sinne ist bekanntlich auch die Bildung des Lesers, und im Falle dieser Romane kann es keinen Zweifel daran geben, welches das Zielpublikum war  : Die in diesen Jahren stürmisch gefeierte „Weltpolitik“ 26 Paul Lindenberg  : Fritz Vogelsang. Abenteuer eines deutschen Schiffsjungen in Kiautschou, Berlin 1899, S. 275. 27 Paul Lindenberg  : Fritz Vogelsangs Kriegsabenteuer in China 1900, Berlin 1901, S. 174f. 28 Gutjahr  : Bildungsroman, S 13.

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Wilhelms II. erforderte eine unbegrenzte Zahl an Nachwuchskräften für den Kolonialdienst, für das Militär und für kommerzielle Unternehmen in Übersee. Die Prüfungen, denen sich die Protagonisten unterziehen müssen, qualifizieren sie und damit auch implizit den jugendlichen Leser für solche künftigen Rollen. Die Autoren schreiben daher nicht nur für Geld, sondern auch gleichsam im Dienste des Vaterlandes. Natürlich gibt es hier keine weiblichen Protagonisten. Eine kecke junge Berlinerin mag in den frühen Kapiteln von Gert Janssens China-Fahrten als Haushälterin ihres Bruders auftreten, aber sie verschwindet bald aus der Handlung und wird allem Anschein nach von dem Helden schlicht vergessen. Die einzige Ausnahme bildet in Paul Lindenbergs erstem Roman eine chinesische Christin, die Fritz Vogelsang im Gefängnis kennen lernt. Da das Mädchen des Deutschen mächtig und auch noch sterbenskrank ist, kann sich bis zu ihrem Tod ein zärtliches, wenn auch völlig keusches Verhältnis zwischen den beiden entspinnen. Dabei aber ist zu bedenken, dass der von Lindenberg erfundene mythische Diskurs aus den oben skizzierten Gründen unbedingt ‚gute‘ Chinesen benötigt. Für Agnes Harder sind solche ‚guten‘ Chinesen völlig entbehrlich – ja, es kann sie in ihrer Welt überhaupt nicht geben. Der tragische Fehler, den Harders Protagonist Heiner Oswalt begeht, besteht darin, seinem Diener Afong noch immer zu vertrauen, nachdem seine Braut Erika und seine männlichen Freunde dessen Falschheit längst durchschaut haben. In Gert Janssens China-Fahrten sind die einzigen vertrauenswürdigen Chinesen zwei christlich erzogene Jünglinge, die Gert bis zum Ende des Romans Beistand leisten. Wer von den anderen Chinesen in diesem Riesenroman kein Schuft, fanatischer Boxer oder gemeiner Verbrecher ist, zeigt sich einzig aus Selbstinteresse den Deutschen gegenüber als entgegenkommend. Fragt man zuletzt, warum die Reisen durch China in dieser rasch aufblühenden Mischgattung des Jugend- und Reiseromans immer wieder zur Schule der Fremdenfeindlichkeit werden, so ist meines Erachtens zweierlei in Rechnung zu stellen  : Zum einen darf man nicht aus den Augen verlieren, dass mit Ausnahme nur des ersten Romans von Paul Lindenberg alle diese Bücher nach der Ermordung Baron von Kettelers, der ‚Hunnenrede‘ des Kaisers, der Befreiung der Legationen und der Flucht des chinesischen Hofs aus Peking verfasst wurden. Wilhelm II. hat den Tod seines Gesandten als persönlichen Affront hingenommen  : „Die deutsche Fahne ist beleidigt und dem deutschen Reiche Hohn gesprochen worden“.29 Bereits vor der ‚Hunnenrede‘ am 27. Juli gerät seine Rhetorik außer Rand und Band, wie etwa in diesem Abschiedswort an Truppen an Bord des „Kurfürst Friedrich Wilhelm“ am 6. Juli in Kiel  : „Ich werde nicht ruhen, bis China niedergeworfen ist, und alle Bluttaten gerächt sind.“30 Zweifellos sprach der Kaiser einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus der Seele. Der Ton der meisten Presseberichte über China in diesen Monaten bestätigt dies und verzeichnet zugleich den Erwartungshorizont der 29 Reden des Kaisers, S. 87. 30 Ebd., S. 90.

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meisten deutschen Leser. Die Marktnische, die diese Bücher ausfüllten, verlangte daher kein nuancierteres Bild des chinesischen Volks, sondern einzig das Stereotyp eines verachteten Feindes. Zum anderen sollte kein Zweifel an der moralischen Berechtigung des Kolonisierens aufkommen dürfen. Dazu war es zweckmäßig, die überwiegende Mehrheit der Chinesen als heimtückische Fremdenhasser darzustellen, um den Hass auf deutscher Seite als völlig angemessen hinzustellen. Gert Janssens China-Fahrten liefert als einzige Ausnahme das interessante Beispiel einer potentiellen Ambivalenz im kolonialen Diskurs. Dem gängigen Muster entsprechend ist der junge deutsche Matrose anfangs „voll des glühendsten Hasses gegen die Chinesen wegen des Mordes an seinem Vater und der Wegnahme des ‚Albatros‘“, eines Schiffs, das Gerts ganzen Familienbesitz darstellte.31 Auf seinen Reisen durch China macht Gert dann die Erfahrung, dass einige wenige Chinesen vertrauens­ würdig sein können, weil sie überzeugte Christen sind. Gegen Ende seiner Reisen begeht der junge Held selber einen Diebstahl, damit er von Nordchina nach Tianjin gelangen kann, und die Tat bringt ihn auf folgende Gedanken  : Daß sie das Boot, die darin stehenden Kisten mit Kleidern und einer Unmenge Götzenkerzen stahlen, das machte ihnen wenig Skrupel. Not kennt kein Gebot  ! Mußten so viele Tausende Christen in dieser Zeit unschuldig Hab, Gut und Leben verlieren, so konnte schon einmal ein heidnischer Chinese zu Gunsten flüchtiger Christen sein Eigentum hergeben  ! Die Sünde würde ihnen gewiß nicht schwer angerechnet werden  !32

Auf einmal gerät der koloniale Diskurs unversehens auf sehr dünnes Eis. Das Boot mit seiner Ladung stellt wohl den ganzen Lebensunterhalt einer „heidnischen“ Familie dar, und dennoch appelliert der Text an eine ‚höhere Notwendigkeit‘, die Gert Janssens „Sünde“ verzeihlich macht. Der Bootsbesitzer, wer er auch immer sein mag, soll durch seinen Verlust in bescheidenem Ausmaß für die Misshandlungen büßen, die „so viele Tausende Christen“ ertragen mussten. Hier kommt Gerts Reflexion in bedenkliche Nähe zum heutigen Begriff des collateral damage. Er scheint auch vergessen zu haben, dass sich ein guter Teil seines eigenen Hasses auf die Chinesen als solche auf den Raub seines Familienbesitzes gründet. Da jedoch die ganze Legitimation des Kolonisierens auf dem Prinzip beruht, das die „Kulturvölker“ ganze Länder ohne Entschädigung annektieren dürfen, solange deren Bewohner Heiden sind oder zumindest Christen anfeinden, ist es ratsamer, solche Gedanken überhaupt nicht aufkommen zu lassen, sonst könnte eine ausführliche Apologie des Kolonialismus als dringend erforderlich empfunden werden. So kommt ein Passus wie dieser so gut wie niemals in den um 1900 verfassten China-Romanen vor. Solange das chinesische Volk als moralisch verdorben, abergläubisch, geldgierig, heimtückisch und vor 31 Felsing  : Gert Janssens China-Fahrten, S. 23. 32 Ebd., S. 421.

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allem auf schnödeste Weise fremdenfeindlich hingestellt wird, sind alle Zweifel an der Legitimität des Kolonisierens von vornherein ausgeräumt. So wird die Fremdenfeindlichkeit auf deutscher Seite zur wesentlichen Botschaft dieser Romane, weil es sich um ein spiegelbildliches – wenn schon weitgehend imaginäres – Verhältnis handelt.

Ortrud Gutjahr

„TAHITI  !“ – Wiederholte Entdeckungen Narrative der Annäherung in Reiseberichten und im Film

TAHITI  ! schrie der Klempner zum zweiten Mal, kurz bevor das Fährschiff anlegte. Die Namen der anderen Inseln hatte er längst vergessen, er wartete nur noch darauf, daß Canossa und Nobell ihm unter die Arme griffen und ihn an einem hellen Vormittag in der Südsee von Bord trugen. Ich sah lange ihren schwankenden Umrissen nach und wartete, bis alle Fahrgäste das Schiff verlassen hatten. An Land machte ich mich auf die Suche nach einem Kanu, aber weil ich eine erbärmliche Schwimmerin bin, entschied ich mich für ein Fahrrad und umkreiste dreimal den erloschenen Vulkan, bis ich schließlich vollkommen erschöpft vom Duft der Blumen, der Vanille, dem unmöglichen Blau des Wassers und dem empörenden Weiß der Strände mitten auf der Straße neben einer kleinen Kirche ohne Turm vom Rad kippte.1

„TAHITI“ ist ein evokativer Name, der in Majuskeln und mit Ausrufezeichen geschrieben Aufmerksamkeit erheischt, wie dies in Felicitas Hoppes 1999 erschienenem Roman Pigafetta druckgraphisch deutlich wird. Der Name bezeichnet nicht nur eine Insel im Südpazifik, sondern einen seit den Entdeckungsberichten des späten 18. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive zum Paradies verklärten Sehnsuchtsort. Die Insel, die im Zuge der Entdeckungsfahrten jener Epoche so unerwartet und doch herbeigewünscht am Horizont auftauchte, steht paradigmatisch für den eskapistischen Traum von einem anderen Leben, der den zivilisatorischen Umbruch im Aufklärungszeitalter konterkarierend flankiert. Die Strahlkraft dieser Inselvorstellung, die mit tahitianischen Frauen vor farbenprächtig exotischer Landschaft konnotiert ist, reicht bis in die Bildwelten hinein, die von Malern wie Paul Gauguin und Henri Matisse oder Regisseuren wie Frank Lloyd, Lewis Milestone und Roger Donaldson in ihren Filmen über die legendäre Meuterei auf der Bounty entworfen wurden. Ruft der Name ‚Tahiti‘ also unweigerlich einen Vorstellungskomplex auf, der gleich einem Mythenkern in Reiseberichten, Erzähltexten und Filmen immer wieder bearbeitet wurde, so wird die Fortschreibung dieser mehr als zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte in Hoppes Roman verweigert. Die namenlose Ich-Erzählerin, die als zahlende Mitreisende auf einem Containerschiff in knapp vier Monaten die Welt umrundet, weiß von diesem exotisch fernen, mit Wunschprojektionen überwucherten Ort erdenklich wenig zu berichten. Sie enthält sich der Beschreibung pit1 Felicitas Hoppe  : Pigafetta, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 77.

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toresker Landschaft oder lustvoller Erlebnisse mit den Inselbewohnern und begnügt sich mit der lapidaren Bemerkung, beim Besuch der Insel einen „erloschenen Vulkan“2 umrundet zu haben. Dass Tahiti in Vorzeiten ein Ort war, an dem nicht nur heiße Lava die geologische Formation, sondern Jahrhunderte später auch die glühende Begeisterung der Europäer das soziokulturelle Gepräge entscheidend veränderte, wird mit diesem Schreibgestus bereits vorausgesetzt. Von der Kenntnis der Entdeckungsgeschichte über Tahiti geht auch Dirk C. Fleck in seinem 2007 erschienenen und 2009 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichneten Zukunftsroman Das Tahiti Projekt aus, in dem der engagierte Journalist Maximilian Cording anlässlich einer Pressekonferenz auf Tahiti im Jahre 2022 auf Omai, den jungen Präsidenten des von Frankreich mittlerweile unabhängigen Inselstaates, trifft.3 Cording, der sich mit den Spuren der Entdecker auseinandersetzt, wird deutlich, dass das mit EU-Geldern geförderte ‚Tahiti Projekt‘ nicht nur für ein ökologisch verträgliches Überleben der paradiesischen Südseeinsel, sondern für die Hoffnung auf Erschließung neuer Energien und das Überleben der Menschheit steht. Die Romane von Hoppe und Fleck markieren auf paradigmatische Weise die beiden Pole, zwischen denen zahlreiche zeitgenössische Texte zu Tahiti thematisch aufgespannt sind. Sowohl in der Begeisterung für alte Reiseberichte, die mit der emphatischen Vorstellung ­„TA HITI  !“ bereits ohne explorative Ausschmückung verbunden ist, wie auch in der zukunftsorientierten Sehnsucht nach ökologischer Befriedung der Welt wird unweigerlich darauf verwiesen, dass diese Südseeinsel in der europäischen Geschichte der Entdeckung und Eroberung fremder Weltgegenden durch ihre projektiven Aufladungen eine Sonderstellung einnimmt. Tahiti wurde zur ‚Insel der wiederholten Entdeckung‘, zu einem Mythos, der bei allen Adaptionen und medialen Transformationen an die Inszenierung von Erstmaligkeit und Annäherung gebunden bleibt. Späte Entdeckung Tahiti ist eine von Europa aus entlegene und auf dem Seeweg nur schwer erreichbare südpazifische Insel, die nie auf der Agenda der zu erobernden Weltgegenden stand und deshalb auch erst spät entdeckt wurde. So ist das erste Entdeckungszeitalter durch die Suche nach dem westlichen Seeweg gen Indien bestimmt, das zweite durch die nach dem sagenumwobenen Südkontinent Terra Australis Incognita. Statt der gesuchten Landmasse wurden zahlreiche Archipele im Südpazifik gefunden, die erst um 200 v. Chr. von Bevölkerungsgruppen aus Südostasien und/oder Amerika besiedelt worden waren. Nur weil

2 Ebd. 3 Dirk C. Fleck  : Das Tahiti Projekt, München/Zürich 2007.

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Tahiti so spät und im Rahmen aufklärerischer Welterkundungen entdeckt wurde4, konnte diese Insel zusätzlich zur ‚Neuen Welt‘, die schon bald mit der Vorstellung von einem pionierhaften Leben in Freiheit verbunden wurde, auf der Weltkarte europäischer Fluchtorte eingetragen werden. Obgleich als erste Entdecker Tahitis Südseeinsulaner gelten können, welche vermutlich von Tonga und Samoa aus die Insel besiedelt hatten, waren es die rund zwei Jahrtausende später anlandenden Europäer, die in ihren Heimatländern als Pioniere gefeiert wurden und deren Namen bis heute mit der Insel verknüpft sind.5 Denn die Entdeckung Tahitis ist in die Konkurrenz um die Eroberung fremder Weltgegenden zwischen den europäischen Seefahrernationen eingelassen.6 Nachdem der Portugiese Pedro Fernández de Quirós bereits am 10. Februar 1606 eine von ihm Sagittaria genannte Insel gesichtet hatte, von der gemutmaßt wird, dass es Tahiti gewesen sein könnte, gilt der englische Kapitän Samuel Wallis offiziell als erster Europäer, der während seiner Expeditionsreise (1766–1786) mit der Dolphin7 am 19. Juni 17678 die von ihm King George Island genannte Insel betrat und sie am 26. Juli wieder verließ9, nachdem er sich mehr als einen Monat lang mit deren Bewohnern vertraut gemacht hatte. Knapp ein Jahr später ankerte am 6. April 1768 der französische Kapitän und Naturforscher Louis Antoine de Bougainville bei seiner Weltumsegelung (1766–1769) mit den Schiffen La Boudeuse und L’Étoile vor Tahiti, um seiner Mannschaft die Möglichkeit zur Erholung und sich selbst Gelegenheit zu neuntägiger Inselerkundung zu verschaffen. Wieder ein Jahr später, am 13. April 1769, legte der englische Kapitän James Cook auf seiner ersten Entdeckungsfahrt (1768–1771) mit seinem Schiff Endeavour in der Matavaibucht an, wo er eine Sternwarte errichtete, um den Transit der Venus zu beobachten. Er kehrte während seiner zweiten Weltumsegelungsreise (1772– 1775) mit den Schiffen Resolution und Adventure vom 15. August bis 1. September 1773 in die Ankergründe Tahitis zurück und suchte „auf dem schnellsten Wege nach Otaheite zu gelangen“, um für die an Skorbut erkrankten Mitglieder der Mannschaft „Heilmittel […] 4 Die ersten Weltumsegler Ferdinand Magellan (1519–1522) und Sir Francis Drake (1577–1580) wählten Seewege, die nicht an den polynesischen Inseln vorbeiführten. 5 Die prekäre Perspektive der Entdeckung formulierte schon Lichtenberg  : „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Georg Christoph Lichtenberg  : Schriften und Briefe, Bd. 2  : Sudelbücher II – Materialhefte, Tagebücher, hg. von Wolfgang Promies, München/Wien 1971, Heft G (183), S. 166. 6 Vgl. hierzu  : Rod Edmond  : Representing the South Pacific. Colonial Discourse from Cook to Gauguin, Cambridge 1997. 7 Das Flaggschiff Dolphin war von 1764–1766 bereits unter John Byron auf einer Südseeexpedition. Die zweite Expedition unter Samuel Wallis wurde von der HMS Swallow unter Philipp Carteret begleitet. 8 Gefunden wurde die Insel bereits am 18. Juni 1767. 9 Nachdem zuvor schon Alvaro Mendana (1567–68), Pedro Fernández de Quirós (1605-06), Louis Vallesz de Torres (1606), Willem Jansz (1606), Abel Janszoon Tasman (1642–43 u. 1644), William Dampier (1699– 1701) und John Byron (1764–66) nach Terra Australis geforscht hatten, erhielt dann Samuel Wallis den Auftrag, mit der Dolphin den Südkontinent zu suchen.

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zu finden“.10 Auch während seiner dritten Weltumsegelung (1776–1779) hielt sich Cook nochmals zu Erholungszwecken vom 12. August bis 29. September 1777 auf der Insel auf. Ohne Zweifel war Tahiti für die europäischen Schiffe dank seines milden Klimas und seines Reichtums an Früchten nach den strapaziösen und entbehrungsreichen Fahrten durch stürmische Gewässer ein idealer Ankerplatz, um frische Nahrungsmittel und Trinkwasser an Bord zu nehmen. Überdies stellte das abgeschiedene Fleckchen Erde für die mitreisenden Naturwissenschaftler ein ‚Eldorado‘ dar. Für die populär gewordene Botanik hielt die Insel, die nie mit einer kontinentalen Masse verbunden war und durch dichte tropische Vegetation gekennzeichnet ist, sowohl einen hohen Anteil bedeutender Kulturpflanzen, wie die Brotfrucht, die Kokospalme und die Tahitikastanie bereit, als auch Blütenpflanzen, wie Hibiskus, Jasmin und Bougainvillea. Für die Geologie waren die beiden erloschenen Vulkane der durch tiefe Täler, schroffe Felsen und Wasserfälle geprägten Insel von Interesse. Aber weder aufgrund der heimgebrachten naturkundlichen und ethnologischen Fundstücke noch durch die den Tagesablauf resümierenden Logbücher mit ihren Aufzählungen von beobachteten Besonderheiten wurde Tahiti zum Gesprächsstoff in Europa, sondern durch die Reiseberichte, in denen diese – im Vergleich zum gesuchten Südkontinent – kleine Insel zu der Entdeckung schlechthin erhoben wurde. Denn in den mit aufklärerischem Impetus verfassten Aufzeichnungen über fremde Weltgegenden nehmen die Beschreibungen Tahitis schon allein deswegen eine besondere Stellung ein, weil sie in einem schwärmerischen Gestus verfasst sind. Nach Schilderungen von Strapazen und Entbehrungen auf hoher See und befremdlichen, wenn nicht gar gefährlichen oder lebensbedrohlichen Begegnungen mit der indigenen Bevölkerung in anderen Weltgegenden, wird die Landung an der Küste von Tahiti einhellig als herausgehobener Augenblick beschrieben. Dabei wird der Blick auf die Insel vom Schiff aus als überwältigender Moment gefasst. Auf den ersten Blick Alle Reiseberichte aus der ersten Dekade des zweiten Entdeckungszeitalters stimmen darin überein, dass Tahiti eine der schönsten Inseln des Südpazifiks sei.11 Mit ihren zwei unterschiedlich großen, durch eine schmale Landbrücke miteinander verbundenen kegelförmigen Massiven, die sich bis zu einer Höhe von zweitausend Metern über dem Meeresspiegel erheben und schroff abfallen oder in bewaldete Hügel auslaufen, bot die Insel den heransegelnden Schiffen schon von weitem einen imposanten Anblick, welcher der im 18. 10 James Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific. Die Logbücher der Reisen von 1768 bis 1779, hg. von Grenfell Price, übers. von Reinhard Wagner und Bernhard Willms, Stuttgart u.a. 1983, S. 220. 11 Vgl. hierzu auch  : John Hawkesworth  : Ausführliche und glaubwürdige Geschichte der neuesten Reisen um die Welt, übers. von Johann Friedrich Schiller, Berlin 1775.

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Jahrhundert favorisierten Vorstellung von erhabener Landschaft entgegenkam. Bereits in dem von George Robertson verfassten Bericht über Kapitän Wallis’ Entdeckung Tahitis wird angegeben, dass der Schiffsbesatzung die Insel beim ersten Anblick so groß erschien, dass sie glaubte, den sagenumwobenen Südkontinent Terra Australis Incognita entdeckt zu haben. Robertson rühmt die landschaftliche Schönheit Tahitis, nachdem sich der Nebel lichtet und der Blick auf die Küste möglich wird  : “the country hade the most Beautiful appearance its posable to Imagin”.12 Auch Bougainville, der die erste französische, vornehmlich wissenschaftlichen Zielsetzungen dienende Weltumsegelung leitete13, hat in seinem Reisebericht eingehend die freudige Stimmung auf dem Schiff beschrieben, als nach dreimonatiger Fahrt durch den Südpazifik die Umrisse der Insel am Horizont sichtbar werden, und dabei auch die Begeisterung über die Landschaft ausführlich zum Thema gemacht.14 Der viel rezipierte Bericht, der bereits ein Vokabular der Sprache von Tahiti enthält, folgt zwar teilweise der Struktur des Bordtagebuchs, doch greift er auch literarische Muster auf, wenn die unbeschreibliche Besonderheit des Geschauten gestaltet werden soll, wie dies beim Blick auf die Insel während der Suche nach einem geeigneten Ankerplatz der Fall ist. Bougainville betont den ästhetischen Genuss beim Betrachten der Landschaft, die sich gleich dem Schauspiel eines antiken Theaters darbietet  : Der Anblick der Küste, die sich wie ein Amphitheater erhebt, bot uns ein reizendes Schauspiel. Ob die Berge gleich sehr hoch sind, entdeckt man doch nirgends nackte Felsen, sondern alles ist mit Bäumen bedeckt. Wir trauten kaum unseren Augen, als wir mitten im südlichen Teil der Insel eine sehr hohe, freistehende Bergspitze erblickten, die bis oben hinauf mit Bäumen besetzt war und unter den anderen Bergen hervorragte.15

Nach dem Arkadien-Topos der klassizistischen Kunstdebatte promoviert Bougainville Tahiti zum Ort des idealen Schönen wie auch zugleich zum locus amoenus, an dem ein Leben jenseits zivilisatorischer Einschränkungen möglich ist.16 Die abgelegene Insel wird mit der 12 George Robertson  : The discovery of Tahiti. A journal of the second voyage of H.M.S. Dolphin round the world under the command of Captain Wallis, R. N., in the years 1766, 1767 and 1768, London 1948, S. 139. 13 Vgl. hierzu  : Karl-Heinz Kohl  : Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt/M. 1986, S. 203–205  ; Douglas Llewellyn Oliver  : Bougainville. A personal history, Honolulu 1973  ; Wolf Lepenies  : Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. Linné – Buffon – Winckelmann – Georg Forster – Erasmus – Darwin, München 1998. 14 Der 1771 in zwei Bänden erschienene Reisebericht Voyage autour du monde par le frégate du roi la Bourdeuse et la flûte L’Étoile wurde auf Deutsch unter dem Titel Weltumsegelung der königlichen Fregatte La Boudeuse und des Begleitschiffs L’Étoile in den Jahren 1766 bis 1769 im Jahre 1783 publiziert. 15 Louis-Antoine de Bougainville  : Reise um die Welt welche mit der Fregatte La Boudeuse und dem Fleutschiff L’Etoile in den Jahren 1766, 1767, 1768 und 1769 gemacht worden, hg. von Klaus-Georg Popp, Berlin [West] 1985, S. 179. 16 Vgl. hierzu z. B. Kohl  : Entzauberter Blick, S. 208.

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Idee verbunden, dass ihre Bewohner hier wie in einem friedlichen Zustand der menschlichen Frühgeschichte im Einklang mit der Natur gemäß ihren angeborenen Bedürfnissen leben können, weshalb sich Bougainville an die „elysäischen Felder“17 erinnert und „in den Garten Eden versetzt“18 wähnt. Für die überwältigende Wirkung seines Reiseberichts ist entscheidend, dass er sich als tief ergriffener, durch die paradiesische Gartenlandschaft verwandelter Betrachter positioniert, der in eine völlig unbekannte Welterfahrung hineingeführt wird, von der bisher angenommen wurde, dass sie nicht oder nicht mehr möglich sei. Erst durch dieses Schreiben, das dem Erstaunen und der Verzückung über das Geschaute vielfach Ausdruck verleiht, konnte Bougainville den Topos vom „Garten Eden“ so wirkungsmächtig für Tahiti begründen. Demgegenüber nehmen sich James Cooks Beschreibungen der Insel in seinem Bericht über die erste Weltumsegelung pragmatisch nüchtern aus. Er verortet, wie schon Bougainville19, seine Expedition innerhalb der Geschichte der Entdeckungsfahrten und geht bei Tahiti immer wieder ehrerbietig auf seinen Landsmann Wallis ein, den er lobt, „die ganze Gestalt der Insel nicht schlecht beschrieben zu haben“20  ; weshalb er lediglich zu ergänzen sucht, was über Geographie, Flora, Fauna und Lebensbedingungen auf der Insel noch unbekannt ist. Auch Reinhold Forster, der gemeinsam mit seinem Sohn Georg zum wissenschaftlichen Begleitpersonal auf Cooks zweiter Weltreise zählte, hat seine Aufzeichnungen nach dem Muster des rubrizierenden und systematisierenden naturwissenschaftlichen Berichts verfasst und lediglich die geologische Beschaffenheit der Insel, wie etwa die „Korallenklippen“ und „große[n] Granitmassen“21, im Vergleich mit den anderen Sozietätsinseln beschrieben. Doch erst sein Sohn Georg, der den Bericht Bougainvilles aus dem Französischen ins Englische übersetzt hatte22, prägte mit seiner 1777 erschienenen Reisebeschreibung A Voyage Round the World, die bald darauf auch auf Deutsch publiziert wurde, das Bild von Tahiti entscheidend.23 Unter der Überschrift „Aufenthalt im Hafen 17 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 199. 18 Ebd., S. 188. 19 Bougainville würdigt zunächst im „Vorbericht“ die Geschichte der Weltumsegelungen und pazifischen Entdeckungsreisen seit Magellan (vgl. Bougainville  : Reise um die Welt, S. 9–22) und gibt in der Widmung „An den König“ (ebd., S. 7f.) seinem Stolz Ausdruck, die erste französische Weltumsegelung geleitet zu haben. Erst dann folgt in einer Mischung aus Logbuch und wissenschaftlichem Rapport der ausführliche Reise­ bericht. 20 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 68. 21 Johann Reinhold Forster  : Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung 1772–1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers, mit einer Einführung von Hanno Beck, Stuttgart 1981, S. 12. 22 Vgl. hierzu  : Jörn Garber  : Reise nach Arkadien. Bougainville und Georg Forster auf Tahiti, in  : Der imaginierte Garten, hg. von Günter Oesterle und Harald Tausch, Göttingen 2001, S. 93–114. 23 Georg Forster  : A Voyage Round the World. In His Britannic Majesty’s sloop, Resolution, commanded by Capt. James Cook, during the years 1772, 3, 4, and 5, London 1777. Vgl. hierzu auch  : Manfred Urban  : Forster in der Südsee und die Entwicklung des ethnologischen Blicks, in  : Weltbürger – Europäer – Deutscher – Franke. Georg Forster zum 200. Todestag, hg. von Rolf Reichardt, Mainz 1994  ; sowie  : Uwe Japp  :

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Oatipea auf der kleinen Halb-Insel Tahiti – Ankern in Matavai Bai“ vermittelt Forster im achten Hauptstück seines Reiseberichts nicht nur eine Beschreibung dessen, was bei einem ersten schweifenden Blick auf die Insel zu sehen ist, sondern führt in ein Naturschauspiel ein, durch das der Leser den Eindruck gewinnen kann, selbst an dieser Entdeckung teilzuhaben  : Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel Tahiti zwei Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt, ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Oberfläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestalten und glühten im ersten Strahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich mit Waldung bedeckt und mit verschiedenem anmutigen Grün und herbstlichen Braun schattiert waren. Davor lag die Ebene, von Brodfruchtbäumen und unzähligen Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jenen emporragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf  ; kaum tagte der Morgen, und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählich aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und von Kanus unterscheiden, die auf den sandigen Strand heraufgezogen waren. Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe von Klippen parallel mit dem Lande dahin, und über diese brach sich die See in schäumender Brandung. Hinter ihnen aber war das Wasser spiegelglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nun fing die Sonne an, die Ebene zu beleuchten.24

Forsters Darstellung, die zu einer Ikone der Tahiti-Beschreibungen wurde, inszeniert die allmähliche Annäherung an den Strand als Szene der Begegnung mit einer Naturschönheit, angesichts derer selbst dichterisches Vermögen versagen muss. Er anthropomorphisiert die Insel, die sich gleich einer schlafenden Schönen dem Auge des Betrachters darbietet und unter seinem begehrenden Blick erst erwacht. Forster, der die bisherige Literatur zu Tahiti kannte und durch seine Übersetzungstätigkeit mit den neuesten Entwicklungen im Genre ‚Reisebericht‘ bestens vertraut war, reflektiert in seinem aufklärerisch geprägten Schreiben, dass Beobachtung kein voraussetzungsloser, spontaner Wahrnehmungsakt ist, sondern immer schon durch Vorkenntnisse präformiert. Deutlich ist also die Beschreibung Tahitis bereits in den Reiseberichten, die im unmittelbaren Anschluss an denjenigen von Wallis verfasst wurden, als Gestaltung einer Relektüre zu verstehen. Forster konzediert, dass „Bougainville nicht zu weit gegangen sey, wenn er dies Land als ein Paradies

Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters ‚Reise um die Welt‘, in  : Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, hg. von Hans Joachim Piechotta, Frankfurt/M. 1976, S. 10–56. 24 Georg Forster  : Entdeckungsreise nach Tahiti und in die Südsee 1772–1775, hg. von Hermann Homann, Tübingen/Basel 1979, S. 119.

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beschrieben“25 habe, und verweist damit auf vorgängige Beschreibungsmuster, die in seine eigene Beschreibung einfließen wie auch verworfen werden.26 Bei ihm erscheint die Landschaft nicht, wie bei Bougainville, als ein „Amphitheater“, vielmehr nimmt die szenische Naturbeschreibung selbst theatrale Züge an, um dergestalt effektvoll auf die erste Begegnung mit den Inselbewohnern hinzuleiten. Szene der Erstbegegnung Bei den aufklärerischen Welterkundungsfahrten, in deren Verlauf Tahiti angelaufen wurde, waren Naturwissenschaftler und (nicht selten in Personalunion) Zeichner27 und Schreiber mit an Bord, die nicht nur Beobachtungen zu Geologie, Flora, Fauna und Gesittung der Menschen in den besuchten Weltgegenden zu Papier brachten, sondern ihr Tun auch reflektierten, um Einsichten über die Relativität der eigenen Kultur zu gewinnen. Verstärkt wurde der Blick auf Begegnungsszenen mit der indigenen Bevölkerung gelenkt. In der europäischen Geschichte der Erkundung und Eroberung überseeischer Weltgegenden ist naturgemäß immer die Erstbegegnung von besonderer dramatischer Brisanz, da zunächst abgeklärt werden muss, ob die Einheimischen, deren Sitten, Normen und Gebräuche noch unbekannt sind und deren Verhalten deshalb auch nicht hinreichend eingeordnet werden kann, sich gegen die ihnen fremden Europäer wehrhaft zeigen oder zur Kooperation und Unterwerfung bereit sind.28 Während in vielen Reiseberichten beschrieben wird, dass beim ersten Kontakt zumeist eine abwartend beobachtende oder auch lauernde Haltung bestimmend ist und sich die indigene Bevölkerung vor den ankommenden Seeleuten in dichtes Buschwerk zurückzieht oder zum Angriff übergeht, ist die Ankunft auf Tahiti bereits bei Robertson als eine First-Contact-Szene29 gestaltet, die in ihrer freundlichen Gestimmtheit zum Muster für alle nachfolgenden Beschreibungen wurde. Die Empfangsszene zeichnet sich schon dadurch aus, dass sich die Kanus der Tahitianer dem europäischen Schiff nähern, noch bevor es überhaupt ankert. Als die Dolphin an die Insel heransegelt, wird sie von einer überwältigenden Anzahl von Booten umringt  : “upward of a hundred canoes betwixt

25 Ebd. 26 Vgl. hierzu  : Garber  : Reise nach Arkadien, S. 26. 27 Auf Cooks zweiter Weltreise war beispielsweise der Maler William Hodges mit an Bord, der zahlreiche Bilder von Tahiti anfertigte. 28 Vgl. hierzu  : David Abulafia  : The Discovery of Mankind. Atlantic Encounters in the Age of Columbus, New Haven/London 2008  ; John Sutton Lutz (Hg.)  : Myth and Memory  : Stories of Indigenous-European Contact, Vancouver/Toronto 2007. 29 Vgl. Klaus Scherpe  : First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken der Begegnung mit dem Fremden, in  : Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000, S. 149–167.

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us and the brakers all paddling off towards the ship”.30 Auch Bougainville beschreibt, wie die L’Étoile von den Inselbewohnern freudig begrüßt wird  : Wir fuhren mit vollen Segeln auf diese Bai zu, als wir eine Piroge bemerkten, die vom Meer kam und mit Segeln und Paddeln nach der Küste eilte. Sie überholte uns und vereinigte sich mit vielen anderen von allen Ecken der Insel, die uns entgegenkamen. Eine führte die anderen gleichsam an  ; darin saßen 12 nackte Männer, die uns Zweige von Bananenstauden anboten und durch ihre Gebärden zu verstehen gaben, daß es ihr Ölzweig, das Zeichen des Friedens, war. Wir versicherten sie durch allerlei Zeichen gleichfalls unserer Freundschaft  ; darauf kamen sie an unser Schiff, und einer unter ihnen, der sich durch seine dichten Haare, die wie eine Strahlenkrone aufwärts standen, auszeichnete, überreichte uns nebst dem Friedenszweig ein kleines Schwein und ein Büschel Bananen. Wir nahmen das Geschenk an, welches er an einen Strick band, den wir ihm zuwarfen, und schickten ihm dafür Mützen und Halstücher. Diese Geschenke waren das erste Unterpfand unseres Bündnisses mit diesem Volk. In kurzer Zeit versammelten sich über 100 Pirogen von verschiedener Größe und alle mit Auslegern um unsere beiden Schiffe. Sie waren mit Kokosnüssen, Bananen und anderen Früchten des Landes beladen, welche für uns große Leckerbissen waren. Wir tauschten sie gegen allerlei Kleinigkeiten aus.31

In Bougainvilles Beschreibung kommt es noch vor der Landung zum Austausch von Geschenken und zur Verständigung mit den Inselbewohnern. Das Küstenwasser wird zum Schauplatz einer maritimen Vereinigungsszene, bei der die beiden europäischen Schiffe nicht nur in die Bucht, sondern auch in eine friedliche Armada kleiner Boote einfahren. Auch Cook stellt in seinem Bericht heraus, dass sich „eine große Anzahl Eingeborener in Kanus“32 dem Schiff näherte und betont die gastfreundliche Haltung der Inselbewohner  : „Nicht einer der Eingeborenen erhob den geringsten Einwand gegen unsere Landung, und ein jeder begegnete uns mit allen Zeichen der Freundschaft und Unterwürfigkeit.“33 Forster beschreibt in seinem Reisebericht, dass die Kanus der Inselbewohner dem britischen Segelschiff entgegenfahren, doch inszeniert er dabei, wie sich nun die zuvor schlafende Naturlandschaft gleichsam unter dem Blick der Europäer zu verlebendigen beginnt  : Die Einwohner erwachten, und die Aussicht begann zu leben. Kaum bemerkte man die gro­ßen Schiffe an der Küste, so eilten einige unverzüglich nach dem Strand herab, stießen ihre Kanus ins Wasser und ruderten auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so waren sie durch die Öffnung des Riffs hindurch, und eins kam uns so nahe, daß wir es anrufen konnten. Zwei fast nackte Leute, mit einer Art Turban auf dem Kopfe und mit einer Schärpe um die Hüften saßen darin. 30 Robertson  : The discovery of Tahiti, S. 136. 31 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 178. 32 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 55. 33 Ebd., S. 56f.

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Sie schwenkten ein großes, grünes Blatt und kamen mit einem oft wiederholten lauten „Tayo  !“ heran, ein Ausruf, den wir ohne große Mühe und ohne Wörterbücher als einen Freundschaftsgruß auslegen konnten. Das Kanu ruderte unter das Heck des Schiffs, und wir ließen sogleich ein Geschenk von Glaskorallen, Nägeln und Medaillen hinab. Sie hingegen reichten uns einen grünen Pisangschößling zu, der bei ihnen ein Sinnbild des Friedens ist […]. Es währte nicht lange, so sah man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, während andere ihre Kanus ins Wasser stießen und sie mit Landesprodukten beluden. In weniger als einer Stunde umgaben uns Hunderte von diesen Fahrzeugen, in denen sich ein, zwei, drei, zuweilen auch vier Mann befanden. Ihr Vertrauen zu uns ging so weit, daß sie sämtlich unbewaffnet kamen.34

Die Einfahrt in den Naturhafen, bei welcher die Tahitianer die Europäer freudig begrüßen, wird als friedvolle Utopie kultureller Begegnung gestaltet. In einem freundschaftlichen Austausch von Waren wird der Bund zwischen Entdeckern und Entdeckten besiegelt und in jedem neuen Tausch erneut beglaubigt. Ohne Zweifel ist in der Geschichte der europäischen Reiseberichte Tahiti durch diese emphatischen Schilderungen der ersten Austauschbeziehungen zum Topos der geglückten wie beglückenden Begegnung geworden, der in Texten und Filmen bis heute immer wieder aufgegriffen wird. Frauen und Handel Die Forschung zu den frühen Reiseberichten über Tahiti ist sich im Wesentlichen darüber einig, dass diese Texte zwar gemäß aufklärerischem Forschungsauftrag von den geologischen, botanischen und ethnologischen Besonderheiten der bereisten Weltgegenden berichten, dass die Beschreibungen der Sitten und des sozialen Miteinanders auf der Insel aber von Wunschphantasien und Projektionen durchzogen sind.35 Wenn man sich jedoch mit den stilistischen Mustern näher auseinandersetzt, nach denen diese Berichte verfasst sind, so fällt auf, dass solche Projektionen keinesfalls als durchgängige Merkmale auszumachen sind. Denn mit den Naturbeschreibungen und First-Contact-Szenen, die bei Bougainville als Theateraufführung, bei Forster als Schauspiel in den Blick kommen, werden zugleich auch Szenen der Beobachtung vorbereitet, die nach herrschenden Sitten und Gesetzen in Europa verpönt sind. So wird bei der Schilderung von Geschlechterverhältnissen 34 Forster  : Entdeckungsreise, S. 111f. 35 Mit dem Beginn der Südseebegeisterung beschäftigen sich u. a.: Urs Bitterli  : Die exotische Insel, in  : Die andere Welt. Studien zum Exotismus, hg. von Thomas Koebner und Gerhart Pickerodt, Frankfurt/M. 1987, S. 11–30  ; Klaus H. Börner  : Auf der Suche nach dem irdischen Paradies – Zur Ikonographie der geographischen Utopie, Frankfurt/M. 1984  ; Horst Brunner  : Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967.

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und Sexualpraktiken auf Tahiti im Gegensatz zu den vergleichsweise sachlich-nüchternen Darstellungen anderer Verhaltensweisen ein erhöhter stilistischer Aufwand betrieben, um zu einer metaphorischen Umschreibung des Beobachteten im Dienste idealisierender Bildlichkeit gelangen zu können. Die sprachliche Präsentation von kulturell andersartig eingebetteten Szenen geschlechtlicher Vereinigung, die in den Berichten für ein europäisches Publikum allenfalls in Andeutungen und Topoi der galanten Literatur36 Niederschlag finden konnten, wird mithin durch Schilderungen der landschaftlichen Schönheit der Insel und der Erstbegegnungen kunstvoll vorbereitet. So wird bei Bougainville bereits die Einfahrt in den pittoresken Naturhafen als Kontaktszene mit den Frauen der Insel exponiert  : In den Pirogen fanden sich viele Weiber, die den Europäerinnen in Ansehung ihres schönen Wuchses den Vorzug streitig machen konnten und die auch sonst nicht häßlich waren. Die meisten dieser Nymphen waren nackend, weil die Männer und alten Weiber, die sich bei ihnen befanden, ihnen ihren Schurz, den sie gemeiniglich tragen, weggenommen hatten  ; sie machten allerlei freundliche Mienen gegen uns, beobachteten aber doch bei aller Naivität eine gewisse Art von Schamhaftigkeit  ; sei es, daß die Natur dem anderen Geschlecht allenthalben eine gewisse Scheu eingeprägt hat, sei es, daß sogar in einem Land, wo noch die Freiheit des Goldenen Zeitalters herrschte, die Frauen das zu verhehlen wissen, was sie am meisten wünschen.37

Mit dieser Beschreibung wird hervorgehoben, dass die tahitianischen Frauen in Wuchs und Gestalt europäischen Schönheitsvorstellungen entsprechen38, ihre Körper aber noch in „die Freiheit des Goldenen Zeitalters“ eingebunden sind. Die Frauen verheißen somit schon beim ersten Anblick sinnliche Lust und die Möglichkeit, in einen Zustand ursprünglich gedachter Freiheit zurückkehren zu können. Dabei wird der prostitutive Charakter dieser Begegnungsszene, welcher mit der durch Männer und alte Frauen veranlassten Zurschaustellung der jungen Tahitianerinnen unwillkürlich gegeben ist, nicht etwa durch Abwendung des Blicks der Seeleute abgewehrt, sondern mit dem Hinweis auf das natürliche Schamgefühl der Sich-dem-Blick-Darbietenden. Doch bereits im unmittel­ baren Anschluss wird auf die für den Landgang typische Konstellation verwiesen  : Die nach langer Reise auf See triebdynamisch bedürftigen Männer begeben sich auf die Suche nach Befriedigungsmöglichkeiten an Land. Die Besonderheit von Tahiti liegt nun darin, 36 Thomas Borgstedt/Andreas Solbach  : Der galante Diskurs  : Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Dresden 2001. 37 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 181f. 38 Auch Forster vergleicht die Tahitianerinnen mit „griechischen Statuen“, die den Blick der Männer auf sich ziehen  : „Die Frauen waren hübsch genug, um Europäern in die Augen zu fallen, die seit Jahr und Tag nichts von ihren Landsmänninnen gesehen hatten.“ Forster  : Entdeckungsreise nach Tahiti, S. 112f.

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dass hier potentielle Sexualpartnerinnen weder gesucht noch nach den Regeln der Kunst umworben werden müssen, sondern schon vor der Landung durch die Männer der indigenen Bevölkerung wohlfeil angeboten werden  : Die Männer handelten freier und offener  ; sie suchten uns zu bewegen, eine Frau zu wählen, mit ihr an Land zu gehen, und sie gaben uns zu verstehen, auf welche Art wir uns mit ihr beschäftigen sollten. Man kann sich vorstellen, wie schwer es angesichts eines solchen Schauspiels hielt, 400 junge französische Seeleute, die 6 Monate lang keine Frauensperson mehr gesehen hatten, zu bändigen.39

Tahiti wird gleich einem ‚selbstverständlichen Freudenhaus‘ dargestellt, dessen Besuch ohne moralische Skrupel möglich ist, da die Paarung hier auch ohne kulturspezifisch ausdifferenzierte Formen der Werbung und Annäherung vollzogen werden kann. Deutlich wird heraus­ gestellt, dass die Verführungsmacht von den dargebotenen Frauen ausgeht, diese aber dem Begehren der Männer entgegenkommt. Diese allgemeine Beschreibung der Begegnung zwischen Seeleuten und den Frauen der indigenen Bevölkerung wird bei Bougainville durch die Vergegenwärtigung eines signifikanten Ereignisses an Bord konkretisiert  : Aller Vorsicht ungeachtet kam ein junges Mädchen auf das hintere Verdeck und stellte sich an eine der Luken über dem Gangspill. Diese Luke stand offen, damit die Leute am Spill frische Luft bekamen. Sie ließ ungeniert ihre Bedeckung fallen und stand vor den Augen aller da wie Venus, als sie sich dem phrygischen Hirten zeigte. Sie hatte einen göttlichen Körper. Matrosen und Soldaten drängten sich zu der Luke, und vielleicht ist niemals so fleißig an einem Spill gearbeitet worden.40

Diese Schau- und Enthüllungsszene, in der eine Tahitianerin ihren „göttlichen Körper“ den Blicken der Seeleute darbietet, wird in Reminiszenz an die Ilias vergegenwärtigt, in der Homer darauf verweist, dass sich die Liebesgöttin Aphrodite nackt vor Paris zeigte. Die Beschreibung der Darbietung geht mit der erotischen Aufladung des Körpers der Tahitianerin wie auch antikisierender Verbrämung des europäischen Bemächtigungsverlangens einher. Topoi der Galanterie und Sujets der Malerei des Rokoko werden angespielt, um die erregende Andersartigkeit in ein vertrautes Kulturmuster einbinden zu können und darüber die Lizenz zum Schauen aufrecht zu erhalten. Bougainville gab Tahiti nach Kythera, der Insel der Liebesgöttin Aphrodite, den Namen La Nouvelle Cythère.41 Mit diesen 39 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 182. 40 Ebd. 41 Die drei Fêtes galantes-Gemälde Jean-Antoine Watteaus mit dem Titel Pélerinage à l’île de Cythère (Einschiffung nach Kythera) aus den Jahren 1710, 1717 und 1718 stehen in direktem inhaltlichen Bezug zu Bougainvilles Ausführungen. Auf den Bildern sind Paare zur Einschiffung auf die Insel Kythera versammelt, die im

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bildlichen Reminiszenzen wird nicht nur die geschaute Nacktheit sagbar, sondern auch die Prostitutionssituation verhüllt, in welcher die Tahitianerinnen ihre Liebesdienste für Waren aus Europa anbieten, denn die beschriebene erotische Szene ist durch ein ganz pragmatisches Begehren bestimmt  : „Alle verlangten Nägel und Ohrringe.“42 Die Besonderheit der Situation, die sich fern des europäischen Sittenkodex und europäischer Moralvorstellungen ereignet, wird nicht nur als Geschehen an einem fernen Ort, sondern auch in einer idealisierten Kunstwelt imaginiert, in der die Frauen als fabelhafte „Nymphen“43 erscheinen. Dass bei der Beschreibung von Geschlechterverhältnissen auf Tahiti geradezu eine antikisierende Maskerade eingesetzt wird, machen besonders die Schilderungen von Kohabitationsszenen deutlich. So beschreibt Bougainville, dass der Beischlaf in der Öffentlichkeit unter Anleitung oder Bewunderung Umstehender stattfindet, und er mutmaßt, dass auch Besatzungsmitglieder in dieser Form Kontakt mit Tahitianerinnen hatten. Vor allem aber wird die Verfügung über Frauen als Gastrecht dargestellt, in dessen unverhofften Genuss auch die Europäer kommen können  : Die Wohnung füllte sich sogleich mit Männern und Weibern, welche einen Kreis um den Gast und das junge Opfer der Gastfreundschaft bildeten. Man streute ein Lager von Laub und Blumen, und die Musikanten bliesen ein Hymenslied dazu auf ihrer Flöte. Die Göttin der Liebe ist hier zugleich die Göttin der Gastfreundschaft  ; sie hat hier keine Geheimnisse, und jeder Sinnenrausch ist ein Fest für das ganze Volk. Die Wilden wunderten sich, wenn unsere Leute Bedenken trugen, ihr öffentlich zu opfern, welches den europäischen Sitten so sehr zuwider ist. Dennoch möchte ich mich nicht dafür verbürgen, daß keiner seinen Widerstand aufgegeben und sich nach dem Landesbrauch bequemt hat.44

Die Beschreibung der Beischlafszenen nach dem Muster eines griechischen Opferrituals, bei welchem ein Lied erklingt, das mit dem griechischen Hochzeitsgott Hymen in Verbindung gebracht wird, mündet in einem Resümee über die Allgemeingültigkeit des Beobachteten. In diesem Liebesritus kulminiert die Darstellung der Andersartigkeit und Besonderheit tahitianischer Sitten. Es wird suggeriert, dass sich hier, fern von Reglementierungen und Vorschriften, die männlich konnotierte Wunschvorstellung von freier Triebabfuhr realisieren lasse.45 Bougainville konstatiert, dass die einzige Leidenschaft der Tahitianer die Liebe sei und dass es den Status der Männer erhöhe, wenn sie viele Frauen besäßen. Er 18. Jahrhundert zum Synonym für die Insel der Liebe fern aller Konflikte wurde. In der Bildkomposition der ältesten Fassung schwebt der Hochzeitsgott Hymen über der reisebereiten Gruppe. Vgl. hierzu  : Norbert Elias  : Watteaus Pilgerfahrt zur Insel der Liebe, Frankfurt/M. 1994. 42 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 181. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 188. 45 Vgl. hierzu Anne Salmond  : Aphrodite’s Island, Berkeley/Los Angeles 2009, S. 124ff.

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berichtet, wie ihm selbst beim Besuch eines Regenten eine seiner Frauen angeboten wurde, die „sehr jung und überaus artig war. Die Gesellschaft war zahlreich, und die Musiker hatten schon das Hymenslied angestimmt. Auf diese Art empfangen die Einwohner ihre feierlichen Besuche.“46 Auch Cook verweist in den Aufzeichnungen seiner ersten Reise, ohne ins Detail zu gehen, auf „einen sehr unschicklichen Tanz“, der von den jungen Mädchen der Insel getanzt werde, wobei sie „höchst unschickliche Lieder“ sängen und dabei eine „höchst unschickliche Aufführung“47 gäben. Er betont, dass der Keuschheit „in der Tat geringer Wert“48 zukam und dass die tahitianischen Männer den „Fremden mit der größten Bereitwilligkeit junge Frauen und selbst ihre eigenen Töchter“49 angeboten hätten. Obgleich Cook mit deutlicher Diskretion über die rituellen Sexualpraktiken auf Tahiti verweist und auch betont, dass er „niemals Zeuge eines solchen Treffens“50 war, beschreibt er doch eine signifikante Szene, die sich im Anschluss an einen Gottesdienst51 ereignet habe  : Dieser Tag schloß mit einem sonderbaren Schauspiel am Tor des Forts, an welchem ein jun­ger Bursche, etwa 6 Fuß hoch, ganz öffentlich bei einem Mädchen lag, welches 10 oder 12 Jahre zählen mochte, und waren einige unserer Leute und eine Anzahl Eingeborener zugegen. Ich erwähne dies, da solches Tun hier mehr allgemeinem Brauch als der Liederlichkeit zu entspringen scheint, denn mehrere Frauen waren zugegen, insbesondere Obariea und andere der höheren Schichten, und diese waren so weit davon entfernt, ihr Mißfallen kundzutun, daß sie das Mädchen sogar anwiesen, wie es seinen Part zu erfüllen hätte, denn das Mädchen, jung, wie es war, erschien nicht sehr willig.52

Sowohl Cook als auch Forster betonen in ihren Reiseberichten ausdrücklich, dass sich nur Frauen niederer Klassen den Europäern hingaben und Verheiratete und sozial Höherrangige jeglichen Kontakt mit den Fremden mieden, doch wurden durch Nachrichten über die freizügigen Liebesdienste auf der Insel die Südseesehnsüchte beflügelt. Denn Tahiti hätte bei aller landschaftlichen Schönheit und Freundlichkeit seiner Bewohner nicht eine derartige Auratisierung erfahren, wäre in den Berichten der Weltumsegler nicht auch von einem, wie implizit auch immer formulierten, Versprechen auf Lustbefriedigung zu lesen. Die Insel Tahiti, deren Erforschung bei Cook astronomisch unter dem Zeichen der Venus gestanden hatte, wurde geradezu zum Synonym für ungehemmte Sexualität, und es wurde auch in 46 Bougainville  : Reise um die Welt, S. 189. 47 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 73. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 74. 51 Die Eintragung stammt vom Sonntag, den 14. Mai 1769. 52 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 61.

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Deutschland Mode, Formen der Libertinage mit dem Synonym Tahiti zu belegen.53 Dass die Freizügigkeit und der durch die eigenen Sitten verpönte öffentliche Vollzug der Paarung der Tahiti-Begeisterung keinen Abbruch tat, sondern sie geradezu förderte, ist in nicht unerheblichem Maße dem aufklärerischen Diskurs geschuldet, vor dessen Hintergrund die Reiseberichte rezipiert wurden. Tahiti und Tabu Die besondere Stellung, die Tahiti im Prozess der Entdeckungen zugesprochen wurde, steht in unmittelbarer Verbindung mit dem Versuch, über den Lebenshorizont fremder Bevölkerungsgruppen die Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu rekonstruieren. Für diesen Aspekt des anthropologischen Diskurses wurde im 18. Jahrhundert vor allem JeanJacques Rousseau (1712–1778) maßgeblich, der in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) kritisierte, dass der vorzivilisatorische Naturzustand des Menschen bisher zwar Thema philosophischer Erwägungen, aber zu selten Gegenstand der Betrachtung geworden sei.54 Vor diesem Hintergrund wurde Bougainvilles Bericht als Beweis erachtet, in den Bewohnern Tahitis die prototypischen ‚edlen Wilden‘ ausmachen zu können, deren freies Sexualverhalten auf ihre Ursprünglichkeit schließen lasse. Doch gehen mit der antikisierenden Verbrämung der rituellen Sexualpraktiken unzweifelhaft selbst wieder vielfältige Tabuisierungsprozesse einher. Dass Cook die beobachteten Sitten nicht mit Tabuvorschriften in Verbindung brachte, wie er sie auf seiner dritten Expeditionsfahrt notiert hatte, muss zunächst verwundern. Denn in seinem Reisejournal beschrieb er eine tapu oder tabu genannte Verhaltensweise, deren Bedeutung ihm Rätsel aufgab.55 Vor allem die Südsee-Archipele Tonga (Freund53 Christiane Vulpius war in den Augen von Wieland eine echte ‚Otaheitin‘. Caroline Michaelis erschien in der Göttinger Gesellschaft als Otaheitin verkleidet, nachdem sie sich aus dem Rindenbaststoff, den ihr Georg Forster mitgebracht hatte, ein Schäferinnenkleid hatte schneidern lassen. Als Carolines Schwager Friedrich Schlegel 1799 seinen Schlüsselroman Lucinde veröffentlichte, bezeichnete Johann Daniel Falk diese Libertinage als ‚Otaheitische Schamlosigkeit‘. König Wilhelm Friedrich II. wollte sich in einem der beiden Türme der künstlichen Ruine auf der Pfaueninsel an der Havel für Besucherinnen ein ‚Ota­heitisches Zimmer‘ einrichten lassen. Vgl. hierzu  : Stefan Goldmann  : Die Südsee als Spiegel Europas. Reisen in die versunkene Kindheit, in  : Wir und die Wilden. Einblicke in die kannibalische Beziehung, hg. von Thomas Theye, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 208–242, hier 212  ; Ulrich Enzensberger  : Georg Forster. Ein Leben in Scherben, Frankfurt/M. 1996, S. 102  ; Johann Daniel Falk (Hg.)  : Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Leipzig 1797–1804, S. 301  ; Anneliese Moor  : Harry Maitey. From Polynesia to Prussia, in  : The Hawaiian Journal of History 11 (1977), S. 125–161, hier 146. 54 Jean-Jacques Rousseau  : Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen [franz. Erstdruck 1755], in  : ders.: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755, eingel., übers. u. hg. von Kurt Weigand, Hamburg 1995, S. 61–268, hier 131f. 55 Vgl. hierzu  : Ortrud Gutjahr  : Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds ‚Totem und Tabu‘

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schaftsinseln), Tahiti (Gesellschaftsinseln) und Hawaii (Sandwichinseln) wurden für Cook zu dem Gebiet, in dem er bei seinen Landgängen Tabusitten beobachtete, über die er seit April 1777 Buch führte. Nach seiner Überzeugung stehen Tabusitten in Zusammenhang mit der Ehrfurcht vor geheiligten Instanzen, Dingen und Vorgängen und bezeugen den Respekt vor höher gestellten Personen. Die Nichteinhaltung dieser Verhaltensvorschriften zieht, wie er beobachten konnte, gravierende Sanktionen nach sich. Doch seine Hypothese, dass den Tabus besonders im Rahmen religiöser Vorschriften Bedeutung zukommt, führte auch dazu, dass er Ereignisse, die mit der Übertretung sittlicher Grenzen verbunden waren, nicht als Tabubrüche wertete. Dies wird in der Kommentierung einer Situation deutlich, in der ein verletzter Inselbewohner von Cook und einigen seiner Männer aufgefunden wurde  : [O]n asking the reason of so severe a treatment we were informd that he had been discoverd in a situation rather indelicate with a woman who was Taboo’d. We however understood that she was no otherwise Taboo’d than by belonging to another person & rather superior in life to her Amoroso, so that he had not transgress’d in any mysterious point as that word seems sometimes to imply.56

Auch wenn Cook hier ganz offensichtlich die schmerzlichen Konsequenzen aus tabu­ brechendem Sexualverhalten beschreibt, lässt er an keiner Stelle Überlegungen zu den Tabubrüchen der europäischen Seeleute folgen. Doch gerade im Kontakt mit den Europäern werden seitens der indigenen Bevölkerung Tabus als Einhegungen schützenswert erachteter Verhaltensweisen virulent.57 Ohne Zweifel sind bereits die frühen Versuche, sich Tahiti nicht zuletzt über die Verbindung zu Frauen anzunähern und die Insel zugleich vor Übergriffen durch die Europäer zu schützen, vor dem Hintergrund dieser Ambivalenzstruktur von Tabus zu verstehen. Statt Übergriffe auf Frauen für die Seeleute zum Tabu zu erklären, wurde gleichsam die gesamte Insel tabuisiert, indem sie von ihren negativen Aspekten ‚gereinigt‘ wurde, um sie in ihrer unschuldigen Schönheit bewahren zu können. Denn Tahiti konnte nur zur paradiesischen Insel stilisiert werden, weil die Reiseberichte selektiv rezipiert und negative Vorkommnisse weitgehend ausgeblendet wurden. Bereits Wallis beschreibt, dass die Tahitianer seine Bootsmänner bei der ersten Begegnung mit Steinen bewarfen, dass es Auseinandersetzungen gab, bei denen Inselbewohner verletzt oder getötet wurden und dass tahitianische Frauen als Lockvögel dienten, um die Engländer in Hinterhalte zu führen. Selbst Bougainville berichtet bei aller Schwärmerei und die Wende in der Tabuforschung, in  : TABU. Interkulturalität und Gender, hg. von Claudia Benthien und Ortrud Gutjahr, Paderborn 2008, S. 19–50. 56 Ebd., S. 962. 57 Auch Seibel weist darauf hin, dass in der heutigen Verwendung des Begriffs ‚Tabu‘ die „Bedeutung von ‚besonders Geschütztem, Eingehegtem‘“ enthalten ist. Karin Seibel  : Zum Begriff des Tabus. Eine soziologische Perspektive, Frankfurt/M. 1990, S. 84.

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von aggressiven und tödlich endenden Zwischenfällen58 und muss feststellen, dass die Frauen in totaler Abhängigkeit von den Männern gehalten werden. In diesem Zusammenhang lässt er sich auch über das gewaltsame Vorgehen der Seeleute gegen die indigene Bevölkerung aus. Cook hinwiederum vermerkt fortwährende Diebstähle seitens der Inselbevölkerung und verurteilt ein selbst beobachtetes Menschenopfer als „eine unmenschliche Sitte, die den vornehmsten Prinzipien der menschlichen Natur zuwiderläuft“.59 Gerade er kann sich durch seine dicht aufeinanderfolgenden Aufenthalte auf Tahiti ein gutes Bild über die Veränderungen auf der Insel machen und stellt fest, dass die Bewohner ihre Tauschgeschäfte zunehmend gewaltbereit betreiben. Bei den Besuchen während seiner zweiten Weltumsegelung hält Cook in seinem Bordtagebuch fest, dass die „herrliche Insel“60 durch kriegerische Zwistigkeiten, vor allem aber durch die seitens der europäischen Seeleute eingeführten Krankheiten, insbesondere die Syphilis, gelitten habe. Auch Forster, der sich mit dem Klassensystem auf Tahiti beschäftigte, merkt in seinem Reisebericht selbstkritisch an, dass die „Entdeckungen so viel unschuldigen Menschen haben das Leben kosten müssen“ und dass der indigenen Bevölkerung „unersetzliche[r] Schaden“61 zugefügt worden sei. So gibt er auch der Vermutung Ausdruck, dass die Frauen im Dienste des Warenhandels mit den Europäern zur Prostitution veranlasst worden seien. Im Gegensatz zu den beschriebenen Gewaltaktionen seitens der Europäer wie auch der Tahitianer suchte der ‚Schreibtisch-Entdecker‘ Denis Diderot eine idealisierte Inselvorstellung zu retten. Er nimmt Bougainvilles Schilderung der Liebesfreiheit auf Tahiti zum Anlass, sein berühmtes kulturkritisches Supplément au voyage de Bougainville (1796) zu verfassen, in dem er die natürlichen Sitten der Eingeborenen gegen den zerstörerischen Einfluss der Zivilisation in Schutz nimmt und über die fiktive Rede eines alten tahitianischen Häuptlings das aggressive Bemächtigungsverlangen der Europäer kritisiert  : Wir sind unschuldig, wir sind glücklich, und du kannst unserem Glück nur schaden. […] Unsere Töchter und unsere Frauen gehören uns allen  ; du hast dieses Vorrecht mit uns geteilt, hast in ihnen aber fremde Leidenschaften entfacht, rasende Leidenschaften. Sie wurden in deinen Armen toll, du wurdest in ihren Armen grausam.62

58 Die beschriebene Idylle wird zerstört, als Seeleute einen Tahitianer in seiner Hütte erschießen und sich die Inselbewohner zurückziehen, da Bougainville den Mord nicht aufklärt. Als einige Zeit danach drei Tahitianer mit dem Vayonette erstochen werden, lässt Bougainville demonstrativ einige Seeleute fesseln, um zu zeigen, dass die Verbrechen nicht ungesühnt bleiben werden. Vgl. Bougainville  : Reise um die Welt, S. 189ff. 59 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 73. 60 Ebd., S. 225. 61 Forster  : Reise um die Welt, S. 92. 62 Denis Diderot  : Nachtrag zu ‚Bougainvilles Reise‘ oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen, Nachwort von Herbert Dieckmann, übers. von Theodor Lücke, Frankfurt/M. 1965, S. 18.

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Diderot lässt durch seine Sprecherfigur Kritik an der Moral der Europäer formulieren, die diese auf die Bewohner Tahitis zu übertragen suchten, und fordert  : „den guten und einfältigen Tahitianern das Recht, sich ohne Scham fortzupflanzen, unter freiem Himmel und am hellen Tag“ 63 zu belassen. Der Vorstellung von Tahiti als einem zugleich „geographisch realen und mythisch idealen Ort“64 wird Vorschub geleistet, indem eine als schützenswert erachtete ursprüngliche Gesellschaftsform entworfen wird, die für die Europäer Tabu sein müsse. Vom aufwändig betriebenen Schutz gerade dieser Idee, dass es doch ein ursprünglich friedvolles und sexuell freies menschliches Zusammensein gegeben habe, lebt der Mythos Tahiti. Er wurde in Abenteuerromanen65, Utopien und Robinsonaden66 ebenso fortgeschrieben wie in Berichten über eskapistische Projekte67 und Künstleraufenthalte in der Südsee.68 Sehnsüchte nach einem Leben in paradiesischer Natur ohne Arbeitsfrohn, egoistischen Wettbewerb, fremdbestimmten Leistungszwang und ohne Triebunterdrückung sind in diesem Mythos deponiert.69 Nicht zuletzt wurde die eskapistische Idee, dass Tahiti für Zivilisationsüberdrüssige schlechterdings der Ort eines anderen Lebens sein könnte, durch Berichte über Seeleute gestützt, die sich bereits während der Entdeckungsexpeditionen entschlossen hatten, für immer auf der Insel zu bleiben. Schon Cook hatte mit Deserteuren zu kämpfen  : Alldieweil sich die zwei Matrosen diesen Morgen nicht einfanden, begann ich nach ihnen zu forschen, und einige der Eingeborenen berichteten mir, sie seien in die Berge gezogen, und daß ein jeder eine Frau hätte und sie nicht zurückkehren wollten  ; doch wollte mir keiner genauen Bericht geben, wo sie sich befanden.70 63 Ebd., S. 22. 64 Börner  : Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 142. 65 Vgl. hierzu  : Gabriele Dürbeck  : Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815– 1914, Tübingen 2007, S. 281–339. 66 Vgl. Brunner  : Die poetische Insel. 67 Christian Adolph Overbeck und Heinrich Wilhelm von Gerstenberg hatten den Plan, in Tahiti mit befreundeten Kollegen wie Matthias Claudius, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Martin Miller, Friedrich von Stolberg und Johann Heinrich Voß eine arkadisch deutsche Dichterkolonie zu gründen. Ihr Ziel war es, „die falsche europäische Welt zu verlassen, und den glücklichen Gefilden eines zweyten Paradieses entgegenzueilen.“ Leslie Bodi  : James Cook in der deutschen Literatur, in  : Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Griep und Hans-Wolf Jäger, Heidelberg 1983, S. 218–235, hier 333. 68 Vgl.: Christoph Becker (Hg.)  : Paul Gauguin Tahiti. Katalog zur Ausstellung ‚Paul Gauguin – Tahiti‘ in der Staatsgalerie Stuttgart vom 7. Februar bis zum 1. Juni 1998, Stuttgart 1998, S. 1–83  ; Philippe Peltier  : Gauguin, artiste ethnographe, in  : Gauguin. Tahiti. L’atelier des tropiques, Paris, Galeries Nationales du Grand Palais 30 septembre 2003–19 janvier 2004/Boston, Museum of Fine Arts 29 février–20 juin 2004, hg. von Claire Frèches-Thory, Paris 2003, S. 22–39  ; Pierre Petit (Hg.)  : Noa Noa. Voyage de Tahiti, München 1992. 69 Vgl.: Dirk Sangmeister  : Das Feenland der Phantasie. Die Südsee in der deutschen Literatur zwischen 1780 und 1820, in  : Georg-Forster-Studien 2, 1998, S. 135–176. 70 Cook  : Entdeckungsfahrten im Pacific, S. 63.

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Ein Narrativ, mit dem diese Fluchtphantasien in großem Ausmaß und auf dramatisch ergiebige Weise erzählbar wurde, lieferte zehn Jahre nach Cooks letztem Aufenthalt auf Tahiti ein Ereignis, das die Gewährleistung der Disziplin bei Südsee-Expeditionen im Mark erschütterte. Um die ‚wiederholte Entdeckung‘ Tahitis, die immer neue Inszenierung des ersten Anblicks und der Annäherung fortzuschreiben, hätte man die Geschichte von der Meuterei auf der Bounty erfinden müssen – hätte es sie nicht tatsächlich gegeben. Wiederholte Entdeckungen Kapitänleutnant William Bligh, der bereits James Cook auf seiner dritten Weltreise als Steuermann gedient hatte und von daher mit Tahiti und den dortigen Sitten vertraut war, wurde im Auftrag der britischen Admiralität am 23. Dezember 1787 mit der dreimastigen Bounty nach Tahiti entsandt, um von dort junge Pflanzen des Brotfruchtbaumes nach Jamaika zu überführen. Wegen des gescheiterten Versuchs, das Kap Horn zu umrunden, ging Bligh erst am 27. Oktober 1788 in der Matavaibucht vor Anker und war gezwungen, fünf Monate zu bleiben, bis die Stecklinge transportfähig waren. Die Seeleute lebten so lange wie zuvor keine anderen Europäer auf der Insel und konnten von daher auch längerfristige Beziehungen mit den tahitianischen Frauen eingehen.71 Bereits im Januar 1789 versuchten drei Matrosen, mit einem Beiboot zu desertieren, um auf Tahiti bleiben zu können. Sie wurden jedoch von einem Suchtrupp aufgestöbert und als Gefangene auf das Schiff gebracht. Als Bligh am 4. April 1789 wieder in See stach und für zwanzig Tage einen Zwischenstopp auf einer der Tonga-Inseln einlegte, kam es wegen Diebstählen zu Streitereien mit Inselbewohnern, für die Bligh den wachführenden Maat Fletcher Christian verantwortlich machte. Als er ihn kurz darauf überdies beschuldigte, Kokosnüsse von Bord gestohlen zu haben, eskalierte die Situation. Blighs Autorität war durch den langen Aufenthalt auf Tahiti und zweifelhafte Entscheidungen an Bord geschwächt, so dass es am 28. April unter Führung von Christian zur Meuterei auf dem Schiff kam. Bligh wurde mit einer Gruppe von Seeleuten auf einer Barkasse ausgesetzt und es gelang ihm, über Timor nach England zurückzukehren. Christian hingegen fuhr mit einer Gruppe von Meuterern sowie einigen Seeleuten, die auf dem ausgesetzten Beiboot keinen Platz mehr gefunden hatten, nach Tahiti zurück und nahm Frauen und einige Männer von dort mit an Bord. Die Gruppe versuchte zunächst, auf einer Nachbarinsel Unterkommen zu finden, und segelte dann bis zur I­ nsel Pitcairn, wo sie am 15. Januar 1790 an Land ging und die Bounty verbrannte, um nicht aufgespürt zu werden. Kapitän Bligh wurde im Oktober 1790 in London von der Admiralität von allen Vorwürfen wegen der Meuterei auf seinem Schiff freigesprochen. Am 71 Vgl. hierzu  : Caroline Alexander  : Die Bounty. Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty, Berlin 2004.

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7. November stach unter Kapitän Edwards die Fregatte Pandora in See und stöberte zurückgelassene Seeleute und Meuterer auf Tahiti auf, doch an der Insel Pitcairn fuhr das Schiff vorbei. Die Grundelemente der wahren Begebenheit wurden zum idealen Plotmuster von Abenteuerromanen und Filmen. Während die meist für ein jugendliches Publikum geschriebenen Erzähltexte die Konkurrenz zwischen dem strengen Kapitän und dem rebellierenden Maat ins Zentrum rücken und das Zusammenleben europäischer Seeleute mit den tahitianischen Frauen nur diskret andeuten72, setzen Verfilmungen schon allein wegen der pittoresken Landschaftskulisse und der Möglichkeit, die Verbindung zwischen Europäern und Tahitianern in ein melodramatisches Erzählmuster einzubinden, die Zeit auf der Insel ausführlich in Szene. Der erste Film, der sich des Stoffes annimmt, Raymond Longfords The Mutiny of the Bounty aus dem Jahre 1916, ist verschollen. Der 1933 von Charles Chauvel in Australien gedrehte Film In the Wake of the Bounty wurde aufgekauft, um Frank Lloyds 1935 erschienenes Werk Mutiny on the Bounty mit Clark Gable in der Rolle des Fletcher Christian und Charles Laughton als William Bligh vor Konkurrenz zu schützen. Die kostspielige Produktion, die 1936 den Oscar als bester Film gewann und unter dem Titel Meuterei auf der Bounty auch in Deutschland erfolgreich lief, basiert auf dem Roman Mutiny on the Bounty von Charles Nordhoff und James Norman Hall73, in dem der jugendliche Protagonist Fletcher Christian ins Zentrum der Handlung gesetzt ist, der gegen seinen Antagonisten, den mit grausamer Strenge das Kommando führenden Kapitän William Bligh, rebelliert. In Lloyds Film steht Christian für die Utopie eines anderen Lebens und verkörpert den einfühlsamen Liebhaber, wie dies in der sentimentalen Liebesgeschichte zur Tahitianerin Maimiti verdeutlicht wird. Der Film folgt bis zur Ankunft auf Tahiti dem Muster der Abenteuererzählung, bei dem der Protagonist die Angriffe des Bösewichts im Rahmen seiner Möglichkeiten abwehren und die Besatzung vor ihm verteidigen muss. Seine Berechtigung als wahrer Kapitän stellt Bligh in Gefahrensituationen, wie etwa dem Sturm am Kap Horn, unter Beweis. Mit der Ankunft auf Tahiti kippt der Film dann aber ins Melodram. Schon bei der Abreise der Bounty wurde seitens der Matrosen auf die bevorstehende Begegnung mit den frei­ zügigen Tahitianerinnen verwiesen. Sie sprechen immer wieder vom erwarteten Südseeparadies und werden damit zu ‚Botenfiguren‘ der vorausgehenden Entdeckungsgeschichte. Die Anfahrt auf Tahiti ist gemäß des ‚ersten Blicks‘ und der First-Contact-Szene der frühen Reiseberichte als Moment gespannter Erwartung in Szene gesetzt. Als sich die Bounty 72 So wird beispielsweise in Lehrs Jugendroman die Situation mit den Tahitianerinnen kurz abgetan  : „Es waren unbeschreiblich schöne Monate für die jungen Männer auf der ‚Bounty‘ und für die anmutigen Geschöpfe der paradiesischen Insel.“ Hans Lehr  : Meuterei vor Tahiti, Düsseldorf 1950, S. 129. 73 Der von Charles Bernard Nordhoff und James Norman Hall gemeinsam verfasste Roman Mutiny on the Bounty, Boston 1932, wurde unter dem Titel Die Meuterei auf der Bounty ins Deutsche übersetzt. Er war der Auftakt der sogenannten Bounty-Trilogie  ; es folgten 1933 Men Against the Sea (Männer gegen das Meer) sowie 1934 Pitcairn’s Island (Pitcairns Insel).

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dem Strand nähert, wird sie von Kanus umringt, tahitianische Frauen und Männer entern das Schiff und legen den Besatzungsmitgliedern Blumenketten um den Hals. Auch mit dem ersten Landgang wird an frühere Expeditionsfahrten angeknüpft, denn der tahitianische König erkennt Bligh von seinem früheren Aufenthalt auf der Insel und erkundigt sich nach seinem „Freund“ Kapitän Cook, von dem er sogar ein Bild zeigt. Während die Matrosen sofort ihren Blick auf die tahitianischen Frauen richten, wird Christian während eines Festes, bei dem aufreizende Tänze vorgeführt werden, von Maimiti so lange durch insistierenden Blickkontakt zum Liebesspiel aufgefordert, bis er ihr ins dichte Blätterwerk der üppigen Vegetation folgt. Um zu verdeutlichen, wie sehr Christian durch den monatelangen Aufenthalt auf der Insel seiner Geliebten zugetan ist, lässt er ihr durch den Übersetzer Roger Byram übermitteln, dass er nach Beendigung der Reise zu ihr zurückkehren werde. Nach der Meuterei lebt er mit ihr und einem Kind auf Tahiti, bis er aus der Idylle fliehen muss und mit der Schar von Getreuen nach Pitcairn segelt. Mit dem Brand der Bounty verlässt der Film den Erzählstrang um Christian und wendet sich nun dem heimgekehrten Byram zu, der, gleich einem Boten, über die Hintergründe der Meuterei berichtet und damit Christians heroische Tat übermittelt. Während in diesem erfolgreichen Schwarz-Weiß-Film Christian als Abenteurer und Charmeur dargestellt wird, der sich für Mitmenschlichkeit einsetzt, wird diese Figur in der ersten Farbverfilmung des Stoffes aus dem Jahre 1962 zum charismatischen Frauenverführer Christian (Marlon Brando), der sich den disziplinarischen Regeln seines Gegenspielers Bligh (Trevor Howard) entwindet. Als Erzählerfigur wird der mitreisende Botaniker eingeführt, dessen Stimme aus dem Off die paradiesische Insel ankündigt, das Geschehen kommentiert und Blighs harte Führung an Bord verurteilt. Auch hier wird also durch Figurengestaltung, Kameraführung und Erzählstimme für Christian Partei ergriffen. Während dieser zu Beginn des Films als Bonvivant mit Frauen der Gesellschaft im Hafen von Portsmouth eintrifft, gewinnt er im Verlauf der Handlung Heldenstatus. Bereits während der stürmischen Fahrt am Kap Horn wird Christian dann als überlegener Seemann profiliert, gegen den Bligh sich allein durch seinen übergeordneten Rang und drakonische Strafen durchzusetzen vermag. Als der Anker der Bounty in Großaufnahme auf den Meeresgrund herabgelassen wird, begeben sich die Tahitianer in ihre Kanus, um das Schiff zu begrüßen. Auch diese, nach dem durch die Reiseberichte bekannten Muster inszenierte First-Contact-Szene ist bereits als Annäherung an die Frauen der Insel gestaltet. Die Matrosen gesellen sich alsbald im Wasser zu spärlich bekleideten Tahitianerinnen, die Fische zusammentreiben. Nur Christian wird von Bligh aufgefordert, auf dem Schiff Wache zu halten. Erst beim Fest, das der König für die Gäste veranstaltet und bei dem Maimiti aufreizend vor Christian tanzt, wird er wiederum durch ihren Blick aufgefordert, sich mit ihr ins Gebüsch zurückzuziehen. Sein Vorhaben, ihr das Küssen auf europäische Weise beizubringen, kommentiert er ironisch mit den Worten „heute keine Lehrstunde“, als Bligh ihn auffordert, aufs Schiff zu gehen. Demgegenüber beschreibt der Erzähler das Geschehen auf Tahiti mit kritischer Ernsthaf-

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tigkeit, indem er beispielsweise andeutet, dass auf Tahiti auch jeder noch so hässliche Matrose verehrt werde, da die Frauen der Liebe dienten. Zwar verspricht Christian auch in diesem Film beim Abschied, dass er wiederkommen werde, aber er sucht hier aktiv nach drei desertierten Matrosen und macht ihnen klar, dass es für Europäer keine Möglichkeit gibt, auf der Insel zu bleiben. Selbst als er zurückkehrt und mit Maimiti und einer Gruppe nach Pitcairn flüchtet, überfallen ihn immer wieder Zweifel, ob ein Leben in der Südsee für ihn möglich ist. Am Ende stirbt Christian beim Versuch, den Sextanten, der eine Rückkehr nach Europa ermöglichen könnte, aus der brennenden Bounty zu retten, und Bligh wird trotz Freispruchs für seine grausame Handlungsweise auf dem Schiff getadelt. Das für den Golden Globe und in sieben Kategorien für den Oscar nominierte Remake orientiert sich wie sein Vorgänger aus dem Jahre 1935 an Nordhoffs und Halls Roman und begründet die Meuterei durch Christians Auflehnung gegen Blighs Gewaltherrschaft an Bord, während die Beziehung zu Maimiti lediglich als verstärkendes Moment seiner Rebellion dient. Ganz andere Akzente setzt demgegenüber die Neuverfilmung von Roger Donaldson aus dem Jahre 1984, die auf dem Buch The Bounty von Richard Hough basiert. Denn nun werden die Ereignisse aus der Perspektive von Bligh (Anthony Hopkins) dargestellt, der sich in der Rahmenhandlung des Films vor der Admiralität in London für die Meuterei verantworten muss. Der Film erzählt in Rückblenden von einem eher unsicheren, von Ehrgeiz getriebenen denn grausamen Kapitän, der Christian (Mel Gibson) freundschaftlich zugetan ist und ihn obendrein nach dem Sturm am Kap Horn zum ersten Offizier befördert. Der Umschlag im Verhältnis der beiden ungleichen Männer erfolgt mit der Ankunft auf Tahiti. So ist in diesem Film die First-Contact-Szene besonders deutlich auf die Begegnung mit den Frauen zentriert. Die bereits während der Reise seitens der Matrosen immer wieder herbeigewünschten freizügigen Tahitianerinnen zeigen sich schon bei der Anfahrt zum Strand. In den Kanus der Inselbewohner sind die barbusigen Frauen nicht nur gut sichtbar positioniert, sie kommen auch umgehend an Bord und umarmen die Matrosen. Eine Frau des Häuptlings wird Bligh sogar zwecks umgehender Begattung in die Kajüte gesandt, doch dieser weiß sich dem Geschlechtsakt mit der Matrone durch List zu entziehen. Demgegenüber wird die Verwandlung Christians durch die Liebesbeziehung mit einer jungen Tahitianerin namens Mauatua ausführlich in Szene gesetzt. In deutlichen Bildern sucht dieser Film die Begründung für die Meuterei in der sexuellen Freizügigkeit und Offenheit auf Tahiti. Als Bligh seitens der Admiralität in London gefragt wird, ob die Mannschaft Zeuge von anstößigen Zeremonien gewesen sei, antwortet er mit „Ja“, woraufhin ein kultischer Tanz eingeblendet wird. Die Kamera greift den Blick der beobachtenden Seeleute auf, indem sie in Großaufnahme auf die Hüftbewegungen der im Halbdunkel tanzenden, mit kurzen Baströckchen bekleideten, tahitianischen Frauen gerichtet ist. Als ein junges Mädchen und ein Mann durch die tanzende Gruppe hochgehoben und auf dem Boden aufeinander gelegt werden, feuern die Umstehenden die zum Paar Vereinten mit rhythmischem Rufen an, während Christian durch den Blick Mauatuas angezogen wird und ihr ins Gebüsch folgt.

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Indem Christian seine Schiffsuniform ablegt, nur noch in legerer Kleidung und mit freiem Oberkörper herumgeht, sich tätowieren lässt und erst nach Wochen widerwillig auf die Bounty zurückkehrt, wird gegenüber den vorigen Verfilmungen betont, dass sich der europäische Seemann in der tahitianischen Welt verloren hat. Er wird geradezu von einem anarchischen ‚Tahiti-Koller‘ befallen, der es ihm unmöglich macht, in die hierarchisch organisierte Welt an Bord zurückzukehren. Er bewegt sich auf dem Schiff wie in Trance, bleibt für die Befehle und Ermahnungen Blighs taub und erwägt sogar, sich umzubringen. Schließlich lässt er sich von aufrührerischen Matrosen zur Meuterei treiben, an deren Sinnhaftigkeit er auch nach der Flucht nach Pitcairn zweifelt. Der Film, der einen psychologisierenden Zugang zum tradierten Stoff wählt, endet mit dem Brand der Bounty und einer Texteinblendung, die den Bogen von den Ereignissen am Ende des 18. Jahrhunderts zur Gegenwart zu spannen sucht  : „Was aus Fletcher Christian wurde, ist ungewiß. 18 Jahre später wurde die Insel von einem amerikanischen Walschiff aufgespürt. Man fand nur John Adams mit neun Frauen und 23 Kindern. Die Nachfahren von Fletcher Christian leben bis heute auf der Pitcairn Insel.“74 Die ‚bildlichen Nachfahren‘ von der Meuterei auf der Bounty leben in den SpielfilmProduktionen in besonderer Weise fort, weil die seit den frühen Reiseberichten zu Tahiti ausgebildeten Narrative der Annäherung als ‚wiederholte Entdeckungen‘ hier besonders eindrücklich in Szene gesetzt werden. Es ist der erste Blick auf die landschaftliche Schönheit der Insel, der durch die Kameraführung von der Mannschaft aufs Ufer als Augenblick gespannter Erwartung und gesteigerter Sinnlichkeit in üppigen Farben und mit emphatischer Musikuntermalung herausgehoben wird. Durch die sich vom Ufer abstoßenden, der Bounty entgegenfahrenden Kanus und die freudige Begrüßung zwischen Tahitianern und europäischen Seeleuten, wird die Szene der Erstbegegnung als maritimes Begegnungsfest inszeniert. Dabei wird die sich dramatisch aufgipfelnde symphonische Musikunter­malung durch Trommelklänge und Begrüßungsrufe überlagert. Ihren Höhepunkt findet diese filmisch umgesetzte Annäherung an Tahiti in den dann folgenden, durch rhythmische Trommelmusik begleiteten, ekstatischen Tanzsequenzen, in denen der Protagonist einem schönen tahitianischen Mädchen – und damit der Insel – verfällt. Durch diese Muster filmischer Narration wird deutlich, dass der Mythos Tahiti selbst erst durch ritualisierte Sequenzen der Annäherung performativ hervorgebracht werden kann. Von solchen Formen einer ‚wiederholten Entdeckung‘, von der Inszenierung eines ‚Wie-zum-ersten-Mal‘ gerade vermittels überkommener Bilder und Muster sind zeitgenössische Texte wie Das Tahiti Projekt von Fleck keinesfalls frei. Auch hier kommt der Erzähler nicht ohne die 74 Fletcher Christian hatte die Südseeinsel Pitcairn ursprünglich mit acht Meuterern, sechs Männern von Tahiti und der benachbarten Insel Tubuai sowie zwölf tahitianischen Frauen besiedelt. Bis heute leben Nachfahren dieser Bevölkerungsgruppe auf der Insel. Der 23. Januar, der Tag, an dem die Bounty verbrannte, wird bis heute mit dem Abfackeln einer Schiffsnachbildung als ‚Bounty-Tag‘ gefeiert. Vgl. hierzu auch : Alexander  : Die Bounty.

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Beschreibung des Blicks auf die exotische Landschaft und die Hüftschwünge der Frauen aus, welche „die Baströckchen ins Zittern“75 bringen. Am Ende fällt er mit der Begleiterin Mavea – soviel muss offenbar bei allem ökologischen Enthusiasmus sein – auch noch kitschgerecht in den Sand, der von der „aufsteigenden Sonne bereits angenehm gewärmt“76 worden ist. Demgegenüber fällt Hoppes Erzählerin auf Tahiti lediglich erschöpft vom Fahrrad und ist froh, den Besuch der Insel hinter sich gebracht zu haben und wieder an Bord zu sein  : „Als ich endlich wieder schwankenden Boden unter den Füßen hatte, riß ich mir erleichtert den Kranz vom Kopf“, heißt es hier.77 Auf der Schiffsreise dieser Erzählerin wird der Mythos Tahiti gesucht und bleibt dennoch unauffindbar, auf der Weltkarte ihrer Navigation bleibt zu kartographieren  : Terra Incognita. Und doch, oder gerade deshalb, wird die Suche in immer neuen medialen Transformationen weitergehen, weil so etwas wie die Insel „TAHITI  !“ auch schon immer unentdeckt geblieben sein muss, um in ‚wiederholten Entdeckungen‘ je neu ge- und erfunden werden zu können.

75 Fleck  : Das Tahiti Projekt, S. 113. 76 Ebd., S. 323. 77 Hoppe  : Pigafetta, S. 77f. In Hoppes Roman wird der Klempner auf Tahiti zurückgelassen, da er sich zu lange bei seinen Freundinnen tummelt und die Abreise des Schiffes versäumt. Es gibt auch eine Meuterei auf dem Schiff, die sich auf die unsachgemäße Bekleidung bezieht, die in den Bounty-Verfilmungen immer wieder zum Zeichen der fehlenden Disziplin wird. Ein Passagier reißt sich „in der Offiziersmesse vor Zorn das Hemd von der Brust“ und verstößt damit „gegen eine der hier herrschenden Grundregeln“, die da lautet  : „Auf Schiffen sich immer bedeckt halten und niemals mit freiem Oberkörper auf die Brücke, in die Küche, in die Messe  !“ Ebd., S. 143.

Sabine Zubarik

Vom Verstecken und Wiederausgraben Alex Capus/Robert Louis Stevenson

1. Zwei Schatzinseln Schatzinseln, so ließe sich zunächst vermuten, gehören ins 18. und 19. Jahrhundert, wo sie Hochkonjunktur hatten – weil auch das, was sie notwendig macht, seine Hochphase erlebte  : Piraterie, Freibeuterei und der Streit um die Kolonialmacht im mittleren und südlichen Amerika. Darf man den Berichten glauben, so schien kein größeres Schiff, ob mit oder ohne wertvolle Fracht, vor Überfällen sicher zu sein und Namen berüchtigter Piraten wie Edward Davis, Kapitän Swan und Eaton, Käpt’n Morgan, Benito Bonito und William Thompson machten Furore. Wenn soviel Gut, zumal unrechtmäßig, den Besitzer wechselt, liegt die Vorstellung nahe, dass es an möglichst abgelegenen, nur erfahrenen Seeleuten zugänglichen Orten verborgen wurde, und was käme da mehr in Frage als unbewohnte und noch schlecht kartographierte Inseln, vom Nebel verhangen und vom Dschungel überwuchert. Obwohl das Ablagern von Diebesgut auf Inseln eher einem Abenteuermythos entspricht als gängiger Piratenrealität, da Handelsschiffe meist Ware, die verderblich war, wie Zucker, Seide, Kaffee oder Tabak transportierten, was man weder vergraben noch im Meer versenken konnte, und Piraten eher danach strebten, die Beute im nächsten Hafen gegen Landeswährung zügig loszuwerden1, so nährten doch die wenigen Fälle, in denen tatsächlich davon auszugehen war, dass Münzen, Gold, Edelsteine oder sakraler Schmuck irgendwo zwischengelagert wurden, die Rede von der Schatzinsel als geheimem Lagerplatz für ungeahnte und abhanden gekommene Schätze. Cocos Island, eine vor Costa Ricas pazifischer Küste liegende Vulkaninsel, ist ein solcher Ort. Alex Capus, zu dem wir später noch kommen, beschreibt die Insel wie folgt  : Cocos Island ist schwer zu finden – so schwer, dass unter Seeleuten über Jahrhunderte das Gerücht ging, die Insel gäbe es gar nicht. Sie ist umgeben von starken und tückischen Meeresströmungen, sie steckt zu jeder Jahreszeit unter schwarzen Wolken und dichtem Nebel, der heiß ist wie Dampf, und sie hat nur eine Ausdehnung von zweitausendvierhundert Hektar […]. Von Osten, Süden und Westen her ist keine Landung möglich. Nur im Norden gibt es zwei Buchten, Waver Bay und Chatham Bay, über deren steinige Strände die Insel zugänglich ist. […] Was aber Cocos Island als Schatzinsel vor allen anderen auszeichnet, ist ihre geographische Lage 1 Vgl. Alex Capus  : Reisen im Licht der Sterne. Eine Vermutung, München 2005, S. 134.

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[…] fünfhundert Kilometer südlich von Costa Rica und achthundert Kilometer westlich von Panama  : außer Sichtweite des amerikanischen Festlands, weitab von den großen Schifffahrtsrouten und schwer zu finden, aber bei günstigem Wind in zwei bis drei Tagen zu erreichen – das ideale Hauptquartier für englische und französische Piraten, die es auf die unermesslichen Schätze Spanisch-Amerikas abgesehen hatten.2

Abb. 1: Stevensons 1881 angefertigte Karte der fiktiven Schatzinsel, erstmals veröffentlicht in der Erstausgabe von Treasure Island 1883.

Verständlich also, dass die Kokosinsel als Prototyp einer idealen Schatzinsel gesehen werden kann, jedenfalls ist sie im 19. Jahrhundert zu der Schatzinsel Nr. 1 avanciert und war entlang der pazifischen Küste, angefangen vom nördlichen Kalifornien bis hinunter ins südliche Peru, bekannt und sagenumwoben. Sprach man von Piratenschätzen, sprach man von Cocos Island. Nicht zu unrecht nennt sie Capus „die weltweit berühmteste aller Schatzinseln“3 und sogar „die Mutter aller Schatzinseln“4  ; die Rede von ihr vervielfältigte sich nämlich ebenso exponentiell wie die von ihr angefertigten Schatzkarten  :

Es kann keinen Zweifel daran geben, dass das kleine Eiland vor der Küste Costa Ricas die Mutter aller Schatzinseln ist. Nirgendwo sonst auf der Welt werden so viele vergrabene Schätze vermutet wie auf dem wenige hundert Meter langen Landstrich um Chatham Bay und Waver Bay. Wenn alle Schatzgräberkarten echt wären, die seit zweihundert Jahren in Umlauf sind und immer wieder für teures Geld gekauft, vervielfältigt und weiterverkauft wurden in düsteren Hafenkneipen, windigen Antiquariaten und schmuddeligen Matrosenunterkünften, dann müsste jeder Spatenstich ein Treffer sein.5 2 Ebd., S. 68–69. Vgl. zur Landschaftsbeschreibung der Insel auch Georg Bremer  : Die Geheimnisse der Kokosinsel, München 2009, S. 179–182  ; zum erschwerten Auffinden von Cocos Island S. 176–179 und 244. 3 Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 154. 4 Ebd., S. 74. 5 Ebd.; vgl. auch S. 81.

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Trotz mehr als 500 offizieller Suchexpeditionen seit 1821 – ganz zu schweigen von den nicht bekannt gewordenen Bergungsmaßnahmen einzelner Abenteurer – wurde auf Cocos Island bis auf wenige kleinere Wertgegenstände jedoch kein Schatz gefunden, schon gar nicht der seit 1820 verschwundene millionenschwere Kirchenschatz von Lima, den angeblich William Thompson dort vergraben hat.6 Heute ist die Insel sowohl Naturschutzgebiet und Nationalpark Costa Ricas als auch seit 1997 Weltnaturerbe der UNESCO. Ausgrabungen werden seit 1978 nicht mehr genehmigt, und auch der Aufenthalt ist von der Regierung Costa Ricas streng reglementiert und einigen wenigen zahlungskräftigen Tauchern bzw. Biologen und Forschern vorbehalten. Nichtsdestotrotz kursieren auch heute noch Karten von vermeintlichen Verstecken, ihre Verbreitung findet allerdings nicht mehr in düsteren Hafenkneipen statt, sondern wird durch moderne Medien unterstützt  : So kann man im Netz diverse Schatzkarten für Preise zwischen 20 und 40 Dollar bestellen und herunterladen.7 Eine zweite Schatzinsel, die Berühmtheit erlangte, ist literarischer Natur  : ­Robert Louis Stevensons Abenteuerroman Treasure Island, 1881 entstanden und 1883 in Buchform publiziert (vorher bereits als Fortsetzungsroman in der Londoner Jugendzeitschrift Young Folks). Der Roman ist auch heute noch ein Bestseller, und zwar nicht nur in der Sparte der Jugendliteratur. 2. Nachfahr(t)en Nun könnte man es bei der Feststellung der Popularität beider Schatzinseln bewenden lassen, denn daran ist nichts außergewöhnlich. Auch, dass Stevenson-Biographen immer wieder versucht haben, die echte Kokosinsel mit der Pirateninsel im Roman zu vergleichen und ihre Ähnlichkeiten festzustellen, ist zwar spannend und erweitert die in der Lektüre geschürte, voyeuristische Abenteuerlust zugegebenermaßen erheblich durch den Faktor des realen Bezugs – zumal durchaus anzunehmen und durch Aufzeichnungen nachzuvollziehen ist, dass Stevenson um die Kokosinsel und deren Geschichte der vielen Ver- und Ausgräber wusste.8 Über reinen Biographismus hinaus käme man dabei wohl eher nicht. Was aber von literaturwissenschaftlicher Warte aus durchaus erstaunt – und damit komme ich zum Hauptgegenstand meines Beitrags – sind die in den letzten Jahren entstandenen Publikationen um Stevenson und seine Schatzinsel(n), insbesondere Alex Capus’ 2005 erschienenes Buch Reisen im Licht der Sterne, und in Abgrenzung davon Ina 6 Zu erfolglosen Suchaktionen siehe exemplarisch ebd., S. 81–87 und Bremer  : Die Geheimnisse der Kokos­ insel, 78–80 und 300–303. 7 Siehe unter http  ://www.bc-alter.net/dfriesen/treasuremaps.htm. 8 Vgl. Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 46 und 65  ; Bremer  : Die Geheimnisse der Kokosinsel, S. 78–79  ; Ina Knobloch  : Das Geheimnis der Schatzinsel, Hamburg 2009, S. 169–191.

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Knoblochs Das Geheimnis der Schatzinsel von 2009, gefolgt im selben Jahr von Georg Bremers Die Geheimnisse der Kokosinsel, neben weiteren Werken, die sich mit Piraterie und Schatzinseln im Allgemeinen beschäftigen, und Fernsehsendungen zum Thema. Knoblochs und Capus’ Titel sprechen für sich  : Capus verleiht seinem Werk den Beititel Eine Vermutung und betont damit den hypothetischen Charakter seiner Thesen. Seine Vermutung – die auf Nachforschungen von Walter Hurni basiert – besteht darin, dass die literarische Schatz­ suche von Stevenson’s Held Jim nach dem Piratenschatz von Käpt’n Flint in Treasure Island ein reales Double fand in Stevensons eigenem Leben während seiner Zeit in der Südsee, wo er zu unerwartetem Reichtum gelangte, und auf Apia, der Hauptstadt von Samoa, in unmittelbarer Nähe zu einer weiteren Kokosinsel lebte, nämlich der Nachbarinsel Tafahi, die zu Zeiten Stevensons noch als Cocos Eylandt in den Karten verzeichnet war. Abb. 2: Historische Karte von Tafahi (Cocos Eylandt). Dagegen verspricht Knobloch im UnAutor unbekannt. tertitel die Aufklärung des in der ersten Titelhälfte (Das Geheimnis der Schatz­insel) aufgerufenen Geheimnisses  : Robert Louis Stevenson und die Kokosinsel – einem Mythos auf der Spur. Dass dabei die Schatzinsel, also Stevensons literarische und Cocos Island als identisch postuliert werden, verrät die Verknüpfung des ersten und des mittleren Teils des Titels. Verräterisch scheint allerdings, dass es sich auch bei Knobloch immerhin um einen Mythos handelt, dem sie auf der Spur ist, und nicht um die Wahrheit selbst. Es wird demnach zu zeigen sein, ob nicht vielmehr Knobloch einen Mythos produziert statt ihm auf der Spur zu sein, wenn sie einzelne Piratengeschichten, Zeugenaussagen, Zeitungsartikel und eigene Mutmaßungen zu ihrem ganz eigenen – man verzeihe die allzu naheliegende Metapher – Seemannsgarn verwebt. Sowohl Capus als auch Knobloch reisten ihrem Untersuchungsgegenstand nach und schrieben ihre Bücher, zumindest fiktiv, als reisende Erzähler, von unterwegs. Sie sind keine Schreibtischexpediteure, sie machen sich nichts aus Alberto Manguels Weisheit, die er in seiner 2003 erschienenen Erzählung Stevenson unter Palmen seinem Titelhelden in

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den Mund gelegt hat, „ein Verfasser abenteuerlicher Bücher müsse kein abenteuerliches Leben führen. Man schreibe keine besseren Romane, wenn man lerne, Bäume zu fällen und Hasen zu häuten.“9 Capus und Knobloch forschen und erzählen vor Ort. Capus reiste nach England, Neuseeland, Kalifornien und Samoa. Knobloch nach Costa Rica, insbesondere dreimal nach Cocos Island, Florida, Neufundland, Kalifornien, Schottland und Davos in der Schweiz. Dem vielleicht schon immer utopischen Normalfall des procedere von Reiseliteratur – nämlich erst Reise, dann Literatur – stehen hier Fälle von komplexen Reise- und Schreibbewegungen gegenüber  : Das Nachreisen von literarischen Zeugnissen geht Hand in Hand mit der Literarisierung von sowohl fremden wie auch eigenen Reisen. Literatur dient als Anregung zum Reisen, was wiederum als Anregung zur Produktion neuer Literatur dient. Während Capus sein eigenes Reisen nicht zum Mittelpunkt seines Romans macht und es nur eingangs im Vorwort explizit erwähnt, das mit „Apia, Samoa, 12. Juli 2004“ unterschrieben ist, jedoch von einer ganz anderen Fahrt handelt, einem Küstenausflug mit Vater und Großvater in der Normandie im Jahr 1964, macht Knobloch ihre Reisebewegungen zum festen Bestandteil ihres Buches, indem die verschiedenen Reisen und Etappen als Leitfaden für die Kapiteleinteilung dienen ; aber auch der Text selbst enthält großteils Beschreibungen der Ereignisse auf Überfahrten, Schiffs- und Inselaufenthalten und die Dokumentation der eigenen Forschungsbemühungen. Ängste, Hoffnungen und körperliche Strapazen werden parallel geführt mit den geschichtlichen Nacherzählungen. Knobloch macht sich dabei selbst zur Heldin ihres Buches. Es scheint, als stünde doch nicht so sehr das Geheimnis um die Schatzinsel im Vordergrund als vielmehr die eigene Abenteuerlust. 3. In den Fußstapfen anderer So wie auf Cocos Island sich die Schatzgräber einander die Schaufel in die Hand gaben und kaum ein Fleckchen zugänglicher Boden nicht gründlich umgedreht wurde, so stand auch Alex Capus, als er Reisen im Licht der Sterne verfasste, nicht auf unberührtem Gebiet, sondern eher auf einem vielfach beackerten Feld. Denn ein Beitrag zu Robert Louis Stevensons Leben und Wirken war auf literarisch-biografischem Gebiet nur einer mehr unter bereits zahlreich existierenden Titeln.10 Kaum besser ging es Knobloch 4 Jahre später, nachdem nicht nur Capus’ Titel, den sie übrigens vollkommen unerwähnt lässt, sondern auch noch einige andere Werke zu Stevenson wie auch zur Kokosinsel erschienen sind. Es sei hier nur kurz erwähnt, dass Knobloch keinerlei Literaturverzeichnis noch Quellen­ angaben im Text anführt, obwohl sie offenkundig von vielerlei Vorgängern profitiert, eben   9 Alberto Manguel  : Stevenson unter Palmen, Frankfurt/M. 2003, S. 46–47. 10 Siehe die Literaturverzeichnisse in Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S.  229–233, und Bremer  : Die Geheimnisse der Kokosinsel, S. 455–469.

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auch von Capus. Dieser wiederum weist akribisch seine Quellen nach, nicht nur im Text, mit genauer Seitenangabe in Endnoten, sondern auch in einer gesonderten Bibliographie am Ende des Buches. Die Gefahr des biographischen Nachforschens besteht nun aber darin, den immer gleichen Spuren nachzugehen, Bahnen weiter auszutreten, die vorherige Biographen geebnet haben – als wäre das, was immer wieder nachgeschrieben wird, verbürgter als dessen erstmalige Feststellung. Errungenschaften der Vorgänger werden so übernommen, oft wortwörtlich oder mit denselben Schlussfolgerungen. Man kann nun einerseits dort graben, wo andere eben noch nicht waren, nach unentdeckten Details und neuen Kontextualisierungen des bereits Vorhandenen suchen, indem man Quellen aus dem weiteren Umfeld dazuzieht oder die zeitlichen und örtlichen Umstände wie gesellschaftliche und politische Ereignisse oder geographische Zusammenhänge erfahrbar macht – so, wie das Knobloch tut. Die Errungenschaft kann aber auch konkret in der Feststellung bestehen, dass es zu diesem oder jenem Tatbestand wirklich nichts Näheres zu finden gibt und einige Ungereimtheiten wohl ewig ein Geheimnis bleiben werden. So nährt sich Capus’ These, ganz im Gegensatz zu Knoblochs Vorgehensweise des Jagens nach Hinweisen, gerade aus dem Fehlen derselben. Er zieht Schlüsse aus dem, was er nicht findet. Die Abwesenheit von der Rede über bestimmte Dinge ist aufschlussreicher als die beiläufige oder explizite Rede von ihnen. Stevensons Leben ist mehr als gut dokumentiert, durch seine eigenen Aufzeichnungen, sowie denen von Familienmitgliedern und engen Bekannten, durch Nachlässe von Briefen und Notizen, und durch Biographien, verfasst von ihm vertrauten Personen – schon kurze Zeit nach Stevensons Ableben. Nun sind es aber gerade alle Details, die mit der ‚echten‘ Schatzinsel zu tun haben, die laut Capus unerwähnt bleiben. Ihre völlige Aussparung scheint ihm verdächtig. So sei z.B. nichts darüber zu finden, warum Stevensons Hund Woggle von einem Moment zum anderen in Bogue umgetauft wurde. Capus, der die Nichtgeläufigkeit des Namens zu Stevensons Zeit und Umfeld und die Nichterwähnung in seinem literarischen Werk herausstellt, sowie die Umständlichkeit überhaupt, einen Familienhund umzubenennen, belässt Stevenson nur scheinbar das Geheimnis mit dem Zugeständnis „wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben“11, um im nächsten Absatz zu einer Aussage darüber zu kommen  : Auch wenn Louis hundertmal geschworen hat, dass „Die Schatzinsel“ kein reales Vorbild habe, so kann doch der Name, den er seinem Hund verpasste, kaum anders denn als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Stevenson die Geschichte von Cocos Island sehr genau kannte. Denn Bogue ist […] der Name jenes Mannes, der seine Treue zum Schatzsucher John Keating mit dem Leben bezahlte, als er vor Cocos Island entweder über Bord geworfen, erschossen oder 11 Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 103.

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lebendigen Leibes in der Goldhöhle begraben wurde, und dessen Skelett – vielleicht – bis auf den heutigen Tag den Kirchenschatz von Lima bewacht.12

(Man beachte den Hinweis auf das Skelett des realen Bogue – er wird uns später noch einmal in Stevensons Roman begegnen in selbiger Funktion  : ein toter Pirat, der den Schatz bewacht …) Überhaupt ist für Capus auffällig, wie penetrant Stevenson immer wieder auf die Fiktionalität seiner Schatzinsel verweist und jegliche reelle Vorlage verneint. Es ist nachgewiesen, dass Stevenson mit Zeitgenossen in Kontakt stand, die entweder Schatzkarten von Cocos Island besaßen, vor Ort gewesen waren, dorthin wollten oder sonst über Gerüchte davon wussten.13 In seinen Schriften aber spart er alles aus, was mit der Kokosinsel zu tun hat. Kein Wort hat Robert Louis Stevenson je darüber verloren, dass er sich im Dezember 1889 sozusagen in Sichtweite einer zweiten Kokos-Insel niederließ. In seiner gesamten schriftlichen Hinterlassenschaft wird nirgends eine Kokos-Insel erwähnt, in keinem Brief und keinem Gedicht, in keiner Kurzgeschichte und in keinem seiner Südseeromane, und zwar weder die eine noch die andere, auch nicht unter dem polynesischen Namen Tafahi. Auf geradezu Misstrauen erregende Art hat Louis die südliche Nachbarinsel Samoas unerwähnt gelassen – er, dem in der gesamten Südsee kein Eiland zu abgelegen und unbedeutend sein konnte für einen Besuch und der über alle Reisen in seinen Briefen, Reportagen und Romanen stets gewissenhaft Bericht erstattete. […] Tafahi, das sozusagen vor seiner Haustür liegt, würdigt er in seiner gesamten schriftlichen Hinterlassenschaft keines Wortes.14

Wo weder Stevensons Verschwiegenheit noch die Beredtsamkeit anderer Biographen Capus Aufschluss für seine Thesen geben kann, da hilft nur noch die Reise, um die Sachlage vor Ort in Augenschein zu nehmen. So wird aus dem metaphorischen Wandern in den Fußstapfen fremder Texte und Archive in einigen Fällen ein wirkliches Wandern in den Fußstapfen des echten Stevensons  : Zu gerne würde man wissen, wieso ausgerechnet dieser Berg […] Stevensons Aufmerksamkeit dermaßen fesselte. […] Interessant ist, dass Louis, der sonst wirklich alles zu Papier brachte, was ihn bewegte, und der am liebsten alles gedruckt sah, was er zu Papier brachte – interessant ist also, dass er Mount Vaea in seinen Briefen, Romanen und Reportagen kaum eines Wortes würdigt. Und weil es kein schriftliches Zeugnis darüber gibt, was den weit gereisten Dichter an jenem unscheinbaren Hügel so sehr faszinierte, kann wohl nichts anderes weiterhelfen als ein Augenschein vor Ort. 12 Ebd. 13 Siehe Fußnote 8. 14 Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 154–155.

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Heute führen zwei bequeme Fußwege von Stevensons Haus hinauf auf den Berg  ; ein steiler, für den man etwa eine halbe Stunde benötigt, und ein sanfterer, gut doppelt so langer.15

Was es denn nun war, das Stevenson an diesem Berg faszinierte, klärt auch Capus in seiner Ortsbeschreibung nicht auf, die biographische Wissenslücke wird also nicht gefüllt. Indem uns aber Capus mitnimmt auf seine Besichtigung, setzt er, zumindest hypothetisch, die Kette der in die Fußstapfen Tretenden fort, denn nach Capus könnten es wir sein, die nach dieser Reisebeschreibung mit der noch immer fehlenden Erklärung der Bedeutung des Mount Vaea nach eben dieser suchen und die Reise antreten wollen. 4. Finden und Erfinden Von Rezensenten wird Capus’ Werk als biographischer Roman bezeichnet16 – eine Betitelung, die die von jeher problematische Unterscheidung von Fakt und Fiktion zusammen arbeiten läßt. Finden und Erfinden sind die beiden Arbeitsweisen, die sich hier die Hand geben und eine produktive literarische Spannung aufbauen. Schreiben als Finden und Ausgraben ist eine Vorstellung, die auch Autoren hegen, die weder über Schatzinseln noch mit biographischem Material arbeiten. So lässt der norwegische Autor Dag Solstad seine Autorfigur im Roman Armand V. fragen  : „Ist ein Roman etwas, das bereits geschrieben wurde, und der Schriftsteller nur derjenige, der es findet und mühsam ausgräbt  ? […] Wenn ich lediglich derjenige bin, der ihn findet und ausgräbt  ?“17 Stevenson selbst hat für das biografische Arbeiten ganz klare Vorlieben  : Ich selbst mag Biografisches viel lieber als Fiktion  ; Fiktion ist zu frei. Bei Biografischem hat man eine kleine Handvoll Fakten, kleine Teile eines Puzzles, und man sitzt da und denkt nach und versucht sie auf diese und jene Weise zusammenzufügen  ; dann steht man plötzlich auf und schmeißt alles hin, sagt verdammt nochmal und geht spazieren, um sich zu beruhigen  ; und wenn man damit fertig ist, hat man das befriedigende Gefühl, etwas wirklich zum Abschluss gebracht zu haben. Natürlich ist es nie so abgeschlossen wie der mieseste aller Romane  ; denn immer und immer wieder taucht der unlogische Widersinn des Lebens darin auf, muss darin auftauchen… Aber gerade dort fängt der Spaß doch erst an.18

15 Ebd., S. 40–41. Es folgt im Weiteren die Beschreibung der Aussicht nach allen Richtungen. 16 Z.B. Lutz Bunk am 8.9.2005  : http  ://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/416065/  ; Claudio Bini am 7.3.2006  : http  ://www.buchtest.com/rezension/reisen-im-licht-der-sterne.html. 17 Dag Solstad  : Armand V.. Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman, Zürich 2008, S. 41. 18 Robert Louis Stevenson in einem Brief an Sir Edmund Gosse am 18. Juni 1893, in  : Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 217.

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Mit diesen Zeilen gibt Stevenson Anleitung zur Schatzsuche auch im literarischen Sinn. Das Auffinden von „eine[r] kleine[n] Handvoll Fakten“, das „[Z]usammen[ ]fügen“ von „kleine[n] Teile[n] eines Puzzles“ bereite in der Arbeit an Biografischem ein „befriedigendes Gefühl“. Von „Spaß“ ist die Rede, der genau darin besteht, dass etwas nicht ganz abgeschlossen werden kann – im Gegensatz zum sogar „mieseste[n] aller Romane“ – denn im Gegensatz zum Erfinden, dem der Schriftsteller selbst ein Ende setzen kann, indem er seine Erfindung schlichtweg abschließt, liegt es beim Finden nicht in der Macht des Suchenden, ob, wieviel und wann er etwas findet, und in welchen „unlogische[n] Widersinn“ das Zusammenführen der einzelnen Funde oder das Hinzufügen von neuen Funden, die mitunter den gesamten Kontext ändern können, stürzen kann. Jeder neue Fund erweitert die Potentialitäten, wie man die Teile des Puzzles „auf diese und jene Weise zusammen[ ] fügen“ kann. Der „Spaß“, der der biografischen Arbeit innewohnt, scheint dabei demjenigen vergleichbar zu sein, dem die Schatzsucher auf den Südseeinseln so zahlreich und vehement verfallen sind, dass sie wider aller Umstände und Hindernisse nicht aufhören wollten zu graben und zu suchen. Ein vergleichbares Moment ist sicher die Spurensuche  : Ähnlich dem mit einer oder mehreren Schatzkarten ausgerüsteten Südsee-Abenteurer beginnt auch der Biograf mit einem oder mehreren Dokumenten, die ihn zunächst an die Hauptschauplätze führen, von wo aus er seine Suche startet. Man beginnt zu graben. Während der Goldsucher Schicht um Schicht von Sand und Gestein durchdringt, sein Gebiet mit der Schaufel und dem Spaten einkreist, in unbekannte Höhlen vordringt und sich die Inselverhältnisse vertraut macht, gräbt der Biograf in Schichten von Material, die nach und nach zu Tage treten. Auch er kreist sein Gebiet ein, steckt sein Feld ab, durchdringt unbetretene, sprich unveröffentlichte und vielleicht nie gelesene Schriften. Der „Spaß“ liegt bei beiden Sorten von Ausgräbern mitunter am Risiko, in belanglosem Material zu graben (Sand oder unwesentliche Papiere), auf falsche Fährten zu gelangen, relevante Spuren nicht zu entdecken oder falsch zu deuten. Dem Schatzgräber mit kindlichem Entdeckergeist, dem es nicht allein um den materiellen Wert des Fundes geht, ist die Suche alles. So verwundert es nicht, dass der Moment der Schatzansicht in Treasure Island dem Erzählen ein Ende setzt, weil das Abenteuer der Suche zu Ende ist – was danach kommt, handelt sich um bloße Schlepparbeit, wie auch Robert Fraser betont  : “Purportedly, Captain Flint’s buried treasure is the object of the quest. When it is finally discovered, safely stowed in Ben Gunn’s cave on the island, its appearance, however, seems almost anticlimactic.”19 So gehe es, das behauptet Konstantin Rifler in der taz am 10. 12. 2005, Capus letztendlich gar nicht um die „Beantwortung der Frage, ob Stevenson beinahe ein Jahrzehnt nachdem er ‚Die Schatzinsel‘ verfasst hatte, eine solche tatsächlich fand“  ; vielmehr werde man als Leser auf eine lange Reise über den Pazifik, auf die Inseln mit ihren gestrandeten Glücksrittern, den Kolonialisten, Abenteurern und Schatzsuchern, mitgenommen. „Wie 19 Robert Fraser  : Victorian Quest Romance. Stevenson, Haggard, Kipling and Conan Doyle, Plymouth 1998, S. 21.

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nebenbei enttarnt Capus dabei die Schatzsuche als unromantisches Massenphänomen und als eine Geschichte der immer wieder kehrenden Enttäuschung vieler Generationen.“ Mit genau dieser Metapher des Grabens und dem Jagdgeist, der dahintersteckt, beginnt Capus’ Reisen im Licht der Sterne. Im Vorwort, an erster Stelle, steht eine Fahrt des Erzählers ans Meer mit dem Vater und Großvater, die gemeinsam völlig wertloses Strandgut aus dem Sand scharren, Abfall und Bruchstücke, die abends wie Edelsteine behandelt werden – eine Suche, an die der Erzähler sich erinnert, just als er selbst mit seiner Frau und den drei Söhnen nach Samoa reist, um dort Splitter aus Stevensons Leben zu sammeln. Die Empfindungen dabei ähneln denen 40 Jahre davor  : […] mit der kindlichen Begeisterung des Schatzgräbers, mit der väterlichen Verlegenheit über das eigene kindische Treiben und mit der großväterlichen Scham darüber, dass ich in fremder Leute Angelegenheiten wühle, die seit hundert Jahren tot sind und sich nicht mehr wehren können.20

Ina Knobloch dagegen erfindet sich selbst als Schatzsucherin. Ihre plakative Inszenierung der eigenen Suche lässt das Bemühen, wissenschaftliche Nachforschungen zu dokumentieren und einem Mythos mit dem journalistischen Seziermesser zu Leibe zu rücken – im Gegensatz zu Capus, der durchaus bewusst Literatur schreibt – ins Gegenteil schlagen  : Knoblochs vermeintliches Wissen um den Schatz scheint dem Leser nur ein weiterer Mythos in der Reihe der Schatzgräber zu sein. Im Anhang, dem Abriss der Geschichte der Kokosinsel im Überblick, schreibt sie sich mit den Worten „1988 Meine erste Expedition zur Kokosinsel“ selbst in die Inselgeschichte als entscheidendes Kettenglied der prominentesten Besucher (neben Charles Darwin und Präsident Roosevelt) mit ein.21 Nicht ums Suchen, allein ums Finden geht es dabei, wie Knobloch in einem Interview bestätigt  : „Es gibt Schatzjäger und Schatzfinder, ich gehöre zu Letzteren.“22 5. Verstecken und Entdecken  : Textuelle Schatzinseln Capus hat in sein Werk, einer Collage aus Stevenson-Biographien, Südsee-Geschichte, Zeitungsartikeln, Tagebuchaufzeichnungen von Stevensons Familie, literarischen Zeugnissen und eigenen Vermutungen, zusätzlich 22 Fußnoten eingebaut. Die Tradition des historischen Romans zeigt, dass Anmerkungen und Paratexte überhaupt als die idealen Orte für ausgelagertes und verschobenes Wissen dienen. Der Fuß der Seite oder das Ende des Buches scheinen ideal dafür zu sein, Fakten aus der Geschichte zu zitieren und somit die 20 Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 9. 21 Knobloch  : Das Geheimnis der Schatzinsel, S. 221. 22 Deutschlandradio Kultur am 19.3.2009  : http  ://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/937049/.

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Verankerung des Werks in historischer Wahrheit zu verbürgen. Zum einen zeigt der Autor dadurch seine Kenntnis des Materials, zum anderen liefert er dem Leser Kontexte, aber auch Details, Nebengeschichten, die Anknüpfung an Forschung und mitunter Sekundärliteratur. Ein Roman aber ist eine Geschichte, nicht ein Geschichtsbuch, und so werden Nachweise, Vermerke und Sekundärmaterial so weit wie möglich bis ganz aus dem Erzähltext herausgehalten und in die Kommentarebene verfrachtet, wo sie der kritische Leser zur Beglaubigung der historischen Wahrhaftigkeit rezipieren kann, oder, so er es auf die ungebrochene Lektüre der Erzählung abgesehen hat, eben nicht. Wissen ist für die Lektüre eines historischen Romans peripher, und so ist an seiner Peripherie auch das Wissen am besten aufgehoben. Damit arbeitet dieser Rand aber in einer Art Doppelbewegung und noch dazu in einer frappierenden Verdrehung  : Er steht erstens als Zwischenstück zwischen Geschichte als story und Geschichte als history. An dieser Stelle strahlt er die jeweiligen Eigenschaften zur je anderen Seite hin aus. So wird zum einen die Fiktionalität von Geschichte als history reflektiert, nämlich genau dadurch, dass sie in einem fiktionalen Text, einem Roman, auftaucht, und zwar selbst in Form von Vertextung, entweder in Sekundärliteratur, Forschungsschriften, überlieferten Anekdoten oder anderen auf Papier hinterlassenen Fakten. Was auf dem Papier steht, hat jemand geschrieben, dessen Kenntnisstand weder auktorial erhaben noch nicht subjektiv gefärbt sein kann. (Die Angreifbarkeit der ‚Objektivität von Historiographischem‘ ist hinlänglich bekannt). Zum anderen schlägt diese Bewegung auch auf der anderen Seite an, indem jede Fiktion allein durch das Verfahren des Schreibens zum Faktischen wird. An der Schnittstelle der Fußnote, die nach innen in Richtung Fiktion zeigt und nach außen in Richtung Faktisches, überlappen Geschichte (story) und Geschichte (history) und werden zu einer Arbeit, die zwischen der Bemühung um Wahrheit und Fiktion verhandelt und als Amalgamat eine Bemühung um Wahrscheinlichkeit hervorbringt. So sind Überschriften wie die des dritten Kapitels, „Die Geschichte von Fanny und Louis“23, durchaus in diesem Sinne zu verstehen, als geschichtliche Erhebung der Beziehung, aber auch als literarischer Stoff, als zusammenfügbare Erzählung. Capus macht sich die reichhaltige Forschungslage seines Untersuchungsobjekts – Stevenson und seine sowohl fiktive als auch reale Schatzinsel – nicht nur implizit zunutze, indem er ‚darum herum‘ schreibt, sondern baut ganze Versatzstücke aus hinterlassenen Tagebüchern, Briefen, und Zeitungsartikeln in seinen Erzähltext mit ein. Er gibt gar nicht erst vor, eine große Geschichte zu erfinden, sondern verbindet lediglich beschriebene Lebensmomente und Zeitzeugnisse in einen fließenden Strang von Ereignissen, die miteinander in Verbindung stehen. Die Verwendung der Fußnoten als ausschließlicher Ort der Wahrheitsverbürgung und Bescheinigung der Kenntnis des Materials findet bei Capus eine Ausweitung auf den gesamten Text. Wozu aber dienen dann noch die Fußnoten, wenn sie nicht mehr als ‚faktische Wissensinseln‘, ‚Festland von Daten‘ im fließenden Strom der literarischen Erzählung zu be23 Capus  : Reisen im Licht der Sterne, S. 43.

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Sabine Zubarik

trachten sind  ? Untersuchen wir Fußnote 16 des Romans genauer, an der das literarische Verstecken und Entdecken im biographischen Fundus deutlich wird  : Zensur am biografischen Material wird oft zum Schutz der Privatsphäre oder dem Ruf des Verstorbenen durch engste Vertraute, Familienangehörige und Mitarbeiter vorgenommen. Im Falle Stevensons nennt Capus das Beispiel der Briefe an den Freund Colvin, die Bekenntnisse Stevensons zum schief hängenden Familiensegen und Beschreibungen der heftigen Tobsuchtsanfälle seiner Gattin enthalten. Denn bei aller Zerstrittenheit hat die Familie nach außen stets gnädig den Mantel des Schweigens über die hässlichen Szenen gelegt  ; und wenn Louis in einigen wenigen Briefen an Sidney Colvin doch einmal sein Herz ausschüttete, so hat der treue Freund die Briefe sorgfältig zensiert, bevor er sie der Öffentlichkeit zugänglich machte.*

Die zugehörige Fußnote erläutert  : * Bevor Colvin Stevensons Originalbriefe in den Druck gab, überklebte er sämtliche Passagen, die einen intimen Einblick ins Familienleben gewährt hätten, erst mit einem schwarzen und dann mit einem weißen Papierstreifen. 1913 verkaufte er die derart zensierten Briefe an die Widener Collection in Harvard. Deren Verwaltung untersagte in der Folge jahrzehntelang die Entfernung der Papierstreifen, da sie um den Erhalt der darunter liegenden Tinte fürchtete. Erst 1962 gab sie ihre Einwilligung, worauf die Streifen ohne Schwierigkeiten entfernt wurden und die zitierten Passagen zum Vorschein kamen.24

Die besagten, erst später zugänglich gemachten Briefstellen, in denen Stevenson von den launenhaften Anfällen seiner Gattin Fanny schreibt, zitiert Capus wie andere Quellen im weiteren Verlauf des Haupttexts. Das Wissen aber um die Ver- und Wiederaufdeckung dieser Textstellen verfrachtet er in die Fußnote. Biografisches Wissen wurde der Öffentlichkeit jahrzehntelang vorenthalten und dann wider den Willen des Vergräbers ausgegraben. Capus wiederum stellt den Fund vor seinem Publikum aus wie auch anderes gefundenes Material  ; wie es aber zum Wissen um diese Stellen kam, das wird verwiesen, oder versteckt, abseits in die Fußnote. Das Wissen selbst wird also präsentiert  ; der Weg zu diesem Wissen, die Quelle und der Werdegang, das wiederum ist das Wissen, das sich der Leser von Capus’ Buch erst ergraben muss, indem er die Fußnoten findet, liest und den Literaturhinweisen nachgeht. Auch hier gilt das Motto ‚die Suche ist alles‘. Das neue ‚Juwel‘ sind nicht die lesbar und zugänglich gemachten Briefstellen, sondern die ‚Schatzkarte‘ – das Dokument, das gleichermaßen Vergrabung und potentielle Wiederausgrabung beinhaltet. In dem genannten Fall dient die Fußnote der Durchdringung von Materialschichten, den Sedimenten des Wissens. Sie zeigt, woher Wissen kommt, wer es verwaltet, und ist somit eine ‚Insel‘ des Meta-Wissens. 24 Ebd., S. 165–166.

Volker Mergenthaler

Lesen im Schnee auf Zuurberg (Ransmayr)

„Am 26. März [1996] hat [Christoph] Ransmayr den Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz erhalten“ und bei Gelegenheit der Verleihung eine wenig später in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel Schnee auf Zuurberg abgedruckte „Dankesrede“ gehalten.1 „Keine dieser Dankesreden, so hat Hermann Wallmann in der Süddeutschen mit kritischem Blick auf Ransmayrs Textsortenobservanz geurteilt, „ist eine Rede, Ransmayr bleibt […] Erzähler“.2 Er schreibt literarische Prosa, die er, wie in der „Weltwoche“ nachzulesen war, „als Dank­ reden für Literaturpreise“ nur „verkleidet“.3 Im Fall der Grazer Rede scheint die Ver­klei­ dung darin bestanden zu haben, dass ihr Urheber zumindest einer wichtigen Konvention des Genres noch folgt  : Er kommt nämlich auf denjenigen zu sprechen, nach dem der Preis benannt ist.4 Franz Nabl, ein von 1905 an fast sieben Jahrzehnte lang produktiver österreichischer Dichter, ist heute nur wenigen noch ein Begriff. Von sich reden gemacht hat er zu Lebzeiten mit eindringlichen, gleichsam ethnographischen Studien österreichischer Milieus.5 Zwei Werke werden zumeist genannt  : ein 1911 erschienener Roman Ö ­ dhof. ­Bilder aus den Kreisen der Familie Arlet und ein sechs Jahre später veröffentlichter  : Das Grab des Lebendigen. Den zweiten Roman hat Nabl 1936 noch einmal, und zwar unter dem vom Odium literarischer Décadence befreiten Titel Die Ortliebschen Frauen auf den Markt gebracht.6 Mit Nabl selbst befasst Ransmayr sich allerdings nur sehr kurz. Das Interesse verlagert sich umgehend von der Person auf ihre literarischen Texte, insbesondere auf den besagten Roman über Die Ortliebschen Frauen. Ich […] las in einem Roman des Erzählers Franz Nabl, der seinem Publikum an anderer Stelle geraten hatte  : „Der Mensch soll nur an einer Stätte leben, er soll diese Stätte kennen zu allen Zeiten und zu allen Stunden.“ 1 Redaktioneller Hinweis in  : Neue Zürcher Zeitung, Nr. 92, 20./21.4.1996, S. 65. 2 Hermann Wallmann  : Terimakasaih. Christoph Ransmayr und das Wasserzeichen der Prosa, in  : Süddeutsche Zeitung, Nr. 50, 1.3.1997, S. 18. 3 Angela Praesent  : Sieh, das Exotische liegt so nah, in  : Die Weltwoche, Nr. 13, 27.3.1997, S. 63. 4 Zu dieser Gepflogenheit vgl. Herbert Heckmann  : Vorwort. Lob und Dank, in  : Büchner-Preis-Reden 1984–1994, hg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Stuttgart 1994, S. 7–8, hier 8. 5 Eine differenziertere Bestimmung des dichterischen Propriums von Franz Nabl, als sie in diesem einen Satz möglich ist, ermöglicht ein Blick in den von Kurt Bartsch, Gerhard Melzer und Johann Strutz herausge­ gebenen Sammelband  : Über Franz Nabl. Aufsätze, Essays, Reden, Graz/Köln/Wien 1980. 6 Franz Nabl  : Ödhof. Bilder aus den Kreisen der Familie Arlet, Bremen 1911  ; Franz Nabl  : Das Grab des Lebendigen, Berlin 1917  ; Franz Nabl  : Die Ortliebschen Frauen, Bremen 1936.

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Ich sass in der menschenleeren Lobby des Zuurberg-Hotels und wollte zwar nicht dem Rat, wohl aber der Geschichte des Erzählers folgen, während draussen, auf der von Bougainvillea umwucherten Veranda, eine flirrende Wolke aus Nachtfaltern, Schmetterlingen, Mücken und fliegenden Käfern im Lichtkegel einer gelben Schirmlampe einen Weg aus der Finsternis suchte. Cecil Jones spielte. Die Insektenwolke umwirbelte das Licht. Ich las  : Von einem „Inspektor“ namens Anton Ortlieb und von einer Familie, die sich gegen die Welt und alles Fremde verschanzte, um zu bewahren, was nicht zu bewahren war.7

Die Lektüre von Nabls Roman nun erfolgt in einer für die literarische Wiederaneignung von Reiseberichten und Reiseliteratur überaus aufschlussreichen Weise  : im spannungs­ reichen Bezug nämlich zum freilich textuell präfigurierten Ort des Lesens  : dem „Zuurberg-Hotel“. Das besagte Etablissement liegt an einer von Wolfsmilchgestrüpp, Proteen und Aloen gesäumten Passstrasse, die das zentrale Hochland Südafrikas mit der Pazifikküste verbindet. Auf dieser steilen Schotterstrasse […] reisten schon im vorigen Jahrhundert Missionare, Händler und Goldschürfer und nach ihnen auch Sommergäste aus Port Elizabeth, die in offenen Kutschen aus der Januarhitze der Küstenregion in die von Yellowwood- und Eukalyptusbäumen beschatteten Höhen flüchteten. So wurde das Zuurberg-Hotel mit seinen Veranden und grasgedeckten Rundhäusern für jeden Reisenden, der etwa über den Elefantenkopfpass ins Hochland oder auf dem gleichen Weg wieder zurück ans Meer wollte, eine Zuflucht tief im Irgendwo, ein weithin bekannter Ort in der Wildnis. (215)

Von den Europäern entdeckt und formal in Besitz genommen worden ist die Region um das Kap zwar bereits 1488 unter der Führung des portugiesischen Seefahrers Bartolomeu Dias. Die ‚Be-schriftung‘ der Terra incognita8 erfolgt allerdings erst erheblich später, und zwar mit der durch die niederländische „Vereenigde Oostindische Compagnie“ vorangetriebenen Besiedelung des Landstrichs. Seither wird über Südafrika und seine Kolonisierung berichtet, zunächst von Holländern, nach deren Rückzug aus der Kapregion gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem von Briten  ; seit den 1810er Jahren über die damals gerade

7 Christoph Ransmayr  : Schnee auf Zuurberg, in  : Neue Zürcher Zeitung, Nr. 92, 20./21.4.1996, S. 66. Leichter zugänglich  : Christoph Ransmayr  : Schnee auf Zuurberg, in  : Christoph Ransmayr  : Der Weg nach Surabaya. Reportagen und kleine Prosa, Frankfurt/M. 1997, S. 215–219, hier 217f. Ich zitiere im Folgenden in Klammern im Text aus der orthographisch geringfügig abweichenden Buchfassung. 8 Daß „man“ noch zu Zeiten der niederländischen Kolonisierung „keine Charte von der Kolonie hatte, ausgenommen von denjenigen Gegenden, welche unmittelbar am Cap lagen“, registriert  : Allgemeine Geographische Ephemeriden. Verfasset von einer Gesellschaft von Gelehrten, und herausgegeben von A[dam] C[hristian] Gaspari und F[riedrich] J[ustin] Bertuch. Siebenter Band. Mit Kupfern und Charten. Weimar, im Verlage des Industrie-Comptoirs. 1801, S. 348.

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aufgenommene Missionsarbeit nahe Zuurberg9, seit Ende der 1850er Jahre über die besagte Passstraße, ihre Fertigstellung und ihre Auswirkungen auf den Kolonialhandel10, seit Mitte der 1860er Jahre schließlich auch über Goldfunde und den anschließenden Zustrom von Prospektoren.11 Auf diesen, sei es textuellen, von zahlreichen Reiseberichten12, sei es empirisch-lebensweltlichen, von Erschließungsoffensiven gebahnten Wegen der Kolonisierung nun ist der über Flora, Geographie und Kulturgeschichte des Landstrichs bestens unterrichtete Sprecher von Ransmayrs „Dankesrede“ unterwegs. Station gemacht und ein Buch zur Hand genommen hat er im 1861 auf der Höhe des Zuurberg-Passes errichteten Hotel13, das bis lange ins 20. Jahrhundert all denjenigen zur Restauration empfohlen wurde – etwa durch das South and East African Yearbook14 –, die das Zuurberg-Gebiet be- oder durchreisen wollten. Seine Wahl fällt allerdings nicht auf Literatur, die in einer erkennbaren Beziehung zum Ort des Lesens steht und den so ostentativ an der Kultur- und Kulturationsgeschichte Südafrikas, an den Missionaren, Händlern, Goldsuchern und Reisenden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessierten Leser mit Stoff zu versorgen im Stande   9 Vgl. hierzu C[hristian] I[gnatius] Latrobe  : Journal of a Visit to South Africa, in 1815 and 1816. With some Account of the Missionary Settlements of the United Brethren, near the Cape of Good Hope. New York 1818. 10 Vgl. hierzu Cape of Good Hope. Report of the Select Committee appointed to consider the subject of railroads in this colony, Cape Town 1857. 11 Vgl. hierzu Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Aufl. Bd. 19, Leipzig/Wien 1908, s.v. Transvaal, S.  669–671, hier  670  : „Nachdem man bei Tati 1867 (Mauch ist der Entdecker) und 1870 in Lydenburg die Ausbeute begonnen, besonders aber seit 1883 die Goldfelder von De Kaap (Barberton) und Witwatersrand ( Johannesburg) Gold sowohl in Konglomeraten als auch in Quarzgängen eingesprengt gefunden hatte, setzte eine Zeit ein, welche die Ausbeute unermeßlich steigerte“  ; sowie Hendrik L. Wesseling  : Teile und herrsche. Die Aufteilung Afrikas 1880 bis 1914, Stuttgart 1999, S. 258–265. Karl Mauch’s Reisen und seine Entdeckung von Goldfeldern in Süd-Afrika, Aufnahme und Kartirung der Transvaal-Republik, in  : Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie von Dr. A. Petermann 1868, S. 145–148. 12 Gustav Fritsch  : Drei Jahre in Süd-Afrika. Reiseskizzen nach Notizen des Tagebuchs zusammengestellt. Mit zahlreichen Illustrationen nach Photographien und Originalzeichnungen des Verfassers nebst einer Übersichtskarte der aufgeführten Routen, Breslau 1868  ; W[illiam] Adams  : The Modern Voyager & Traveller through Europe, Asia, Africa, & America. Bd. 1, London 1828. 13 Vgl. hierzu  : www.addo.za/accomodation.html. 14 “Those wishing to visit the Zuurberg Pass can obtain carts at Coerney Hotel […]. Mail carts also run daily. […] Many beautiful views of the surrounding hills and forests are obtained during the ascent and the final panorama is most extensive, embracing on a clear day the whole of the low-lying country as far as the Indian Ocean, including the Winterhoek Mountains. […] From the summit the road continues over grassy tablelands to the Zuurberg Hotel and Health Resort […], a favourite resort of pleasure-seekers and invalids from all parts of South Africa. There is much scenery in the neighbourhood  ; reh-buck, bush-buck, hares and partridges are plentiful, but somewhat difficult to come at owing to the steepness of the mountain slopes and to the thick scrub with which, in some places, their sides are clothed”  ; The South and East African Year Book & Guide 35, 1929, S. 483f.

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wäre. Sie fällt nicht auf Hans Peter Hallbecks Bericht über seinen Besuch in der Mission der Brüdergemeinde zu Enon von 1820, nicht auf die Reiseberichte von John Barrows, Heinrich Lichtenstein, Thomas Pringle oder Gustav Fritsch, nicht auf den 1848 publizierten Handelsbericht von Thomas Southey, nicht auf die Memoiren des britischen Kolonialsekretärs John Montagu aus dem Jahr 1855, nicht auf die in den Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über Wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie abgedruckten Aufzeichnungen Karl Mauchs von 1868, nicht auf einschlägige Reiseliteratur jüngerer Zeit und auch nicht auf die „auf dem Teetisch der Rezeption aufliegende Zeitung“ mit dem „Bildnis Nelson Rolilhlahla Mandelas“, die „ihren Lesern in Fortsetzungen von den siebenundzwanzig Jahren zu berichten verspricht, die der Präsident als politischer Häftling auf der Gefängnisinsel Robben Island überlebt hat“ (216). Der Sprecher von Schnee auf Zuurberg gibt in der Lobby des Hotels, das so lange Zeit zur Einkehr an der besagten Passstraße – einer der Pulsadern der Kolonisierung15 – eingeladen hatte, Franz Nabls Roman über eine österreichische Kleinbürgerfamilie zu Zeiten der k.-und-k.Monarchie den Vorzug. Kaum etwas, so scheint es, liegt der von Nabls Erzählungen und Romanen etablierten Ordnung ferner, in der der Mensch zeitlebens „an einer Stätte leben“ soll, als dieses in Ransmayrs Text entworfene Szenario des Lesens  : Der vorgestellte NablLeser befindet sich „in der menschenleeren Lobby“ eines südafrikanischen Hotels, in der Fremde also, an einem Durchgangsort, und liest, während der Hotelwirt am elektrischen Piano Sid Teppers und Roy C. Bennetts „Red Roses for a Blue Lady“, einen amerikanischen Schlager, spielt, seine Graupapageien dazwischen kreischen und draußen in der Nacht vor den Fenstern Insekten sich im Lichtkegel einer Lampe versammeln. Die auf diese Weise erzeugte raum-zeitliche Spannung, die Spannung zwischen den Zeiten, über die er liest, zwischen der Kolonialzeit, der Zeit um 1900, den 1950er und 60er Jahren, und der Zeit, zu der er liest, den 1990er Jahren, und die Spannung zwischen dem Ort, über den er liest, und dem Ort, an dem er liest, bleibt für die beteiligten Ordnungen nicht ohne Auswirkung – wechselseitige Zu-, Ein- und Überschreibungen sind die Folge. Sie generieren ein so komplexes wie dynamisches semiotisches Spiel, das ich im Folgenden nachzeichnen und auf seine Funktion hin befragen möchte. Es entzündet sich an einem kurzen, in Ransmayrs Schnee auf Zuurberg aufgenommenen Passus des Nablschen Romans über Die Ortliebschen Frauen  : „Sehr seltsam“, beschrieb mir der Erzähler Franz Nabl in dieser Stunde die Ortliebsche Familie  : „Sehr seltsam erschien es, dass diese Menschen, die so ausschliesslich füreinander lebten und in der Welt nichts anderes kannten als ihre engen, eigensten Verhältnisse, doch niemals einer Äus15 Vgl. Jeanette Eve/Basil Mills  : A literary guide to the Eastern Cape  : Places and Voices of Writers, Cape Town 2003, S. 102  : “For many years it was an important gateway between Port Elizabeth and the interior, dottet with outspans and staging posts. The Zuurberg Inn, at the summit of the pass, remains a popular country hotel”.

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serung herzlicher Liebe oder warmer Zärtlichkeit fähig waren. Auch solange die Kinder noch im jugendlichsten Alter standen, geschah es nicht, dass die Eltern sie streichelten oder in irgendeiner Weise liebkosten … Die einzige Berührung, die zwischen ihnen und den Eltern stattfand, geschah am Morgen und am Abend vor dem Zubettgehen, wenn sie der Mutter und dem Vater die Hand reichten und dabei mit den Lippen flüchtig und wie im Vorübergleiten ihre Wangen streiften … Auf diese Weise lag in ihrem Wesen, trotz aller gegenseitigen Anhänglichkeit aneinander, immer etwas Kaltes und Zurückhaltendes, und ein Fremder, der die Verhältnisse nicht näher kannte, hätte leicht glauben können, hier seien Menschen durch einen bösen äusseren Zwang zusammengekettet und müssten nun gleichgültig oder wohl gar in stummer Feindseligkeit nebeneinander herleben.“ Ich las und geriet mit jeder Zeile aus den Winterhoek-Bergen Südafrikas zurück in das Land, aus dem ich kam. Ich kannte solche Inspektoren, solche Familien und geschlossenen Häuser. Es war nicht nur das Ortliebsche Land, sondern auch mein Land, von dem hier berichtet wurde […]. (218)16

Die unter dem Einfluss so unterschiedlicher Sinneseindrücke erfolgende Lektüre des Nabl’schen Romans vermag den Sprecher offenbar vom Ort des Lesens an den erlesenen Ort, „von den Winterhoek-Bergen Südafrikas“ nach Österreich zu versetzen. Ein, so scheint es, schlichter Illusionierungseffekt, wie ihn literarische Prosatexte unschwer zu erreichen vermögen. Dieser ästhetische Transfer wird allerdings nicht abgeschlossen, der eine Raum durch den anderen nicht ersetzt, Südafrika nicht gelöscht, sondern lediglich überlagert. Ein merkwürdig schillernder Lese-Effekt stellt sich daher ein, der vom Text zum Thema gemacht und dessen Funktionsprinzip durchleuchtet wird. Gegenstand des von Ransmayrs Text zitierten Ausschnitts ist der mit der Familie Ortlieb in Verbindung gebrachte Anschein sozialer Kälte  ; einer offenbar milieutypischen Kälte, die dem Sprecher aus seiner österreichischen Heimat geläufig ist und sofort eine Bildvorstellung evoziert  : die Bildvorstellung des Landes nämlich, „das an diesem Freitagabend im Februar wohl unter Schnee lag“ (218). Verantwortlich für diese Bild-Evokation ist das Lemma „Kälte“, das an die Stelle des familienpsychologischen Bildfeldes ein geo-klimatisches treten lässt, die soziale Kälte umcodiert zur jahreszeitlich typischen der imaginierten Heimat – eine von der Nabl-Lektüre angestoßene Medientechnik, die konsequent weitergeführt wird und die konkurrierenden Bildkomplexe, die im Lichtkegel vor dem Zuurberg-Hotel schwirrenden Insekten und die in denselben Lichtkegel hinein-imaginierten und darin für empirisch genommenen Schneeflocken des österreichischen Winters in- und übereinanderblendet  : Und während ich dem Erzähler weiter und weiter folgte, gebannt von einer traurigen Geschichte, deren versöhnlichen Ausgang ich damals noch nicht kannte, begann sich die wirbelnde Insektenwolke draussen auf der Veranda zu verwandeln, nein, war, was sie war, ein weisses Treiben  ; Flocken  ; wirbelnder Schnee. 16 Der Passus ist entnommen aus  : Franz Nabl  : Die Ortliebschen Frauen, Bremen 1936, S. 19.

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Cecil Jones spielte […] Red Roses for a Blue Lady, und hinter den Fenstern, draussen, in einer afrikanischen Spätsommernacht, fiel der Schnee immer dichter, sank auf die Bougainvillea-Blüten, wirbelte aus den Kronen der Yellowwood-Bäume herab, auf die Grasdächer in der Finsternis, auf die Rücken der Elefanten, die sich tief unten, in der Senke von Addo, schläfrig aneinanderdrängelten, hüllte die Bergzebras ein, die ängstlich stillhielten, um diese Tarnung, die sie so weiss machte wie den Rest der Wildnis, nicht wieder zu verlieren. Afrika versank im Schnee, und ich war wieder dort, wo ich herkam, war irgendwo zwischen der Küste des Indischen Ozeans und dem nächtlichen Hochland Südafrikas, auf der Passhöhe von Zuurberg, zu Hause. (218–219)

Der Sprecher ist, was empirisch unmöglich ist, hier aber in einer bild-sprachlichen Operation erreicht wird, „zu Hause“ in Österreich und zugleich im südafrikanischen Zuurberg. Angereichert und überblendet wird das Doppelbild im Wahrnehmungs- und Imaginationshorizont des Sprechers von (während einer südafrikanischen Spätsommernacht) im Licht schwirrenden Insekten und (in einer österreichischen Winternacht) im Licht wirbelnden Schneeflocken mit einem ganzen Set von Bildäquivalenzen in Schwarz-Weiß  : angefangen beim „schwarze[n] Personal“ des Zuurberg-Hotels, das nach wie vor „die weisse Herrschaft und deren Gäste“ „bedient“ (216), über die schwarz-weiß-gestreiften Bergzebras, die vom imaginierten Schneefall nach und nach eingehüllt werden, bis hin zum Nabl’schen Roman und seinen schwarzen Lettern auf dem weißem Grund des Papiers – einem typographischen Schneegestöber, das maßgeblichen Anteil hat an dieser Urszene der Imagination. In diesem Wirbel sprachlich evozierter Bildvorstellungen kommt es zur Entdifferenzierung. Sie erfasst die in kolonialen oder rassistischen Zuschreibungen nicht aufgehende17 Opposition von Schwarz und Weiß, etwa indem sie die charakteristische Fellzeichnung der Zebras, die schwarzen Zeilen auf weißem Grund aufzulösen beginnt. Sie greift aus auf die Differenz von Heimat und Fremde, indem sie Österreich und Südafrika in ein Vexierbild zusammenfallen lässt. Sie hebt die Unterscheidung der Jahreszeiten auf, indem sie über das Bild der sommerlichen Insektenwolke in Afrika ein Bild legt vom winterlichen Schneefall in Österreich. Und sie weicht die Unterscheidung der gedruckten Buchstaben, der durch diese vorgestellten Welt, sowie der inneren und äußeren Welt des lesenden Sprechers auf, indem mit der wirbelnden Wolke heller Punkte auf dunklem Grund Folien optischen Rauschens auf das Schwarz-Weiß der materialen Druckseite gelegt werden. Wie die Bergzebras „in der Senke von Addo“ im imaginierten Schnee17 Zwar fällt der mit Österreich in Verbindung gebrachte Schnee, österreichisches Weiß, wenn man so will, auf den „schwarzen Kontinent“, doch wird darin kein hierarchisierendes Differenzparadigma begründet. Es bleibt in der Bildvorstellung vielmehr unentscheidbar, ob man es mit Schnee oder Insekten, mit Österreich oder Südafrika zu tun hat. Eine Zuordnung, die den Schneefall als Indiz einer kolonialen Einschreibung zu bestimmen suchte, von Schwarz zu Afrika und Weiß zu Österreich, griffe auch deshalb zu kurz, weil sie durch die reziproke Zuordnung des österreichischen Nabl-Textes und seiner schwarzen Lettern auf weißem Grund durchkreuzt würde.

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fall ihre Zeichnung, die so distinkt über ihr weißes Fell laufenden schwarzen Linien zu verlieren beginnen, so verlieren die schwarzen Buchstaben auf der vom Sprecher aufgeschlagenen weißen Buchseite ihren Zeichencharakter und mit diesem ihr klares Denotat.18 Dass eine solche semiotische Aufladung des Schneefalls zur Strukturmetapher der Entdifferenzierung nicht von ungefähr, das Schneetreiben, wenn man so will, nicht aus heiterem Himmel kommt, versteht sich in der Prosa eines im Spiel mit intertextuellen Verfahren so beschlagenen Autors wie Ransmayr von selbst. Im Deutungshorizont des Rezipienten wird nämlich eine weitere Folie aktiviert und in das semiotische Wirbeln aufgenommen  : das literarische Motiv des Schneetreibens. Kein bestimmter Text, so scheint es, wird aufgerufen und mit dem Prädikat der Prätextualität versehen, sondern ein aus vielen Texten, in gleichsam ungerichteter Intertextualität, sich speisender Topos. Zu denken ist an Adalbert Stifters Heiligen Abend, worin dichter Schneefall die Landschaft und die beiden sie durchwandernden Kinder in eine „einzige weiße Finsterniß“ einhüllt, in der man „wegen der gänzlichen Abwesenheit jeden Schattens […] keine Dinge als Körper“ mehr „sehen“ konnte.19 Oder an Robert Walsers Schneien – eine nur wenige Seiten umfassende Erzählung, in der ebenfalls thematisiert wird, wie der Schneefall das Prinzip der Unterscheidung aufgehoben, wie die Welt im Schneegestöber „nicht Anfang und nicht Ende“ hat, wie da, „wo ein Vielerlei und Mancherlei war, […] nur noch eines [ist], nämlich Schnee  ; und“ da, „wo Gegensätze waren, […] ein Einziges und Einiges, nämlich Schnee“ zu sehen ist und „was stark hervortrat“, im Schneefall „gedämpft“ wird.20 Zu denken ist (phonetisch ohnehin naheliegend)21 freilich auch an das „Schnee“Kapitel22 in Thomas Manns Zauberberg. Hier ist es Hans Castorp, der im Schneetreiben die Erfahrung der Entdifferenzierung macht. Anders allerdings als bei Stifter und Walser wird im Zauberberg verdeutlicht, dass diese Erfahrung die Einbildungskraft (zumindest diejenige Castorps) rege werden lassen kann  : „Es schneite still. Alles verschwamm mehr und mehr. Der Blick, in ein wattiges Nichts gehend, brach sich leicht zum Schlummer. Ein Frösteln begleitete den Augenblick des Hinüberganges […].“23 Als der in den Schlaf Entrückte wieder erwacht, muss er die „Schleier-Phantasmagorie in ihren heimlichen Wandlungen“24 18 Hierzu Bettine Menke  : Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher, in  : DVjs 74, 2000, S.  545–599  ; ferner  : dies.: Ornament, Konstellation, Gestöber, in  : Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. von Susi Kotzinger und Gabriele Rippl, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 307–326. 19 Adalbert Stifter  : Der heilige Abend, in  : Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 2,1, Stuttgart 1982, S. 137–175, hier 160. 20 Robert Walser  : Kleine Dichtungen, Prosastücke, kleine Prosa, in  : Robert Walser. Das Gesamtwerk, hg. von Jochen Greven, Genf/Hamburg 1971, S. 253–256, hier 253, 254, 255. 21 „Zuurberg“ heißt (wegen des in dieser Gegend verbreiteten sauren Grases) so viel wie „Sauerberg“. 22 Vgl. Thomas Mann  : Der Zauberberg, in  : Thomas Mann. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe, Bd. 6, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1981, S. 655–697. 23 Ebd., S. 659f. 24 Ebd., S. 660.

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erst begreifen, sich bewusst werden, „daß er nur zehn Minuten oder etwas länger hier im Schnee gelegen und so vieles an Glücks- und Schreckensbildern und waghalsigen Gedanken sich vorgefabelt hatte“.25 Ähnlich akzentuiert wird das Schneefall-Motiv in Ernst Jüngers Afrikanischen Spielen. Dort spannt sich in der Nacht frisch gefallener „Schnee wie eine flimmernde Leinwand aus“, die dem Sprecher-Ich des Textes zur Projektionsfläche einer imaginativ überformten Kindheitserinnerung gerät.26 Ein Anspielungshorizont wird allerdings, wie mir scheint, doch als solcher markiert. Zwar verfügen die eben genannten Texte – ihre Reihe ließe sich verlängern – und Ransmayrs Schnee auf Zuurberg über eine in intertextueller Hinsicht signifikante Gemeinsamkeit  ; sie greifen den Topos Schneefall in ähnlicher Akzentuierung auf, doch sind weitere Übereinstimmungen (der Afrika-Bezug bei Jünger etwa), so sich überhaupt welche verzeichnen lassen, nicht hinreichend für die Begründung klar indizierter, ausgestellter Intertextualität. Das gilt nicht für Ernest Hemingways berühmte „Long Story“ The Snows of Kilimanjaro, die 1936 im Esquire-Magazine veröffentlicht wurde.27 Sie verfügt über eine ganze Reihe auffälliger Äquivalenzen, angefangen beim Titel, insbesondere der autorisierten deutschen Übersetzung Schnee auf dem Kilimandscharo, auf den hin Ransmayrs Titel Schnee auf Zuurberg transparent ist. Thomas Manns Castorp, Stifters Sanna und Konrad, das Ich von Walsers Schneien und Jüngers Herbert Berger haben es, anders als der Sprecher von Ransmayrs Text, nicht mit imaginiertem, sondern mit wirklichem Schnee zu tun. Wie Ransmayrs Sprecher befindet sich auch Hemingways Harry im afrikanischen Busch. Er liegt mit Wundbrand im Sterben auf seinem Lager und lässt Stationen seines bewegten Lebens Revue passieren  : „den ersten Schnee auf den Bergen in Bulgarien“28, die „am Arlberg“ verbrachten „Winter“29, einen „Schneesturm“30, das „Sausen des Pulverschnees“31, „Schnee“, „so weiß, daß es den Augen wehtat“.32 Signifikanter als die von Harry auf afrikanischem Boden in Erinnerung gerufenen, imaginierten Schneebilder Österreichs, signifikanter auch als die für Afrikaliteratur nicht unüblichen Zebras, die sich bei Hemingway „weiß gegen das Grün des Busches“33 abheben, bei Ransmayr dagegen „so weiss“ sind „wie der Rest der Wildnis“, signifikanter ist eine am Ende der Erzählung mitgeteilte Bildvorstellung. Von den vorigen unterscheidet sie sich grundlegend, weil sie nicht als Erinnerung 25 Ebd., S. 696. 26 Ernst Jünger  : Afrikanische Spiele, Hamburg 1936, S. 213  ; 216f. 27 Ernest Hemingway  : The Snows of Kilimanjaro. A Long Story, in  : Esquire. The Magazine for Men, August 1936, S. 27, 194–201. 28 Ernest Hemingway  : Schnee auf dem Kilimandscharo, in  : Ders.: Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories, 11. Aufl., Reinbek 2008, S. 73–109, hier 79. 29 Ebd., S. 81. 30 Ebd., S. 80. 31 Ebd., S. 81. 32 Ebd., S. 79. 33 Ebd., S. 75.

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ausgewiesen ist, die auf ein Realsubstrat verweist, sondern als Bestandteil eines vollständig imaginierten Narrativs, nämlich des rettenden Fluges. Aus dem Flugzeug registriert Harry die afrikanische Savannenlandschaft unter sich  : Und dann […] drehten sie nach links […] und als er hinabsah, erblickte er eine treibende, rosa Wolke, die sich über den Boden bewegte und in der Luft so wie der erste Schnee in einem Schneetreiben, der von nirgendwoher kommt, und er wußte, daß die Heuschrecken von Süden heranzogen.34

In Ransmayrs Bildkomplex, in der „wirbelnde[n] Insektenwolke“, die zugleich ein „weisses Treiben“ ist, „wirbelnder Schnee“, scheint Hemingways „wie der erste Schnee im Schneetreiben“ sich darstellende „Heuschrecken“-„Wolke“ mit auf. Schnee auf Zuurberg wird auf diese Weise angereichert, das gesamte Hemingway-Narrativ mit aufgenommen in den Sog des von Ransmayrs Text eröffneten semiotischen Spiels. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei freilich das poetologische Importgut, das die im Schnee auf Zuurberg angelegte Reflexion über Dichtung schärfer konturiert. Hemingways Harry ist nämlich Schriftsteller, der im afrikanischen Busch nicht nur von Erinnerungen eingeholt wird, sondern von erinnerten „Geschichten, die er hatte schreiben wollen“35 und die zu schreiben ihm jetzt, da er stirbt, nicht mehr möglich sein wird. Schnee auf dem Kilimandscharo ist eine konsequent durchgeführte Reflexion über Dichtung und ihre Ermöglichungsbedingungen. Der am Ende des Ransmayrschen Textes mitgeteilte Bildkomplex erfährt daher, auf der Folie der Hemingwayschen Erzählung, eine entschiedene Umakzentuierung  : Dass während der Lektüre von Franz Nabls Roman über Die Ortliebschen Frauen „Afrika […] im Schnee“ versinkt und der Sprecher „wieder dort“ ist, wo er „herkam, […] irgendwo zwischen der Küste des Indischen Ozeans und dem nächtlichen Hochland Südafrikas, auf der Passhöhe von Zuurberg, zu Hause“, dass österreichische Heimat und afrikanische Fremde, Winter und Sommer, Schneetreiben und wirbelnde Insektenwolken, dass Kolonialzeit, Moderne und Gegenwart, „die neue Zeit“ (216), in eine umfassende Bildvorstellung integriert werden können, erweist sich nicht mehr nur als Imaginationsleistung des Nabl-Lesers, sondern wird kenntlich als Urszene poetischer Produktivität. Der Sprecher des Ransmayrschen Textes hat eine simple Naturerscheinung, „Nachtfalter, Schmetterlinge, Mücken und fliegende Käfer im Lichtkegel einer gelben Schirmlampe“ poetisch ausgeschlachtet, vorgeführt, wie und unter welchen Bedingungen sie in „eine flirrende Wolke“, in „wirbelnde[n] Schnee“, in ein eindringliches Bild von „zu Hause“ überführt werden kann. Ransmayr hat nicht noch einmal einen Text über Afrika geschrieben, die koloniale Beschriftung nicht fortgesetzt – im Gegenteil. Schnee auf Zuurberg, die flirrend-entdifferenzierende Wolke aus Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß löst die distinkten weißen Ein34 Ebd., S. 108  ; meine Hervorhebungen. 35 Ebd., S. 101.

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Volker Mergenthaler

tragungen in den schwarzen Kontinent gleichsam auf, überdeckt sie – wie der imaginierte Schnee die „Bergzebras“ und die „Elefanten […] tief unten, in der Senke von Addo“. „Afrika versank im Schnee“ wird damit zur Formel einer postkolonialen literarischen Begegnung mit der Fremde, die das Fremde, die Zuurberg sein lässt, „was es wohl auch für seine ersten Bewohner war“ – nicht Gegenstand der Aneignung durch die europäische Literatur, sondern „ein entlegener Ort“ (216). Über Afrika zu sprechen, wird hier anders akzentuiert  : als Sprechen nämlich über „das Ortliebsche Land“, als Sprechen über Österreich. Eine Ethik des Reisens und der Verfertigung von Reiseliteratur scheint darin auf  : Der entlegene Ort in der Fremde ermächtigt einzig zum Nachdenken über das Eigene, im Vokabular Nabls  : über die Heimat. Der vom „Erzähler“ Nabl erteilte und von Ransmayr zitierte Rat, wonach „der Mensch […] nur an einer Stätte leben“ soll, ist so verkehrt nicht. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man der von Ransmayr ausgelegten Spur in das Werk Nabls weiter folgt und das Zustandekommen dieser Einschätzung mit in Betracht zieht. Zu ihr gelangt der Protagonist einer frühen Erzählung Nabls nämlich erst, nachdem er sein Gut verlassen hat, um „ein paar Wochen an irgendeinem anderen Fleck der Erde zu verbringen“. Erst nach seiner Rückkehr kommt ihm nämlich zum Bewusstsein, dass er „eine Heimat“ hat.36 Ransmayrs Schnee auf Zuurberg lässt sich in einer solchen Perspektive wieder als „Dankesrede“ bestimmen, gehört zum Genre doch auch die Konvention, den auszusprechenden „Dank mit der Rechtfertigung“ der eigenen ästhetischen „Position vor der Öffentlichkeit, aber auch vor sich selbst“ zu verbinden und dabei die Bedeutung desjenigen für das eigene Schaffen zu beziffern, nach dem der verliehene Preis benannt ist.37 Darüber hinaus kommen wichtige Koordinaten von Ransmayrs Poetik zum Vorschein  : Reisen und über Reisen schreiben, heißt in erster Linie, eine Möglichkeit zu finden, das Eigene von der Erfahrung des anderen, Fremden her zu fassen, und diese Erfahrung poetisch produktiv zu machen. Schnee auf Zuurberg lässt also deutlich werden, dass erst der Aufenthalt in der Fremde einen ethnographischen Blick auf die „Heimat“ begründen kann und dass das in Nabls Roman evozierte Bild der Kälte Österreichs maßgeblichen Anteil hat an der semiotischen Um­ codierung im Licht schwirrender Insekten, dass somit der vom Fremden her erfolgende ethnographische Blick auf das Eigene die entscheidende Ermöglichungsbedingung poetischer Imagination bildet. Ohne die, sei es erlesene, sei es erlebte Erfahrung der Fremde gibt es eine „Heimat“ so wenig wie die poetische Transformation einer Wolke von Insekten. 36 Franz Nabl  : Charakter. Aus den Aufzeichnungen eines Landedelmannes, in  : Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 69, 1910, S. 488–499, hier 488 und 492. Der von Ransmayr zitierte Passus findet sich in diesem Text mit geringen Abweichungen. Im Wortlaut völlig übereinstimmend taucht er erst später auf, und zwar in  : Franz Nabl  : Ein Kind im Norden, in  : Ders.: Steirische Lebenswanderung, Graz/Leipzig/Wien 1938, S. 1–19, hier 2. Zum Problemfeld Heimat vgl. Gunther Gebhard/Oliver Geisler/ Steffen Schröter  : Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung, in  : Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Begriffs, hg. von Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter, Bielefeld 2007, S. 9–56, insbes. 11. 37 Heckmann  : Vorwort, S. 8.

Autorinnen und Autoren

Hansjörg Bay, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur-

wissenschaft der Universität Erfurt. Publikationen (Auswahl)  : ‚Ohne Rückkehr‘. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins ‚Hyperion‘, München  : Fink 2003  ; Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen in Europa 1750–1850, Würzburg  : Königshausen und Neumann 2006 (Mhg.)  ; Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg i.Br./Berlin  : Rombach 2006 (Mhg.)  ; Literatur und Migration, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München  : Ed. Text&Kritik 2006 (Gastred.). Aufsätze u.a. zu Hölderlin, Kleist, Kafka und Tawada, zu Fremdheit und kultureller Differenz und zu literatur- und kulturtheoretischen Fragen. Jörg Dünne, Dr. phil., Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt.

Publikationen (Auswahl)  : Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne, Tübingen  : Narr 2003  ; Raumtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 (Mhg.)  ; Automedialität, München  : Fink 2008 (Mhg.)  ; Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München  : Fink 2011. Aufsätze u.a. zu Fragen kulturwissenschaftlicher Raumtheorie, zum Verhältnis von Kartographie und Literatur bzw. Film, zur écriture de soi seit der Antike und zur Moderne als katastrophische Feerie. Axel Dunker, Dr. phil., Professor für neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte und Literatur-

theorie an der Universität Bremen. Publikationen (Auswahl)  : Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz, München  : Fink 2003  ; (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der anglo-amerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld  : Aisthesis 2005 (Hg.)  ; Literatur@Internet, Bielefeld  : Aisthesis 2006 (Mhg.)  ; Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München  : Fink 2008. Kommentierte Editionen von Texten Alfred Anderschs, Wilhelm Raabes und Gustav Meyrinks. Aufsätze u.a. zu Seume, Goethe, Arnim, Hoffmann, Kleist, Keller, Johnson, Weiss, Schmidt, Sebald und Meinecke  ; zu Interkulturalität, Medialität, Intertextualität und Gattungstheorie. Philipp Felsch, Dr. phil., Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut

für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen (Auswahl)  : Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Göttingen  : Wallstein 2007  ; Berge, eine unverständliche Leidenschaft. Buch zur Ausstellung des Alpenverein-Museums in der Hofburg Innsbruck, Wien/Bozen  : Folio 2008 (Mhg.)  ; The Laboratory of Nature – Science in the Mountains, Science in Context 22, H. 3, 2009 (Mhg.).; Wie August Petermann den Nordpol erfand, München  : Luchterhand 2010. Sabine Frost, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg ‚Mediale Historio-

graphien‘ der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena. Publikationen (Auswahl)  : Whiteout. Schnee-

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Autorinnen und Autoren

fälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800, Bielefeld  : Transcript 2011. Forschungsschwerpunkte  : Literaturtheoretische Fragestellungen, insbesondere Metaphern der Medialität/Textualität  ; ökologische Technik- und Zivilisationskritik. Rupert Gaderer, Dr. phil., zur Zeit Vertreter der Juniorprofessur Mediengeschichte der Wissen-

schaften an der Bauhaus-Universität Weimar. Publikationen (Auswahl)  : Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann, Freiburg i.Br./Berlin  : Rombach 2009  ; Hauntings I  : Narrating the Uncanny, Ed. Image&Narrative 2010 (Gastred.)  ; Phantasmata. Techniken des Unheimlichen, Wien/Berlin  : Turia&Kant 2011 (Mhg.). Aufsätze u.a. zu J. G. Seume, H. v. Kleist und E.T.A. Hoffmann  ; zur italienischen Reiseliteratur und den diskursiven Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Literatur um 1800 sowie zu literatur- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen. Ortrud Gutjahr, Dr. phil., Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Litera-

turwissenschaft an der Universität Hamburg. Jüngste Publikationen (Auswahl)  : Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007  ; Heinrich von Kleist, Würzburg  : Königshausen & Neumann 2008 (Hg.)  ; TABU. Interkulturalität und Gender, Paderborn 2008 (Mhg.)  ; ‚Nathan der Weise‘ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit Abraumhalde von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, Würzburg 2010 (Hg.)  ; ‚Das Käthchen von Heilbronn‘ und ‚Penthesilea‘ von Heinrich von Kleist. Extreme Ähnlichkeiten in Roger Vontobels Inszenierungen am Schauspielhaus Hamburg, Würzburg  : Königshausen & Neumann 2011 (Hg.). Forschungsschwerpunkte  : Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft  ; Literatur und Psychoanalyse  ; Kulturtheorie und Theaterforschung. Herausgeberin der Reihen ‚Theater und Universität im Gespräch‘ und ‚Interkulturelle Moderne‘, Mitherausgeberin des ‚Jahrbuchs für Literatur und Psychoanalyse‘. Christof Hamann, Dr. phil., derzeit Vertretungsprofessor für Literaturwissenschaft und Literatur-

didaktik an der Universität zu Köln. Publikationen (Auswahl)  : Grenzen der Metropole. New York in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Opladen  : Westdeutscher Verlag 2001  ; Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg i.Br./Berlin  : Rombach 2006 (Mhg.)  ; In die Fremde reisen. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen  : Wallstein 2009 (Mhg.)  ; Kilimandscharo. Zur deutschen Geschichte eines afrikanischen Berges, Berlin  : Wagenbach 2011 (mit A. Honold). Aufsätze u.a. zu Raabe, Fontane, Kafka, Hesse, Uwe Johnson, Uwe Timm und Wolf Haas  ; zu Fremdheit und kultureller Differenz und zur Raumtheorie. Pierre Kodjio Nenguié, PhD, derzeit unabhängiger Wissenschaftler in Montréal. Publikationen

(Auswahl)  : Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin  : Literatur als Dekonstruktion totalitärer Diskurse und Entwurf einer interkulturellen Anthropologie, Stuttgart  : Ibidem 2005. Aufsätze u.a. zu Döblin, Brecht, Graf, Paasche, Klaus Mann, Thomas Mann, Borchert und Corinne Hofmann. Forschungsschwerpunkte  : Literatur-und Kulturtheorie, Interkulturalität, Postkolonialismus, Literatur und Köper  ; Afrikanische Literatur. Yixu Lü, Dr. phil., Senior Lecturer in Germanic Studies an der University of Sydney. Publikationen

(Auswahl)  : Frauenherrschaft im Drama des frühen 19. Jahrhunderts, München  : Iudicium 1993  ;

Autorinnen und Autoren

373

Medea unter den Deutschen. Wandlungen einer literarischen Figur, Freiburg i. Br.: Rombach 2009  ; Zhimin Zhuyi yu Zhongguo Jindai Shehui (Coloialism and modern Chinese society), Beijing  : Renmin Chubanshe 2009 (Mhg.). Aufsätze u.a. zu Kleist, Klinger, Jahnn, Heiner Müller, Christa Wolf und zum deutschen Kolonialismus in China. Bettine Menke, Dr. phil., Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an

der Universität Erfurt. Publikationen (Auswahl)  : Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München  : Fink 1991  ; Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München  : Fink 2000  ; Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen, Bielefeld  : Transcript 2010  ; Wieland/Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, Berlin  : de Gruyter 2010 (Mhg.). Publikationen zur Literatur- und Texttheorie, Dekonstruktion, gender, Rhetorik, Kleist, Jean Paul, C. Brentano, Kafka, zum Witz und zum Theater. Volker Mergenthaler, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg.

Publikationen (Auswahl)  : Sehen schreiben. Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel, Tübingen  : Niemeyer 2002  ; Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression 1897–1936, Tübingen  : Niemeyer 2005  ; „Der Dichtkunst Morgenröthe verließ der Erde Thal“  : ‚Viel Lärmen um Nichts‘. Modellstudie zu einer Literatur in Fortsetzungen mit einem Faksimile des ‚Gesellschafters oder Blätter für Geist und Herz vom April 1832‘ (mit N. Kaminski), Hannover  : Wehrhahn 2010. Aufsätze u.a. zur Schnittstelle von Literatur und Trauer, zur Literatur nach dem 11. September und zur literarischen Arbeit am Ersten Weltkrieg. John K. Noyes, PhD, Professor of German Languages and Literatures an der University of Toronto.

Publikationen (Auswahl)  : Colonial Space. Spatiality in the Discourse of German South West Africa 1884–1915, Chur u.a.: Harwood Academic Publ. 1992  ; Nomadism, Nomadology, Empire, Abingdon  : Routledge 2004 (= Interventions 6/2) (Gastred.)  ; Goethe’s Faust  : Theatre of Modernity, Cambridge  : Cambridge University Press 2011 (Mhg.). Aufsätze u.a. zu Goethe, Herder, postkolonialer Theorie und deutschem Kolonialismus.

Dietmar Schmidt, Dr. phil., Akademischer Rat, Privatdozent für Neuere deutsche sowie Allgemeine

und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Publikationen (Auswahl)  : Geschlecht unter Kontrolle. Literatur und Prostitution um 1900, Freiburg i. Br. 1998  ; Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München 2011. Forschungsschwerpunkte  : Poesie und Wissen, Repräsentationsformen des Animalischen, aktuelles Projekt zu Wiederholungsformen von Literatur und Film. David Simo, Dr. phil., Professor für neuere und neueste deutsche Literatur sowie Literatur und Kul-

turtheorie an der Universität von Yaoundé. Publikationen (Auswahl)  : Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes, Stuttgart  : Metzler 1993  ; Con­structions identitaires en Afrique. Enjeux, stratégies, conséquences, Yaoundé  : Edition clé, 2006 (Hg.)  ; Oralität und moderne Schriftkultur, Hannover  : Revonnah Verlag 2008 (= Sonderband von Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für Interkulturelles Denken) (Mhg.)  ; Migration heute und Gestern, Hannover  : Wehrhan Verlag 2010 (= Sonderband von Weltengarten) (Mhg.). Aufsätze zu lite-

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Autorinnen und Autoren

raturwissenschaftlichen Themen und literatur- und kulturtheoretischen Fragen. Mitherausgeber der Zeitschrift Weltengarten.  Wolfgang Struck, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität

Erfurt. Publikationen (Auswahl)  : Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration, Tübingen  : Niemeyer 1997  ; Die Eroberung der Phantasie. Literatur, Film und Kolonialismus zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen  : V&R unipress 2010  ; Wieland/Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, Berlin/New York 2010 (Mhg.). Aufsätze zu Literatur-, Film- und Fernsehgeschichte. Sabine Wilke, Dr. phil., Professor of German und Chair am Department of Germanics der Uni-

versity of Washington, Seattle. Publikationen (Auswahl)  : Poetische Strukturen der Moderne. Zeit­ genössische Literatur zwischen alter und neuer Mythologie, Stuttgart  : Metzler 1992  ; Ambiguous Embodiment. Construction and Destruction of Bodies in Modern German Culture, Heidelberg/ New York  : Synchron 2000  ; Masochismus und Kolonialismus. Literatur, Film und Pädagogik, ­Tübingen  : Stauffenburg 2006  ; ‘Narrating Colonial Encounters. Germany in the Pacific’. Journal of Pacific History 23, 2008 (Gastred.). Aufsätze u.a. zu Alexander von Humboldt, Georg Forster, Kafka, Christa Wolf und Ingeborg Bachmann, zur deutschen kolonialen Imagination, Ästhetik des Körpers und kulturwissenschaftlicher Umweltforschung. John Zilcosky, PhD, Professor of German and Comparative Literature, Chair am German Depart-

ment der University of Toronto. Publikationen (Auswahl)  : Kafka’s Travels. Exoticism, Colonialism, and the Traffic of Writing, New York  : Palgrave 2003  ; Writing Travel. The Poetics and Politics of the Modern Journey, Toronto  : University of Toronto Press 2008 (Hg.). Aufsätze u.a. zu Kant, Nietzsche, T. S. Eliot, Freud, Adorno, Botho Strauss und Paul Auster  ; zu Reiseliteratur, Psychoanalyse und Literaturtheorie. Sabine Zubarik, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Cluster ‚Languages of Emotion‘ an der Freien

Universität Berlin (Forschungsprojekt der Tanzwissenschaft). Publikationen (Auswahl)  : Am Rande bemerkt  : Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin  : Kadmos 2008 (Mhg.)  ; Den Rahmen sprengen  : Anmerkungspraktiken in literarischen Texten II, Berlin  : Kadmos 2011 (Mhg.). Aufsätze u.a. zur Verwendung von Paratexten und Fußnoten in zeitgenössischen Romanen, zu figuralen Anordnungen des Textes und zu Literatur und Quantenphysik. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt  : Tango Argentino.

Abbildungsnachweise

Wolfgang Struck Ingenjör Andrées luftfärd oder Die melancholischen Entdeckungen des Films

Abb. 1: Stiftelsen Grenna Museum, Gränna, Se; http://www.grennamuseum.se/. Abb. 2, 3 und 4: S. A. Andrée. Dem Pol entgegen. Auf Grund der während Andrées Polarexpedition 1897 geführten und 1930 auf Vitö gefundenen Tagebücher S. A. Andrées, N. Strindbers und K. Fraenkels herausgegeben von der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie, Leipzig: F. A. Brockhaus 1930, nach S. 56, vor S. 217, vor S. 225. Bettine Menke Grenzüberschreitungen (in) der Schrift, Exterritorialität der Pole

Abb. 1: Leo Bagrow, R. A. Skelton (Hg.): Meister der Kartographie, London, Berlin 1963, Taf. LXX, S. 397 u. Taf. XCVI, S. 423. Abb. 2: Athanasius Kircher: Mundus subterraneus, Band 1, Amsterdam 1665, S. 160 (nach Joscelyn Godwin: Athanasius Kircher. Ein Mann der Renaissance und die Suche nach verlorenem Wissen, Berlin 1994, Abb. 84). Abb. 3: Captain Adam Seaborn (verm. Pseudonym of John Cleves Symmes): Symzonia. A Voyage of Discovery, New York 1820, repr. u. Facsimile, with an introduction by J.O. Bailey, Gainsville 1965, S. iv; http://xroads.virginia.edu/~MA98/silverman/poe/prettoc.html. Abb. 4: Jules Vernes: Die Eissphinx. Der Erinnerung an E.A. Poe und meinen amerikanischen Freunden gewidmet, Frankfurt a.M. 1968, S. 32. Abb. 5: Petermann’s geographische Mitteilungen 14, 1868, Gotha, Karte 12 (nach: Friedrich von Hellwald: Im ewigen Eis. Geschichte der Nordpol-Fahrten von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Stuttgart 1881, S. 689). Abb. 6: ZeitenSchriften, N° 1, Nov. 1993, S. 17/18. Abb. 7: Ernest Shackleton: 21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der historischen Südpolexpedition 1907/8, 2. Bd., Berlin o.J. [1910]. Philipp Felsch Petermanns Geografische Mutmaßungen. Das offene Polarmeer als Kartentraum

Abb. 1: Frederick A. Cook: My Attainment of the Pole, New York 1913. Abb. 2 und 3: Heinrich Berghaus, Physikalischer Atlas: oder Sammlung von Karten, auf denen die hauptsächlichsten Erscheinungen der anorganischen und organischen Natur nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung bildlich dargestellt sind, Bd. 2, Gotha 1848. Abb. 4 und 5: Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, Kartensammlung.

376

Abbildungsnachweis

Jörg Dünne Kannibalische Revisionen. Von den Kupferstichen Theodor de Brys zu Nelson Pereira dos Santos’ Film Como era gostoso o meu francês

Abb. 3: America de Bry 1590–1634, hg. von Gereon Sievernich, Berlin /New York 1990. Rupert Gaderer Nachfahren. August von Goethes Italienreise im Jahr 1830

Abb. 1: August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830, hg. von Andreas Beyer und Gabriele Radecke, München u.a. 1999, S. 203. Abb. 2: Monumenti sepolcrali della Toscana disegnati da Vincenzo Gozzini, e incisi da Giovan Paolo Lasinio, sotto la direzione di P. Benvenuti, Firenze 1819. Abb. 3: Corpus der Goethe-Zeichnungen, Bd. 2, bearbeitet von Gerhard Femmel, Leipzig 1983, S. 232. Abb. 4: Auf Goethes Spuren in Italien. Ente Nazionale Industrie Turistiche, hg. von Ezio Maria Gray und Gabriele de Rosa, Mailand u.a. [o. J.], S. 31. Sabine Zubarik Vom Verstecken und Wiederausgraben. Alex Capus/Robert Louis Stevenson

Abb. 1: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Treasure-Island-map.jpg. Abb. 2: University of Texas Library. http://www.lib.utexas.edu/maps/historical/pacific_islands_ 1943_1945/niuatoputapu_tafahi_tonga.jpg.

Hans Feger / Hans Richard Brittnacher (Hg.)

Die Realität der Idealisten Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt, Alex ander von Humboldt

Am Beispiel von Friedrich Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt zeigt der Band auf, dass der Deutsche Idealismus ein Realismusverständnis geprägt hat, dessen überragende Bedeutung darin besteht, das Projekt der Moderne aus der provinziellen Enge philosophischer Studierstuben hinausgeführt und um ein transdisziplinäres, interkulturelles Wissenschaftsverständnis erweitert zu haben. Schiller und die Humboldt-Brüder stehen stellvertretend für den Begriff eines Weltbürgertums und für die Idee einer globalen Wissenschaft, die getragen ist von einer Phantasie, der keine Grenzen gesetzt sind und die doch nicht ins Imaginäre entschwindet, sondern Realitäten erforschen will. Durch den Blick auf die drei Universalgelehrten soll das Profil einer intellektuellen Konfiguration um 1800 rekonstruiert werden, die bislang hinter der Erforschung anderer wirkungsträchtiger Beziehungen und Zusammenhänge das Nachsehen hatte. 2008. 284 S. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20148-7

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Chryssoul a K ambas / Marilisa Mitsou (hg.)

Hell as verstehen Deutsch-griechischer Kulturtr ansfer im 20. Jahrhundert

»Hellas« meint im Deutschen die Kultur der griechischen Antike, ­während es zugleich die Eigenbezeichnung des modernen Griechen­lands ist. Doch wo liegt Griechenland im kulturellen Europa? Durch welche Vorstellungen und durch welche Akteure entstand das gegenseitige Bild? Der Band spannt einen Bogen vom deutschsprachigen literarischen ­Konservatismus der Jahrhundertwende über die Kulturpolitik der ­N S-Zeit, die Besatzungszeit Griechenlands durch die »Deutsche ­Wehrmacht« bis zu den Folgen der Ost-West-Spaltung Europas für die gegenseitigen Nachkriegs­ beziehungen. Die Beiträge verknüpfen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, indem sie den Kulturtransfer an zentralen Institutionen und Vermittlern darstellen und damit eine Grundlage für eine in beiden Ländern weiterhin notwendige G ­ e­dächtnisarbeit legen.

2010. XVI, 380 S. Mit 5 s/w-Abb. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20450-1

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RICHARD BLETSCHACHER

AUSFLÜGE EINUNDZWANZIG ESSAYS, DIE GESCHICHTE, DIE LITER ATUR UND DIE BILDENDE KUNST BETREFFEND

21 unkonventionelle Essays des Autors und Musikwissenschafters Richard Bletschacher zu Themen wie u. a.: Versuch über den Esel; Der Bau der Pyramiden des Alten Reiches; Anaximandros und die milesische Philosophie; Der Evangelist Johannes; Dichtung, was ist das?; Von der Kunst des Zeichnens; Shakespeares Sonette; Die Kunst der Darstellung auf dem Elisabethanischen Theater; Engel; Putten; Carlo Goldoni, zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages; Georg Forster, Seefahrer, Weltbürger und Schriftsteller; Schillers Fragment „Demetrius“; Die Farbe Schwarz; Georges Rouault, der Maler; Über das Sammeln und Bewahren; Erinnerungen an Leopold Pötzlberger; Von der Schönheit; Das Theater des Albert Camus; Vom Träumen; Die ewigen Fragen und die neuesten Nachrichten. 2010, 301 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78475-3

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