memoria et oblivio: Die Entwicklung des Begriffs memoria in Bischofs- und Herrscherurkunden des Hochmittelalters [1 ed.] 9783428514182, 9783428114184

Die Vorstellungswelt eines jeden Begriffs ist zeitgebunden. Die Autorin beschäftigt sich mit der Interpretation eines Be

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memoria et oblivio: Die Entwicklung des Begriffs memoria in Bischofs- und Herrscherurkunden des Hochmittelalters [1 ed.]
 9783428514182, 9783428114184

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ATSUKO IWANAMI

memoria et oblivio

BERLINER HISTORISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin

Band 36

memoria et oblivio Die Entwicklung des Begriffs memoria in Bischofs- und Herrscherurkunden des Hochmittelalters

Von

Atsuko Iwanami

Duncker & Humblot . Berlin

Der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 188

Alle Rechte vorbehalten

© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6941 ISBN 3-428-11418-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9 Internet: hup:/Iwww.duncker-humblot.de

Geleitwort Das Friedrich-Meinecke-Institut unterhält seit langem intensive wissenschaftliche Beziehungen zu japanischen Universitäten. Auf eine Anregung von Prof. Dr. Herbert Helbig von 1963/64 zurückgehend, wurde erstmals im Herbst 1965 ein japanischer Gastdozent an das Institut berufen, um (in deutscher Sprache) eine Epoche oder ein Thema der japanischen Geschichte vorzustellen, Fragen der vergleichenden Geschichtswissenschaft aufzugreifen und mit Studenten zu erarbeiten. Die Gastdozentenstelle wurde kontinuierlich bis zum Sommer 1987 mit einem ausgewiesenen Rechtshistoriker oder Historiker einer der japanischen Spitzenuniversitäten besetzt, eine Tradition, die in lockerer Form seit dem Wintersemester 2000/01 wieder aufgegriffen werden konnte und hoffentlich ihre Fortsetzung finden wird. Die japanischen Gäste am Friedrich-Meinecke-Institut traten von Berlin aus mit Vorträgen an zahlreichen anderen deutschen und außerdeutschen Universitäten hervor. Historiker des Friedrich-Meinecke-Instituts erhielten Einladungen nach Japan für Gastprofessuren, zu Tagungen, Vortragsveranstaltungen, Doktorandenkolloquien und Forschungsaufenthalten. Dies hat im Laufe von fast vierzig Jahren erwartungsgemäß zu engen wissenschaftlichen Verknüpfungen geführt. Angesichts des Generationenwechels hüben wie drüben ist die Zeit für die berühmte Stabübergabe und neue Impulse auf alter Grundlage gekommen. In dieser Tradition steht die vorliegende Arbeit als Zeugnis für die große Sensibilität und Ausdauer, mit der sich eine japanische Wissenschaftlerin den vergangenen, selbst europäischen Studenten vielfach nur mehr schwer zugänglichen Ausdrucksformen einer christlich bestimmten Zivilisation genähert hat. Die mittelalterliche Memorialkultur wird seit Jahrzehnten intensiv erforscht und ist mittlerweile in ihren wesentlichen Zügen beschrieben, ebenso bekannt sind die gesellschaftlichen und mentalen Konsequenzen des Totengedenkens im Hinblick auf die Rolle geistlicher Gemeinschaften in der früh- und hochmittelalterlichen Adelswelt. Sie war weitgehend von oralen Traditionen bestimmt, wobei, so jedenfalls die allgemeine Annahme moderner Historiker und Anthropologen, erhebliche Gedächtnisleistungen vorausgesetzt werden müssen. Die zugrundeliegenden. Quellen (in erster Linie Nekrologien und Gedenkbücher mit ihren Einzel- und Gruppeneinträgen) verweisen freilich durch ihr bloßes Vorhandensein auf Zweifel an der beständigen Kraft der memoria im Sinne von "Gedächtnis" oder "Merkfähigkeit": Das Erinnerungsvermögen hat natürliche Grenzen, das Erinnerte ist ständig bedroht durch die oblivio, das Vergessen. Dieses Bewußtsein von Defiziten mußte sich weithin auswirken und besonders auf solchen Gebieten Konsequenzen haben, die lebenswichtig und rechtserheblich waren. Das Ansehen des Zeugenbeweises bei Rechts- und Regie-

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Geleitwort

rungshandlungen konnte nicht unberührt bleiben, wenn einmal fonnuliert war, warum Zeugen irren konnten, keine Erinnerung an Sachverhalte mehr hatten oder haben wollten, die ohne eine solche artikulierte Erinnerung schlichtweg nicht vorhanden waren. Der gesamte Komplex der pragmatischen Schriftlichkeit ist ohne begriffliche Annäherung an dieses alte Phänomen nicht zu erklären, und die Neugier des Historikers führt zu der Frage, von wann an und in welchen Milieus, aus welchen Anlässen und in welchen Regionen Europas diese Annäherung faßbar wird. Knut Schutz Joachim Ehlers

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde zu Beginn des Jahres 2002 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und anschließend für die Publikation überarbeitet. Die Anregung, mich in meiner Dissertation mit einem Thema aus dem Bereich der memoria-Forschung zu befassen, verdanke ich meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Joachim Ehlers, der mich im Rahmen eines Oberseminars im Wintersemester 1991/1992 auf eine Möglichkeit für weitere Untersuchungen hinwies und die Arbeit mit großer Geduld und stetiger Förderung betreute. Ohne seine langjährige Ermutigung hätte die Arbeit in dieser Form nicht abgeschlossen werden können. Herr Prof. Dr. Knut Schulz, der mich seit meinem ersten Aufenthalt in Berlin als Betreuer des DAAD-Stipendiums 1990-1992 ebenfalls unterstützte, übernahm nicht nur das Korreferat, sondern stand für jede Frage zur Verfügung. Die Kontakte, die schon seit langer Zeit zwischen dem Friedrich-Meinecke-Institut und japanischen Wissenschaftlern bestehen und gepflegt werden, haben auch mich nach Berlin geführt. In Berlin fand ich weiteren Rat und wissenschaftliche Hilfe bei Frau Prof. Dr. Ursula Schulze und Herrn Prof. Dr. Matthias Thumser. Herzlich danken möchte ich auch dem Graduiertenkolleg "Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter (Interdisziplinäre Mediävistik)" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, als dessen Stipendiatin ich in den Jahren 1993-1996 weitere Anregungen für die Vertiefung des Themas und vielfache Förderung erhielt. Den Betreuern dieses Kollegs, Herrn Prof. Dr. Peter Johanek, Herrn Prof. Dr. Hagen Keller, Frau Prof. Dr. Dr. h. c. Ruth Schmidt-Wiegand, Herrn. Prof. Dr. Joachim Wollasch, Frau Prof. Dr. Christel Meier, Herrn. Prof. Dr. Arnold Angenendt, Herrn Prof. Dr. Volker Honemann und Herrn Prof. Dr. Nikolaus Staubach bin ich zu besonderem Dank verpflichtet, wie auch seinen Kollegiaten und Kollegiatinnen. Nicht zuletzt fand ich besondere Ermunterung bei meinen Kommilitonen, die mich in vielfältiger Weise unterstützten. Insbesondere danke ich Herrn Dr. Stefan Esders, der sowohl in Münster als auch in Berlin stets zu einem klärenden Gespräch und konstruktiver Kritik bereit war und die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts übernahm. Für weitere Unterstützung und Lektüre möchte ich an dieser Stelle ebenso Frau Dr. Monica Sinderhauf, Herrn Dr. Thomas Ertl, Frau Sybille Schröder, Herrn Julian Führer und Herrn Matthias Krüger herzlich danken. Für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe der Berliner Historischen Studien bin ich den Herausgebern zu Dank verpflichtet. Finanzielle Unterstützung in Form

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Vorwort

eines Stipendiums und eines zweijährigen Forschungsaufenthaltes gewährte die Keio Universität (Tokyo), an der ich seit 1996 tätig bin. Mein Dank gilt schließlich meiner Familie, die mich mit großer Geduld auf meinem Forschungsweg begleitete. Vor allem ihre Unterstützung ermöglichte die Entstehung dieser Arbeit. Tokyo, im Oktober 2003

Atsuko Iwanami

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragestellungen und Vorbemerkungen.......................................... 2. memoria als Forschungsgegenstand ............................................ a) Untersuchungsansätze - memoria als Beweiskraft. . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . b) Untersuchungsmaterial ......................................................

13 13 17 17 23

11. Bischöfliche Urkunden ........................................................... 1. Deutsche Bistümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mainz ........ ....................... . ................................ ........ b) Magdeburg .................................................................. (1) Ulrich (= der Notar der Reichskanzlei Heinrich A) .................... (2) Der Notar Friedrich, Propst von Seeburg? ............................. c) Halberstadt .................................................................. d) Würzburg ........................... . ........................................ e) Zusammenfassung........................................................... 2. Das deutsch-romanische Grenzgebiet .......................................... a) Trier......................................................................... b) Bischöfliche Urkunden...................................................... (1) Metz .................................................................... (2) Verdun .................................................................. (3) Toul..................................................................... c) Laienurkunden - Die Grafen von Bar ....................................... d) Zusammenfassung........................................................... 3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern ............................... a) Erzbistum Reims ............................................................ (1) Bischöfe von Arras - Grafen von Flandern............................. (2) Laon ....... ...... ............ .................. . ....... . ....... ......... (3) Tournai ......... . .............. . ....................... . ................ (4) Amiens ................................................................. b) Zusammenfassung........................................................... 4. Bistum Angers.................................................................. a) Domkapitel.................................................................. b) St. Aubin .................................................................... c) Ronceray ........................... . ....................... . ................ d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 26 26 32 34 35 39 48 55 56 56 70 70 75 78 79 80 82 84 88 99 101 102 104 104 105 107 110 111

111. Monastische Schriftzeugnisse ........... . .. . .................... . .... . ....... . ... 1. Vorbemerkungen....................... . ........................................ 2. Einzelne Fallstudien ............................................................ a) Molesme..................................................................... b) Urins........................................................................

113 113 114 114 116

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Inhaltsverzeichnis c) LeMans ...................................................................... 3. Negative Ergebnisse ... . . . ......... .. ....... . . . ... . ... . . ... . . . . . .. .... . . . . . ...... 4. Einleitungstexte der monastischen Schriftzeugnisse ............................ 5. Zusammenfassung ......................................... .. ..... .. ............

117 120 121 125

IV. Reichskanzlei ..................................... .. ............................... 1. Einleitung ................ . ............... ... ......... ........ ........... . ....... 2. Einzelne Fallstudien. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. .. . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . .. a) Vorbemerkungen ............................................................. b) Konrad BI. .......... . ........... . ................. . ...... .. .................. c) Friedrich I. ...................... . ........................ ... ... . ...... ....... (1) AmoldII.D ..................................... . . ... ............... . ... (2) Amold H (Albert) ....................... . ............................... (3) Rainald G ... . . . . . .......... . ..... ... .... . . .. .. .... ... ......... . . . ..... .. (4) Rainald C ........ . . . ............. . ............ . ... .... ..... .... ......... (5) Rainald H ..... .. ........... . ............................................ (6) Wortwin .............................................. . .................. (7) Ulrich B ................... ............ ............ ...... ........ ... . ... . (8) Burkhard: Schreiber des fünften Italienzuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (9) Gottfried G ... . .. ......... . . . ... ........ .... ...... . ... .... . .. . . ...... .... (10) Empfangerausfertigungen ..... .............. ........ .............. . ..... 3. Wibald von Stablo und Corvey ....... ........ ........ . ........ ............ ...... 4. Zusammenfassung ..............................................................

127 127 128 128 130 132 132 133 133 134 135 135 138 139 140 142 144 151

V. Vergleich mit dem französischen Königtum ..................................... 1. Vorbemerkungen ............. ........ . .................................. .... .... 2. Einzelne Fallstudien .... . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. a) Philipp I. ................ . ....... . ......... . ....... .. ... . ..................... b) Ludwig VI. .................................................................. 3. Der Einfluß der Brieflehre auf die diplomatischen Texte: das Beispiel des Hilarius von Orleans. . . .. ....... ..... ... . ..... ................. ............ ..........

153 153 154 154 154 159

VI. Ergebnisse ....... . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 162 Quellenverzeichnis ......... . ..... ............ ... ... . .. . ........... .. ............... . ..... 167 Literaturverzeichnis . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 170 Sachregister . ................ .... ................................................... . ..... 195

Abkürzungen A C DA HR

MB MGH DD DF.I. DKo. III DLo.III. MIÖG Or. RB SS UB VU ZRG

Arenga Corroboratio Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Halkin - Roland, Recueil des chartes de I'abbaye de Stavelot-Malmedy, Bd.l, Bruxelles 1909. Monumenta Boica Monumenta Gemaniae Historica Diplomata Diplom Friedrichs I. Diplom Konrads III. Diplom Lothars III. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Original Regesta sive Rerum Boicarum Autographa Scriptores Urkundenbuch Vorurkunde Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

I. Einleitung 1. Fragestellungen und Vorbemerkungen Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist eine Betrachtung über die Verbreitung und den auffalligen Anstieg der Verwendung des Begriffs memoria mit seinem Gegenbegriff oblivio in den bischöflichen Urkunden im Laufe des Mittelalters. Innerhalb der mittelalterlichen Lebenspraxis bildete die Memoria eines der zentralen Themen 1. Sie ist zu verstehen als spezifische Form mit Vergangenheit umzugehen, und es gibt unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, ihren Bedeutungsumfang funktional zu erfassen 2 • Die hier vorgelegte Arbeit untersucht ihren Bedeutungs- und Gebrauchswandel in den Arengen bischöflicher Urkunden im Mittelalter. Die Voraussetzung für eine solche Untersuchung ist das zunehmende Gewicht der schriftlichen Fixierung im Mittelalter. Die wachsende Bedeutung der Schriftlichkeit manifestiert sich in verschiedenen Lebensbereichen 3• Die Forschungsprojekte des Sonderforschungsbereichs 231 "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" in Münster haben ein breites Untersuchungsspektrum auf diesem Gebiet aufgezeigt. Die schriftgestützte Verwaltung gewann im Mittelalter in ihren vielfaltigen Formen eine sich immer weiter verstärkende Geltungskraft und wurde zu einem grundlegenden Faktor für eine normsuchende Gesellschaft4 • Die memoria, die in den schriftlichen Aufzeichnungen als Leitidee auftaucht, bietet einen geeigneten Untersuchungsgegenstand, an dem dieser Prozeß sichtbar gemacht 1 Zuerst zu nennen sind die unter der Leitung von Karl Schmid und Joachim Woll asch entstandenen Forschungen. 2 Vgl. Olto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 70-95; Ders. (Hg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Göttingen 1994 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111). 3 Als Stipendiatin des Graduiertenkollegs "Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter" in Münster bin ich für weitere Anregungen zu besonderem Dank verpflichtet. 4 Hagen Keller, Oberitalienische Statuten als Zeugen und als Quellen für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), S.286314; Ders., Die Veränderung gesellschaftlichen Handeins und die Verschriftlichung der Administration in den italienischen Stadtkommunen, in: Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. München 1992. S.21-36; Ders., Vorschrift, Mitschrift, Nachschrift: Instrumente des Willens zu vernunftgemäßem Handeln und guter Regierung in den italienischen Kommunen des Duecento, in: Hagen Keller, Christel Meier, Thomas Scharff (Hgg.), Schriftlichkeit und Lebenspraxis. Erfassen, Bewahren, Verändern. München 1999, S. 25-41; Klaus Schreiner, Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform, in: Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, S. 37-75.

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I. Einleitung

werden kann. Dabei ist es jedoch notwendig, zwischen ihrer Funktionalität und ihren Erscheinungsfonnen zu differenzieren. Die vorliegende Studie wird die Begrifflichkeit der memoria als Indiz für das zunehmende Gewicht des Schriftgebrauchs in der Verwaltungspraxis untersuchen. Diese thematische Beschränkung läßt sich damit begründen, daß sich die allgemeingültige Tendenz zur Verschriftlichung auch auf der Sprachebene beobachten läßt. Zwei Grundbedeutungen des lateinischen Wortes memoria lassen sich zunächst begrifflich unterscheiden. 1) memoria als Gedächtnis: diese memoria ist als kognitive, individuelle Praxis zu verstehen, anders ausgedrückt, als Erkenntnisvorgang, wie man die geschehenen Dinge wahrnimmt. 2) memoria als Gedenken an die geschehenen Dinge: diese memoria ist als kollektive und damit als gesellschaftliche Tat zu verstehen, wie man die Vergangenheit sozial rekonstruiert. Zur ersteren gehört die memoria als Gedächtniskunst, die im Mittelalter ein wichtiges Grundelement der Schulbildung bildete 5• Die Abhandlungen Hugos von St. Viktor sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlußreich 6 • Zur zweiten Erscheinungsfonn von memoria gehört die liturgische memoria als gemeinschaftsstiftendes Gebetsgedenken, das durch Namensnennung die Erinnerungen an einen bestimmten Personenkreis wachhalten und aufbewahren sollte. Der Begriff memoria bedeutet in der liturgischen Gedenküberlieferung selbstverständlich die Erinnerung an Stifter, Verwandte, Freunde oder Amtsvorgänger und ist dabei als die traditionsbewußte und -bildende Kraft zu begreifen. Deren Nachkommen dient die memoria als Selbstdarstellung und -repräsentation 7 , also symbolisiert sie auch Herrschaft. Diese sich ergänzenden Perspektiven bieten aber gleichzeitig eventuell widersprüchliche Interpretationsmöglichkeiten im mittelalterlichen Schriftgut. Einerseits evoziert memoria eine negative Assoziation im Sinne von Gedächtnisschwäche, die oft im Zusammenhang mit der menschlichen Vergänglichkeit thematisiert wird. Sie be5 Frances A. Yates, The Art of Memory. London 1966; Helga Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Budapest 1936; Mary J. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990; Janet Coleman, Ancient and Medieval Memories. Cambridge 1992. 6 Joachim Ehlers, Hugo von St. Viktor (= Frankfurter Hist. Abhand!. 7). Wiesbaden 1973; Ders, Arca significat ecclesiam. Ein theologisches Weltmodell aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 171-187; G.A. Zinn, Hugh of Saint Victor and the Art of Memory, in: Viator 5 (1974), S. 211-234. 7 Gerd Althoff, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstverständnisses, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134 (1986), S. 34-46; Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Kar! Schmid und Joachim Wollasch (Hgg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. München 1984, S.384-440; Ders., Adeliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedenken - das Beispiel der Welfen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134 (1986), S. 47-75; Ders., Die Memoria Heinrichs des Löwen, in: Dieter Geuenich und Otto Gerhard Oexle (Hgg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Göttingen 1994. S. 128-177; Hermann Kamp, Memoria und Selbstdarstellung. Die Stiftungen des burgundischen Kanzlers Rolin. Sigmaringen 1993; Christine Sauer, Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100 bis 1350. Göttingen 1993 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 109).

1. Fragestellungen und Vorbemerkungen

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deutet andererseits eine Art Kunst, die als eine zu kultivierende Technik betrachtet wurde. Auf jeden Fall ist daher memoria als kulturelles Phänomen zu verstehen 8 • In diesem Sinne steht sie im Mittelpunkt interdisziplinärer Forschungen 9 • Memoria verkörpert so vielschichtige, breite Perspektiven, daß es nicht möglich ist, sie umfassend in einer Arbeit zu erörtern.

In der vorliegenden Arbeit wird die Begriftlichkeit der memoria behandelt, wie sie in einem Prozeß wachsender schriftlicher Rechtsabsicherung auftritt. Die memoria hat an sich zwar keine Rechtsverbindlichkeit, doch begegnet sie in der Begründung der Urkundenausstellung und dient dabei als Argument zur Beweisbekräftigung: das menschliche Gedächtnis sei so schwach, daß die schriftliche Fixierung nötig sei. Die hier zum Ausdruck gebrachte memoria sollte keinesfalls als realitätsloser, formelhafter Ausdruck verstanden werden, auch wenn er stereotyp erscheinen könnte IO • Er taucht in verschiedenen Äußerungen auf, mal in fester Formel, mal in literarischen Formulierungen, die in unterschiedlicher Form die Gedankenwelt innerhalb des untersuchten Zeitraums veranschaulichen sollen. Andererseits darf mit Recht betont werden, daß die Verbreitung des Begriffs memoria in den administrativen Schriftzeugnissen keinesfalls gleichmäßig erfolgte, auch wenn dies auf den ersten Blick so erscheinen mag. Das Untersuchungsmaterial der folgenden Arbeit bilden die Arengen der Urkunden 11 , deren Zahl seit dem 12. Jahrhundert deutlich zunimmt. Den Hintergrund für diesen in Europa weit erkennbaren Prozeß bildeten die Notwendigkeit der Rechtsabsicherung und die wachsende Bedeutung von Schriftzeugnissen l2 • Sowohl die 8 fan Assrnann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Aleida Assrnann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; OUo Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur. Göttingen 1995 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121). 9 Aleida Assrnann/Dietrich Harth (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktion der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M. 1991; Aleida und fan Assrnann/Christof Hardrneier (Hgg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1993; Anselrn Haverkarnp/Renate Lachrnann (Hgg.), Gedächtniskunst. Raum - Schrift - Bild. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a. M. 1991; Anselrn Haverkarnp/Reinhart Herzog/Renate Lachrnann (Hgg.), Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993. 10 Diesbezüglich ist die Äußerung von Sonnleitner nicht ganz zutreffend. Vgl. Käthe Sonnleitner, Die Darstellung des bischöflichen Selbstverständnisses in den Urkunden des Mittelalters. Am Beispiel des Erzbistums Salzburg und der Bistümer Passau und Gurk bis 1250, in: Archiv für Diplomatik 37 (1991), S.155-305. 11 Zu deren Bedeutung vgl. grundlegend Heinrich Fichtenau, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln. Graz-Köln 1957 (= MIÖG Erg. Bd. XVIII). 12 Hagen Keller, Die Entwicklung der europäischen Schriftkultur im Spiegel der mittelalterlichen Überlieferung. Beobachtungen und Überlegungen, in: Geschichte und Geschichtsbewußtsein, Festschrift für Karl-Ernst Jeismann. Münster 1990, S. 171-204; Ders., Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, in: Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, S. 1-7; Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066-1307. London 1979,21993.

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I. Einleitung

weltlichen als auch die geistlichen Herrscher stützten sich in ihrer Verwaltungspraxis immer mehr auf die Schrift, die hierfür unentbehrlich wurde I3 • In den Arengen werden nun - teilweise sehr ausführliche - Begründungen dafür gegeben, warum die Urkunden ausgestellt werden sollen. Sie fungieren nicht nur als Einleitungsformeln der administrativen Schriftzeugnisse, sondern es lassen sich darin auch die Einstellungen zur schriftlichen Absicherung der vorgeführten Rechtsakte erblicken. Die wesentlichen Teile der Urkunden wie etwa die narratio und die dispositio sind wegen der notwendigen inhaltlichen Festlegung nicht geeignet, kontextunabhängige, theoretische Überlegungen der Verfasser direkt zum Ausdruck zu bringen. Sie sind sachlich geschrieben, so daß es wenige Freiräume gab, in denen die Verfasser ihre eigenen Anschauungen äußern konnten. Die Arengen hingegen bieten den Verfassern eine passende Möglichkeit, Individualität zu zeigen, relativ frei von den geschäftlichen Aufzählungen. Wenn vergleichbare Äußerungen dieser Art wiederholt und in Urkundenbeständen verschiedener Regionen zu beobachten sind, sollten sie nicht bloß als individuelle Aussagen, sondern als Reflektion übergreifender Veränderungen und Denkweisen der betreffenden Zeit verstanden werden. Die feststellbare Bedeutung der Arengen spiegelt sich in der zunehmenden Zahl von Urkunden mit literarisch anspruchsvollen Einleitungen wider, die beispielsweise in Mainzer Urkunden Auffassungen von der Amtspflicht der Bischöfe erkennen lassen 14. Bei dieser Untersuchung werden die Verbreitung und die Übernahme von bestimmten Formulierungen im Hinblick auf ihre Verfasserschaft berücksichtigt. Sie wird gegenseitige Beeinflussungen und mögliche Verbindungen im Schriftverkehr zwischen den Regionen erhellen. Die Arbeit zielt darauf, das Bedeutungsfeld des Begriffs memoria in den untersuchten Regionen möglichst exemplarisch darzustellen. Es fragt sich, in welchen Formulierungen und in welchem Kontext der Begriff memoria vorkommt. Dabei werden auch die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Schriftlichkeit in den untersuchten Regionen in Betracht zu ziehen sein. 13 Zur Erfassung dieses Prozesses bietet der Sonderforschungsbereich 231, Teilprojekt A "Der Verschriftlichungsprozeß und seine Träger in Oberitalien [11.-13. Jahrhundert"] am BeispielOberitaliens eine geeignete Forschungsübersicht, dessen Untersuchungsergebnisse in den folgenden Sammelbänden vorgestellt sind. Hagen Keller/Jörg W. Busch (Hgg.), Statutencodices des 13. Jahrhunderts als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit. Die Handschriften von Corno, Lodi, Novara, Pavia und Voghera. München 1991; Hagen KellerlThomas Behrmann (Hgg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung, München 1995; Über die vielfältige Form und Funktion des Schriftguts zur schriftlichen Rechtssicherung und seine anwachsende Zahl seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts siehe Thomas Behrmann, Domkapitel und Schriftlichkeit in Novara (11.-13. Jahrhundert). Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von S. Maria und S. Gaudenzio im Spiegel der urkundlichen Überlieferung. Tübingen 1994; Klaus Schreiner, Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform (wie Anm.4). 14 Karl-Heinz Ullrich, Die Einleitungsformeln (Arengen) in den Urkunden des Mainzer Erzbischofs Heinrich I. (1142-1153). Diss. Marburg 1961; Wilfried Schöntag, Untersuchungen zur Geschichte des Erzbistums Mainz unter den Erzbischöfen Amold und Christi an I. (1153-1183). Darmstadt und Marburg 1973; Siglinde Oehring, Erzbischof Konrad I. von Mainz im Spiegel seiner Urkunden und Briefe 1161-1200. Darmstadt und Marburg 1973; vgl. Antonie lost, Der Kaisergedanke in den Arengen der Urkunden Friedrichs 1., Diss. Köln 1930.

2. memoria als Forschungsgegenstand

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Die Untersuchung wird sich jedoch nicht nur auf eine Sprachgebrauchsanalyse beschränken können. Sie ist vielmehr auch in das kulturelle Umfeld einzubetten und hat danach zu fragen, welche Voraussetzungen für diese Erscheinungen ausschlaggebend gewesen sind. Die Arengen sind dafür geeignet, dem damaligen Vorstellungshorizont auf der Sprachebene näher zu kommen. Zuerst möchte ich nochmals zu unserer Ausgangsfrage zurückkommen, nämlich 1) ob sich eine differenzierte Akzentuierung des Begriffs memoria in einer bestimmten Region oder zu einem bestimmten Zeitpunkt erkennen läßt. Wo sich eine solche nachweisen läßt, stellt sich dann als weitere Frage, 2) ob hinter dieser Erscheinung eine neue Einstellung zum menschlichen Wesen oder zur Gesellschaft festzustellen ist. In der Arbeit werden die bischöflichen Urkunden von Mainz, Magdeburg, Halberstadt (dieses auch im Vergleich zu Hildesheim), Würzburg und Trier, der lothringischen Bistümer Verdun, Toul und Metz sowie der nordfranzösischen Bistümer Reims und Arras zu untersuchen sein. Neben den bischöflichen Urkunden soll aber auch der Sprachgebrauch der Reichskanzlei im deutschen Reich sowie ergänzend französischer Königsdiplome näher betrachtet werden. Außerdem werden aus Lothringen und Nordfrankreich auch Schriftzeugnisse der Grafen von Bar und Flandern berücksichtigt. Schließlich werden auch Schriftzeugnisse aus dem monastischen Bereich in Betracht gezogen. Der Sinn dieser Auswahl besteht einmal darin, daß die herangezogenen Bistümer einen variierten Bedeutungsumfang von memoria zeigen können. Zum anderen soll der Vergleich mit der Reichskanzlei und den gräflichen Urkunden klären, ob die zu beobachtenden Phänomene auf die bischöflichen Urkundenbestände beschränkte Erscheinungen gewesen sind.

2. memoria als Forschungsgegenstand a) Untersuchungsansätze - memoria als Beweiskraft Die Vorstellungswelt eines Begriffs ist zeitgebunden. Sie erfahrt einen Wandlungsprozeß, der die Weltanschauungen der jeweiligen Zeit reflektieren kann. Die memoria, die die vorliegende Arbeit thematisiert, tritt in den mittelalterlichen Gedenküberlieferungen im Kontext des Totengedenkens auf. Wie der Arbeitskreis von Karl Schmid und Joachim Wollasch erforscht hat, bedeutete der Begriff memoria beim Vollzug der liturgischen Handlungen an erster Stelle das Gedenken an die Toten, d. h. ihre Vergegenwärtigung bezogen auf bestimmte Personengruppen lS • Die 15 Karl Schmid/Joachim Wol/asch, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), S.365-405; Dies. (Hgg.), Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975), S.I-48; Dies. (Hgg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugnis wert des liturgischen Ge-

2 Iwanami

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I. Einleitung

memoria erfüllte dabei die Funktion, nicht nur die Lebenden miteinander in einem Gebetsbund stärker zu verbinden, sondern in diese besondere geistliche Gemeinschaft auch die Verstorbenen hineinzunehmen, die im mittelalterlichen Verständnis und nach christlichem Glauben in der Erwartung auf das ewige Leben auch weiterhin der christlichen Gemeinschaft angehörten 16. Diese gemeinschaftsstiftende memoria findet ihren Ausdruck erwartungsgemäß auch in den administrativen Schriftzeugnissen, die in der folgenden Arbeit behandelt werden. Das wesentliche Charakteristikum der memoria liegt in ihrer Dauerhaftigkeit über lange Zeiträume hinweg. Sie ist in den Dauerfonneln der urkundlichen Aufzeichnungen in den folgenden Gedanken gefaßt: das menschliche Gedächtnis sei von Vergänglichkeit bestimmt, deshalb sei es nützlich, ihre Dauerhaftigkeit durch schriftliche Aufzeichnungen zu bekräftigen. Solche Dauerfonneln, in denen die memoria eine Schlüsselrolle spielt, verdeutlichen die beweisbedürftige Geltungskraft des mittelalterlichen Rechts, für das wegen seiner "innere(n) Schwäche" und mangelnder "transpersonaler Dauer" 17 urkundliche Rechtsbestätigung unentbehrlich war. Die memoria steht hier für transpersonale Dauerhaftigkeit und schützt vor Vergessen. Wegen "der inneren Schwäche" des Rechtes, wie Krause es genannt hat, einer Schwäche, die aus der Vergänglichkeit "der verleihenden Machthaber" resultierte, brauchte man solche Dauerfonneln, wie der Hinweis auf die memoria eine war. Für das mittelalterliche Rechtsverständnis spielte die Traditionsbewahrung eine wesentliche Rolle. Die Dauerhaftigkeit bedeutete hierbei nicht unbedingt die Unveränderlichkeit, die für das mittelalterliche Recht nicht immer als Voraussetzung galt 18. Die Rechtsgültigkeit beruht auf dem gemeinsamen Gedächtnis, das zuerst durch die Aussage der Zeugen rechtskräftig wirkte. Die Beschlüsse von Verhandlungen wurdenkens im Mittelalter. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48); Karl Schmid, Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 21 (1965), S. 18-81; Ders., Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), S. 225-249; Ders., Das liturgische Gebetsgedenken in seiner historischen Relevanz, in: Freiburger Diözesan-Archiv 99 (1979), S. 20-44. 16 Gerd AlthojJ, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbildungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990; Otto Gerhard Oexle, Liturgische Memoria und historische Erinnerung. Die Frage nach dem Gruppenbewußtsein und dem Wissen der eigenen Geschichte in den mittelalterlichen Gilden, in: Norbert Kamp und Joachim Wollasch (Hgg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters. Berlin-New York 1982, S. 323-340; Ders., Die Gegenwart der Toten, in: Hermann Braet und Wemer Verbeke (Hgg.), Death in the Middle Ages (= Mediaevalia Lovaniensia 1,9) Louvain 1983, S.19-77; Ders., Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria, in: Karl Schmid und Joachim Woll asch (Hgg.), Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. München-Zürich 1985, S.74-107. 17 Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG germ. Abt. 75 (1958), S.206-251, hier S.217. 18 Hans Martin Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: Paul Wilpert (Hg.), Lex et sacramentum im Mittelalter, Berlin 1969, S.157-188.

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den mündlich vorgetragen und schriftlich beurkundet, um einen Rechtsakt verbindlich zu machen. Erst als das Vertrauen auf die Schriftlichkeit bei der Rechtssicherung gegenüber der mündlichen Rechtsbeglaubigung eine überwiegende Rolle spielen konnte, erfolgte eine Akzentverschiebung dahingehend, daß neben das gemeinsame Gedächtnis bei der Sicherung von Rechtsakten zunehmend die schriftliche Dokumentation treten konnte 19. Die urkundlichen Aufzeichnungen im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert sind durch ihre veränderte Funktionalität gekennzeichnet 20 . Man stützte sich immer häufiger auf schriftliche Beweisstücke, die für einen späteren Rückgriff nützlich werden sollten. Das zunehmende Sich-Verlassen auf schriftliche Beweismittel erweist sich als Anpassung an das zunehmende gesellschaftliche Bedürfnis nach der Nachprüfbarkeit der jeweiligen Rechtsverhältnisse und als Sicherheitsgedanke im Hinblick auf wachsende "Vorsorge gegen Rechtskonflikte"21. Der memoria-Gedanke, der in seiner häufigeren Verwendung als Indikator für den Prozeß vom auf Gedächtnis gestützten Rechtsverfahren zur immer mehr schriftbasierten Rechtspraxis gelten kann, fungierte nicht nur als alternative Form zur schriftlichen Absicherung im administrativen Handeln. Memoria als Begriff bewegt sich in wesentlich breiteren Bedeutungsfeldern, in denen sie mit möglichen Anlässen zur schriftlichen Fixierung wie dem "auf die Zukunft gerichteten Zeitverständnis"22 in Verbindung steht. Helmut G. Walther hat in diesem Zusammenhang die memoria in ihrem Rechtsbezug am Beispiel der Verjährungsfrist ins Licht gerückt 23 . Diese gemessene memoria in den Rechtstexten gilt als Kriterium für die Geltungsdauer des Rechtsakts nach einem bestimmten Zeitablauf. Das unsichere menschliche Erinnerungsvermögen verursacht die Instabilität und Wankelmütigkeit der Rechtsgültigkeit, so daß ihre genaue zeitliche Abgrenzung im Hinblick auf die Verjährung erforderlich wurde, die mit ihren Fristen und Klageformen seit dem 12. Jahrhundert in herrschaftlichen Rechtsverhältnissen wachsende Bedeutung gewann 24 . Vor diesem Hintergrund steht das Bestreben nach der Rechtssicherung in einer absehbaren Zeitspanne, weil festgesetzte Fristen und Termine konkrete Zukunftsplanung ermöglichen, 19 Dieser Vorgang trat in regional unterschiedlichen Formen auf, wobei sich keine klaren Grenzen zwischen den beiden Faktoren ziehen lassen. Vgl. M. T. Clanchy, From Memory to Written Record (wie Anm. 12). 20 Dieser Prozeß ist insbesondere in den italienischen Kommunen ersichtlich. Thomas Behrmann, Einleitung: Ein neuer Zugang zum Schriftgut der oberitalienischen Kommunen, in: Hagen Keller und Thomas Behrmann (Hgg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien, S. I-18. 21 Thomas Behrmann, Verschriftlichung als Lemprozeß. Urkunden und Statuten in den lombardischen Stadtkommunen, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 385-402, hier S. 392. 22 Thomas Behrmann, "Ad maiorem cautelam". Sicherheitsdenken, Zukunftsbewußtsein und schriftliche Fixierung im Rechtsleben der italienischen Kommunen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992), S. 26-53, hier S. 53. 23 Helmut G. Walther, Das gemessene Gedächtnis. Zur politisch-argumentativen Handhabung der Verjährung durch gelehrte Juristen des Mittelalters, in: Albert Zimmermann (Hg.), Mensura. Mass, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter. Berlin-New York 1983, S.212-233. 24 Walther, ebd., S. 218.

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I. Einleitung

wobei die "Zeit als Gestaltungselement von Rechtsverhältnissen" einen wesentlichen Aspekt bildete 25 • Die konkret für die Zukunft ins Auge gefasste schriftliche Rechtssicherung ist insbesondere für die italienischen Kommunen aufgezeigt worden, in denen dem Verwaltungsschriftgut ein besonderes Gewicht zukommt26 • Hierbei lassen sich Zeitbestimmungen als wichtiges Merkmal für "das Anwachsen der Rechtsschriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert" begreifen 27 • Die immer klarer definierte Geltungsdauer des Rechts in den kommunalen Schriftzeugnissen versteht sich als gesellschaftlicher Versuch, die Unsicherheit und Unklarheit für zukünftige Zeiten auszuräumen, wobei schriftliche Aufzeichnungen als normstiftende Stütze dienen sollten. Das kommunale Schriftgut veranschaulicht vor allem eine nicht unbedeutende Akzentverschiebung von der mündlichen Aussage der Zeugen zum schriftlichen Beweismittel in Rechtshandlungen 28 • Der Zeugenbeweis verlor zwar seine Bedeutung dabei nicht, aber die Zahl seiner Erwähnungen trat im Verhältnis zur vorhergehenden Zeit zurück, während die urkundlichen Beweisstücke deutlich zunahmen 29 • Der hier unverkennbare Zweifel am menschlichen Gedächtnis, der in den administrativen Schriftzeugnissen deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, läßt sich nicht nur als eine bloße skeptische Äußerung über das menschliche Wesen im allgemeinen, sondern auch als eventuell notwendiges Argument zur Rechtfertigung der geschriebenen Rechtsnorm verstehen, um eine übergreifende Stabilität zu schaffen. Die schriftlich gesicherte memoria sollte sich dabei als fortwährender Beweis für den gegenwärtigen Rechtsakt präsentieren. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach der schriftlichen Fixierung beschränkt sich nicht nur auf das Verwaltungsschriftgut. Die mittelalterliche Genealogie etwa präsentiert sich als historiographische Form der memoria, die sowohl als adelige Selbstdarstellung wie auch als Legitimationsversuch zu verstehen ist, wobei die 25 Ebd., S. 213; Über die Verschriftlichung der Normen und die Kontinuitätsschaffung hinsichtlich des Rechtsverfahrensvollzugs in den italienischen Kommunen siehe Keller, Die Veränderung gesellschaftlichen Handeins und die Verschriftlichung der Administration in den italienischen Stadtkommunen (wie Anm.4), insbesondere S.24f. Hermann Krause, Dauer (wie Anm.17). 26 Hagen KellerlThomas Behrmann (Hgg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien (wie Anm. 20); Hagen Keller, Vorschrift, Mitschrift, Nachschrift: Instrumente des Willens zu vernunftgemäßem Handeln und guter Regierung in den italienischen Kommunen des Duecento (wie Anm.4); Ders., Die Veränderung gesellschaftlichen Handeins (wie Anm.4); Ders., Oberitalienische Statuten als Zeugen und als Quellen für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), S. 286-314; Hagen KellerlJörg W. Busch (Hgg.), Statutencodices des 13. Jahrhunderts als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit. München 1991; Thomas Behrmann, "Ad maiorem cautelam" (wie Anm. 22). 27 Behrmann, "Ad maiorem cautelam" (wie Anm. 22), S. 48. 28 Hagen Keller, Die Veränderung gesellschaftlichen Handelns (wie Anm.4), S. 24 f.; Behrmann, "Ad maiorem cautelam" (wie Anm.22), S.42ff. 29 Thomas Behrmann, Von der Sentenz zur Akte. Beobachtungen zur Entwicklung des Prozeßschriftgutes in Mailand, in: Hagen Keller und Thomas Behrmann (Hgg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien, S. 71-90, hier S. 84 f.

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Konfliktbewältigung eine bedeutende Rolle spielte 30 • Neben die genealogische Geschichtsschreibung treten die Gründungsgeschichten von Klöstern wie zum Beispiel Prüfening, Biberg, Formbach, Komburg in Hinblick auf die rechtsbeweisende Funktion von Historiographie in unser Blickfeld 3!. Die Gründungsgeschichte oder die Traditionsbücher waren nützlich zur Besitzverteidigung, denn "die Schaffung eines Hilfsmittels zur Verwaltung der zerstreuten Besitzungen und deren juristische Verteidigung war die Hauptursache für die Entstehung dieser Literatur,m. Sie bieten beachtenswerte Interpretationsmöglichkeiten, die unter dem Aspekt von memoria als Re~1tfsargument herangezogen werden können 33 •

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Die vorliegende Untersuchung zielt aber nicht auf eine begrifflich klare Abgrenzung der memoria- Wendungen. Ihr Augenmerk sollte sich eher auf die Akzentverschiebung je nach dem Kontext richten. Der Frage etwa nach der allerersten Verwendung von memoria überhaupt wird dabei kein vorrangiger Stellenwert zugemessen. Solche Fragen werden nur dann gestellt, wenn sich ein aussagekräftiger Befund daraus ergibt. Was vielmehr beachtet wird, ist die Entwicklung der memoria- Wendungen innerhalb der gleichen Schriftprovinz und die mögliche Beeinflussung unter den Regionen hinsichtlich bestimmter Formulierungen. Andererseits setzt eine solche Wortanalyse voraus, die Funktionalität der urkundlichen Fixierung differenzierend zu behandeln. Mündlichkeit und Schriftlichkeit - beide Elemente ergänzen einander beim Vollzug der urkundlichen Handlungen. Das beweiskräftige Rechtsverfahren wurde mündlich vorgeführt und schriftliche Aufzeichnungen dienten als Beglaubigungsmittel. Der in der Einleitung der Urkunden gebrauchte Begriff memoria fungierte sozusagen als eine Brücke zwischen mündlicher Absprache und schriftlicher Fixierung. Neben dieser Funktion muß man auch stilistische Eigenschaften in Betracht ziehen 34 • Die in den Arengen eingesetzten rhetorischen Formulierungen sollten auch auf die Fixierung der vorgeführten Rechtsakte im Gedächtnis einprägend wirken 35 • 30 Hans Patze, Adel und Stifterchronik, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 8-81 und 101 (1965), S. 67-128, hier insbesondere im zweiten Teil; Gerd Althoff, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstverständnisses, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (1986), S. 34-46; Ders., Heinrich der Löwe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilung des "Annalista Saxo", in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 41 (1985), S. 66-100; Dtto Gerhard Dexle, Adeliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedenken - das Beispiel der Welfen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134 (1986), S.47-75. Ders., Die Memoria Heinrichs des Löwen, in: Dieter Geuenich/Ders. (Hgg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (wie Anm.7). 31 Hans Patze, Adel und Stifterchronik (wie Anm. 30). 32 Jörg Kastner, Historiae fundationum monasteriorum. München 1974, hier S.87. 33 Siehe im folgenden Kapitel III. 3. 34 Heinrich Fichtenau, Bemerkungen zur rezitativ ischen Prosa des Hochmittelalters, in: Anton Haidacher/Hans Eberhard Mayer (Hgg.), Festschrift für Karl Pivec, Innsbruck 1966, S.21-32. 35 Heinrich Fichtenau, Rhetorische Elemente in der ottonisch-salischen Herrscherurkunde, in: MIÖG 68 (1960), S.39-62.

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I. Einleitung

Die memoria war eines der wichtigen Grundelemente in der klassischen Rhetorik, die für die mittelalterliche Schulbildung von Bedeutung waren. Es handelt sich hierbei um die memoria als Mnemotechnik, deren methodische Disziplin beispielsweise von Hugo von St. Viktor in seinen Werken über die Einführung ins Studium erläutert wurde 36 • Die in dieser Gedächtnislehre präsentierte memoria veranschaulicht die damalige Lernmethode und den Lernprozeß, dessen Schwerpunkt darauf liegt, einmal eingeprägte Sachverhalte jederzeit abrufen zu können. Was diese memoria kennzeichnet, ist der Versuch, die menschliche Schwäche, also das Vergessen, konstruktiv zu bewältigen. Neben der so verstandenen memoria als Gedächtniskunst erweckte eine andere Art von memoria das Interesse der Intellektuellen im 12. Jahrhundert. Gelehrte wie Hugo von Amiens, JElred von Rievaulx und Anse1m von Canterbury erörterten die memoria nicht im bezug auf den praktischen Gebrauch des Gedächtnisses im Sinne der rhetorischen Tradition, sondern richteten ihr Augenmerk auf die von Augustinus geprägte Funktionalität der memoria, die den Mechanismus des Gedächtnisses an sich betrifft 37 • Die memoria als Gedächtnis scheint auf vielfältige Weise ein wachsendes Interesse im mittelalterlichen wissenschaftlichen Milieu gefunden zu haben. Die Rhetorik bildete eine wesentliche Voraussetzung für die Zunahme pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter38 • Die rhetorischen Kenntnisse dienten als Voraussetzung für die ausgebildeten Notare, deren Schriftfähigkeit seit dem 12. Jahrhundert immer mehr von der Gesellschaft nachgefragt wurde 39 • In der Verbreitung der ars dictaminis in Italien, Frankreich, Deutschland und England spiegelt sich die eindeutige Tendenz zur Verschriftlichung und das soziale Bedürfnis nach der praktischen Schreib1ehre sowohl als Brieflehre wie auch als diplomatische Tätigkeit der ars notariae 40 • 36 William M. Green, Hugo of St. Victor: De tribus maximis circumstantiis gestorum, in: Speculum 18 (1943), S.484-493; lerome Taylor, The Didascalicon of Hugh of St. Victor. A Medieval Guide to the Arts. New York-London 1961; G.A. Zinn, Hugh ofSaint Victor and the Art of Memory, in: Viator 5 (1974), S.211-234; Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Modeme entstand. Ein Kommentar zu Hugos "Didascalicon". Frankfurt a. M. 1991; Karin Margareta Fredborg, Twelfth-Century Ciceronian Rhetoric: Its Doctrinal Development and Influences, in: Brian Vickers (Hg.), Rhetoric Revalued: Papers from the International Society for the History ofRhetoric. New York 1982, S. 87-97; Dies., The Scholastic Teaching of Rhetoric in the Middle Ages, in: Universite de Copenhague, Cahiers de I 'Institut du Moyen-Age Grec et Latin 55 (1987), S. 85-105; Dorothy Evelyn Grosser, Studies in the influence of the Rhetorica ad Herennium and Cicero's De inventione. Cornell Univ. 1953. 37 Gillian Rosemary Evans, Two Aspects of ,Memoria' in Eleventh and Twelfth Century Writings, in: Classica et Medievalia 32 (1971-80), S. 263-278. 38 Franz losef Worstbrock, Die Antikerezeption in der mittelalterlichen und der humanistischen Ars dictandi, in: August Buck (Hg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 1), Hamburg 1981, S.187-208. 39 William D. Patt, The Early "Ars dictaminis" as Response to aChanging Society, in: Viator 9 (1978), S.133-155. 40 Franz losefWorstbrock, Zur Frage der Herausbildung der Ars dictandi. Die Anfange der mittelalterlichen Ars dictandi, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 1-42; Ders., Die

2. memoria als Forschungsgegenstand

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Die praktische Anwendung der Rhetorik auf das diplomatische Schriftgut wurde seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Frankreich in Gang gesetzt. Ihre Theorie, dargelegt in der Mustersammlung für administrative Schriftzeugnisse des Bernhard von Meung, ist ein Beispiel für diesen Prozeß, dessen weiterer Niederschlag im sozialen Umfeld des 13. Jahrhunderts in Italien, insbesondere in Bologna, festzustellen ist41 • Bologna, ein wichtiges Zentrum der Rechtswissenschaft im Mittelalter, zeigt sich als Schnittpunkt zwischen der Verschriftlichung des Rechts und der Praktizierung der Rhetorik auf dem Feld der schriftlichen Verwaltung 42 • Diese auf schriftlicher Fixierung und dazu geeigneter Schreiblehre basierende Verwaltung konnte dann in italienischen Kommunen ihre weitere Entwicklung erfahren 43 • Die Schriftstücke an sich hatten dabei ihre Funktionsfelder erweitert, nämlich vom als Gedächtnisstütze dienenden Beweismittel zum effizienzsteigemden Verwaltungsinstrument. b) Untersuchungsmaterial

In der vorliegenden Studie wird versucht, anband der Arengen den Bedeutungswandel des Begriffs memoria und seines Gegenbegriffs oblivio zu ermitteln. Man könnte mit Recht danach fragen, ob den Arengen an sich so große Bedeutung beizumessen ist. Vor solcher Kritik darf man sich mit der grundlegenden ArengaforFrühzeit der Ars dictandi in Frankreich, in: Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, S. 131-156; Martin Camargo, Ars dictaminis, ars dictandi. Tumhout 1991 (= Typologie des sources du moyen äge occidental, Fasc.60). 4\ Johannes Meisenzahl, Die Bedeutung des Bemhard von Meung für das mittelalterliche Notariats- und Schulwesen, seine Urkundenlehre und deren Überlieferung im Rahmen seines Gesamtwerkes. Diss. Würzburg 1960; im allgemeinen Winfried Trusen, Zur Geschichte des mittelalterlichen Notariats. Ein Bericht über Ergebnisse und Probleme neuerer Forschungen, in: ZRG roman. Abt. 98 (1981), S. 369-381. 42 Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena. Köln-Wien 1974; Charles M. Radding, The Origins of Medieval Jurisprudence: Pavia und Bologna. New Haven-London 1988; dazu Johannes Fried, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45 (1989), S. 287 f.; Helmut G. Walther, Die Anfange des Rechtsstudiums und die kommunale Welt Italiens im Hochmittelalter, in: Johannes Fried (Hg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (= Vorträge und Forschungen 30), Sigmaringen 1986, S. 121-162; Über die Beziehung Friedrich Barbarossas zu den Bologneser Gelehrten siehe Winfried Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica "Habita"), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 123-165; vgl. Albert Lang, Rhetorische Einflüsse auf die Behandlung des Prozesses in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts, in: Martin Grabmann und Karl Hofmann (Hgg.), Festschrift für Eduard Eichmann, Paderbom 1940, S.69-97. 43 Hagen Keller/Thomas Behrmann (Hgg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien. München 1995; Hagen Keller, Vorschrift, Mitschrift, Nachschrift (wie Anm.4); Ders., Die Veränderung gesellschaftlichen Handeins (wie Anm.4); Ders., Oberitalienische Statuten als Zeugen und als Quellen für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13 . Jahrhundert (wie Anm.4); H agen KelierlJörg W. Busch (Hgg.), Statutencodices des 13. Jahrhunderts als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit (wie Anm.13).

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I. Einleitung

schung von Heinrich Fichtenau rechtfertigen, die wesentliche Untersuchungsaspekte ausführlich behandelt und eine Übersicht über diesen Untersuchungsbereich gegeben hat. Fichtenau verdeutlicht, daß die Arengen nicht nur als bloße Einleitungsformel dienen, sondern auch "Lebensformen" und "Denkformen" veranschaulichen, die ihre Wurzeln in der Antike hatten 44 • Nur ein Aspekt davon, der auch bei Fichtenau behandelt ist 45 , wird in der vorliegenden Untersuchung thematisiert. Unser Augenmerk ist darauf gerichtet, die Verbreitung des Begriffs memoria zeitlich und örtlich noch genauer zu erfassen. Zu diesem Zweck bietet die parallele Betrachtung der einzelnen Formulierungen in den bischöflichen Urkunden eine geeignete Forschungsgrundlage, um der Übernahme innerhalb und außerhalb bestimmter Regionen vergleichend näherzukommen. Die Untersuchung solcher Wechselbeziehungen wird zeigen, daß eine gewisse Gemeinsamkeit der Wortauswahl innerhalb der einzelnen Regionen feststellbar ist. Solche Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch nicht mit einfacher Abschrift erklären, weil trotz des gemeinsamen memoria-Gedankens wesentlich unterschiedliche Ausdrücke und Akzentuierungen gewählt worden sind. In bezug auf die gemeinsame Kontinuitätsbasis in der Antike wird diese regional unterschiedliche Ausgestaltung der Sprachtradition zu beachten sein. Unser Untersuchungsansatz ist selbstverständlich durch eine Materialauswahl eingeschränkt, die keinesfalls Vollständigkeit erwarten läßt. Diese Einschränkung erklärt sich aus den Editionslagen der einzelnen Bistümer, deren Ungleichmäßigkeit den kritischen Vergleich zuerst zu verhindern scheint 46 . Vor gut dreißig Jahren hat Peter Johanek in einer grundlegenden diplomatischen Arbeit geäußert: "Eine Forschungsaufgabe der Zukunft hat es zu sein, die Vermittlung der Formelsammlung und ,artes' von den französischen Schulen nach Osten näher zu untersuchen und ihre Auswirkung auf den Wandel des Urkundendiktates festzustellen: eine Aufgabe nicht nur der Diplomatik, sondern auch der Schul- und Bildungsgeschichte."47 Die hier vorliegende Arbeit möchte einen kleinen Beitrag dazu anhand der Entwicklung und Tradierung des Begriffs memoria leisten.

44 Heinrich Fichtenau, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (wie Anm.11). 45 Ebd., zum Thema "Schriftlichkeit und memoria", insbesondere, S.131-137. 46 Vgl. auch Fichtenau, ebd., S. 12. 47 Peter Johanek, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg. Würzburg 1969, S.287.

11. Bischöfliche Urkunden Die im folgenden Kapitel näher zu betrachtenden bischöflichen Urkunden bieten unterschiedliche Untersuchungsansätze: zum einen für territorialgeschichtliche Forschungen, die insbesondere die innere Konsolidierung der Territorialherrschaft in den Blick nehmen wollen. Zum anderen für ideengeschichtliche Forschungen, die in den dort zum Ausdruck gebrachten Formulierungen Weltanschauung, Gedankenwelt und das Amtsverständnis der Aussteller erfassen wollen. Beide Ansätze lassen sich selbstverständlich nicht immer deutlich voneinander trennen, und die urkundlichen Überlieferungen müssen als Ganzes behandelt und erforscht werden. Die vorliegende Arbeit legt dennoch ihren Schwerpunkt auf die Ideengeschichte, und ihre materielle Basis bildet der Diktatvergleich der Arengen. Der Grund dieser methodischen Beschränkung liegt darin, daß die Vorarbeiten die enge Verbindung zwischen dem Charakter der Rechtsgeschäfte und den dort auftauchenden Wendungen mit memoria oder oblivio nicht immer erkennen lassen, so daß der Einsatz solcher Wendungen eher von den beteiligten Verfassern abhängig war. Wir richten zunächst den Blick auf den quantitativen und qualitativen Wandel der bischöflichen Urkunden im zu untersuchenden Zeitraum, bevor wir uns den Quellen der einzelnen Bistümer zuwenden. Zuerst stellt sich die Frage nach der Gültigkeit des Rechtsakts. Der frühmittelalterliche Rechtsakt führte seine Geltungskraft vorwiegend auf symbolische Handlungen zurück. Der schriftlichen Beurkundung wurde im Vergleich zu den hauptsächlich zeugengestützten Rechtshandlungen im Laufe der Zeit immer mehr Gewicht beigemessen, wie die zunehmende Zahl überlieferter Urkunden - umso mehr, wenn die Überlieferungschance vom Zufall abhängig war 48 - unverkennbar zeigt 49 • Diese Tendenz läßt sich - abgesehen von vermuteten Überlieferungsverlusten - insbesondere seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in den verschiedenen Regionen bestätigen 50. Die in der vorliegenden Studie behandelten Bistümer zeigen auch diesen Prozeß nachdrücklich, doch der Einsatz und die allgemeine Anerkennung der schriftlichen Fixierung in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld waren regional und zeitlich verschieden 51 • 48 Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529-570. 49 Ein markantes Bild bieten die Würzburger Urkunden. Vgl. Peter lohanek, (wie Anm.47). 50 Die Verschriftlichung von Rechtsgeschäften fand insbesondere im 12. Jahrhundert in England in beispielhafter Weise statt: M. T. Clanchy, From Memory to Written Record (wie Anm.12). 51 Das Magdeburger Urkundenwesen zeigt ebenfalls die steigende Bedeutung der Beurkundung im 12. Jahrhundert, wie die anwachsende Zahl der urkundlichen Überlieferung gegenüber den narrativen Quellen deutlich erkennen läßt. Vgl. Ola! Rader, Das Urkundenwesen der

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11. Bischöfliche Urkunden

Der qualitative Wandel des Urkundenwesens läßt sich sowohl in äußeren Merkmalen (Schrift 52 , formaler Aufbau) als auch in der sprachlichen Gestaltung erfassen. Insbesondere bei der Analyse der Arengen kann man die sprachliche Entwicklung in den Regionen deutlich feststellen. Der Einsatz rhetorischer Mittel in den Arengen setzt eine hinreichende Ausdrucksfähigkeit der im Umfeld der Bistümer tätigen Schreibkräfte voraus 53 . Die Ausbildung der Notare - wenngleich die Kanzlei im 12. Jahrhundert noch nicht als feste Institution zu sehen ist 54 - bestand wesentlich im Erlernen der Sprachtradition: sie rezipierten den im Skriptorium bereits gebräuchlichen Stil aus den ihnen vorliegenden älteren Urkunden. Die Wortauswahl ist dabei auf den Verfasser, entweder den Aussteller selbst oder den an der Abfassung beteiligten Notar, zurückzuführen. Wenn in den Urkunden desselben Ausstellers neue Ausdrücke auftauchen, dann darf man hierfür die aktive Mitwirkung eines bestimmten Personals verantwortlich machen. Bei der folgenden Untersuchung wird auch die Wechselwirkung zwischen der Verfeinerung und Ausarbeitung der Arengen im untersuchten Zeitraum und der dabei zu beobachtenden Verwendung des Begriffs memoria mitberücksichtigt werden: wenn sich die Arengen in ihrer Gestaltung und Funktion verändern, dürfte dieser Wandel auch auf den Bedeutungsumfang eines Begriffs einwirken. Das häufigere Auftauchen des Begriffs memoria in den Arengen ist in diesem Zusammenhang zu beachten. Die Frage, wie die Einstellung zur unsicheren memoria in Erscheinung trat, wird im folgenden zuerst am Beispiel der Bistümer Mainz, Magdeburg, Halberstadt und Würzburg behandelt werden.

1. Deutsche Bistümer a) Mainz

Die Führungsposition der Mainzer Erzbischöfe hinsichtlich der Ausbildung einer schriftgestützten Verwaltung zeigt sich an der Zahl der ausgestellten Urkunden und aufgrund des hier vergleichsweise früh einsetzenden gehobenen Stils 55 • In unser Erzbischöfe von Magedeburg bis zum Tode Erzbischof Wich manns von Seeburg 1192, in: Sachsen und Anhalt 18 (1994), S.417-514, hier S.425ff. 52 Walter Heinemeyer, Studien zur Geschichte der gotischen Urkundenschrift, Köln-Wien 21982. 53 Ein Beispiel zu einzelnen Schreibkräften mit gewählter Ausdruckflihigkeit siehe unten, Kapitel IV. 3. über Wibald, den Abt von Stablo und Corvey. 54 Hans-Walter Klewitz, Cancellaria. Ein Beitrag zur Geschichte des geistlichen Hofdienstes, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters I (1937), S.44-79; Ders., Königtum, Hofkapelle und Domkapitel im 10. und 11. Jahrhundert, in: Archiv für Urkundenforschung 16 (1939), S. 102-156. 55 Karl-Heinz Ullrich, Die Einleitungsformeln (Arengen) in den Urkunden des Mainzer Erzbischofs Heinrich I. (1142-1153). Diss. Marburg 1961; Wilfried Schöntag, Untersuchungen zur Geschichte des Erzbistums Mainz unter den Erzbischöfen Amold und Christian I.

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Blickfeld rücken insbesondere die Urkunden von Erzbischof Heinrich I. (11421153), unter dem die Arenga, welche "in den Urkunden der Vorgänger noch relativ selten begegnet, in der Mainzer Kanzlei endgültig heimisch" wurde 56 . Die Zahl der Urkunden mit Arengen stieg beträchtlich an, und die einzelnen Arengen wurden stilvoller ausgeschmückt 57. Anstelle der früheren kurzen und eher einfachen Arengen ist ein gehobener Stil seit der Mitte des 12. Jahrhunderts anzutreffen. Insbesondere bemerkenswert sind Äußerungen in den Arengen, in denen sich die individuelle und persönliche Haltung des Ausstellers widerspiegelt. Erzbischof Heinrich, der sich den Staufern gegenüber in einer schwierigen politischen Lage befand und im Jahr 1153 schließlich abgesetzt wurde 58 , äußerte in den Arengen seine Einstellung zum bischöflichen Amt und zu seinen Ptlichten 59 wie zu "seinen Tugenden und Aufgaben", die mit den "an antike, biblische und theologische Vorstellungen der Zeit anknüpfende(n) Ausdrücke(n) wie ,pastor', ,pater', ,cultor', ,gubernator' und besonders ,speculator' "60 begründet worden sind. "Wie nachhaltig die unter Heinrich in der Mainzer Kanzlei formulierten Arengen im Diktatgut der Nachfolger weitergewirkt haben", bestätigen nach K.-H. Ullrich "auch die Arengen der Erzbischöfe Christi an von Buch und Konrad von Witte1sbach in sehr eindrucksvoller Weise"61. Bei der Diktatübernahme ist seit Erzbischof Heinrich I. eine gewisse Kontinuität über den Amtswechsel hinaus zu beobachten. Bei einem Notar unter Heinrich I. taucht die gebräuchliche Wendung memorie commendare, der man auch in anderen Bistümern oft begegnet, erstmals in Mainz auf. Es handelt sich um den Notar Gernot 62 , welcher um die Mitte des 12. Jahrhunderts in der Mainzer Diözese tätig war. Gernot war für die Urkundenausstellung der Erzbischöfe von Mainz durchgehend vom Ende der vierziger bis zum Anfang der siebziger Jahre zuständig. Er gehörte schon unter Erzbischof Heinrich zur Kapelle 63 . Im Jahre 1160 wird er als Magister 64 und 1171 als Sc hol aster von St. Stephan (1153-1183). Darmstadt und Marburg 1973; Siglinde Oehring, Erzbischof Konrad I. von Mainz im Spiegel seiner Urkunden und Briefe 1161-1200. Darmstadt und Marburg 1973. 56 Ullrich, ebd., S. 167. 57 Ebd., S. 3 ff. 83 Prozent der unter Heinrich I. ausgestellten Urkunden sind mit längeren Arengen ausgestattet. 71 von 92 Urkunden haben Arengen (drei davon mit verkürzten Arengen). Heinrichs Nachfolger, der Erzbischof Arnold, stellte 29 Urkunden aus, von denen 26 Urkunden Arengen (eine davon mit verkürzter Arenga) aufweisen. 58 Vgl. Heinrich Büttner, Erzbischof Heinrich von Mainz und die Staufer (1142-1153), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 69 (1958), S.247-267; Ludwig Falck, Klosterfreiheit und Klosterschutz. Die Klosterpolitik der Mainzer Erzbischöfe von Adalbert I. bis Heinrich I. (1100-1153), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 8 (1956), S. 21-75. 59 Ullrich (wie Anm. 55), S. 28 ff. 60 Vgl. ebd., S. 114ff., hier S.167. 61 Ebd., S. 166. 62 Die Bestimmung der Verfasserschaft hinsichtlich Diktat und Schrift beruht auf Mainzer Urkundenbuch, 2. Bd., Teil I: 1137-1175 und Teil 11: 1176-1200, hg. von Peter Acht, Darmstadt 1968 und 1971. 63 Vgl. Schöntag (wie Anm.55), S.260, Anm.470. 64 Mainzer Urkundenbuch, Bd. 2.1, S. 456, Nr. 251: magister Gernotus.

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in Mainz genannt 65 • In den von Gemot ausgefertigten Urkunden begegnet die memoria-Wendung, um den Schutz vor Nachlässigkeit und VergeBlichkeit zu begründen, wobei das schriftlich Bewahrte als gutes Vorbild für die Nachwelt dienen soll66. Außer in den von Gemot ausgefertigten Urkunden findet man unter Erzbischof Heinrich I. keine weitere Benutzung der Wendung memorie commendare. Doch taucht eine andere memoria-Formulierung bei dem ungefähr zeitgleich tätigen Notar Magnus auf67• Dieser verwendete den Begriff memoria, um die Vergänglichkeit des Zeitablaufs zu kennzeichnen, was sich von Gemots Wendung klar unterscheidet. Gemot benutzte die Wendung memorie commendare auch weiter unter Heinrichs Nachfolger, Erzbischof Amold (l153-1160)68, welcher unter König Konrad III. Reichskanzler und königlicher Kapellan war 69 • Unter Amold verfaßte und schrieb Gemot alle Urkunden, die in der bischöflichen Kanzlei ausgefertigt worden sind. Dabei wurden Gemots Ausdrücke immer eleganter und variantenreicher im Vergleich zu seinen früheren, unter Heinrich I. verfaßten Urkunden. Es darf dabei nicht übersehen werden, daB er selbst nicht immer die memoria-Wendung benutzt hat. Gemot verwendete oft allein oblivio ohne memoria 70. Die Formulierung ne forte succedentium Ebd., Nr. 338: Gemodus magister scolarum. Z. B. ebd., Nr. 159 (1151), S.294, zwei Or., Diktat von Gemot, Schrift von Amold 11. C (= Gottfried von Viterbo?) A: Ad nostrum spectat officium, quos miseratio divina sancte ecelesie speculatores instituit, bene operantibus cooperari et pia eorum facta auctoritate nostra cOIToborare et memorie commendare, ne forte suceedentium temporum vetustate veniant in oblivionem et negligentiam; Nr. 173 (1152), S. 323, Or., Diktat von Gemot. A: Ad nostrum spectat officium, quos summus ille paterfamilias domus sue speculatores constituit, ad profecturn et incrementum sancte ecelesie omne studium nostrum accommodare et subditorum nostrorum affectum, ut in idipsum intendat, pia exhortatione excitare et, cum aliquid ad honorem dei et utilitatem ecelesie operati fuerint, auctoritate nostra confirmare et memorie eommendare illud, ne sueeedentium temporum vetustate veniat in oblivionem, sed posteritati bene operandi forma sit et exemplum. 67 Unter Erzbischof Heinrich verwendete der Notar Magnus den Begriff memoria gelegentlich in derCoIToboratio. Z.B. Ebd., Nr. 70 (1145), S.139, Or., C: Nos igitur, quia eum tempore labitur memoria, ne suceedentium prefatam traditionem aliquando vexet iniuria, in verbo domini prescripta confirmavimus sigillique nostri impressione, ut inconvulsa permaneant, subiunctis testibus in virtute spiritus sancti munivimus. Vgl. Nr.3, 20, 71, 72, 74, 85, 199,331. 68 Ebd., Nr.209 (1155), S. 379, Or., Diktat von Gemot, A: ... ut et de nostris facultatibus ipsorum necessitati subveniamus et, si qua pia fidelium devotio ipsis contradidit, auctoritate nostra cOIToboremus et sanctam eorum conversationem confirmando memorie eommendemus, ne sueeessione temporum veniant in oblivionem et negligentiam. 69 Hausmann, Reichskanzlei und Hofkapelle unter Heinrich V. und Konrad II1., Stuttgart 1956, S.122ff. und S. 293. 70 Ebd., Nr.38 (1143), S. 71, Kopialbuch des Klosters St. Peter zu Erfurt vom Ende des 15. Jh., A: ... per negligentiam vel antiquitatem depravatum est aut oblivioni traditum est. Vgl. Nr.85 (um 1146), S. 165, A: ... Cum omnis rei maxime detrimentum sit negligentia, summopere in re conservanda adhibenda est futurorum providentia; paulatim enim et labore magno sepe recolligitur, quod vel senio et oblivione vel custodum desidia distrahitur. Das Diktat der letzteren Urkunde stammt vom Notar Magnus, der in den von ihm diktierten Urkunden 65

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temporum vetustate veniant in oblivionem et negligentiam ist häufiger bei ihm zu finden 71. Gemot war unter Erzbischof Christi an I. (1165-1183) bis zum Jahre 1171 tätig und benutzte weiterhin die memoria- Wendung in variierten Ausdrücken 72, wobei hier auch die schriftliche Aufzeichnung als Beglaubigungsmittel gewürdigt wird 73 • Man kann mit Recht fragen, warum die in den anderen Bistümern übliche Wendung memorie commendare zunächst nur bei Gemot in Mainzer bischöflichen Urkunden ihre Verwendung fand und wie sie sich einbürgerte. Um diese Fragen beantworten zu können, fehlt es jedoch an genaueren Aussagen über Herkunft und Ausbildung Gemots. Es könnte allerdings aufschlußreich sein, mit anderen Privaturkunden aus dem Mainzer Bereich zu vergleichen, worauf später zurückzukommen sein wird. Die von Gemot verfaßten Urkunden, mit denen das Mainzer Urkundenformular sprachlich fortentwickelt und verfeinert wurde, unterscheiden sich von anderen durch ihre stilistische Nähe zu Formulierungen der königlichen bzw. kaiserlichen Diplome Friedrich Barbarossas. Dabei könnte vielleicht Gemots berufliche Umgebung eine Rolle gespielt haben, außerdem die Tatsache, daß er seine notarielle Tatigkeit unter Erzbischof Arnold besonders intensiviert hat. Amold von Selehofen, Mitglied des Mainzer Domkapitels und Kapellan Erzbischof Adalberts 1., übernahm seit 1138 die Leitung der Hofkapelle unter Konrad II1. 74 In den in der Reichskanzlei ausgestellten Diplomen, an deren Ausfertigung Amold selbst als Notar beteiligt war, findet sich jedoch keine memoria-Formulierung. Im Vergleich der erzbischöflichen Urkunden mit den königlichen bzw. kaiserlichen Diplomen kann man zumindest eine wörtliche Übereinstimmung feststellen 75, auch das Begriffspaar memoria und oblivio benutzte. Die Mainzer Urkunden zeigen interessante Beispiele für die frühere Verwendung des Begriffs oblivio. Das Wort oblivio als Begründung der Urkundenausstellung sowie die allgemeine Auffassung von der menschlichen Natur kommt unabhängig von memoria in den Urkunden bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf. Vgl. Mainzer Urkundenbuch, Bd.l, hg. von Man/red Stimmung, Darmstadt 1932, Nr.417 (1104), S. 322, Kopialbuch des KI. St. Peter zu Erfurt vom 15. Jh., A: ... et quid per negligentiam, que decreverunt, aut per antiquitatem aut per oblivionem depravatum est. 71 Z.B. Mainzer Urkundenbuch, Bd.2.1, Nr.159 (1151), Nr.197 (1154), Nr.232 (1158), Nr.244 (1159). Vgl. Nr. 173 (1152), Nr. 209 (1155). 72 Ebd., Nr. 336 (1171), S. 569f., Or., Diktat und Schrift von Notar Gemot, A: ... que ex actu subditorum nostrorum certis experimentis ad nostram pervenerunt noticiam, auctoritate nostra roborata debitis monimentis memorie commendare, ut posteritas inveniat et intelligat, quod digne approbare et imitari debeat, et sic etas ad etatem form am pie ac iuste vivendi necnon operandi usque ad ultimum electum transmittat. 73 Ebd., Nr.338 (1171), S. 573, Or., Gemots Diktat, A: Speculatio pontificalis officii et dignitatis, ad quam nos divina vocavit dignatio, expostulat, ut plenam inter opera lucis et tenebrarum discretionem habeamus et, quid a quo et qualiter agatur, perpendentes opera pietate iusticia irradiata auctoritate scripti nostri memorie commendemus, ut posteritas inveniat, quod digne laudare et imitari debeat. 74 Hausmann (wie Anm. 69), S. 123 f. 15 Z. B. Mainzer Urkundenbuch, Bd. 2.1, Nr. 252 (1160), S. 457, drei Abschriften im Kopialbuch des Klosters Neumünster, eine vom 16. und zwei vom 17. Jh., Diktat von Gemot, A:

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wobei das kaiserliche Urkundenfonnular vom bischöflichen beeintlußt worden zu sein scheint. Das betreffende kaiserliche Diplom ist von dem als Ulrich B bezeichneten Notar verfaßt, der aus dem Mainer Suffraganbistum Halberstadt stammte 76 • Im Jahre 1170 taucht unter Erzbischof Christian eine von anderer Hand ausgefertigte Urkunde auf, in der ebenfalls die Arenga zum Ausdruck bringt, daß die memoria durch die Schrift vor der VergeBlichkeit geschützt werden solle 77 • Die hier wieder auftauchende memoria-Wendung läßt sich von derjenigen Gemots unterscheiden und eine eigenständige Wortwahl des Notars vennuten. Danach kann man die memoria-Wendung in variierter Fonn häufig in den erzbischöflichen Urkunden aus den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts finden. Sie scheint von den anderen Notaren weiter rezipiert worden und in Mainz zum festen Bestandteil des Diktatguts geworden zu sein 78 • Generatio advenit et generatio praeterit (vgl. Eccl. 1.4.), et cunctis rebus temporalibus ad casum tendentibus ne praesentium facta per annorum revolutiones veniant in oblivionem et negligentiam, opus est pietatis et providentiae futurorum ea memoriae scriptis commendare et auctoritate privilegiorum corroborare; DF.1. 517 (1166), S.455, der Schreiber Ulrich B, A: ... ne forte ob annorum revolutionem et hominum decessionem et successionem veniant in obIivionem et negligentiam. 76 Siehe unten Kapitel IV.; vgl. Rainer-Maria Herkenrath, Zwei Notare Friedrich Barbarossas und des Reichslegaten Christian von Buch, in: MIÖG 73 (1965), S. 247-268. Ders., Ulrich, Notar des Erzbischofs Wichmann von Magdeburg und scriptor Kaiser Friedrich Barbarossas, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S.4I-51. 77 Nr. 325 (1170), S.554, Or., mit der Bemerkung des Herausgebers: "Diktat und Schrift stammen von Notar Rupert 11., Propst von Obermockstadt, der nach 1160 in der Kanzlei tätig war." A: Quod memorie sempiteme commendandum est, ne dispendio temporis transeat in oblivionem, scripto perpetuare curamus. Vgl. Schäntag (wie Anm. 55), S. 63. 78 Der Begriff memoria als Erinnerung an die Geschäfte fand weiter Verwendung unter dem folgenden Erzbischof Konrad. Vgl. Mainzer Urkundenbuch 2. Bd. Teil 11: 1176-1200, hg. von Peter Acht, Darmstadt 1971, Nr.465 (1184), S. 759, Or., A: ... idcirco dignum duximus factum rationabile sub nostri presentia emolumenti causa et spe future utilitatis peractum tenaci superventure posteritatis memorie litterarum nostrarum expressione commendatum et nostre auctoritatis sigillo communitum inviolabiliter ac invariabiliter perpetuo observandum transmittere; Nr.466 (1184), S. 761, Abschrift aus dem im Jahre 1943 im Staatsarchiv Hannover verbrannten Kopialbuch des Klosters Reinhausen aus dem 15.Jh. Das Diktat stammt von Notar Heinrich, der für die Corroboratio die Urkunde Nr. 117 als EmpfangervorIage heranzog. A: ... que sub nostre presencie peraguntur memoria, ne in oblivionem transeant, tenaci antiquitatis scripto et sigilli municione confirmaturn roborare; Nr. 516 (1189), S. 850, Or., dazu der Herausgeber: "Das Diktat stammt von einem Kanoniker des Stiftes Aschaffenburg, der das Privileg des Papstes Luzius III. von 1184 Dez. 21 (JL 15143) als VU verwandte, die Schrift von der Hand eines sonst nicht nachweisbaren Romanen, wie aus den Formen der Eigennamen hervorgeht, womit sich auch die für Mainzer Verhältnisse sehr fortgeschrittene Schrift erklärt." A: Porro ne processu temporis ea, que legitime flunt, in oblivionem deducantur, solent eadem fidel(is) scripti testimonio perhennari. Als Zeuge ist Wortwin, der ehemalige Kanzleinotar bei Friedrich 1., als Aschaffenburger Propst (1183-1196) genannt; Nr. 521 (1189), S. 858, Libri variorum aus dem 17. Jh., A: Proinde quia in tempore gesta labente tempore labuntur a memoria, quod rationabiliter actum cognoscimus, notitiae posterorum in pagina praesenti scripto transmittimus; Nr. 536 (1190), S. 894, Or. Diktat und Schrift stammen von Notar Werner, Scholaster von St. Stephan. Vgl. Nr.658 (1196), A: Propter fragilem humane conditionis memo-

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Die memoria- Wendung beschränkt sich jedoch nicht auf die erzbischöflichen Urkunden, sondern verbreitete sich im Mainzer Raum in anderen Privaturkunden seit den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts 79. Dabei kann man feststellen, daß sehr variierte Ausdrücke Verwendung fanden. Die einzelnen Formulierungen sind so unterschiedlich, daß man hier keine gegenseitige Beeinflussung annehmen kann. Daraus ist zu schließen, daß eine solche Einstellung zur memoria, welche durch die menschliche Vergänglichkeit bestimmt ist, im Mainzer Raum zu dieser Zeit allgemein verbreitet war. Die memoria sei wegen der Unsicherheit der menschlichen Natur gefährdet. Es läßt sich hier eine skeptische Haltung gegenüber der Beständigkeit des Menschen und dem unleugbaren Wandel der Zeit erkennen 80. Das wegen des riam seu ad malignantium hominum dolositatem repellendam certa scriptorum indicia cum sint necessaria, presentis auctoritate pagine universorum tarn presentium quam futurorum notificandum duximus memorie. Die memoria- Wendung im Kontext von Vergeßlichkeit und Schriftlichkeit fand in den neunziger Jahren in Mainzer Urkunden weiter ihre Verwendung. Nr.625 (1195), S. 1023, Or., Diktat und Schrift stammen von Notar Hermann von Kirchbauna. A: Ut ad nostre posteritatis noticiam negotia, que a nobis geruntur, certiora perveniant, litterarum ea memorie commendamus; Nr. 641 (1196), S. 1044, Kopialbuch des Stifts St. Stephan aus dem 14. Jh. Das Diktat stammt von Notar Hermann von Kirchbauna, A: Ut ea, que humana ordinat dispensatio, memorie commendari valeat, scriptis digne annotantur, alioquin mutua successione temporum in oblivionem facHe labuntur. 79 Nr.495 (1187), S. 810, Or., Diktat und Schrift stammen von einem unbekannten Verfasser und Schreiber, A: Labili ex nature vitio memorie artifitiali scripturarum officio subvenire consuevit divinitus homini data sollertia, ut ea, que cottidie ad honorem dei et ecclesie profecturn geruntur, quadam perpetuitatis immagine referantur ad posteros, ne oblivionis errore intercepta in recidive questionis scrupulum denuo relabantur. Als Zeuge ist wiederum der Propst Wortwin von Aschaffenburg (1187-1196) belegt. Vgl. Nr.516 (1189); Nr.599 (1193-1194), S.986, Or., Aussteller: Abt Hezechin von St. Jakob von Mainz, das Diktat stammt von einem unbekannten Verfasser. A: Quoniam in rebus humanis nichH firmum, nichil est stabile, litterarum suffragiis utendum est, ut, quod humana memoria non retinet, scripture stabilitas omnibus incu1cet. Die ebengenannten Beispiele veranschaulichen die Vorstellung von der Unsicherheit der menschlichen Natur und den Versuch, mittels schriftlicher Fixierung zu sichern, was das menschliche Gedächtnis nicht bewahren kann; Nr. 701 (1199), S.1146, Or., Diktat und Schrift stammen von einem Kanoniker von St. Johann. A: Quoniam humanarum rerum incertus est eventus et mobilis fortuna in utramlibet partem facile declinatur, non solum presentia, verum etiam futura ratio nos admonet intueri. Presens itaque per scripturn posterorum transmittimus memorie presentem contractum in nostri presentia celebratum; Nr.604 (1194), S. 996, Or., Diktat und Schrift stammen von einem Kanoniker des Stiftes St.Johann und dem Notar Werner, Scholaster von St. Stephan, A: Sicut predecessorum nostrorum opera karitatis decore fulgentia ob ipsorum piam recordationem vivati memorie nos decet commendare, sic modernorum pie facta defendentes oblivionis ab interitu, posteris quidem in exemplum, ipsis vero benefactorum auctoribus in perpetuam benedictionem, conservare debemus; Nr. 709 (1200), S. 1157, Kopialbuch des Stifts St. Peter von 1253/54, das Diktat stammt von unbekannter Hand, A: Ea que per iuris favorem rationisque diffinitionem litis occasioni subtrahuntur, taliter expedit scriptis et bullis communiri, ne ullatenus oblivione posteritatis mutari valeant vel infringi, et maxime cum ex temporum volubilitate et pretereunte hominum generatione oblivio facti se ingerat. 80 Nr.507 (1187), S. 827, Or., Aussteller Propst L(upold) von Neuhausen u. a., A: Tempus edax rerum omnia facta humana secum in oblivionem trahit, nisi aut litterarum suffragio aut vivo testimonio ad memoriam hominum, que labilis est, revocentur.

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menschlichen Zustandes und der Sterblichkeit der Menschen vergängliche Gedächtnis wird als Motiv der Urkundenausstellung auch genannt. Die Erinnerung, die durch die menschliche Natur leicht verdrängt werden könne, solle durch die Niederschrift bewahrt werden 81 • Solche Überlegungen scheinen seit den achtziger Jahren im Mainzer Gebiet verstärkt ins Bewußtsein der Zeitgenossen getreten zu sein 82 • Man kann einen Grund für die Ungleichmäßigkeit und Vielfältigkeit in der Verwendung des Begriffs memoria in der individuellen Neigung der einzelnen Verfasser suchen. b) Magdeburg In Magdeburger Urkunden finden sich weitere Aspekte des Begriffs memoria. Im Vergleich mit dem Mainzer Erzbischof, welcher unter den deutschen Bischöfen aufgrund seiner Beurkundungstätigkeit eine Führungsposition in der Reichspolitik innehatte, blieb die Urkundenpraxis der Magdeburger Erzbischöfe bis zur ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch weit zufÜck 83 • Die überlieferte Zahl Magdeburger Urkunden beträgt lediglich zwölf bis zum Jahre 1134, also wesentlich weniger als in anderen deutschen Bistümern, wie z. B. in Halberstadt, Würzburg oder Bamberg 84 • Eine Untersuchung des Magdeburger Urkundenwesens leidet auch unter der nicht günstigen Überlieferungslage. Bis zum Jahre 1192 sind insgesamt 145 Urkunden überliefert. Nur ein Drittel davon sind Originale. Wegen dieses Überlieferungszustandes kann nur mit Vorbehalt die Verfasserschaft festgestellt werden. Dennoch zeigt sich trotz der vergleichsweisen Rückständigkeit des Urkundenwesens ein eigenes Bild bei der Verwendung des Begriffs memoria. In den Magdeburger Urkunden steht die liturgische memoria als Gedenken an die Toten im Vordergrund. Sie fand in Magdeburg ihre Verwendung das ganze 12. Jahrhundert hindurch in den administrativen Schriftzeugnissen 85 • Erst im Jahr 1140 taucht die rechtsgeschäftbezogene memoria in Verbindung mit der oblivio in der Nr.495 (1187), Nr. 599 (1193-1194), wie Anm. 79. Vgl. Mainzer Urkundenbuch, Bd.l, Nr.494 (1121), S.397, Kopie Kindlingers, Aussteller sind die Brüder des Stifts St. Stephan zu Mainz, A: Quia multis rerum difficultatibus, quibus mortalitas nostra afficitur, rerum gestarum memoria habeatur et temporum interlabente curricul0 haut facilis erit, posteris nostris preteritorum cognito idcirco, que a nobis gesta sunt, nostris temporibus Iitteris mandare curamus, ut quamlibet antiqua si nt actione, renoventur, animis subsequentium Iitterali notione. 83 Ola! Rader, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Magdeburg bis zum Tode Erzbischof Wichmanns von Seeburg 1192, in: Sachsen und Anhalt 18 (1994), S. 417-514, hier S.422f. Bis zum Jahre 1134 liegen nur 12 Urkunden aus Magdeburg vor, während 132 Urkunden von Mainzer Erzbischöfen ausgestellt worden sind. 84 Vgl. Rader, ebd., S.424, Diagramm 1. 85 Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, Teil 1 (937-1192), bearb. von F./sraet unter Mitwirkung von W. Möllenberg (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen NR 18), Magdeburg 1937. Hier z. B. Nr. 1: 937, Nr. 74: 973, Nr. 100 (985), Nr. 121 (1004), Nr. 140 (1025), Nr.236 (1135), Nr. 238 (1135). 81

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Arenga einer Urkunde über ein Tauschgeschäft auf. Hier wird memoria in dem Sinne verwendet, daß das vollzogene Rechtsgeschäft durch schriftliche Aufzeichnung in der Erinnerung zu bewahren und diese vor dem Vergessen zu schützen sei 86 • Unter ErzbischofWichmann von Seeburg (1152/54-1192) stieg die Urkundenzahl im Vergleich zu den früheren Amtsträgern drastisch an 8? Während sein direkter Vorgänger Friedrich (1142-1152) nur elf Urkunden ausstellte und weitere sechs nichturkundlich nachweisbare Rechtsakte auf ihn zurückgeführt werden können, sind von Wichmann 115 Urkunden überliefert 88 • Diese Urkundenzahl ist verhältnismäßig hoch einzuschätzen, auch wenn man seine langjährige Amtszeit berücksichtigt. Wichmann, der auf Betreiben Friedrichs I. auf den Magdeburger Erzstuhl gelangt war, betrachtete die Güterpolitik als eine seiner Hauptaufgaben 89 • Um die unter seinen Vorgängern verlorengegangenen Güter wieder zurückzugewinnen, rechtfertigte er gelegentlich seine Besitzbestätigungen mit der Betonung der schriftlich zu bewahrenden memoria. In einer Bestätigungsurkunde kann man eine gewisse Zukunftsorientierung erfassen: die Schrift als Mittel, um für die Nachwelt die Erinnerung an die vollzogenen Rechtsgeschäfte wachzuhalten 90 • Es war nicht ungewöhnlich, die memoria mit dem schriftlich Bewahrten, littera oder noticia, gleichzusetzen. Die Vorstellung von der schriftlich zu sichernden memoria war in den frühen Urkunden Wichmanns jedoch noch nicht fest verankert. Bis zum Jahre 1163 kann man für mehr als die Hälfte der ausgestellten Urkunden nur unter Vorbehalt feststellen, welcher Magdeburger Notar die mit dem Begriff memoria verbundenen Ausdrücke bevorzugt benutzt hat. Ab 1164 waren zwei Notare, Ulrich und Friedrich, unter Wichmann tätig 91 • 27 von 134 Urkunden während seiner gesamten Regierungszeit lassen sich auf diese beiden Notare zurückführen; bei weiteren zwölf ist ihre Beteiligung anzunehmen 92 • Ihr Anteil zwischen 1164 und 1180 beträgt zusammen 35 von 86 Diese Urkunde ist als Abschrift überliefert, und ihre Verfasserschaft ist schwer zu bestimmen. Nr.248 (1140), S. 313, Abschrift vom 15.Jh., A: ... ne huius concambii memoriam longevitas in posteris per oblivionem dilueret, hanc inde paginam conscribere et in ea mansos omnes datos seu receptos denotare, quave firmitate hoc utrumque stabilitum sit, significare necessarium duximus. 87 Rader (wie Anm. 83), hier S.425 ff. 88 Von Erzbischof Konrad von Querfurt (1134-1142) sind für seine 8jährige Amtszeit nur 7 Urkunden überliefert. 89 Vgl. Dietrich Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert. Köln-Wien 1975. Hier über Wichmann, S. 71 ff.; Joachim Ehlers, Erzbischof Wich mann von Magdeburg und das Reich, in: Erzbischof Wichmann (1152-1192) und Magdeburg im hohen Mittelalter. Ausstellungskatalog, hg. von Matthias Puhle, Magdeburg 1992, S. 20-31. 90 UB Magdeburg, Nr.293 (1157), S. 364, Or., C: ... ita hec omnia presentium memorie et futurorum noticie per presentia scripta artius commendantes et sigilli nostri impressione corroborantes auctoritate die omni potentes et ... 91 Rainer Maria Herkenrath, Zwei Notare Friedrich Barbarossas. Ders., Ulrich, Notar des Erzbischofs Wichmann von Magdeburg und scriptor Kaiser Friedrich Barbarossas (wie Anm.76). 92 Die erforderliche Übersicht bietet die Tabelle bei Rader (wie Anm. 83), S. 509ff.

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II. Bischöfliche Urkunden

46 erhaltenen Urkunden (circa 76%). Sie geben uns einige Hinweise auf die in Magdeburg zu dieser Zeit mit dem memoria-Begriff verbundene Vorstellungswelt. (1) Ulrich (= der Notar der Reichskanzlei Heinrich A)93

Ulrich ist von 1168 bis 1179 als Magdeburger Notar nachweisbar. Neun Urkunden können auf seine Verfasserschaft zurückgeführt werden, und noch eine weitere auf sein Diktat. Andere neun Urkunden, die meist nur als Abschrift überliefert sind, stammen möglicherweise auch aus seinem Diktat94 • Ulrich hinterließ trotz seiner zehnjährigen Tätigkeit lediglich zwei Beispiele für die Verwendung des Begriffs memoria in Magdeburger Urkunden 95 • Diese memoria ist als liturgisches Gedenken zu verstehen. Später war Ulrich auch in der Reichskanzlei tätig 96 • Seine Mitwirkung an der Herstellung von acht Kaiserurkunden ist zwischen 1168 und 1182 nachweisbar97 • Dabei verdienen zwei Urkunden unsere Aufmerksamkeit 98. Ulrich hat die erste Urkunde von diesen zwei Kaiserurkunden nach Wortwins 99 Diktat geschrieben. Der dabei verwendete Ausdruck perhenni commendare memorie ist zur betreffenden Zeit in der Reichskanzlei geläufig 100. In der anderen Urkunde von 1173 warnt Ulrich hingegen vor der VergeBlichkeit der Nachwelt. Die beiden Arengen unterscheiden sich wegen ihrer Formelhaftigkeit von den Magdeburger Urkunden, die auch auf Ulrich zurückgeführt werden können. Bei seiner Tätigkeit in der Reichskanzlei scheint er sich eine Ausdrucksweise der formelhaften Kanzleisprache angeeignet zu haben. 93 Dieser Notar ist in der Untersuchung Bierbachs als Friedrich A gekennzeichnet. Vgl. Arthur Bierbach, Das Urkundenwesen der älteren Magdeburger Bischöfe. Diss. Halle 1913. 94 Rader (wie Anm. 83), S. 509 ff. 95 Nr. 329 (vor 1170), S. 429, Or., ... qui etiam pro remedio anime sue et uxoris parentumque suorum et filiorum filiarumque memoria supradictam ecclesiam in Glochowe devote construxit deoque et sanctis eius eam dedicari fidelissima administratione procuravit; Nr.342 (1173), S. 452, ... ut post obitum nostrum idem servitium in diem anniversari nostri transferatur et inde eadem die in perpetuum nostri memoria habeatur. 96 Vgl. Herkenrath (wie Anm. 91), hier insbesondere S.44ff. 97 DF.I.545 (1168), 546 (1168), 547 (1168), 599 (1173), 700 (1179), 780 (1179), 781 (1179), 822 (1182). 98 DF.1. 546 (1168), S. 5, nur die Schrift stammt von Heinrich A, dagegen das Diktat von Wortwin, A: Imperialem celsitudinem decet predecessorum suorum pia facta non solum inviolabiliter conservare, sed etiam censure sue auctoritate alacriter et sollempniter confirmata perhenni commendare memorie, ne quod adivis imperatoribus ad laudem dei necessitatibus ecclesiarum et saluti provinciarum clementer indultum et irrefragabiliter institutum est, decursu temporum vel qualibet rerum varietate posteris hoc fiat dubium vel incertum; DF. 1. 599 (1173), S. 82, Schrift und Diktat stammen von Heinrich A, A: ne conventi(ones hinc inde) com(petentens apud) posteros in oblivionem redigantur. 99 Über Wortwin siehe unten Kapitel IV. 2. c) (6). 100 Siehe unten Kapitel IV. 2. c).

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(2) Der Notar Friedrich, Propst von Seeburg? Der von 1168 bis 1185 nachweisbare Notar Friedrich war Kanoniker des Magdeburger Stifts St. Sebastian und wahrscheinlich Propst des Stifts See burg 101. Er ist an 17 erhaltenen Urkundenausfertigungen unter Wichmann beteiligt. Außerdem dürfen wohl noch drei weitere Urkunden auf ihn zurückgeführt werden lO2 • Der Begriff memoria taucht in den von ihm verfaßten Urkunden zweimal im traditionellen Sinn des Totengedenkens, etwa als anniversarii memoria, auf lO3 • Die eine Urkunde bezieht sich auf eine Stiftung für das St. Nikolaistift, die andere ist eine Bestätigung derselben. Friedrich verwendete zweimal den Begriff oblivio unabhängig von memoria lO4 • Die Formulierungen sind so unterschiedlich, daß man keine Formularbenutzung dafür annehmen kann. Im Vergleich mit den anderen Urkunden, die auch oblivio- Wendungen enthalten, kann keine wörtliche Übernahme festgestellt werden 105. Alle Formulierungen sind zwar unterschiedlich, dennoch sind ähnliche Gedankengänge im Magdeburger Kreis feststellbar. Die anderen Urkunden von der Hand Friedrichs zeigen noch weitere oblivio- Wendungen in der Kombination mit memoria lO6 • Die fromme Tat vor Gott solle nicht verVgl. Herkenrath, Ulrich (wie Anm. 76), hier besonders S. 50, Anm. 92 und 94. Nr.314 (1165), 345 (1175), 365 (1179-1180). 103 Nr. 366 (1180), S.480, Abschrift vom 14.Jh., .. . ad memoriam anniversarii nostri convertimus; Nr. 369 (1180), S.484, Abschrift vom 14.Jh., ... pro ipsius Sifridi annniversarii memoria et etema salute conferret. 104 Nr. 326 (1168), S.425, Or., A: Ne ulla vetustate superveniente in oblivionem affectus, quae ecc1esie et fratribus in Gratia Dei nostra karitas amministravit, licet exiguus sit in opere, id modicum, quod iam dicte ecc1esie ad consolacionem fratrum et ad elemosinam pauperum contulimus, scripto et privilegio nostro propter eos, qui contra veritatem ingenium suum acuunt, volumus confirmari, ut id, quod fecimus, secundum donacionem nostram firmum permaneat; Nr.357 (1178), S.469, Abschrift vom 14. Jh., A: Consideracione multimode utilitatis ecclesiarum, que nobis subiecte sunt, ad sopiendas lites, que ex labentium temporum oblivione possent evenire, ut pax, quam presencialiter sub nostro regimine eis conservari cupimus, post nos permaneat, ad earum privilegia renovanda et bona earum, que sub nullo c1ausa erant privilegio, sub titulo, privilegiorum annotanda decrevimus et ad hane cautelam canonieos ecclesiarum nostrarum sepe exhortando invitavimus. 105 Nr.400 (1156 nach November 30 bis 1185 vor Februar 9), S. 527, Abschrift vom 12.Jh., A: Ut presens aetio, que celebrata et consummata est per nostre voluntatis assensum, per oblivionem in errorem non labatur in posterum, eapropter notum facimus tarn futuris quam presentibus, quod Everherus de Alesleve duos mansos ecc1esie in Gerbezstat pertinentes ab abbatissa eiusdem ecc1esie sub contractu emptionis obtinuit, ea tarnen racionis determinacione, ut, si voluerit, in memoriam sui ecc1esie ipsos assignare possit, sin autem, quoad vixerit, libere eos et quiete possideat; Nr.422 (1188), S. 556, Abschrift vom 14. Jh., A: Ne ea, que inter nos et ecc1esiam beati Nikolai in concambio bonorum Parchowe facta sunt, alicui in oblivionem veniant, eapropter notum esse volumus universis tarn futuris quam presentibus. 106 Nr. 384 (1182), S. 505, Or., A: Licet contractus, qui fiunt inter ecc1esias, ex ipso iure caritatis firmi esse debeant et inconvulsi, tarnen superfluum esse non videtur, ut hii propter inobIiviscibilem memoriam scripto commandentur, quos nebula oblivionis forte posset obfuscare; Nr.401 (1185), S. 528, Or., A: Licet in oblivionem apud deum non veniant ea, que ei offeruntur, tarnen superfluum nobis non videtur, ut pia horn in um gesta oculis humanis appa101

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gessen, sondern wachgehalten werden. Die dort ausgedrückte Fonnulierung ut pia hominum gesta oculis humanis appareant steht im Zusammenhang mit dem exempla-Gedanken, welcher auch in den anderen Magdeburger Urkunden auftaucht. Bei den Magdeburger Schreibern Ulrich und Friedrich ist ein traditionelles Verständnis von memoria als liturgisches Gedenken trotz der wenigen Beispiele wohl erkennbar. In einer Bestätigungsurkunde von Erzbischof Wichmann für Kloster Bosau im Bistum Naumburg wird betont, daß die schriftlich zu bewahrende Erinnerung an den Amtsträger als Vorbild dienen solle 107. Als Vorurkunde diente eine Urkunde Erzbischof Friedrichs aus dem Jahre 1151 108 , in der dem Kloster Bosau die von den Naumburger Bischöfen Dietrich und Udo gemachten Schenkungen bestätigt worden waren. Ihre Arenga behandelt das gleiche Thema unter Benutzung einer ähnlichen Wendung, jedoch ohne den Begriff oblivio. Dabei kommen folgende Aspekte zum Ausdruck: 1. Memoria bedeutet hier die Erinnerung an bestimmte Personen. 2. Das betreffende Geschäft sei schriftlich zu überliefern, weil es die Nachwelt beachten und nicht vergessen solle. 3. Die vorgeführte fromme Tat solle den Zeitgenossen und Nachkommen als Vorbild (exemplum) dienen und sie gegebenenfalls zur Nachahmung anspornen. Diese Urkunde ist wohl eine Empfangerausfertigung 109 und veranschaulicht in der Arenga den gleichen Grundgedanken wie bei dem Notar Friedrich, der zum Ausdruck brachte, daß die fromme Tat den nachkommenden Menschen vor Augen geführt werden solle. Dieser exempla-Gedanke taucht weiter in den erzbischöflichen Bestätigungsurkunden auf llO : Die gute Tat vor Gott, die zu belohnen sei, solle nicht reant, ne hoc, quod deo oblatum est, per ignorantiam aut oblivionem aliter, quam statutum est, possit revocari. 107 Nr.335 (1171), S.438, Abschrift vom 14. Ih., A: Iustum est et racioni approximat debitumque officii nostri expostulat venerabilium patrum ecclesie nostre pie memorie suffraganeorum episcoporum laude digna facta admirari, diligere, approbare, posterorum quoque noticie, ne in oblivionem veniant, scripto transmittere, ut et presentes exempla bene vivendi habeant et futuri pro maiorum suorum benefactis dominum benedicendi materiam inveniant. Eapropter notum esse volumus omnium Christi fidelium, qui coequalem nobiscum sortiri sunt fidem, et presencium universati et futurorum posteritati, qualiter venerabilis pater felicis recordacionis Dithericus Nuenburgensis ecclesie episcopus pro etema sui suorumque memoria monasterium in honore beate Marie perpetue virginis a fundamentis in monte, qui Buzowe dicitur ... 108 Nr.272 (1151), S. 341, Abschrift vom 14. Ih., A: Officii nostri nos hortatur auctoritas venerabilium patrum et percipue ecclesie nostre filiorum pie memorie episcoporum laude digna facta admirando diligere et diligendo approbare et approbando ad posteros eciam per scripta transmittere, ut videlicet et presentes, quod imitentur, habeant et futuri, unde dominum in maiorum suorum operibus venerentur, inveniant. 109 Vgl. Rader (wie Anm. 83), S.467. 110 Nr.4l1 (1185), S.542, Abschrift vom 14.Ih., A: Cum quelibetvere karitatis operaapud deum sub eterna remuneracione refulgeant, iustum est, ut hec eadem in conspectu hominum in oblivionem non cadant, sed ad bone operationis exemplum sub perhenni memoria

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in Vergessenheit geraten, sondern als exemplum für die nachkommenden Menschen gelten. Daraus darf man schließen, daß die Personenbezogenheit der memoria in Magdeburg weiter vorherrschend blieb und sich die Verwendung des Begriffs memoria traditionell in einem liturgischen Umfeld bewegte 111. Sie läßt sich mit der Erinnerung an den Amtsvorgänger gleichsetzen 112. Neben dieser personenbezogenen, über Generationen hinweg wirksamen, liturgisch verwendeten memoria kommt die sachorientierte memoria rerum gestarum in einer Tauschurkunde zum Ausdruck 113. Die betreffende Tauschurkunde ist eine Empfangerausfertigung aus dem Kloster Gottesgnaden, die Verfasserschaft ist nicht genau zu bestimmen 114. rutilent, in posterum .... Ut itaque omnis nostra hec donacio saluti anime nostre et parentum nostrorum proficiat, statuimus nichilominus, ut memoria nostra ac parentum nostrorum in eadem ecclesia rediviva recordacione perpetuis temporibus inobliviscibilis permaneat ita, quod in festo sancti Larnberti uberior fratribus refectio provideatur et proxima die sequenti celebris nostri ac parentum nostrorum memoria missarum ac commendacionibus, celebracionibus peragatur et quingenti panes in elemosine largicione pauperibus erogentur. Vgl. Nr.431 (1191), S. 567, Or., A: Cum quelibet vere caritatis opera apud deum sub eterna remuneratione refulgeant, iustum reputarnus, ut hec eadem apud homines in oblivione non cadant, sed ad bone operationis exemplum sub perhenni rutilent memoria in posterum. 111 Nr.400 (1156 nach November 30 bis 1185 vor Februar 9.), wie Anm.105; Nr.446 (1184 nach Oktober 24 bis 1192), S. 579 f.... In hac curia domum edificavit pie memorie Sifridus Bremensis archiepiscopus earnque in memoriam sui deo et beate Marie in usum predictorum fratrum devotus obtulit. ... De argento autem reditus comparabuntur, de quibus memorati burchravii et parentum eius iugis memoria agatur. Ut autem hec rata et inconvulsa permaneant, actionem hanc scripto commendare et sigillo nostro signare curavimus et possessionem prefatarn ecclesie beate Marie banno nostro confirrnavimus; Nr. 314 (1165), S. 398, ... pro remedio anime domini Craftonis beate memorie; Nr. 315 A (1166), S. 399 f., Or., Communicato itaque consilio venerabilis prepositi Ludigeri ac religiose abbatisse Hochburge iam dicti monasterii et prefati decani nostri Sifridi statuimus humiliter in domino flagitantes, quatinus devota Christo dominarum congregatio in presentiarum inibi congregatarum sive adhuc in domino congregatarum in cottidianis orationum suarum suffragiis seu missarum celebrationibus nostri memoriam faciat, et post mortalis ac fragilis vite et caduce glorie huius decursum obitus nostri diem et predicte dilectoris nostri decani Sifridi memorie commendet atque in vigiliis et missa pro defunctis per annos singulos concelebret. Ut autem huius geste rei memoria iam dicti cenobii fratribus et sororibus in futurum nota habeatur. Vgl. Nr. 315 B (1166), S.404, Or., ... quas etiarn ob memoriam nostri subternotare curavimus. Dies gilt als die einzige bekannte vorn Dekan des Domkapitels ausgestellte Urkunde im 12. Jahrhundert. Claude (wie Anm. 89), S. 216; vgl. Nr.325 (1167), in memoriam suL 112 Die Wendung beatae memoriae praedecessoris veranschaulicht den Wunsch des Ausstellers Wichmann, durch die Verehrung seiner Vorgänger seine Stellung sichern zu wollen. Nr. 294 (1157), S. 366, Abschrift um 1800 [wahrscheinlich nach dem Or.] ... beatae memoriae praedecessoris mei domini Friderici archiepiscopi. Vgl. Nr.236 (1130), Nr.238 (1130); Nr. 323 (1160-1166), S.418, ... reverende memorie Norberti ... pie memorie Norberto; Nr.424 (1189), S. 558, Abschrift vorn 14. Jh., A: Predecessorum nostrorum exemplo, quorum memoria in benedictione est, nos quoque nostri memoriam in benedictione sempiterna constituere desiderantes notum facimus. 113 Nr.408 (1185), S. 537, Or., A: Quoniam facile contingit, quod memoria rerum gestarum ob longi temporis decursum in oblivionem ducitur, ad id cavendum notum esse volumus. 114 Vgl. Rader (wie Anm. 83), S.462.

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Seit den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts begegnen die oblivio-Wendungen häufiger. Im Laufe der Zeit, so heißt es in den Arengen, schleiche sich der Nebel der Vergeßlichkeit ein, weshalb unsere Erinnerungen verblaßten 115. Diese Äußerung begründet die Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung, welche der Vergeßlichkeit der Menschen entgegenwirken solle. Die hier präsentierte Vorstellung begegnet bereits früher, doch läßt sich nun ein starkes Bewußtsein vom Zeitablauf erkennen 116. Daneben findet die personenbezogene liturgische memoria weiterhin ihre Verwendung 117. Die Magdeburger Beispiele erweitern unsere Vorstellungen von der Bedeutung des Begriffs memoria. Die memoria, die im liturgischen Gebrauch die vergegenwärtigte Erinnerung an bestimmte Personen ausdrückt, kommt in den Magdeburger Urkunden in Verbindung mit der oblivio, also der Vergeßlichkeit der Menschen, vor 1\8. Die menschliche Vergeßlichkeit sei zwar unvermeidlich, doch dürfe die fromme Tat als Vorbild für die Nachwelt nicht vergessen werden. Dieses Motiv ist auffallend in den Magdeburger Urkunden 1 19. Die ab den achtziger Jahren oft allein vorkommenden oblivio-Ausdrücke finden sich in Urkunden über Rechtsgeschäfte wie Besitzübertragungen oder -bestätigungen 120. Nicht nur um neue Rechtsverhältnisse zu sichern, sondern um das in Vergessenheit geratene Recht wieder ins Gedächtnis zu rufen, sei die schriftliche Aufzeichung nützlich. 115 Nr. 367 (l180), S. 481, Or., ... aliqua nebula oblivionis valeat obtenebrare; Nr.384 (1182), wie Anm.l06; Nr.405 (1185), S.533, Or., A: Ne per oblabentis temporis cursum aut per oblivionis caliginem facta nostra aliquam in se dampnosam inveniantur habere contrarietatem; vgl. Nr.408 (1185), wie Anm.113; Nr.4l0 (1185), S. 540, Or., A: Quoniam non solum res exigue, verum etiam eximie, que nec scripto nec aliquo signo denotate sunt, labentis temporis vetustate plerumque in oblivionem cadunt, ne ea, que rationabiliter agimus, dampnosam in posterum contrarietatem inveniant, opere precium arbitrati sumus, ut scripta nostra ea posteritati elucident et distinguant; Nr.413 (um 1185), S.545, Abschrift vom 12. Jh., A: Ne ob labentis temporis cursum aut per oblivionis caliginem ea, que rationabiliter agimus, dampnosa in posterum contrarietas intercipiat, opere precium arbitrati sumus scripta nostra interponere, que hec posteritati elucident et distinguant; Nr.414 (um 1185), S. 546, Abschrift vom 12.Jh, A: Licet ea, que inter familiares ecc1esie nostre aguntur, ex debita fidelitatis familiaritate incontaminata debeant persistere, tarnen, ne longinquitas temporis vel aliqua nebula oblivionis id, quod coram nobis statuitur, possit obtenebrare; Nr.430 (1191), S. 566, Or., A: Ne ea, que rationabiliter vel pietatis intuitu flunt, aliqua possint oblivione deleri vel aliqua pravorum perturbatione convelli, iustum est ea et scriptis autenticis muniri et omni, qua potest fieri, firmitate roborari; Nr.433 (1191), S. 569f., Abschrift vom 16. Jh., A: Cum ob labentis evi mutabilem cursum pleraque mortalium acta oblivionis iacturam in posterum incurrant, iustum reputamus, ut ea, que a nobis racionabiliter statuuntur, scripta nostra posteritati dilucident et distinguant. 116 Vgl. zu Mainz siehe oben Kapitel II.1.a). 117 Nr.424 (1189), Nr.446 (1184 nach Oktober 24 bis 1192), wie Anm.111. 118 Nr.335 (1171), Nr.400 (1156 nach November 30 bis 1185 vor Februar 9), Nr.411 (1185). 119 Nr.401 (1185), Nr.335 (1171), Nr.411 (1185), Nr.431 (1191). 120 Nr. 326 (1168), Nr. 335 (1171), Nr.357 (1178), Nr.384 (1182), Nr.400 (1156 nach November 30 bis 1185 vor Februar 9), Nr.401 (1185), Nr.405 (1185), Nr.408 (1185), Nr.4l0 (1185), Nr.411 (1185), Nr.413 (um 1185), Nr.414 (um 1185), Nr.422 (1188), Nr.430 (1191), Nr.431 (1191), Nr.433 (1191).

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In den Magdeburger Urkunden werden die damaligen Vorstellungen von der unvenneidlichen VergeBlichkeit der Menschen hervorgehoben. Charakteristisch für Magdeburger Urkunden ist eine Begründung der Urkundenausstellung als Gegenmittel gegen die menschliche VergeBlichkeit vor Gott. Die Ausstellung einer Urkunde wurde im Mittelalter als ein Mittel verstanden, die geschehene Tat vor Gott wachzuhalten. Dafür wurde die notwendige schriftliche Absicherung hervorgehoben. In Magdeburg kann man einen Prozeß beobachten, in dem oblivio als Begründung für die schriftliche Fixierung benutzt wird, während memoria als Gedenken eher in einem liturgischen Bedeutungsumfeld verbleibt. c) Halberstadt An den Halberstädter Bischofsurkunden lassen sich ebenfalls eigene Entwicklungsstufen der Urkundenfonneln aufzeigen 121. Hier kommen Arengen im Vergleich mit der urkundlichen Überlieferung erst später auf l22 • Während das Magdeburger Urkundenwesen unter Erzbischof Wichmann insbesondere in den achtziger Jahren einen sprunghaften Anstieg verzeichnen konnte, nahm die Halberstädter Urkundenzahl unter den Bischöfen Dietrich (1180-1193), Gardolf (1193-1201) und vor allem unter Friedrich II. (1208-1236) zul23. Seit dem 13. Jahrhundert gestaltete sich das Halberstädter Urkundenwesen bei zunehmender Zahl von Urkunden mit länger werdenden Arengen einheitlicher l24 • Dies läßt sich auch für die Verwendung der Begriffe memoria und oblivio in unserem Untersuchungszusammenhang erkennen. Im Urkundenbuch des Halberstädter Hochstifts tritt der Begriff memoria vom 10. bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts nur als Erinnerung an die Toten, Heiligen oder Amtsvorgänger in den Königs- oder Papsturkunden auf l25 • Erst im Jahre 1121 be121 Wesentliche Aspekte der Arengenuntersuchung für die Halberstädter Urkunden sind von Walter Zöllner vorgelegt worden. Ders., Die Arenga in den Urkunden der Bischöfe von Halberstadt von den Anfangen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Halberstädter Universität 13 (1964), S.207-213. 122 "Das erste voll ausgebildete Proömium findet sich in einer Halberstädter Urkunde unter Bischof Friedrich I. im Jahre 1105, also erst 140 Jahre nach dem Einsetzen der urkundlichen Überlieferung." Zöllner, ebd., S. 208 und Anm. 14: "das erste Vorkommen in den Urkunden der benachbarten Bistümer: Mainz 888, Hildesheim 1019, Magdeburg 1094, Naumburg 1103, Meißen 1114, Brandenburg 1139, Havelberg 1145, Merseburg 1166." 123 Helmut Beumann, Beiträge zum Urkundenwesen der Bischöfe von Halberstadt (965-1241), in: Archiv für Urkundenforschung 16 (1939), S.I-IOI. Hier siehe die Tabelle auf S. 5. Die Regierungszeit und die erhaltene Urkundenzahl der Bischöfe sind: Dietrich, 13 Jahre, 45 Urkunden; Gardolf, 8 Jahre, 57 Urkunden; Friedrich 11., 27 Jahre, 128 Urkunden. 124 Alle 27 Urkunden, die bei Bischof Konrad (1201-1208) ausgestellt waren, sind mit Arengen ausgestattet. Zöllner (wie Anm.12I), hier S.208. 125 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, 1. Theil: bis 1236, hg. von Gustav Schmidt, Leipzig 1883 (= abgekürzt UB Halberstadt 1). Nr.22 (937), S. 10, C: pro domni et genitoris nostri beate memorie Heinrici regis anime salvatione; Nr.41 (973), S. 27, ... in super etiam pro domni genitoris nostri et coimperatoris augusti beatissimae memoriae Ottonis animae salvatione nostraque prospera incolumitate iamdictae aecc1esiae concedimus; Nr.47 (981),

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gegnet eine bischöfliche Urkunde mit memoria in einem anderen Zusammenhang l26 , wobei es sich wohl um eine Empfangerausfertigung handelt 127 • In dieser Urkunde kann man eine gewisse Akzentverschiebung beobachten. Im Jahre 1133 kommt die memoria in der Corroboratio einer bischöflichen Urkunde 128, deren Verfasserschaft wohl in der Umgebung des Bischofs zu suchen ist, als eine Art Formel vor l29 • Doch die memoria-Wendung blieb bis in die achtziger Jahre des 12. Jahrhunderts noch Randerscheinung in Halberstadt, wobei "ein groß (er) Formenreichtum, der nur geringe gemeinsame stilistische Züge erkennen läßt", sicherlich eine Rolle gespielt haben dürfte 130. Dies erklärt sich dadurch, daß für diese Zeit der Anteil der Empfangerausfertigungen an der Gesamtzahl der erhaltenen Urkunden überwiegt und trotz einer tendenziell gemeinsamen Gedankenführung das eigene Formelgut des jeweiligen monastischen Skriptoriums in Gebrauch gekommen ist. Die in bischöflichen Kanzleien entstandenen Urkunden lassen mitunter auch den individuellen Charakter der Aussteller erkennen, so etwa unter den Mainzer Metropoliten 131. Hinsichtlich der memoria verdient eine Urkunde vom Jahre 1184 des Bischofs Dietrich unsere Aufmerksamkeit. In dieser Urkunde ist eine Wendung des Begriffs memoria gebraucht, die mit der in einer Magdeburger Urkunde vergleichbar ist 132 • Diese Urkunde betrifft eine Schenkung. Die hier zum Ausdruck gebrachte memoria ist als personenbezogene Erinnerung an gute Taten vor Gott zu verstehen. Dagegen kommt in einer zur gleichen Zeit ausgestellten Urkunde, deren Verfasserschaft leider nicht feststellbar ist, die memoria mit dem Ausdruck ne per successiones temporum in oblivionem labatur, ad memoriamfuture posteritatis scripto commendetur vor I33 . S.33, ... in memoriam sancti Laurentii martiris; Nr.48: (981). S.35 •... in memoriam sancti Laurentii martiris monasterium; Nr. 60 (1002). S.46 •... pro senioris nostrique antecessoris felici memoria nostraque prospera incolumitate; Nr. 86 (l063). S. 63 •... quos pater noster piae memoriae Heinricus imperator; Nr.112 (1088). S. 76 •... in memoria s. Michahelis; Nr.115 (1094). S. 77 •... sancte siquidem memorie noster in apostolica sede predecessor Gregorius ij; Nr. 116 (um 1094). S. 79 •... sancte siquidem memorie noster in sede apostolica predecessor Gregorius secundus. 126 Nr.151 (1121). S.123. Or.•... que litteris prioribus adnotavimus et posterorum memorie transmisimus ... in quo felicis memorie Oda comitissa. 127 Beumann (wie Anm.123). S.14ff. und S.45. 128 Nr. 167 (1133). S. 138. Or.• C: ... ut igitur hec que predicta sunt perpetue commendentur memorie. hac carta fecimus notari et impressione sigilli nostri insigniri. 129 Beumann (wie Anm.123). S.48. 130 Zöllner (wie Anm. 121) S.21O. l31 Zöllner. ebd .• S. 210. Vergleich mit den Mainzer Urkunden. siehe oben Kapitel 11. 1. a). 132 Nr.303 (1184). S. 270. Or.• A: quoniam ea. que a fidelibus Christi pietatis studio conferuntur ecclesiis. non su(nt silentio) vel negligentia pretereunda. sed potius in recordatione perpetua haben da. ut. quorum memoria pro bonis operibus apud Deum semper erit in benedictione. sit etiam apud homines in celebri ac continua devotione. ideo notum ac memorie commendandum esse cupimus; vgl. Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg. Teil 1 (937-1192). bearb. von F./srael unter Mitwirkung von W. Möllenberg (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen NR 18). Magdeburg 1937. Nr.411: 1185. Nr.431: 1191. wie Anm.llO. 133 Nr. 308 (1180-1184). S.276. Or., A: pontificali congruere videtur honori. ut. quicquid diocesi ac provincie utile et necessarium esse decemitur. ne per successiones temporum in

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Bei den Halberstädter Urkunden sind im 12. Jahrhundert noch die formellosen Arengen auffallig I3 4, doch man kann einige wichtige Punkte festhalten: Drei für das Kloster Kaltenborn ausgestellte Urkunden zeigen interessante memoria-Formulierungen. In einer Urkunde wird wieder die Notwendigkeit der schriftlichen Aufzeichnung betont, um die Erinnerungen wachzuhalten 135. Die andere Urkunde vom Jahre 1189 enthält eine eigenartige Arenga, die im Jahre 1197 nochmals Verwendung fand 136. Diese zwei Urkunden sind wohl Empfangerausfertigungen des Klosters Kaltenbom 137 • Einen anderen Aspekt bietet eine Diktatgruppe, die in den neunziger Jahren des 12. Jahrhunderts eine bestimmte Formulierung mit oblivio bevorzugt verwendet hat I38 • Diese oblivio mit tempora kombinierende Wendung findet sich gelegentlich weiter im 13. Jahrhundert 139. Im 13. Jahrhundert erfuhr das Halberstädter Urkundenwesen einen deutlichen Umbruch. Dies ist im besonderen unter Bischof Friedrich (1208-1236) erkennbar, unter dem die schriftliche Verwaltung weiter zunahm. Unter Friedrich war ein Notar Dietrich beschäftigt, welcher in mehr als 60 Urkunden als Notar bezeichnet wird oblivionem labatur, ad memoriam future posteritatis scripto commendetur, ut unicuique ius suum inviolabiliter conservetur nec cuiquam in posterum violentia aut iniuria inferatur. 134 Nr. 330 (1190), S. 300, A: Ad roborandam facti cuiuslibet memoriam ideo scripti attestatio adhibeatur, ne per hominum successionem violetur aut per oblivionem aliquam temere cassetur. 135 Nr. 326 (1189), S. 294, Kopie vom 18. Jh., A: vita mortalium, vasis assimilata fictilibus, sui cursus premium cito consequitur et indesinenter ad ulteriora transcendit. inde est quod rei geste cito senescit notitia, nisi per litterarum seriem eiusdem vivat memoria. 136 Nr.327 (1189), S. 295, Kopie vom 18. Jh., A: quia solent plerumque bona maiorum nostrorum instituta sive ex oblivione antiquitatis obscurari sive ex iniquorum machinatione cassari, idcirco convenit omnibus et precipue episcopis, quos divina gratia sibi vicarios ordinavit, non solum sibi commissorum utilitatibus consulere, verum etiam futuris malorum eventibus oculo discretionis precavere; vgl. Nr. 378: 1197. Über den Sachverhalt dieser Urkunde vom Jahre 1189 siehe Rader (wie Anm. 83), S.472. 137 Beumann (wie Anm. 123), hier S. 32. \38 Beumann, ebd., S. 74. Nr. 368 (1196), S. 331, Or., A: ea que ad firmamentum pacis et concordie ab autenticis viris ordinata fuerint, expressius merentur conscribi, ne vel malignantium temeritas ea possit revocare vel in oblivionem deducantur posterorum; Nr. 379 (1197), S. 341, Kopialbuch, A: ... emptiones venditiones, bonorum quoque commutationes, cetera quoque pacta, que inter mortales aguntur, digne privilegiorum testimonio roborantur, ne labente tempore ipsa quoque in oblivionem labantur posterorum. Vgl. Nr.393 (1197); Nr.390 (1197), S. 351, Kopialbuch, A: ... que ratione pacis et concordie inter mortales aguntur, et maxime ea, que ad commodum et profectum pertinent ecclesiarum, digne privilegiorum roborantur testimonio, ne labente tempore ipsa quoque in oblivionem labantur posterorum. 139 Die betreffenden zwei Urkunden sind wohl im Kloster Walkenried verfaßt worden. Vgl. Bruno Griesser, Der Prosarhythmus in den bischöflichen Urkunden von Halberstadt und in den Gesta Episcoporum Halberstadensium, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 45 (1924), S. 82-101. Hier S. 91, Anm.1. Nr.426 (um 1203), S. 308, Kopialbuch, A: ... quoniam vetustate temporum in oblivionem solent proficisci ea, ... ; Nr.428 (1205), S. 381 f., Kopialbuch, A: quoniam ea, que in tempore aguntur, temporis elapsu oblivionem accipiunt, nisi scriptis stabiliantur, oportunum videtur et utile litteris commendari, que rationabiliter ac provide constiterit actitari.

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und der den rhythmischen Stil wahrscheinlich in die Halberstädter Urkunden eingeführt hat l40 • Dabei gebrauchte er bevorzugt einige Wendungen wie vivaci littera l41 , die auch in weiteren Urkunden von anderer Hand zu finden sind 142. Den Begriff memoria benutzte er selbst jedoch nur zweimal 143 • Die dabei beobachtete Wendung memoria in longum vigeat ist schon in einer Urkunde Bischof Konrads, Friedrichs Vorgänger, verwendet, deren Diktat möglicherweise vom gleichen Notar Dietrich stammt l44 • Vielleicht hat er diese Fonnulierung von einer Ende des 12. Jahrhunderts ausgestellten Urkunde übemommen l45 . Aufgrund dieses Befundes kann man wohl sagen, daß die Ausdrücke mit memoria im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts nur sporadisch in den Halberstädter Urkunden verwendet wurden und sich noch nicht fest etablierten. 140 Die stilistische Veränderung ist wohl von Notar Dietrich unter Bischof Konrad eingeführt worden. Griesser, Der Prosarhythmus in den bischöflichen Urkunden von Halberstadt und in den Gesta Episcoporum Halberstadensium, (wie Anm.139). Hier insbesondere, S. 93 ff. S.94: "Die Untersuchung ergab ferner, daß fast alle Urkunden Bischof Friedrichs rhythmisch geschrieben, also wohl der Kanzlei zuzuweisen sind, da auch die Einheitlichkeit des Diktates hierfür spricht." Vgl. Ottokar Menzel, Untersuchungen zur mittelalterlichn Geschichtsschreibung des Bistums Halberstadt, in: Sachsen und Anhalt 12 (1936), S. 95-178, hier S. 117. 141 Nr.475 (1212), S. 422, Or., A: ut contractus, qui rationi et concordie innituntur, robur obtineant et vigorem, et ope testium et vivaci littera tarn valide duximus perhennare, ne imposterum diductu temporis in irritum revocentur, sed firma maneant et perpetualiter inconvulsa; Nr. 548 (1222), S.488, Or., A: ut ea, que interecclesias nobis in Domino suffragantes fuerint ordinata, robur obtineant, ideo ea et ope testium et vivaci littera taliter ducimus roborare, ut in suo semper vigore consistere valeant illibata. 142 Nr.481 (1215), S.428, Kopialbuch, A: ut factum nostrum robur inviolabile sortiatur, et ope testium et vivaci littera taliter duximus communire, ut et ipsius facti memoria in longum vigeat et omne dubium, ab oculis futurorum inspecta hac pagina, precidatur; Nr. 512 (1219), S. 461, ... et ope testium et vivaci littera taliter ducimus roborare, ut firmamentum obtineant et contradictionis obstaculum non sentiant in futuro. 143 Nr.496 (1216), S. 440, Or., A: quecumque ad ecclesiarum nobis in Deo suffragantium proficuum et honorem per fideles quoslibet ordinatione congrua fuerint ordinata, ex officii nostri debito eo duximus firmitatis munimine roborare, ut et ordinationis memoria in longum vigeat et omnis pravorum tergiversatio penitus consquiescat; Nr.508 (1219), S.455, Or., A: ut et memoria eorundem in longum vigeat et omnis posterorum tergiversatio super eis penitus conquiescat. Im Jahre 1218 trat ein anderer Notar Johannes an seine Stelle, jedoch nur kurze Zeit. Er übernahm auch diese Wendung. Vgl. Nr. 503 (1218), S.449, Or., A: quia diebus istis et temporibus, que sunt mala, ecclesie Dei multiplicibus, ut videmus cottidie, afficiuntur iniuriis per violentias et calumpnias iniquorum, necessarium eis reputamus et expedit, ut, si qua bona vel per emptiones aut quocumque modo conquirunt, taliter eis illa per privilegia confirmentur, ut omnis que suboriri posset in posterum dubietas, sit sublata et earum etiam indempnitati sit cautum ex eo, quod per scriptum facti memoria vigeat in futurum. 144 Nr.432 (1206), S. 385 f., Or., A: quoniam contingit plerumque aut longi temporis evolutione aut malorum hominum temeritate, hiis que ecclesiis et personis inibi Domino famulantibus per manus fidelium salubriter erogantur, irrationabiliter derogari, decet et expedit per tale robur et monimentum machinamentis malignantium obviare, ut et facti memoria in longum vigeat et omnis tergiversatio penitus conquiescat. Vgl. Beumann, (wie Anm. 123), S. 82ff. 145 Nr. 380 (1197), S. 342, Or., A: quoniam diutumi temporis revolutione ve1 malignorum hominum temeritate rationabiliter ordinata aliquotiens contingit evelli, decet nos firmitatis nostre robur adhibere, ut et memoria facti in futurum vigeat et calumpniator malignandi locum non inveniat.

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Unter Friedrichs Nachfolger, Bischof Ludolf (1236-1241), war ein anderer Notar, Hermann, beschäftigt, der als Verfasser gleichfalls die wegen des Zeitablaufs unsichere memoria und die daraus resultierende Notwendigkeit der Verschriftlichung zum Ausdruck brachte 146. Interessante Berührungspunkte lassen sich zwischen zwei Bistümern, nämlich Halberstadt und Hildesheim, in der Übernahme einiger Formulierungen beobachten. Eine Wendung condicionis humane taucht ab Ende der vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts mit einzelnen Wortwechseln fünfmal in Halberstädter Urkunden auf I4? Zwei dieser fünf stimmen mit der wortgleichen Formulierung einer Hildesheimer Urkunde überein l48 • Diese Hildesheimer Urkunde wurde im Jahr 1237 ausgestellt, die betreffenden Halberstädter Urkunden dagegen erst in den Jahren 1250 und 1251 149 • Die anderen drei Halberstädter Urkunden, welche immerhin ähnliche Formulierungen enthalten, sind innerhalb des genannten Zeitraumes ausgestellt worden. Zwei von ihnen hat vermutlich der Notar Johannes verfaßt l50 • 146 Beumann (wie Anm. 123), S. 99f. Vrkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, 2. Theil: 1236-1303, hg. von Gustav Schmidt, Leipzig 1884 (unten abgekürzt: VB Halberstadt 2). Nr.693 (1240), A: quoniam omnia, que sub sole geruntur, cum sole transeunt et temporum successibus evanescunt, ideo industria humana necessarium finnitatem ad suorum rememorationem factorum sollerti providentia taliter adinvenit, ut, quod stabili non potest memoria retineri, scripture testimonio in longa futurorum tempora proteletur (= gedruckt VB der Stadt Halberstadt, bearbeitet von Gustav Schmidt, Halle 1878, l. Teil, Nr.41, S.47); Nr. 694 (1240), S. 26, Or., A: propter labilem hominum memoriam, que geruntur in tempore, ne labantur cum tempore, necessarium est seripture testimonio stabiliri. Vgl. Nr. 694 a (1240), S. 26, Or., A: que geruntur in tempore, ne labantur cum tempore, seripturarum memoria solent perhennari; Nr.701 (1241), A: ea que finnitatis indigent robore stabiliri, necessarium est propter labilem hominum memoriam in longa futurorum tempora seripture testimonio perennari (= gedruckt VB der Stadt Halberstadt, l. Teil, Nr. 45, S. 50). 147 VB Halberstadt 2, Nr. 775,782,801 , 823,848. 148 Vrkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, 2. Teil: 1221-1260, bearb. von H. Hoogeweg . Hannover/Leipzig 1901(= abgekürzt VB Hildesheim 2). Nr.494 (1237), S. 241, Or., A: Inter plurima humane eonditionis infirma memoriam hominum sie fragilem esse eonstat, ut nee multitudini rerum nee longitudini temporis suffieientem se valeat exhibere. Vnde ratio docuit et eonsuetudo didieit, ut fragilitati memorie per quedam signa et testimonia sueeurratur. Vtilem itaque ac necessariam scientes esse rei geste memoriam, cunctis in futurum temporibus notum facimus; vgl. Nr.459 (1236), S. 218, A: Ne eum temporis mutabilitate et humane eonditionis teneritate in oblivionem transeat quod ab hominibus geritur infra tempus, privilegiis solet ae testibus memorie eommendari. 149 VB Halberstadt 2, Nr.823 (1250), S. 109, A: ... inter alia humane eondieionis infirma memoriam hominum sie fragilem esse eonstat, ut nee multitudini rerum nee longitudini temporum suffieientem se valeat exhibere. unde et ratio doeuit et conswetudo didieit, ut fragilitati memorie per quedam signa et testimonia sueeurratur ... datum per manus Annonis notarii; Nr.848 (1251), S.126, A: inter alia humane eondieionis infirma memoriam hominum sie fragilem esse eonstat, ut nee multitudini rerum nec longitudini temporum suffieientem se valeat exhibere. unde et ratio doeuit et eonsuetudo didieit, ut fragilitati memorie per quedam signa et testimonia sueeurratur. 150 Nr. 775 (1247), S. 79, A: inter ceteras humane eondieionis infirmitates propter transgressionem prothoplasti non solum transgressor sed et tota propago ad tantam devenit miseriam et defectum ymmo memoriam ipsius feeit labilem et infirmam, sie ut ea, que fiunt ali-

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Auch in den anderen Urkunden ist eine Annäherung zwischen den beiden Bistümern zu beobachten. Die schon erwähnte Halberstädter Urkunde von 1189 enthält die Formulierung oculo discretionis precavere 151. Sie wurde nochmals im Jahre 1197 verwendet l52 . Bei den beiden Urkunden handelt es sich wohl um Empfängerausfertigungen aus dem Kloster Kaltenborn 153. Die betreffende Formulierung taucht zwischenzeitlich in einer Hildesheimer Urkunde von 1191 auf l54 • Neben dieser Übereinstimmung finden sich noch andere Beispiele für Formulierungen, die in beiden Bistümern gebraucht wurden. So taucht in Hildesheim in einer Urkunde die Wendung que aguntur in tempore, ne cum tempore labantur auf l55 • Ein ähnlicher Ausdruck findet sich zwanzig Jahre später wieder in einer Halberstädter Urkunde l56 • Die Hildesheimer Urkunden scheinen wieder als Vorlagen für Halberstädter Urkunden gedient zu haben. Ähnliche Wendungen waren allerdings in Hildesheim weit verbreitet l57 • Wie könnte man diese Übereinstimmungen zwischen Urkunden aus beiden Bistümern erklären? Es bedarf noch einer genaueren Analyse auf quotiens rationabiliter et honeste, virtus memorie non valeat continere, nisi testimoniis litterarum et argumentis evidentibus solidentur ... datum Halb. per manus notarii nostri Iohannis; Nr.782 (1247), S. 85, A: inter multimodas infirmitates condicionis humane propter inobedientiam et transgressionem primi parentis virtus memorie retentiva ad tantam debilitatem procubuit et defectus, ut ea, que pro commodo et utilitate aliquotiens ordinantur, in ipsa memoria retineri non valeant, nisi sub scriptis et litterarum testimoniis roborentur ... datum ... per manus Iohannis notarii nostri. 151 UB Halberstadt 1, Nr.327 (1189), S. 295, A: quia solent plerumque bona maiorum nostrorum instituta sive ex oblivione antiquitatis obscurari sive ex iniquorum machinatione cassari, idcirco convenit omnibus et precipue episcopis quos divina gratia sibi vicarios ordinavit, non solum sibi commissorum utilitatibus consulere, verum etiam futuris malorum eventibus oculo discretionis precavere. 152 UB Halberstadt 1, Nr. 378 (1197), S. 340, A: quia solent plerumque bona maiorum nostrorum instituta sive ex oblivione antiquitatis obscurari sive ex iniquorum machinatione cassari, idcirco convenit omnibus et precipue episcopis quos divina gratia sibi vicarios ordinavit, non solum sibi commissorum utilitatibus consulere, verum etiam futuris malorum eventibus oculo diseretionis precavere. 153 Vgl. Beumann (wie Anm.123), S.32 und Rader (wie Anm. 83), S.472. 154 UB Hildesheim, 1. Teil: Bis 1221, bearb. von KarlJanicke, Leipzig 1896 (= abgekürtzt UB Hildesheim 1). Nr.484 (1191), S.460, Or., A: ... verum et futura oculo diseretionis precavere. 155 Ebd., Nr.680 (1215), S. 647f., Or., A: Quoniam hominum brevis est memoria et que aguntur in tempore, ne eum tempore labantur, et a memoria hominum penitus evanescant, prudentum debent virorum et litterarum testimonio confirmari. 156 UB Halberstadt 2. Nr.666 (1237), S. 8, Or., A: contra varios futurorum incursus, qui diebus his malis et facta et donationes quamcunque rationabiles sepius disturbare sueverunt, ne ea que aguntur eum tempore, etiam labantur eum tempore, convenit ea scriptis et testimoniis perennari. 157 UB Hildesheim 1, Nr.676 (um 1214), S. 643, Or., A: Que geruntur in tempore, ne labantur eum tempore, poni solent in lingua testium et seripture memoria perhenneri; UB Hildesheim 2, Nr.24 (1221-1224), S. 15, Abschrift des 15. Jhs. in Kopialbuch, A: Que geruntur in tempore ne labantur eum tempore, poni solent in lingua testium et seripture memoria perhennari; ebd., Nr.445 (1236), S.208f., Or., A: eum peroblivionem res vergat in dubium, oportet ea que fiunt in tempore, ne labantur eum tempore, scriptis autenticis roborari, ut hominum deficiente memoria scriptura perhibeat testimonium veritati.

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der Grundlage anderer Fonnulare, und zwar unter dem Aspekt des Schriftverkehrs zwischen beiden Bistümern. Zunächst ist kurz auf die Halberstädter ars dictandi einzugehen, und nach ihrer Wirkung auch auf die Hildesheimer Diözese zu fragen l5S • Die Halberstädter ars dictandi ist 1193/94 unter Bischof Gardolf (1193-1201) in Halberstadt entstanden und kann als ,,(das) früheste selbständige Zeugnis seiner Art in Deutschland" bezeichnet werden 159. Über den Verfasser ist nichts bekannt, möglicherweise kam er mit Bischof Gardolf, welcher früher kaiserlicher Kapellan war l60 , nach Halberstade 61 • Aufgrund der Musterbeispiele in dieser ars dictandi läßt sich auch vennuten, daß er selber in der bischöflichen Kanzlei tätig war. Man könnte ihn mit dem Schreiber und Diktator TF (GA) identifizieren, der in der Kanzlei unter Bischof Gardolf eine bedeutende Stellung innehatte l62 • Dieser Notar benutzte ein einheitliches Fonnelgut; seine Verfasserschaft läßt sich für eine Reihe von Urkunden nachweisen 163. Diese ars dictandi besteht aus zwei Teilen, dem Libellus dictaminum und dem Libellus privilegiorum, in denen man jedoch keine besondere Wendung von memoria und oblivio finden kann 164. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß der mutmaßliche Verfasser TF (GA) keine memoria- Wendung in den Halberstädter bischöflichen Urkunden hinterlassen hat. Das Werk selbst ist hinsichtlich der Arengen in der bischöflichen Kanzlei in Halberstadt nicht direkt als Mustervorlage benutzt worden 165 . Vielleicht ist eine Verbindung zwischen den Urkundenfonnularen beider Bistümer eher in Hildesheim zu suchen? Richten wir zunächst einen kurzen Blick auf die Hildesheimer bischöflichen Urkunden, die einige wichtige Anhaltspunkte für den Diktatvergleich bieten können. In Hildesheim waren bischöfliche Notare seit der Mitte des 12. Jahrhunderts tätig l66 • Zwischen 1156 und 1246 kann man elf namentlich genannte Notare feststellen, während der wesentlich größere Teil der Urkunden von ungenannten Notaren verfaßt und geschrieben worden ist. In Hildesheim nahm die Schriftlichkeit im besonderen unter Bischof Konrad II. (1221-1246) zu. Unter ihm wurden ca. 260 Urkun158 Walter Zöllner, Die Halberstädter Ars dictandi aus den Jahren 1193/94 nach der Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg 13 (1964), S. 539-556, hier S. 540 f. 159 Ebd., S. 539. 160 Gesta episcoporum Halberstadensium MGHSS XXIII, S. 73-129, hier S. 110. 161 Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 6. Aufl., Bd. 2, Berlin 1894, S.356. 162 Beumann (wie Anm. 123), S. 72f. 163 Beumann (wie Anm. 123), S.70ff. Die betreffenden Urkunden sind im folgenden: NL318, 320, 321, 324, 328, 329, 331, 332, 333, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 351, 353a, 357, 358,359,362,363,365,366,408. 164 Im Libellus dictaminum et privilegiorum kommt memoria zweimal, I. 197, III. I, und oblivio einmal, I. 78, vor. Die Gliederung nach Zöllner, Ars dictandi (wie Anm.158). 165 Zöllner, Arenga, (wie Anm. 121), S. 211. 166 Otto Heinemann, Beiträge zur Diplomatik der älteren Bischöfe von Hi1desheim (1130-1246). Diss. Göttingen 1895. Hier S. 16ff.

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den und somit mehr als die Hälfte aller aus den Amtszeiten der Bischöfe Bemhard I. (1130-1153), Bruno (1153-1161), Hermann (1161-1170), Adelog (1170-1190), Bemo (1190-1194), Konrad I. (1194-1198), Hartbert (1199-1216), Siegfried I. (1216-1221) und Konrad 11. (1221-1246) erhaltenen Urkunden ausgestellt. Ihrem Rechtsinhalt nach handelt es sich größtenteils um Schenkungs- und Bestätigungsurkunden. Im Vergleich mit Halberstadt scheinen sich in Hildesheim etwas früher einzelne Urkundenformeln etabliert zu haben l67 • Die obengenannte Wendung oculo discretionis kommt schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in abgewandelter Form vor l68 . In den neunziger Jahren taucht die Wendung Hominum memoria labilis est zweimal auf l69 • Mit einigen Abwandlungen wurde diese Wendung später nochmals gebraucht I70 • In den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts begegnet die Wendung a (coram) nobis aguntur ne oblivioni intercidant zweimalm. Diese Wendung kommt zusammen mit einer anderen Wendung in brevi tempore humana labitur et transit memoria weiterhin vor, wobei die Notwendigkeit und der Vorteil der schriftlichen Aufzeichnung nochmals in der Corroboratio betont werden 172. Auffallig in den Hildesheimer Urkunden sind die Variationen, die unterschiedliche memoria- oder oblivio-Formulierungen aufweisen können 173. Einige Wendun167 Vgl. Bruno Stehle, Über ein Hildesheimer Formelbuch, vornehmlich als Beitrag zur Geschichte des Erzbischofs Philipp I. von Köln (1167-1191), Phil. Diss. Straßburg 1878. 168 UB Hildesheim, I, Nr.194 (1131), S.176, Or., A: ... oculo discretionisovilia dei undique considerare; vgl. Nr. 195 (1131). 169 Ebd., Nr.475 (1190), S.451, Kopialbuch, A: Hominum memoria labilis est et rerum multitudini non sufficit, preterit etiam generatio et alia subsequitur ideoque in singulis successionibus facta hominum velut incognita deperirent, nisi notabili indicio ad subsequentium noticiam pertransirent, unius autem provisionis uti regimine et cautela maxime opus est circa ecclesias et earum possessiones conservandas, que utinam tot habeat defensores quot adversarios; Nr.476 (1190), S.453, Or., A: Hominum memoria labilis est et rerum multitudini non sufficit et, cum generatio pretereat et alia subsequatur, in singulis successionibus pleraque predecessorum nostrorum facta velut incognita deperirent, nisi notabili inditio ad subsequentium noticiam pertransirent. 170 Ebd., Nr.564 (1201), S .542, Or., A: Labilis est hominum memoria et rerum multitudini non sufficit et, cum generatio pretereat et generatio subsequatur, necessarium est, ut res necessarie tal i firmentur indicio, ne a noticia futuri temporis oblivione dampnosa eximantur. 171 UB Hildesheim 2, Nr.645 (1241), S.325, Or., A: Eaque a nobis aguntur neoblivioni intercidant, publica fieri permittimus instrumenta; Nr.648 (1241), S. 326, A: Ne ea que coram nobis aguntur oblivione intercidant, puplica lieri volumus instrumenta. 172 Ebd., Nr. 676 (1243), S. 339f., Or., A: Quia in brevi tempore humana labitur et transit memoria, idcirco de hiis que coram nobis aguntur, ne oblivione intercidant, publica lieri permittimus instrumenta .... C: Quia hominum memoria brevis est et transitoria, quod a nobis ordinatur scripto non immerito commendatur; Nr. 689 (1243), S. 346 f., Or., A: Quia in brevi tempore humana labitur et transit memoria, idcirco de hiis que coram nobis aguntur, ne oblivioni tradantur, publica fieri permittimus instrumenta .... Iordanis scriptor noster clerici. 173 UB Hildesheim I, Nr. 601 (1205), S. 575, Or., A: Sed quoniam labilis estfragilitatis humane memoria, ne coram nobis acta futuri temporis abscondat oblivio; Nr. 695 (1216-1221), S.662 f., Or., A: In fuga est status mundi huius et temporis nimirum et in incerto fluctuat om-

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gen tauchen wiederholt z. B. in ein und demselben Kloster auf 174 , dennoch scheint die einzelne Formulierung trotz vergleichbarer Gedankengänge ein vom jeweiligen Diktator abhängiges Formelgut gewesen zu sein. In Hildesheim läßt sich die Verbreitung der memoria-Wendung auch anhand der nichtbischöflichen Urkunden aufweisen 175. Hiermit wird der Gedanke der Beweiskraft der schriftlichen Aufzeichnung neben dem Zeugen beweis ausgedruckt 176. nis actio temporalis. Ne ergo labatur cum tempore quod geritur in tempore, oportet vivaci memoria litterarum etemari. ... C: Sane ad rei huius monimentum et ad facti nostri memoriam servandam in posterum paginam hanc conscribi fecimuset pontificalis sigilli nostri impressione communivimus; Nr. 725 (1219), S. 684 f., Or., A: Quoniam fragilis et admodum labilis est humana memoria, ne res gesta in tempore oblivione seu errore aut malivolencia in posterum confundatur, scripti testimonio provide a plerisque perhennatur. ... C: Ad maiorem igitur evidenciam et perpetuam huius rei memoriam atque firmitatem presens scriptum nostrum inde confectum sigilli nostri appositione iussimus roborari; UB Hildesheim 2, Nr.54 (um 1222), S.27, Abschrift vom 15.Jh. im Kopialbuch, A: Quoniam omnium habere memoriam divinitatis pocius est quam humanitatis facta memoranda scriptis commendare prudens decrevit antiquitas, ne longinquitate temporis error surrepat oblivionis; Nr. 57 (1222-1225), S.29 (= Nach dem Formelbuch des Ludolf von Hildesheim, gedr. Quellen zur bayerischen und deutschen Geschichte IX, S. 383), A: Ne ea, que aguntur coram nobis, excidant a memoria, que res fragilis est, consuevimus ea autenticis roborare; Nr. 556 (1240), S. 272, Or., A: Quia memoria hominum est fragilis et infirma, ideo de re geste scriptura conficitur auctentica, ut illud quod rationabiliter actum est memoriter habeatur; Nr. 570 (1240), S. 282, Or., A: Ad humanam que fragilis est memoriam confirmandam scriptura confici solet auctentica, que contineat testimonium veritatis ... Godefridus scriptor noster cIerici. 174 Ebd., Nr. 574 (1240), S. 284, Abschrift vom 14. Jh. im Kopialbuch, A: Quoniam ea, que fiunt in tempore, lapsu temporis succedente oblivionem accipiunt, dignum duximus facta discretorum virorum perhennis scripti patrocinio stabilire; Nr.664 (1242/1232), S. 333, Or., A: Quoniam ea, que fiunt in tempore, lapsu temporis succedente oblivionem accipiunt, dignum duximus facta discretorum virorum perennis scripti patrocinio stabilire. 175 UB Hildesheim 1, Nr.480 (1190-1197), S.456, Or., A: Si de gratia largitatis eius, a quo bona cuncta procedunt, commisse nobis eccIesie diebus nostris honoris vel utilitatis accesserit rationabile incrementum, ne hoc a posterorum negligenter, quod absit, alienetur memoria, quedam ex his literis commendare et omni qua possumus firmitate munire consultum iudicamus et utile; UB Hildesheim 2, Nr. 134 (1225), S. 59, Abschrift im Kopialbuch des Jahres 1712, A: Quoniam que rationabiliter ac utiliter aguntur pietatis studium est scripto commendata roborare, ut propter mortalium memoriam mortalem inviolabiliter ac inconcusse in memoria sucessorum valeant imposterum memorari, hinc est; Nr. 199 (1226), S. 85, Abschrift vom l5.Jh. im Kopialbuch, A: Cum necesse sit, ut ea quorum memoriam expedit retineri litterarum testimonio commendentur; Nr. 317 (1231), S. 147, Or., A: Ne ea que sollempniter acta sunt lapsu temporis ab humana excidant memoria, expedit, ut pro cautela futuri temporis redigantur in publica monimenta; Nr. 354 (1232), S. 165, Nur erhalten als Transsumpt einer Urkunde von 1476 im Kopialbuch aus dem 16. Jh, A: Quidquid ab hominibus agitur in hoc munda cum labili tempore penitus preteriret, nisi commendaretur memorie per testimonia scripturarum; Nr. 355 (1232), S. 166, Or., A: Quia sepius solet accidere, quod successorum propago maiorum facta infringendo dissolvit, iustum videtur et securum, scripture memorie transactionem nostram committere, ne posteritas eam valeat inmutare; Nr.404 (1231), S. 188, Or., A: Quoniam memoria hominum labilis est et cito pertransiens; Nr.496 (1237), S. 242 f., Abschrift vom 16.Jh., A: Actiones mundane cum tempore pretereunt et a memoria hominum recedunt, si non testium et literali testimonio reserventur; Nr. 596 (1240), S. 296f., Or., A: Quoniam facta mortalium mortalem consecuntur eventurn, ne cum mortalibus

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d) Würzburg 177 Der grundlegenden diplomatischen Untersuchung von Peter Johanek über die Würzburger Urkunden verdanken wir wesentliche Erkenntnisse, vor allem was das Verhältnis von Aussteller- und Empfangerausfertigung unter Berücksichtigung der Herkunft der Notare und die Wechselbeziehung zwischen der bischöflichen Kanzlei und der Reichskanzlei in der Entwicklung von Schrift und Diktat betrifft 178. Die Arbeit beleuchtet die Entwicklung "von der ausschließlichen Herrschaft der Rechtssymbole und des Zeugenbeweises" zur Schriftlichkeit anhand der Siegelurkunden, wobei herausgestellt wird, daß in Würzburg "die Kanzlei des Bischofs von Anfang an im Beurkundungsgeschäft eine wichtige Rolle gespielt hat" 179. Die Würzburger Urkunden zeigen sehr unterschiedliche Verwendungen des Begriffs memoria. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts begegnen memoria-Wendungen nur sporadisch 180. Dies mag damit zusammenhängen, daß Arengen unter Bischof Embricho (1127-1146) noch verhältnismäßig selten sind. Die erst später geläufige Verwendung des memoria-Begriffs in Würzburger Urkunden läßt sich bei zwei Notaren nachweisen, die zuerst in der bischöflichen Kanzlei und dann in der Reichskanzlei tätig waren. Beim späteren Protonotar der Reichskanzlei 181, Heinrich von moriantur, poni debent sub Iinguis testium et perhennis scripture memoria perhennari; Nr.747 (1245), S. 377, Or., A: Ad irnprirnendam rnernoriam rerurn presentiurn futuri ternporis horninibus gesta rnernorie digna scriptis nos expedit commendare, ne si hoc facere omiserimus nostrarn negligentiarn incuset ignorantia futurorurn. 176 UB Halberstadt 1, Nr. 414 (1201), S. 402, A: Evanescunt simul cum tempore, que geruntur in tempore, nisi recipiant a voce testiurn aut scripture rnernoria firmarnenturn. universa igitur que ordinantur, ne sequantur dilapsum temporis, etemari debent remedio litterarum. huius rei consideratione habita, venerande universitati fidelium Deo et b. Stephano militantium ad memoriamreducimus. Vgl. Beumann (wie Anm. 123),S. 73; UB Hildesheim 1, Nr.676 (um 1214), wie Anm.157; UB Hildesheim 2, Nr.496 (1237), Nr.596 (1240), wie Anm.175. 177 Herr Professor Peter Johanek erlaubte mir großzügigerweise, seine Transkription der Würzburger Urkunden zu benutzen. Ohne diese grundlegende Arbeit hätte dieses Kapitel in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Herrn Professor Johanek bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Die hier angeführten Signaturen der Urkunden und Siglen der Notare richten sich nach Johanek, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg, Würzburg 1969. 178 Ebd., S. 1. 179 Ebd., S. 3. 180 Emb 40 (1140), Kopial, Bischof Embricho für Neumünster über den Rechtstatus des Engerus, Gunbertus und Mahtolfus. Notar: Emb F, A: Ego Embricho dei gratia episcopus memorie tarn futuri quam presentis eui fideJium tradere curaui qualiter tres uiri ... ; Emb 43 (1141), Kopial, Bischof Embricho bestätigt Censualenrechte in Horlohen. Monumenta Boica (= abgekürzt MB) 37, Nr. 91/59. Notar: Emb F, A: Ego Embricho wirzeburgensis episcopus memorie omnium tarn futurorum quam presentium Christi fidelium insinuare curaui; Emb 48 (1142), Kopial, Bischof Embricho für Neumünster über die Schenkung des Wimarus in Graz. Notar: Emb. F, ... diu possederat memorie tarn futurorum quam presentium commendare curavimus; Geb 22 (1157), Or., Bischof Gebhard bestätigt eine Schenkung des Propstes Herold von Ansbach, des späteren Bischofs, für Stift Ansbach über eine Mühle. A: Tenaci igitur memorie omnis tarn futurorum quam presentium fidelium conscio delegare non preter mittat. 181 Siehe unten Kapitel IV.

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Wiesenbach, tritt die memoria-Wendung während seiner intensiven Tätigkeit als Notar unter Bischof Embricho nur einmal hervor l82 • Wortwin von Neumünster l83 verwendete vor seinem Eintritt in die Reichskanzlei ebenfalls nur einmal den Begriff memoria in einer bischöflichen Urkunde, während er sich an einem Viertel der erhaltenen bischöflichen Urkunden Heinrichs 11. beteiligte 184. Sein Diktat weist Ähnlichkeiten mit der obengenannten Urkunde auf l85 • Die betreffende Stelle findet sich nicht in der Arenga, sondern in der Corroboratio, und memoria versteht sich hier als Erinnerung an geschehene Dinge. Die festgestellte sporadische Verwendung des memoria-Begriffs durch die beiden Notare läßt den Schluß zu, daß sie weder während ihrer Tätigkeit in der Reichskanzlei noch nach ihrer Rückkehr nach Würzburg besonders dazu angeregt worden sein können, den Begriff memoria zu gebrauchen. Dennoch ist die Verwendung von memoria insbesondere durch Wortwin in der Reichskanzlei bemerkenswert 186. Um die Beziehung einer bedeutenden bischöflichen Kanzlei in dieser Zeit zur Reichskanzlei 187 zu erhellen, sollten weitere Diktatvergleiche angestellt werden. Auffällig bei den Würzburger Urkunden ist die Anzahl der Fälschungen, in denen gelegentlich auch memoria-Formulierungen vorkommen l88 • Sie können sogar als Erkennungsmerkmal der Fälschungen angesehen werden. 182 Das Diktat der betreffenden Urkunde könnte aber auch auf den Notar B zurückgeführt werden. Johanek (wie Anm. 177), S. 205 f. Zur Notarstätigkeit Heinrichs unter Embricho siehe Johanek, ebd., S. 203 ff. Hier insbesondere seine Beobachtung auf S. 202 f. : "Wir haben bei den von Heinrich für Bischöf Embricho gefertigten Stücken die seltene Gelegenheit, beobachten zu können, wie ein Notar allmählich in die Aufgaben des Schreibgeschäftes hineinwächst, vorhandene Formen aufnimmt, sie erprobt und schließlich zu einem eigenen Stil findet, den er dann bis zum Ende seiner Tätigkeit konstant beibehält". Emb 26 (1137), Or., Bischof Embricho bestätigt eine Schenkung des Adelbero, MB 37 Nr. 83/46 f. Notar: Emb C = Heinrich von Wiesenbach, A: Sciat et perenni memoria teneat tarn futuri quam presentis eui ecclesia, quod ego Embricho per dei misericordiam wirziburgensis episcopus approbans pia uota et elemosinas fidelium qui per bona temporalia felici commercio sibi merentur etema, auctoritate et banne nostro confirmaui, si quid ecclesie nostere sub nostra prouidentia traditum memoriaque dignum episcopali censura et privilegio necesse fuit approbari ... C: Hos(!) igitur apices ad noticiam et memoriam rei geste placuit conscribi et impressione nostri sigilli confirmari subscriptis testibus, qui interfuere supradicte allegationi. 183 Friedrich Hausmann , Wortwin, Protonotar Kaiser Friedrichs 1., Stiftspropst zu Aschaffenburg, in: Aschaffenburger Jahrbuch 4 (1957), S. 321 ff.; Rainer Egger, Die Schreiber der Urkunden Kaiser Friedrich Barbarossas (Vorstudien zu einer Kanzleigeschichte ). Diss. Wien 1961. 184 Johanek (wie Anm. I77), S. 226. 185 He 6 (1161), Or., MB 45, Nr. 13, S. 26. C: Nos igitur attendentes, hoc rationabile factum nulle scripto predecessorum nostrorum esse confirmaturn, ad memoriarn rei geste producendam et in perpetuo stabiliendam testimonium presentis carte fecimus et ei auctoritatem impressione sygilli nostri dedimus. Hierzu Johanek (wie Anm. 177), S. 223 ff. 186 Siehe Kapitel IV. 181 Heinrich Fichtenau, Bamberg, Würzburg und die Stauferkanzlei, in: MIÖG 53 (1939), S. 241-285. 188 He 12 (1012), ang. Or., Bischof Heinrich I. für Kloster Kitzingen. A: Quoniam modernorum gesta ad posteros deuoluta labili solent memorie condemnari ne de nostris aliquando cassemur stili ea attestacione nostri caracteris apposicione decreuimus premunire; Ad 5

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Diese mutmaßlichen Fälschungen enthalten sehr variierte Ausdrücke, und dabei ist keine Diktatanlehnung zu finden. Die Verfasserschaft der mit memoria- Wendungen ausgestatteten Fälschungen ist nicht zu bestimmen. Die Empfänger von Urkunden mit dieser Wendung sind unterschiedlicher Art. Würzburger Fälschungen, in denen die memoria als Erinnerung an die geschehenen Dinge entgegentritt, sind meistens keine Schenkungsurkunden 189. In den Schenkungsurkunden kommt die traditionell liturgisch gebrauchte memoria als Erinnerung an die Toten weiterhin vor l90 ; zwei von ihnen sind Empfängerausfertigungen des Klosters Wechterswinkel 191 • Bei den Würzburger bischöflichen Urkunden sind variierte Wendungen mit oblivia seit der Mitte des 12. Jahrhunderts feststellbar l92 • Bevorzugt gebrauchte bei(1069), ang.Or., Bischof Adalbero bestätigt die Gründung des Klosters Banz. A: Petitioni et votis fidelium in bona voluntate accedere debet consensus cooperationis nostrae, ut in omnibus honorificetur deus, et intentio religiosa nobis et illis proficit in perpetuam memoriam et salutem; Emb 2: 1128, Kopial, Bischof Embricho über den Brückenübergang bei Wels. C: Si qua vero, que antea premisimus, nunc ad memoriam reducimus statuentes siquidem; Emb 27 (1137), ang. Or., Bischof Embricho erklärt Juta sei seiner Kirche zinspflichtig. MB 37, Nr.84, S.48. A: Quoniam que in tempore geruntur, ne de facili ab humana dilabantur memoria, literarum munimine dignum duximus perennare ea que nostris temporibus iuste et rationabiliter fuerint instituta, ne in posterum occasio relinquatur ea infringendi siue permutandi; Emb 46 (1142), ang. Or., Bischof Embricho gibt seine Zustimmung zu einem Verkauf zugunsten Neumünsters. A: Quoniam temporum transeuntium antiquitas sepe hominibus dampnosam ingerit obliuionem utile duxi litterarum testimonio memorie commendare, que uolubilitas temporis hominibus consueuit alienare; Emb 52 (1143), ang.Or., Bischof Embricho für Kloster Wechterswinkel. A: Vt ea que respectu diuine retributionis rationabiliter ordinauimus secundum propositum bone uoluntatis inconuulsa permaneant, scripto presenti memorie fidelium Christi significamus ... ; Her 13 (1167), ang. Or., Bischof Herold für das Schottenkloster SUakob über Schenkung des Heinrich von Gonrichsheim. A: ... tradiderunt litteris annotare et posterorum memorie relinquere debemus. 189 Eine Ausnahme ist die obengenannte Urkunde, Her 13 (1167). Johanek (wie Anm.I77), S.59f. 190 Re 15 (1179), Or., Bischof Reinhard bestätigt Schenkung des Giso von Hildenburg für Kloster Wechterswinkel, Notar: Wech C, A: Vt meritum pie et iuste voluntatis non sol um apud deum sed eciam apud homines benedictionem et gloriam in memoria etema consequatur noticie presentium et futurorum fidelium christi scripto hoc commendamus quod domnus ... ; Re 28 (1182), Kopial, Bischof Reinhard über Schenkung der Richeida, MB 37, Nr. 132, S. 119f. A: Quoniam uelocitate temporum nunquam in eodem statu permanencium facile euanescit memoria mortalium, ea que geruntur litteris annotantur, ne aut uetustate temporum pertranseant, aut pro svi uarietate tenebris ignorantie uel obliuionis obuoluta extenuentur uel euanescant. Igitur presentis pagine testimonio scire debet omnium fidelium dei et nostri tarn presens etas quam futura successio, qualiter .. .; Re 32 (1183), Kopial, Bischof Reinhard für Kloster Wechterswinkel über die Schenkung des Wolfram von Herbesvelt, UB St. Stephan I, Nr. 202, S. 207 f. A: Ut deuocio bone uoluntatis hic et in futuro seculo perpetue memorie mercedem consequatur, notum facimus uniuersis Christi fidelibus futuris et presentibus, quod ... 191 Re 15 und Re 32. Johanek (wie Anm. 177), S. 138 f. 192 Emb 56 (1144), Or., Bischof Embricho für Kloster Michelsberg. A: Quiares facile in obliuionem ducitur cuius origo nescitur debet rerum gestarum series literis imprimi ne a posterorum noticia possit elabi; Re 3 (1171), Or., Bischof Reinhard für Kloster Wechterswinkel,

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spielweise Schott C 193 , ein Notar des Schottenklosters St.Jakob I9\ dessen Skriptorium eine reiche Überlieferung aufweist1 95 , solche Wendungen. Seine typische oblivio-Arenga wurde von anderen Notaren übernommen l96 • Er benutzte die für ihn charakteristische Arenga in Privaturkunden des Domkapitels 197. Bischöfliche Notare wie NM H und GO I A scheinen das Diktat dieses Notars Schott C übernommen zu haben l98 • NM H (= DK H = Re B) benutzte dessen oblivio-Diktat außer in bischöflichen Urkunden 199 auch in einer Privaturkunde für das Stift Neumünster 2OO • In zwei anderen arengenlosen Urkunden des Domkapitels hat er eine variierte oblivioWendung in der Corroboratio verwendetl° 1• Der andere Notar GO I A (= DK J = NM 0)202, dessen Notarstätigkeit zwischen 1186 und 1205 und zunächst unter Bischof Gottfried I. (1186-1190) nachgewiesen werden kann, benutzte auch eine oblivio- Wendung, die sich möglicherweise an das Diktat von Schott C anlehnte 203 • In einer anderen Urkunde verwendete er darüber hinaus den memoria-Begriff, wobei hier die individuelle Wortwahl festzustellen istl04 • Außerdem übernahm dieser Notar die typische Arenga des Schott C in einer Privaturkunde aus Neumünster A: Quia ex inuncta nobis dispensacione saluti et tranquillitati ecclesiarum quibus deo auctore diuino vel humano iure presidemus inuigilare debemus ea que in diebus nOStl1S per nos vel antecessores nostros consulte et rationabiliter ordinata sunt ne obliuione vel errore perturbentur posteris nostris testimonio scripti nostri commendamus; Re 28 (wie Anm.190). 193 Johanek (wie Anm. 177), S. 53 ff. 194 Z. B. Re 22 (1181), MB 37, Nr. 130, a. a. O. 195 Johanek (wie Anm.I77), S.50ff. 196 Vgl. Joahnek, ebd., S. 64. 197 1169 MB 37, Nr.llO, S. 90. A: Quoniamex antiquitatenasciturobliuio, etex obliuione ignorantia ideo notum esse volumus. Johanek (wie Anm. 177), S. 54. 198 Johanek, ebd., hier S. 77f. 199 Re 34 (1184), Or., Bischof Reinhard stiftet ein Licht im Domchor, MB 37, Nr. 138, S.127. A: Quoniam memoria humana corruptibilis est, obliuione obliterali solet, indicamus uniuersitati tarn future quam presenti, quod ... 200 1185 WU 5676, RBI, 329. A: Quoniam ex antiquitate nascitur obliuio et ex obliuione ignorantia adeo notum esse volumus ... ; vgl. oben, WU 42 und unten, GO I 17. 201 In derCorroboratio von WU 68 (=MB 37, Nr.135, S.125) und WU 69 (=MB 37, Nr.136, S. 126): Vt igitur in posterum huius de1egationis nulla lieri possit obliuio. Johanek (wie Anm. 177), S. 78 und 84. 202 Johanek (wie Anm. 177), S. 244f. 203 Go I 7 (1188), Insert, Bischof Gottfried über einen Priester für d. Domchor, MB 37, Nr. 141, S. 131 f. A: Quia cum frequenter non solum facta hominum sed etiam modum rei acte temporis deleat obliuio, efficacissimum scripture remedium contra hoc est inuentum; WU 5682 für das Neumünster. Johanek, (wie Anm. 177), S. 245. 204 Go I 11: 1189, Or., Bischof Gottfried über eine Schenkung des Heinricus Caseus, MB 37 Nr. 147, S. 140, A: Quoniam longeua successio temporum ueritati rei geste et memorie hominum nouercatur, et non solum modus facti, sed etiam ipsum fatum multitudine annorum obliteratur, cum huius mali efficacissimum scriptura sit remedium, hac nostra pagina uniuersitati presentium et future posteritatis notum esse uolumus. In einer Schenkungsurkunde vom Domkapitel aus dem Jahre 1186 (MB 37, Nr. 140, S.130), die er schrieb, kommt auch eine weitere memoria-Wendung vor. A: Mater obliuionis antiquitas solet plerumque hominum memorie rem gestam subducere, quod uigil cura consulte precauens in futurum notabilium rerum facta litteris annotata posteritati transmittere decreuit rememoranda.

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im Wortlaut205 • Bei einem anderen Notar unter Bischof Gottfried, GO I B, taucht die oblivio-Wendung von Schott C einmal auf06. Auch findet sich bei ihm einmal ein auffalliger memoria-Ausdruck 207 • Man kann bei den Würzburger Urkunden im 12. Jahrhundert wieder individuelle Tendenzen bei der Verwendung bestimmter Ausdrücke wie oblivio oder memoria feststellen. Vielleicht hängt dies damit zusammen, daß ein festes Formular erst unter Bischof Otto I. (1207-1223) kontinuierlich benutzt wurde 208 • Jedoch kann man bei der oblivio-Formulierung über den Amtsträgerwechsel hinaus ein immer wieder aufgegriffenes Formelgut beobachten. Unter Bischof Otto 1. (1207-1223) findet man eine Reihe der memoria/oblivioWendungen 209 • Zunächst kann man bei einem Notar 0 B solche Wendungen feststelWU 5682, Johanek (wie Anm. 177), S. 245. Go 117 (1189), Or., Bischof Gottfried schließt eine Übereinkunft mit Äbtissin Bertha von Kitzingen, MB 46 Nr.6, S. 15. A: Quoniam ex antiquitate nascitur obliuio et ex obliuione ignorantia, jdeo ea, que inter homines disponuntur, testimonio scripturarum noticie posterorum sunt relinquenda. 207 Go 18 (1189), Or., Bischof Gottfried über Kauf des Domstiftes von Gerhard von Rieneek. MB 37, Nr. 149, S.143. A: Honesta et utili antiquorum industria prouisum atque consultum est, ut dum rerum et actionum contractuum que turn longo temporis processu turn humane mortalitatis interuentu series et ordo tollitur a memoria hominum, per scriptorum annotationem ad posterorum noticiam transferatur. 208 Johanek (wie Anm. 177), S. 255 ff. 209 09 (1209), Kop., BischofOtto für Kloster Neustadt über Güter in Bütthart, A: Ne propter diuturna temporum curricula gesta fidelium longa surrepat uetustatis obliuio que humane memorie plurimum nocuerat necessarium est ea scriptorum munimine roborari; 020 (1212), Or., Bischof Otto schenkt dem Kloster Heilsbronn seine Güter, A: Quoniam ex antique et veteris corruptele fermento fluxa et labilis facta est humane memorie obliuiosa teneritas summopere cautum et commodum est necessarios et utiles fidelium actus tenaci scripturarum memorie commendare; 021 (1212), Or., A: Ut quelibet necessaria gestorum series perpetue hominum memorie commendetur summopere necessarium est notabilia fidelium gesta scripturarum munimine roborare; 032 (1215), Or., A: Ut rationabiles fidelium actus tenaci tarn presencium quam futurorum memorie declarentur, opere precium est, eos euidenti scripturarum testimonio roborare; 037 (1216), Kop., A: Quoniam ea quae inter mortales aguntur de facili memoria hominum excidant, expediens est et utile, ut scriptis ad perpetuam facti memoriam commendentur; 042 (1217), Kop., A: Vt ea que apud fideles gerunturnegotia in perpetua hominum vigenat memoria necessarium est ea litterarum et scriptorum testimonio roborare; 044 (1217), Kop., A: Infirmitatis humane fragilitas cum sit hebes, labilis et caduca, opere precium est, ut ea, que apud fideles geruntur, negotia ne ab hominum labantur memoria, infallibili et tenaci scriptorum memorie commendare; 048 (1218), Or., A: Ut ea apud fideles geruntur negotia firmitatis perpetue robur accipiant expedit ea tenaci scriptorum memorie commendare; 051 (1219), Or., A: Ne laudabilibus fidelium actibus et gestis propter diutina temporum curricula longeue surrepat uetustatis obliuio expediens et necessarium est ea euidenti et tenaci scriptorum memorie commendare; 064 (1220), Or., A: Memorabiles fidelium contractus, ut propter fluxam temporum labilitatem a mortalium non recedant memoria, tenaci scriptorum expedit testimonio roborare; 066 (1220), Or., MB 45, Nr. 33, S. 56. A: Ut eorum que apud mortales geruntur, certa ad posteros noticia deuoluato, expedit ea litterarum memorie commendare; 067 (1220), Kop., A: Duo sint qui frequenter facta hominum consueuerunt deducere in obliuionem scilicet longa temporum successio et instabilitas huma205

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len 21O. Er benutzte oblivio auch allein 211 • Die einzelnen Formulierungen sind so unterschiedlich, daß keine Anlehnung an die festen Formulare feststellbar ist. Seine Formulieung ist später einmal bei dem Notar 0 D übernommen 212 • Die variierten Formulierungen sind ebenfalls bei Notar 0 E festzustellen 213 • Unter Bischof Otto 1., während dessen Regierungszeit die Urkundenzahl deutlich zunahm, begegnet man noch keinen festen Formularen mit memorialoblivio. Nicht zu vergessen ist die Entwicklung der sprachlichen Möglichkeiten in Arengen. Die alten "Amtsarengen" traten zurück, statt dessen stellte man die Motivation der urkundlichen Sicherung mehr und mehr in den Vordergrund. Unter Bischof Otto ist in dieser Hinsicht eine neue Akzentuierung zu erkennen. In den Arengen der während seiner Amtszeit ausgestellten Urkunden wurde "mit Wendungen, die man früher eher in der Einleitung der Corroboratio antraf, die Notwendigkeit der Urkundenherstellung in mannigfaltiger Weise betont."214 Die Vergänglichkeit der schwachen Menschen ist als ein Grund der Urkundenausstellung genannt 2l5 , die dem entgegenwirken sollte. Einer Formulierung mit dem gleichen Motiv begegnet man auch in anderen Bistümern. Sie scheint zu dieser Zeit eine allgemein geläufige Wendung geworden zu sein. Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen. Man findet in Würzburg bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst nur eine sporadische Verwendung des Begriffs memoria. Charakteristisch für die Würzburger Urkunden ist, daß die Wendungen mit memoria als ein Merkmal für Fälschungen angesehen werden dürfen. Die memoria-Formulierungen wurden in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts in Würzburg 216 sowie in den anderen obengenannten Bistümern gebraucht, jedoch ist die Urkundenzahl mit einer memoria/oblivio-Wendung im Verhältnis zur Gesamtne memorie unde nonnumquam conuenit euenire, ut ea que ab eis firmiter et rationabiliter geruntur propter predictorum alterum uel quandoque propter utrumque altercationes et dubitationes afferre conuenerunt sed ad tollendum huiusmodi in commodum ab ipsis hominibus competens inuentum est remedium scilicet scripture beneficium; 068 (1220), Or., A: Quoniam facta hominum quorum memoria labilis est et caduca obliuionis umbra defacili obscurantur, scriptorum serie ut clarius elucescant ea decet immo expedit annotari, 069 (1221), Or., A: Vt ea cue apud mortales gesta sunt ad interminabilem hominum memoriam reuocentur scriptorum robur erigit et munimen; 083 (1207/1223), Or., MB 37, Nr. 174, S. 177. A: Gestorum seriem prouida ueterum uigilantia ad hoc litteris mandare consueuit, ut quod humana non ualet memoria retinere, mediante scriptura futurorum noticie decJaretur. 210 09,020,021,032,042,044,048, 051. 211 016,018, 033 . 212 056 (1219), Or., A: Infirmitatis humane fragilitas eum sit hebes, labilis et eaduea, necessarium est, ea que apud mortales geruntur, negotia, ne propter tluxa ut diutina temporum curricula a labili hominum excidant memoria, tenaci scriptorum memorie comrnendare. Vgl. 044 und 051. 2 13 064,066,069. 2 14 Johanek (wie Anm. 177), S. 261. 215 019 (1212), Or., A: Infirmitatis humane fragilitas, cum sit hebes et caduca; vgl. 044 (1217). 216 Re 28 (1182), Re 34 (1184), Go I 11 (1189).

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zahl der reichhaltig überlieferten Würzburger Urkunden 217 bis zum Ende des 12. Jahrhunderts auffällig gering. In diesem Zusammenhang sollte man die Wechselbeziehung zwischen dem Eindringen der memoria- Wendung ins Formular und den Stellen im Urkundenformular, an denen sie verwendet wird (Arenga oder Corroboratio) berücksichtigen, worauf unten noch eingegangen werden soll. Diese Fragestellung ist nicht ohne Bedeutung, weil eine formelhafte Wendung wie ad memoriam commendare in der Corroboratio auftauchen kann, während die erzählende, eher literarische Formulierung mit memoria und oblivio in den Arengen meist eine eigene Gedankenwelt veranschaulicht. Bezüglich dieser formbedingten Verwendungsweise sollten auch die Traditionsnotizen in Betracht gezogen werden, wobei anzunehmen ist, daß die kurze Wendung ad memoriam commendare häufig vorkommen kann. Zugleich fällt unter den bischöflichen Urkunden die geringere Zahl von memoria- Wendungen bei Empfängerausfertigungen ins Auge. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß in Würzburg der Anteil der Empfängerausfertigungen im Vergleich zu den Kanzleiausfertigungen niedriger ist 218 • In diesem Zusammenhang ist es nützlich, einen Blick auf die Sprachtradition der einzelnen Klöster und Stifte zu werfen. Ein Schreiber des Domkapitels DK M (= NM S) hat einmal eine kurze memoria-Arenga in einer Privaturkunde vom Jahre 1203 benuzt 219 , jedoch nicht in einer anderen Urkunde, die eine sehr ähnliche Arenga hat2 20 • Er benutzt sie noch einmal im gleichen Jahr 22l • Ein Angehöriger des Schottenklosters, DK 0 (= Schott GO He IV A = 0 A = NM W), benutzte ebenfalls einmal in einer Privaturkunde des Domkapitels vom Jahre 1206 die schriftlich zu sichernde memoria in einer sehr eigenständigen Arenga 222 • In einer Urkunde des Domkapitels verwendete er weiter die memoria 223 , in Übereinstimmung mit einer Urkunde von 1223, bei der ein magister Odo fisicus seinen Nachlaß schriftlich regelte 224 • Die Schreiber des Klosters Johanek (wie Anm. 177), S. 6ff. Johanek (wie Anm.I77), S.212, 226, 234, 249, 252, und hier S.269: "Wir kennen aus den Pontifikaten der Würzburger Bischöfe von Embricho bis Dtto von Lobdeburg 331 echte Urkunden. An fast genau zwei Dritteln, nämlich an 220 Stücken, ist die bischöfliche Kanzlei bei der Herstellung beteiligt. Nur 88 können dagegen als reine Empfangerausfertigungen bezeichnet werden". 219 MB 37, Nr. 163, S. 162. A: Que geruntur in tempore, ne labantur cum tempore, litterarum debent memoria perennari; vgl. Johanek (wie Anm.I77), S. 87. 220 MB 37, Nr. 164, S. 164. A: Quu(!) geruntur in tempore, ne cum tempore dilabantur, perennari debent et voce testium et testimonio litterarum. 221 MB 37, Nr.165, S.165. A: Que intuitu dei rationabiliter disponuntur, litterarum merentur memorie commendari, ut earum auctoritate permaneant inconuulsa. 222 MB 37, Nr. 170, S. 171. A: Ad generalem spectare dinoscitur utilitatem, cum memoria hominum labilis sit et obliuiosa ut ea, que modernis temporibus aguntur siue ordinantur negocia, scripto firmiter roborentur, ne quis zelo inuidie inductus ea, que fuerunt rationabiliter instituta uel ordinata, in posterum possit irritare; vgl. Johanek (wie Anm. 177), S. 88 f. 223 MB 37, Nr. 194, S. 201. Vgl. Johanek (wie Anm. 177), S. 86, Anm. 211. 224 Quoniam propter euolutionem tempo rum seu obliuione hominum quorum memoria labilis est et caduca negocia que modemis temporibus aguntur solent imitari idcirco necessarium est et utile, vt scripturae testimonio firmiter et legitime roborentur; vgl. Johanek (wie Anm. 177), S. 86 f. 217 218

1. Deutsche Bistümer

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Neumünster zeigen weiteres Arengengut der memoria 225 • Hier in den Privaturkunden kann man den Einsatz der memoria-Wendung erst zu Ende des 12. Jahrhunderts nachweisen. e) Zusammenfassung Die hier festgestellte Tendenz, die Ausstellung einer Urkunde mit der menschlichen VergeBlichkeit (oblivio) oder dem Gedächtnis (memoria) zu begründen, ist seit den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts in den deutschen Bistümern weithin zu beobachten. Mit Recht darf man fragen, ob diese Erscheinung mit der Verbreitung der ars notariae Bernhards von Meung, deren Einfluß seit dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts auch auf deutschem Gebiet festzustellen ist, in Zusammenhang steht2 26 • Ihr Einfluß läßt sich zwar vermuten 227 , aber bezüglich der Wortwahl kann man von den dort aufgeführten Musterbeispielen zur Verwendung des Begriffs memoria keine direkte Auswirkung auf die hier behandelten bischöflichen Urkunden feststellen. Die memoria-Wendungen traten in den bischöflichen Urkunden schon vor der angenommen Verbreitung der ars notariae im deutschen Bereich auf, in Mainz etwa bereits in den fünfziger Jahren des 12. Jahrhunderts. Für die zunehmende Verbreitung der memorialoblivio-Wendungen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts spielte der Einfluß der Reichskanzlei trotz der personellen Verbindungen mit den bischöflichen Beurkundungsstellen offenbar keine Rolle. Allein aufgrund einer mitunter feststellbaren Diktatverwandtschaft kann die einseitige Beeinflussung der bischöflichen Urkunden durch KaiserurkundenlKönigsurkunden nicht nachgewiesen werden. Dies läßt sich dadurch bekräftigen, daß sich Notare wie Wortwin Ausdrücke mit memoria erst in der Reichskanzlei angeeignet zu haben scheinen, später aber in der bischöflichen Kanzlei von Würzburg keine solche Spur hinterlassen haben. In den bischöflichen Urkunden ist auch eine Art "Kanzleitradition" bei der memorialoblivio-Verwendung zu beobachten. Die neu eingesetzten Notare übernahmen bestimmte Formulierungen ihrer Vorgänger. Die Verschiedenartigkeit der Formulierungen läßt jedoch erkennen, daß die Wortwahl auf die einzelnen bischöflichen Notare zurückzuführen ist und von deren eigener Absicht und ihrem Sprachvermögen abhängig gewesen zu sein scheint. Interessant ist die Beobachtung, daß das gleiche Motiv mit variierten Ausdrücken seit den achtziger Jahren in den untersuchten Bistümern immer wieder vorkommt. Das weist darauf hin, daß eine solche Begrün225 So z. B. NM Q in einer Urkunde von 1199. Vgl. Johanek (wie Anm. 177), S.79, Anm.179; NM T im Jahre 1206. Vgl. Johanek, ebd., S.80, Anm.186. 226 Johannes Meisenzahl, Die Bedeutung des Bemhard von Meung für das mittelalterliche Notariats- und Schulwesen, seine Urkundenlehre und deren Überlieferung im Rahmen seines Gesamtwerkes, Phil. Diss. masch. Würzburg 1960. 227 Vgl. Go 18 (wie Anm. 207).

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11. Bischöfliche Urkunden

dung wie die schriftliche Aufzeichung als ein Gegenmittel gegen die unsichere memoria zu dieser Zeit allgemein anerkannt war.

2. Das deutsch-romanische Grenzgebiet Im folgenden Kapitel werden die Urkunden im deutsch-romanischen Grenzgebiet vergleichend untersucht. Dieses Gebiet läßt sich als ein Spannungs feld zwischen weltlichen und geistlichen Fürsten kennzeichnen, vor allem zwischen den Herzögen von Lothringen und den Grafen von Bar auf der einen und den Erzbischöfen von Trier sowie den Bischöfen von Metz, Verdun und Toul auf der anderen Seite. Die urkundlichen Aufzeichnungen der einzelnen Bistümer sollen eine gemeinsame Untersuchungsgrundlage bieten. Zunächst werden die erzbischöflichen Urkunden von Trier untersucht, die nicht nur geographisch, sondern auch diplomatisch als Brücke zwischen dem deutschen und dem romanischen Gebiet verstanden werden können. In der folgenden Analyse werden die unterschiedlichen Aspekte des memoria-Begriffs in diesem Grenzgebiet exemplarisch untersucht. a) Trier 228

Zuerst richten wir unseren Blick auf Trier. Trotz der umfangreichen Überlieferung kann man hier bis zum Ende des 12. Jahrhunderts kein einheitliches Bild von der Beurkundung hinsichtlich des Urkundenformulars gewinnen 229 • Einfacher Wiederholung oder Formelhaftigkeit begegnet man selten, und die Vielfältigkeit der Formulierungen kennzeichnet diese Zeit. Dies läßt sich wohl durch die anzunehmende hohe Zahl an Empfängerausfertigungen erklären. Eine Wendung mit memoria taucht bereits in den sechziger Jahren des 11. Jahrhunderts in den Arengen einmal auf230• Die betreffende Urkunde über ein Tauschgeschäft soll nach Oppermann jedoch eine Fälschung aus dem 12. Jahrhundert 228 Die Edition von Heinrich Beyer, Leopold Eltester und Adam Goerz (Urkundenbuch zur Geschichte der, jetzt die preußische Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mitteIrheinischen Terrritorien, 3 Bde., Coblenz 1860, 1865, 1874) bedarf der kritischen Überarbeitung. Es fehlt an genaueren Angaben zum Überlieferungszustand und zur Bestimmung der möglichen Verfasserschaft von Urkunden aufgrund der Schriftanalyse. Die folgende Untersuchung muß sich daher mit einem Diktatvergleich begnügen, der immer mit möglichen Irrtümern wie Einträgen der späteren Zeit rechnen muß. 229 Dies wird neben den inneren auch durch die äußeren Merkmale bestätigt. Waldemar Martin, Das Urkundenwesen der Trierer Erzbischöfe Johanns I. und Theoderichs 11. 11901242. Marburg 1911, S.1 f. 230 Urkundenbuch zur Geschichte der, jetzt die preußische Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Terrritorien, hg. von Heinrich Beyer. 1. Bd. Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1169, Coblenz 1860. Unten abgekürzt, UB Trier 1, Nr. 361 (1065), S.417, A: I.n.s.e.i.t. ego Eberhardeus dei Gratia treuirorum archiepiscopus notificari cupio quibuscunque fidelibus et a presentium memoria ad futurorum noticiam transmitti.

2. Das deutsch-romanische Grenzgebiet

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sein 231 • Zu diesem Befund paßt das Ergebnis unseres Diktatvergleichs: Die hier auftauchende memoria-Wendung ist für die erzbischöflichen Urkunden von Trier im 11. Jahrhundert auffällig. Ein ähnlicher Ausdruck ist in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahr 1068 verwendet 232 • Die in beiden Texten benutzten Formulierungen mit memoria sind jedoch im gleichen Kontext zu verstehen: die Nachwelt soll die gegenwärtigen Erinnerungen nicht vergessen und immer präsent haben. Im 11. Jahrhundert sind folgende grundsätzliche Beobachtungen in bezug auf die Verwendung des Begriffs memoria in den Trierer Urkunden festzuhalten : 1. Das Leben der sterblichen Menschen sei so kurz, daß unsere memoria durch noticia bewahrt werden müsse 233 • Bei der betreffenden Urkunde handelt es sich wohl wieder um eine Fälschung vom Ende des 12. Jahrhunderts 234 • Das hier zum Ausdruck kommende Motiv tritt in den Urkunden der anderen Bistümer ebenfalls entgegen. 2. Die memoria zu bewahren, bedeutet zu glauben, und führt unmittelbar zur Erlösung: Die gerechte Erinnerung solle Gnade verdienen 235 • Diese Formulierung erinnert uns an die Magdeburger Urkunden, doch scheint die hier ausgedrückte Reihung huius nostre devotionis carte noticiam habere, memoriam retinere , jidem adhibere eigenständig zu sein. 3. Nach diesen Verwendungen schweigen die erhaltenen Urkunden von Trier mehr als siebzig Jahre in bezug auf die memoria 236 • In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde der memoria-Begriff unter Erzbischof Arnold I. (1169-1183) wieder häufiger gebraucht. Arnold stammte aus dem Geschlecht der Herren von Walcourt im Bistum Lüttich 237 und war Propst des Kollegiatstifts St. Andreas in Köln. Knapp 40 der erhaltenen Trierer Urkunden sind von ihm ausgestellt. Davon 23 1 Otto Oppermann, Rheinische Urkundenstudien, zweiter Teil: Die trierisch-moselländischen Urkunden, hg. von F. Ketner, Groningen 1951. Hier S. 202f. 232 Nr. 367 (1068), S. 424, A: Notum fieri cupimus quibuscunque fide1ibus et per continuam presentium memoriam ad posteritatis noticiam transmitti. 233 Nr.392 (1097), S. 448, A: Quum ea que inter homines aguntur turn propter brevitatem uite mortalis turn propter negligentiam plurumque solent ci memoria recedere presentes et futuros in Christo Ihesu fideles monentes rogarnus et ipsis iniungimus. Huius nostre pagine noticiam habere. 234 Oppermann (wie Anm.231), S. 251. 235 Nr. 396 (um 1098), S.451 , A: Quoniam uita ipsa qua fruimur breuis est et quia scripturn est. memoria iustorum in benedictione erit. nos qui opitulante deo bonis omnibus quantum possumus studium et memoriam exhibemus. presentes et futuros omnes deo fideles monemus. petimus et iubemus. huius nostre deuotionis carte noticiam habere. memoriam retinere. fidem adhibere. 236 Urkundenbuch zur Geschichte der, jetzt die Preussischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien, bearb. von Heinrich Beyer, Leopold Eltester und Adam Goerz, 2. Bd.: Vom Jahre 1169 bis 1212, Coblenz 1865. Unten abgekürzt, UB Trier 2, Nr. 10 (1171), S.48, ... speramus et nobis et nostris successoribus ad perpetuam salutem profuturum. quibus inde memoria debetur orationum. 237 Ferdinand Pauly, Aus der Geschichte des Bistums Trier, 2. Teil. Trier 1969, S. 86 ff.

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11. Bischöfliche Urkunden

findet sich in elf Urkunden eine memoria-Fonnulierung. Interessant ist, daß die memoria-Wendung niemals in den Urkunden Erzbischof Hillins (1152-1169) vorkommt, unter dem das Erzbistum Trier nach dem erfolgreichen Pontifikat Alberos von Montreuil (1131/32-1152) weiter konsolidiert worden war, sondern erst bei seinem späteren Nachfolger Arnold wieder auftaucht. Die memoria-Wendungen in den unter Arnold ausgestellten Urkunden drücken folgende Motive aus: 1. Die schriftlich gesicherte memoria vennittele den sterblichen Menschen das Unsterbliche 238 • Man begegnet diesem Motiv immer wieder auch in anderen Bistümern. 2. Der Lauf der Zeit verursache die Vergeßlichkeit 239 • Das Bewußtsein vom Zeitablauf wird oft in Zusammenhang mit der betonten Notwendigkeit schriftlicher Fixierung gebracht. 3. Die Wendung defectui humane memorie verdeutlicht den Grundgedanken der unvollkommenen Natur der memoria 240 • Es findet sich die gleiche Fonnulierung defectui humane memorie qui veritatis ignorantiam solet inducere in einer kaiserlichen Urkunde Friedrich Barbarossas, welche dererzbischöfiichen Urkunde vom Jahre 1177 als Vorurkunde gedient hat 241 • Nach W. Koch ist das kaiserliche Di238 UB Trier2, Nr.12 (1171), S.50, A: auctoritate ueterum in ianuam consuetudinis intromiss um est. ut immortali apud mortales litterarum memorie committatur. quod non sine periculo in posteros ignoratum iri uidetur; vgl. Nr.69 (1184), Quum ex reuolutione temporum obliuionem plerumque patitur humana infirmitas. quecunque digna sunt ad noticiam posterorum transmitti. immortali apud mortales litterarum memorie debent commendari; vgl. Nr.246 (1209), A: Quum eorum que geruntur ab hominibus memoria sepe perit ipsis morientibus et diuturnitas temporis super hiis que aliquando certa fuerunt. posteritatem in dubium trabit. antiquitas felici prouisione modum adinuenit. per quem testium mortalitati per scripturam immortalem subueniretur. ut scilicet in locum testium delicientium ad rei geste seriem probandam succedat lides instrumentorum. 239 Nr.13 (1171), S.50, A: Ex iniuncto nobis officio paci et quieti uniuersorum. maxime uero religiosorum uirorum qui nostro diuinitus committuntur regimini sollicitius prouidere nos decet. Eapropter quedam que in presentia nostra gesta sunt. ne facile labantur amemoria. ad noticiam posterorum scripto commendauimus. Noverint igitur uniuersi ad quos littere iste peruenerint. ... ne euolutione temporum in dubium ueniant uel oblivione deleantur scripto ista mandauimus. Diese Urkunde soll von einer Himmeroder Empfangerhand stammen. Martin (wie Anm.229), hier S. 44; vgl. Nr. 62 und Nr. 69. 240 Nr.27 (1177), S. 65, A: Igitur defectui humane memorie qui veritatis ignorantiam inducere et per hoc iusticie solet abrogare scripti huius perpetuitatem opponentes; Nr. 39 (1180), S. 80, A: Iustitia est que conseruat uniquique quod suum est. sed quid cui conseuari de iure debeat sine ueritatis cognitione nulli liquida constat. Nos igitur defectui humane memorie qui nube ignorantie lucem ueritatis plerumque obfuscare et per hoc iustutie preiudicium solet generare. presentis priuilegii perpetuam auctoritatem opponere decreuimus. ut null am erroris materiam examinationi in posterum relinquamus sed totius dubitationis occasionem occultate ueritatis obtentu finaliter prescindamus. 241 DF. I. 581 (1171), A: Iusticia est, que unicuique, quod suum est, conservat, sed quid, cui conservari debeat, si ne veritatis cognitione nulli liquido constat. Igitur defectui humane me-

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plom "außerhalb der Kanzlei verfaßt und geschrieben worden. Der Schreiber entstammte den französisch beeinflußten Westgebieten des Reiches, vielleicht der Diözese Lüttich. Daß er juristisch gebildet war, beweist die Arenga."242 Interessant hierbei ist die Feststellung, daß der gleiche Ausdruck igitur defectui humane memorie qui veritatis ignorantiam solet inducere schon im Jahre 1173 in einer Urkunde des Domkapitels zu Trier verwendet ist 243 • Die betreffende Urkunde scheint eine Zwischenstufe zwischen dem kaiserlichen Diplom vom Jahre 1171 und der erzbischöflichen Urkunde aus Trier vom Jahre 1177 darzustellen. Diese Beobachtung führt zu der Vermutung, daß diese memoria- Wendung aus der kaiserlichen Kanzlei über das Domkapitel zu Trier in die bischöfliche "Kanzlei" gelangt sein und sich hier als Formulargut etabliert haben könnte. Die obengenannte Annahme Kochs läßt sich durch die Diktatverwandtschaft mit Trier wohl bekräftigen und weist zugleich auf die Möglichkeit hin, daß diese Formulierung durch einen Kleriker in Trier verwendet worden ist, der möglicherweise mit Erzbischof Arnold aus seiner Heimat Lüttich gekommen war und vielleicht zum Domkapitel gehörte. Diese Überlegung bleibt aber hypothetisch . Die hier behandelten Urkunden weisen auf jeden Fall eine interessante Parallelität auf und scheinen auf einen überregionalen Schriftverkehr zu deuten. Die folgende Arenga eines Vertrags zwischen Erzbischof Amold und der Abtei Echtemach vom Jahre 1179 beleuchtet das Bedeutungsfeld des Begriffs oblivio als Gegenbegriff zu memoria 244 : Quoniarn tempora pretereunt more fluentis aque. et mens humana procliuis est ad oblivionem et capax est ignorantie. recte ad consulendum huic imbecillitati usus litterarum inuentus est. ut per eum ad noticiam et memoriam reuocetur. quod longo temporum spatio antiquaturn sine scripture adminiculo facHius a cognitione hominis elaberetur. Inde est quod presens factum quia nec a fatione exorbitat. nec a bona consuetudine deuiat. ratum inconuulsumque permanere uolentespresenti pagina ad notitiam tarn presentium quam futurorum transmittimus. Diese Arenga enthält folgende wichtige Aspekte der Bedeutung von oblivio: Der Verstand der Menschen neige zum Vergessen (mens humana procliuis es! ad oblivione). Hinter diesem Gedanken verbirgt sich das Mißtrauen gegen die vergängliche Natur des Menschen. Die Unvollkommenheit des menschlichen Wesens ist durch ihre Zeitlichkeit bestimmt. Die negative Einschätzung der menschlichen mens steht im Kontrast zur sicheren Bewahrung bei schriftlicher Fixierung. Die memoria, die morie, qui veritatis ignorantiam solet inducere, huius privilegii antidotum opponentes notum facimus universis tarn presentibus quam futuris ... 242 Vormerkung zu DF.1. 581, vgl. Walter Koch, Die Reichskanzlei in den Jahren 1167 bis 1174 (= Denkschriften der Österr. Akad. der Wissenschaften. Phil.-hist. KI.115), Wien 1973, S.46ff.

243 VB Trief 2, Nr. 17 (1173), S. 54, A: Justitia est que conseruat unicuique quod suum est. sed quid cui conseruare vel quibus debeat. sine ueritatis cognitione nulli liquido constat. ergo defectui humane memorie qui ueritatis ignorantiam inducere solet. et per hoc iusticie derogare privilegii huius auctoritatem opponentes. 244 VB Trief 2, Nr. 35, S. 76 f.

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H. Bischöfliche Urkunden

in der klassischen Rhetorik als eine Art Technik behandelt wird, versinnbildlicht hier das Charakteristikum der vergänglichen Existenz des Menschen, welche vom Laufe der Zeit bestimmt ist. Die Erinnerungen der sterblichen Menschen seien vergänglich, so daß die schriftliche Bewahrung als Gegenmittel nützlich sei. Diese Arenga kann als ein explizites Zeugnis für die damalige Vorstellung von der Zeit und für die Begründung der schriftlichen Beurkundung gelten. Die Verschriftlichung dient als Mittel, die Erinnerungen der vergänglichen Menschen zu bewahren. Dieses Motiv kommt immer wieder vor und wird unterschiedlich ausgedrückr245 • Die dabei zu beobachtende Betonung der Nützlichkeit von Schriftzeugnissen wie in der Wendung litterarum testimonio commendaretur 2% steht im Gegensatz zum überwiegend mündlich tradierten Recht: Die schriftlichen Rechtsaufzeichnungen sollten dem Zeitablauf zum Trotz die dauerhafte Gültigkeit sichern helfen und die Rechtssicherheit der Nachwelt befördern (scripture indicio posterorum noticie transmissum inconuulsum in perpetuum scruaretur). Interessanterweise sind mitunter die Begriffe memoria und noticia gleichgestellt, indem das Vertrauen auf die Verschriftlichung als Gegenmittel zum Zeitablauf (quod longo

temporum spatio antiquatum sine scripture adminiculo facilius a cognitione hominis elaberetur) betont wird 247 • Die Bedürfnisse nach Rechtsabsicherung für die Zu-

kunft und das Vertrauen auf dauerhafte Wirksamkeit der schriftlichen Beglaubigung sind hierbei unverkennbar. In den unter Erzbischof Amold ausgestellten Urkunden findet sich die vergängliche memoria wiederholt betont. Die menschliche Natur neige zum Vergessen, im

245 Nr. 61 (1169-1183), S.101, A: Quoniarn memorie beneficium fugax est et labile. litterarum suffragium necessario inuentum cognoscitur. ut quod uel diuturnitate temporis a memoria aboleri. uel iniqua malorum tergiuersatione a sui status rectitudine solet inmutari.litterarum testimonio commendaretur. et scripture indicio posterorum noticie transmissum inconuulsum in perpetuum scruaretur. 2% Vgl. Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Terrritorien. Bearb. von Heinrich Beyer, Leopold Eltester und Adam Goerz. Bd. 3: Vom Jahre 1212 bis 1260. Coblenz 1874, Nachdr. Aalen 1974. Abgekürzt UB Trier 3, Nr. 311 (1227), S.249, A: Quociens in ecclesiis dei exigente quolibet necessitatis articulo, ob utilitatern Christo servientiurn prudenter aliquid et devote fuerit ordinatum, ne per oblivionem lapsu temporis inducendam, vel perversis aliquarum machinationibus valeat expugnari, litterarum convenit testimonio commendari; Nr.387 (1230/31), S. 308, S. 371 f., A: Que ad ecclesiarum utilitatem statuuntur, ne lapsu temporis per oblivionem valeant immutari, convenit ut litterarum vivaci testimonio commendentur; Nr.476 (1233), A: Quociens in ecclesiis dei exigente quolibet necessitatis articulo ob utilitatem Christo servientium prudenter aliquid et devote fuerit ordinatum, ne per oblivionem lapsu temporis inducendam vel perversas aliquorum machinationibus valeat expugnari, litterarum convenit testimonio commendari. 247 UB Trier 2, Nr. 35, S. 76f. Vgl. UB Trier 2, Nr.53 (1182), S. 92, A: Quoniam ueterum sollers decreuit prudentia, quatinus inter legitimos horn in um contractus. qui digni memoria repperirentur. tenaci auctoritate litterarum. que fideles rerum sibi commissarum sunt indices. ad noticiam posterorum transmitterentur; ebd., Nr. 62 (1169-1183), S.1 03, A: Ex iniuncto nobis officio paci et quieti uniuersorum maxime uero religiosorum uirorum. qui nostro diuinitus cornmittuntur regimini sollicitius nos prouidere decet. Ea propter quedam que in nostra presentia gesta sunt ne facile labantur a memoria notitie posterorum scripto duximus commendare.

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Laufe der Zeit werde die memoria ohne schriftliche Stütze aus dem Bewußtsein leicht verschwinden, deshalb sei es notwendig, sie durch schriftliche Fixierung wachzuhalten. Diese Akzentuierung der Verschriftlichung läßt sich im Trierer Bereich weit beobachten 248 • Seit Ende der siebziger und besonders in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts ist die Zunahme bei der Verwendung des Begriffs memoria in diesem Gebiet auffallig. Dies gilt auch für die klösterlichen Privaturkunden 249 • 248 Erwähnungen von Verschriftlichung UB Trier I, S. 641, Nr. 582 (1154), Aussteller: Der trierische Dompropst Gottfried, A: Iusta et honesta postulatio. effectu debet prosequente compleri. quatinus bone uoluntatis sinceritas. laudabiliter enitescat. et utilitas prouisa uires indubitanter assumat. Eapropter deuotioni fidelium et utilitati s. ecc1esie prospicientes. que in cura nobis commissa. corrigenda perspeximus: auctoritate nobis commissa. commoniti peticione uestra et ecc1esie. prout melius potuimus correximus. et scripto tradentes posteris memorie tradimus; ebd., S. 712, Nr.656 (1169), Aussteller: Graf Heinrich zu Lützilnburg, C: Quod ut ratum permaneat et scripto memorie commendaui et sigilli mei impressione roboraui; ebd., S. 714, Nr.659 (um 1169), Aussteller: Johannes, Domdekan und Archidiakon zu Trier, C: Et ne hec successione temporum evanescant a memoria mortalium. uices gerentes archiepiscopi. curauimus predictam donationem presenti scripto confirmare et sigilli nostri impressione roborare; UB Trier 2, S. 52, Nr. 15 (1172), Aussteller: Das Stift S. Simeon, A: Quia facta hominum diutumitate temporum in dubium solent venire. uel omnino a rnernoria excidere. remedio quo potuimus. obliuioni obuiauirnus. et ea que uidimus et audiuimus immo dei preeunte auxilio effectui mancipauimus scripti muni mine ad noticiam tarn presentium quam futurorum transmisimus; Nr. 17 (1173), wie Anm. 243. 249 Ebd., S. 75, Nr. 33 (1179), Aussteller: Hermann von Arras, A: Cum humana uita fragilis sit. et dubia. et horninurn rnernoria labilis et transitoria. necessariurn est. ut rnortaliurn pacta roborentur per scripta; ebd., S. 75 f., Nr. 34 (1179), Der Abt Ludwig zu Echternach über eine Stiftung des Konversen Hazzo, A: Cum lege tarn nature quarn scripta operari bonurn ad ornnes teneamur. maxime ad domesticos fidei fratres uidelicet nobis commis sos opus bonum extendere. et utilitati eorum honeste prouidere beniuolentie studio conamur. Cuius utilitatis executionem quia ad noticiam tarn futurorum quam presentium transmittere congruum ducimus. litterarurn rnonirnentis eam mandare prouida deliberatione curamus ut in cuum ratum et inconuulsum ualeat permanere. quod sine scripture amrniniculo inueteratus ternporurn decursus a rnernoria horninurn poterat abolere; ebd., S. 114 f., Nr.73: (1174-1185), Der Abt Gottfried zu Wadgassen läßt sich von dem Verkäufer Landulf den rechtlichen Erwerb von Land zu Hundesbur beurkunden, A: Quurn generatio preterit et alia aduenit. et quedam posteris utilia a rnernoria facHe labuntur rnortaliurn. aliqua nostris ternporibus rationabiliter acta. et nostris successioribus necessaria. scripto cornrnendare dignurn duxirnus; ebd., S. 125, Nr. 87 (1187), Aussteller: Der Propst Gerard von St. Simeon zu Trier, A: Cum ea que a fidelibus prouisione salubri disponuntur obliuionis tenebris soleant plerumque inuolui et processu ternporis caligine uetustatis a rnernoria horninurn alienari ueterurn prudentia scriptis huiuscernodi cornrnendari consueuit; ebd., S. 128, Nr.90 (1187), ein Erbpachtsbrief des Stiftes zu Münstermaifeld, A: Quum uetema nouis superuenientibus obliuionis caligine frequencius sopiuntur. ea que in futuro rnernoriter haberi cupirnus. scripto cornrnendare dignurn duxirnus. Ea propter scripti attestatione confirmantes. notum facimus; ebd., S. 129, Nr.91 (1187), Vergleich zwischen der Abtei Malmedy und dem Kloster St. Marien bei Andernach über einen Zehnten, A: Vtiliter et prouide conscribuntur ea que a nobis de possessionibus monasterii nostri geruntur. ut in singulis quibusque rebus quid qua utilitate poscente. uel qua necessitate cogente actum sit. a successoribus nostris non ignoretur. idcirco que utilitatis fiunt intuitu et pacis respectu tanto nos diligentius observare. et posterorurn cornrnendare rnernorie attentius oportet. quanto et commissa pastoralitas. et dierum malitia sollicitudinis huius nos admonet. Huius ergo respectu rationis successoribus et posteris notum facimus.

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11. Bischöfliche Urkunden

Häufig wird die urkundliche Fixierung durch litterarum monumenta als Mittel begründet, die geschehenen Dinge der Gegenwart an die nachkommenden Generationen zu übermitteln 250. Die Wendung temporum mutabilitas, die an das im 12. Jahrhundert geläufige Geschichtsbild Ottos von Freising erinnert, taucht zweimal aUe 5l • Man begegnet weiter den Ausdrücken mutabilitas rerum 252 , gestarum rerum memoria 253 und rerum gestarum series 254 im monastischen Bereich. 250 UB Trier 2, S. 110, Nr.68 (1184), A: Sicut antiquissimi uirorum facta sua forcia et nobilia scripturarum relatu ad nostrorum temporum cognitionem transferre studuerunt. ita etiam nostrorum temporum gesta future generationi litterarum monumentis plerique nunciari solent. Über die Wendung litterarum monumentis, vgl. Actes des princes Lorrains, 2 eme serie: Princes ecc1esiastiques, I: Les eveques de Metz, B: Etienne de Bar 1120-1162, par Michel Parisse. S. 257, No. 118 (1160-1162), A: ... ne res compositione sopita levi aliqua occasione in litern redeat, nostrum est litterarum tradere monimentis et tarn posterorum quam presentium cognitioni transmittere; Actes des princes Lorrains, 2 eme serie: Princes ecc1esiastiques, I: Les eveques de Metz, C: Tierri III., Ferri, Thierri IV. 1163-1179, par Michel Parisse. S. 24, No. 10 (1168), A: Quae rata et inconvulsa postmodum cupimus perrnanere, plerumque litterarum tradimus monumentis. Quarum beneficio et presentium excitatur memoria et rerum pridem gestarum plena posteris noticia continetur, dignum itaque duximus presenti scripto braeviter commendare; S. 83, NO.47 (1171-1173), A: Quoniam antiquitatis defectu aut humane fragilitatis incuria que rata esse videbantur oblivionis vitio sepe abolentur, iccirco que dicta vel gesta humanis usibus pro futura noscuntur, litterarum monimentis posteritatis transmittuntur. 25\ UB Trier 2, Nr. 71 (1185), Erzbischof Arnold, A: Cum uniuersa humaneconditionis opera et instituta temporum mutabilitati subiaceant. opere precium est quorumlibet negotiorum contractus litterarum monimentis et cautionibus consignare. ne res rationabiliter geste aut obliuionis uicio aut malignitatis studio deprauentur; S. 114, Nr. 72 (1185), Das Stiftskapitel von SI. Simeon zu Trier genehmigt die dem Kloster Eberbach erworbene Zollfreiheit in Koblenz, A: Cum uniuersa humane conditionis opera et instituta temporum mutabilitati subiaceant. opere precium est quorumlibet negotiorum contractus litterarum mu(!)nimentis et cautionibus consignare. ne res rationabiliter geste aut obliuionis uicio aut malignitatis studio deprauentur. Vgl. Actes des Princes Lorrains, 2eme serie: Princes ecc1esiastiques, III: Les eveques de Verdun, A-Des 1107 all56, ed. Jean-Pol Evrard, Nancy 1982. Nr.53 (1151). 252 UB Trier 2, S. 121, Nr. 81 (1186), Abt Reiner zu Busendorfbestätigt und beurkundet den von seinem Vorfahren Walter vor 16 Jahren mündlich gemachten Verkauf eines Gutes an die Abtei Wadgassen, A: Quoniam pro lapsu temporum uaritate personarum mutabilitate rerum solet deperire memoria actionum. si non fuerit scripto mandata memorie. posterorum ea propter et presentium et post nos futurorum paci prouidentes scripto curauimus eternare qua rata et inconuulsa uolumus permanere; S. 326, Nr.292 (1190-1212), Erzbischof Johann übernimmt für sich und seine Nachfolger die Aufsicht über das Kloster Deren in Trier, A: Quoniam temporum mutabilitatem rerum quoque uarietas solet imitari. necesse est ea que ad perpetuam stabilitatem flunt litterarum suffragio eterne memorie commendari. 253 S. 105, Nr.65 (1184), Der Abt Gottfried zu Springiersbach beurkundet die Schenkung durch Gerhard, den Herrn von Helfenstein, an das Kloster zur Stuben, A: Ne gestarum rerum memoria processu temporis ueniat in oblivionem scripture testimonio roborari necesse es!. 254 S. 187, Nr. 145 (1195), Der Abt Gottfried zu Wadgassen verträgt sich mit dem Grafen Ludwig von Saarwerden über die Vogtei zu Rorbach, und empfangt von demselben einiges Gut zur Stiftung seiner Memoria, A: Quum rerum gestarum series aliquando nimia temporum antiquitate aliquando prauorum hominum sinistra interpretatione solet obnubilari. immutari atque peruerti. ne locum ueritatis falsitas obtineatque forrnula. quibus presentibus et a qui-

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Unter Erzbischof Johann I. (1189-1212), dem Nachfolger Arnolds, wird der Begriff memoria weiter verwendet. Johann war längere Zeit Archidiakon in Speyer 255 und dann der letzte Kanzler Friedrich Barbarossas. Mit Johanns Amtsantritt wurde die erzbischöfliche Kanzleiaktivität erhöht 256 • Er ist Aussteller von 77 überlieferten Urkunden. Die unter seinem Namen wohl in der erzbischöflichen Kanzlei ausgestellten Urkunden weisen variierte memoria-Ausdrücke auf. Eine Urkunde der Kanzleihand JB257, eine Urkunde von JD 258 , sowie eine Urkunde von JF 259 enthalten memoria- Wendungen. Interessant ist zu beobachten, daß der unterschiedlich ausgedrückte memoriaGedanke oft in den für St. Eucharius-St. Mathias ausgestellten mutmaßlichen Fälschungen begegnet 260 • Die relative hohe Zahl der mit einem memoria-Ausdruck ausgeschmückten Fälschungen 261 , nämlich vier von sieben, erinnert uns an die Würzbus nostris temporibus facta sit. litteris commendare duximus necessarium. V gl. St. Mihiel, Molesme, siehe Kapitel 11. 2. b). 255 Pauly (wie Anm. 237), Teil 2, S. 90. 256 Martin (wie Anm. 229), hier Einleitung, S. 1. 257 Die hier benutzten Siglen der Notare richten sich nach der Untersuchung Martins. UB Trier 2, S.221 f., Nr.181: 1200, A: Antiquorum ac prudentum adinuenit industria uirorum utea que in perpetua desiderantur haberi memoria. beneficio scripture ad presentium posterorumque noticiam transmittantur. Huius itaque rationis intuitu presenti scripto sigillo nostro communito notum facimus. 258 S.261, Nr.222 (1205), A: Antiqua et prudentum adinuenit industria uirorum. uteaque in perpetua desiderantur haberi memoria. beneficio scripture. ad presentium posterorumque noticiam transmittantur. 259 S.285, Nr. 246 (1209), A: Quum eorum que geruntur ab hominibus memoria sepe perit ipsis morientibus et diuturnitas temporis super hiis que aliquando certa fuerunt. posteritatem in dubium trahit. antiquitas felici prouisione modum adinuenit. per quem testium mortalitati per scripturam immortalem subueniretur. ut scilicet in locum testium deficientium ad rei geste seriem probandam succedat lides instrumentorum; vgl. UB Trier 3, S. 6, Nr.5 (1213), Vergleich zwischen Propst und Kapitel des Stiftes St. Kastor zu Koblenz wegen der Verteilung des Zehntens, A: Quoniam eorum que geruntur ab hominibus memoria sepe perit ipsis morientibus et diuturnitas temporis super hiis que aliquando certa fuerunt, posteritatem in dubium trahit, antiquitas felici provisione modum adinvenit, per quem testium mortalitati per scripturam immortalem subveniretur, ut scilicet in locum testium deficientium, ad probandam rei geste seriem succedat fides instrumentorum. 260 Oppermann (wie Anm.231), S.260ff. Martin (wie Anm.229) S. 77, Anm.2. Weitere Literatur über die Fälschungen dieses Klosters nennt Wilhelm Ewald, Siegelrnissbrauch und Siegelfalschung im Mittelalter, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 30 (1911), S.I-100. 261 UB Trier 2, S. 170, Nr.128 (1192), A: Iusticia est. que conseruat vnicuique quod suum est. Sed quid cui conseruari de iure debeat. sine veritatis cognitione nulli liquido constat. Igitur defectui humane memorie qui veritatis ignoranciam inducere. et per hoc justicie solet abrogare. scripti huius perpetuitatem opponentes. Vniversis presens scriptum intuentibus noturn facimus; S. 245, Nr.208 (1202), A: Quum fortuna mendax et volubilis. in factis et gestis hominum tantum sibi juris vendicauit. quod eorum memoria tabescit de facili. ideo litterarum indieiis ac testimoniis debent perhennari; S. 248, Nr. 211 (1202), A: Quoniam transeunte ac succedente tempore quecunque fiunt aut facta sunt. ipsa a memoria hominum recedunt. scripto annotare et non solum presencium sed etiam ad noticiam futurorum trans-

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burger Urkunden 262 , bei denen die memoria-Wendungen eventuell als Merkmal der Fälschungen angesehen werden können. Auch in einer anderen Fälschung kommt der memoria-Aspekt vor 263 • Die Voraussetzung für ihr Auftreten in den Fälschungen ist, daß die memoria-Wendung seit der Wende zum 13. Jahrhunderts als etablierter Ausdruck geläufig gewesen war. Weiterhin kommen memoria-Ausdrücke in solchen Urkunden vor, deren Verfasserschaft nicht bestimmbar ist, wobei Empfangerausfertigungen nicht ausgeschlossen werden können 264 • Man begegnet dabei nur selten einfachen Wiederholungen. mittere curauimus; S. 270f., Nr.233 (1201-1207), A: Iustitia est que conseruat vnicuique quod suum est. Sed quidcui conseruari de iure debeat. sine veritatis cognitione nulli liquida constat. 19itur defectui humane memorie qui veritatis ignoranciarn inducere et per hoc justicie solet abrogare scripti huius perpetuitatem opponentes. uniuersis scripturn presens intuentibus notum facimus ... Vgl. Nr.27 (1177) und DEI. 58!. 262 Siehe Kapitel 11. !. d). 263 UB Trier 2, S. 186, Nr.143 (1195), Erzbischof Johann setzt auf kaiserliche Anordnung den Zoll in Koblenz fest, A: Cupientes vt per boni exemplum operis posterorum uirtus excitetur et id quod memoriter teneri oportet. obliuionis nube ne obscuretvr. dignum duximus per ueracem scripti huius continentiam turn presentium memoriam firrnari. turn futurorum noticiam preparari. Oppermann (wie Anm.231), S.258f. 264 Ebd., S. 175, Nr. 132 (1194), ErzbischofIohann vergleicht das Kloster St. Marien bei Andemach mit Elias von Elz über die Vogtei zu Trimbs, A: honeste rei laudabile fertur esse indicium. quod quandoque si necessitas compulerit per scripta probari poterit testimonium. Huius prospectu rationis presentis cartule subscriptione tarn presentium quam futurorum dignum duximus memorie commendare; S. 258, Nr. 219 (1204), Erzbischof Johann vergleicht das Kloster Himmerod mit den Erben Alberos von Senheim über das Gut zu Senheim, das dieser vor seiner Reise nach Jerusalem dem Kloster übergab, A: Ea que perpetue firmitatis robur habere debent. ne per oblivionis uicium vel cuiuslibet malignitatis studium a statu sue rectitudinis possint immutari. scripto solent commendari; S. 303, Nr.262 (1210), Aussteller: Erzbischof Johann, A: Cum memoria prima sit in quam senectus incidit. ne illa que utiliter geruntur uel obliuio sepeliat. vel calumpnia hominum iniquorum subuertat. necessario tali morbo per scripture remedium prouidetur; S. 304, Nr.263 (1210), Erzbischof Johann bestätigt die vom Dekan Gregor zu Münstermaifeld daselbst bewirkte Stiftung seiner Memoria, A: Memorabile dignumque memoria et salutiferum celebrat commercium. qui per largitionem temporalium. eterne diuineque remunerationis lucrifacit premium. honestas quoque pie gestorum non inmerito cautione litterarum uenit in piam recordationem posterorum; S.307, Nr.268 (1192-1210), Erzbischof Johann beurkundet die Schenkungen Walters von Polch und seiner Frau Mathilde an die Abtei St. Eucharius bei Trier, A: Ne rerum gestarum memoriam abolere possit obliuio presenti scripto ad noticiam tarn presentium quam futurorum transmittimus. Vgl. Nr. 267; S. 324, Nr.290 (1190-1212), Aussteller: Erzbischof Johann, A: Cupientes tarn in presenti etate quam in postera contra memorie humane infirmitatem et malignantium calumpniarn certe et firme patrocinium cautele preparari dignum duximus presenti scripto annotari; S. 326, Nr. 292 (1190-1212), Aussteller: Erzbischof, A: Quoniam temporum mutabilitatem rerum quoque uarietas solet imitari. necesse est ea que ad perpetuam stabilitatem fiunt litterarum suffragio eterne memorie commendari; S. 328, Nr.295 (1203-1212), Aussteller: Erzbischof Johann, A: Quoniam facta mortalium ex processu temporis necnon successiua uariatione generationum oblivionis solent obfuscari. remedio quo possumus obliuioni obuiamus. statuentes. ut ea que rationabiliter a nobis facta fuerint. autentici scripti munimine ad posterorum noticiam perueniant; S. 319, Nr. 284 (1212), Erzbischof J ohann bestätigt dem Kloster S. Thomas an der Kyll all seine Besitzungen, A: Facta que perpetua stabilitate ui-

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Auch in anderen Privaturkunden der Zeit ist der Gesichtspunkt der memoria weit verbreitet265 • Man begegnet hierbei selten wiederholten Wendungen, die auf eine eigene "Diktattradition" der Beurkundungsstelle hinweisen könnten 266 • gere debent. ne uel uieio obliuionis. uel studio cuiuslibet malignitatis a statu rectitudinis possint inmutari. scripto solent commendari; vgl. S.226, Nr. 186 (1187-1200), Propst und Kapitel von St. Simeon zu Trier, A: Pacta et conuentiones que utiliter et fideliter fieri noscuntur. certitudinis et firmitatis debent tenere robur immobile et ne malicie studio vel oblivionis uieio a sue statu rectitudinis ualeant immutari. solent ad noticiam posterorum litterarum suffragio transmitti; S. 295, Nr. 255 (1180-1209), Vergleich des Stiftes St. Simeon zu Trier mit dem trierischen Domherrn Theodrich von Luxemburg wegen der von ihm resignierten Pfarrei Mosbach, A: sicut bone fidei actio ueritatis subsistit fundamento. sic ad sue firmitatis robur ueritatis quoque gaudet testimonio et ne ab hominum memoria vel facHe labi vel alicuius malignitate possit immutari. scripture suffragio indiget adiuuari. 265 Ebd., S. 150, Nr. 108 (1190), Gerhard Abt zu Prüm stiftete das adelige Nonnenkloster zu Niederprüm, A: Quod ad honorem dei et ad utilitatem deo seruientium pie a nobis et rationabiliter factum est. memorie litterarum commendare dignum duximus. quatinus per hoc et res gesta necessarie sibi firmitatis robur in presenti obtineat. et omnis calumpniandi occasio in futuro conquiescat; S.161, Nr.119 (1191), Urkunde, daß durch Vermittlung des Grafen Heinrich der Sohn des verstorbenen Grafen Sibert seine Ansprüche an das von diesen dem Kloster Wadgassen geschenkte Gut aufgibt, A: Quoniam rarescente in terris fide et iusticia uerborum et factorum tanta sequitur inconstantia. ut depereat utilium memoria actionum. si non fuerit communita scripto et testimonio illustrium uirorum. Eapropter studuimus scripti confirmatione et proborum uirorum testificatione ad posteros transferre. que sopita ornni de cetero querela pacifice cupimus in perpetuum possidere; S.195, Nr.153 (um 1196), Aussteller: Simon Graf von Saarbrücken, A: Quoniam generatio altera aduenit altera procerit. et lapsu temporis sepius labuntur plurima a mentibus mortalium. digna memorie sollempnibus apicibus exarare et scripto posterum innotescere industria plerumque consueuit nobilium; S. 215, Nr. 173 (1198), Die Grafen Heinrich und Robert von Nassau erlassen der Abtei Rommersdorf die Vogteiabgaben zu Weiß gegen eine Entschädigung von 18 Mark Silber, A: Cum homines de suis negociis tractatus inter se celebratos litterarum beneficio contra obliuionis interitum consueverint roborare ea. que deo promittuntur tanto magis expedit memorie commendari. quanta periculosius est si quod absit in irritum reuocentur. et uouentium uota suum non sequantur effectum; S. 224, Nr. 183 (1200), Elisa Gräfin zu Salm übergibt dem Kloster Niederprüm das Pastomat einer Kirche, A: Humane memorie imbecillitatem scripture subsidio fuleire cupientes. quod pia et honesta consideratione ordinauimus scripto commendare decreuimus; S.224, Nr. 184 (1200), Aussteller: Abt Stephan zu Clingenmünster, A: Sicut fructuosa discretione antiquissimi sapientium facta sua memorie digna ad cognitionem futurorum soliditate litterarum commendare studuerunt ita etiam modernorum gesta ne annorum uetustate vel personarum mutatione infringantur cautione scripturarum. annotatione testium perhennantur; S. 320, Nr.285 (um 1212), Abt und Konvent zu St. Eucharius bei Trier, A: Ne preteritorum memoria aliqua vel prauorum hominum uel uetustatis ualeat obscuritate conuelli. litterarum suffragio consulendum est. ut quod diutumitate turbari posse uidebatur. scripti auctoritate roboretur; UB Trier 3. S. 2, Nr.2 (1212), Der Kanoniker Johann zu St. Florin in Koblenz stiftet ein Stipendium zum Oratorium der Katarina, A: Quoniam rerum gestarum ordinem memorie adversatrix oblivio quasi superducto quodam caliginis amictu perturbare aut omnino extinguere consuevit, infirmitati humane divina dementia dignata est salutari remedio subvenire, quo in futurorum cognitionem transfundantur, que litterarum fuerint beneficio conservata. 266 UB Trier 2, z. B. Nr. 186 (1187-1200), und Nr.255 (1180-1209), wie Anm. 264. 5Iwanami

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11. Bischöfliche Urkunden

Unter Johanns Nachfolger, Theoderich H. (1213-1242), vennehrt sich die Anzahl der memoria-Wendungen entsprechend dem Zuwachs der gesamten Urkundenzahl. Von den während seiner Amtszeit ausgestellten Urkunden sind 206 erhalten. Eine Reihe von Urkunden mit dem Begriff memoria, die von den Kanzleihänden JA (= ThA)267, ThC 268 , ThD 269 , ThE 270 , ThG 271 , ThH 272 , ThJ 273geschrieben wurden, läßt vennuten, daß die memoria- Wendungen zu dieser Zeit schon fest in der erzbischöflichen Kanzlei etabliert waren. Auch unter Erzbischof Theoderich ging die Zahl der wohl von Empfängern verfaßten Urkunden nicht zurück 274 • Die Klöster Wadgassen 275 und Rommersdorf276 267 UB Trier 3, S. 8, Nr. 5 a (1213), A: Quia tempore labente memoria hominum labitur et que apresentibus certissime sciuntur procedente tempore a posteris frequenter ignorantur, necessaria est scriptura, cuius non facile perit memoria, que in futurum reservata, cum super re geste aliqua fuerit dubitatio exorta, parem vim obtinet cum testibus in dubie rei fide facienda. Vgl. UB Trier 2, S.302, Nr. 261 (1210), A: Quia labente temporememoria hominum labitur et que nunc apresentibus certissime sciuntur. tempore procedente a posteris ignorantur. necessaria est in rebus gerendis scriptura. cuius non facile perit memoria. et que in futurum reseruata. cum semper re gesta aliqua fuerit dubitatio exorta.; UB Trier 3, Nr. 15 (1213), A: Antiqua ac prudentum adinvenit industria virorum, ut ea, que in perpetua desiderantur haberi memoria, beneficio scripture ad presentium posterorumque noticiam transmittantur. 268 UB Trier 3, S.43, Nr. 39 (1215), A: ne lapsu temporis hec a memoriis hominum laberentur, presens scriptum dignum dux i renovari et sigilli mei munimine roborari. 269 UB Trier 3, S. 158, Nr. 183 (1222), A: Quoniam ea que fiunt in tempore, naturam solent sequi temporis et ab humana labi memoria, prudentum adinvenit industria virorum, ut ea, que in perpetua desiderantur haberi memoria, scripture testimonio perpetuentur; S. 311, Nr. 392 (1230), A: Quotiens ad utilitatem deo servientium quicquam salubriter ordinatur, ne lapsu temporis ab hominum labili memoria recedat, expedit ut perhenni litterarum testimonio commitatur. 270 UB Trier 3, S. 73, Nr. 72 (1217), A: Quoniam temporales actiones tempore recedente a memoria hominum facile recedunt, provide consultum est, ut memorie fragilitas perhenni litterarum testimonio confirmetur. 271 UB Trier 3, S. 113, Nr. 119 (1220), A: Quoniam oblivio inimica memorie solet sepius facta hominum per successionem temporis obfuscare, necessarium est ut ea, que pie a Christi fidelibus fiunt, scripture memori commendentur; S. 207, Nr. 251 (1225), A: Quocienscunque in ecc1esiis dei aliquid pium et honestum de consilio prudentum feliciter ordinatur, decet, ut scripture commendetur, ne oblivio inimica memorie iIIud possit per successionem temporis obfuscare; S. 209, Nr. 253 (1225), A: Quocienscunque aliquid pium Christi fideles in suarum remedium animarum ordinant in ecc1esiis, scripture memorie debet commendari, ne oblivio inimica memorie ea possit per successionem temporis obfuscare. 272 UB Trier 3, S. 236, Nr. 293 (1226), A: Que geruntur in tempore, ne temporis curriculo a memoria labantur, liUerarum apici memorie solent commendari. 273 UB Trier 3, S. 505, Nr. 666 (1239), A: Ea que geruntur in tempore, ne a memoria hominum labantur cum tempore, litterarum solent aminiculo perhennari. 274 Martin (wie Anm. 229), S. 14ff. Z. B. UB Trier 3, S. 30, Nr. 29 (1215), Aussteller: Erzbischof Theoderich von Trier, A: Notum igitur facimus universitati vestre, quod nos dirigentes mentis oculos ad corpus ecc1esie Trevirensis, quod dolentes dicimus; S. 230, Nr. 285 (1226), Aussteller: Theoderich Erzbischof von Trief, A: Cum ad emendationes ecc1esiarum pie fiunt donationes, necesse est ut scripture memori commendentur, ne oblivio inimica memorie per successionem temporis opera fidelium possit nequiter obfuscare.

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stellten zahlreiche Urkunden aus, die eigenartige memoria-Fonnulierungen enthalten. Die beiden Klöster scheinen eine eigene Diktattradition entwickelt zu haben. Bei Wadgassen findet man wiederholt memoria- Wendungen wie per diuturnitatem et revolutionem temporum a memoria labitur hominumlfacile a memoria hominum labitur und ex Salomone habemus, quod adfinem cuncta tendent, ideo in scripto curavimus redigere, que forte oblivioni traderentur, si in scripto non redigerentur. Im Kloster Rommersdorf waren nach der Untersuchung Martins drei Schreibkräfte tätig 277 • Eine von ihnen, die Empfangerhand B, schrieb vier Urkunden, wobei zwei Urkunden oblivio-Fonnulierungen aufweisen 278 • Urkunden für andere monastische 275 UB Trier 3, S. 28, Nr. 26 (1214), A: Facile per diutumitatem et revolutionem temporum a memoria labitur hominum, quod nec scripto nec subscriptione testium perennatur. Vgl. S.336, Nr.468 (1232), A: Per diumitatem et revolutionem temporum facile a memoria labitur hominum, quod nec scripto nec subscriptione testium perhennatur; S. 136, Nr. 152 (1220), A: Quia facile a memoria hominum labitur, quod nec scripto nec testibus perhennatur, dignum duximus memorie commendare facta nostra inconvulsa permanere; S. 222, Nr. 271 (s. d.), A: Quoniam facile a memoria hominum labitur, quod non scripto perhennatur, dignum duximus memorie commendare facta nostra; S. 148, Nr. 172 (1221), A: Vita brevis hominum, fallax est memoria, quare humana consuevit astutia actus suos tenacis scripture testimonio commendare; S.185, Nr. 223 (1224), A: Vita brevis hominum, fallax est memoria, unde humana consuevit astucia actus suos tenacis scripture testimonio commendare; S. 199, Nr. 239b (1224), Erzbischof Theoderich von Trier genehmigt eine Schenkung. A: Vita brevis hominum, fallax est memoria, unde humana consuevit astucia actus suos tenaci scripture testimonio commendare; S.153, Nr.178 (1221), A: Ex Salomone habemus, quod ad finem cuncta tendent, ideo in scripto curavimus redigere, que forte oblivioni traderentur, si in scripto non redigerentur. Preterea memorie posterorum in scripto mittimus; S. 198, Nr. 239 (1224), A: Ex Salomone habemus quam ad finem cuncta tendant, ideo in scripto curavimus redigere, que forte oblivioni traderentur, si in scripto non redigerentur. Preterea memorie presentium et posterorum in scripto ego ... 276 UB Trier 3, S. 307, Nr. 386 (1230/31), A: Contractus publicos ad utilitates ecclesiarum conceptos publica debent litterarum testimonia roborare, ne vel per lapsum memorie temporis delitescant processu, vel a posteris per calumpnias captiosas subverti valeant aut penitus infirmari; S.260, Nr. 324 (1227), A: Utile est ut ea que geruntur a mortalibus, ne oblivionis dispendio a memoria pereant futurorum, litterarum permanentium amminicul0 fultiantur; S. 381, Nr.488 (1233), A: Ne rerum gestarum series a presentium memoria et a notitia futurorum cum tempore dilabatur, utiliter provisum est, ut scripture possit amminicul0 perhennari. 277 Martin (wie Anm.229), S.19f. 278 UB Trier 3, S. 80, Nr. 81 (1218), A: Non solum utilis, sed et necessaria est autenticarum cautio scripturarum, que gestorum seriem et conservat fideliter et veraciter representat, iniquarum mentium dolos eliminans et oblivionis dispendium non admittens; S. 238, Nr.297 (1226), A: Non solum utilis sed et necessaria est autenticarum cautio scripturarum, que gestorum seriem et conservat fideliter et veraciter representat, iniquarum mentium dolos eliminans et oblivionis dispendium non admittens. Vgl. Nr. 349 (1228); vgl. S. 334, Nr.425 (1231/32), A: Non solum utilis sed et necessaria est autenticarum cautio scripturarum, que gestorum seriem fideliter conservat et veraciter representat, iniquarum mentium dolos eliminans et oblivionis dispendium non admittens. Vgl. S. 30, Nr.29 (1215), A: Notum igitur facimus universitati vestre, quod nos dirigentesmentis oculos ad corpus ecclesie Trevirensis, quod dolentes dicimus.

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11. Bischöfliche Urkunden

Empfänger lassen ebenfalls eine eigene Diktattradition der betreffenden Klöster vermuten 279. Eine Urkunde Theoderichs von unbekannter Hand betont die Nützlichkeit der schriftlichen Fixierung mit folgenden Worten: Universa namque negotia, que traduntur et voci testium et litterarum memorie,jirmiora solent permanere. A presentis vite curriculo demigrant homines et vivit littera et per eam vivunt diutius actiones. Die Schriftzeugnisse sollen die memoria über Generationen hinweg bewahren. Hier läßt sich erneut ein starkes Vertrauen auf die Schriftzeugnisse erkennen 280. Dieser Befund läßt sich auch anhand anderer Privaturkunden aus dieser Region bestätigen 281.

279 UB Trier 3, S. 28, Nr. 25 (1214), das Stift Kerpen verkauft die ihm abgelegenen Güter an die Abtei St. Maximin bei Trier, A: Quoniam memoria hominum labilis est et muIte circa eos versantur astucie, ea que legitime et racionabiliter egimus, presentis scripti patrocinio et subscriptorum virorum testimonio corroborare decrevimus; S.29, Nr.28 (1214), Aussteller: Das Stift Marienstift zu Wetzlar, A: Quoniarn diuturna revolutione temporum rerum ante gestarum mentibus hominum facHe subrepit oblivio, ideo dignum duximus rem dignam memoria scripti testimonio roborare. 280 UB Trier 3, S. 58, Nr. 56 (1216), A: Quod gerendum inspirat hominibus divina ratio, sic debet fieri ratum et stabile, quod non possit processu temporis improborum calumpnia revocari. Universa narnque negotia, que traduntur et voci testium et litterarum memorie, firmiora solent permanere. A presentis vite curriculo demigrant homines et vivit littera et per eam vivunt diutius actiones. 281 UB Trier 3, S. 92, Nr.94 (1218 oder 1219 vor Ostern), Aussteller: Heinrich Herzog von Limburg, A: Quoniam facilius ab humana memoria elabuntur, que nec scripto nec testibus firmantur; S. 111, Nr. 117 (1219), Heinrich Graf von Sayn und Mechtild seine Gemahlin schenken dem Kloster Sayn den Almosenzehnten zu Breitbach, A: ne molimina nostra successu temporis quoquo modo labefactentur et ita in oblivionem posteris veniant, declarandum et inprimendum cunctorum noticie et memorie tarn futuri quam presentis evi hominum scripto presenti utile censuimus; S. 185, Nr.223 (1224), Simon Graf von Dachsburg und seiner Gemahlin genehmigen lehensherrlich die Schenkung, A: Vita brevis hominum, fallax est memoria, unde humana consuevit astucia actus suos tenacis scripture testimonio commendare; S.226, Nr. 279 (1226), Schenkungen von Heinrich Graf von Sayn, Mechtild, seine Gemahlin und Ada, verwitweter Gräfin von Looz, A: Quoniarn ea que in tempore fiunt in tempore transeunt, ad succurendum labilitati memorie hominum commendanda sunt, que fiunt in presenti tempore et transmittanda ad posteros per scripti insertionem; S. 245, Nr. 306 (1227/28), Überweisung des Bartholomäus Abt zu Echternach von den Zehnten, A: Quociens aliquid in ecclesiis dei pie ac devote fuerit ordinatum, ne per oblivionem lapsu temporis inducendam a memoria in posterum forte subtrahetur, necesse est, ut scripto commendetur; S. 248, Nr. 310 (1227), Verkauf des Stifts zu Münstereifel an Ingebrand Archidiakon zu Trier und Propst zu Münstermaifeld, A: Cum labilis sit memoria hominum, ea que inter presentes aguntur, scripti patrocinio ad posteros transferuntur; S. 281 f., Nr. 350 (1228), Tausch von Richard dem Abt und dem Konvent von St. Martin zu Trier mit dem Kloster St. Irminen in Trier, A: Quoniam oblivionis incommodo humana plerumque laborat infir-

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Zusammenfassend läßt sich das folgende bemerken: Die urkundlichen Zeugnisse aus Trier sind durch variierende Formulierungen mit dem Begriff memoria gekennzeichnet. Die späte Vereinheitlichung der Kanzleitraditionen und die relativ geringe Anzahl der Kanzlei- im Vergleich zu den Empfängerausfertigungen spielten sicherlich eine Rolle, aber damit allein kann die auch in anderen Privaturkunden weit verbreitete Verwendung des Begriffs memoria in diesem Gebiet nicht erklärt werden. Die notwendige Begründung für die schriftliche Fixierung einerseits und die allgemein anerkannten Vorstellungen andererseits sollten zu diesem Diktatkomplex führen. Das hier präsentierte Bild unterscheidet sich von dem in anderen deutschen Bistümern gewonnenen durch die vielfaltigeren Diktate und durch die größere Verbreitung der Schriftlichkeit, die nicht nur angesichts der Urkundenzahl, sondern auch aufgrund der vielfaltigen und aussagekräftigen Äußerungen in den Arengen deutlich wird. Ob diese Charakteristik durch die geographische Lage bestimmt ist, soll im Folgenden anhand weiterer Schriftzeugnisse aus dem deutsch-romanischen Grenzgebiet geprüft werden.

mitas, que non sine periculo in posterum possent ignorari, litterarum memorie digne debent commendari; S. 298, Nr. 372 (1229), Verkauf einer Mühle von Abt P. und dem Konvent von Villers an das Kloster Irminen zu Trier, A: Quoniam omnes labimur et memoria nostra deficit sieut aqua que decurrit, necessarium est et religiosum, ut ea facimus, scripture testimonio roborare et perpetuare debeamus; S.299, Nr. 373 (1229), Aussteller: Die Grafen Friedrich von Leiningen und Simon von Dachsburg, A: Ea que in tempore geruntur tarn scripture, quam vive vocis testimonio ad maiorem certitudinem solent commendari, ne tractu temporis, cum labilis sit hominum memoria, in dubium possint revocari; S. 312, Nr. 393 (1230), Aussteller: Heinrich Graf von Sayn, A: Generatio preterit et generatio advenit, cunctorumque facta hominum a memoria dilabuntur temporum diuturnitate si scripto non redigantur; S. 383, Nr.491 (1233), Ingebrand Archidiakon zu Trier und Propst zu Münstermaifeld und das Kapitel daselbst beurkunden die Stiftung eines Beneficiums beim dortigen Stift durch den verstorbenen Kanoniker Albero und den Kleriker Konrad, A: Que geruntur in tempore, ne lapsum sequantur temporis, litterarum indieiis memorie debent commendari; S. 447, Nr.582 (1237/38), Aussteller: Truchseß zu Limburg a. d. Lahn, A: Ea que geruntur in tempore ne simul labantur cum tempore, poni solent in linguis testium et scripture memorie perempnari; S.487 , Nr.641 (1238), Carissima, die Witwe von Werner Vinnel, schenkt zu Stiftung ihrer Memoria einen Wingert bei Boppard den vier der Mutter Gottes geweihten Klöstern, A: Vt ea, que ab hominibus in tempore geruntur, processu temporis ab hominum memoria non labantur, sed ad agnitionem vel notitiam futurorum perducantur, necessarium est, ipsa que gesta sunt, scripti vivacis testimonio confirmari; S. 516, Nr. 678 (1240), Aussteller: Graf Gerlach von Veldenz, A: Quia labilis est memoria hominum et niehil est tarn indubitatem, quod processu temporis sollicitam non possit incurrere dubitationem, ne oblivioni novercari valeant, factis hominum memoria dignis digne credimus succurrendum.

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II. Bischöfliche Urkunden

b) Bischöfliche Urkunden 282 Die bischöflichen Urkunden aus Metz, Toul und Verdun bieten ein geeignetes Untersuchungsfeld für dieses Gebiet. In diesem Bereich kann man das Bestehen einer Art bischöflicher "Kanzlei" relativ früh im Vergleich zu den deutschen Bistümern konstatieren. Sie war unter einem Kanzler bis zu einem gewissen Grade organisiert und besaß für die Beurkundung zuständige Notare und eine eigene Tradition. Bei den weltlichen Herrschaftsträgern wie den Herzögen von Lothringen und den Grafen von Bar findet sich bis zum 13. Jahrhundert noch keine organisierte Beurkundungsstelle. Die Entwicklung der schriftlichen Verwaltung war hier also sehr unterschiedlich. Die Zahl der erhaltenen Originale ist regional sehr verschieden, so daß die von der Überlieferungslage abhängige genaue Bestimmung der Verfasserschaft zunächst nur unter Vorbehalt möglich ist. Man kann einer Gesamtbeurteilung dieses Gebiets näherkommen, indem man die Urkunden der Grafen von Bar und die klösterlichen Chartulare heranzieht 283 • (1) Metz

Das Bistum Metz bietet aufgrund der reichen Überlieferung eine günstige Ausgangslage für unsere Untersuchung 284 • Von der Regierungszeit Bischof Sigebauds (t742) bis zu der des Bertram (t1212) sind insgesamt 395 Urkunden erhalten 285 • Schon für das 10. Jahrhundert sind Kanzler in Metz nachweisbar. Sie selbst fertigten noch im 10. Jahrhundert Urkunden aus bzw. unter ihnen waren bereits Notare tätig 286 • Seit dem 11. Jahrhundert werden die Notare häufiger erwähnt und eine Aufgabenverteilung zwischen Kanzler und Notaren bei der Beurkundung tritt immer 282 Die vorliegende Analyse stützt sich auf meist ungedruckte Vorabeditionen. Frau Dr. Michelle Courtois in Nancy (ARTEM) bin ich für ihre freundliche Unterstützung zu besonderem Dank verpflichtet. 283 Actes des princes Lorrains, Iere Serie: Princes laiques, 11. Les Comtes A. Actes des Comtes de Bar, Volume I: De Sophie a Henri Ier 1033-1190, edites et presentes par Michel Parisse, Universite de Nancy II. 1972. 284 Von 1120 bis 1179: Actes des princes Lorrains, 2eme serie: Princes ecclesiastiques, I: Les eveques de Metz, B: Etienne de Bar 1120--1162 (unten abgekürzt Metz I), C: Thierri III, Ferri, Thierri IV 1163-1179 (unten abgekürzt Metz II), par Michel Parisse. Bedauerlicherweise fehlt eine Edition der Urkunden von Metz bis zum Jahre 1120 und nach 1180, die einen weitergehenden chronologischen Diktatvergleich mit den anderen Bistümern ermöglichen könnte. 285 Michel Parisse, Les chartes des eveques de Metz au XIIe siecle: Etude diplomatique et paleographique, in: Archiv für Diplomatik 22 (1976) S. 272-316. Hier S. 273. Diese Zahl ist mit den 386 bischöflichen Urkunden von Würzburg (von 995 bis 1223) vergleichbar. Johanek (wie Anm. 177), S. 5 f. : "Insgesamt sind also 386 bischöfliche Beurkundungen direkt überliefert, wozu als auszuwertendes Material noch 26 erhaltene Doppelausfertigungen kommen." Die vorliegende Untersuchung berücksichtigt nur die zwischen 1120 und 1179 ausgestellten Urkunden. Sie beruht auf der obengenannten Vorabedition von Michel Parisse. 286 Parisse, ebd., S. 275 .

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deutlicher hervor 287 • Im 12. Jahrhundert sind sechs Kanzler, Amauri, Dietrich, Fulco, Anse1m, Simon und Wilhelm, erwähnt. Doch scheint es noch keine Kanzlei als feste Organisation bis ins letzte Viertel des 12. Jahrhunderts gegeben zu haben 288 • Nach der politisch unsicheren Zeit unter Bischof Albero (1103-1120) versuchte sein Nachfolger Stefan (1120-1162) alte Rechte und Besitzungen seines Bistums wiederherzustellen 289 • Stefan war ein Sohn des Grafen Dietrich I. von Mömpelgard, Bar, Verdun und Mousson (1093-1104). Seine Mutter Irmtrand war eine Tochter des Grafen von Burgund, Wilhelms 11. Ihr Bruder Guido war Erzbischof von Vienne, der spätere Papst Kalixt 11. (1119-1124). Stefan hatte außer zwei Schwestern fünf Brüder, Ludwig I1I., Graf von Mousson, Dietrich 11. von Mömpelgard, Rainald von Bar, Friedrich von Pflirt sowie Amance und Wilhelm von Bar. Stefan hatte wahrscheinlich bei seinem Oheim Guido in Vienne seine Ausbildung erhalten. In der langen Regierungszeit Bischof Stefans (1120-1162), unter welchem das Bistum Metz eine politische Konsolidierung erfuhr, zeigt die schriftliche Verwaltung eine ganz eigene Entwicklung. Unter Stefan waren Amauri (1121-1130), Dietrich (1137-1144) und Fulco (1150-1161) als Kanzler und zwischen 1128 und 1144 ein gewisser Liebaud als Notar tätig 290 • 21 von 38 erhaltenen Urkunden sind von Liebaud selbst oder unter seiner Leitung ausgestellt worden 291 • Doch taucht hier nirgendwo eine memoria-Wendung auf. Der Notar Liebaud verwendete gelegentlich Formulare für die Arenga 292 • Die Urkunden aus dieser Zeit, in denen memoria vorkommt, sind wohl nicht vom Notar Liebaud, sondern von anderen Personen oder gar von den Empfängern verfaßt worden 293 • Während der Regierungszeit Bischof Stefans findet man in den bischöflichen Urkunden von Metz eine Reihe variierter memoria-Ausdrücke 294 • Sie scheinen noch Parisse, ebd., S. 275. Parisse, ebd., S. 280. 289 Fritz Ruperti, Bischof Stephan von Metz (1120-1162), in: Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde 22 (1910), S.I-96. 290 Parisse (wie Anm.285), S.278ff. 291 Ebd., S. 296f. 292 Ebd., S. 288. 293 Wegen fehlender paläographischer Untersuchungen muß auf die genaue Bestimmung der Verfasserschaft hier verzichtet werden. 294 Metz I, S. 121, Nr.52 (1137-1140), Abschrift vom 17. und 18.Ih., C: Ne autem temporum labente curriculo oblivione interveniente a posteris nostris ignoretur, scripto eam memoriae tradimus scripturn qua authoritate pontificali corroboramus; S.134, Nr. 58 (1142), Abschrift vom 18. Jh., A: In omni compositione rerum maxime ad familiam Christi pertinentium utiUs et necessaria est litterarum interpositio ne pax que sapientium consilio statuitur, in processu temporis qualibet insiprentium subreptione violetur; S. 156f., Nr.68 (1147), Or., A: ... omnibus ad quos presens et pagina pervenerit, salutem et rei geste tenere rnernoriarn. C: ... et nostra ecclesie nostre memoria in benedictione perseveret in etemum; S. 159f., Nr.70 (1149), Abschrift vom 18. Ih., C: Hoc itaque presentiurn et futurorurnque rnernorie cornrnendantes et nostre auctoritatis munimine confirmantes statuirnus ne quis aliquando ternerario ausu presumat immutare et statuta maligne destruere; S.166, Nr. 74 (1150), Or., Bestätigung 287

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11. Bischöfliche Urkunden

nicht zu einer festen Wendung geworden zu sein. Wörtliche Übereinstimmung kommt selten vor, so daß keine Urkundenformulare feststellbar sind. Jedoch begegnet uns wiederholt die gleiche Thematik, z. B. eine negative Einstellung zur menschlichen memoria, die in der Zukunft zu verschwinden droht2 95 • Die Doppelform oblivio et negligentia, welche uns an die Mainzer Urkunden erinnert, taucht auch hier wieder auf296 • In den bischöflichen Urkunden von Metz begegnet die memoria-Wendung memorie commendare sowohl in der Arenga 297 als auch in der Corroborati0 298 , ebenso wie in den anderen urkundlichen Schriftzeugnissen aus diesem Gebiet. Die oben behandelten Urkunden der deutschen Bistümer zeigten bereits Beispiele, in denen die memoria-Formulierung nicht in der Arenga, sondern in der Corroboratio vorkommt. Dort wird sie meistens als eine feste Formel verwendet. Auffällig bei den Metzer Urkunden ist hingegen die erzählende, literarische Corroboratio, die beispielweise Entlehnungen aus den Psalmen oder Gebeten enthält299 • Dabei ist der Einfluß der päpstlichen Bullen zu beachten 3°O. Nach dem Ausscheiden des Notars Liebaud aus der bischöflichen Beurkundungsstelle im Jahre 1144 fehlt eine einheitliche "Kanzleitradition" sowohl bei der Schrift als auch im Diktat. Sie scheint zwischenzeitlich unterbrochen gewesen zu sein 301. Unter den Bischöfen Dietrich 111. (1163-1171) und Ferri (1171-1173) fehlt eine der Schenkung, ... memorie in perpetuum commendare dignum duximus ... ; S. 231, Nr. 105 (1161), Or., ... causas eorum terminare, terminatas memorie posterorum scripto commendare curavi, ne cum occasu temporum cadat memoria rerum gestarum; S.242, Nr. 108 (1158-1161), Or., A: Noverit prudentia vestra quam inestimale incommodum foret omnibus ecc1esiis, si donationes quas sancte anime eisdem ecc1esiis in elemosinam contulerunt, successione temporum a memoria elaberentur; S. 257, Nr. 118 (1160-1162), Abschrift vom 12.Jh., Ausgleich der Streitfrage zwischen dem Kloster Gorze und Gorbert von Apremont, A: nostrum est litterarum tradere monimentis et tarn posterorum quam presentium cognitioni transmittere(=A. d'Herbomez, Cartulaire de l'abbaye de Gorze, Paris 1898, Nr. 186, S. 319f.); S. 260, Nr. 119 (1160-1162), Abschrift vom 13.Jh., C: ut si quid forte oblivione noxia exciderit, a memoria rejunctis partibus cognitaque rei geste veritate de cetero sopiantur jurgia. 295 S. 198, Nr.89 (1158), Or., C: Et ut istius nostre donationis auctoritas stabilis sit et inviolata et ne intervallo futuri temporis per humanum defectum a memoria futurorum possit recedere, istius pagine presentis scripturn sigilli nostri impressione confirmamus et corroboramus et istius nostre donationis violatores, nisi ad emendationem venerint, perpetuo anathemate dampnamus. 296 S. 223, Nr. 101 (1159), Or., A: Quoniam consuetudinarium et ab antecessorum nostrorum ducturn industria, ut ea que memorie commendanda videntur litterarum tradantur custodi, dignum duximus ea que subinferuntur, legitime nostris temporibus acta in hujus carte sinu fideliter recondere, ne aut oblivione et negligentia dispereant aut aliquorum avaricia vel malieia fraudentur seu immutentur. 297 Nr. 74(1150), Nr. 101 (1159). 298 Nr. 70 (1149). 299 Parisse (wie Anm. 285), S. 290f. 300 Parisse, ebd., S. 289f. 301 Parisse, ebd., S. 300.

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Zeitlang der Name des Kanzlers in den Urkunden. Erst ab 1172 wird mit Anse1m, der früher Scholaster des Domkapitels in Metz gewesen war, wieder ein Kanzler in den Urkunden genannt 302 . Während der Pontifikate Dietrichs III., Ferris und Dietrichs IV. (1173-1179) begegnen weiterhin variierte memoria-Wendungen 303 • Feste Fonneln wie memorie commendare finden sich gelegentlich in der Corroborati0 304 • Der folgende Kanzler Simon war früher Kanoniker des Domkapitels und Dekan von St. Lambert in Lüttich. Er wird zwischen 1176 und 1190 als Kanzler genanne 05 . Metz stand in einer engen Beziehung zu Lüttich, weil der Bischof von Metz der weltliche Herrscher der Klöster Waulsort und St. Trond im Bistum Lüttich war. Lüttich bildete eine eigene Schriftprovinz, deren Einfluß auch auf die Buchstabenformen in Metz zwischen 1157 und 1173 feststellbar ist 306 . Unter Bischof Bertram (1180-1193)307 kann man wieder von einer regelmäßigen Beurkundung durch die bischöfliche "Kanzlei" sprechen. Aus seinen 13 Pontifikatsjahren sind 66 Urkunden überliefert 308 • Der Stil wurde wieder einheitlicher unter Notar Wilhelm von Saint-Martin, der in der Untersuchung von Peter Acht als Notar mit der Sigle MA gekennzeichnet ist 309 • Für diese Zeit liegt keine Edition der Urkunden vor, so daß eine systematische Diktatanalyse hier nicht zu leisten ist. Doch kann man zumindest den monastischen Chartularen, z. B. demjenigen aus St. Mihiel, einige Hinweise entnehmen. Notar Wilhelm hinterließ mindestens ein Beispiel Parisse, ebd., S. 301. Metz 11, S. 24, Nr.1O (1168), Abschrift vom 18. Jh., A: Quae rata et inconvulsa postmodum cupimus permanere, plerumque litterarum tradimus monumentis. Quarum beneficio et presentium excitatur memoria et rerum pridem gestarum plena posteris noticia continetur, dignum itaque duximus presenti scripto braeviter commendare; S. 62, Nr. 33 (1163-1171) Or., A: Quoniam institutiones hominum plerumque vel errore eorumdem vel oblivione interveniente penitus vel a memoria delentur vel ad nichilum rediguntur; S. 88, Nr.48 (1174), Or., C: Sed quia gestorum memoria plerumque prolixa temporum successione deletur, nisi fuerit litterarum consolidata suffragiis facta, hujus tenorem scripti presentis attestatione et sigilli nostri impressione confirmo(= A. d' Herbomez, Cartulaire de l'abbaye de Gorze, Paris 1898, Nr.207, S.349f.); S.101, Nr.55 (1176-1179), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam rata debent esse que ad honorem Dei fiunt et utilitatem ecclesie, litterarum committuntur memorie ne videlicet obliterentur aliqua oblivione aut immuttentur malorum cupida improbitate(= Cartulaire de l'abbaye de Gorze, Nr.206, S. 347f.). 304 S.47, Nr. 23 (1165-1171), Abschrift vom 15.Jh., ... tarn presentium quam futurorum memorie scripto nostro commendare curavimus; S.80, Nr.42 (1173), Or., C: et hoc presenti scripto perpetuo posterorum memorie commendantes ... 305 Parisse (wie Anm. 285), S. 301. 306 Jacques Stiennon, L'ecriture diplomatique dans le diocese de Liege du XI< au milieu du XIIr siecle. Paris 1960; Parisse (wie Anm. 285), S. 282. 307 Günther Voigt, Bischof Bertram von Metz, in: Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde 5 (1893), S. 1-91. 308 Parisse (wie Anm. 285), S. 301. 309 Über diese Persönlichkeit siehe Peter Acht, Cancellaria in Metz. Eine Kanzlei- und Schreibschule um die Wende des 12. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1940. Hier S. 23 ff. 302

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für die Verwendung des Begriffs memoria in einer bischöflichen Urkunde von Metz 3lO • Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die memoria- Wendung in dieser Region verbreitet war. Dabei ist es von Bedeutung, einen kurzen Blick auf den monastischen Bereich zu werfen. Zum Bistum Metz gehörten zwei besonders wichtige Klöster: Das eine ist Gorze, das reichste und bedeutendste Kloster in der Metzer Diözese, das andere ist St. Trond bei Lüttich, das zum Temporalbesitz der Bischöfe von Metz bis 1222 gehörte und daher in einer engen Verbindung zu Metz stand. Für Gorze sind insgesammt 22 bischöfliche Urkunden (davon 13 Originale) zwischen 1120 und 1179 erhalten. Man findet einige variierte memoria- Wendungen in den Urkunden für Gorze 311 • Sich wiederholende Formulierungen wie litterarum monumenta kommen sonst nicht in den bischöflichen Urkunden von Metz vor. Daraus darf man schließen, daß die betreffenden Urkunden Empfangerausfertigungen dieses Klosters waren 312 • Im Fall von St. Trond finden sich gelegentlich memoria- Wendungen, doch auch hier nur sporadisch. Im Chartular von St. Trond wird memoria im Sinne des Totengedenkens 313 neben schriftbezogenen memoria-Wendungen gebraucht 314 , die gelegentlich in der Corroboratio als Formel vorkommen 315 • 310 Chronique et chartes de l'abbaye de Saint-Mihiel, par Andre Lesort, Paris 1909-1912. Unten abgekürzt, St-Mihiel. S.407ff., Nr.139 (1197), Or., A: Quoniam memoriam hominum labilem esse cognoscimus et processu temporis mutationeque personarum que fideliter acta sunt oblivione depereunt, ea que circa vos pietatis intuitu et orationum vestrarum gratia peregimus, non indiscretae memoriali scripto studuimus commendare .... Datum Mettis, per manum Willelmi cancellarii nostri. 311 Metz H, Nr. 33 (1163-1171), Nr.48 (1174), Nr.55 (1176-1179), (wie Anm. 303). 312 Metz H, Nr. 186. Vgl. Metz I, Nr. 118 (1160-1162); Cartulaire de I'abbaye de Gorze, Nr. 189. Vgl. Metz H, S. 30, Nr.13 (1163-1168), Or., A: Ex humane fragilitatis defectu certurn est evenire ut plerumque ea que sub tempore fiunt cum ipso temporis occasu pretereant et a noticia recedant, nisi litterarum tradita fuerint monumentis; Metz H, S. 83, Nr. 47 (11 71-11 73), Or., A: Quoniam antiquitatis defectu aut humane fragilitatis incuria que rata esse videbantur oblivionis vitio sepe abolentur, iccirco que dicta vel gesta humanis usibus pro futura noscuntur, litterarum monimentis posteritatis transmittuntur. 313 Cartulaire de l'abbaye de Saint-Trond. publie par eh. Piot, Tom I Bruxelles 1870. Nr. 15 (um 1060), Albero III., Bischof von Metz. bestätigt die Schenkung seines Vorgängers, Dietrich, zugunsten der Abtei Saint-Trond, ... Hoc autem ad remedium anime sue et aliorum antecessorum suorum fecit, quatinus memoria illorum ibidem non sicut ante, sed perfectius et stabilius permaneret; Nr.43 (um 1140), ... Hoc autem ad remedium anime sue et aliorum antecessorum suorum fecit, quatenus memoria illorum ibidem, non sicut ante, sed perfectius et stabilius permaneret; Nr. 50 (1145-1155), ... memoria ejus in anniversario suo in perpetuum apud nos habeatur; Nr.59 (um 1151), A: Oblationes que sunt redemptiones animarum, cum ecclesia Dei suscipit rectores ejusdem Dei ecclesie ... (Lücken) tenore debent disponere, ut et tradentia memoria in etemum habeatur, et que ... (Lücken) justa et rationali dispensatione in posterum prospiciatur. 314 Nr.23 (um 1108), Eintrittserklärung eines Freien ins Kloster, ... Que omnia ne olim alicujus in justicievi premamur, in presentibus scriptis memorie et testimonio fidelium sic et sie

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Man begegnet sowohl in den bischöflichen als auch in den monastischen Urkunden aus diesem Bereich einer Reihe von memoria- Variationen, welche durchaus ähnliche Gedankengänge veranschaulichen können. Eine geläufige Formel ist hierbei nicht festzustellen. Jedoch taucht die schriftlich gesicherte oder zu sichernde memoria immer wieder auf. Die zur Analyse herangezogenen Quellen weisen trotz des begrenzten Untersuchungzeitraums darauf hin, daß im 12. Jahrhundert in diesem Gebiet variierende Formulierungen allgemein verbreitet waren. Der Begriff tritt hier schon ab den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts, also etwas früher als in den deutschen Bistümern auf. Woher man den ersten Anstoß erhalten hatte, läßt sich nicht genau bestimmen.

(2) Verdun 316 In Verdun war ein Kanzler (cancellarius) schon zu Anfang des 10. Jahrhunderts für die Beurkundung zuständig 317 • Doch stellte der Bischof gelegentlich selbst Urinsinuavi; Nr.27 (um 1111), Übergabe eines Unfreien an das Kloster Saint-Trond, A: Quum omnia orta occidunt, et aucta senescunt, et quum multitudinis viventium multa est cogitatio in vario autem casu, multifariam variatur animus, turn vero quidem malignantium infinitus est numerus, ne quid eorum que jam diffinita sunt vetustatis senio possit veterascere, ne quod semel sanccivit ... (Lücke) alias temptet immutare, neu quod provido consilio stabilivit et peregit maliciosorum imperiorum ... (Lücke) netur diruere sapientie consilium est digna rerum negotia commendare invasi ... (Lücke) memorie ad memoriam referenda immortalibus monimentis confirmare; Nr.45 (um 1140), Schenkung, ... Que diebus prelationis nostre ecclesie nobis commisse fidelium traditione vel oblatione collata sunt, et que ipsis fidelibus ad nos venientibus, cum consilio fratrum nostrorum concessimus ne forte in oblivionem veniant scripto firmantes posteris memorie tradimus, quatenus rata et inconvulsa permaneant, nec aliquando aliquis hec contradicere vel infringere audeat. Nr.49 (um 1144), ... aliqua pro utilitate ecclesie a predecessore nostro bone memorie, domino Rudulfo, abbate, inchoata et diebus nostris necessaria dispensatione terminata, tenaci memorie scripto mandare curavi, ut res que presentibus bene est cognita, per exhibitionem presentium posteris fiat manifesta; Nr.51 (um 1146), ... Quorum larga donatio, ut rata inconvulsa perseveret, nec processu temporis oblivionem accipiat vel transitu, vel adventu generationum obsolescat, viventi scripto nostri testamenti immortali memorie posteritati inserentes relinquimus; Nr. 53 (um 1146), ... Donationes seu concessiones eorum in defensionem et protectionem nostram suscipimus, et veventi scripto testamenti nostri renovari et immortali memorie tradi decemimus ... quam determinationem presenti scripto firmamus et memorie sub hoc testamenti privilegio tradimus. 315 Nr. 58 (um 1150), C: ... ne quis hec mutare aut ab ecclesia alienare audeat, sed rata et inconvulsa in eorum memoria perpetuo permaneant; Nr. 59 (um 1151), C: Hec ut inconvulsa, firma stabilitate permaneant, presenti scripto memorie fidelium tradidimus. 316 Im Bereich von Verdun werden die bischöflichen und Urkunden von St. Vanne vergleichend untersucht. Actes des Princes Lorrains, 2eme serie: Princes ecclesiastiques, 111: Les eveques de Verdun, A - Des Origines 11 1107, M. Jean-Pol Evrard, Nancy 1977, abgekürzt als Evrard I. Hermann Bloch, Die älteren Urkunden des Klosters S. Vanne zu Verdun, in: Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde 10 (1898), S. 338-449 und 14 (1902), S.48-150, abgekürzt als Bloch. 317 Evrard I, S. 30, Nr. 12 (918/919), Abschrift vom 12. Jh., Ego Audinus archidiaconus et cancellarius infra domum prefati ac venerandi presulis scripsit(sic!); S. 36, Nr. 14 (940), Ab-

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kunden aus 318 • Die Amtsbezeichnung archicancellarius ist zeitweilig benutzt worden und die ihm unterstellten Personen scheinen das praktische Beurkundungsgeschäft übernommen zu haben 3I9 . Diese Personen sind lange Zeit nicht als Notare genannt worden. Erst im Jahre 1123 wird ein Schreiber erwähnt 320 • Es läßt sich schwer feststellen, ob der Kanzler selbst Urkunden verfaßte oder nur rekognoszierte 321 • Auf jeden Fall gab es keine feste Institution, und die Kanzlei scheint je nach Gelegenheit organisiert worden zu sein 322 • In Verdun taucht eine Bestätigungsurkunde über ein Tauschgeschäft am Anfang des 11. Jahrhunderts auf, in der die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses und die Notwendigkeit der schriftlichen Aufzeichnung zum Ausdruck gebracht wird 323 • Dieses Tauschgeschäft wurde nochmals von Abt Richard von St. Vanne bestätigt. In dieser Bestätigungsurkunde findet sich auch oblivio neben humana memoria 324 • Eine Betonung der Schriftlichkeit ist in den Urkunden von Verdun wiederholt festzustellen. In den Schenkungsurkunden bzw. späteren Bestätigungen kommt memoschrift vom 11./12. Jh., Ego Sarowardus presbiter et cancellarius scripsi et subscripsi; S.50, Nr.21 (959), Abschrift vom 12. Jh., Eriwo1dus cancellarius scripsit et subscripsit. 318 S.42, Nr. 15bis (952), Abschrift vom 15./16. Jh., Ego Berengarius presul indignus subscripsi; S.53, Nr.22 (962-966), Abschrift vom 1I./l2.Jh., Ego Wilkfridus presul indignus subscripsi. 3\9 S. 55, Nr. 23 (967), Abschrift vom 12.Jh., Ego Rainerus ad vicem Bemeri archicancellarii recognovi. Vgl. Nr.24 (967), Nr.25 (um 968); S. 84, Nr. 36 (995), Abschrift vom 11./12. Jh., (nach dem Signum archicancellarius Ansfridus), Signum Amulli, qui hanc lieri suasit cartam et propria firmavit manu; S. 165, Nr. 80 (1098), Or., Ego FoIchardus sub vice domni Geroldi cancellarii recognovi. 320 Actes des Princes Lorrains, 2eme serie: Princes ecclesiastiques, 111: Les eveques de Verdun, A-Des 1107 a 1156, ed.Jean-Pol Evrard, Nancy 1982 (Abgekürzt Evrard 11.). S.16, Nr.6 (1123), Actum Virduni et datam per manum Martini, cancelarii, cum signo Richardi, scriptoris hujus cartae. 32\ Evrard I, S. 119, Nr. 57 (1051), Abschrift vom 12.Jh., Harmundus tunc temporis cancellarius manu sua scripsit et corroboravit; vgl. Nr.60 (1055); S.130, Nr.63 (1060), Ego Richerus cancellarius recognovi. vgl. Nr.65 (1064); S. 153, Nr.76 (1076-1089), Abschrift vom 13. Jh., Ego Richerus cancellarius subscripsi; S.160, Nr. 78 (1094), Abschrift vom 12.Jh, Datam et ministratam per manus Acelini cancellarii; Evrard 11, Nr.8: 1124, Tradita per manum Martini, cancellarii; Nr.15 (1127), Ego Herbertus, cancellarius, signavi et tradidi. Vgl.18 (1127-1129). In diesem Zusammenhang, Parisse, Les chartes des eveques de Metz au Xlle siecle (wie Anm. 285), S. 279. 322 Z. B. konnte die Urkunde bei gelegentlich tätigen Notaren geschrieben werden. Evrard 11, S. 24, Nr. 10 (1126), Ego Hezelinus, monachus sancti Wittoni, hanc scripsi, XI kalendas novembris et subscripsi. Ego Martinus, cancellarius, recognovi; Nr.28 (1135), Ego Hesselinus, cantor ecclesiae beati Vitoni, rogatu Joannis capellani, scripsi et subscripsi. 323 Evrard I, S. 88, Nr. 39 (um 1020), Kopial, A: Quoniam ergo ab humana memoria multa labuntur posterique nesciunt que anteriori tempore fiunt, nisi cartis et scriptis ad memoriam revocentur. Die gleiche Urkunde befindet sich in Bloch, Nr.28. 324 Bloch, S. 430, Nr. 29 (um 1020), Aussteller: Abt Richard, A: Quam plurima libris et cartis inferuntur, ne ab humana memoria penitus per oblivionem elabantur, quoniam "generatio preterit et advenit", quod et nos et nostra debemus morti.

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ria vor 325 • Die verwendeten Formulierungen sind so unterschiedlich 326 , daß man keine festen Formulare annehmen darf.

Interessant ist hierbei die Wendung per succedentia tempora 327 • Diese Formulierung kommt in Verdun früher als sonst innerhalb dieses Gebiets vor 328 • Der memoria-Begriff tritt manchmal zusammen mit dem tempus-Gedanken auf329 • Die menschliche memoria sei durch das vergängliche Wesen des Menschen bedingt, welches wiederum durch den Ablauf der Zeit wie durch den Generationenwechsel bestimmt sei 330. Die memoria gegen das Vergessen zu bewahren, ist eine wesentliche Motivation zur schriftlichen Sicherung. 32S Evrard I, Nr.67 (1068-69), Abschirift vom 12.Jh., A: ... quod, ne irritum fieret, ad memoriam posterorum testamento transmittere procuravi (= St-Mihie1, S. 138, Nr.38). Vgl. Nr.68 (1078); S.159f., Nr. 78 (1094), Abschrift vom 12.Jh., C: Ut igitur mea concessio, renovatio et confirmatio stabilis, firma et inconvulsa permaneat, et omnium successorum meorum posteritati et memoriae pateat et placeat, tarn totius ecclesiae anathema quam auctoritatis meae signum sic confirmat et sub testimonio subnominatorum corrobat( = St-Mihiel, S. 187 ff., Nr.53). 326 Evrard 11, S. 78, Nr.35 (1143), Abschrift vom 13. Jh., A: Sicut res propter vetustatem a nostra memoria remote monimentis veterum scripto renovantur, sic etiamque nostris temporibus aguntur memorabilia notitie posterorum delegare par est juxta illud prophete filii qui nascentur et exurgent, enarrabunt filiis suis; S. 89, Nr.41 (1144), Kopial, A: Et ne aliqua temporum prolixitate in oblivionem veniant, ad memoriam posterorum scripto transmisimus; S. 98, Nr.44 (1145), Or., A: ... sic et que nostris temporibus memorie eommendanda geruntur, ne per successus temporum in oblivionem veniant, ad noticiam futurorum seripto nos transmittere deeet; S. 115, Nr.53 (1151), Abschrift vom 13. Jh., A: Quoniarn quo tempore mutabilitatis hujus aguntur a memoria viventium nunquam delet oblivio per neeessarium judicamus, ut ea que ob substentationem fidelium sanctis attribuuntur locis, ad futurorum notitiam deferat eerta deseriptio. 327 Evrard I, S. 52 f., Nr.22 (962-966), Abschrift vom 11./12. Jh., C: Ut autem hec nostre auctoritatis traditio firmiorem vigorem obtineat et per sueeedentia tempora inviolabiliter permaneat, omnium nostrorum fidelium manibus presentialiter corroborari decrevimus. Ego Wifridus presul indignus subscripsi. (= Bloch, Nr. 15); S.55, Nr. 23 (967), Abschrift vom 12. Jh., C: Et ut hoc remissionis scripturn per sueeedentia tempora permaneret stabile et inconvulsum, manu propria illud firmavimus manibusque nostrorum fidelium clericorum scilicet et laicorum roborandum esse decrevimus, stipulatione subnixa(= St-Mihiel, S. 123 ff., Nr. 28). 328 Vgl. Metz I, Or., Nr. 79 (1152), C: Interdicimus itaque Dei auctoritate beatique Stephani prothomartyris et nostra, ut nullus hominum in quolibet ordine constitutus hane antiquam stabi(litatem) et nostre renovationis eonstitutionem audeat infringere, sed fixa et ineonvulsa permaneat omni deinceps tempore. Ne autem per suecedentia tempora hec antiqua constit(utio) et nostra justa renovatio tradatur oblivioni, presentis pagine seripto fieri precepimus, et tarn nostra Metensis ecclesia quam nos sigilli nostri impressione roboravimus; die Wendung per succedentia tempora taucht auch in Le Mans und auch in dem Chartular von St. Bertin in St.Omer auf. 329 Evrard I, Nr. 39 (um 1020), Evrard 11, Nr.41 (1144), Nr. 53 (1151), wie Anm. 326. Vgl. Metz 11, Nr.7 (1165). 330 Bloch, Nr. 29 (wie Anm. 324); Evrard 11, Nr. 44 (1145), wie Anm. 326; S. 135, Nr. 62 (1156), Abschrift vom 13. Jh., A: Quoniam temporum evoJutio, res pia intentione faetas a memoria hominum non nunquam exterminat, justurn ac necessarium eredimus ut ea, que

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(3) Toul In Toul findet man sehr wenige Beispiele für memoria- Wendungen. Doch ist es nicht ohne Bedeutung, einen Blick auf sie zu werfen. Man kann zusammenfassend Folgendes feststellen: 1) Der in rhetorischen Texten gebrauchte thesaurus memoriae taucht zuerst in einer Urkunde von Toul aus dem 11. Jahrhundert auf33J • Diese Stelle ist eines der seltenen Beispiele dafür, daß der rhetorische memoria-Aspekt direkt in den Urkunden seinen Ausdruck findet. Danach taucht er erst wieder mehr als ein Jahrhundert später auf332 , und zwar in einer Urkunde von St. Benoit-sur-Loire 333 • 2) Zwei Urkunden aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts weisen unterschiedliche memoria- Wendungen in der Corroboratio auf334 • Es stellt sich die Frage, ob diese auffiillige Wendung mit dem Empfänger zusammenhängt. Beide Urkunden beziehen sich auf Saint-Mansuy und lassen eine Empfängerausfertigung vermuten 335 • Doch kann man wohl nicht sagen, daß diese Wendung damals im Skriptorium von Saint-Mansuy geläufig war, denn 26 der für Saint-Mansuy bis zum Jahre 1124 von den Bischöfen ausgestellten Urkunden sind erhalten, und nur in zwei von ihnen kommt der Begriff memoria vor. Man sollte die Formulierungen daher als spontane Verwendungen seitens der einzelnen Verfasser betrachten. memorabilia sunt, ad posterorum notitiam certa descriptio deducat; S.148, Nr. 67 (1147-1156), Abschrift der ersten Hälfte des 17. Jhs., A: perpetuo concessimus, et ne aliqua temporum evolutio ne oblivioni traderetur, testes idoneos subscribentes ascripto firmavimus. 331 Andre Schoellen, Les actes des eveques de Toul, des origines a 1069, Nancy 1985. Unten abgekürzt, Toul I, Nr.44 (1036), S.152f., C: Et quia thesaurus rerum omnium memoria est, ne posteri nostri ullo perturbationis errore prepediantur, set conventio ista sine velamine fuci illis aperta reveletur, hec testamenta in alterutram partem cyrographo notare fecimus, ut in comprobatione veri testimonii sit tenentibus et tollere volentibus idoneus defensionis locus .... Ego Dezilinus cancellarius, indignus levita domus Sancti Stephani, scripsi et publice relegi. 332 St-Mihiel, Nr.113 (1178) Schenkung bei Peter von Brixey, Bischof von Tou!. A: Certum est et veritatis subjacet argumento quod nonnulla a predecessorum nostrorum discreta ratione facta sunt et statuta, que, si pagine, que custos est memorie, tradita fuissent, adhuc oculis cognicionis subjacerent, verum quoniam nec thesauris memorie reposita nec scriptis tradita fuerunt, oblivionis extincta cecitate, sub silentio utpote incognita transsierunt. Ne igitur ... Data per manum Terrici cancellarii, anno .... 333 M. ProulA. Vidier, Recueil des chartes de I 'abbaye de S. Benoit-sur-Loire, Paris - Orleans 1900. 2vols. Nr.l77 (um 1161), A: Lapsus primi parentis humane conditionitam miseram sortern intulit ut visa et audita vix ratione percipiat et percepta thesauro memorie diu nullatenus conservare valeat, unde et adhuc processu temporis memoria rerum gestarum annullatur et prorsus evanescit; ad sublevandum hoc miserie nostre pondus factus est usus scripturarum. 334 Actes de Pibon et de Ricuin eveques de Toul de 1069 a 1124, par Lysian Douche, Nancy 1985. Unten abgekürzt, Toul 11, Nr.29 (1094), S. 152, Bischof Pibon C: ... ut decursione temporum ab humana memoria nihil horum possit excidere vel augeri; Nr. 32 (1097), S. 162, BischofPibon C: Ut autem haec nulla possit innovare(m) memoria, huic scripto mandavimus ut omnium oblatrantium nostra auctoritate temeraria obtundatur improbitas, propriae imaginis impressione signamus. 335 Ebd., S. 51 f.

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c) Laienurkunden Die Grafen von Bar Seit der ersten Gräfin von Bar, Sophie, fand der Begriff memoria wiederholt Verwendung in den Urkunden der Grafen von Bar 336 • Hier begegnet man neben der einfachen Übernahme aus den Vorlagen auch variierten Ausdrücken 337 • Die Verfasserschaft ist nicht zu bestimmen. Ein gleichzeitiges Auftauchen von memoria- Verwendung und Nennung des Burggrafen Gerhard von Bar (1135-1163) als Zeuge ist jedoch zu beachten 338 • Eine wörtliche Wiederholung läßt sich zwar dabei nicht feststellen, aber ähnliche Ausdrücke in den Urkunden treffen häufig mit seiner nachweislichen Anwesenheit zusammen 339 • Hat er sie vielleicht selber verfaßt oder hat sich sein Gefolge daran beteiligt? Die genauere Verfasserschaft ist zwar nicht zu bestimmen, aber nicht auszuschließen ist eine mögliche Verbindung des Auftretens des memoria-Begriffs mit seinem Anteil an der Urkundenauffassung. Hier begegnet uns wieder die gleiche Thematik: die mutabilitas rerum und der Ablauf der Zeit lassen die Erinnerungen der Sterblichen verblassen 340. Ein ähnlicher 336 Actes des princes Lorrains, Iere Serie: Princes la'iques, 11. Les Comtes A. Actes des Comtes de Bar, Volume I: De Sophie a Henri Ier 1033-1190, Mites et presentes par Michel Parisse, Universite de Nancy 11. 1972. Unten abgekürzt Actes des Comtes de Bar I, S. 17, Nr. 3 (1090), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam quidem preteritorum actuum noticia litteralibus quam maxime signis semper representatur, quibus editis diligentissimo lectori omnis humani defectus ambiguitas depellitur, necessarium duximus nostri quoque temporis gesta posterorum memorie scripto comendare. Notificamus igitur omnibus tarn futuri quam presentis evi in Christo fidelibus queque auribus audivimus et oculis vidimus (= St-Mihiel, S. 178 ff., Nr.49); S. 39, Nr.9 (1117), Abschrift vom 12. Jh., A: ... quamvis ceteris quos memoria nostra sibi revocare potuit religiosior(= St-Mihiel, S. 232 ff., Nr.65). 337 S. 20 ff., Nr.4 (1091), Or., A: Quotiens enim rerum ecc1esiasticarum ambiguitates pellendas antiqui precavere curabant, quicquid dignum memoria decernebant scripturarum noticie commendare distincte satagebant... Scripsit hoc cyrographum Albericus, capellanus(= St-Mihiel, S. 181 ff., Nr.50); S. 35, Nr. 8 (1116), Or., Rainald I. (1105-1149), A: Quotiens rerum ecc1esiasticarum ambiguitati antiqui precavere curabant, quicquid dignum memoria decernebant, scripturarum noticie commendabant(= St-Mihiel, S. 228 ff., Nr. 64). 338 Nr.12 (1135), Nr.13 (1137-1140), Nr.21 (um 1151), Nr.22 (1154), Nr.24 (I 158),Nr.25 (1159), Nr.27 (1149-1165). 339 S.51, Nr.13 (1137-1140), Abschriften vom 16.Jh. u.a., C: Ne autem temporum labente curriculo oblivione interveniente a posteris nostris ignoretur, scripto eam memorie tradimus scripturn qua authoritate pontificali corroboramus, sigilli nostri impressione et testium assignatione (= Metz I, Nr.52); S. 26, Nr.26 (1149-1165), Abschrift des 13. Jhs., A: Ne rerum gestarum series temporum labenti curriculo oblivioni tradatur quod nostris actum est diebus, scripto et sigilli nostri impressione ad posteros transmittimus; S. 67, Nr.22 (1154), Abschrift des 13. Jhs., A: Ne rerum gestarum series temporibus labentibus oblivioni tradatur quod nostris diebus actum est; S. 71, Nr.25 (1159), Abschrift vom 13. Jh., A: Quod nostris actum est temporibus, ne oblivio deleat, sed ut ratum perrnaneat. 340 S.46, Nr.12 (1135), Or., A: Rerum varietas et temporum decursus mortalium memoriam semper obducit, et ideo necesse est ut cause que ad posteros transmittende censentur litterarum apicibus annotentur(= St-Mihiel, Nr.79).

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Zeitaspekt findet sich weiterhin oft zusammen mit der oblivio- Wendung 341 • Oblivio allein kommt in Wendungen wie "Nebel der VergeBlichkeit" vor 342 • d) Zusammenfassung Die Analyse der bischöflichen und gräflichen Urkunden im lothringischen Gebiet führt zu folgenden Ergebnissen: Die memoria-Formulierungen fanden weite Verbreitung in dieser Region. Sie sind jedoch unterschiedlich gestaltet. Es scheint, als habe es trotz aller Ähnlichkeiten keine direkte wörtliche Anlehnung gegeben. Dieser Befund verdient insbesondere unsere Aufmerksamkeit, wenn man eine urkundliche Tradition bei der gräflichen Familie von Bar beobachtet. Bei ihnen findet man zwar einige sich wiederholende Wendungen. Einen wesentlichen Teil aber machen die variierten Ausdrücke aus. Hinter der verschiedenartigen Verwendung kann man eine allgemeingültige Tendenz feststellen, die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses zum Ausdruck zu bringen und die Notwendigkeit der schriftlichen Bestätigung als Gegenmittel zu betonen. Man begegnet folgenden Wendungen wiederholt in diesem Gebiet: (a) humana memoria - memoria hominum

Die memoria als unvollkommenes menschliches Gedächtnis versteht sich im Rahmen der rhetorischen Tradition und unterscheidet sich vom personen bezogenen liturgischen Andenken. 343 (b) res gestae - rerum gestarum series

Der Wendung res gestae ist in diesem Raum häufig zu begegnen. In vier Metzer Urkunden aus dem 12. Jahrhundert kommt diese Wendung vor 344 • Die Variation re341 Nr.26(1149-1165), wieAnm.339; S.85,Nr.33 (1171),Or.,A: Utperpetueturrerumdigne gestarum memoria, commendari litteris earum consuevit noticia, ne videlicet (seri)es veritatis aliquo elapsu detrimentum sustineat quominus ad posteros per varietatem temporum, fideliter pertranse(at); S. 87, Nr. 34 (1171), Abschrift des 13.Jhs., A: Quoniam tempora velut annes fluunt et a memoria verbum tollunt, ne quid diebus nostris agitur, oblivioni tradatur. 342 S.90, Nr. 36 (1177), Abschrift des 13.Jhs., A: Quod nostris actum est temporibus, ne oblivio deleat, sed ut ratum permaneat; S. 127, Nr.60 (1175-1189), Or., A: Caritatis opera elemosinarum largitate celebrata hoc intuitu scripto committuntur ut auditores et inspectores honestis exemplis ad hec similia invitentur et ne in posterum oblivionis nube involuta nimis obscurentur(= St-Mihiel, S. 382f., Nr. 123). 343 Vgl. Evrard I, Nr.39 (um 1020), Nr.62 (1156), Bloch, Nr.29 (um 1020); St-Mihiel, Nr. 139 (1197); Toul 11, Nr. 29 (1094), Nr. 32 (1097); ebd., Nr. 79 (1115), S. 258, Aussteller, Bischof Ricuin, A: Quoniam vetustate aut negligentia aut aliquo humane fragilitatis impedimento omnia que geruntur et memoriam hominum facHe transeunt et in meticulosam contentionem rectores rerum et possessores earum frequentur deducuntur, .... 344 Metz I, Nr.68 (1147), Nr. 105 (1161), Nr. 119 (1160-1162). Metz 11, Nr. 10 (1168); vgl. ebd., S. 104, Nr. 57 (1176-1179), A: Commendabilis est eccellencia litterarum que et rerum gestarum sine omni diminutione conservat memoriam et pacis concordie custos prorsus occasionem calumpnie sive litis eliminat(= Cartulaires de l'abbaye de Molesme ancien diocese de

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rum gestarum series ist in den Urkunden von St. Mihiel häufig verwendet 345 , aber die dort gebrauchten Formulierungen scheinen VOn einer anderen Sprachtradition her zu stammen. Die Wendung rerum gestarum series findet sich in einer Urkunde aus Molesme 346 und später auch in Trier 347 • Eine vergleichbare Wendung taucht ferner in den Urkunden der Grafen VOn Bar auf348 • (c) tempus-Variationen

Die meisten memoria-Ausdrücke in diesem Gebiet beziehen sich auf die Auffassung von der Zeit. Man begegnet verschiedenen Formulierungen wie dem Ablauf der Zeit 349, dem Wechsel der Zeit 350, der Länge der Zeit 351 , der Wandelbarkeit der Langres 916-1250(= Recueil de documents sur le nord de la Bourgogne et le Midi de la Champagne), par Jacques Laurent. Tome 11: Texte et index, Paris 1911. S. 512, Nr.712). 345 St-Mihiel, S. 176, Nr.48 (um 1090), Abschrift vom 12. Jh., A: Rerum gestarum series idcirco litteris ad posterorum noticiam fide1ium deducuntur, ut falsitate nulla interveniente, omnis malignorum disceptatio veritatis testimonio exc1udatur; S.267, Nr.75 (1128), Abschrift vom 12.Jh., A: Rerum gestarum series litteris idcirco scribenda mandatur, quatinus ad posterorum noticiam veritas factorum, nulla falsitate intercedente, perveniat; S. 290, Nr. 82 (1088-1135), Abschrift vom 12. Jh., A: Rerum gestarum series litterarum apicibus idcirco commendatur vel annotatur, ut si aliquando, invidia diaboli suadente, aliqua controversia subrepere voluerit, testimonio veritatis apparente falsitas subvertatur; S. 295, Nr.84 (1137), Abschrift vom 12. Jh., A: AD EVITANDAS versutias humanae perversitatis, oportet confugere ad arcem et testimonium veritatis. Est autem veritatis testimonium series rerum gestarum figuris impressa litterarum; S. 306ff., Nr.89 (1142), Abschrift vom 12. Jh., A: Ego Matheus dux Lotharingiae, probabile dux i ad utilitatem presentium ac futurorum gestarum seriem rerum apicibus commendare litterarum ... Ego Gyrardus ad vices notarii scripsi et subscripsi. 346 Cartulaires de l'abbaye de Molesme, par 1. Laurent. Tome 11, a.a.O., S.118, Nr.116 (zwischen 1075 und dem ersten Viertel des 12.Jhs.), A: Multoties est experturn res ecc1esiarum Dei ab ipsis qui dederant, vel ab aliis velle auferri: iccirco mos inolevit antiquitus ut rerum gestarum series et largitiones fidelium scriptis firmarentur, quatinus per hoc et injustis calumpniatoribus virtus calumpniandi minueretur et in posteros earumdem rerum noticia transmitteretur. litteris adsignamus ut fixum jugiter permaneat et auctoritate testium corroboratur, nulla penitus oblivione deleatur. 347 VB Trier 2, S.187, Nr. 145 (1195), A: Quum rerum gestarum series aliquando nimia temporum antiquitate aliquando prauorum hominum sinistra interpretatione solet obnubilari. immutari atque peruerti. ne locum ueritatis falsitas obtineatque formula. quibus presentibus et a quibus nostris temporibus facta sit. litteris commendare duximus necessarium; VB Trier 3, S. 381, Nr.488 (1233), A: Ne rerum gestarum series a presentium memoria et a notieia futurorum cum tempore dilabatur, utiliter provisum est, ut scripture possit amminiculo perhennari; S.541, Nr. 718 (1241), A: Ne per oblivionem inolitam mentibus humanis rerum gestarum series in irritum deducatur, utiliter inventa est autenticarum cautio litterarum, quibus et oblivionis dispendium exc1udatur et adversus malignantes gestorum evidentia proferatur. 348 Actes des Comtes de Bar I, S. 67, Nr. 22 (1154), Nr.26 (1149-1165); vgl. Nr.33 (1171). 349 Bloch, S.404, Nr. 15 (963?-966), Aussteller, Bischof von Verdun Wigfrid, C: Vt autem hec nostre auctoritatis traditio firmiorem vigorem obtineat et per succedentia tempora inviolabiliter permaneat, omnium nostrorum fide1ium manibus presentialiter corroborari decrevimus. Ego Wifridus presul indignus subscripsi; Evrard I, Nr. 23 (967); St-Mihiel, Nr. 139 (1197); Metz I, Nr. 52 (1137-1140), Nr.58 (1142); ebd., S. 174, Nr. 79 (1152), Or., C: Interdicimus itaque Dei auctoritate beatique Stephani prothomartyris et nostra, ut nullus hominum in 6 Iwanami

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Zeit 352 oder temporum decursus 353 , temporum evolutio 354 und intervallumfuturi temporis 355 • Diesen unterschiedlichen Fonnulierungen mit dem Aspekt der Zeit begegnen wir insbesondere seit der Mitte des 12. Jahrhunderts häufiger. Sie lassen uns vennuten, daß das steigende Interesse und das Bewußtsein vom Lauf der Zeit zu dieser Zeit gewachsen war.

3. Vergleich mit den nord französischen Bistümern Der nordfranzösische Raum wurde nicht ohne Grund für einen Vergleich mit den deutschen Bistümern ausgewählt. Er bietet für die Zeit seit dem 11. Jahrhundert eine reichhaltige Überlieferung, die wiederum durch einen verhältnismäßig hohen Anteil an Originalen (99 von 293 überlieferten Urkunden = circa 30 % im 11. Jahrhundert 356 ) gekennzeichnet ist. Die Verwendung des Kanzlertitels läßt sich schon seit dem 11. Jahrhundert in den Bistümern dieses Gebiets nachweisen. In Reims z. B. ist er erstmals 1008 bezeugt, und während des 11. Jahrhunderts werden insgesamt 10 Kanzler genannt. In Bistümern wie Laon, Noyonffournai und Soissons treten Fälle auf, in denen die Kanzler gleichzeitig Dekane waren 357 • Die Laufbahn, die zu diesem Amt führte, veranschaulicht auch ein Beispiel aus Soissons: Bemhard war von 1096 bis 1100 Diakon, ab 1100 Magister, ab 1101 Scholaster, von 1107 bis 1122 quolibet ordine constitutus hanc antiquam stabi(litatem) et nostre renovationis constitutionem audeat infringere, sed fixa et inconvulsa permaneat omni deinceps tempore. Ne autem per succedentia tempora hec antiqua constit( utio) et nostra justa renovatio tradatur oblivioni, presentis pagine scripto fieri precepimus, et tarn nostra Metensis ecclesia quam nos sigilli nostri impressione roboravimus; Actes des Comtes de Bar I, Nr.22 (1154), Nr. 26 (1149-1165), Nr. 34 (1171); Evrard 11, Nr. 44 (1145), Nr.67 (1147-1156); Metz 11, S. 17, Nr. 6 (1165), Or., A: De quod a fidelibus geritur par labantium curricula (temporum) oblivioni tradatur, scripto commendare non incongruum arbitramur. 350 St-Mihiel, S. 309f., Nr. 90 (1145), Abschrift vom 12.Jh., A: Ego Raynaudus, Dei gratia comes Muntiensies, ea quae Deus in manu mea dignatur operari litteris mandare decrevi, ne temporum varietate tradantur oblivioni; Actes des Comtes de Bar I, Nr. 33 (1171). 351 Evrard 11, Nr.41 (1144); Metz 11, S. 19, Nr. 7 (1165), Abschrift vom 13. Jh., A: Ne illa quae salubriter et utiliter pro animarum remedio gesta sunt, prolixitate temporum in oblivionem relabantur; vgl. St-Mihiel, S. I64f., Nr.43 (1085), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam de incertis certa requirenda sunt, utile et necessarium est posteris ea Iitteris commendare ... C: sed per longa tempora oblivioni traditum fuerat. 352 Evrard 11, Nr. 53 (1151), Nr. 67 (1147-1156). 353 Actes des Comtes de Bar I, Nr. 12 (1135). 354 Evrard 11, Nr.62 (1156). 355 Metz I, Nr.89 (1158). 356 Ghislain Brunel, Chartes et chancelleries episcopales du Nord de la France au XIe siecle, in: Apropos des actes d'eveques: hommages a Lucie Fossier, Nancy 1991, S. 227- 244, hier S.228f. 357 Diese Angabe betrifft das 11 . Jahrhundert, Brunel, ebd., S. 239, Tabelle Nr. 3.

3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern

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Dekan und ab 1110 Kanzler 358 • Der Weg zur Kanzlerfunktion war aber individuell unterschiedlich. Der spätere Erzbischof von Reims, Raoul (1107-1124), war 1084 Kanoniker, 1089 Subdiakon, von 1093 bis 1094 Kämmerer, 1095 wird er als Kanzler genannt, von 1096 bis 1106 war er Propst und stieg dann 1107 zum Erzbischof von Reims auf. In Soissons und Cambrai war gelegentlich neben dem Kanzler ein Scholaster für die Beurkundungstätigkeit zuständig 359 • Fraglich ist, ob es in dieser Region die unter einem Kanzler organisierte schriftliche Verwaltung ebenso früh gegeben hat wie das genannte Kanzleramt 360• Immerhin läßt sich eine gewisse Gemeinsamkeit sowohl bei der Schriftart 361 als auch bei den Formulierungen erkennen 362 , so daß man vielleicht eine Art von "Kanzleitradition" erwarten darf. Im folgenden werden die Bischofsurkunden aus dem nordfranzösischen Gebiet hinsichtlich der memoria-Wendung vergleichend mit den Zeugnissen aus deutschen Bistümern untersucht. Sie lassen auf unterschiedliche Entwicklungsstufen der schriftlichen Verwaltung schließen, die von den politischen Gegebenheiten bestimmt wurden. Unsere Untersuchung setzt kritische Editionen voraus, um für die Analyse eine vergleichbare Basis zu haben. Leider fehlen solche für nicht wenige Bistümer in diesem Gebiet 363 - ausgenommen Reims und Arras, auf die die folgende Studie daher ihren Schwerpunkt legt. In dieser Hinsicht sind die Voraussetzungen für unsere Untersuchung dieses Gebietes nicht immer günstig. Man kann mit Recht fragen, ob eine systematische Analyse unter solchen Bedingungen überhaupt möglich sei. Die untersuchten Materialien sind nicht ohne Lücken, doch es wird verBrunel, ebd., S. 241. Brunel, ebd., S.241 f. Anm.28 überSoissons, vgl. dazu eine Urkunde aus dem Jahre 1085 für Coincy: "Rainaldus cancellarius et Robertus scholasticus scripserunt et superscripserunt"; eine Urkunde aus dem Jahre 1086 für Notre-Dame von Chäteau-Thierry: "Rainaldus cancellarius et Robertus scolasticus scripsimus et subscripsimus hec" (Original, BibI. nat. Paris, coll. Picardie, vol. 293, Nr.2). Anm. 33 für Cambrai, eine Urkunde vom Jahre 1057: "Werimboldus scolasticus scripsit et recognovit" (BibI. nat. Paris, coll. Moreau, vol. 26, fol. 10-11). 360 Vgl. Patrick Demouy, Actes des archeveques de Reims d'Arnoul a Renaud 11, 997-1139, Diss. Nancy 1982. Unten abgekürzt Demouy, Actes. Hier S.222. Vermutlich wurden die Schreiber in der Domschule ausgesucht. 361 Vgl. Actes des comtes de Flandre (1071-1128), par Fernand Vercauteren, Bruxelles 1938. Hier S.112:,,11 n'est donc peut-etre pas temeraire de penser que la province ecclesiastique de Reims a constitue aux XIe et Xlle siecles une Schrijtprovinz tout comme il en a existe une pareille a la meme epoque dans le diocese de Liege". 362 Brunel (wie Anm. 356), S. 242 ff. 363 Die Quellenedition für Cambrai ist in Vorbereitung (von van Mingroot). Die an der Ecole des Chartes eingereichten, aber nicht publizierten Dissertationen für Laon (Annie Dufour-Malbezin, Catalogue des actes des eveques de Laon anterieurs all51, Positions des theses de l'Ecole des Chartes, 1969), Amiens (Simone Lecoanet, Les actes des eveques d' Amiens des origines au debut du XIIIos., Positions des theses de l'Ecole des Chartes, 1957) und Cambrai (Michel Hayez, Catalogue des actes des eveques de Cambrai anterieurs a 1167, Positions des theses de l'Ecole des Chartes, 1959) konnte ich leider nicht für die vorliegende Arbeit heranziehen. 358 359

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sucht, alle erreichbaren Quellen 364 heranzuziehen und so eine möglichst breite Untersuchungsbasis zu schaffen. a) Erzbistum Reims Zwischen 989 und 1175 sind insgesamt 385 erzbischöfliche Schriftstücke aus Reims überliefert 365 • 175 davon (circa 45 Prozent) sind an die Suffraganbischöfe gerichtet 366 • Unter den Suffraganbischöfen belegen die von Soissons den ersten Platz, wie ihre Nennung zu Beginn der Subskriptionszeile und die Dichte ihres Auftretens in den Urkunden zeigt 367 • Die führende Position, die das Erzbistum Reims den Suffraganbistümern gegenüber seit dem Frühmittelalter hatte, veränderte sich durch die sich verstärkende päpstliche Autorität 368 und die steigende Bedeutung der päpstlichen Legaten seit dem 11. Jahrhundert 369 , was sich auch bei der Beurkundungstätigkeit erkennen läßt. Die Klöster - beispielsweise zisterziensische -, die Bestätigungen erhalten wollten, versuchten seitdem immer häufiger, päpstliche Privilegien auf direktem Wege zu erlangen 370 • Der Kanzlertitel läßt sich seit 1008 nachweisen, und während des 11. Jahrhunderts sind insgesamt 10 Kanzler bezeugt. Neben dem Kanzler beteiligten sich auch Archidiakone an der Beurkundungstätigkeit und rekognoszierten auszustellende 364 Diesbezüglich schafft insbesondere die Untersuchung von Micheie Courtois, 59 Chartes Originales anterieures 11 1121 conservees dans le Department du Nord, Nancy 1981 eine grundlegende Basis für unsere Analyse. 365 Patrick Demouy, Chancellerie archiepiscopale et province ecclesiastique: L'exemple de Reims (989-1175), in: Christoph Haidacher und Werner Köfler (Hgg.), Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250, Innsbruck 1995, S. 243-254, hier S. 246. 366 Ebd., S. 246: "Arras 40; Laon 34; Cambrai 20; Therouanne 18; Amiens 14; Tournai 14; Chälons 10; Soissons 10, Beauvais 8; Noyon 6; Senlis 1." Die hohe Zahl für Arras erklärt sich durch 25 Briefe an Bischof Lambert, die eventuell die Errichtung des Bistums Arras und seine Abtrennung vom Bistum Cambrai betreffen. Vgl. Demouy, Actes (wie Anm. 360), S. 90. 361 Ebd., S. 247: "Soissons 41; Laon 31; Noyon 29, Chälons 28; Cambrai 16; Senlis 16; Arras 15; Amiens 14; Therouanne 13; Beauvais 8; Tournai 4." 368 Papst Urban 11. erhob Anspruch auf das alleinige päpstliche Recht zur Gründung von Bistümern, während die Päpste davor aufgrund der Beschlüsse der Provinzialsynoden und der Zustimmung der weltlichen Herrscher ihre Sanktion erteilten. Vgl. Lotte Kery, Die Errichtung des Bistums Arras 1093/1094. Sigmaringen 1994, S. 307 ff. Urbans Rechtsauffassung zeigt sich auch bei der Bischofsweihe durch den Papst. Urban 11. weihte z. B. mehrere Kandidaten zum Bischof, zu denen Lambert von Arras gezählt wird. Vgl. Kery, ebd., S. 362 f. 369 Die Bedeutung der päpstlichen Legaten zeigt sich etwa in der Erhebung Bischof Hugos von Die, des päpstlichen Legaten, zum Erzbischof, von Lyon durch Papst Gregor VII., die gegen die kirchenrechtliche Vorschrift durchgesetzt wurde. Theodor Schieffer, Die päpstlichen Legaten in Frankreich vom Vertrag von Meerssen (870) bis zum Schisma von 1130, Berlin 1935. Hier S. 131 f. 310 Dietrich Lohrmann, Kirchengut im nördlichen Frankreich, Bonn 1983; Ders., Papstprivileg und päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit im nördlichen Frankreich zur Zeit der Kirchenreform, in: Proceedings of the Sixth International Congress of Medieval Canon Law. Vatican 1985, S. 535-550.

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Urkunden. Dies läßt sich seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts nachweisen: an der Wendung ad vicem archidiaconi. Daß unterschiedliche Hände unter einem Kanzler nachweisbar sind, führt zu der Annahme, daß die untergeordneten Kleriker als Schreiber tätig waren, die die Urkunden niederschrieben und gelegentlich auch verfaßten 37 '. Ein Notar als Amtsbezeichnung läßt sich aber in Reimser Urkunden - mit einer Ausnahme - nicht nachweisen. Die Erwähnung Actum in archivio pontificali weist darauf hin, daß die Beurkundungen an einem speziell dafür bestimmten Ort vollzogen wurden. Dies taucht neunmal 372 seit der Amtszeit Erzbischof Rainaids I. (1084-1096) auf. Rainald stammte aus der Familie Montreuil-Bellay und stand durch die zweite Ehe seiner Mutter in einer engen Beziehung zu Graf Gottfried von Anjou (tI060). Sein Onkel Gottfried war Bischof von Angers, und Rainald selber war Thesaurarius von Saint-Martin in Tours. Mit seinem Amtsantritt wurden die administrative Reorganisation und die Wiederherstellung der Reimser Vorherrschaft in Gang gesetzt 373 • Unter Rainald 1. fanden wieder regelmäßig Provinzialsynoden statt. Auf der Synode des Jahres 1093 in Reims beispielsweise wurde über die Errichtung des Bistums Arras und seine Abtrennung von Cambrai verhandelt 37 4, 1114 in Reims über die Abtrennung der Diözese Tournai von Noyon diskutiert. Das Reimser Urkundenwesen erfuhr unter Rainald ebenfalls wichtige Veränderungen sowohl in den inneren als auch den äußeren Merkmalen: die Formalisierung der Diktate 375 und der Gebrauch des Siegels 376• Die gründliche, leider noch nicht publizierte Untersuchung von Patrick Demouy377 ermöglicht einzelne Formularanalysen der Reimser Urkunden. Insgesamt 247 Schriftzeugnisse 378 zwischen 997 und 1139 sind in seiner Arbeit zusammengestellt. Das Einsetzen der Arengen erfolgte relativ spät, und sie kommen vor dem Jahre 1080 lediglich siebenmal und danach 58mal vor. Das spätere Erscheinen der Demouy, Actes (wie Anm.360), S. 222. Demouy, Actes (wie Anm. 360), Nr.76: 1090,78: 1091,82: 1093,88: 1094, 104: 1096, 222: 1131,227: 1133,231: 1134,232: 1134. Als anderer Ausstellungsort werden Konzilsversammlung, Provinzialsynode (in concilio) dreimal (Nr.64: 1084, Nr.158: 1114, Nr.159: 1114), die Synode (Nr.43: 1071, Fälschung; Nr.47: 1074) zweimal und der Hof (in palatio) zweimal (Nr. 1: 1008; Nr.69: 1086) genannt. 373 Auf der Synode vom Jahre 1085 in Compiegne wurde über die Wiederherstellung der kirchlichen Disziplin in der Kirchenprovinz Reims diskutiert. Vgl. Mansi, Concilia XX, col. 609-612. 374 Vgl. Gesta Atrebatensium (Edition von Lotte Kery, Die Errichtung des Bistums Arras 1093/1094. Sigmaringen 1994, S. 152-197), [13], S. 160 f. 375 Demouy, Actes (wie Anm. 360), S. 224 f. 376 Ebd., S. 250. 377 Ebd. Die vorliegende Arbeit beruht auf seiner noch nicht veröffentlichten Dissertation. Ihre Publikation ist in der Reihe "Actes des Eveques de France" von der Universität Nancy annonciert. 378 Sie bestehen aus den Urkunden, Briefen und Notitiae. 78 davon beteffen Übergaben oder Schenkungen von Erzbischöfen, 71 Bestätigungen, 20 Urteile, 8 Gründungsurkunden. Vgl. Demouy, Actes (wie Anm. 360), S. 91. 371

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Arengen läßt sich auch in Amiens, Chälons, Laon und in den gräflichen Urkunden von Flandern beobachten 379 • Häufig verwendete gleichlautende Arengen lassen die Existenz von Formularen vermuten 380, auf die auch die Corroboratio hinweist, in der oft gleiche Formulierungen begegnen. Man sollte zugleich die Empfängerausfertigungen miteinbeziehen, wenn die betreffenden Urkunden für bestimmte Empfänger ausgestellt wurden. Es sind weiterhin Urkunden für andere Empfänger erhalten, die mit gleichen Arengen versehen worden sind 381 • Die Reimser Urkunden zeigen überraschenderweise wenige Belege für memoriaFormulierungen. Trotz der reichen Überlieferung findet man nur vier Belege für oblivio 382 und zwölf für memoria 383 • Der erste Hinweis auf memoria erscheint im 11. Jahrhundert 384 • Memoria steht dort in der Corroborati0 385 • Die hier verwendeten Ausdrücke sind nicht wörtlich gleich, aber von der formelhaften Wendung ad memoriam commendare abgeleitet. Memoria und cognitio stehen in einer Urkunde ne379 Dies beruht auf der Feststellung von Demouy, Actes (wie Anm. 360), S.I72, Anm. 1., der aufgrund der Untersuchungen von Lecoanet (Les actes des eveques d' Amiens des origines au debut du XIIIos., Positions des theses de I,Ecole des Chartes, 1957) für Amiens, von Gut-BondU (Les actes des eveques de Chälons des origines a 1201, Etude diplomatique et catalogue, Positions des theses de I'Ecole des Chartes, 1955) für Chälons, von DuJour-Malbezin (Catalogue des actes des eveques de Laon anterieurs all51, Positions des theses de l'Ecole des Chartes, 1969) für Laon und von Vercauteren (wie Anm. 361) für Flandern zu dieser Beobachtung gelangte. Außer der Untersuchung Vercauterens konnte ich die anderen Arbeiten leider nicht einsehen. 380 Demouy, Actes (wie Anm. 360), S. 174. 381 Ebd., S. 174 f. 382 Nr.42 (1055-1067), Et defluant utinam longo tempore et ferantur Si tarn antiqui confessoris Christi miracula partim oppressit oblivio; Nr. 59 (1079), C: ... ut igitur hujus nostrae sanctionis decretum stabile et inconvulsum permaneat et processu temporis in oblivionem non vergat, hanc chartam conscribi, sigillique nostri impressione jussimus insigniri; Nr. 162 (1115), C: ne donatio ista aliquatenus oblivionis crimen occureret, testibus ydoneis eam approbari volui et imaginis nostre impressione roboravi; Nr.220 (1127-1130), C: Ne autem hoc factum vel hujus facti pactum aut vetustas evacuet aut deleat oblivio, utrinque laudatum est et confirmaturn Remis. 383 Nr.5 (1018),26 (1053), 37 (1064), 82 (1093), 119 (1100), 129 (1102), 160 (1114), 178 (1121),188 (1124), 205 (1127), 207 (1127-1128), 222 (1131). Die sieben Urkunden sind im Original überliefert: Nr.26, 37, 82,129,160,188,207. 384 Memoria taucht in der relativ langen Corroboratio auf. Nr.5 (1018), C: Qua traditione solemniter facta, et banno sub praesentia regis Rotberti legaliter imposito, ne aliquis homo hoc infringere praesumeret aliquando, et iam ad futurorum memoriam, et ecclesiae libertatem conservandam, auctoritatis nostrae scripturn imposui, et signare feci, ammonens ex parte Dei successores nostros, ut sicut sua statuta ecclesiastice facta volunt inviolata manere, sic hujus naturae donationem et statutum eleemosynae nullo ingenio patiantur rescindi vel violari aliqua ratione. 385 Nr.26 (1053), C: ... id vero statutum ut per succedentia temporum curricula inconvulsum maneat, placuit ad posterorum memoriam litteris comendare; Nr.37 (1064), C: ... ad posterorum memoriam id commendantes cyrographo sub episcoporum et abbatum, ... ; Nr. 119 (1100), C: ... auctoritate ymaginis in posterum memoriam pertrahi curavimus.

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beneinander386 • Die memoria werde vom Laufe der Zeit ausgelöscht 387 • Um sie an die Nachwelt zu verrnitteln 388, müsse sie schriftlich fixiert werden 389. Die unterschiedlichen Ausdrücke weisen auf eine selbständige Abfassung hin, und bezüglich der memoria-Wendung kann man keine Forrnularbenutzung feststellen. Damit läßt sich erklären, daß nur wenige Urkunden vor 1080 390 mit Arengen ausgeschmückt sind. Dies hat wohl auch auf die relativ seltenen memoria-Verwendungen eingewirkt. Auffallig an den Reimser Urkunden ist das frühere Auftauchen der ausdrücklichen Erwähnung des Verlaufs der Zeit 391 • 386 Nr.82 (1093), A: Si quedam misericordie opera que nobis in diebus pontifieii et administerationis nostre celestis sugessit inspiratio, ad posteritatis memoriam cognitionemque litterarum assignatione transferamus. 387 Nr. 129 (1102), C: ... ad nos autem post decessum persone revocatum, eidern monasterio ad usus infirmorum contuli et absque persona perpetualiter tenendum concessi, et quia hec nostra largitio aliqua potest temporis prolixitate ab hominum memoria deleri, testamentali eam pagina confirmavimus et ne quorumlibet improborum objurgatione imminui valeat, signis et probabilium personarum testimoniis cum nostre auetoritatis imagine eorroborari jussimus; Nr. 178 (1121), A: ... nos quoque, eidern monasterio auetoritatis nostre privilegio eonfirmare decrevimus ne temporis prolixitate ab hominum memoria elapsum predictum monasterium aliquam rerum suarum patiatur jaeturam. 388 Nr.207 (1127-1128), A: ... presentibus et presentium posteritati que subjecta sunt ad memoriam revocare curavi; Nr. 222 (1131), Ad posteritatis igitur memoriam pertinere dignum duximus. 389 Nr. 188 (1124), A: ... ad presentium notieiam et memoriam posterorum presenti scripto pertrahendum esse curavi; Nr.205 (1127), A: ... ad posterorum memoriam hee presenti pagina pertractare dignum studui. 390 Demouy, Actes (wie Anm. 360), S. 172. 391 Nr.lO (1024-1025), C: Et ut hac nostra donatio per succedentium temporum curricula firma et ineonvulsa, et absque ulla eontradictione iniquorum virorum quieta permaneat, manu nostra firmavimus, nostrorumque fidelium manibus roborandam tradidimus; Nr. 42 (1055-1067), Et defluant utinam longo tempore et ferantur Si tarn antiqui eonfessoris Christi miraeula partim oppressit oblivio; Nr. 59 (1079), C: ... ut igitur hujus nostrae sanctionis deereturn stabile et inconvulsum permaneat et processu temporis in oblivionem non vergat, hanc chartarn eonscribi, sigillique nostri impressione jussimus insigniri; Nr. 122 (1099-1101), A: ... olim bonis exigentibus, ad tantam deeidisse paupertatem ut teeto vetustate diruto, maeeriis tarn vetustate quam negligentia depulsis, poreorum reeeptaculo quam hominum habitationi magis apta videretur.... C: Ut autem hujus nostrae roborationis pagina nulla possit temporis prolixitate sopiri, eam inconvulse firmitatis munimine, probabiliumque personarum signis et testimoniis eum nostrae imaginis attestatione roborari preeepimus; Nr.129 (1102), C: ... ad nos autem post decessum persone revocatum, eidern monasterio ad usus infirmorum eontuli et absque persona perpetualiter tenendum eoncessi, et quia hec nostra largitio aliqua potest temporis prolixitate ab hominum memoria deleri, testamentali eam pagina eonfirmavimus et ne quorumlibet improborum objurgatione imminui valeat, signis et probabilium personarum testimoniis eum nostre auetoritatis imagine corroborari jussimus; Nr. 133 (1103), C: ... ceterum ut hujus eoncessionis scedula nulla prolixitate temporis; Nr. 169 (1118), A: Ab antiquitate temporum C: quam ne temporum prolixitate donatio ista aboleri possit, idoneis testibus et nostre imaginis auctoritate roborari jussimus; Nr. 178 (1121), A: nos quoque, eidern monasterio auctoritatis nostre privilegio confirmare decrevimus ne temporis prolixitate ab hominum memoria elapsum predietum monasterium aliquam rerum suarum patiatur jaeturam; vgl. auch Nr.33 (1056), ... his modernis temporibus ad tantum negleetum devenit ut qui eam eustodirent vel pro loei dignitate divinum inibi servitium exsolverent, defuerint; vgl. Nr. 38 (1067).

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11. Bischöfliche Urkunden

Die seltene Verwendung des Begriffs memoria in Reimser Urkunden ermöglicht keine ausführlichere Analyse. Wir müssen uns mit der Bemerkung begnügen, daß sich kein direkter Einfluß der memoria-Formulierungen von Reims auf andere Bistümer, beispielweise auf Arras, feststellen läßt 392 •

(1) Bischöfe von Arras - Grafen von Flandern Das im Jahre 1094 von Cambrai abgetrennte Bistum Arras stand von Anfang an im Mittelpunkt der politischen Verflechtungen zwischen der kaiserlichen, päpstlichen und gräflichen Gewalt 393 • Zu dieser Errichtung des Bistums Arras trugen die stetige Förderung Papst Urbans H., des ehemaligen Archidiakons in Reims, und das Schisma im Grenzbistum des Reichs, Cambrai, entscheidend bei. Aufgrund der angeblichen Verlegung des Bischofssitzes nach Cambrai 394 behauptete man nun, die Errichtung eines Bistums sei notwendig und legitim, und man nahm rechtzeitig die Gelegenheit wahr, die der vakante Bischofssitz in Cambrai bot. Papst Urban 11. sah in Arras einen wichtigen Stützpunkt, um die kaiserliche Intervention über das Reichsbistum Cambrai im westlichen Grenzgebiet zurückzudrängen. Zu diesem Zweck war die freundschaftliche Beziehung zu dem Grafen von Flandern unentbehrlich, denn Arras ist "seit dem Ende des 10. Jahrhunderts, als Hugo Capet das Artois an Balduin IV. von Flandern restituierte, für zwei Jahrhunderte eine Art Hauptstadt Flanderns gewesen"395. Der Gründungsbischof von Arras, Lambert, war ehemaliger Kantor des Kollegiatstifts St. Pierre in Lille, das in einer engen Beziehung zum Grafen von Flandern stand. Bei der Abtrennung vom Reichsbistum Cambrai sollte Arras einen wichtigen Rückhalt bei den Grafen von Flandern erhalten 396 . Bei der Errichtung des Bistums Arras spielte die schriftlich fixierte Beweisführung eine maßgebliche Rolle. Die Kleriker von Cambrai, die sich gegen die Abtrennung Arras' von Cambrai durchsetzen wollten, mußten aufgrund der verliehenen päpstlichen Privilegien rechtmäßige Gegenargumente vorbringen 397 • Die Kirche von Arras mußte ebenfalls auf der Provinzialsynode in Reims des Jahres 1093 historische und kirchenrechtliche Belege für ihr Argument anführen und beweisen, Im folgenden. Über diese Gründungsgeschichte des Bistums Arras liegt eine ausführliche, kritische Untersuchung von Lotte Kery vor: Kery (wie Anm. 368). 394 Ebd., S. 214 ff. 395 Ebd., S. 269; dies zeigt ein Brief Papst Urbans 11. an Graf Robert 11. von Flandern, Gesta Atrebatensium (Edition von Latte Kery, ebd., S. 152-197), hier [38] S. 180 (= JL 5518): ... Atrebatensis ciuitas, que in comitatu tuo principalis est, ... ; die Ausstellungsorte der Urkunden zeigen, daß Arras zwischen 1096 und 1123 neben Brügge und Lilie eine der wichtigsten Residenzen der Grafen von Flandern war. Actes des comtes de Flandre (1071-1128), par Fernand Vercauteren, S. LXXXXIY. 396 Die Beteiligung des Grafen von Flandern an der Errichtung des Bistums Arras kommt in den Quellen nur andeutungsweise zur Sprache. Vgl. Ebd., S.426ff. 397 Gesta Atrebatensium, ebd., [8], S. 155. 392 393

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daß es nicht um eine Neugrundung, sondern um die Wiedererrichtung ging 398 • Der schriftlichen Fixierung wurde bei der Wahl des Bischofs von Arras nicht geringe Bedeutung beigemessen: Die Kleriker aus Arras verlangten die schriftliche Bestätigung des Erzbischofs Rainald von Reims, Lambert von Guines zum Bischof von Arras zu empfehlen 399 • Unsere Aufmerksamkeit verdient infolgedessen die Frage, ob diese historisch aktuellen Umstände und das Vertrauen auf schriftliche Beweisführung auch auf der Diktatebene Spuren hinterlassen haben. Der erste Bischof Lambert (1094-1115) stellte 23 Urkunden 400 aus. In einer Urkunde aus dem Jahre 1097 kommt die memoria-Wendung vor 40l • Die betreffende Urkunde soll vom Empfänger, dem Kapitel von Saint-Ame in Douai, verlaßt worden sein 402 , jedenfalls ist die Formulierung wortgleich in der Arenga einer bischöflichen Urkunde aus Cambrai für den gleichen Empfänger verwendet worden 403 • Es handelt sich dabei um den einzigen bestimmbaren Fall von Empfängerdiktat unter Lambert. Jedoch ist keine weitere wörtliche Anlehnung festzustellen 404 • Dem hier erwähnten Motiv, der Wichtigkeit der Niederschrift, begegnet man auch in der Corroboratio der beiden Urkunden, die in der bischöflichen Beurkundungsstelle verlaßt worden sind 405 • Die wortgleichen Formulierungen fanden weitere Verwendung unter Lamberts Nachfolger Robert I. (1115-1131)406. Es scheint, daß diese Formulierung gelegentlich als feste Formel in der bischöflichen Beurkundungsstelle gedient hat. Interessanterweise kann man die gleiche Formulierung in einem Chirograph 398 Ebd., [101 S. 156f. mit einer ausführlichen Beschreibung der dabei vorgelegten Texte, S. 334ff. 399 Ebd., [151, S. 162. 400 Zwei Urkunden davon sind verloren gegangen und nicht ediert. 401 Les chartes des eveques d ' Arras (1093-1203), ed. Benoit-Michel Tock, Paris 1991. Unten abgekürzt Arras. S.4 f., Nr. 2 (1097), Or., A: Scriptorum consuetudo ideo a patribus tradita tenetur ut, quod prolixitate temporis memoriam excederet, scripture superstes ad noticiam reduceret et rei geste argurnenturn evidenter in se contineret. Tock versteht unter Arenga hauptsächlich die Stelle nach der Intitulatio und vor der Notitia. Diese wird in der vorliegenden Analyse auch als Arenga definiert, weil sie inhaltlich die gleiche Funktion trägt. Vgl. Tock, Une chancellerie episcopale au XII" siede: le cas d 'Arras. Louvain-Ia Neuve, 1991. Hier S. 113 ff. 402 Ebd., hier S.41 und 300, siehe Liste. 403 Recherches sur le Hainaut ancien (pagus Hainoensis) du VIIe au XIIes., (ed.) Ch . Duvivier, Bruxelles 1865, Nr. 87 und Micheie Courtois (wie Anm. 364), S. 160. Nr. 059.844. 404 Für die weitere Analyse ist die angekündigte Edition von Mingroot zu erwarten. 405 Arras, S.12, Nr. 6 (1098), Abschrift vom 16.Jhs., C: Sane quoniam in deterius defluunt tempora nec actiones humane possunt memorari, nisi per litteras, hoc libertatis donativum consignari libuit presente pagina; vgl. S. 16f., Nr. 9 (1103), Or., C: Sane, quoniam in deterius defluunt tempora et actiones humane non possunt venire in noticiam posterorum, nisi per litteras, hoc libertatis donativum consignari Iibuit presente pagina; vgl. S. 79, Nr.63 (1138), Abschrift vom 15. Jh. , Bischof Alvisus, C: Sane, quoniam in deterius defiuunt tempora et humanus animus seu quadam oblivionis nebula obfuscatus vix hodie recognoscit hodiema, hujus nostre institutionis pactionem presentis pagina placuit assignari et, ut rata et inconvulsa permaneret, subscriptorum testium astipulatione corroborari; vgl. S. 23, Nr. 13 (1108), Abschrift vom 17. Jh., C: ... ut in memoriam teneatur scripto et meae humilitatis sigillo signari feci. 406 Vgl. Nr. 30 (1120), 32 (1122), 33 (1122).

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11. Bischöfliche Urkunden

über einen Streit beobachten, den Bischof Theobald und Dekan Rodulf von Amiens im Jahre 1171 im Auftrag Papst Alexanders III. zwischen dem Kloster Marchiennes und dem Domkapitel von Arras entschieden 407 • Diese fast wörtliche Übernahme läßt annehmen, daß die zeitlich früher abgefaßte bischöfliche Urkunde von Arras für das Kloster Marchiennes im Jahre 1122 als Vorlage gedient haben könnte. Da die bischöflichen Urkunden von Amiens leider nur teilweise publiziert vorliegen, ist eine weitere Analyse in bezug auf die Verbreitung dieser Wendung hier nicht möglich 408 • Die Fonnulierung dispersa fideliter recolligere et conservare findet sich in zwei bischöflichen Urkunden von Robert 1. 409 , die wohl vom Empfänger, dem Kloster Marchiennes, verfaßt wurden 4lO • Diese Wortauswahl findet sonst keine weitere Verwendung in Arras 411 • Doch kommt in einer Urkunde Karls des Schönen, des Herzogs von Flandern, die gleiche Fonnulierung vor 412 • Die Errichtungsgeschichte des Bistums Arras weist auf eine enge Beziehung zu den Grafen von Flandern hin. Möglicherweise ist hier ein Berührungspunkt auch auf der Sprachebene zu beobachten. Die Wendung dispersafideliter recolligere et conservare ruft auch eine Assoziation mit einer Urkunde von der Hand Wibalds von Stablo hervor 413 • Der hier benutzte Bewahrungsgedanke taucht hin und wieder in Arras auf414 • Im Vergleich mit Robert 1., unter dem das Empfängerdiktat deutlich zunahm, rückte das Kanzleidiktat unter dem nächsten Bischof Alvisus (1131-1147) wieder in den Vordergrund. Unter ihm wurden 55 Urkunden ausgestellt 415 • Er verfaßte selber 407 Papsturkunden in den Niederlanden (Belgien, Luxemburg, Holland und französischFlandern), von Johannes Ramackers. Berlin 1933/1934, S.270, Nr. 130 (1171), Or., C: Sane quoniam in deterius defluunt tempora nec actiones humane possunt memorari nisi per litteras, hanc concordiam inter prefatas eccJesias per nostram humilitatem ex precepto domini pape ordinatam consignari libuit presente pagina. 408 Leider konnte ich folgende Arbeit nicht heranziehen: Simone Lecoanet, Les actes des eveques d' Amiens jusqu'au debut du XIIIe siecJe, These de I'Ecole des Chartes, 1957. 409 Arras, S. 46, Nr. 31 (1121), Or., A: Post animarum salutem nichil est quod nostre sollicitius incumbat providentie, quam eccJesiarum dispersa fideliter recolligere et ad fratrum utilitatem redacta solide conservare; S.51, Nr. 35 (1122), Or., A: Post animarum salutem nichil est quod nostre sollicitius incumbat providentie quam eccJesiarum dispersa fideliter recolligere et ad fratrum utilitatem redacta solide conservare. 4\0 Tock, Une chancellerie (wie Anm.40l), siehe S.43 und 301, Liste der Urkunden. 411 Eine Urkunde für das Kloster Marchiennes bei Bischof von Cambrai soll als Vorurkunde für diese beiden Urkunden gedient haben. Tock, ebd. Die dort angeführte Untersuchung von Duvivier konnte ich nicht heranziehen. 412 Actes des comtes de Flandre (1071-1128), par F Vercauteren, Bruxelles 1938 (= Recueil des actes des princes belges 2), Nr. 111 (um 1122), S. 254-257; Vgl. Tock, Une chancellerie (wie Anm.40l), S.43. 413 HR S. 317, Nr. 156 (1132), A: Quoniam oportet nos, sicut promisimus, dispersa congregare et congregata conservare, nos in rebus eccJesie nostre nimium neglectis et dilapsis proposuimus Dei miseratione studium restaurandi cum omni sollicitudine impendere. 414 Arras, S. 88, Nr.72 (1141), Abschrift vom 12.Jh., C: Ut autem hujus auctoritatis paginam ratam et inconvulsam pennanere faciamus, presentium testium signa subnotari precepimus et ad memoriam futurorum conservari. 415 6 Urkunden davon sind verloren und nicht ediert.

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einige Urkunden in Reimprosa, von denen zwei eine Variation der oben behandelten Corroboratio beinhalten 416 • Die schriftbezogene memoria taucht wieder in den vierziger Jahren des 12. Jahrhunderts 417 auf neben der in Arras weitgehend geläufigen Wendung der Corroboratio wie ut autem hujus nostre constitutionis scriptum (pagina) stabile et inconvulsum permaneat,jideles testes fratres nostros annotare procuravimus 418 • In bezug auf die memoria-Wendung erwecken die Urkundenausfertigungen unter Alvisus jedoch keine weitere besondere Aufmerksamkeit. Aus der Amtszeit von Alvisus' Nachfolger Godeschalk (1151-1163/64) sind 47 Urkunden erhalten 419 • Die auf dem in der "Kanzlei" geläufigen Diktat basierenden Urkunden treten wieder deutlich zurück 420 • Hierbei taucht oblivio in den Arengen nur vereinzelt auf421 • Man findet den memoria-Ausdruck in einigen wohl von der "Kanzlei" verfaßten Urkunden 422 • Eine Bestätigungsurkunde für das Kloster Corbie enthält eine auffallige Arenga, die an Augustinus erinnert423 • Die betreffende Urkunde ist kopial überliefert, und die Verfasserschaft ist leider nicht genauer zu bestimmen. 416 Die folgende Urkunde von Bischof Alvisus ist gereimt aufzufassen. Tock, Une chancellerie (wie Anm.401), S. 141. Arras, S.79, Nr. 63 (1138), Abschrift vom 15.Jh., C: Sane, quoniam in deterius defluunt tempora/et humanus animus seu quadam oblivionis nebu1a1obfuscatus vix hodie recognoscit hodierna/, hujus nostre institutionis pactionem presentis pagina placuit assignari/et, ut rata et inconvulsa perrnaneret, subscriptorum testium astipulatione corroborari. Vgl. Nr.65 (1138). 417 Arras, S. 75, Nr. 59 (1134), Abschrift vom 13.Jh., A: ... memorie commendare scribendo curavimus; Nr.72 (1141); S.50, Nr.34 (1122), Or., A: Pastoralis eure sollicitudine astringimur et divinis ac apostolicis inforrnamur disciplinis ut in aecclesiarum utilitatibus sollicito vigilemus affectu ... C: Ut autem hec constitutionis nostrae pagina recta inconvulsaque perrnaneat et nulla a modo vetustate a memoria posteritatis recedat, sigilli nostri impressione auctorizavi et subtersignatarum personarum corroboravi. 418 Nr. 14, 15; mit wenigen Wortänderungen, vgl. Nr.16, 17, 18, 19,20,24,26,27,28,29,37, 40,46,56,60,62,67,70,71,74,75,76,77,79,80,83,86,87,89,92,93,97,100,102,113,148. 419 Vier Urkunden davon sind verloren und nicht ediert. 420 Tock, Une chancellerie (wie Anm.401), hier S. 301. 421 Arras, S. 114, Nr.101 (1153), Abschrift vom 13.Jh., A: Quoniam acta quibus oblivio antiquitatis aliquando irrepsit errorem posteris generare consueverunt, ... litteris et memorie mandare curavi, ... ; S. 126, Nr. 110 (1154), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam juxta illud sapientis generatio preterit et generatio advenit et ex habundantia iniquitatis refrigescit caritas christiane devocionis, quod presentis pagine caractere notamus, nullius temporis vel etatis oblivione deleri nulla denique volumus successione defraudari. Die Herkunft des dictamen dieser Urkunde ist unbestimmt. Vgl. Tock, Une chancellarie (wie Anm.401), siehe, S. 301, Liste der Urkunden; S. 139, Nr. 120 (1155-1157), Or., A: Quoniam acta priorum, quibus aliquando antiquitatis oblivio irrepsit, errorem posteris gene rare consueverunt, iccirco ego Godescalcus, ... bene et rationabiliter factum est, ut in memoriam transeat posterorum, scripto commendari et sigillo nostro confirrnari precepimus. 422 Nr. 101 (1153); Nr.115 (1157), S.132f., A: Quoniam rationis ordo exigit et episcopalis professio exhortatur et admonet, quod ea, que apresentibus pie et devote statuuntur, litterarum memorie commendata posteris cedant ad commodum; Nr. 120 (1155-1157). 423 S. 139f., Nr. 121 (1151-1157), Abschrift vom 13. Jh., A: Sciens ex defectu humane infirmitatis in multis nutare memoriam hominis ita ut, que prioris diligentia et pia sollicitudo

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Die Urkunden aus Arras weisen ein weiteres Spektrum auf: Die Wandelbarkeit der Zeit und die modern i als Zeitgenossen werden thematisiert 424 • Der Begriff moderni bedeutet hier die Gegenwärtigen, die die Wandelbarkeit jener Zeit miterleben. Der hier verwendete Begriff moderni hat ein neutrales Bedeutungsumfeld425 • Das Erinnerungsvermögen des unvollkommenen und vergänglichen menschlichen Wesens, so heißt es in der Urkunde, verblasse im Laufe der Zeit. Die Instabilität der menschlichen Natur wird dabei als Ursache genannt 426 • Dieser Aussage begegnen wir häufig im 12. Jahrhundert. Nicht nur die Urkunden der oben behandelten Bistümer wie Mainz und Magdeburg 427 , sondern auch die Privaturkunden der Grafen von Flandern zeigen Variationen dieser Zeitvorstellung, die das Leben des Menschen bestimmen soll428. In den unter Bischof Andreas (1163/64-1171) ausgestellten Urkunden kommt ebenfalls das Motiv der schriftlichen Absicherung als Mittel gegen die im Laufe der Zeit auftretende Vergeßlichkeit vor 429 • Auffällig ist hierbei, wie häufig die Vergeßsolemniter ad pacem terminare studuit, oblivionis obrepente vitio, posteri revocarint in litern quia quomodo fuit, qui compositioni insudaret, non fuit qui vel compositionem vel modum compositionis scripto commendaret, presentis testimonio pagine et sigilli mei appositione volui tarn futuris quam presentibus ecclesie filiis notum fieri. 424 S.157, Nr.138 (1163), Abschrift vom 12.Jh., A: Decedentium et succedentium mutabilitatem temporum quasi quedam inseparabilis semper subsequitur rerum oblivio, que, ea que geruntur a modernis, ad posterum non patitur transire noticiam, antiquante et obliterante preteritorum memoriam vite labentis irreparabili senio. Eapropter convenit litterarum apicibus annotari, quicquid a modemis pro communi utilitate elaboratum ad posteros necesse est derivari; vgl. S. 171, Nr. 153 (1167), Abschrift vom 14.Jh., A: Utiliter satis curandum est ut, quod a modemis ad honorem et utilitatem sancte ecclesie elaboratum est, ad posterorum noticiam derivetur et, ne inseparabilis temporum comes oblivio illud aboleat, litterarum apicibus denotetur; vgl. S.205, Nr.181 (1181), Abschrift vom 18.Jh., ... ad modemorum memoriam pertinet possederunt, confirmata esse inspeximus. 425 Der Begriff modern; befreite sich im 12. Jahrhundert allmählich von seiner negativen moralischen Bewertung. Vgl. Walter Freund, Modemus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters. Köln-Graz 1957. 426 S. 142, Nr. 124 (1159), Or., A: Sepe longitumitas temporum auferre solet noticiam rerum, labilis enim et caduca humane nature conditio, dum juxta morem deperit, subsequentem nimirum se a certitudine transducit. ... in perpetuum possidendas scripto et memorie commendare curavimus quarum elemosinarum nomina cum donatoribus suis subscripsimus. 427 Vgl. oben Kap. 11. 1. 428 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par F. Vercauteren, S.149, Nr. 63 (1114), Or., A: Quoniam dum labuntur anni et tempora mortalium hebet memoria, opere pretium est ut rem, cujus non convenit oblivisci, scripto commendemus, commendatam nostris successoribus observemus; S.248, Nr. l08 (1122), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam generatio preteritet generatio advenit, ne per labentia tempora rerum gestarum noticiam ignorantia interimat quoddam memorabile elaboratum in ecclesia Sancti Vedasti Deo donante, curia nostra dictante, litterarum artificio signandum consilium fuit; vgl. S.286f., Nr.124 (1119-1127; wahrscheinlich 1120), Or., A: Quoniam vita mortalium labilis, eorumque actio variabilis cito antiquatur et senescit, nisi memorie studeatur traditum iri libertates et cetera dona. 429 Arras, S. 171, Nr. 153 (1167), Abschrift vom 14. Jh., A: Utiliter satis curandum est ut, quod a modemis ad honorem et utilitatem sancte ecclesie elaboratum est, ad posterorum no-

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lichkeit als Grund für die schriftliche Fixierung genannt wird. Sie taucht in unterschiedlichen Ausdrücken auf, so daß eine feste Formularbenutzung hierfür ausgeschlossen werden kann. Die Verfasserschaft der 19 unter Andreas ausgestellten Urkunden ist schwer zu bestimmen. Es ist für sein Pontifikat keine Verwendung eines in der "Kanzlei" geläufigen Formulars feststellbar. Unter dem nachfolgenden Bischof Frumaud (1174-1183) taucht die Wendung ne vento oblivionis dispersa mit veränderter Stellung der einzelnen Worte viermal

auf430 • Der Ablauf der Zeit als Grund zur notwendigen schriftlichen Fixierung kommt hier wieder vor 43l • Die vergängliche memoria der Menschen mache die schriftliche Absicherung erforderlich 432. Eine Urkunde für das Kloster Mont-Saint-Eloi zeigt eine wörtliche Parallelität mit einer bei Erzbischof Wilhelm von Reims in demselben Jahr ausgestellten Urkunde für den gleichen Empfänger 433 • Eine für das Domkapitel ausgestellte Urkunde, die die Wahl des Kantors betrifft, enthält eine auffällige Arenga, die sonst nirgendwo verwendet wird 434 • ticiam derivetur et, ne inseparabilis temporum comes oblivio illud aboleat, litterarum apicibus denotetur; S. 175, Nr. 157 (1170), Kopial, C: Ne autem hoc vel oblivione pereat vel al icujus temeraria presumptione frangatur, presenti scripto et personarum, que interfuerunt, testimonio cOIToborare studui; S.176f., Nr. 158 (1170), A: Ea que rationabili prospectu in presentia nostra precisam habuerunt compositionem, necessarium duximus monumentis litterarum annotari et testibus roborari, ne vetustate temporis aut oblivione obsolescant aut sinistre offensionis scrupulo succrescente rescindantur. 430 S. 188, Nr. 167 (1175), Or., A: Que pro salute animarum ecclesiis ad sustentationem servientium Deo in elemosinam dantur, necessarium duximus litterarum monimentis annotari et sigillo nostro muniri et testibus cOIToborari, ne vento oblivionis dispersa vel a memoria elabantur vel per posteritatem malignam maliciose distrahantur; S. 191, Nr. 171 (1176), Abschrift vom 12. Jh., A: Que ad pacem et concordiam, mediante justitia, reducta sunt, necessarium duximus scripto mandari et testibus roborari, ne vento oblivionis dispersa a memoria excidant vel posteriori malignitate rescindantur, ut in litern et controversiam redeant; S.200, Nr. 177 (1180), Or., A: Que conferuntur ecclesiis in elemosinam, necessarium est scripto mandari et testibus roborari, ne vento oblivionis dispersa suo priventur effectu vel malignantium versutia veniant in disceptationem; S. 222, Nr. 196 (1174-1183), Or., A: Que conferuntur ecclesiis in elemosinam, necessarium est scripto mandari et testibus roborari, ne vento oblivionis dispersa suo priventur effectu vel malignantium versutia veni(ant) in disceptationem. 431 S.193, Nr. 172 (1176), Or., C: Quod ne cujuspiam injuriosa calumnia in futuro valeat immutari aut temporis diuturnitate posterorum memorie subtrahat, sigilli nostri impressione et testium subscriptione munire curavimus. 432 S.194, Nr. 174 (1177), Abschrift vom 13.Jh., A: propter hominum labilem memoriam, veterum auctoritas scriptis committere decrevit illa, que memoriter teneri et ad noticiam futurorum venire voluit. 433 Tock, une chancellerie (wie Anm.401), S.47. 434 S.218, Nr.l92 (1182-1183), Abschrift vom 13.Jh., A: Quoniam ex gravedine molis corporee memoria hominum labilis est et ex oblivione preteritorum sepissime questiones de recidivo oriuntur, unde et contentiones et scismata, iccirco ad evitandam tarn frequentem in ecclesia Dei pestilentiam compositionem, que inter nos de electione cantoris nostri per bonos viros concordie et pacis amatores intercessit, scripto memoriali dignum duximus commendare, quae talis est.

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11. Bischöfliche Urkunden

Aus dem Pontifikat BischofPeters I. (1184-1203) sind 119 Urkunden erhalten 435 • Die durchschnittliche Zahl der ausgestellten Urkunden pro Jahr verdoppelte sich im Vergleich zu den aus Godeschalks Amtszeit erhaltenen Urkunden. Die zunehmende Schriftlichkeit im administrativen Bereich ist auch in Arras wiederum seit den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts festzustellen. Mit wenigen Ausnahmen 436 kann die Verfasserschaft der bischöflichen Urkunden unter Peter I. auf die "Kanzlei" zurückgeführt werden. Trotzdem begegnet man unterschiedlichen Formulierungen. Dies trifft auch für die memoria-Wendung zu, die mit der gleichen Thematik auftaucht: die schriftlich gesicherte memoria soll gegen oblivio wirken 437 • Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich in Bischofsurkunden aus Arras keine einheitlichen, geradlinigen Entwicklungsstufen der schriftlichen Verwaltung erkennen lassen. Das Verhältnis der Kanzleiausfertigungen zu den Empfängerausferti13 Urkunden sind verloren und nicht ediert. Die Verfasserschaft von Nr. 205, 234, 286, 305 führt Tock auf die Empfanger zurück. Nr. 203,204,226,242,300 sind nicht zu bestimmen. Tock, Une chancellerie (wie Anm.401), hier siehe S. 302 f. 437 S. 245, Nr. 218 (1189), Abschrift vom 15. Jh., A: Quoniam ea, que legitime geruntur, a memoria hominum tractu temporis evanescunt, ipsa scriptorum decet annotatione firmari, per que ad posterorum noticiam immutabiliter deducantur. Vgl. Nr.234 (1192-1193); S. 251, Nr.225 (1190-1191), Abschrift vom 14. Jh., A: Presentium litterarum memoria certurn haberi volumus presentibus et posteris quod subscripte domus et homines eas tenentes subscriptos redditus; S. 253 f., Nr. 228 (1191), Abschrift vom 13.Jh., A: Quoniam rerum temporalium momentanea successio dampnose periculum oblivionis solet inferre mortalibus, consulte agitur, cum res gesta in auribus et oculis plurimorum vivacis beneficio scripti perpetatur, ne litis et discordie aliquando incurrat dispendium et ne immutari valeat processu temporis versutia perversorum ... C: Ut autem predictorum ordinatio rata perrnaneat nec imposterum negligentia vel oblivione possit dampnari, presentem paginam sigilli nostri impressione fecimus confirrnari et subscriptione abbaturn et presbiterorum, qui recognitioni predicte donationis interfuerunt, dignum duximus roborari; S.260, Nr. 236 (1193), Abschrift vom 13. Jh., A: Cum aliqua compositione vel arbitrio sunt sopita, ne in recidivum contentionis scrupulum processu temporis relabantur, convenit eadem fideli litterarum memorie commendari; S.276, Nr. 250 (1195-1196), Abschrift vom 13. Jh., A: Quoniam noverca memorie oblivio utiliter ordinata, nisi scripti memoria perhennenter processu temporis laborat, et nititur obscurare et posteris in futurum calumpniandi materiam ministrare, idcirco, quod bene, quod canonice factum est et collatum nostre Attrebatensi ecclesie, ad petitionem nostri capituli Attrebatensis memoriali scripture testimonio dignum duximus commendare; S. 279, Nr. 253 (1195-1196), Abschrift vom 18. Jh., C: Nos autem, rei veritatem diligenter ad memoriam revocantes, recordati sumus, ... Ne sibi, quod semel bene diffinitum est, in scrupulum recidive questionis valeat adduci, predictam donationem memoriali scripture testimonio fecimus commendari et sigillorum nostrorum muni mine roborari; S.280, Nr. 254 (1195-1196), Or., C: Ut autem, quod in presentia nostra factum est, ratum et stabile perpetuo perseveret, nos illud memoriali scripture testimonio fecimus commendari et sigilli nostri munimine roborari, subscriptis testium nominibus. Vgl. Nr. 255,256,257; S. 286, Nr.262 (1197), Or., A: Ad confirmandam rerum gestarum memoriam nichil efficacis arbitramur quam ut contractuum qualitas litterarum impressa apicibus diutius in sua vivat et vigeat novitate; S. 310, Nr. 291 (1201), Or., C: Nos igitur ad perpetuam memoriam presens scripturn fecimus fieri et sigilli nostri testimonio confirrnari, statuentes et sub interrninatione anathematis districtius inhibentes ne quis hanc nostre confirmationis paginam audeat infringere, vel ei in aliquo ausu temerario contraire. 435

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gungen ist unter den Bischöfen sehr unterschiedlich, und die Verfasserschaft der einzelnen Urkunden nicht immer genau zu bestimmen. Hinsichtlich der Formulierungen in den Arengen kann man jedoch immerhin eine Tendenz feststellen: Das zunehmende Gewicht der Verschriftlichung wird immer wieder zum Thema, während die Ausdrücke doch sehr variiert sind. Eine intensivere Beurkundungstätigkeit läßt sich in Arras dann wieder seit den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts feststellen, wobei der schriftbezogene memoria-Aspekt ebenfalls zum Ausdruck kommt. Das hier thematisierte Motiv beschränkt sich nicht allein auf die bischöflichen Urkunden aus Arras. Er kommt ebenfalls in den gräflichen Urkunden von Flandern zur Sprache. In Flandern kann man im weiteren Verlauf einen Wandel in der Amtsverleihung des Kanzlertitels und seiner Funktion verfolgen. Vielleicht ist es nicht ohne Bedeutung, einen kurzen Blick darauf zu richten. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts begegnet man einigen Personen, die den gräflichen Kanzlertitel tragen. In einer Urkunde vom Jahre 1080 wird ein Vizekanzler genannt 438 • Es entsteht dadurch der Eindruck, daß zu dieser Zeit unter dem Kanzler eine Art Organisation existierte. Der Kanzlertitel wurde dem Propst von St. Donatien in Brügge verliehen 439 • Dieses Amt war zwischen 1091 und 1127 mit Bertulph besetzt, der jedoch in den Urkunden keinen Kanzlertitel führte 440 • Man kann mit Recht fragen, ob der Kanzler tatsächlich schon im 11. Jahrhundert die Funktionen erfüllte, wie sie in der Urkunde vom Jahre 1089 definiert werden 44l • In einer Urkunde aus dem Jahre 1127 wird der neue Propst Roger von St. Donatien als cancellarius comitis genannt 442 • Jedoch kommt er in den Urkunden nicht immer mit diesem Titel vor 443 • Nach dem Ausscheiden Rogers wurde dem jüngeren Sohn des Grafen Dietrich, Peter von Elsaß, das Propstamt des Kapitels von St. Donatien verliehen 444 • Er war zu 438 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par F Vercauteren, Nr. 5 (1080). Ein Vizekanzler Reinardus rekognoszierte und schrieb die betreffende Urkunde nieder. 439 Ebd., S. 30, Nr.9 (1089), Or., Prepositum sane ejusdem ecclesie quicumque sit cancellarium nostrum et omnium successorum nostrorum, susceptorem etiam et exactorem de omnibus reditibus principatus Flandrie perpetuo constituimus, eique magisterium meorum notariorum et capellanorum et omnium clericorum in curia comitis servientium, potestative concedimus; Die Echtheit dieser Urkunde ist bei Oppermann in Frage gestellt. Ouo Oppermann, Die unechte Urkunde des Grafen Robert 11. von Flandern für St. Donatien zu Brügge von 1089, in: Revue beige de philologie et d'histoire XVI (1937), S. 178-182. Seine Argumente wurden jedoch von Verlinden und Strubbe u. a. zurückgewiesen. C. Verlinden, La charte du comte de Flandre Robert 11 de 1089 pour Saint-Donatien de Bruges, in: Revue beige de philologie et d'histoire XVI (1937), S. 1057-1059. E./. Strubbe, Compte rendu de Vercauteren, Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), in: Revue beige de philologie et d'histoire XVIII (1939), S.1018-1019. 440 A. Verhulst und Th. de Hemptinne, Le chancelier de Flandre sous les comtes de la maison d'Alsace (1128-1191), in: Bulletin de la commission royale d'histoire CXLI (1975), S. 267-311, hier S. 273. 441 Vgl. ebd., S. 274f. 442 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par Vercauteren, Nr.128. 443 Über die Problematik dieses Amtstitels sieheA. Verhulst und Th. de Hemptinne, Le chancelierde Flandre sous les comtes de la maison d' Alsace (1128-1191) (wie Anm.440), S.276ff. 444 Ebd., S.280f.

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II. Bischöfliche Urkunden

dieser Zeit erst zwölf Jahre alt, so daß nicht zu erwarten ist, daß er ein so wichtiges Amt allein ausgeübt hätte. Wahrend seiner Amtsdauer wird er niemals in den Urkunden als Kanzler bezeichnet. Als solcher kommt er lediglich in einer narrativen Quelle vor 445 • Es scheint, daß die an dieses Amt gebundene Kanzlerfunktion von einer anderen Person ausgeführt wurde 446 • Bei dieser Person könnte es sich um den aus der bedeutenden Familie des Burggrafen von Courtrai stammenden Desiderius handeln, der zugleich Archidiakon von Tournai, seit 1132 Propst von St. Pierre in Lilie und Kanoniker von St. Donatien in Brügge war 447 • Als Nachfolger trat Robert von Aire, der seit 1163 als summus notarius genannt war 448 , im Jahre 1168 ins Kanzleramt - wahrscheinlich durch seine enge Beziehung zu Philipp von Elsaß 449. Im Dezember 1167 stiegen Peter von Elsaß, der Propst von St. Donatien und cancellarius Flandrie, zum Bischof von Cambrai und Desiderius im Jahre 1169 zum Bischof von Therouanne auf450 • Unter Robert von Aire wuchs die Bedeutung des gräflichen Kanzlers im finanziellen Bereich neben seiner diplomatischen und politischen Tätigkeit451 • Robert wurde im Zeitraum zwischen August 1171 und März 1172 zum Bischof von Arras gewählt. Er hinterließ jedoch keine Urkunden als Bischof von Arras. Seine Amtszeit war nur kurz wegen seiner Berufung zum Bischof von Cambrai im Jahre 1174, als sein Vorgänger, Peter von Elsaß, Graf von Nevers wurde 452 • Unter Robert von Aire war seit 1169 Gerhard von Messines für die Beurkundung zuständig. Neben dem nur selten getragenen Titel cancellarius wird er noch als no445 Gesta episcoprum Cameracensium, Continuatio, ed. L. C. Bethmann, MGH SS. VII, Hannover 1846, S.508: Domnus Petrus, Phi1ippi nobi1issimi Flandriarum comitis frater couterinus, Sancti Audomari prepositus et Flandrie cancellarius. 446 Er wird in den Urkunden mit dem Kanz1ertite1 genannt. Les chartes de Saint-Bertin d' apres 1e Grand Cartulaire de Dom Ch. J. Dewitte, (ed.) D. Haingnere, Saint-Omer 1886, Nr.230 (1159), Desiderii Insulani tunc cancellarii; Chartes de I'abbaye de Saint-Martin de Tournai, Tome I., (ed.) A. d' Herbomez, Bruxelles 1898. S.96, Nr.93 (1163), Ego Desiderius cancellarius legi et subterscripsi; Weitere Literatur bei A. Verhulst und Th. de Hemptinne, Le chancelier de Flandre sous les comtes de la maison d' Alsace (1128-1191), S. 283, Anm.44. Über die Differenzierung des AmtstiteIs zwischen cancellarius Flandrie und cancellarius siehe ebd., S. 284 f. 447 Ebd., S. 282 f. 448 Ebd., S. 288 ff. 449 Inzwischen war der Dekan Haket im Amt, ebd., S. 291 f.; Datum des Antritts Roberts, ebd., S. 293 f. 450 Ebd., S. 290. 45\ Adriaan Verhulst, Initiative comta1e et developpement economique en Flandre au XIIe siede: le röle de Thierry et de Phi lippe d' Alsace (1128-1191), in: Miscellanea Mediaevalia in memoriam Jan Frederik Niermeyer, Groningen 1967, S. 227-240. Insbesondere S. 236 f. Über die wirtschaftliche Rolle der Notare, Bryce LyonlAdriaan Verhulst, Medieval Finance. A Comparison of Financial Institutions in Northwestern Europe, Briigge 1967. S.24f. Für weitere Literatur sieheA. Verhulst und Th. de Hemptinne, Le chancelier de Flandre sous 1es comtes de 1a mais on d'Alsace (1128-1191) (wie Anm.440), hier S. 269, Anm.7. 452 Ebd., S. 296ff.; Tock, Les chartes des eveques d' Arras (1093-1203), (wie Anm.401), S.XXXIX.

3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern

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tarius und sigillarius comitis bezeichnet 453 • Viel einflußreicher war Robert von Courtrai, Bruder des ehemaligen Kanzlers Desiderius von Courtrai. Robert wurde gelegentlich als cancellarius Flandrie genannt, obwohl er nicht Propst VOn St. Donatien, sondern seit 1153 Propst des Kapitels von Harelbeke und seit 1174 Propst von Lilie und - infolgedessen auch zum Kapitel VOn St. Donatien gehörte - war 454 • Eine Bulle aus dem Jahre 1177 von Alexander III. ist an Gerhard, Propst von St. Donatien, gerichtet. Die Identifizierung dieses Gerhard mit Gerhard von Messines ist nur schwer vorzunehmen 455 • Zutreffender ist eine Identifizierung mit Gerhard von Elsaß, Sohn Dietrichs von Elsaß, dessen genaues Einstiegsdatum in dieses Amt jedoch in der Forschung umstritten ist 456 • Es ist schwer zu bestimmen, seit wann die gräfliche "Kanzlei" wirklich ihre Beurkundungstätigkeit aufgenommen hat. Es gibt jedoch einige Anhaltspunkte: Die seit 1136 auftretende Formel ego capellanus ... oder cancellarius scripsi et subscripsi läßt annehmen, daß die praktische Beurkundungstätigkeit zu dieser Zeit vom Kanzler geleitet wurde, auch wenn dieser Ausdruck als eine Art Formel gebraucht worden sein mag. Nach den Untersuchungsergebnissen von de Hemptinne, Prevenier und Vandermaesen beträgt der Anteil der Kanzleiausfertigungen der erhaltenen gräflichen Urkunden während der Regierungszeit Dietrichs von Elsaß (1128-1157) 21 %, unter der gemeinsamen Regierung Dietrichs und seines Sohnes Philipp (1157-1168) 17 % für Dietrich und 31 % für Philipp. Wahrend der alleinigen Regierung Philipps zwischen 1168 und 1191 ist ihr Anteil auf circa 50% errechnet worden 457 • Unter der Regierung Balduins VIII. und Balduins IX. (1191-1206) stieg sie auf 59 % an 458 • Ein deutlicher Anstieg der Kanzleiausfertigung ist also unter der Regierung Philipps von Elsaß zu beobachten 459 , als man auch den wirtschaftlichen Aufschwung unter dem Kanzler Robert von Aire erlebte 460 • 453 A. Verhulst und Th. de Hemptinne, Le chancelier de Flandre sous les comtes de la mais on d'Alsace (1128-1191) (wie Anm.440), hier S. 299f., Anm. 84. 454 Ebd., S. 300f., Anm. 86. 455 Ebd., S. 302f. 456 Ebd., S. 303 ff. Insbesondere Anm. 89. 457 Therese de HemptinneIWalter Prevenier/Maurice Vandermaesen, La Chancellerie des Comtes de Flandre (12e-14e Siede), in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter, hg. von Gabriel Silagi, T.l, München 1984, S.433-454, hier S.441 f. 458 Walter Prevenier, La Chancellerie des comtes de Flandre, dans le cadre europeen, ala fin du XII' siede, in: Bibliotheque de I 'Ecole des Chartes 125 (1967), S. 34-93, hier S. 41 f. 459 Die Edition für 1168-1191 als Bd. 11. von De Oorkonden der Graven van Vlaanderen, Juli 1128-1191 September (hgg. von Th. De Hemptinne und A. Verhulst) ist noch in Vorbereitung. 460 Adriaan Verhulst, Initiative comtale et developpement economique en Flandre au XIIe siede: le röle de Thierry et de Philippe d'Alsace (1128-1191), (wie Anm.451), hier insbesondere S. 236f. Dazu weitere Literatur bei Therese de HemptinneIWalter Prevenier/Maurice Vandermaesen, La Chancellerie des Comtes de Flandre (l2e-14e siede) (wie Anm.457), S.442, Anm.31.

7 Iwanami

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H. Bischöfliche Urkunden

Bis 1127 ist die Zahl der Kanzleiausfertigungen relativ niedrig, und man findet dort recht variierte memoria- Wendungen. Diese Tendenz setzt sich in der folgenden Zeit fort 461 • Auffällig an den gräflichen Urkunden von Flandern ist die Wendung res gestarum 462 • Dabei stechen einige wiederholte Wendungen hervor, die eine Kanzleiausfertigung vermuten lassen 463 • Hier in den gräflichen Urkunden sind wieder die gleichen Wendungen gebraucht worden, denen wir schon in den Bistümern begegnet sind. Mit folgenden Aussagen begründet man die schriftliche Aufzeichnung: Die fortschreitende Zeit verursache die Vergeßlichkeit und Nachlässigkeit der Menschen 464 • Die Bosheit der nachkomDie folgende Untersuchung berücksichtigt die Zeit bis zum Jahre 1168. Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par F. Vercauteren, S. 212, Nr.94 (1119), Or., A: Quum res geste ex vetustate delentur oblivione nisi eommendentur seripto, sueeessorum memorie eollatos redditus tempore nostri principatus; S. 248, Nr. 108 (1122), Abschrift vom 12.Jh., A: Quoniam generatio preterit et generatio advenit, ne per labentia tempora rerum gestarum noticiam ignorantia interimat quoddam memorabile elaboratum in ecclesia Sancti Vedasti Deo donante, curia nostra dictante, litterarum artificio signandum consilium fuit; Oe Oorkonden der Graven van Vlaanderen, Juli 1128-1191 September. Bruxelles 1988. Bd.l: Regering van Diederik van de Elzas (Juli 1128-17 Januari 1168), door rh. De Hemptinne en A. Verhulst. Unten abgekürzt Oe Oorkonden der Graven van Vlaanderen. S. 151, Nr.91 (Mai-Okt. 1146), Abschrift vom 13.Jh., A: Quoniam generationum decessione ac successione rerum gestarum memoria interit, litterarum apicibus, quibus nil memorie fidelius servit, tam presentibus quam futuris memorandum relinquere congruum duximus; Nr. 112 (1148), Or., A: Quoniam ignorantia ve1 oblivio quasi quedam mors est rerum gestarum contra hec vero plurimum valet suffragium litterarum; S. 276, Nr. 174 (1157), Abschrift vom 13. Jh., A: Quoniam generatio generationi succedit memorie autem rerum gestarum maxime amministrant indicia litterarum; S. 383, Nr.240 (1164), Or. , A: In rebus gestis quas tenaci memorie eommendare disponimus, ne vento oblivionis distrahantur, scripti munitionem non imprudenter opponimus; Nr. 256 (1166), Abschrift vom 14. Jh., A: Quoniam memoriam rerum gestarum tenacius eonservant indicia liUerarum et ea que scripto commendantur faeilius ad memoriam revocantur; S. 431, Nr. 273 (1167), Abschrift vom 13. Jh., A: Idcirco rerum gestarum series litteris annotatur et privilegiis confirmatur, ne hane aut processus temporis oblivione deleat aut hominum malicia infringere vel turbare prevaleat. 463 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par Vercauteren, S. 189, Nr.84 (11 17), Or., A: Quoniam humane menti ex rerum temporumque motu pleraque gestorum surrepit oblivio, cautum est a sapientibus hanc litterarum annullare suffragio. Placuit itaque presens negotium carte committere, ne per ignorantiam posteritas nostre sanetionis pactum temptet subvertere; Oe Oorkonden der Graven van Vlaanderen, S. 103, Nr. 61 (25 Dez. 1141-24 Dez. 1142), Abschrift vom 18. Jh., A: ... quoniam ex rerum temporumque mutatione pleraque gestorum subrepit oblivio, est prudentium cautio hanc litterarum instrumento et suffragio firmare. Placuit igitur presens negotium pagine committere ne posterorum, quod absit, malitia vel ignorantia hoc tentet subvertere. 464 Oe Oorkonden der Graven van Vlaanderen, Nr. 61 (1141-1142); S. 190, Nr. 116bis (1149), Abschrift vom 14. Jh., A: ... fiunt gesta commemorie eommendare et ne diuturnitate temporum in oblivionem veniant, ad eorum qui futuri sunt notitiam seribendo transmittere; vgl. Arras, S. 253f., Nr. 228 (1191), Abschrift vom 13.Jh., A: Quoniam rerum temporalium momentanea sueeessio dampnose periculum oblivionis solet inferre mortalibus, consuite agitur, cum res gesta in auribus et oeulis plurimorum vivacis beneficio scripti perpetuatur, ne litis et discordie aliquando incurrat dispendium et ne immutari valeat processu temporis versutia perversorum. C: Ut autem predictorum ordinatio rata permaneat nec imposterum 461

462

3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern

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menden Menschen solle in der späteren Zeit nicht zum Streit führen 465 • Das menschliche Handeln sei nicht beständig, so daß dieses der schriftlich gesicherten Erinnerung bedürfe 466 • Die gute Tat solle auch als Vorbild dienen 467 • Hier scheint ein ausgeprägteres Bewußtsein vom Zeitverlauf ein wesentliches Motiv für die Urkundenausstellung gewesen zu sein. Auf Grund dieser Zeitauffassung liegt eine Zukunftsorientierung nahe, da man davon ausging, daß im Laufe der Zeit das leicht verfallende Gedächtnis zur Vergessenheit führen würde, so daß es nützlich sei, Ereignisse und Handlungen schriftlich festzuhalten. (2) Laon

Die Diktattradition von Laon kann sowohl anhand des Chartulars von St. Vincent in Laon 468 als auch indirekt anhand der Urkunden von St. Martin von Toumai 469 verfolgt werden. Das Chartular von St. Vincent in Laon, das Stücke vom Jahre 886 bis 1296 enthält, bietet hinsichtlich des damaligen Zeitverständnisses einen ergänzenden Aspekt. Schon in der Mitte des 10. Jahrhunderts taucht die Wendung per succedentium curricula tempo rum einmal in einer bischöflichen Urkunde aus Laon auf470 • Danach verwendete man im Jahre 1081 eine andere tempora-Formulierung mit obnegJigentia vel obJivione possit dampnari, presentem paginam sigilli nostri impressione fecimus confirmari et subscriptione abbaturn et presbiterorum, qui recognitioni predicte donationis interfuerunt, dignum duximus roborari. 465 Oe Oorkonden der Graven van Vlaanderen, Nr. 273 (1167), wie Anm. 462. 466 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par Vercauteren, S. 163 f., Nr.70 (1115), Abschrift vom 12.Jh., A: Quum in hurnanis actibus nichil est soJidum, si quid de presenti future posteritati mandandum est, Jitterarurn artificio commendandum est; vgl. Arras, S. 190, Nr. 170 (1176), Abschrift vom 18.Jh., A: Mutabilitatis humane constitutio statusque rationabilis et ex pia intentione dispositus, obJivionis intuitu plerumque necnon quam vero emulorum suggestionibus importunis impeditus, nisi et per scriptorum permanentiam memoriam existet et autenticis confirmationibus inconvulsus perseveret, inde est quod presenti cyrographo universitati vestre notum esse volumus. 467 Actes de Comtes de Flandre (1071-1128), par Vercauteren, S.279, Nr. 121 (1126), Or., A: Quia conditione naturaJi vita mortaJium 1abilis antiquatur eorumque actio variabilis cito obJivioni traditur, predecessorum nostrorum exempJis instruimur quatinus dona ecclesiis legaliter tradita, litteris adsignari curemus. Horum exempla pro viribus meis cupiens imitari. 468 Cartulaire de Saint-Vincent de Laon, par Rene Poupardin, in: Memoires de la Societe de I'Histoire de Paris et de l'Ile-de-France 29 (1902), S.173-267. 469 Chartes de I'abbaye de Saint-Martin de Tournai, Tome 1., ed. A. d' Herbamez. Bruxelles 1898. 470 Cartulaire de Saint-Vincent de Laon, Nr. 5 (966-969), S. 189, Org. Interessant ist zu beobachten, daß sie zu der gleichen Zeit auch in einer Urkunde von Saint-Mihiel vorkommt. Vgl. Chronique et chartes de I'abbaye de Saint-Mihiel, par Andre Lesart, Paris 1909-1912. S. 125, Nr. 28 (967), Or., C: Et ut hoc remissionis scriptum per succedentia tempora permaneret stabile et inconvulsum, manu propria illud firmavimus manibusque nostrorum fidelium clericorum scilicet et laicorum roborandum esse decrevimus, stipulatione subnixa. 7*

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11. Bischöfliche Urkunden

livio 471 • Im Jahre 1146 erscheint noch eine weitere Formulierung, die im Zusammenhang mit menschlicher Unvollkommenheit steht, diesmal in der Arenga 472 •

Unter den Urkunden von St. Martin in Tournai findet man bis zum Jahr 1200 insgesamt 18 bischöfliche Urkunden aus Laon 473. Schon in einer Urkunde aus dem Jahre 1115 ist der dortige cancellarius erwähnt. Zwischen 1115 und 1181 waren fünf Kanzler in Laon tätig 474 • In bezug auf die oblivio-Formulierung ist bei einem der Kanzler eine individuelle Neigung zu beobachten. Der Kanzler Angotus gebrauchte folgende Formulierung 475 : Ad nos pertinet que in presentia nostraftunt attestari, et

ne oblivionis nubilo deleri aut injirmari possint, scripto commendari et posteris notumfieri .... Angotus cancellarius relegit, scripsit et subscripsit. Diese Formulierung

ist auch mit wenigen Änderungen in zwei weiteren Urkunden des Angotus benutzt 476 •

Man findet noch weitere memoria- Wendungen in den bischöflichen Urkunden von Laon 477 • In einer Urkunde wird erklärt, daß die Niederschrift nützlich sei, um die Erinnerung an die geschehene Sache und die Wahrheit der Sache klarer zu bewahren und in der späteren Zeit Streit zu vermeiden. Andere Belege der memoria-Verwendung bieten eine Schenkungsurkunde 478 sowie eine Urkunde über eine getroffene Vereinbarung. Die Arenga der Urkunde aus dem Jahre 1168 lautet 479 : nicht nur wegen der menschlichen Unvollkommenheit, sondern auch wegen des Zeitverlaufs verfielen die menschlichen Erinnerungen an die geschehene Sache, so daß es nötig sei, sie schriftlich zu bekräftigen, damit sie 471 Cartulaire de Saint-Vincent de Laon, S.200, Nr. 15 (1081), C: Ut autem hec donatio nostra firma permaneat et inconvulsa, et pro temporis decursione ne quaquam absorberet oblivione, hec fieri scripturn precepi et propria manu signum crucis impressi. 472 S.213, Nr.28 (1146), A: Quoniam eaque geruntur turn ex transitu temporum turn ex defeetu hominum ad nulata evaneseunt, necesse est scripto mandari quod convenit posteris noturn lieri. 473 Chartes de I'abbaye de Saint-Martin de Tournai, Nr.27, 28, 29, 30, 47, 57, 60, 63, 64, 75, 81,83,95,100,112,121,132,135. 474 Ansellus: Nr.27, 28, 29, 30 (1115): Radulfus: Nr.47 (1131); Bartholomeus: Nr.57 (1141); Angotus: Nr.60 (1145), Nr. 63,64 (1147), Nr. 75: (1152), Nr. 81 (1157), Nr.95 (1163), Nr.IOO (1166); Willelmus: Nr.121 (1177), Nr.132 (1181), Nr.135 (1183). Willeimus soll im Jahre 1171 Kanzler geworden sein, weil er in einer Urkunde aus eben diesem Jahr (Nr. 112) nur schreibt: Willelmus scripsit. 475 Nr. 75 (1152). 476 Nr.95 (1163) und Nr. 100 (1166). 477 S. 123 f., Nr. 121 (1177), A: Utile est et ab antiquo prospectum, ut seriptum in pactionibus intercedat, per quod et gestorum memoria eonservetur, et rei veritas clarius elucescat, si quid inde postmodum questionis ernerserit. ... Ego Willelmus cancellarius scripsi. 478 S. 66, Nr.61 (1145), A: Scriptorum consuetudo a patribus statuta ideo tenetur, ut quod prolixitate temporis memoriam exeederet, scriptura superstes ad memoriam reduceret, et rei geste argumentum in se evidenter obtineret. 479 S. 107, Nr. 105 (1168), A: Quoniam res gestae ab hominibus, tarn ipsorum hominum defectu quam temporum decursu, facHe a memoria dHabuntur, necesse est scripto mandari que a posteris non expedit ignorari.

3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern

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von den Nachfolgern nicht ignoriert werde. In Laon ist eine solche Begründung für die schriftliche Fixierung anhand weniger Beispiele zu belegen. (3) Tournai Die Überlieferung von St. Martin, deren größter Teil Schenkungen betrifft, weist wichtige bischöfliche Urkunden aus dem Umkreis von Tournai auf. Im Urkundenbestand von St. Martin in Tournai 480 findet man insgesamt 23 bischöfliche Urkunden 481 mit längeren Texten 482 • Nur eine dieser Urkunden zeigt eine memoria-Wendung. Ihre Verfasserschaft ist nicht genau zu bestimmen. Außer in den bischöflichen Urkunden tauchen memoria-Wendungen auch in den klösterlichen Urkunden von St. Martin auf483 • Eine im Jahre 1187 verfaßte Urkunde hat eine Arenga, die mit derjenigen einer im Jahre 1168 in Laon ausgestellten Urkunde wörtlich übereinstimmt 484 • Eine weitere Schenkungsurkunde eines Ritters für St. Martin weist ebenfalls eine mit ihnen vergleichbare Formulierung auf485 • Die Wandelbarkeit der Zeit und das kurze Leben der Menschen halte nichts fest, und wegen der Vergeßlichkeit verschwinde alles, so daß die schriftliche Fixierung nützlich sei, damit die Nachwelt nichts ignoriere. Dieser Ausdruck findet sich weiterhin in einer Urkunde, in der ein Sohn bestätigte, daß seine Mutter eine Schenkung zugunsten von St. Martin vorgenommen habe 486 • Der gleichen Formulierung apicibus annotare quod posteris expediat non ignorare begegnet man erneut in zwei Urkunden, die den Abt von Anchin betrafen 487 • Eine andere Urkunde von St. Martin zeigt eine weitere memoria-Wendung 488 • 480

1898.

Chartes de I'abbaye de Saint-Martin de Tournai, par Armand d'Herbomez. Bruxelles

481 Nr. l, 3, 5, 10,32,34,52,53, 56,59,62,67 (als Bischof von Tournai), 68, 69, 74, 97, 99, 101,106,107, 116,133,137. Die Publikation des Chartulars der Bischöfe von Tournai wird erwartet. Vgl. Cyriel Vleeschouwers, Les cartulaires des eveques de Tournai. Etude diplomatique et notes sur I'histoire et la composition de ces cartulaires ainsi que sur leurs scribes, in: Bulletin de la Commission royale d'histoire CXLIII (1977), S.I-I 13. 482 Dieses Urkundenbuch beinhaltet eine Reihe kürzerer Notizen für Schenkungen. 483 So z. B. S. 149, Nr. 142 (1187), A: Quoniam res geste ab hominibus, tarn ipsorum hominum defectu quam temporum decursu, facile a memoria dilabuntur, necesse est scripto mandari que a posteris non expedit ignorari; S. 157, Nr. 150 (I 189), A: Quoniam, ut a'it apostolus, quod antiquatur et senescit prope interitum est, idcirco ne per revolutionem temporum oblivione depereat, litteris mandare curavimus quod in futurum reminisci volumus. 484 Nr. 105 (1168), wie Anm.479. 485 S. 147, Nr. 141 (1187), A: Quoniam ob temporum mutabilitatem et vite hominum brevitatem nulla diu certa haberi possunt, sed oblivione cuncta depereunt, nisi suffragio litterarum muniantur, iccirco placuit apicibus annotare quod posteris expediat non ignorare. 486 S. 159, Nr. 152 (1190), A: Quoniam homo natus de muliere brevi vivit tempore, et venientia tempora oblivione cuncta operiunt, iccirco volumus litterarum appicibus annotare quod posteris expediat non ignorare. 487 S. 155, Nr. 148 (1189), A: Quoniam preteritis presentia et presentibus futura succedunt, et cum lapsu temporum labitur etiam noticia rerum, idcirco volumus apicibus annotare quod

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11. Bischöfliche Urkunden

Im Vergleich mit den monastischen Schriftzeugnissen anderer Klöster wie Le Mans, Lerins und Molesme, die meistens Schenkungen behandeln, taucht die memoria-Wendung in den Urkunden von St. Martin in Tournai zeitlich später auf, und ihre Zahl ist sehr begrenzt. Hier liegt keine breite Untersuchungsbasis vor, aber das Auftreten der memoria-Wendungen in Tournai konnte seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts belegt werden.

(4) Amiens Die im Chartular des Domkapitels von Amiens überlieferten Urkunden, die meistens Schenkungen betrafen, überliefern einen weiteren Aspekt von memoria. Der Kanzler als bischöfliches Amt ist wie in anderen französischen und lothringischen Bistümern auch in Amiens im 12. Jahrhundert feststellbar. Der erste nachweisbare Kanzler ist Symon, der ab 1145 in den Urkunden auftritt489 • In einer von ihm vorgelegten Urkunde kommen die memoria-Wendungen mit dem tempus-Gedanken zuerst in der Corroboratio 490 und dann in einer anderen Urkunde in der Arenga 49 \ zum Ausdruck. Unter ihm arbeitete ein Notar Robertus, der später als Nachfolger das Kanzleramt übernahm 492 und einige Formulierungen selbständig abgefaßt zu haben scheint 493 • posteris expediat non ignorare; vgl. S. 173, Nr.168 (1197), A: Ad sopienda omnium fomenta jurgiorum necessarium duximus monimentis litterarum tradere quod posteris nostris expediat non ignorare.

488 S.158, Nr.151 (1189), A: Sollemne factum sacrarum presidio litterarum in thezauris signatum memorie contra versutarum prestigia litium ne emergant, robustius convalescit. 489 Cartulaire du chapitre de la catMdrale d'Amiens. Tome I. par 1. Roux, Amiens 1905. Nr.18,19. 490 Ebd., S. 34, Nr. 24 (1144-1146), C: Ne igitur rei geste noticia, videlicet quo pacto vicecomitatus iste in jus et possessionem Ambianensis ecclesie tandem devenerit a memoria hominum excidat sed ut decurrente tempore a modernis in posteros per etates et ipsa decurrat, presens scripturn facimus et sigillo nostro communimus, et hujus elemosine temerarios perturbatores excommunicamus. Ego Symon cancellarius relegi. Datum per manum Roberti Gigiantis notarii. 49\ S.41 f., Nr.30 (1149), A: Quoniam rerum noticia a memoria hominum per temporum intervalla plerumque dilabitur, ordo rei in presenti geste ad tenendam ipsius memoriam et excludendam omnem controversiam litteris assignatur.... Ego Symon cancellarius relegi. Datum per manum Roberti notarii. 492 Ab 1167. 493 S.42 f., Nr. 31 (1150), A: ... ad memoriam revocare et in medium producere necessarium duximus, quatinus veritas rei geste ad posteros transeat et error ambiguitatis excludatur, et omnis super hoc deinceps contentio quiescat. ... Datum per man um Roberti notarii; S. 51 f., Nr. 35 (1152), A: ... quedam que Ambianensi ecclesie diebus nostris vel ante collata sunt scripto et memorie tradere, et ipsum scripturn pontificalis bulle munimine corroborare curavimus . ... Datum per manum R. Gigantis; S. 78 f., Nr. 55 (1176), C: Itaque quod longo temporum intervallo a memoria dilabi per oblivionem vel dissolvi per contentionem poterat, presentis scripti testimonio indissolubili firmitate persistat, et presentibus et futuris semper tanquam novum ac velut redivivum accedat. ... Datum per manum Roberti cancellarii.

3. Vergleich mit den nordfranzösischen Bistümern

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Die Intensität der Verwendung des memoria-Begriffs ist wegen der relativ geringen Zahl erhaltener Urkunden - circa 100 Urkunden bis zum Jahre 1200 - nicht genauer zu ennitteln. Doch zeigen die Schriftzeugnisse von Amiens variierte memoria-Wendungen 494 • Wörtlich gleichen Fonnulierungen begegnet man hierbei selten 495 • Interessant zu beobachten ist hingegen die wiederholte Verwendung des Begriffs res gestae 496 • In einer Urkunde, die vom Dekan von Amiens, Radulph, für St. Quentin ausgestellt wurde, kommt dies ebenfalls vor 497 • Dieser Dekan stellte einige Urkunden anstelle des Bischofs von Amiens aus. Dort taucht wieder der Begriff memoria 498 auf. Dies deutet darauf hin, daß die Wendung mit res gestae in den Schriftzeugnissen des Domkapitels zu dieser Zeit geläufig war. Neben diesem memoria- Verständnis 499 begegnet man in Amiens der traditionellen, personenbezogenen liturgischen memoria 5OO • Wie in den anderen Bistümern ist 494 S. 60f., Nr.42 (vor 1164), A: Cum ad rerum retro gestarum noticiam recolendam litterarum adnotatio admodum necessaria sit ut videlicet nobis tacentibus, sive etiam de medio cedentibus, ipse quodammodo loquantur, et que multa temporum antiquitate a memoria exeiderunt earum formulis quotiens in manum venerint legentium vel auditorum sensibus renascantur.... Ego Symon cancellarius relegi. Datum per manum Roberti Gigantis notarii. 495 Eine wörtliche Übernahme ist bei folgender COIToboratio zu beobachten. Nr. 55 (1176), C: Itaque quod longo temporum intervallo a memoria dilabi per oblivionem vel dissolvi per contentionem poterat, presentis scripti testimonio indissolubili firmitate persistat, et presentibus et futuris semper tanquam novum ac velut redivium accedat. ... Datum per manum Roberti cancellarii; S. 107, Nr. 80 (1191), C: Itaque quod longo temporum intervallo a memoria dilabi per oblivionem vel dissolvi per contentionem poterat, presentis scripti testimonio indissolubili firmitate persistat, et presentibus et futuris semper tanquam novum ac velut redivivum accedat. 496 Oben, Nr. 24,31,42; S. 64f., Nr.45 (1165-1169), A: Quoniam exiguis momentis status rerum humanarum novatur, et tarn processu temporum quam succedentium mutatione personarum indesinenter variatur, ... , litteris explanare necessarium duximus, quatinus rei geste noticia ad posteros transeat et presentis scripti attestatione indissolubili firmitate persistat. ... C: Hec igitur singulis expressa capitulis, ne aut oblivio deleat, aut multiformis malorum versutia a statu suo mutare vel alienare prevaleat, presens scrip turn facimus et pro conservando jure ecclesie sigilli nostri impressione communimus, et hujus rei temerarios pervasores excommunicamus .... Ego Robertus cancellarius relegi; S. 66, Nr.46 (1170), A: Res gestas litteris annotare non incongruum videtur, ut quod bono studio geritur per malum discordii non turbetur. ... C: ad majus rei ejusdem firmamentum et tenendam memoriam testes de capitulo nostro qui huic operi interfluerunt subscribimus .... Datum per manum Roberti Gigantis cancellarii. 497 Papsturkunden in Frankreich, Neue Folge 7. Bd.: Nördliche IIe-de-France und Vermandois, (hg.) Dietrich Lohrmann, Göttingen 1976. S.421, Nr. 143 (1171), Or., Dekan Radulfvon Amiens entscheidet einen Streit zwischen dem Kapitel von Saint-Quentin und der Abtei SaintQuentin-en-l'Isle (Chirograph), A: Res gestas litteris assignare et posterorum memorie commendare non incongruum uidetur, ne quod bonD studio geritur, aliquando per malum discordie a statu rectitudinis moueatur. 498 Cartulaire du chapitre de la cathedrale d' Amiens. S. 63 f., Nr.44 (1167), C: Ad tendendam igitur hujus rei memoriam presens scriptum facimus et in cyrographum dividimus et testes de capitulo subscribimus domnus Theobaldus episcopus, tunc temporis archidiaconus, ego Radulphus decanus ... Datum per manum Roberti cancellarii. 499 S. 70, Nr.51 (1172), A: ... ut omne os obstruatur memoriale cyrographum conscribimus, ... C: et ad tenendam ejusdem rei memoriam et omnem contentionis occasionem enec-

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11. Bischöfliche Urkunden

der tempus-Gedanke zu beobachten. Bemerkenswert ist hierbei eine Urkunde, in der der Wechsel der Generationen (mutatio personarum) mit dem Zeitverlauf thematisiert wird 50I • b) Zusammenfassung Anhand der hier untersuchten Urkunden der Suffraganbistümer von Reims, die leider eine nur unvollständige Untersuchungsbasis bieten, läßt sich lediglich eine grobe Tendenz skizzieren. Die Analyse der Urkunden aus Arras zeigt, daß es unter den Bischöfen unterschiedliche Formen der schriftlichen Verwaltung gab. Eine intensive Beurkundungstätigkeit kann in Arras ab den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts festgestellt werden. Hier begegnet man variierten memoria-Formulierungen. Im Vergleich zu Arras wird der schriftbezogene memoria-Aspekt in den gräflichen Urkunden von Flandern früher erwähnt. Die variierten Formulierungen lassen eine Formularbenutzung unwahrscheinlich erscheinen, jedoch kommt die gleiche Thematik vor. Trotz der dünnen Quellenbasis zeigen die Schriftzeugnisse von Laon, Tournai und Amiens die gleiche Tendenz: In den Arengen wird gesagt, daß die schriftlich bewahrte memoria dem Zeitverlauf entgegenwirken solle. Das Auftauchen dieser Wendung läßt sich im geamten Untersuchungsgebiet seit der Mitte des 12. Jahrhunderts beobachten.

4. Bistum Angers Die Schriftzeugnisse von Angers bieten einen Überlieferungskomplex, den die Wechselwirkung zwischen der Grafschaft Anjou und den kirchlichen Institutionen des Bistums Angers bestimmt. Es können die dort vorkommenden Wendungen nur andam sigillo nostro et sigillis utriusque capituli confinnatum .... Ego Robertus cancellarius subscripsi. 500 S. 128ff., Nr.95 (1197), ... , Iitteris annotare curavimus aditientes quedam alia que a temporibus antiquis apredicta ecclesia quiete et pacifice possessa, diuturnitate temporum stabilitatem meruerunt habere perpetuam. Hec igitur omnia singulis distincta capitulis et propriis expressa nominibus inserere pagine subsequenti et posterorum memorie commendare precepimus .... pro anima patris sui et matris sue et memoria eorum una die annuatim in perpetuum ibidem recolenda .. . possessionum antiquarum innovantes memoriam, ... Datum per manum Manasserii cancellarii; S. 135, Nr. 100 (1198), A: eum lex pridem digito Dei scrip ta patrem et matrem nos honorare precipiat et lex idem doceat naturalis, que non calamo nec attramento scripta sed innate caritatis duIcedine filiorum manet impressa pectoribus, vir venerabilis et dilectus noster Ebrardus precentor ecclesie nostre, naturalis et scripte legis non immemor, patrem et matrem suam quos viventes honore debito coluerat post mortem etiam propensius studuit honorare. Ad perpetuam siquidem ipsorum memoriam in ecclesia nostra singulis annis recolendam, .... 501 Nr.45 (1165-1169), wie Anm.496.

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unter Vorbehalt analysiert werden, weil unsere Untersuchung auf einzelnen Editionen basiert, die meistens keine Angaben über Original oder Abschrift machen 502 •

a) Domkapitel Das Chartular des Domkapitels von Angers stellt eine Untersuchungs grundlage für die Schriftzeugnisse der Bischöfe von Angers und der Grafen von Anjou dar. Eine Traditionsurkunde des Grafen Fulco III. Nerra aus dem Jahre 1000 503 enthält den Ausdruck memoriam recitare, der sehr selten vorkommt 504 , und der anderen in den Urkunden enthaltenen Wortwendung rei publicae utilitatibus begegnet man in den Urkundenarengen ebenfalls nicht häufig 505 • Eine andere Formulierung ad memoriam revocare wird um 1000 bei einer Streitfrage zwischen Rainald 11., Bischof von Angers, und Adeligen verwendet 506 • Diese Arenga diente später als Vorlage 507. In den Urkunden der Grafen von Anjou taucht das Motiv der schriftbezogenen memoria zweimal auf508 • In den bischöflichen Urkunden von Angers begegnet man darüber hinaus weiteren memoria-Wendungen 509 • In einer Urkunde des Bischofs 502 Hier können nur vorläufige Ergebnisse dargestellt werden, die weiterer Untersuchungen bedürfen. Für ausführliche Untersuchungen dieses Gebiets siehe lohn Avril, Le gouvernement des eveques et la vie religieuse dans le diocese d'Angers (1148-1240), Lilie 1984; O. Guillot, Le comte d' Anjou et son entourage au XIe siede, 2 vol., Paris 1972. 503 Cartulaire noir de la Cathedrale d' Angers, par eh. Urseau. Paris-Angers 1908. S.52, Nr. 22 (1000), A: Elementa apicum idcirco scribuntur ut de his rebus de quibus in longitudinem dierum memoriam recitare debemus litteris praenotemus et ex quacunque sit causa, tarn pertinente ad ecdesias quam de rei publicae utilitatibus, propalanda in curte lex antiqua decrevit quod per caracteres scripta et inconvulsa permaneat. 504 In anderen Urkunden habe ich ihn nicht gefunden. 505 Der Verweis auf die lex antiqua dient hier der Bekräftigung älterer Rechtstraditionen. 506 S. 56, Nr.25 (996-1005), A: Omne quod ad memoriam revocare volumus sacris litterarum institutionibus praenotandum decernimus, ut a successoribus memorabilius teneatur firmiusque credatur. 507 S. 114, Nr. 54 (1081-1093), A: Omne quod ad memoriam revocare volumus literarum institutionibus praenotandum decernimus, ut a successoribus nostris memorabi1ius teneatur firmiusque credatur. 508 S. 60, Nr.27 (993), A: Litteralis memoria idcirco scribitur ut ea quae nequimus retinere verbis per elementa reducantur ad memoriam; S. 94, Nr.45 (1049), A: ... utile valde, immo necessarium majorum exemplaribus comprobatum habemus gestae rei notitiam superstitibus in posterum profuturam scripturae memoriae commendare. 509 S. 236, Nr. 144 (1120-1123), A: Quaecunque posteris nostris transmittere veraci memoria ac firma credu1itate reservanda desideramus, oblivioni noxiae summopere subtrahendo, litterali memoriae commendare curamus; S. 286 f., Nr. 193 (1136-1138), A: Ad depellendam oblivionis vel ignorantiae nebulam nihil magis ve1 aeque esse perpenditur quam si custodiae litterarum committitur quod perpetuum desideratur haberi .... per hujus scripti testimonium in perpetuam memoriam per omnes successiones extendere cupio. Vgl. unten Nr.167; S. 301 f., Nr.203 (1131), A: Ad depellendum oblivionis vel ignorantiae nichil magis vel aeque efficax esse perpenditur quam si litterarum memoriae committitur quod perpetuum desideratur haberi.

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H. Bischöfliche Urkunden

Rainald III. von Martigne aus dem Jahre 1103 werden das kurze Leben der Menschen und ihre unsicheren Erinnerungen erwähnt 5IO • Die Urkunden des Domkapitels enthalten auch Wendungen, die die schriftlich zu fixierende memoria betreffen 511. In den Schenkungsurkunden kommt dies wiederholt zum Ausdruck 512 : sowohl der VergeBlichkeit als auch Unkenntnis könne man sich besser widersetzen, wenn schriftlich fixiert werde 513 . Dieses Vertrauen auf schriftliche Bewahrung wird wiederholt betont 514 • In den Streitfragen taucht dieses ebenso auf5l5 • Auch in den Laienurkunden 516 kommt die durch das unsichere menschliche Wesen bedingte memoria vor 5l7 • 510 S. 199, Nr. 115 (1103), A: eum vitam hominum brevem et memoriam humanam labilem considerarem, duxi admodum necessarium memoriae omnium nostrum tradere. 511 S. 142, Nr.74 (1104), A: Ne forte, quod absit, oblivio noxia, semper imminens, memoriae nostrae aciem obtundat, quae praesentes agitamus posteris nostris transmittere per apicum lineamenta satagamus; S. 146, Nr.77 (1109), A: Quaecumque oblivionis noxiae tenebrosa caligine involvi negligenter ac supprimi nolumus, litterali memoriae summopere commendare studeamus, ut a succesoribus nostris memorabilius teneatur firmiusque credatur. Litteralis quippe memoria idcirco scribitur, ut ea quae non possumus verbis retinere per litterarum dinotationem ad memoriam revocemus. Vgl. oben Nr.27 und unten Nr. 66 und 79; S.154, Nr. 81 (1106), A: Memoriae praesentium et cognitioni posterorum consulentes, quod factum est nostris temporibus scriptis commendare discrevimus, ut quod facile oblivione deletur, memoriae hominum notitia litterarum renovetur. 512 S.258 f.,Nr.167 (1125-1131),A: Addepellendamoblivionisvelignorantiaenebulamnichil magis vel aeque efficacius esse perpenditur, quam si memoriae litterarum committitur quod perpetuum desideratur haberi; S. 282, Nr. 190 (1136-1138), A: ... vel relaxat perenni memoriae commendare, quae nullo modo efficacius quam per litteras parari cognoscitur; S. 323, Nr. 218 (1125-1148), A: Litteralis memoria idcirco scribi solet a sapientibus, utea, quae retineri verbis ad plenum non possunt, ad memoriam perelementa reducantur. Vgl. oben Nr. 27,66 und unten 74, 79; S.347,Nr.229 (1125-1138 oder 1136-1148), A: Quoniam tarn homines quamfacta eorum transitoria sunt, iccirco nos memoriae posterorum notificare volumus; S. 356, Nr. 234 (1156-1162), A: Ne oblivione deleatur quod perenni memoriae affigendum est. 513 S. 265, Nr. 173 (1125-1138), A: Oblivioni vel ignorantiae nulla arte, nullo ingenio melius obsisti potest quam si litteris assignatur quod perpetuum desideratur esse, S.284, Nr. 192 (1136-1138), A: Oblivioni vel ignorantiae nulla arte, nullo ingenio melius obsisti potest quam si litteris assignatur quod perpetuum desideratur haberi. 514 S. 327, Nr.222 (1138-1148), A: Nichil in memoria firmius retinetur quam quod litterarum custodiae fideliter commendatur; vgl. S. 363, Nr. 238 (vor 1161), A: Quoniam ignorantia solet hominibus obesse, ideo quod memoriter retinere volumus, ne latere posteros queat, scripto mandamus. 515 S.149f., Nr. 79 (1113), A: Quicquid oblivionis noxiaecaliginosis nebulis involvi non volumus, litterali memorie commendare satagamus, ut per litterarum dinotationem posterorum nostrorum noticie transfusum memorabilius teneatur firmiusque credatur. Vgl. oben Nr.77; S. 191, Nr. 111 (1116), A: Antiquorum institutionibus instruimur et ea pro quibus sollicite laboramus litterali memorie commendare summopere studeamus, ne forte, quod absit, oblivione caliginosa deleatur quod sedulo sollicitudine humana agitatur. Vgl. oben, Nr.77; S. 195, Nr. 112 (1120), A: Omne quod ad memoriam revocare volumus literarum institutionibus pernotandum decemimus, ut a successoribus nostris memorabilius teneatur firmiusque credatur: litteralis enim memoria idcirco scribitur ut ea, quae non possumus verbis retinere per litterarum denotationem ad memoriam revocemus. Vgl. oben, Nr.25, 27, 54, 66, 77, 79. 516 S. 274, Nr. 180 (1125-1138), A: Posterorum utilitati providentes, litterarum memoriae commendare decrevimus; S. 360, Nr.236 (1162), A: Quaecunque digna memoriae judica-

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Interessanterweise begegnet man im Chartular des Domkapitels mit einem gewissen Zeitabstand einer Reihe stets wiederholter Formulierungen5!8. Der Beurkundungszweck ist jedoch nicht immer derselbe. Es scheint, daß man die betreffenden Formulierung ohne den inhaltlichen Zusammenhang einfach von der Vorurkunde abgeschrieben hat.

b) St. Aubin Die wichtigste Abtei im Bistum Angers war ohne Zweifel St. Aubin. Diese Abtei spielte in diesem Gebiet zusammen mit der Abtei St. Serge 519 eine Führungsrolle. Von St. Aubin ist ein Chartular überliefert 520 , dessen erster Teil gegen 1175 von den dortigen Mönchen zusammengestellt wurde und 392 Schriftzeugnisse enthält. Der zweite Teil der Edition ist hingegen vom Herausgeber aufgrund seiner Recherchen im Archiv zusammengestellt worden. Dieses Chartular zeigt ab der Mitte des 11. Jahrhunderts zahlreiche memoriaWendungen 521 , zudem weitere inhaltlich verwandte Formulierungen. Neben der memus, ne aut oblivione deleantur aut malignorum machinamento depraventur, litterali rnonirnento cornrnendare sagaciter debernus. 517 S. 159, Nr. 83 (1103-1110), A: Quoniarn humana facHe labitur, ideo facta antecessorurn scriptis ad utilitatern posterorurn cornrnendantur; S. 360, Nr. 231 (1136-1148), A: Quoniarn humanis rebus nulla est constantia deperitque memoria rerum gestarum. 5\8 S. 132, Nr.66 (1096), A: Litteralis mernoria idcirco scribitur, ut ea quae non possurnus retinere verbis, per litterarurn notas ad mernoriam reducantur. Vgl. oben, Nr. 27, 77 und 79; S. 156f., Nr. 82 (1116), A: Ut oblivionis noxiae periculurn solerter dec1inare et negligentiae darnnosae caliginis irnportunitates cautius evadere valearnus, quae in praesenti digna memoriae agitarnus literarurn institutionibus surnrnopere et absque dilatione cornrnendare studeamus. Vgl. oben, Nr. 77 und 54; S.195, Nr.112 (1120), A: Ornne quod ad rnernoriam revocare volurnus literarum institutionibus pemotandurn decemirnus, ut a successoribus nostris rnernorabilius teneatur firmiusque credatur: litteralis enirn rnernoria idcirco scribitur ut ea, quae non possurnus verbis retinere per litterarum denotationem ad rnernoriarn revocernus. Vgl. oben, Nr. 25,27,54,66,77,79. 5\9 Cartulaire de I'abbaye Saint-Serge et Saint Bach d' Angers, texte restitue et edite par Y. Cauvin, th. 3e cyc1e, 2 vol. dact., Caen 1969 konnte ich leider nicht einsehen, so daß auf die Analyse von St. Serge in der vorliegenden Arbeit verzichtet werden muß. 520 Cartulaire de I'abbaye de Saint-Aubin d' Angers, publie par le Comte Bertrand de Broussillon. Torne I, Torne 11, Paris 1903. 52\ Torne I, S.411, Nr. 355 (gegen 1057), A: Consuetudinis est hurnanae, si quid incornrnutabiliter rnansururn homines agunt, per litterarurn memoriarn in posterum reservari, ne per cornrnutationern rnorientiurn et nascentiurn horninurn, possit oblivione deleri; Torne I, S. 185, Nr. 160 (1056-1060), A: Ternporis acta nostri posterorurn memoriae nullo fideliori legato quam scriptura possurnus mandare; Torne 11, S.171 f., Nr.677 (1056-1060), A: Multa scientie profutura rnortaliurn, quodarn quasi nuntio litterarurn precedens subsequenti mandat etas etati, que, nisi scriberentur, notione rerurn rnemoria dignarurn posteri fraudarentur; Torne I, S.304, Nr.263 (1060-1067), A: Notitiarn rerurn presentiurn tradere mernorie posterorum quarn sit utile ex preteritarurn traditione rerurn facile probarnus, curn quid quanturnque proficui ex veterurn re1atione capiamus, colligirnus; Torne I, S. 162, Nr.135 (1067-1070), A: Curn orn-

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moria-Wendung treten die Betonung der Nützlichkeit schriftlicher Bewahrung oder der Gefahr der VergeBlichkeit ebenfalls hervor 522 • Man begegnet ebenfalls zahlreichen oblivio- Wendungen. Die menschliche, leicht hinfällige memoria sei durch die menschliche VergeBlichkeit bestimmt 523 • Um die niurn horninurn animus sit istius nature ut ornnia opera ipsorurn memoriter nequeant retinere, solet a sapientibus fieri ut ea litteris rnandent que vel ipsi oblivisci nolunt, vel ad notitiarn posterorurn transrnittere volunt; S. 67 f., Nr.43 (1060-1081), A: Quoniarn necesse credimus litterarum memorie tradere quicquid volurnus posteris notum fore; S. 78, Nr. 58 (1084), A: Quoniarn scripti autentici formula et rerurn preteritarurn est quedarn memoria et rebus insidiantiurn alienis falsarn repellit calurnpniarn, non incongruurn videtur rem quarn secure et sine calurnpnia possidere volurnus scripture auctorizabili quasi memorie mandare. 522 Die feste Formel von der Gefahr der VergeBlichkeit findet man wiederholt in den Abtwahlurkunden. Torne I, S. 38, Nr. 21 (970), A: Novirnus que precepta dederit Dominus cunctis horninibus, se scilicet tirnere et rnandatis ejus ornni oblivione postposita obternperare; Torne 11, S. 13, Nr.406 (nach 1082), A: Convenientias quas habemus curn monachis et elericis atque sanctirnonialibus, quid debernus pro defunctis eorurn facere hic scripte sunt ut non oblivioni tradantur; Torne I, S. 118, Nr. 106 (1074), A: Quoniam actus nostri cito oblivioni traduntur nisi scripto quolibet ad memoriam revocentur; Torne 11, S. 142 f., Nr.652 (1081-1093), Quoniarn utile est res gestas litterarum memorie commendare ne posteritati nostre veritas subtrahatur, cornrnittirnus huic scripto; s. Torne I, S. 109, Nr. 95 (1082-1106), A: Ne quorurnlibet perversa rnachinatio res gestas, ut fieri so let, pervertere queat aliquando, litterarum tradimus memoriae quod nostro factum constat in tempore; Torne I, S. 83, Nr. 65 (1082-1106), A: Quoniarn humana facta brevi dilabuntur, nisi scriptis quibusdarn cornrnendata fuerint, utile est plurirna rerum litterarum memorie commendare, ne posteris nostris rei veritas subtTahatur; Torne I, S. 225, NT. 196 (1146), A: Utilis usus antiquitus inolevit res gestas litteris tradere memorieque mandare ne oblivione obliterari aut vetustate temporis possint aboliri; Torne I, S. 238, Nr. 206 (gegen 1157), A: Utilis usus antiquitus inolevit res gestas litteris tradere memorieque mandare, ne oblivione oblitterari aut vetustate temporis possint aboleri; Torne 11, S.413f., Nr.935 (1157-1189), A: Quoniarn ex antiquorum traditione dirivaturn novirnus ut quicquid posteris fore (notum vellent), litterarum memorie commendarent, idcirco scribirnus ad noticiarn ... ; Torne 11, S. 138, NT. 650 (1175), A: Tarn futurorurn quarn pTesentiurn memorie necnon et utilitati consulentes, litterarum apicibus studuimus commendare qualiter, ... ; Torne 11, S.288, NT. 809 (1165-1189), A : Posterorum utilitati consulentes, eorum memorie litterarum apicibus quibus eadem memoria viget commendamus quod ... ; Torne 11, S. 290, Nr. 811(1190), A: ... ad memoriam successorum meorum ea que continentur in pTesenti carta scripto pTecepi cornrnendari ne per ignorantiam traderentur oblivioni; Torne 11, S. 94, Nr. 569 (1197), A: Quoniarn preterit memoria hominum, preteruntibus ipsis horninibus, litteris quibus eadem viget memoria scripturn tradimus. 523 Torne I, S. 388 f., NT. 339 (gegen 1100), A: Quoniarn memoria homini labilis transitoria pro certo tenetur, vivaci littera Tetinendurn est quicquid posterorurn Tecordationi tradere cupimus; Torne 11, S.46, Nr.438 (1123), A: Quoniarn vita brevis est et memoria fallax, temporis acta nostri litteris mandare decrevimus; Torne 11, S. 247, NT. 758 (gegen 1170), A: Quoniarn vita humana indesinenter labitur, posterorum memorie litteris, quibus eadem viget memoria; Torne 11, S. 235 , Nr.745 (nach 1173), A : Quoniarn labilis est hominum memoria, ad noticiam presentiurn futurorurnque presenti sCTipto rnandare curavirnus; Torne 11, S. 283, Nr.804 (1157-1189), A: Quoniarn vita brevis est et memoria labilis, si quid rnernoriter retineTe volurnus literis cornrnendarnus; Torne 11, S. 310, Nr. 839 (1157-1189), A: profuturum posteritati nostre arbitrantes quod nostris actum est ternporibus, ob labilem hominum memoriam, huic scripto cornrnendare cupivirnus; Torne 11, S. 285, Nr. 806 (gegen 1175), A: Quoniarn

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Erirmerung an die verhandelte Sache lebendig und immer gültig zu bewahren, sei die schriftliche Fixierung nützlich 524 • Hier betont man die Verschriftlichung als nützliches Mittel gegen die schädliche Vergeßlichkeit 525 , wobei das unmittelbare Hören und Sehen des Rechtsaktes ebenso seinen schriftlichen Niederschlag findet, das damit in seiner Zeugniskraft eigens betont wird 526 •

indesinenter labitur humana mortalitas memorie, posteritatis nostre litterarum apicibus quibus eadem viget memoria mandamus. 524 Torne I, S.426, Nr. 368 (1082-1106), A: Ne fraudulentorurn rnaehinationibus vel temporum decursu rerum gestarum veritas subvertatur, utile ducirnus actuurn nostrorurn conventiones et conventionurn auditores litteris commendare. Vgl. Recueil des aetes de Henri 11, t. I, par Elie Berger, Paris 1916. Nr.263 (gegen 1166), Original in Form eines Chirographs, Ernpfanger: St. Aubin, A: Et res et racio postulat ut quicquid memoria dignum agitur litteris eommendetur. 525 Torne I, S.430, Nr. 371 (gegen 1070), A: Quoniarn rnortis eonditione tales faeti surnus, ut quod hodie facirnus eras oblivioni tradamus, nisi litterarum monimentis reservemus, plaeuit nobis rem quandarn eognitione dignarn litteris tradere, ne nobis aut posteris nostris earn quandoque eontinguat ignorare; Torne 11, S. 237, Nr. 746 (1087), A: Curn nobis in utilibus rebus, quantum possurnus, expediat oblivionem fugere, oportunurn est quolibet scripto servare quod eonstat generationi venture profuturum esse; Torne I, S. 235, Nr. 203 (1082-1101), A: Contra oblivionis malum hae sapientes viri rnedieina utuntur ut quod per oblivionem nolunt perire, sibi et posteris suis studeant tradita litteris retinere; Torne I, S. 348, Nr. 307 (1082-1106), A: Si bonum est oblivionem fugere, bonum est ea quae agimus litteris commendare; Torne I, S. 431, Nr. 372 (1082-1106), A: Ut res nota sit viventibus ornnibusque nostris sueeessoribus, nec rei veritas oblivioni tradatur, sed firmitas eonvenientiae scripto memoriter retineatur, hane eonvenientiarn huie seripto eornrnendamus; Torne 11, S. 231, Nr. 742 (1096), A: Curn in necessariis rebus utile sit oblivionem fugere eongruurn valere videtur quolibet scripto memorie tradere quod posteritati novirnus profuturum esse; Torne 11, S. 117, Nr.632 (1100-1107), A: Satis utile videtur esse, ne oblivioni tradantur presentium facta litterarum noticia futurorum presentari memoriae; Torne 11, S. 260, Nr. 772 (1105), A: Curn in necessariis rebus utile sit oblivionem fugere, eongruurn valde videtur quolibet scripto memorie tradere quod posteritati novirnus profuturum esse; Torne 11, S. 281 , Nr. 802 (1147), A: Posterorurn notieie presentibus litteris tradere statuimus ne quod a nobis inpresentiarurn agitur, successioni nostre per oblivionem occultetur; Torne 11, S. 60, Nr. 472 (1154- 1157), A: Quoniarn bonum est oblivionern fugere que mernoria digna sunt, bonum est litteris commendare; Torne 11, S. 71, Nr.485 : 1171 A: Vivaci tradendurn est scripture quod oblivione vel indivia potest deperire; Torne 11, S. 113, Nr. 629 (1157-1189), A: Quoniam bonum est oblivionem fugere, memorie sequencium relinquimus scripturn; Torne 11, S. 251 f., Nr. 762 (1157-1189), A: Quoniarn bonum est oblivionem fugere et ea que nostris ternporibus acta sunt litterarum memorie commendare, scribirnus ad noticiarn tarn ... ; Torne 11, S. 93, Nr. 564 (gegen 1190), A: Quoniarn bonum est oblivionem fugere que memoria digna sunt, bonum est litteris commendare. 526 Die Urkunden von St. Aubin zeigen einen interessanten Umgang mit den Schriftzeugnissen. Vor der Zeugenreihe steht oft folgende Wendung: Hoc viderunt et audierunt.

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c) Ronceray Das Chartular der Abtei Ronceray enthält Formulierungen, die einen ergänzenden Aspekt für das Bedeutungsfeld der memoria darstellen 527 • Die Unvollkommenheit der menschlichen mens kommt hier zum Ausdruck 528 • Die menschliche Erinnerung verfalle 529 , weil das sterbliche menschliche Wesen nicht in einem Zustand verbleiben könne 530. Die niedergeschriebene Handlung könne hingegen der Erinnerung 527

Cartulaire de I'abbaye de Roneeray d' Angers (1028-1184), publie par Paul Marchegay

(= Archives d'Anjou, Tome m.), Angers 1854. S. 79, Nr.104 (gegen 1100), A: Quoniam multa

per injuriam abolere so let oblivio. 528 S.150, Nr.235 (vor 1040), Schenkung, A: Quoniammens humana brevi temporedeficit et labitur, ideo quod firmiter et diu retinere desideratur vivaci memorie litterarum perhenniter commendetur. Ne ergo quod facimus per negligentiam oblivioni donetur aut per ignorantiam obscuretur, volumus Iitteris enucJeare quod ... Vgl. die gleiche Arenga mit einigen Wortumstellungen, Notiz einer Äbtissin Orsande im Jahre 1161, Reeueil des actes de Henri n, t. I, S. 336, Nr. 20 I, Kopial aus dem 12.Jh., A: Quoniam mens humana brevi tempore deficit et labitur, ideo quod firmiter et diu retinere desideratur vivaci memorie litterarum perhenniter commendetur. Ne ergo quod faeimus per negligentiam obscuretur aut per ignorantiam oblivioni donetur, volumus litteris enucJeare quod ... ; S. 198, Nr. 313 (1090-1110), C: Quoniam mens humana brevi tempore deficit et labitur, ideo quod firmiter et firmius retineri desideratur vivaci memorie litterarum perhenniter commendetur. Ne ergo quod facimus per negligentiam obscuretur aut per ignorantiam oblivioni donetur, volumus enucJeare quod ... ; S.200, Nr.320 (1161), A: Quoniam mens humana brevi tempore deficit et labitur, ideo quod firmiter et diu retinere desideratur, vivaci memorie litterarum perhenniter commendetur. Ne ergo quod facimus per negligentiam obscuretur aut per ignorantiam oblivioni donetur, volumus litteris enucJeare; S.127, Nr.194 (gegen 1115), A: Quoniammenshumanaadeofluxaest ut ea que presentialiter agit vix retinere possit, ut firmius et prolixius que agimus teneamus, memorie litterarum tradere curavimusquod ... ; S.III, Nr.166 (gegen 1120), A: Quoniam mens humana, vel per incuriam vel negligentiam, solet tradere multa oblivioni, huic cartule commendare voluimus, ut in memoria firmius teneretur, quod ... ; S.175, Nr. 272 (1163), Urkunde zwischen Jean, dem zweiten Abt von Saint-Georges, und Äbtissin Emma von Ronceray, A: Erga tot et tantas mund i hujus sollieitudines, sensus et mens hominis toeiens agitatur et tot terrenorum perturbationibus circumquaque pulsa confunditur, quod si forte inter aliquos rei alicujus conditio aliqua fiat quam jugi memoria reservari semper oporteat, tarn cito labitur illa ab humana et fragili mente quod, si in posterum velit et necessarium sit retractare quomodo et quibus presentibus aut a quibus factum est, aut vix aut nunquam sine litterarum traditione ad cognitionem rei illius poterit amplius pervenire. Et quia mortalium etas atque memoria, labendo sem per et absque reditu transeundo, sie evanescit, antiqua majorum sollertia providendo decrevit litteris memorabilibus eommendare quicquid per se non poterat fragilis homo retinere. 529 S. 252, Nr.415 (gegen 1115), Schenkung, A: Quoniam memoria hominum brevis et velut aura mobilis et cito mutabilis videatur esse, ne per incuriam aut per negligentiam seripture actio humana deperiret, litterarum monimentis posterorum memorie tradere curavimus quod ... ; S. 84 f., Nr. 113 (1123), über Immunität, A: Cum memoria hominum labilis et transitoria videatur, per istius scripti presentiam presentium futurorumque hominum noticie decJaramus quod ... ; S. 115, Nr. 169 (gegen 1124), A: Nemo dubitat quod hominum memoria, labilis et fluxa, eito transit et labitur, et ideo pertinaei scripturarum notatione ea que agimus deposuimus retinere; s.90, Nr. 124 (1126), A: Que fiunt, scripbuntur ne a memoria, que labilis est, deleantur. 530 S.163 f., Nr. 259 (gegen 1110), A: Quoniam quidem mortale hominum genus diu stare non potest et omnia que in mundo sunt, more fluentis aque, preteruntia sunt, superest ut illo-

4. Bistum Angers

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nicht leicht entgleiten531 , auch wenn die menschliche Erinnerung dem Zeitverlauf unterworfen sei 532 • Das menschliche Wesen sei so vergänglich, daß die schriftliche Festlegung und Bewahrung nötig sei 533 • Interessanterweise wird in einer Urkunde erwähnt, daß die menschlichen Sinne wie Sehen oder Hören unzuverlässig seien 534 . Diese Betrachtung steht ganz im Gegensatz zu der in den Urkunden von St. Aubin vertretenen Auffassung, wonach der traditionellen Zeugenschaft die höchste Beweiskraft zugemessen wird.

d) Zusammenfassung In den hier untersuchten Schriftzeugnissen aus der Diözese Angers begegnet man zahlreichen memoria/oblivio-Wendungen. Die memoria-Thematik taucht hier bereits um die lahrtausendwende auf. Das ist wesentlich früher als in den anderen untersuchten Gebieten. Außer einigen wiederholten Formulierungen wie oblivio noxia, oblivioni vel ignorantiae nulla arte, litteralis memoria (Domkapitel) oder mens humana (Ronceray) wird diese Thematik unterschiedlich ausgedrückt. Die einzelnen untersuchten Chartulare besaßen jeweils eine eigene Stiltradition, und es sind keine gegenseitigen Einflüsse feststell bar. Der Ausdruck mens humana etwa, der sonst in rum gesta memorie nostre commendemus que forsitan bona nobis aliqua providenter pro pagaverunt. Eine vergleichbare Arenga findet sich in einer Urkunde Heinrichs, des Grafen von Anjou und Herzo~s der Normandie, aus dem Jahre 1154 für Ronceray. Recueil des actes de Henri H, t. I, par Ehe Berger, Paris 1916. S.86, Nr. 81 * (= Cartulaire de I' abbaye de Ronceray d' Angers (1028-1184), S.123, Nr.185), Transskription aus dem 12.Jh., A: Quoniam homines et eorum memoriam, more fluentis aque, de die in diem perterire conspicimus, res gestas ad memoriam diuturniorem scripbere disposuimus. 531 S.I77, Nr.279 (gegen 1110), A: Quoniam humana negotia cito et sine noticia labuntur nisi memorie litterarum tradantur, volumus hoc litteris commendare et per hoc in perpetuum retinere; S. 172, Nr.270 (gegen 1130), A: Quoniam ea que non scribuntur cito a memoria labuntur, notificamus litteris ... 532 S. 215 f., Nr. 354 (1120), Schenkung, A: Antiqua sanctorum patrum eruditione et sapienturn virorum consuetudine, didicimus res gestas et paetiones sanctarum ecclesiarum noticia litterarum evidentissime designare; ne mens humana, aliqua oppressione diversarum curarum sopita vel oblivione negligentie fuscata vel diuturnitate temporum aut senio gravata, valeat amittere quod ad posterorum memoriam omnimode utile est et valde necessarium assidue revocare; S. 257, Nr. 389 (1169), A: Quoniam tarn nobilium quam ignobilium facta, tarn per succedentia tempora quam per labentia temporum curricula, cito a memoria laberentur nisi litteris commendarentur. 533 S. 276, Nr.442 (1183), A: Quoniam temporum prolixitas hominumque labilis fragilitas omnium memorie novercari dinoscuntur. 534 S. 182, Nr. 288 (gegen 1130), A: Quoniam antecessores nostri ea que audiebant et videbant memoria retinere non poterant, considerantes subsequatium hominum animum laxiorem esse, quod de factis suis aut dictis memoramus, scripto tradere (curaverunt); nos vero, secundum ingenii nostri posse, eorum acta prudentur sequentes, ne posteritatis nostre in aliquo memoria fraudetur, quod volumus eam scire penne offitio commendamus. Ideoque sie debet fieri ne, mente plura preteritorum et presentium oblivioni tradente, aliqua controversa, quod persepe evenit, oriatur.

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H. Bischöfliche Urkunden

Molesme verwendet wird, kommt nur in Ronceray vor. Vom Charakter der Chartulare ausgehend läßt sich kein Verfasser bestimmen. Doch angesichts der stilvollen und eleganten Ausdrucksformen läßt sich für dieses Gebiet - immer unter Vorbehalt der Überlieferungsumstände und des Untersuchungsmaterials - ein höheres Niveau der Ausdrucksfahigkeit in relativ früher Zeit konstatieren.

III. Monastische Schriftzeugnisse 1. Vorbemerkungen Der Gedanke der schriftlich zu fixierenden memoria scheint, wie die Schriftzeugnisse von Angers gezeigt haben, im monastischen Bereich schon zu einem früheren Zeitpunkt verankert gewesen zu sein. Ein zusätzlicher Blick auf diesen Bereich ist insofern hilfreich, um das Bedeutungsumfeld des memoria-Begriffs in einer breiteren Perspektive darzustellen. Die Untersuchung der Chartulare ist zwar aufgrund der Überlieferungsumstände eingeschränkt, insofern häufig unklar bleibt, ob die ursprüngliche Form der Wendung erhalten ist. Diese Vorbehalte können jedoch relativiert werden, wenn ein Thema mit unterschiedlichen Ausdrücken eine so breite Verwendung fand. Die Chartulare bieten eine geeignete Untersuchungs basis für den Vergleich mit den bischöflichen Urkunden. Dabei ist die Frage von Interesse, ob die Verwendung des memoria-Ausdrucks innerhalb des untersuchten Zeitraums auch in den administrativen Schriftzeugnissen der monastischen Welt eine neue Akzentuierung erfahren hat. In diesem Zusammenhang werden auch die Einleitungen zu den Chartularen, die eine stufenweise Entfaltung aufzeigen, in Betracht zu ziehen sein 535 •

535 Vgl. Pascale BougainlMarie-Clotilde Hubert, Latin et rhetorique dans les prefaces de cartulaire, in: Les Cartulaires. Actes de la table ronde organisee par I'Ecole nationale des chartes et le G.D.R.121 du C.N.R.S. (Paris, 5-7 decembre 1991), reunis parOlivier Guyotjeannin, Laurent Morelle et Michel Parisse, Paris 1993, S. 115-136.

8 Iwanami

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III. Monastische Schriftzeugnisse

2. Einzelne Fallstudien 536 a) Molesme Das Chartular von Molesme 537 enthält eine Reihe von Schenkungen und Rechtsgeschäften von Bischöfen und Adeligen aus dem Umland 538 , wobei auch der memoria-Begriff gelegentlich vorkommt. Aber die Zahl der Belege ist eher gering 539, so daß man nicht sagen kann, daß die memoria-Formulierung hier eine übliche Wendung gewesen wäre. Außerdem taucht diese Wendung nicht immer in den Schriftstücken bestimmter Aussteller auf, sondern erscheint nur vereinzelt 540 • Festzustellen sind dabei variierte Ausdrücke, die vermutlich ohne gegenseitige Beeinflussung gebraucht worden sind. Insbesondere ist auffallend, daß der memoria-Begriff ab und zu in Verbindung mit res gestae vorkommt 541 und damit über eine andere Akzentu536 Die folgenden Fallstudien zeigen keinesfalls ein generelles Bild von der Verbreitung des memoria-Begriffs. Die Auswahl, die möglicherweise willkürlich erscheinen kann, ist nicht durch die geographische Lage bedingt, sondern dadurch getroffen, daß die hier ausgewählten Beispiele besondere Akzentuierungen in den Formulierungen aufweisen. Weitere, bereits früher behandelte monastische Schriftzeugnisse sind auch zur Untersuchung der einzelnen Bistümer herangezogen. 537 Cartulaires de l' abbaye de Molesme ancien diocese de Langres 91 ~1250 (Recueil de documents sur le nord de la Bourgogne et le Midi de la Champagne), publie par Jacques Laurent. Tome 11: Texte et index, Premier et second cartulaire de Molesme, Paris 1911. 538 Zu ihrer statistischen Gestalt siehe die Einleitung zu dem obengenannten Chartular S. 48 ff. Die erste Stelle unter den Ausstellern nehmen selbstverständlich die Bischöfe von Langres ein (I 02 Schriftstücke). 539 Es handelt sich um lediglich 24 Fälle bei mehr als 1,000 Schriftstücken. 540 Z. B. bei Bischöfen von Langres dreimal (Nr.97 (1076-1085); Nr.303 (llOI), Nr.359 (1084-1085», bei den Grafen oder Bischöfen von Troyes dreimal (Nr. 21 (I 093-ll 00), Hugo, Graf von Troyes, wie Anm.541; S.439, Nr.522 (1110), Philippe, Bischof von Troyes, A: Quoniam sepe facta priorum vetustate solent aboleri, nisi scripto firmentur, majorum id auctoritas assuevit ut largitiones que ecclesiis conferuntur, litterarum corroborentur apicibus et tarn presencium quam futurorum memorie scriptis imprimantur; S.425, Nr.471 (1140-1145), Hato, Bischof von Troyes, C: Ne igitur istud idem aliqua successionum vel temporum immutatione seu diutumitate dilueretur, ut etiam ad memoriam, si aliquo modo obtenebrata sive dilapsa esset, reduceretur; bei einem Grafen von Bar-sur-Seine (S. 32, Nr.22 (1090/95-1114), Schenkung bei Miles 11. Graf von Bar-sur-Seine, A: Hoc litterali memorie commendare studuimus ne dubietas aliqua posteris nostris inde eveniat), bei einem Bischof von Chälons (S. 179, Nr. 199, Text B (1114), A: Quoniam volubilium tempo rum mutabilitas rerum mutabilitatem et oblivionem confert et parturit, quicquid in memoriam volumus permanere, litterarum testimonio debemus perhennare) und einem Grafen von Champagne (S. 29 ff., Nr. 20 (1102» je einmal. Die letztgenannte Urkunde des Grafen von Champagne ist unter Kanzler Fulcradus in Reims verfaßt und niedergeschrieben worden: Majorum auctoritas ac rationis ordo suadet ut, si quid humana sollertia firmum fore ratumque disponit, ut in tempora prorogari valeat, officio Iitterali memorie commendetur.... Fulcradus cancellarius scripsit et subscripsit). 541 Vgl. Kapitel 11.2; Cartulaires de I'abbaye de Molesme, S. 31, Nr. 21 (1093-1100), Hugo, Graf von Troyes, A: Monimenta rerum gestarum priores labore litterario, quo peritiores, eo argutius memorie mandaverunt, posterorum notitie hoc exemplari inculcantes, ne si quid dignum memoria futuris temporibus succederet, ignaviter preterirent. Nos vero utilitati nostre et

2. Einzelne Fallstudien

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ierung als die liturgische, personenbezogene memoria verfügt. Um der sprachlichen Tradition näher zu kommen, sind gen aue Ausfertigungsangaben erforderlich. Einzelne Ausfertigungsorte und das Personal bei der Ausfertigung sind jedoch wegen der Eigenart der Chartulare - sie enthalten nicht immer vollständige Urkundenabschriften - meistens nicht genauer festzustellen 542 • Die folgende Formulierung befindet sich in der Arenga einer von Herzog Dietrich von Lothringen ausgestellten Urkunde 543 : A: Quoniam preteritarum rerum gesta firmius retinentur scripto atque littera quam cordis memoria, .... Diese Äußerung, die Erinnerungen an die vergangenen Verhandlungen seien in Schrift und Buchstaben sicherer als im Herzen aufbewahrt, veranschaulicht eine damalige Grundvorstellung vom menschlichen Gedächtnis. Ähnlichen Formulierungen begegnet man auch in weiteren Urkunden 544 • Das gleiche Charakteristikum der memoria tritt auch in einer Schenkungsurkunde des Bischofs von Langres auf545 • Eine solche Vorstellung von der menschlichen mens wird ebenfalls in einer Urkunde, in der eine Übereinkunft zwischen dem Graf von Reynel und anderen Adeligen festgehalten wird 546 , und in einer Schenkungsurkunde von Adeligen 547 zum Ausdruck gebracht. Letztere enthält eine Arenga, die mit einer Bestätigungsurkunde des Herzogs von Lothringen wörtlich übereinsuccedentium providentes, dum principio cognito quis rerum finis sit, ignoremus, ne bene et pie acta oblivione transitiva confundantur, hec virilibus scriptis in memoriam revocare procuremus; S. 169, Nr. 187 (1076-1100), Schenkung, A: Quoniam rei geste memoria firmius ac durabilius litterarum indiciis quam aliquibus verbis perseverare dinoscitur, donationem quamdam Deo et Sancte Marie ratam his litteris commendare studuimus. 542 Es gibt einige Ausnahmen: Nr.20 (1102), Fulcradus cancellarius scripsit et subscripsit; S. 102, Nr. 97 (1076-1085), Schenkung bei Rainard, Bischof von Langres: Philippo regnante, Rainardo episcopo confirmante, Stephano cancellario dictante. 543 Nr. 64 (1080-1090). 544 Vgl. S. 103, Nr.98 (l2.Ih., vor 1111) A: Quoniam preteritarum rerum gesta melius atque firmius retinentur scripto vellittera quam cordis memoria, iccirco quandam conventionem inter nos et quendam militem habitam voluimus litteris prenotare, quatinus futurorum scientie facilius valeamus committere; S. 178, Nr.198 (1090/95-1125), A: Quoniam preteritarum rerum gesta melius atque cercius retinentur scripto atque littera quam cordis memoria, iccirco cujusdam calumpnie remissionem et indulgentiam Sancte Marie et ecc1esie Molismensi concessam voluimus litteris annotare. 545 S. 102, Nr. 97 (1076-1085), A: Quoniam genus humanum, camis mole corruptibili gravatum, labilis ac defective memorie contraxit vitium, bene visum est precessoribus nostris ut quicquid ratum et indissolubile teneri vellent, fidel i litterarum custodie commendarent. ... ne deleatur oblivione, litteris disposui commendare. 546 S. 97, Nr.92 (12. Ih., vor 1127), A: Valde congruum et idoneum est litteris assignari quod posterorum nostrorum fidei volumus commendare, quatinus quod humane mentis labiIis memoria obliviscendo quandoque poterat amittere, litterarum apicibus tenatius valeat reservare. 547 S. 189, Nr. 205 (1111-1130), A: Quoniam labilis est humane mentis memoria et oblivioni plerumque obnoxia, .... 8*

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IlI. Monastische Schriftzeugnisse

stimmt 548 • Der mens der Sterblichen sei die VergeBlichkeit quasi von Natur her gegeben, so heißt es in der Arenga einer Schenkungsurkunde 549 • Eine ähnliche Bemerkung zu der von der VergeBlichkeit beeinträchtigten mens der Menschen ist noch in einer weiteren Schenkungsurkunde zu finden 550.

b) Urins Das Chartular von Lerins enthält Formulierungen, die in anderen Schenkungsurkunden selten vorkommen. Dies läßt sich beispielsweise an der Wendung sana mente integroque consilio, metuentes humane fragilitatis ablesen 551 , die seit merowingischer Zeit sowohl in Testamenten als auch bei Schenkungen verwendet wurde 552 • Eine andere Formulierung auctoritas et lex romana jussit ut ... wird in Lerins ebenfalls häufig verwendet 553 • Beide Formulierungen waren im 11. Jahrhundert geläufig. Die weiteren Formulierungen zeigen das Vertrauen auf die Verschriftlichung, die zur Fixierung der memoria des Rechtsgeschäfts auf einem relativ dauerhaften Trägermedium wie dem Pergament führt 554 • Insbesondere veranschaulicht dies die 548 S. 208, Nr.223 (1111-1115), A: Quoniam labilis est humane mentis intencio et oblivioni multocies obnoxia, quandam largicionem Deo et Sancte Marie Molismensi factam voluimus litterari memorie commendare, ut ad posterorum nostrorum noticiam valeat perdurare, quatinus si quis diabolico instinctu, quod sollempniter actum est, aliqua dolositate voluerit pervertere, his apicibus et subscriptis convictus testibus vires nocendi non habeat, et utilitas ecelesie inviolata permaneat. 549 S. 197, Nr. 216 (1111-1124), A: Quia mortalis vite labente curriculo mentibus mortalium quasi naturaliter inheret oblivio, presentium futurorumque scripto revocetur memoria. 550 S. 241, Nr.259 (1119), A: Cum mortalium mentes multoties intercipit oblivio, litterarum apicibus ecelesie denotetur possessio, quatinus et beneficium piorum hominum ve1 memoria, his visis, recolatur crebrius, et veritatis repugnatur propellatur tutius. 551 Cartu1aire de l'abbaye de Lerins, Premiere Partie, publie par Henri Moris et Edmond Blanc, Paris 1883. Nr. 55 (11. Jh.), Nr. 194 (997-1027), Nr. 149 (1032), Nr. 72 (1026/46-1061/69), Nr.43 (1061,1046-1066), Nr.26 (1046-1066), Nr.274 (1068). 552 Vgl. Ulrich Nonn, Merowingische Testamente. Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich, in: Archiv für Diplomatik 18 (1972), S.I-129. 553 Nr.142 (1016), Nr.156 (1016), Nr.157 (1029), Nr. 31 (gegen 1032), Nr.32 (1038), Nr.307 (1040), Nr.9 (1030-1046), Nr. 139 (1030-1046), Nr.5 (105??), Nr. 192 (1046-1066), Nr.48 (1l.Jh.). 554 S. I, Nr. 1 (1094), Sanctorum Patrum traditio instituit, immo Divini Spiritus inspiratio docet ut, si aliquis quod jure possidet alicui tradere, don(are) voluerit, ut ille cui datur in hereditatem sibi illud vendicet, deinceps testamento donum firmetur, scribatur carta, ne aliquis facte traditioni obviet, ne oblivione datum a memoria decidat, sed ut firmum et roboratum sit, testimonio perpetuo insignitus; S. 247, Nr.239 (1096), A: Auctoritate aecelesiastica monemur Patrumque precedentium informamur ut quicumque imperator aut rex vel marchio, commes vel viscecommes, archiepiscopus sive episcopus aut quelibet persona aliquid propriijuris in alterius potestatem dando vel vendendo mutare voluerit, per cartam testamenti mutacionem illam faciat. Si enim honoris donatio vel vendicio sine carte testamento facta fuerit, lex eam annullari precipit; si vero per cartam testamenti corroborata fuerit, immobilis et firma perseveret. Quapropter, ut futuris memorie tradamus, per scripture paginem notum fieri vo-

2. Einzelne Fallstudien

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Wendung jirmata et scripta est testatio hujus scripti per paginam et testamentum, secundum sanctita legum Romanorum ae Franeorum, ... per pagine testamentum Juturorum memorie traderetur,555 die die Fortsetzung der besonderen Rechtstraditionen in diesem Gebiet veranschaulichen sollte.

c) Le Mans 556 In einem Chartular von Saint-Vincent in Le Mans begegnet man einer Reihe von memoria-Wendungen. Dabei lassen sich seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts gleiche Motive feststellen, wenngleich in bezug auf memoria sehr variierte Wendungen nebeneinander aufscheinen 557 • Wichtig dabei ist, wie sehr bei der Verschriftlurnus; S. 25, Nr.27 (1131), A: Divine legis testimonio edocemur ut quicumque, commutationis aut venditionis donationisve jure, in alterius dominium possessionem suam concesserit, per scripture rnernoriam et testium auctoritatem occasionem contentionis futuris heredibus tollat, et ut actiones antiquorum non dissipentur pernovos ac dubios possessores; S. 80, Nr. 86 (12. Jh./ gegen 1150), Multis ac variis legum auctoritatibus cavetur ut, si quis vel si qua de rebus suis mobilibus seu immobilibus vendiderit, donaverit seu perrnutaverit vel aliquo quoquomodo contraxerit, per scripturam hoc facere debebit, et tune securius erit secundum quod imperialis lectio dicit; scriptura enirn ob etemarn rei sit rnernoriarn. 555 S. 92, Nr. 100 (1083), A: ... firrnata et scripta est testatio hujus scripti per paginam et testamenturn, secundum sanccita legurn Rornanorurn ac Francorurn, que publice precipiunt ut quisquis prelatus vel ecclesie aut rei secularis quocumque modo rem sui juris dare, vendere vel quocumque tenore commutare vellet, per pagine testamenturn futurorurn rnernorie traderetur; S. 215 f., Nr. 212 (1096), A: ... firrnata et scripta est testatio hujus scripti per paginem(sic!) et testamentum, secundum sanctita legurn Rornanorurn ac Francorurn, que publica precipiunt ut quisquis prelatus vel ecclesie aut rei secularis quocumque modo rem sui juris dare, vendere vel quocumque tenore vellet, per paginern testamenturn futurorurn rnernorie traderetur, ne comutatio illa irrita postmodum fieri pos set. Vgl. Nr. 100. 556 Hier sind die folgenden Chartulare untersucht. Cartulaire de I'abbaye de Saint-Vicent du Mans (Ordre de Saint Benolt), publie et annote par l'abbe R. Charles et le Vte Menjot d' EIbenne, Premier Cartulaire 572-1188, 1886-1913 Le Mans; Le cartulaire de l'eveche du Mans (936-1790), publie par B. de Broussillon, au Mans 1900; Cartulaire de Saint-Victeur au Mans, Prieure de l'abbye du Mont-Saint-Michel (994-1400), par Bertrand de Broussillon, Paris 1895. Das letztere Chartular enthält jedoch keine schriftbezogene memoria- Wendung. 557 Cartulaire de l'abbaye de Saint-Vicent du Mans. S. 21, Nr.20 (1097-1103), A: Quod in presenti paginula scribitur, presentium atque futurorum memorie tradi volumus; vgl. S. 91, Nr. 142 (gegen 1110), A: Tarn futurorum quam presentium memorie tradi volumus; S. 30, Nr. 34 (Ende des 11. Jhs.), A: Illud etiam posterorum memorie tradendum est; S.31, Nr.35 (1070-1078), A: Memorie presentium futurorumque fidelium tradimus; auch Nr. 256 (1066-1100); vgl. Nr. 408,449,482; S.34, Nr. 39 (Ende des 11. Jhs.), A: Memorari volumus tarn presentes quam futuros religiose fidei viros; S. 85, Nr. 132 (gegen 1103), A: Presentium atque futurorum memorie commendamus; vgl. S. 43 f., Nr.57 (Ende des 11. Jhs.), A: Memorie presentium futurorumque fidelium commendamus; S. 52, Nr. 70 (Ende des 11. Jhs. oder Anfang des 12. Jhs.), A: Memorie tradendum est; vgl. Nr.165: 1080-1103; S.54, Nr.73 (Ende des I I. Jhs.), A: Noticia hac memorie fidelium declarari volumus; vgl. Nr.489; S. 71, Nr.105 (Anfang des 12.Jhs.), A: Stilo et memorie necessarium tradere decrevimus; vgl. Nr.455, 684; S. 75, Nr. 112 (1148-1178), A: Fidelium memorie manifestare intendimus; S. 81, Nr. 123 (Ende des

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III. Monastische Schriftzeugnisse

lichung der memoria die Funktion als Stütze betont wird 558 • Die VergeBlichkeit der Menschen sei zu verhindem 559 • Daneben kommen gelegentlich Wendungen wie 11.Jhs.), A: Memoriam posterorum ignorare non volumus; S. 98, Nr. 157 (1090-1100), A: Memorie fidelium tradere disponimus; S. 122, Nr. 196 (1097-1100), A: Memorie presentium atque futurorum tradere dignum duximus; Nr. 248,352, 716, 767, 772: Memoriter retinendum est; S. 158, Nr. 261 (1085-1096), A: Quod dignum est memorie commendare, non congrum est oblitterare; S.167, Nr. 28t (Ende des 11.Jhs. oder Anfang des 12.Jhs.), A: Hoc ad memoriam reducere volumus; S. 171, Nr. 289 (gegen 1100), A: Memorie posterorum commendetur; S. 177, Nr. 301 (Ende des II .Jhs.), A: Memorie mandare decrevimus; Nr. 345, 592, 709, 759, 764, 798: Memorie posterorum commendare decrevimus; S. 234 f., Nr. 397 (Ende des 11 . Jhs.), A: Istud etiam posterorum memorie commendandum esse censuimus; Nr.422, 690: Tradatur etiam memorie; Nr. 543, 567, 786, 840: Tradere quoque volumus tarn futurorum quam presentium memorie; S. 334, Nr.583 (1080- 1102), A: Fidelium memorie volumus commendare; S.382, Nr.661 (1068-1078), A: Memorie presentium futurorumque decIarari volumus; S.402, Nr. 706 (1068-1078), A: Memorie presentium futurorumque fidelium tradere disponimus; S.413, Nr. 728 (gegen 1085), A: Traditum tenemus a patribus debere commendare Iitterarum apicibus quecumque digna memoriajudicaverimus; S.417, Nr. 734, A: Opere pretium est memorie tradere; S. 423, Nr.745, A: Quod dignum est memorie dari, necesse est litteris tradi; S. 462, Nr. 820, A: Ne forte per negligentiam a memoria decidat. 558 S. 59, Nr. 82 (Ende des II .Jhs.), A: Per presentium cartulam litterarum, memorie omnium volumus commendare mortalium pactionem; vgl. S. 61, Nr. 86 (Ende des I 1. Jhs.), A: Quicquid posterorum nostrorum noticiam latere non volumus, cartis fidelibus mandare consuevimus, quatinus et rerum preteritarum certitudo apud eos memoriter teneatur, et quorumdam calumpniatorum falsa improbitas evidenti Iitterarum testimonio destruatur. Est enim quoddam veritatis testimonium quod constat litterarum indicio esse approbatum; S.92, Nr. 143 (1050-1100), A: Antiquorum gesta in paginam sunt asscribenda, ut posteros sint in memoria; S. 96, Nr. 150 (1080-1100), A: Notificetur in pagina, ne labatur a memoria; vgl. Nr. 166 (Ende des Il.Jhs.); S. 125, Nr. 199 (1078-1080), A: Quod dignum memoriajudicatur, necesse est ut Iitteris commendetur; S.159, Nr. 264 (1082-1102), A: Congruum nobis videtur ad memoriam presentium futurorumque Iitteris commendare; vgl. S. 188, Nr.313 (ll.Jh. oder Anfang des 12.Jhs.), A: Qui de rebus propriis sancte eccIesie aliquid contulerunt, ut eorum stabile firmumque permaneret donum, litterarum apicibus annotatum posterorum noticie designaverunt; S. 197, Nr. 330 (1158-1185), A: Quoniam labili memorie scripti auctoritate melius subvenitur, iccirco notum fieri volumus; S. 245, Nr. 419 (1080-1102), A: Tituletur aliud in pagina ne labatur a memoria; S.290, Nr. 501 (Ende des 11 .Jhs.), Quicquid a fidelibus eccIesie committitur, dignum est ut memorie litterarum commendetur; S. 299, Nr. 518 (Anfang des 12.Jhs.), Quod eccIesie Dei adquiritur, necesse est ut in pagina memorie posterorum annotetur; S. 306, Nr. 533 (Ende des 11 . Jhs.), Quicquid ad opus sancte eccIesie adquiritur, statutum est a patribus ut Iitteris commendetur ne a memoria labatur; S. 342, Nr. 596 (1078-1082), A: Istud quoque litteris commendetur, ne a memoria labatur; S.354, Nr. 613 (Ende des 11.Jhs., nach 1080), A: Ne forte labatur a memoria istud Iitteris annotare decrevimus; S. 354, Nr. 614 (Ende des I 1. Jhs.), A: Ne labatur a memoria hoc annotamus in hac pagina; S. 366, Nr. 633 (1148-1180), A: Ne a memoria labatur tradere fidelium noticie libuit; S. 373, Nr. 645 (Ende des 11. Jhs.), A: Quicquid sancte eccIesie fidelibus offertur, congruum est ut litterarum annotatione tituletur, ne a memoria elabatur; S. 395, Nr.691 (Ende des I 1. Jhs.), A: Tituletur in pagina ne labatur a memoria; S. 399, Nr. 699 (Ende des I 1. Jhs. oder Anfang des 12.Jhs.), A: Quod a memoria presentium labi nolumus, quodque memorie futurorum tanquam presentium tradere volumus, Iitteris commendare consuevimus; S. 451, Nr. 803, Per hujus paginule annotacionem memorie commendavimus; S. 473 , Nr. 838 (gegen 1080), A: Quicquid sancte eccIesie fidelibus offertur, congruum est ut litterarum annotatione tituletur, ne a memoria elabatur.

2. Einzelne Fallstudien

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etwa ne labatur a memoria vor 560 • Die Parallelität der memoria mit noticia ist in Le Mans ebenso festzustellen 561 • Die Wendung per succedentia tempora taucht hier wieder auf. Sie ist im 10. Jahrhundert auch in Verdun geläufig 562 • Während sie in Verdun ohne memoria vorkommt, wird sie im Chartular von Saint-Vincent zusammen mit memoria verwendet 563 • Die Wendung oculus mentis ist hier 564 und auch in Metz nachweisbar 565 • In 559 S. 178, Nr. 303 (1055-1062), A: Quisquis sanctorum consors et perpetue retributionis desiderat particeps existere, necesse est ut ex rebus transitoriis, quas possidet, Deo sancteque ecclesie et ei condigne servientibus, largiendo, future felicitatis premium sibi adquirere studeat. Et quod rationabiliter agitur, scripturarum serie taliter oportet alligari, ut per futura tempora oblivione nequeat violari; S. 182, Nr. 307 (1080-1100), A: Quia nostris temporibus, ut ipsa veritas predixit, appropinquante mundi termino, habundat iniquitas et non sol um multorum, sed pene omnium refrigescit karitas; et, propheta attestante, "periit lides, ablata est a cordibus hominum". Iccirco quicquid de rebus sancte Dei ecclesie agitur, necesse est ut litteris, ne oblivione depereat, commendetur; S. 334, Nr. 584 (1080-1102), A: Ne istud oblivioni tradatur; S. 359, Nr.622 (1080-1102), A: Istud quoque litteris annotetur ne oblivione deleatur; S.458, Nr. 810, A: Oportunum esse remur ne oblivioni tradatur concordiam. 560 S.57, Nr.79 (1080-1100), A: Item aliud notet pagina, ne labatur a memoria; S.328, Nr.574 (Ende des 11. Jhs. oder Anfang des 12. Jhs.), Ne a memoria labatur posterorum; S. 375, Nr.650 (Ende des 11. Jhs.), A: Ne a memoria presentium futurorumque labatur; S.406, Nr. 715 (Ende des I1.Jhs. oder Anfang des 12.Jhs.), A: Ne a memoria presentium futurorumque labatur. 561 Hac notitia declarari volumus (S.41, Nr. 51 (gegen 1080»; Noticie fidelium tradere volumus (S.43, Nr.56 (gegen 1070», vgl. Nr.1I3, 711; Noticie fidelium tradere disposuimus (Nr. 113, 525, 672); Noticie fidelium tradere disponimus (Nr. 392, 411, 566, 710, 712); Noticie fidelium hoc tradere cupimus (S.276, Nr.479(Ende I1.Jhs.); Noticie fidelium tradimus (S.386, Nr.671 (Ende 11./Anfang 12. Jhs.); Noticie fidelium manifestum esse volumus (S.425, Nr.750(Ende 11. Jhs.»; Noticie presentium atque futurorum tradere dignum duximus (S.176, Nr.299 (1103-1125»; Noticie presentium futurorum tradimus (S. 278, Nr.483 (1067-1078»; Noticie presentium atque futurorum dignum judicamus intimare (S. 441 f., Nr.779 (Ende I1.Jhs.); Noticie presentium posteritatique futurorum indagare volumus (S.224, Nr. 379 (gegen 1095»; Noticie presentium atque futurorum indagare decrevimus (S.469, Nr. 832 (1087-1100»; Noticie futurorum atque presentium tradere disponimus (S.59, NT. 83 (1105-1125»; Noticie futurorum atque presentium manifestari volumus (S. 84, Nr. 130 (Ende II./Anfang 12. Jhs.); Presentium posterorumque noticie scribendo tradere conamur (S.345, Nr. 601 (gegen 1067»; Noticie futurorum tradere decrevimus (S.45I, Nr.796 (Anfang 12. Jhs.»; Noticie tradere decrevimus (S. 214, Nr.357 (Anfang 12. Jhs.); Noticie tradendum est (S.449, Nr.793 (Anfang 12. Jhs.»; Posterorum noticie intitulare decrevimus (S. 219, Nr. 368 (Ende 11. Jhs.). 562 Siehe Kapitel 11. 2. b) (2). 563 S. 56, Nr. 76 (Ende des 11. Jhs.), A: Ne per succedentia tempora a memoria labatur, scribere ratum duximus convenientiam inter nos et fratrem Vivianum habitam; S.229, Nr.390 (1080-1102), A: Quicquid ecclesia adquirit, congruum est ut litteris commendetur, ne per succedentia tempora a memoria labatur; S. 279, Nr.484 (1067-1078), Noticie fidelium tarn presentium quam futurorum commendare volumus, ne labatur a memoria pro succedentium temporum decursibus, ... ; S. 329, Nr.576 (1098), A: Constitutum est ab antiquis, ut quotiescumque catholice ecclesie aliquid datur scripturn per auctoritatem retineatur, ne per succedentium temporum longitudinem a memoria deleatur; S. 441, Nr.778 (1080-1102), A: Quicquid ecclesia a fidelibus adquirit, decretum est ut litteris cum astipulatione veratium testium commendetur ne per succedentia tempora a memoria labatur.

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III. Monastische Schriftzeugnisse

den Schriftzeugnissen von Lerins begegnen uns sehr variierte, doch schon im 11. Jahrhundert als Formel wirkende memoria/oblivio-Wendungen. Kurz zusammenfassend ist festzuhalten, daß die hier ausgewerteten Schriftzeugnisse aus den monastischen Chartularen trotz ihrer beschränkten Untersuchungsbasis ein eigenes Diktatgut erkennen lassen. Diejenigen aus Molesme enthalten mit den lothringischen Urkunden vergleichbare Formulierungen im Hinweis auf res gestae und mens humana. Letztere Wendung taucht ebenfalls im Chartular von Ronceray auf. Eine Reihe der memoria-Ausdrücke im Chartular von Saint-Vincent führt zu der Annahme, daß sie im untersuchten Zeitraum im betreffenden Kloster etabliert wurden und daraufhin feste Wendungen waren.

3. Negative Ergebnisse Die zur Untersuchung herangezogenen Chartulare weisen nicht durchgehend eine intensive Verwendung von memoria-Formulierungen auf566 • Solche negativen 564 S. 347, Nr.605 (gegen 1066), A: Dum omnis homo in hac tarn brevi et fragili vita degens finem vite sue ante oculos mentis sem per habere debet, quatinus caritatis opera ita exercere studeat, ut dum necesse fuerit ipsam inveniat quoniam multitudinem peccatorum operit, Domino attestante atque dicente. 565 Actes des princes Lorrains, 2eme serie: Princes ecclesiastiques, I: Les eveques de Metz, B: Etienne de Bar 1120-1162, par Michel Parisse. S. 208, Nr.94 (1149-1158), Abschrift vom 13. Jh., A: Viri prudentis est non tantum presentia conspicere, sed quid in posterum possit accidere sollicite mentis oculo contemplari. 566 Die Chartulare von Saint-Bertin in Saint-Omer, Remiremont, Gembloux und Savigny enthalten nur sporadisch memoria- Wendungen, so etwa einmal im 12. Jahrhundert in Gembloux. Recueil des chartes de I'Abbaye de Gembloux, publie par c.-G. Roland, Gembloux 1921. Nr.63 (1187), A: Quoniam dicta vel facta priorum litteris mandata transeunt ad noticiam posterorum et magis probabile fit et idoneum memorie quidquid sub oculis representatur et attestantur littere; nur zweimal im 12. Jahrhundert im Chartular von Savigny. Cartulaire de I'abbaye de Savigny, ler Partie, publie par Auguste Bernard, Paris 1853. S.473, Nr. 898 (1117), A: Laudabilium actum memoria omnimoda debet servari cautela, ne forte quod prudentium perficitur industria, succedentium pereat ut aboleatur ignorantia.... praecipiens inde cartam fieri et perenni memoriae commendari; S. 513, Nr.946 (1173), A: Quoniam nihil est in hac praesenti mortalitate quod in eodem statu perrnaneat, ne facile memoriae excidat vel oblivioni tradatur, ad perpetuam tarn praecedentium quam succedentium memoriam transmittere curamus; Das Chartular von St. Bertin zeigt erstmals 1138 ein Beispiel mit memoria und oblivio in einer Schenkungsurkunde des Vogts von Bethune. Les chartes de Saint-Bertin d'apres le grand Cartulaire de Dom Charles-Joseph Dewitte, par Daniel Haignere. Tom I: 648-1240. Saint-Omer 1886. Nr.175, A: Ne quod dignum memoria est oblivioni tradatur, stili officio notum facimus tarn posteris quam presentibus. Augenfällig ist diese späte Verwendung der memoria in St. Bertin trotz ihrer historiographischen Tradition seit dem früheren Mittelalter. Hier ist z. B. an die Werke Folkwins von St. Bertin zu denken. Dazu vgl. Hans Patze, Adel und Stifterchronik. Frühforrnen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S.8-81 und 101(1965), S.67-128, hier Bd. 100, S. 19 ff.; außerdem wurden die Urkunden von Saint-Benigne de Dijon (Chartes et documents de Saint-Benigne de Dijon. Prieures et dependances des origines 11 1300, publies et annotes par Georges Chevrier et Maurice Chaume, Tom. 11 (990-1124), Dijon 1943), von Gorze (Cartulaire

4. Einleitungstexte der monastischen Schriftzeugnisse

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Ergebnisse sollen an dieser Stelle hier kurz vorgestellt werden. Der Fall von Angers verdeutlicht, daß die memoria-Wendung trotz der unterschiedlichen Formulierungen in einer Region weite Verbreitung fand. Vorarbeiten über andere monastische Schriftzeugnisse lassen aber erkennen, daß die geographische Lage nicht immer zur gleichmäßigen memoria-Verwendung führt. Die Urkunden von Remiremont zeigen z. B. memoria-Wendungen erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts 567 • Das dabei geäußerte starke Vertrauen auf die Schriftlichkeit wird jedoch mittels einer eigenartigen Formulierung ausgedrückt 568 • Sonst wird memoria in Remiremont nur sehr sporadisch verwendet. Diese Beobachtung ist wichtig, wenn man auf die Ergebnisse aus den anderen lothringischen Schriftzeugnisse zurückgreift. Die dort auftauchenden Formulierungen sind mit denjenigen der bischöflichen Urkunden von Metz und Verdun vergleichbar 569 , aber ihre Zahl ist verhältnismäßig gering. Man kann nicht sagen, daß es in Remiremont eine Diktattradition bei der Verwendung des memoria-Begriffs gab. Das Chartular von Remiremont enthält einige Urkunden der Herzöge von Lothringen vom Anfang des 13. Jahrhunderts, die ebenfalls memoria-Wendungen gebrauchen 57o .

4. Einleitungstexte der monastischen Schriftzeugnisse Die Analyse der Einleitungstexte der monastischen Schriftzeugnisse beruht wegen der vielfaltigen und unterschiedlichen Entstehungsbedingungen auf einer ungleichmäßigen Untersuchungsbasis. Insofern könnte es vielleicht problematisch de l'abbaye de Gorze, par A. d'Herbomez. Paris 1898) und von I'Abbaye de Villers-en-Brabant (Chartes du xne siede de I' Abbaye de Villers-en-Brabant, par Ed. de Moreau, S. J., Louvain 1905) untersucht. In Villers findet man auch eine memoria-Wendung unter fünfzig, zwischen 1146 und 1200 entstandenen, Urkunden. Nr.32 (1183), Kopial, A: Quia humanis actibus, quamvis solemniter gestis, processu tarnen temporis subrepit oblivio nisi scripti aminiculo lubrica fulciatur memoria. 567 Chartes de l'abbaye de Remiremont des origines a 1231, ed. par Jean Bridot, Tumhout 1997. S. 175, Nr.80 (1147/1156-1161/1164), Kopial, A: Diuturne memorie subservientes scripto confirmare curavimus. 568 Ebd., S. 177, Nr. 81 (1140-1161/1164), Abschrift vom 15. Jh., A: In omni compositione partium utilis et necessaria est (scripti) interpositio, quatinus dum fideli carte pax signata committitur, post succedentia tempora nullatenus queat rei veritas, aut ab alterutra parte contumaciter negari, aut ab altera oblivione sepeliri. 569 Die Verfasserschaft der betreffenden Urkunden ist nicht zu bestimmen. 570 S. 217, Nr. 107 (1204), Abschrift vom 15.Jh., A: in posterum que aguntur in tempore, ne cum tempore defficiant, merito debent per litteras posterorum memorie commendari; S. 252, Nr.134 (1219), Or., A: Quoniam novercamemorieestoblivio. Vgl. S.264, Nr.143 (1223), Or.; S.268, Nr.146 (1224), Abschrift vom 14.Jh., A: ... omnibus presentes literas inspecturis rei geste notitiam memorie commendare. Quoniam lapsu temporum et inmutatione personarum solent a communi memoria deperire que fidelium sunt ordinatione disposita, propter pacis caritatisque custodiam et futurorum quietem scripto debent fideliter commendari. Vgl. S.276, Nr.151 (1225), Or.

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III. Monastische Schriftzeugnisse

sein, nur die dort enthaltenen Diktate miteinander zu vergleichen und zu einem Ergebnis zu führen. Im folgenden wird aber nicht ein allgemeines Bild angestrebt. Die Analyse beschränkt sich aus diesem Grunde darauf, eine dort zum Ausdruck gebrachte Vorstellung über die menschliche memoria exemplarisch vorzuführen und Tendenzen aufzuzeigen. Ein solcher Versuch könnte Verallgemeinbarkeit und Verbreitung für den untersuchten Zeitraum zumindest ansatzweise beanspruchen. Stifterchroniken, Gründungsgeschichten und Chartulare lassen sich als Gattungen nicht immer klar voneinander unterscheiden 571 • Es ist jedoch möglich, unterschiedliche Schwerpunkte festzustellen. Die Chartulare wurden in erster Linie für die Verwaltungstätigkeit zusammengestellt, dagegen zielte die Klostergeschichtsschreibung 572 auf die historiograph ische Aufzeichnung, die ihre Verbindung und Beziehung mit den Stiftern legitimierend zum Ausdruck bringen sollte, um das Gemeinschaftsbewußtsein zu verstärken. Dabei ist die steigende Bedeutsamkeit der "Fixierung rechtlicher Verhältnisse durch schriftliche Beweismittel"S73 unverkennbar. Die Überschneidung zwischen den historiographischen Texten und Rechtsdokumenten erweist sich auch darin, daß im 11. und 12. Jahrhundert die abgeschriebenen Urkunden zunehmend in die Geschichtsschreibungen integriert wurden 574 • Die memoria, die in den Dokumenten mit rechts sicherndem Charakter als Leitidee auftaucht, erhält ein nicht unbedeutendes Gewicht in juristischen Dokumenten wie Chartularen, aber auch in historiographischen Quellen wie Stifterchroniken und Gründungsgeschichten. Jörg Kastner hat mit Recht die Interpretationsmöglichkeit der memoria im juristischen Sinne bei den Gründungsgeschichten hervorgehoben 575 • Beachtenswert ist dabei die Tatsache, daß die "Fundationes" in Deutschland gerade - so drückt Brackmann es aus - "seit dem dritten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden geschossen seien"576. Diese Entwicklung ist nicht nur wie Kastner feststellte, "das äußere Zeichen für den beginnenden inneren Verfall, für das, mindestens seit dem Wormser Konkordat einsetzende, zunehmende Erlahmen der ersten Reformbegeisterung, für die fortschreitende Assoziierung der rein geistlichen Tendenzen mit weltlichen praktischen Interessen, mit einem Wort, ,den Niedergang Hirsaus"'577, sondern steht im Kontext eines bewußten Versuchs 571 Zu dieser Gattungsproblematik siehe ]örg Kastner, Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter, München 1974. Insbesondere S. 6 ff.; Zur Entwicklung des Traditionsbuchs vgl. Stephan Molitor, Das Traditionsbuch. Zur Forschungsgeschichte einer QueJlengattung und zu einem Beispiel aus Südwestdeutschland, in: Archiv für Diplomatik 36 (1990), S. 61-92. 572 Über diesen Terminus vgl. Kastner, ebd., hier S. 3, Anm. 10. 573 Patze (wie Anm.564), hier Bd.100 (1964), S.21. 574 Vgl. Hans Reppich, Die Urkunden in der Geschichtsschreibung des Mittelalters, Phi!. Diss. Berlin 1924. 575 Kastner (wie Anm.571), S. 77ff. 576 Albert Brackmann, Zur Geschichte der Hirsauer Reformbewegung im XII. Jahrhundert, Berlin 1928. Hier S. 31. 577 Kastner (wie Anm.571), S.83.

4. Einleitungstexte der monastischen Schriftzeugnisse

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zur rechtlichen Absicherung, in den auch der zeitgleiche Zuwachs der urkundlichen Aufzeichnungen gehört. In den Einleitungstexten ist eine ähnliche memoria-Wendung wie scripto memoriae commendare curamus zu beobachten, der man häufig in urkundlichen Texten begegnet 578 • In dem vor der Mitte des 12. Jahrhunderts geschriebenen Gründungsbericht von Prüfening kommt folgende Auffassung zur Sprache: Quia per incuriam vel negligentiam preposirorum plerumque aecclesias destrui et bona aecclesiarum alienari vel distrahi videmus, ob hoc videlicet quod nulla sint indicia, ipsae aecclesiae per quos Jundatae, et quae vel a quibus collate sint aecclesiis, nos prospicientes in posterum, nostra aecclesia a quo, quando vel quomodo sir Jundata, unde vel per quos primitus disciplinis regularibus instituta, quae a quibus ipsi aecclesiae sint collata, breviter annotare et sie post Juturorum memoriae mandare curavimus 579 • Hier kommt der Zweck der Fundatio - für die Zukunft zu bewahren und Beweismittel zu schaffen - deutlich zum Ausdruck. Hinter einer solchen ÄuBerung liegt die Notwendigkeit des schriftlichen Festhaltens, das vor dem Vergessen schützen soll. In der Fundatio von Biburg wird die Gefahr der VergeBlichkeit im Zusammenhang mit dem Vergegenwärtigungszweck zum Ausdruck gebracht 580 : Omnia tollit aetas et cuncta tollit oblivio, litterae solae suJJragantur memoriae et praeterita reddunt oculis quasi sint praesentia. Hierbei kommt die Funktion der schriftlichen Aufzeichnung klar zum Ausdruck, die Erinnerungen bekräftigt und die Vergangenheit präsent macht. Die Gefahr der VergeBlichkeit kommt auch in der Fundatio von Komburg zur Sprache 581 : Cuncte res geste, quantumlibetJuerint magne et suo tempore celebres etJamose, cicius tamen in oblivionem devenissent, si non ab hiis qui vel eis interfuerant vel qui eas certa relacione compertas habebant literis tradite Juissent. Einer solchen Betonung der Gefahr der VergeBlichkeit begegnet man auch in der Einleitung des Chartulars der Abtei Aniane 582 • Im aus dem 12. Jahrhundert stam578 Fundatio ecclesiae S.Georgii Lunarensis, ed. O. Holder-Egger, MGHSSXV, 2, Stuttgart/ New York ND 1963. S. 982: Qualiter ecclesia beati Georgii, quae dicitur Domus Dei, constructa sit, scripto memoriae commendare curamus, quatenus et prasentes et futuri agnoscant, cur locus ille fundatus sit, et quid iuris nostro loco debeat. Vgl. zur Einleitung der Komburger Fundatio: Fundatio monasterii Comburgensis, ed. O. Holder-Egger, MGHSSXV, 2, S.1028: Pauca igitur de constructoribus huius Kambergensis cenobii ad posteritatis memoriam cupientes scribere, primo, qui ipsi fuerint, deinde, quid egerint, oportet nos dicere. 579 Libellus memorialis de fundatione, de institutis, de praediis seu aliis bonis aecclesiae St. Georgii martyris, ed. O. Holder-Egger, MGH SS XV, 2 S. 1075. Kastner (wie Anm. 571), S.84. 580 Notitiae fundationis monasterii Biburgensis, ed. O. Holder-Egger, MGH SS XV, 2, S. 1085. Kastner (wie Anm. 571), S. 88. 581 Fundatio monasterii Comburgensis, ed. O. Holder-Egger, MGHSSXV, 2, S.1028. Kastner (wie Anm. 571), S. 89. 582 Cartulaires des abbayes d'Aniane et de Gellone, publies d'apres les manuscrits originaux, Cartulaire d' Aniane, par l'abbe Leon Cassan et Edmond Meynial, Montpellier 1900,

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III. Monastische Schriftzeugnisse

menden Traditionsbuch von Formbach wird betont, die Notiz solle dazu dienen, die Erinnerung an die Stifter namentlich und lang aufzubewahren 583 : ••• ut noticiam illorum, qui ea tradiderunt, successoribus nostris retinquamus et per hanc memoria eorum nominatim fiat et tonga. Der in den Arengen ausgedruckte memoria-Motiv, welches das schwache Gedächtnis der Menschen thematisiert, wird ebenfalls in der Einleitung zu monastischen Schriftzeugnissen verwendet 584 • Die memoria bezieht sich hierbei nicht nur auf exempta, sondern ist als die unzuverlässige Gedächtniskraft der vergänglichen Menschen zu verstehen, die durch das zunehmende Interesse an der menschlichen Erkenntnis ins Bewußtsein geruckt worden ist. Ein Hinweis darauf ist, daß ein Wort wie mens 585 zusammen mit memoria oder oblivio seine Verwendung gefunden hat. Als Grund der nötigen schriftlichen Fixierung wird die confusio in den Einleitungstexten häufig erwähnt 586 • Vor diesem Hintergrund ist wohl auch der utilitasGedanke zu sehen, der ebenfalls gelegentlich in den Arengen der Urkunden vorkommt. Die für die Zukünftigen schriftlich bewahrte memoria sei nützlich, weil das Leben der Menschen kurz und ihre memoria vergänglich sei 587 • Ein derartiger utilitas-Gedanke ist mit dem wachsenden Vertrauen auf die Verschriftlichung im MittelS. 1-35. Hier S. 3: quoniam mens diversis rebus partita oblivione cecatur, divinitus credimus esse consultum ut que oblivio prolixa procurrente tempore poterat aboleri, litteris mandarentur servanda. 583 Codex traditionum monasterii Formbacensis, in: Urkundenbuch des Landes ob der EnnsI, S. 625. Kastner (wie Anm. 571), S. 89. 584 Vgl. Pascale Bougain und Marie-Clotilde Hubert, Latin et rhetorique dans les prefaces de cartulaire (wie Anm. 535), S. 129, Anm. 60 und 61; (M.) Leopold Delisie, Notice sur le Livre blanc de l'eglise du Mans, in: Bibliotheque de l'Ecole des chartes, 1.31 (1870), S.194-21O. Hier S. 199: Quoniam labilis hominum memoria tot cogitationum procellis, ut arundo ventis agitata, tantisve sollicitudinum curis turbata turbinibus, quod singula queque ad memoriam nequeat revocare, antiqui omnia statuerunt in scriptis redigere, ut ipsis esse in speculum, ac posteris relinqueretur in exemplum ... Idcirco modemi, antiquorum patrum zelatores, que necessaria vel utilia prospiciunt, ne in oblivionem veniant in scriptis redigunt et commendant; Liber instrumentorum memorialium. Cartulaire des Guillelms de Montpellier, (ed.) Alexandre Germain et Camille Chabaneau, Montpellier 1884-1886, hier S.I: Quod utique cognicionis genus non habet homo prestancius, quam si ea quorum recoli mavult ac reminisci desiderat, stilo commendaverit, ne labefactante memoria, quod facHe adinvenit facHius evanescat, et ab ipsius collabatur memoria. 585 Vgl. zu einem Text von Hugo von Fouilloy gegen 1153: More enim fluentis aque cuncta transeunt et velud aura pertransiens facta mortalium a memoria mentis sepius evanescunt. Et ideo forsitan non erit inutile res gestas scripto nuntiare. Ed. Walter Simons, Le mouvement canonial au XIIe siede, in: Sacris erudiri 24 (1980), S.203-244, hier S. 243. 586 Vgl. Pascale Bougain/Marie-Clotilde Hubert, Latin et rhetorique dans les prefaces de cartulaire (wie Anm.535), S.118. 587 Recueil des chartes de l'abbaye de S.Benoit-sur-Loire, par M. Prou/A. Vidier, Paris-Orleans, 1900.2 vols., Nr.123 (gegen 1125), A: Quoniam humana vita brevis est labisque memoria, executionem gestarum rerum decrevit antiquitas commendare memorie litterarum; Nr.174 (1161-1167), A: Quoniam vita humana brevis est labilis que memoria, que utilia et digna relatu videntur litterarum memorie commendare patrum decrevit auctoritas.

5. Zusammenfassung

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alter verbunden 588 • Das Wort utilitas findet sich häufig im 12. Jahrhundert sowohl in den bischöflichen Urkunden als auch in den monastischen Privaturkunden 589 • Die Betonung der Nützlichkeit der Archivierung hat ihren Grund in dem Restaurationsgedanken, der insbesondere in der Mitte des 12. Jahrhunderts oft in den Urkunden auftaucht 590• Die Urkundenausstellung soll nicht nur die in Vergessenheit geratenen Rechtsgeschäfte wiederherzustellen 591 , sondern auch einen Schutz vor der von der Nachwelt bewußt vollzogenen Vernachlässigung bieten 592 • Damit würden zukünftige Streitigkeiten vermieden, da die geschriebene memoria 593 die ÜberpTÜfbarkeit sicherte.

5. Zusammenfassung Die vorgeführten monastischen Schriftzeugnisse zeigen keine gleichmäßige Verbreitung der memoria-Wendung. Jedes Kloster scheint eine eigene Diktattradition gepflegt zu haben, wobei die memoria als ein Merkmal dieser Tradition dienen darf, wie die Fälle von Le Mans und Lerins anschaulich machen. Diese Ergebnisse sind insbesondere in einem Fall wie in Lothringen zu beobachten, der eine regionale Ausprägung im Dikatgut erkennen läßt. Die Schriftzeugnisse von Remiremont wei588 Vgl. Cartulaire de Sainte-Croix d'Orleans (814-1300), par Joseph Thillier/Eugene Jarry. Paris 1906. Nr.75 (1155), A: Pulcherrime consuetudinis usus apud nos inolevit ut pactiones quas cum aliquibus facimus scripto et memorie commendemus, quatinus quod fragili perire poterat in memoria, vivaci conservaretur in littera. 589 Z.B. Cartulaire de l'abbaye de Saint-Trond, publie par Ch. Piot, t.I Bruxelles 1870, Nr. 54 (1147-1155), A: Quum seculi transcurrentis inreparabile senium filios Adam, sine ulla sextus vel conditiones differentia, morte depopulatur, eorumque memoriam quondam quasi intuitu vetustatis obliterat et sepelit, necesse est scripto mandari quicquid modernis elaboratum, non solum eorum, sed etiam futurorum prodesse poterit utilitati; vgl. Joseph Avril, Observance monastique et spiritualite dans les preambules des actes (X'-xnJ