Medialität der Kunst: Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne [1. Aufl.] 9783839415597

Die literarische Produktion von Rolf Dieter Brinkmann ist ein herausragendes Beispiel für die Medialität der Kunst. Brin

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Medialität der Kunst: Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne [1. Aufl.]
 9783839415597

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
In der Grube. Brinkmanns Neuer Realismus
»Studio-Linie.« Zu Brinkmanns Warenästhetik
Tourismus und Literatur: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke
Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung
Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: Die leere Utopie des ›Einfach-Nur-Da‹-Seins
Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik
Kreis, Punkt, Linie, Poetische Verfahren und Medialität in R. D. Brinkmanns Die Umarmung, Die Stimme und Godzilla
Schreiben gegen das ›ptolemäische Weltbild‹. Hybride Schrift-Bilder und Piktographie im Werk Rolf Dieter Brinkmanns
»Ich möchte mehr Gegenwart!« Aspekte der Intermedialität in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns
Redundante Wiederholungen, wiederholte Redundanzen. Ein Lektürevorschlag zu Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte
Bilder einer Neuropoetik. Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch)
Piloten – Orangensaftmaschinen – (Augen)Blicke. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Raumkonstellationen
Pop-Mythos und Rebellion Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik
Rolf Dieter Brinkmanns Konstruktion und Destruktion des weiblichen Körpers
Restformen von Menschenleben. Zum Verhältnis von Körperbild und Identität bei Rolf Dieter Brinkmann
Autorinnen und Autoren

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Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst

Lettre

Markus Fauser (Hg.)

Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne

Diese Publikation wurde durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Markus Fauser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1559-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Markus Fauser

7

In der Grube. Brinkmanns Neuer Realismus

Moritz Baßler

17

»Studio-Linie.« Zu Brinkmanns Warenästhetik

Heinz Drügh

33

Tourismus und Literatur: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke

Eckhard Schumacher

53

Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung

Dirk Niefanger

65

Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: Die leere Utopie des ›Einfach-Nur-Da‹-Seins

Gerd Hurm

83

Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik

Markus Fauser

103

Kreis, Punkt, Linie, Poetische Verfahren und Medialität in R. D. Brinkmanns Die Umarmung, Die Stimme und Godzilla

Marion Hiller

125

Schreiben gegen das ›ptolemäische Weltbild‹. Hybride Schrift-Bilder und Piktographie im Werk Rolf Dieter Brinkmanns

Stefan Greif

157

»Ich möchte mehr Gegenwart!« Aspekte der Intermedialität in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns

Stephanie Schmitt

175

Redundante Wiederholungen, wiederholte Redundanzen. Ein Lektürevorschlag zu Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte

Morten Paul

193

Bilder einer Neuropoetik. Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch)

Sibylle Schönborn

213

Piloten – Orangensaftmaschinen – (Augen)Blicke. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Raumkonstellationen

Pawel Zimniak

229

Pop-Mythos und Rebellion Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik

Sascha Seiler

243

Rolf Dieter Brinkmanns Konstruktion und Destruktion des weiblichen Körpers

Arletta Szmorhun

257

Restformen von Menschenleben. Zum Verhältnis von Körperbild und Identität bei Rolf Dieter Brinkmann

Ton Naaijkens

271

Autorinnen und Autoren

283

Einleitung

Wo aber ist das Leben? Diese immer wieder eindringlich aufgeworfene Frage kann die intensiven Suchbewegungen von Rolf Dieter Brinkmann am besten erfassen. Alle Experimente, alle Versuche auf vielen Feldern der Künste gehen aus dieser ernsten Frage hervor, die den Autor noch bei den kleinsten alltäglichen Handlungen begleitete. Der Drang zu einer rastlosen und unerschöpflichen Arbeit, die erst nach und nach in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar wird, mag unbegreiflich bleiben; aber der Impuls zum Widerstand gegen die umfassende Erschöpfung, der Wunsch nach dem Ausbruch aus einer in jeder Hinsicht als Beschränkung empfundenen Realität und die Hoffnung, gerade der alltäglichen, medial erzeugten Phantomwirklichkeit durch eine starke, klare Anwesenheit Herr zu werden, bilden das nachvollziehbare Movens dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Was hat er nicht alles behauptet. Alles und jedes verworfen. Keine Person, kein Kollege, kein Freund blieben verschont, weder die Zustände, wie er sie kannte, noch die eigene Tätigkeit waren vor seiner beißenden Kritik sicher – und schon gar nicht die Literatur. In seinem ureigenen Gebiet, der Literatur, verfiel er gerne in Koketterie. »Keinen miesen Pfennig« sei sie wert, so schreibt er einmal in den Briefen an Hartmut, nur um diese Äußerung gleich wieder zurückzunehmen: »Stimmt das so? Nein, wohl nicht«. Dem Brief vom 20. Januar 1975 legt er Gedichte bei und diskutiert munter die Rolle von William Carlos Williams, Ezra Pound und anderen, vorwiegend amerikanischen Lieblingsautoren für seinen eigenen Arbeitsprozess. Nimmt man die bisher bekannten Briefe, so darf man ohnehin einige anekdotisch überlieferten Großsprechereien relativieren, denn hier tritt uns ein äußerst sorgfältiger Autor gegenüber. Und Begeisterung spürt man, wenn er über Schallplatten, Filme und die Stars des Rock’n'Roll seiner Tage

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spricht. Die populären Songs feiert er als »direkte Poesie«, sie intensivieren das alltägliche Leben, sie öffnen ihm Wege in den Kopf. Filmtechnik, Musik und Literatur gehören bei Brinkmann zusammen und gehen seit den sechziger Jahren eine ästhetische Allianz ein. Immer auf der Suche nach dem »fantastischen Augenblick«, so heißt es im zentralen poetologischen Essay Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975), findet der Autor in »der imaginären Jukebox in meinem Gedächtnis« aus dem Wust der angesammelten Zitate, Sprüche, Fetzen, aus dem »Ramsch der Realität« das heraus, was in dem »Augenblick, an dem ich schrieb« einerseits den Gang seines Bewusstseins zu bestimmen vermag und andererseits der »eigenen Zeit« des Schaffensprozesses folgt. Im Widerstand gegen das trostlose Panorama der Realität, gegen die erschöpfende Einzelheit und Vereinzelung setzt Brinkmann sein ästhetisches Konzept der Herstellung wahrer Gegenwart. Zusammengefügt aus den Resten des Alltags, komponiert aus dem Abfall, der ihn umgibt, geht er durch »Haufen an scheinbaren Einzelheiten« hindurch und filtert den »eigenen Empfindungszustand« dort heraus, wo ihn keiner mehr erwarten kann. Schier endlos häuft der genannte Essay Bilder einer kaputten Realität an, lediglich unterbrochen von drei Szenen der Selbstdarstellung des Schreibens. Denn die plötzlichen Erleuchtungen ereignen sich alle »während« er aus dem Fenster schaut, »während« ihn die Geräusche des Alltags stören und »während« sich die Gedanken und Erinnerungen mit der Schreibgegenwart vermischen. Der poetologische Essay, seit 2005 in der Neuausgabe von Westwärts 1&2 enthalten, gibt in seiner Struktur selbst ein Bild vom Arbeitsprozess und von der »Situation« des Autors in der Zeit. Wirkt der ganze Essay in seinen exzessiven Benennungen doch wie eine einzige ruhelose Fluchtbewegung durch den »Fetisch Realität«, der sich zwischen den drei Schreibszenen aufspannt. Bemerkenswert bleibt der heilige Ernst, mit dem Brinkmann spricht. Bemerkenswert auch seine hohe und höchste Erwartung an die Literatur: »Nach einem Gedicht beginnt das Niemandsland.« Wer so formuliert, begreift Poesie als existentielle Handlung. Gerade solche Worte aus dem späten Essay lassen die Distanz Brinkmanns zu den Popliteraten unserer Tage deutlich hervortreten. Sie liegt nicht in den gewählten Mitteln und Techniken, sondern eben in der Haltung dieses Autors. Jedenfalls scheint Brinkmann einem inneren, unzerstörbaren Kern des Individuellen verpflichtet zu sein, wenn er immer wieder

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nach dem Leben, nach der Lebendigkeit, nach der »guten Gegenwart« auch in dem genannten Essay fragt. Dieses Vertrauen auf eine letzte Unbedingtheit in sich selber hat wenig zu tun mit den literarischen Tendenzen der neunziger Jahre. Wohl mehr mit den Anfängen des Autors in den späten fünfziger Jahren. Bemerkenswert ist auch der folgenreiche Zwiespalt im Leiden an der Gegenwart bei der gleichzeitigen Hingabe an eine bessere Gegenwart. In zunehmendem Maße schreibt er nämlich ideologisierte Texte wie das Cut-up (1972) zum Hörspiel Auf der Schwelle. Alles an der Realität sei falsch, so liest man dort und Begriffe seien prinzipiell untauglich zur Beschreibung der Welt. Aber der angestrengte Versuch, dieser defizitären Realität in der Negation habhaft zu werden, gelingt dann ebenso wenig wie in den zitierten Sätzen und Definitionen, den montierten Sprachfetzen, denen jede Referenz auf die Wirklichkeit schon vorher abgesprochen worden war. Auch die kulturkritischen Texte mit ihrem Höchstmaß an Negationspotential kommen dem Stand der Dinge letzten Endes nicht bei. Da bleibt nur das Ausweichen in die Transzendenz. Und dies ist vielleicht der am wenigsten erforschte Zug des Autors. In einer kurzen Rezension zu Burroughs Roman Nova Express skizziert Brinkmann in wenigen Abschnitten den Gegensatz. Nachzulesen unter dem Titel Spiritual Addiction in der Sammlung Der Film in Worten (1982), feiert er die Schreibweise des Amerikaners und vor allem dessen Plädoyer für einen Zustand jenseits von Bildern und Wörtern. Die zwanghaften Muster des bloßen Reagierens auf Wörter – so funktioniere Sprache – müssten aufgebrochen werden. Und dieser schwierige Kampf ereigne sich im Nervensystem des Menschen, als Kampf gegen die »spiritual addiction«. Alle kulturellen Orientierungen des Menschen stehen auf dem Prüfstand, alle Selbstverständlichkeit sei aufzugeben und jeder Glaube an eine fassbare Wirklichkeit von vorneherein nichtig. Und was empfiehlt er? Die Stille. Man möge »das Stille-Virus« freilassen. Lernen, alleine im Schweigen zu leben, den »wortlose(n) Zustand« erreichen, jedes Schema aufgeben, das Verweigern von Erklärungen – das sind die Ziele des Programms. Sehr deutlich ist hier von Transzendenz die Rede. Zwar wird das nicht weiter erläutert, aber die Stichworte wie Traum und Gebet verweisen auf eine Poetik, die dezidiert frei sein will von Transzendenz und dennoch merkwürdig schwankt zwischen Materiellem und Spirituellem, profan gesagt: zwischen Hingabe und Sucht.

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Nicht eine bloße Reprise der (frühen) Moderne ist sein Ziel und auch nicht der einfache Rückgriff auf scheinbare Sicherheiten, wie sie in der Erneuerung romantischer Theorien zu finden gewesen wären (Tieck, ein Lieblingsautor). An die Stelle überkommener Programme und an die Stelle des bloßen Selbstbezugs der ihm wohl bekannten avantgardistischen Moderne tritt ein neuer Mythos namens Gegenwart. In seinen Übersetzungen und im Essay über den wahlverwandten Frank O´Hara kommt zur Sprache, woran Brinkmann glaubt: die »unmittelbare Präsenz« (»the mere presence/changes everything like a chemical dropped on a paper« wie O`Hara in einem Poem sagt). Diese nie zuvor gesehene Gegenwart – darauf kommt es an: die technisch herbeigeführte Magie – springt aus der überraschenden Zusammenstellung von Details hervor, einem künstlich – künstlerischen Akt, der trotzdem den Bezug zur Realität nicht verloren hat, wie in der Avantgarde üblich. Die »mere presence« – und hier liest Brinkmann den jungen O´Hara mit dem Klassiker der Moderne Williams zusammen – steht für eine »Empfindlichkeit« gegenüber den Dingen, in der man ihnen wie in einer ersten Wahrnehmung zu begegnen vermag. Das aber ist nichts anderes als ein neuer Mythos, zumal der Autor in den Gedichten O´Haras sogar »Partikelchen tatsächlich befreiter Realität« finden will, wie es gegen Ende des Essays über seine Lyrik heißt. Was er dort die Ästhetik der »Oberfläche« nennt, ist letztlich eine Variante magischer Auffassungen von Poesie. Ihre Verlagerung ins Material ist auch nicht ganz neu. Magischen Bräuchen folgt das Benennen und Aufrufen der Dinge, welches sie durch einen Akt der Heiligung aus ihrer Banalität erlösen soll. Und das Herausreißen von Augenblicken aus dem unaufhaltsamen Fluss der Wahrnehmungen, wie es O`Hara praktizierte, erklärt Brinkmann (im Bezug auf McLuhan) mit dem direkten Anschluss des Bewusstseins an den »Stromkreis«, in dem neue Medien und das Leben wie in einem elektrischen Kreislauf zusammenfließen. Aber kann das Benennen des Banalen noch magische Wirkungen freisetzen? Und gibt es den technisch bewirkten Anschluss an Magie tatsächlich? Oder sind hier nur wieder Restbestände alter Theoreme zitiert, die nicht vollständig aufgehoben wurden? Weit mehr als sich Brinkmann eingestehen möchte, ist seine Poetik im Kern traditionalen Konzepten verpflichtet. Bemerkenswert schließlich ist auch eine gewisse Inkonsequenz beim Umgang mit den Koordinaten des eigenen Kunstverständnisses. Das zentrale Begriffspaar, mit dem Brinkmann arbeitet, ist der Gegen-

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satz von »Fortschritt« und »Erweiterung«. Vorgetragen in den beiden Programmschriften zu den Anthologien Acid (1969) und Silverscreen (1969), bilden sie die Basis für die Forderung nach einer zeitgemäßen Kunst. In erklärter Distanz zur Moderne, der Avantgarde »von gestern«, nimmt der Autor Partei gegen den Fortschritt und behauptet überzeugend, die Kunst könne sich immer nur erweitern. Dennoch ist die Situation die gleiche geblieben wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Nur die Orientierung in der Überfülle des Vorhandenen zwinge zu neuen Methoden. Die Arbeit mit und im Material wirke einerseits gegen jede Sinnbildung sowie gegen die Erwartung des Lesers an einen Sinn hinter den Produktionen. Andererseits aber sollen die Cut up – Techniken, das bloße Streichen von gedruckten Sätzen und Auffüllen der frei gewordenen Stellen »mit eigenen Wörtern und Sätzen« dazu führen, dass sich der Schreibende selber realisiere. Aber setzt der Autor an den freien Platz tatsächlich Eigenes oder arrangiert er wieder nur anderes Fremdmaterial? Erzeugen die Montageverfahren also lyrische Readymades oder schon die gesuchte »befreite Realität«? Alleine der undifferenzierte Gebrauch von Vokabeln wie »Kopie«, »Plagiat«, »Xerographie« ist ein Zeichen für die Begeisterung bei der Arbeit mit den »Surrogaten« und für die Überzeugung, dass hier der richtige Weg für eine wahrhaft zeitgenössische Kunst gefunden sei. Freilich: keine der Techniken ist neu. Nur der ungefilterte Glaube an die Qualität und Dignität des Verfahrens verführt zu dem Gedanken, im »Zeitalter der Ablichtungen« würde das Kopieren genügen, um den Inhalt von überkommenen Sinnerwartungen zu befreien. Der Umschlag der Quantität in Qualität, wie er hier gedacht ist, bleibt aber gerade im Vertrauen auf die Überlegenheit der Technik wieder einem unterschwelligen Fortschrittsdenken verhaftet. Schon diese wenigen Bemerkungen zu ausgewählten Texten, zu den Inkonsequenzen wie auch den Irrwegen der ästhetischen Ansätze Brinkmanns führen zu den noch nicht erschöpfend diskutierten Fragen. Gerade die Stellung zwischen dem immer wieder verweigerten Traditionsbezug und der intensiven Auseinandersetzung mit kanonisierten Beständen, das Hin und Her zwischen Anschluss und Verweigerung, die Erneuerung der Moderne bei gleichzeitigem Abstand zu ihrer reinen Selbstbezüglichkeit, die Übernahme poetischer Verfahren der Avantgarde bis hin zum erfundenen Zitat, die bis zum Überdruss wiederholte Abkehr von der verhassten »Kultur«, einem Topos, der auch nur als Legitimation für einen Modellwechsel fungiert, schließlich die

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noch vielfach im Dunkeln liegenden Anfänge des Werks, die bis in die Beschäftigung mit dem Existentialismus in der Schulzeit zurückreichen, fordern neue Zuwendung. In den letzten Jahren häufen sich die Studien, die im Werk Brinkmanns die multimedialen Dimensionen beschreiben und damit seine gewiss nicht zu leugnende Rolle bei der nachholenden Modernisierung der Literatur seit den späten fünfziger Jahren angemessen würdigen wollen. Mittlerweile ist Brinkmann aber wohl zu sehr auf eine Rolle als Gründerfigur der neuen Popliteratur fixiert. Ohne diese Einordnung in Frage zu stellen, wird hier einmal ein anderer Weg vorgeschlagen. Die folgenden Arbeitsfelder stehen im Zentrum der Publikation. Die Beiträge begreifen Brinkmanns gesamte Produktion als ein herausragendes Beispiel für die Medialität der Kunst und wollen damit einen neuen Weg zu den manchmal allzu radikal erscheinenden Verfahren eröffnen. Sicherlich trifft der Begriff Medialität die Besonderheit und auch tendenzielle Einseitigkeit der literarischen Arbeit Brinkmanns besser als das eine neuerliche Diskussion über die epochale Verankerung leisten könnte. Wenn heute die Medialität als Grundlage unseres Weltverhältnisses betont und wenn der Doppelcharakter des Mediums als Instrument und Potenzial eigens reflektiert wird, dann muss die ästhetische Erfahrung in ihrem Verhältnis zu den Verkörperungen der Vermittlung beachtet werden. Gerade für Brinkmann ist deshalb ein erweiterter Medienbegriff nützlich, denn seine Kunst eignet sich für die Erkundung des Zusammenspiels von Medium und Form. Im Unterschied zu den wenigen bekannteren Arbeiten (vor allem Dissertationen) untersuchen die hier vorgelegten Beiträge nicht inhaltliche Bezüge zwischen Medien (Phantasmen der Fremdmedien) oder nur inklusive Beziehungen (Medienzitate), sondern vor allem inhärente Beziehungen, so wie sie in den jeweils zur Erscheinung kommenden Formen zu beobachten sind. Was das Mediale als kultur- und literaturwissenschaftlicher Begriff zu leisten vermag, das kann eben ein genauer Blick auf Brinkmann klären. Der Band geht von der anthropologischen Dreistelligkeit von Medium – Form – Körper aus und untersucht die Verkörperungsformen von Wahrnehmungen. Die Prozessualität der Kunstwerke lässt sich so anders bestimmen als mit dem herkömmlichen und schon oft verwendeten Verweis auf den Epochenbegriff der Moderne. Außerdem wird die Medialität als ein umfassender Zugang sichtbar. Die bildliche und klangliche Qualität der Literatur, die Choreographien der Sprachbewegung, der Sprachfluss und die

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ereignishaften Formen, welche die Sprache bei Brinkmann annimmt, sind nicht annähernd untersucht. Der Versuch, von einem grundlegenden Begriff her die Bedeutung eines Werks zu beschreiben, ist aber auch für den noch nicht erschlossenen Nachlass hilfreich. Gerade die frühen, unpublizierten Lyrikmanuskripte bieten Platz für weitere Recherchen im Sinne der neueren Textgenetik. Diese in den aktuellen Debatten um eine stärkere Einbindung philologischer Ansätze in kulturwissenschaftliche Methoden mit Recht eingeforderte Arbeit an textgenetischen Fragen in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist am Beispiel Brinkmanns noch nicht geleistet, obwohl sie fruchtbare Ergebnisse verspricht. Die Erforschung der frühesten Phase im Werk Brinkmanns ist seit kurzem möglich, denn in der Bibliothek der Universität Vechta liegen mehrere Hundert Blätter Manuskripte, teilweise im Schreibmaschinenoriginal oder in Durchschlägen mit eigenhändigen Anmerkungen. Neben den drei unveröffentlichten Lyrikbänden (1959-1963), alle zur Zeit der ersten Lyrikpublikation entstanden, enthält die Sammlung auch maschinenschriftliche Vorlagen (Reinschriften) zu später erschienenen Drucken. Damit sind jetzt textgenetische Studien denkbar. Eine erste Erschließung dieses Teilnachlasses wird hier präsentiert. Im Unterschied zu den Forschungen der achtziger und neunziger Jahre, die von der Avantgarde als Bezugspunkt ausgingen, sind Brinkmanns Leistung und die Grenzen seiner Kunst heute anders einzuordnen, nämlich in den gesamten Prozess der nachholenden Modernisierung in der Literatur seit den späten fünfziger Jahren. Eine Neubestimmung seiner Anfänge (Intertextualität) im Zeichen von Rimbaud, Pound, Benn und seiner ästhetischen Positionen (Zitat-Avantgarde) muss besonders ihre Differenz markieren und dazu die umfangreichen Lektüren des Autors rekonstruieren (Zitat-Zitat-Praxis). Aus dieser Perspektive könnten sich neue Aspekte ergeben im Hinblick auf die Verbindungen zur Popliteratur. Charakteristisch ist das Changieren zwischen Kunst und NichtKunst, das Spiel mit dem Kunstcharakter des Alltäglichen durch das Inszenieren einer Situation der Betrachtung. Die ironische Geste, das ständig mitgedachte Präsenzbegehren des Betrachters verknüpfen das Werk schon früh mit den zentralen Strategien der modernen Künste. Innerhalb einer Ästhetik des Erscheinens (Martin Seel) in der Moderne ist Brinkmanns Platz endlich genau zu bestimmen. Die Verfahren der Verschränkung von Abstraktion und sinnlicher Präsenz sowie der Um-

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gang mit den paradoxen Konstellationen einer radikalen Selbstreflexivität gehören ebenso zum Programm wie die Analyse von Praktiken der Serialisierung oder der Erzeugung von Epiphanien (Standphotos). Die Thematisierung der hybriden Genres führt mitten hinein in die an den Neuen Medien orientierten Schreibweise Brinkmanns. Das Collage-Buch Rom, Blicke (1979) provoziert den Vergleich mit der von der Italienliteratur geschaffenen Wahrnehmungstradition. Zu fragen wäre aber, wie die Schreibweise solche Muster, auch die wissenschaftsgeschichtlichen Bezüge hintergeht und mit ihnen spielt. Die ästhetische Wahrnehmung und ihre Selbstreflexion erlauben es, das Buch ebenso als romantischen Reflexionsroman zu lesen, bei dem die Selbstreinigung von unerträglichen Dispositionen der Wahrnehmung das bloß Dargestellte übersteigt und in Passagen erhöhter Suggestivität mit einer Freisetzung von Momenten gesteigerter Wahrnehmung kulminiert. Das Präsenzkonzept scheint hier aus einer Verbindung von Intertextualität und reflektierter Medialität hervorzugehen, die bekannte Genres und Verfahren (Tagebuch, Brief, Collage, Cut-up) für eine spezifische Ästhetik nutzt. Außerdem erprobt Brinkmann in der späten Lyrik (Eiswasser 1985) mit der Form des langen Prosa – Gedichts in der Nachfolge von William Carlos Williams Paterson ein hybrides Genre, das heute in den Forschungen zur Kreuzung von Lyrikanalyse und Narratologie erstmals die nötige theoretische Beachtung findet. Besondere Inszenierungsformen stellen die Rundfunkproduktionen und ihre Vorarbeiten dar. Die »Hörspiele«, gesammelt in Der Film in Worten, kann man jetzt ebenfalls in diesen Kontext einordnen. Insbesondere die Arbeiten für die Medienanstalten sind noch zu entdecken. Im Audionachlass finden sich die 29 Tonbänder, aus denen die CDBox unter dem Titel Wörter Sex Schnitt (2005) stammt. Brinkmann, der vom Sender mit dem Aufnahmegerät ausgestattet durch die Stadt zieht und den Augenblick kommentierend festhält, produziert für die Sendereihe »Kölner Autorenalltag« des WDR 1974 und legt sich dafür ein umfangreiches mündliches Notizbuch an. Situativ aufgenommen, beim Gehen durch Köln gesprochen (den Zusammenhang von Gehen, Sprechen und Schreiben beleuchten die poetologischen Statements in den Briefen an Hartmut), ergeben die »readytapes« ein einzigartiges Dokument seiner Selbstinszenierung. Die Materialität der Bänder, eben in den durch die Präsenz von Stimme und Geräusch (Mikrophon und Band) geschaffenen Formen hindurch zu vernehmen, bietet in der

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scheinbar planlosen Wiedergabe völlig disparater Momente, Situationen und Kommentare einen seltenen Einblick in die Medialität der literarischen Arbeit überhaupt. Die performativen Strategien der Produktion und der Selbstinszenierung kann man in den Bewegungen der Sprache auf den besprochenen Tonbänder besser erkennen und zeigen, auf welche Weise sie als Experimente alle diejenigen Prozesse reflektieren, in denen die Sprache Präsenzbildungen erzeugt.

D ANK Ganz sicher eignet sich Brinkmann nicht für »einen jener klassischen« Gedenktage, den die vom Autor leidenschaftlich gescholtene literarische Welt im Jahr 2010 feiern konnte. Dennoch fand aus Anlass des 70. Geburtstages in Vechta ein Symposion über »Rolf Dieter Brinkmann – Medialität der Kunst« statt, das keinesfalls »klassisch« ausfiel. Mit den Beiträgen, die aus dem Symposion hervorgingen, möchte die »Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann« die literarhistorische und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor anstoßen. Die Finanzierung der Tagung übernahm die FRITZ THYSSEN STIFTUNG. Für die großzügige Förderung möchte ich auch hier herzlich danken. Die STADT VECHTA empfing die Teilnehmer im Rathaus und dokumentierte damit ihre Unterstützung. Für die technische Bearbeitung danke ich ganz herzlich Frau Marlies Völker. Auch im Namen meiner Mitarbeiter danke ich noch einmal allen Beteiligten.

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In der Grube. Brinkmanns Neuer Realismus M ORITZ B ASSLER

I Der Einsatz des jungen Rolf Dieter Brinkmann als Prosa-Autor um 1960 wird bekanntlich unter dem Label ›Realismus‹ rubriziert, gemeint ist der sogenannte Neue oder Kölner Realismus sensu Dieter Wellershoff im Umfeld von Kiepenheuer & Witsch. Nun erscheinen Wellershoffs programmatische Texte dazu allerdings erst ab Mitte der sechziger Jahre; von Brinkmann lagen da längst In der Grube (1962) und Eine Bootsfahrt (1963) vor, auch die Erzählungen aus Die Umarmung (1965) waren bereits geschrieben, ebenso wie die posthum unter dem biblischen Titel Was unter Dornen fiel publizierten ganz frühen Texte. Und schon In der Grube ist ein Stück, in dem sich Brinkmanns Prosaverfahren, wie es für die späteren großen Texte von Raupenbahn bis zu den Tonbändern charakteristisch ist, in ziemlich ausgeprägter Form zeigt. Man wird also eher sagen müssen, dass Wellershoffs pointierte Formulierung eines Neuen Realismus von 1965 bereits auf Arbeiten Brinkmanns und anderer Autoren zurückgreift, als dass diese seine Programmatik umgesetzt hätten. Etwas anderes hat Wellershoff selbst übrigens auch nie behauptet; und das Begriffsangebot ›Neuer Realismus‹ ist dadurch in keiner Weise diskreditiert. Gerade unter Medialitäts-Gesichtspunkten ist Realismus, vor allem nach dem Durchgang durch die anti-realistischen Experimente der emphatischen Moderne, nun allerdings eine problematische Angelegenheit. Realistisch nennen wir mit Roman Jakobson Texte, die metony-

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misch verfahren, das heißt, sie bedienen sich der eingefahrenen kulturellen Frames und Skripte – der kulturellen Codes, wie Barthes sagt – in einer Weise, dass der Schritt von den Textphänomenen zum Verständnis der Diegese, der erzählten Welt, automatisch erfolgt. »Man liest. Und versteht.« wie ein begeisterter Rezensent zum Neuen Erzählen Bernhard Schlinks in den 1990ern idealtypisch formulierte. In der Neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre sprach man von einer Rückkehr zu ›männlicher Literatur‹, die (im Gegensatz zum jugendlichen Welt- und Syntaxzertrümmerer der emphatischen Moderne) die Wirklichkeit wieder als gegeben akzeptierte. Roland Barthes hat dagegen in S/Z den realistischen Text dafür kritisiert, dass es ihm nicht gelinge, die Wirklichkeit neu zu schreiben, weil er immer bloß auf das längst Bekannte, das Schon-Gesagte, Schon-Gelesene rekurriere. Wie immer man es werten will: Realistische Kunst ist jedenfalls gerade dadurch definiert, dass ihre Verfahren in der Rezeption normalerweise nicht auffällig werden, was nichts anderes heißt, als dass sie dazu tendiert, ihre Medialität zu verschleiern. Schauen wir also etwas genauer hin: Was für ein Realismus ist der Brinkmannsche, wie fügt er sich in die Erfolgsgeschichte realistischer Textverfahren im 20. Jahrhunderts ein und was kostet das?

II Zunächst wäre die Frage, inwiefern man um 1960 überhaupt von einem Neuen Realismus sprechen kann. In Deutschland ist das realistische Paradigma doch spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre wieder die unangefochtene Dominante. Sozialistischer oder nationalsozialistischer Realismus, Neue Sachlichkeit und Exilliteratur, Magischer Realismus und Innere Emigration ebenso wie die diversen Neuanfänge nach 45, alle präferieren realistische Texturen. Man ist daher etwas erstaunt, zu Beginn von Wellershoffs Manifest von 1965 zu lesen, Literatur habe in den vergangenen Jahren vor allem in Deutschland einen starken Zug ins Phantastische oder Groteske gehabt oder hat sich der Herstellung gegenstandsentlasteter Textmuster gewidmet.1

1

Dieter Wellershoff: Neuer Realismus [Die Kiepe 13/1965]. In: Eike H. Vollmuth: Dieter Wellershoff – Romanproduktion und anthropologische

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Gegen Phantastik und Groteske der Romantik hatte sich programmatisch bereits der Poetische Realismus um 1850 gewandt, gegen autonome Textmuster die Neorealismen der 1920er Jahre, aber was Wellershoff hier meint, bleibt unklar. Kasack und Grass als Phantastik und auf der anderen Seite die »Textmuster« der Konkreten Poesie? Wie dem auch sei: Wenn Brinkmanns Prosaarbeiten Ende der 50er Jahre einsetzen, dann können wir rezeptionsästhetisch den Erwartungshorizont der Zeit ungewöhnlich genau benennen. 1958 durfte sich die junge Bundesrepublik nämlich erstmals wieder auf einer Weltausstellung präsentieren; und für den Brüsseler Pavillion, vor dem als Ausweis menschlicher Technik in einem Teich die Klepper-Faltboote trieben, hat damals Hanns W. Eppelsheimer im Auftrag des Börsenvereins des deutschen Buchhandels die »Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen« zusammengestellt, mit dem erklärten Ziel, »Deutschland darzustellen […]; doch nicht das ›ewige‹ im Glanze all der Werke, die uns einmal als unvergänglich galten«; dafür aber durchaus in der Hoffnung, daß unter den hinhuschenden Lichtern immerhin ein Bild entstehe von unserem Land, das auf dem Wege ist, sich wiederzufinden und gebend und nehmend in die Gemeinschaft einer werdenden Welt sich einzuordnen.2

Hier ist also durchaus zukunftsgerichtet von Internationalisierung und Modernisierung die Rede. Und was liest nun der geistig interessierte Deutsche an Gegenwartsliteratur? Es lohnt, sich in die entsprechenden Listen zu vertiefen: Unter »Deutsche Literatur. 20. Jahrhundert – Epik/Erzählung/Roman« finden sich Titel von Walter Jens, Ilse Aichinger, Gert Ledig, Willi Heinrich (Das geduldige Fleisch, 1955), Hans Bender, Heinrich Böll, Hans Wilhelm Pump, Heinrich Schirmbeck, Alfred Andersch, Hans Egon Holthusen, Ernst Schnabel, Max Frisch, Luise Rinser, Arno Schmidt, Hans Werner Richter, Gerd Gaiser, Edzard Schaper, Hermann Stahl (Wildtaubenruf, 1958), Stefan Andres, Werner Helwig, Horst Lange, Bernard Brentano, Hans Erich Nossack, Hermann Kesten (aber nur aus den 50er Jahren, nichts Neu-

Literaturtheorie. Zu den Romanen Ein schöner Tag und Die Schattengrenze. München 1979, S. 22f.; S. 22. 2

H.W.E.: Geleitwort. In: Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen. Weltausstellung Brüssel 1958. Frankfurt 1958, S. VII–IX; S. IX.

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sachliches), Erich Kästner, Elisabeth Langgässer, Friedrich Georg sowie Ernst Jünger, Martha Saalfeld (Pan ging vorüber, 1954), Heinz Risse, Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer, Hermann Kasack, Carl Zuckmayer, Werner Bergengruen, Ernst Penzoldt, Theodor Plivier, Kasimir Edschmid (ebenfalls nur 50er Jahre, kein Expressionismus), Frank Thiess, Ina Seidel, Fritz von Unruh, Lion Feuchtwanger, René Schickele (50er-Romane), Leonhard Frank, Fürstin Mechthild Lichnowsky und Alfred Döblin.3 Dazu kommen Gesamtausgaben u.a. von Manfred Hausmann, Franz Werfel, Ernst Wiechert und Berthold Viertel. Hier kann man sich eine qualifizierte Vorstellung vom 20. Jahrhundert der 50er Jahre und damit vom allgemeinen ästhetischen Horizont machen, vor dem Brinkmann als Autor beginnt. Der unglaubliche Muff, der einem aus dieser Liste heute entgegenschlägt, hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass mit ganz wenigen Ausnahmen alle hier ausgewählten Autoren und Werke selbstverständlich realistischen Schreibweisen verpflichtet sind – Phantastik und Formalismus Fehlanzeige, die emphatische Moderne kommt nicht vor. Jeder Neue Realismus hätte sich von diesem dominanten Komplex überkommener Realismen zunächst abzusetzen.

III Und genau dies versuchen die literarischen Eliten zu Ende der 50er Jahre auch, angefangen mit dem dritten deutsch-französischen Schriftstellertreffen in Vézelay 1956, Motto: »Der Schriftsteller vor der Realität«, dokumentiert im 3. Jahrgang der Akzente. Unter der Ägide von Barthes und Robbe-Grillet wird hier ein Realismus der Oberfläche formuliert, der mit den späteren Überlegungen sowohl des jungen Brinkmann als auch seines Lektors und Mentors Wellershoff kompatibel ist. Barthes legt in seinem Beitrag einen komplexen geschichtsphilosophischen Entwurf vor, der einen zukünftigen »totalen Realismus« anstrebt durch die Synthese aus (politischer) Bedeutung und Oberflächenerfassung der Wirklichkeit. Diese sei dem Realismus des 19. Jahrhunderts entgangen, weil dieser »ein ›Realismus der Tiefe‹, ein

3

Vgl. Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen, S. 74-76.

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Realismus der Typen und der Wesenheiten« war.4 Erster Versuch einer solchen Synthese sei die emphatische Moderne gewesen, vom Sozialismus leider als Formalismus denunziert. In der Gegenwart nun macht Barthes drei Tendenzen aus: Der Surrealismus versuche, die Bedeutung der Dinge zu vervielfältigen, der Existenzialismus leugne sie zugunsten des Absurden, und nur der Nouveau Roman überschreite »den Gegensatz zwischen dem Absurden und dem Nichtabsurden […], den Gegensatz zwischen dem Mangel der Inhalte und ihrer Vervielfältigung, und […] versucht, eine Dichtung des reinen Tatbestandes zu begründen«.5 Mit nahezu denselben Begriffen plädiert auch Robbe-Grillet für seinen »Realismus des Hierseins«, allerdings lässt er das Ideal einer neuen, womöglich politischen Bedeutsamkeit dabei stillschweigend unter den Tisch fallen. »Man weiß«, schreibt er, »daß der hergebrachte Realismus vollständig auf der Bedeutung der Dinge, einer geistigen, sozialen, funktionellen Bedeutung, beruht.« Die »bequeme Kategorie des Absurden« sei nur die Kehrseite dieser Bedeutsamkeit. »Aber die Welt«, so lautet sein eigenes Credo, »ist weder sinnvoll noch absurd. Sie ist einfach.«6 Im Roman komme es folglich darauf an, »daß sich Gegenstände und Gebärden erst durch ihre Gegenwart aufdrängen, und daß diese Gegenwart jenseits jeder Deutungstheorie weiterbesteht«.7 Nun ist wenig davon die Rede, wie eine solch reine Präsenz sprachlich zu vermitteln wäre. In dem beigegebenen Prosastück Der Handelsreisende wird weniger beschrieben als vielmehr ein weiteres Mal die Undeutbarkeit des dinglich Gegebenen beschworen, wobei mit der Photographie ein medialer Oberflächenrealismus durchaus mitgedacht ist: Die Züge des Gesichts waren in der Pose erstarrt, in welcher sie erschienen waren – wie unversehens auf der photographischen Platte festgehalten. Diese Unbeweglichkeit erschwerte nicht nur ihre Entzifferung, sie machte auch jeden Deutungsversuch noch bestreitbarer: obgleich das Gesicht augenscheinlich einen Sinn besessen hatte – einen sehr banalen Sinn, den man auf den ersten

4

Roland Barthes: Probleme des literarischen Realismus. In: Akzente 3

5

Barthes: Probleme des literarischen Realismus, S. 306.

6

Alain Robbe-Grillet: Für einen Realismus des Hierseins. In. Akzente 3

7

Robbe-Grillet: Für einen Realismus des Hierseins, S. 317.

(1956), S. 303-307; S. 305.

(1956), S. 316-318, S. 316.

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Blick leicht entdecken zu können glaubte – entging es den Deutungen, mit denen Mathias versuchte, es gefangen zu nehmen.8

Walter Höllerer schließlich nimmt Begriff und Gedanken vom ›totalen Realismus‹ auf und wendet ihn auf den Schreibprozess zurück: Im Moment des Schreibens versuche ich eine Konstellation von Wirklichkeit zu treffen, die sich in mir hergestellt hat. […] Es erscheint mir […] notwendig, jeden Moment neu zu treffen, mit dem Wort und der Metapher, die für diesen Moment gelten und die zugleich über diesen Moment hinausweisen.9

Daß hier von Metaphorik die Rede ist, scheint – wie auch Höllerers lyrische Praxis bestätigt – vom Oberflächenrealismus als einer per definitionem metonymischen Kunst wieder etwas wegzuführen. Dennoch fügt er der Debatte zwei Momente hinzu, die dann auch für Brinkmann und Wellershoff einschlägig werden: die Herstellung einer Konstellation im Subjekt und die Momentaufnahme. Außerdem betont Höllerer, ähnlich wie bei derselben Gelegenheit Günter Eich, die Abkehr von jenen automatisierten Wahrnehmungsmustern, die konventionellerweise Realismuseffekte erzielen: »In summa: Realistik bedeutet für mich Abkehr von jeder festgelegten Bequemlichkeit des Erzählens«.10 Oder, etwas hübscher formuliert: »Meine Texte wollen gar kein Bürgerschreck sein. Leider werden sie es, weil sie realistisch sind.«11 Damit ist nun im Wesentlichen jener Realismus-Begriff etabliert, mit dem auch der frühe Brinkmann operiert. Leicht konsumierbar im Sinne eines populären Realismus sind seine Texte ja von Anfang an nicht. Zur Erstveröffentlichung von In der Grube in dem von Wellershoff herausgegebenen Band Ein Tag in der Stadt kommentiert er: »Die vorliegende Prosaarbeit wurde nicht als Erzählung im konventionellen Sinne konzipiert« – es gehe ihm »nicht um das Erzählen einer Fabel«. Gleich zweimal fällt dagegen der Begriff vom »Zustand der Person«, der als Einheit der textuellen Momentaufnahmen fungieren soll. Gegen den Existenzialismus betont Brinkmann: »Absichtlich wurde darauf verzichtet, eine sogenannte Grenzsituation aufzuzeigen. Alles ist durchaus gewöhnlich: die Stadt, der Augenblick, die Person, die weder

8

Alain Robbe-Grillet: Der Handelsreisende. In: Akzente 3 (1956), S. 318f.

9

Walter Höllerer: Mauerschau. In: Akzente 3 (1956), S. 320-323; S. 320f.

10 Höllerer: Mauerschau, S. 323. 11 Höllerer: Mauerschau, S. 321.

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negativ noch positiv ist«.12 Wellershoff wird das dann mit Robbe-Grillet noch einmal explizit als »Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis« formulieren: »An Stelle der universellen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt.«13 Im Ergebnis trägt der Neue Realismus, wie er sich hier programmatisch darstellt, also nicht nur antiexistenzialistische, sondern geradezu antirealistische Züge: Gerade weil er nicht im traditionellen Sinne realistisch operiert, also die bekannten Bedeutungen der Dinge in Form kultureller Codes automatisiert, soll er in der Lage sein, Konstellationen von Wirklichkeit als personal synthetisierte Oberflächenphänomene in neuer, anti-bürgerlicher Weise zu beschreiben. Dieser referentielle Skopus rechtfertigt es hier, im Unterschied zu modernistischen Textverfahren, überhaupt noch von Realismus zu sprechen. Beschreibung, und das heißt: metonymische Repräsentation von Wirklichkeit bleibt der Anspruch. Es geht um Oberfläche, und nicht – wie Höllerer insinuiert – um metaphorische Verwandlung und neue Tiefe. Und es geht primär um Diegetisches, um Dinge, nicht um Worte; die Gesichtszüge in dem Beispieltext von Robbe-Grillet bedeuten nichts (mehr), aber sie sind unzweifelhaft in der erzählten Welt da. Dabei wird allerdings jenes Basisproblem eines jeden Realismus nicht mehr mitreflektiert, das schon die Poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts umtrieb und das ja auch Roland Barthes im Nouveau Roman nur aufgeschoben, nicht aber schon gelöst sah, »das Problem der Bedeutung oder der Nichtbedeutung der Oberfläche«.14 Der »reine Gegenstand« könne, so Barthes, »in keiner Art ein Element des endgültigen Realismus sein, denn der Realismus ist hauptsächlich Bedeutung.« Barthes‹ Utopie »einer Literatur, die sich vollständig von den Normen der bürgerlichen Beschreibung befreit, ohne aufzuhören, alle Schichten der Wirklichkeit mit richtigen Bedeutungen auszustatten«15 (was immer diese »richtigen Bedeutungen« am Ende sein mögen), steht denn auch eher in der Tradition der historischen Avantgarden.

12 Rolf Dieter Brinkmann [1962]: [Kommentar zu In der Grube]. Zit. n. R.D.B.: Erzählungen. [Reinbek] 1985, S. 408f. 13 Wellershoff: Neuer Realismus, S. 22. 14 Barthes: Probleme des literarischen Realismus, S. 306. 15 Barthes: Probleme des literarischen Realismus, S. 306f.

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Mit Blick auf die literarische Praxis Brinkmanns bleibt die Frage nach der »Bedeutung oder der Nichtbedeutung der Oberfläche« aber denkbar virulent. Wird hier mit dem ›vorschnellen Sinnbedürfnis‹ gleich das literarische Sinnbedürfnis als solches verabschiedet? Oder was wäre die Alternative? Zu untersuchen ist, wie diese programmatische Leerstelle des Neuen Realismus in Brinkmanns Prosa gefüllt wird.

IV Auch In der Grube betont ostinativ die Gleichgültigkeit der erzählten Dinge und Handlungen, und nicht nur im Kommentar. Dem Alleinreisenden, der in seiner Vaterstadt spontan die Zugfahrt unterbricht16 und aus dessen Sicht, mal hetero-, mal homodiegetisch erzählt wird, ist alles gleichgültig: »das war ihm auch gleich gewesen« (7),17 »ohne daß er viel darauf gegeben hatte«, »gleichgültig« (8) – gleich die ersten Seiten sind von solchen Stellen durchzogen, und das hält sich durch bis zum Ende des Textes, wo es in dichter Folge etwa heißt: »er hatte auch erkannt, daß alle Handlungen nur Häufigkeitsgrade von Gleichgültigkeiten waren« (62), »es trieb hin, nichts, einfach das nur, trieb weiter […] wohin, gleichgültig, gleichgültig wohin, untergegangen, sackte ab in ihm, jeder Mensch war gleich, jede Herrschaft gleich, jeder Tod« (63); oder auch: daß ein Grashalm war und daß der Grashalm war, einzigartig, es blieb sich gleich, alles blieb sich gleich, wie alles und jedes sich gleich geblieben war, und niemals hatte der Apfelbaum geblüht, weiß gegen den Himmel (62f.)18

Das liest sich zunächst wie eine perfekte Umsetzung von RobbeGrillets »Realismus des Hierseins«: Die Gegenstände sind da, bedeuten aber nichts. Allerdings geht Brinkmann hier ausdrücklich über diese Kontingenzbehauptung hinaus, indem er auch die Tatsache des

16 Vgl. Thomas Mann: Der Kleiderschrank. 17 Rolf Dieter Brinkmann: In der Grube [1962]. In: Brinkmann: Erzählungen, S. 7-67 (Seitenangaben aus dieser Ausgabe in runden Klammern im Haupttext). 18 Der Grashalm könnte auch eine intertextuelle Assoziation zu Walt Whitmans Leaves of Grass aufrufen.

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Daseins selbst, die Robbe-Grillet noch gefeiert hatte (Barthes erinnert in dem Zusammenhang sogar an »das heideggersche Da-sein«19), für gleichgültig erklärt. Der Restrealismus, der hier am Werk ist, verdeckt freilich, dass dabei stets eine doppelte Kontingenz nachzuweisen wäre. Innerhalb der Diegese ist es der Protagonist, dem alle Dinge gleichgültig sind. Da die Erzählung aber ausdrücklich dazu dienen soll, sich »mit Assoziationen, mit Bildern und Wortreihen dem jeweiligen Zustand der Person an[zu]nähern«20, Textverfahren und personaler Zustand also quasi aufeinander abbildbar sein sollen, müssten sich die Dinge, die dem Protagonisten gleichgültig sind, auch im Arrangement des Textes selbst als kontingent erweisen. Hier aber sind erste Zweifel angebracht. Schon der streng symmetrische Aufbau des Textes weist ja bestimmten diegetischen Elementen eine strukturelle Bedeutung zu, die man mit Jakobson als poetische bezeichnen müsste: Vom Bahnhof und seinem Klo geht der Weg über den Vorplatz in ein Café – erzählt in sechs Abschnitten mit strengem Wechsel von dritter (3) und erster (1) Person (vgl. Abb. 1). Das Mittagessen im Stehbüffet repräsentiert eine kursiv gesetzte Mittelpassage ohne Satzzeichen (M), es folgt der Rückweg zum Bahnhofsklo (erneut im strengem Wechsel von homo- und heterodiegetischer Narration). Nun könnte man natürlich genau diese Symmetrie als Strategie der Vergleichgültigung lesen – schließlich ist das Bahnhofsklo ein Ort von geradezu plakativer Profanität; der Ich/Er-Wechsel scheint keine erkennbare Funktion zu erfüllen, der Weg endet, ähnlich wie das Schachspiel in Becketts Murphy, wie er begonnen hat – geschehen ist nichts. Aber ist das wirklich so? Wenn das Dasein des Grashalms gleichgültig ist, lässt sich, so behauptet unser Zitat, auch das Blühen des Apfelbaums leugnen. Der blühende Apfelbaum ist jedoch an dieser Stelle des Textes bereits erheblich mit Bedeutung angereichert. Er steht im elterlichen Garten, verbindet sich mit Vater und Kindheit und war nicht zuletzt der Anlass, spontan den Zug zu verlassen. Des weiteren assoziiert man hier den früchtetragenden Apfelbaum auf dem CranachDruck Madonna mit dem Apfelbaum über dem elterlichen Bett, dessen Äpfel in der Erinnerung mit Erotik, die Grashalme aber mit Bedrohung aufgeladen sind:

19 Barthes: Probleme des literarischen Realismus, S. 306. 20 Brinkmann: Kommentar, S. 409.

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ein fettes Kind, eine fette Frau, Muttergottes, und ganz spitz, messerscharf sprossen die Gräser daneben, aber die Äpfel rosig, Goldäpfel, fleischrosig, mit einem Hauch Geilheit darüber, das sah ich vor mir (55).

Der Textausschnitt widersetzt sich also – im Gegensatz zu dem, was er selbst behauptet – mitnichten einem hermeneutischen Sinnbedürfnis, er ist kein bisschen kontingent, sondern im Gegenteil mit Bedeutung gesättigt: mit poetischer Bedeutung durch die Responsionsstrukturen im Text, mit intertextueller Bedeutung durch den Verweis auf Kunst, und nicht zuletzt mit psychologischer Bedeutung für den Protagonisten bis hin zur Motivation seiner Handlung (Aussteigen), die noch dazu die initiale Handlung für den Erzähltext ist. 3

1

3

1 3 1 Didis Party K 1

M

1

3

1

3 1 Im Park K 2

3

Abb. 1

Ein Erzähltext sollte In der Grube nach dem erklärten Willen des Autors zwar gar nicht sein, der Textbefund sagt jedoch auch hier etwas anderes: So banal die Handlung in der Erzählgegenwart zunächst auch scheinen und so komplex sie erzählt sein mag, sie bleibt doch eine lineare, raum-zeitlich situierbare Handlung. Sie beginnt auf dem Bahnsteig, dann erst folgt die Episode auf dem Bahnhofsklo, auf dem die Geschichte dann wieder endet – diese leichte initiale Überständigkeit des Bahnsteigs verweist auf eine zweite, vorzeitige Handlung – die jugendliche Liebesgeschichte mit Manon. Mehrfach wird betont, dass diese nicht wie versprochen auf dem Bahnsteig aufgetaucht war, als der Protagonist vor Jahren die Stadt verlassen hatte. Zwei Episoden mit Manon werden ausführlich in Rückblicken erzählt: eine Begegnung am Rande einer Party im Fahrradschuppen im ersten Teil, eine Begegnung im Park im zweiten Teil. Im Unterschied zur Gegenwartshandlung sind diese Begegnungen nun keineswegs banal und alltäglich – Liebe paart sich hier mit realer und/oder phantasierter Gewalt. Der erste Teil (Didis Party) endet damit, dass der Protagonist Manon ins Gesicht schlägt, bis ihre Nase blutet, im zweiten Teil (Im Park) springt

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er sie an, um sie zu erwürgen.21 Und damit nicht genug: Hinter den beiden erinnerten Jugendepisoden liegt noch jeweils eine Episode der Kindheit: Im ersten Teil werden – in Ich-Form – grausame Kinderspiele erinnert, bei denen Jungen und Mädchen gefesselt und gequält wurden (K1), im zweiten Teil erinnert sich dann der Protagonist selbst – in Er-Form –, Opfer eines solchen Spiels geworden zu sein (K2): vielleicht hatte man ihn beim Spielen wirklich in eine der vielen Gruben geworfen, als sie Indianer oder Krieg gespielt hatten, und der Traum hatte sich abgelagert […], während er neben ihr herging, sah er sich in der Grube, in die hinein man ihn geworfen hatte, und sie hatten ihn zugeschaufelt mit Schotter (60).

Es ist also nicht einfach so, dass, wie Selg meint, die Überschrift In der Grube »nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern metaphorisch«.22 Der metaphorisch so bezeichnete Zustand geht vielmehr metonymisch – und also realistisch motiviert – auf ein negatives Kindheitserlebnis zurück, das schon die Liebesfähigkeit des Jugendlichen belastet hatte. Und die jugendliche Flucht – zweite Erzählebene – erweist sich nach Ausweis der Erzählgegenwart als letztlich gescheitert: »ich war einfach fortgefahren, was mir als einziges zu tun übrig blieb, aus der Grube herauszukriechen, wie ich mir eingebildet hatte, und doch war ich nicht herausgekommen« (65).

V Es ergibt sich somit aus der raffinierten Architektur von Brinkmanns Prosa-Debüt nicht nur eine dichte, widerständige Verweis- und Beschreibungstextur, es ergibt sich auch eine durch und durch motivierte Erzählung. Genauer gesagt: Die Subtexte aus Kindheit und Jugend motivieren eben jene Gleichgültigkeit, die als »Zustand der Person«

21 Der Name der Freundin, ›Manon‹, hat klangliche Ähnlichkeit mit ›Madonna‹, überdies ließe sich darin die Verneinung der Mutter erkennen (Ma-non). Eine literarische Vorgängerfigur dieses Namens findet sich in Henry Millers Plexus. 22 Olaf Selg: Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel: Prosaformen bei Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 2001, S. 146.

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explizit die Erzählgegenwart dominiert. Der Protagonist wird bei der Rückkehr in seine Vaterstadt also durchaus in eine existenzielle Grenzsituation geführt – mag er sich im ersten Teil noch als unbeteiligter Flaneur empfinden, der den männlichen Spaziergängern auf den Macke-Reproduktionen im Café korrespondiert, der Text weiß es besser: Im zweiten Teil tritt an deren Systemstelle eben das kastrationsgefährdete Kind auf dem Cranach-Bild, »das kindliche Geschlecht hinter den feingliedrigen Frauenfingern verborgen, sonst fett, scharfe Sensengräser.« (55) Dass der Protagonist bei alledem nichts fühlt, dass er, wie es im Kommentar Brinkmanns heißt, »weder negativ noch positiv ist, sondern sich in einer Mittellage verhält wie in einem Starrkrampf«,23 diese Indifferenz ist selbst durchaus bedeutsam. Sie entspricht zugleich der programmatischen Haltung des Neuen Realismus und präsentiert sich intradiegetisch als das traurige Ergebnis einer traumatischen Kindheit und Jugend. Es liegt hier also, um es einmal zuzuspitzen, eine Erzählung vor, die keine sein will, die in der Erzählgegenwart möglichst gewöhnliche Handlungen und Oberflächen präsentiert, die ausdrücklich nichts bedeuten sollen und deren Gleichgültigkeit ständig betont wird. All dies ist fokalisiert durch einen Protagonisten, der sich »wie in einem Starrkrampf« befindet, in »einer wachen Ohnmacht«, die jede Aufladung des Erlebten mit Bedeutung zusätzlich verhindern soll. Das entspricht auf den ersten Blick durchaus dem Programm Robbe-Grillets, der das Prinzip eines solchen Oberflächenrealismus am Muster des Kriminalromans verdeutlicht hatte: Alle Indizien scheinen zunächst »eine Erklärung hervorzurufen […], man glaubt, alles wird sich in einem banalen Kreis von Ursachen und Folgen lösen, von Absichten und Zufällen«, dann aber verselbständigen sich die Indizien gegenüber jeder möglichen Bedeutung und haben am Ende »nur eine zuverlässige greifbare Eigenschaft, jene ›da‹ zu sein. Und so geht es mit der Welt in der Dichtung«.24 Auch der Protagonist von In der Grube führt die ganze Zeit über einen noch nicht zu Ende gelesenen Kriminalroman in seiner Aktentasche mit sich; die letzten Worte der Erzählung lauten »den Kriminalroman zu Ende lesen« (67). Nimmt man dies als Indiz für ein Indizienparadigma, so wird man, wie bereits angedeutet, von Beginn an fün-

23 Brinkmann: Kommentar, S. 409. 24 Robbe-Grillet: Für eine Realismus des Hierseins, S. 317f.

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dig. Die vermeintlich kontingenten Dinge werden dem, der zu lesen versteht, überaus zeichenhaft; der vermeintliche ›Realismus des Hierseins‹ entpuppt sich als ein ›Realismus des Schonmal-hier-gewesenSeins‹. Von einer »Gleichgültigkeit der Stadt«25 kann dann überhaupt keine mehr Rede sein – vielmehr handelt es sich um vermintes Gelände, in dem jeder Schritt Erinnerungsassoziationen auslöst. Der Apfelbaum verweist auf das Elternhaus, der Bahnsteig auf Manons Abwesenheit, die Klofrau auf die Mutter. Was der sozusagen künstlich in einen Zustand des Nicht-Begreifens versetzte Protagonist für Zufall hält und was deshalb, wie bei Robbe-Grillet, seiner Deutung entgeht, erkennt der Leser als psychologische und kompositorische Notwendigkeit. Glaubt der Erzähler, »daß es auch mit Manon nur eine von vielen Gleichgültigkeiten war […], aber wie dachte ich an Manon. Ich wußte es nicht. Ich hatte etwas übersprungen. Ihr Name war mir mit den anderen zufällig wieder aufgestoßen« (17), so kann der Leser aufgrund der Erinnerungsfetzen das Übersprungene rekonstruieren. Die Manon-Episoden verlieren ihre vermeintliche Gleichgültigkeit und Zufälligkeit und entfalten tiefenstrukturelle Bedeutsamkeit. Sofern man nur den Kriminalroman zu Ende liest, wird also die gewollte, programmatisch positive Gleichgültigkeit der Erzählinstanz als defizitärer, aber überaus bedeutsamer Zustand entlarvt, der aus unbewältigten Kindheits- und Jugenderlebnissen herrührt. Oder noch einmal anders formuliert: Der Neue Realismus gelingt Brinkmann nur um den Preis einer künstlichen Verschleierung der dichten – um nicht zu sagen: dicken – Semantik seiner Prosa, einer Verschleierung, die sowohl im Kommentar als auch auf der Erzähloberfläche aktiv betrieben wird. Ihr Medium ist die »Person«, der als Reflektor oder Ich-Erzähler Beschreibung und (Nicht-)Deutung der Diegese überantwortet werden. Kein Wunder, dass diese Person in ihrem konstitutiven »Starrkrampf« oder »Wachtraum« notorisch schlecht gelaunt ist. Nicht nur darf ihr ja sozusagen systembedingt nichts und niemand etwas bedeuten, sie hat geradezu die undankbare Aufgabe, Bedeutung allzeit aktiv zu leugnen. Das hat nebenbei Konsequenzen auch für den Pop-Vektor, den Brinkmanns Oberflächen-Realismus ja bekanntlich ebenfalls aufweist. Seine Prosa beerbt, so Heinz Drügh, die »avantgardistischen Beschreibungsexerzitien […] und lädt diese, wieder stärker realistisch orien-

25 Brinkmann: Kommentar, S. 408.

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tiert, mit den Dingen des popkulturellen Alltags auf.«26 Das liest sich dann so: während Didi und die anderen unten im Keller weitergetrunken hatten, auch getanzt hatten, nicht eigentlich tanzend, […] lachend, redeten, die Kerzen, die auf den Regalen in den Flaschenhälsen staken, tropften, Schallplatten, immer Art Blackey [sic!] and His Jazzmessengers, Hardbob, der Bluestrain, keine Rührung, aber beim Tanzen bewegte man sich nicht viel, trat auf der Stelle, oder sie hatten in den Ecken gesessen, Saxophone, Trommelpredigten, schwarzer Jazz, Bocksprünge, tranken Bier aus Flaschen, Rotwein, der nicht viel gekostet hatte, was alles gar nicht so wüst war, […] da hatte er mit Manon im Bretterstall auf dem dorthin abgestellten wackeligen Tisch gesessen. (25f.)

Brinkmanns personales Erzählmedium dient hier auch als realistische Lizenz: Die widerständige Textur ist diegetisch als ›stream of consciousness‹ referentialisiert,27 und da dieser Erinnerungsstrom den Zustand eines jungen Mannes fixiert, können, ja müssen Elemente der Jugendkultur darin auftauchen. Sogleich tritt aber wieder das neorealistische cave in Kraft: Auch diese Elemente, hier der Jazz, später der Pop, dürfen ja im Kontext eines Oberflächen-Realismus nichts bedeuten. Ihre radikal neue, energetische kulturelle Bedeutung, die Brinkmann ja nicht fremd war, kann in seiner Prosa letztlich nicht gestaltet werden (»keine Rührung«). Der Protagonist verlässt die Party, um seinem Sozialtrauma im Schuppen nebenan ein neues Kapitel hinzuzufügen. Statt der Jazz Messenger schreien dann bedeutungsvoll die Katzen (deren Sexualakt aufgrund von Widerhaken am Penis bekanntlich besonders schmerzhaft ist). Drügh fragt, ob in solchen Texten nicht »die ästhetische Geste das unmittelbar Vergnügliche des Pop deutlich übertrifft«.28 Das ist freundlich formuliert. Man könnte auch sagen: die historische Chance, sich durch Pop aus der Grube eines wie auch immer Neuen Realismus zu befreien, wird nicht ergriffen. Das produziert, wie gesagt, schlechte Laune. In der Logik des Verfahrens bleibt letztlich nur die Schimpf- und Nörgeltirade übrig, um Gegenwarts-

26 Heinz Drügh: Taping it all. Überlegungen zum Realismus der Popliteratur bei Rolf Dieter Brinkmann und Rainald Goetz. In: Cahiers d´Études Germaniques 48 (2005), S. 156. 27 Brinkmann: Kommentar, S. 408. 28 Drügh: Taping it all, S. 155.

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kultur zumindest im Zeichen des Negativen in den Text zu holen, wie später beispielsweise in der langen Marken- und Medienbeschimpfung in Keiner weiß mehr.

VI Die Geschichte des Realismus nach der emphatischen Moderne ist eine Erfolgsgeschichte, und doch erweist sich dieser Erfolg im Einzelfall stets als problematisch, so auch hier. Wenn ein Neuer Realismus nach Vézelay realistische Schreibweisen mit einer Wiederholung der Moderne verbinden will, Referentialität mit Deautomatisierung, dann ist das ein anspruchsvolles Unternehmen. In der Praxis, so scheint mir, bleibt das Problem der Semantik, »der Bedeutung oder der Nichtbedeutung der Oberfläche« ungelöst. Wo Oberflächen tatsächlich als solche bedeutend werden, könnte im Horizont der 1960er Jahre vielleicht Pop herauskommen – bei Brinkmann aber werden die Gleichgültigkeitsbehauptungen im Discours letztlich durch jene narrativen Hintergrundstrukturen widerlegt, deren »Realismus der Tiefe« man eigentlich überwunden zu haben glaubte. Das Medium der realistischen Erzählung von jenen Bedeutsamkeitsmomenten zu entkoppeln, die ihm seit dem 19. Jahrhundert zueigen sind, erweist sich einmal mehr als schwieriger als gedacht.

»Studio-Linie.« Zu Brinkmanns Warenästhetik H EINZ D RÜGH

1. L ITERATUR

UND

W ARENÄSTHETIK 1

Der in kritischer Absicht geprägte Begriff der Warenästhetik geht auf eine Abhandlung des Philosophen Wolfgang Fritz Haug aus dem Jahr 1971 zurück. Pate für Haugs vieldiskutierte Kritik der Warenästhetik steht Karl Marxʼ Theorie des Warenwerts aus der Kritik der politischen Ökonomie, dem Kapital. Darin unterscheidet Marx einen durch Material- und Herstellungsqualität und den resultierenden realen Nutzen der Ware bestimmten Gebrauchswert von einem durch schiere Marktprozesse und nicht zuletzt durch die Ausbeutung der in der Produktion Beschäftigten und den entsprechenden Bereicherungswunsch des Produzenten verzerrten Tauschwert. Unnötig zu sagen, dass es nach Marx der Tauschwert ist, der den kapitalistischen Warenverkehr dominiert. Auch Haug sieht mehr als 100 Jahre nach Marx im Gebrauchswert die gefährdete Größe, nennt dafür aber einen weiteren Grund. Die Systemlogik kapitalistischen Konkurrenzkampfes macht es nämlich, laut Haug, zunehmend erforderlich, einen Gebrauchswert durch Werbung

1

Vgl. ausführlicher: Heinz Drügh, »Einleitung. Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst«. In: Ders., Christian Metz u.a. (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a.M. 2010.

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und andere Marketingmaßnahmen nurmehr zu verheißen. An die Stelle des realen Gebrauchswerts tritt – erstens – bloße Suggestion, ein Gebrauchswertversprechen, das sich in der schönen, glänzenden Oberfläche der Waren gleichsam materialisiert. Damit einher geht – so Haug zweitens – der Verfall »realer Gebrauchswertkenntnisse«: ein »Schwund an praktischer Warenkunde«, der Haug zu einer ganzen Reihe kulturkritischer Stellungnahmen motiviert: »Die Monopole monopolisieren vermittels der Markenartikel oft auch das einfachste chemische und technische Wissen. Was früher jede Hausfrau wußte, verfällt dem Dunkel des Geheimwissens, und desto zwingender ist man auf die Markenartikel angewiesen. ›Nehmen sie einfach xy!‹.2 Geradezu kalkuliert wird daher laut Haug – drittens – der »Gebrauchswertstandard[]« zugunsten einer »geringere[n] Lebensdauer und Beanspruchbarkeit«3 der Produkte vermindert, denn die Konsumenten sollen ja ständig neue, noch großartigere Produkte erwerben. Haug ist folglich der Ansicht, dass durch den Warenverkehr die menschliche Bedürfnisstruktur eindimensional konditioniert wird, und zwar insofern, als ökonomisierte Verhaltensmuster auf die Wahrnehmung des Individuums durchschlagen, und es auch seinerseits sukzessive zur Ware verdinglicht erscheint:4 Die Kultur verkommt unter dem Diktat solch merkantiler Verwertung zur Kulturindustrie – so der bekannte Begriff aus Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung. Kritisch zur Debatte steht im Hinblick auf die Warenästhetik daher nicht nur ein ökonomisches Phänomen, sondern auch der Begriff der Ästhetik. Wenn diese sich nämlich – wie im Fall der Warenästhetik – ökonomisch funktionalisieren lässt, dann widerspricht dies jener in der Folge des deutschen Idealismus und der Romantik bis heute dominierenden Vorstellung von Kunst als einer Domäne der Autonomie: »Im Reklamecharakter der Kultur«, schreibt Adorno, »geht deren Differenz vom praktischen Leben unter. Der ästhetische Schein wird zum Glanz,

2

Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M. 1971, S. 28

3

Haug, Warenästhetik, S. 28; 48.

4

Grundlegend zur These von der Ware als der »Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins«: Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1923, hier S. 174. Vgl. auch Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, aus dem Englischen von Richard Barth, Hamburg 2009, S. 19-21; 77-82.

S TUDIO -L INIE. Z U B RINKMANNS W ARENÄSTHETIK

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den Reklame an die Waren zediert, die ihn absorbieren; jenes Moment der Selbständigkeit jedoch, das Philosophie eben unterm ästhetischen Schein begriff, wird verloren«.5 Fast zwingend hat sich daher – nicht erst in der Nachfolge Adornos, aber im Anschluss an ihn mit umso größerem Nachdruck – in der ernsten Literatur ein Imperativ durchgesetzt, jegliche Anzeichen stärkeren Interesses an der Warenästhetik bzw. des Verstricktseins in sie zu vermeiden. Eine solche Strategie kann, so Moritz Baßler in einem Aufsatz zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten, etwa in Form eines »politischen und semiotischen Ausnahmezustands«6 Darstellung gewinnen, eines Zustands jenseits der Segnungen des Kapitalismus, wie ihn Peter Handke während seiner Serbienreise auf einem Markt, dem Schauplatz der berüchtigten »andersgelben Nudelnester[]« vorfindet. Noch ganz und gar ungelabelte, »nur auf den ersten Blick einförmige[] oder eintönige[] jugoslawische[] Brote[]« finden sich dort ebenso wie weder zu Portiönchen verpackte noch – Vorsicht: Amerikanisierung – zu Filterzigaretten verarbeitete Tabakhaufen: »Nur gab es da auch, so zeigte sich jetzt, viel Schönes, Erfreuliches und – warum nicht? – Liebliches zu kaufen. Schwer zu sagen für einen, der nicht raucht, ob zum Beispiel die von Markttisch zu Markttischchen wechselnden Haufen von dünngeschnittenem Tabak, luftig und grasig, in den selbstzudrehenden Zigaretten dann so herzhaft schmecken, wie sie ausschauen«.7 Handkes serbischer Markt ist ein veritables Märchenland mit »walddunklen massigen Honigtöpfen«, »truthahngroßen Suppenhühnern«, und »oft raubtierspitzmäuligen, oft märchendicken Flußfischen«.8 Das Darstellungsverfahren lässt sich als Wiederverzauberung oder Re-Sakralisierung deuten. Semiotisch vollzieht sich dies im Hinblick auf das Handelsgut als dessen singularisierende Auszeichnung,

5

Theodor W. Adorno, Das Schema der Massenkultur. Kulturindustrie (Fortsetzung), in: Ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1984, S. 299-335, hier S. 299.

6

Baßler, Moritz: »Zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten«. In: Thomas Wegmann (Hg.), Markt literarisch, Bern, Berlin u.a. 2005, S. 171-181., hier S. 175.

7

Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Mora-

8

Handke, Eine winterliche Reise, S. 71.

wa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a.M. 1996, S. 70f.

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die in Opposition tritt zum Aggregatszustand des herkömmlichen Markenartikels, der in aller Regel unter gleichmachenden Vorzeichen erfahren wird, wie es Andy Warhol so treffend auf den Punkt gebracht hat: »A Coke is a Coke and no amount of money can get you a better Coke than the one on the bum on the corner is drinking. All the Cokes are the same and all the Cokes are good.«9 Anthropologisch gesehen – so kann man etwa von Arjun Appadurais oder Igor Kopytoffs Überlegungen zum social life bzw. zur cultural biography of things lernen – lässt sich Handkes Verfahren als eine dichterisch-schamanische Machtgeste begreifen: »Power«, schreibt Kopytoff, »often asserts itself symbolically precisely by insisting on its right to singularize an object or a set or class of objects« – gemäß einem »counterdrive« zum beständigen »onrush of commoditization«,10 von dem kapitalistische Gesellschaften nun einmal geprägt sind. Einen solchen Ausnahmezustand möchte Handke denn auch gleichsam als Bollwerk gegen die allgegenwärtige Ökonomisierung trotz seines realpolitischen Ermöglichungsgrundes, des Krieges, aufrechterhalten sehen: »und ich erwischte mich dann sogar bei dem Wunsch, die Abgeschnittenheit des Landes – nein, nicht der Krieg – möge andauern; möge andauern die Unzugänglichkeit der westlichen oder sonst welchen Waren- und Monopolwelt«.11 Doch gesetzt den Fall, man bleibt auf dem Boden eines die realkapitalistische Welt weder verdrängenden, noch verklärenden oder überhöhenden Realismus, und somit lebensweltlich auf dem Terrain westlicher Überflussgesellschaften, dann ist es geradezu unmöglich, der Warenästhetik mit ihren Markennamen zumindest auf einer »paradigmatischen Textdimension«12 auszuweichen. Will sagen: wenn von Nudelpaketen etwa in einem westlichen Supermarkt die Rede ist, dann weiß jeder Leser, dass er sich darunter die üblichen Birkel, Barilla,

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Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and back again), San Diego 1977, S. 100f.

10 Igor Kopytoff, »The cultural biography of things: commoditization as process«, in: Arjun Appadurai (Hg.), The social life of things. Commodities in cultural perspective, Cambridge 1986, S. 64-91, hier 73. 11 Handke, Eine winterliche Reise, S. 72. 12 Vgl. Moritz Baßler: Zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten, in: Thomas Wegmann (Hg.): Markt – literarisch, Bern, Brüssel etc. 2005, S. 171-181, hier S. 172 u. passim.

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Buitoni u. co. vorzustellen hat, ganz gleich, ob der konkrete Text den entsprechenden Signifikanten auf seiner syntagmatischen Oberfläche realisiert oder nicht. Dieses ›Oder nicht‹ – das offensichtliche und mitunter ostentative Verschweigen von Markennamen – ist freilich aus den genannten Gründen in literarischen Texten die Regel. So gesehen ist es kein Wunder, dass sich ein fast klassisches Beispiel für eine solche Technik – jeder weiß, dass von einem Markenprodukt die Rede ist, aber der literarische Text stellt sich da mal ganz dumm… – auch bei Rolf Dieter Brinkmann findet (und natürlich ist es insofern dennoch erstaunlich, als man in Brinkmann doch eigentlich den großen Fürsprecher der literarischen Zuwendung zur gelabelten Markenwelt sieht). Die Rede ist von der frühen Erzählung In der Seitenstraße aus dem 1966 erschienenen Band Raupenbahn, die im Stil jener vom nouveau roman wie auch von der deutschsprachigen Avantgarde der 60er Jahre geschätzten neutralen Deskription verfasst ist und etwa bei in der minutiösen Beschreibung eines Tante-Emma-Ladens mehr an den Schemata und der Maschinerie der Wahrnehmung interessiert ist als am Wahrgenommenen: »Über der Rückwand setzten sich die Regale und Fächer nach oben gegen die Decke des Raumes hin fort, stießen aber nicht ganz an die Decke, zwischen der abschließenden Leiste der Regalwand und der Decke blieb ein Zwischenraum. Oben auf dem langgestreckten Regal stand ein aus dicker Pappe ausgeschnittener Bär. Der Bär sah freundlich aus, er stand aufgerichtet und hielt zwischen den Tatzen eine weiße Dose, auf der ein ähnlich freundlich aussehender Bär mit dickem, aufgeblasenem Kopf und schwarzen Glasaugen abgebildet war. Die Nase war ein roter Punkt. Er ließ seinen Blick von dem Reklameschild heruntergleiten und sah durch die Öffnung in der Rückwand, die ihm gegenüber war«.

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Diese Beschreibung wird im Rezeptionshorizont so gut wie jeden in der Bundesrepublik sozialisierten Lesers jenen Markensignifikanten aufscheinen lassen, den das Syntagma der Beschreibung geflissentlich ausklammert: die »Bären-Marke«. Rasch lässt sich ausgehend von diesem Nullpunkt in vier Schritten die weitere Karriere der Warenästhetik von Brinkmanns Prosa skizzieren.

13 Rolf-Dieter Brinkmann, In der Seitenstraße, in: Ders., Erzählungen, Reinbek 1985, S. 203-220, hier S. 205.

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2. W ARENÄSTHETIK BEI R OLF D IETER B RINKMANN – EINE SEHR KURZE S KIZZE 14 Da wäre – erstens – ein Text wie die 1968 verfasste Kurzprosa Strip zu nennen, in dem wie In der Seitenstraße via deskriptivem Verfahren die Szenerie eines Striplokals beschworen wird, wobei aber nun punktuell auch Versatzstücke aus dem – gelabelten – populärkulturellen Alltag einfließen. Denn nichts anderes als Marken sind jene Bandnamen,15 die das Erzähler-Ich in einer paradigmatischen Digression aufzählt, wenn dort von einem »Zuschauer« die Rede ist, »[d]er sich der stückweise sich enthüllenden Schönheit oder noch nicht einmal Schönheit, sondern bloß Nacktheit des Frauenkörpers überläßt, der sich dann nah vor ihm auf der viel zu kleinen, engen Bühne hin und her bewegen wird zu einer der unterdessen ablaufenden neuesten Schlagerplatte der Beatles, der Rolling Stones, Kinks oder Animals oder von Bob Dylan, von Manfred Man [sic!], von Roy Orbison«16

In der Debatte über Leslie Fiedlers berühmten Essay Cross the border, close the gap, ist dann – zweitens – die Nennung von popkulturellen Schlüsselwörtern schon poetologisches Programm, das sich auf die Formel Doors statt Martin Walser bringen ließe: »Ich habe das deutliche Empfinden, gegenüber der Arbeit, die für diese Musik [der Doors, HD] notwendig war, sind deutsche Dichter Schlampen, ob es Helmut Heißenbüttel ist oder Jürgen Becker, Baumgart oder Walser – sie sind faul

14 Vgl. dazu Heinz Drügh, Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700-2000), Tübingen 2006, S. 410-420.

15 Vgl. Moritz Baßler, »One more cup of Tchibo for the road. Über die Abwesenheit von Markennamen in der Popmusik«. In: Heinz Drügh, Christian Metz u.a. (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a.M. 2010.

16 Rolf-Dieter Brinkmann: Strip. Beschreibung. In: Ders., Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974, Reinbek 1982, S. 61-64, hier S. 63.

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im Vergleich zu den Musikern, die probieren, die technischen Apparaturen ausnutzen zur Realisierung ihrer Vorstellungen.«17

In dem Essay Der Film in Worten aus dem legendären Sammelband Acid formuliert Brinkmann folglich eine Invektive gegen die warenlose, gegen massenkulturellen Input abgeschottete, ebenso weltabgewandte wie selbstverliebte und letztlich substanzarm aufgeblähte Innerlichkeitsästhetik der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die, statt sich für Popkultur und Warenwelt zu öffnen, »sich mit dem Bekannten weiterhin aufbläht[] wie fränkische Kirschgärten, nordische Flechte, die Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen) etc.«18 – »…als lebten ›Dichter‹«, so Brinkmann im direkten Anschluss daran in dem Einleitungsessay zu seinen Übertragungen von Frank O´Haras Lunch Poems, »nur mit kostbarsten gedanklichen Wertgegenständen, in einer Welt ohne Schlager, Schlagzeilen und Kinoplakate, ohne ganzseitige Reklamen für Cinzano, Rank Xerox und arden for men, ohne Autounfälle, und persönliche Disaster [sic!], Mittagessen und Sonderangebote an Armbanduhren, ohne Röcke, die über Luftschächte hochgeblasen werden«.19

In dieser Feier von Pop-Ikonen wie Marilyn Monroe mit hochgeblasenem Rock aus Billy Wilders Film Seven Year Itch (1955) macht sich indessen durch das falsch, nämlich amerikanisch – mit »i« – geschriebene ›Disaster‹ nicht nur Brinkmanns Vertrautheit mit Andy Warhol und seinen verschiedenen Disaster-Bildern bemerkbar, dokumentiert wird vielmehr auch – und das wäre die dritte warenästhetische Karrie-

17 Rolf Dieter Brinkmann, Angriff aufs Monopol oder ich hasse alte Dichter. In: Uwe Wittstock (Hg.), Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig 1994, S. 65-77, hier S. 66. 18 Rolf Dieter Brinkmann, Der Film in Worten. In: Ders.u. Ralf Rainer Rygulla (Hg.), Acid, Darmstadt 1969, S. 382-399, hier S. 386.

19 Rolf Dieter Brinkmann, Die Lyrik Frank OʼHaras, in: Ders., Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 19651974, Reinbek 1982, S. 207-222, hier S. 211. Vgl. insgesamt dazu das Standardwerk von Jörgen Schäfer, Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre, Stuttgart 1998.

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restufe – dass Brinkmann bei aller Emphase für die Warenwelt, deren Ambivalenz (genau wie Warhol) sehr wohl markiert – den Schrecken, der einem aus den glänzenden Oberflächen immer wieder auch entgegenspringt. In Keiner weiß mehr, dem Roman aus dem Jahr 1968 ist diese Ambivalenz dann voll ausformuliert, wenn es der Erzähler einerseits als seine »fixe Idee« einräumt, sich »einfach nur Schaufenster ansehen« zu müssen – »die Stadt sich ansehen, die Schaufenster, hell erleuchtet, mit Sachen vollgestopft«20 –, eine Art Obsession, die ihn andererseits immer wieder in Tiraden voller Hass und Ekel ausbrechen lässt: »Die kulturellen Wörter. Verreckt. Aus. Auch du, Hans-Jürgen Bäumler. Und du, Marika Kilius. Und du, Pepsi-Mädchen Gitte. Und du, Palmolive-Frau. Und du, Luxor-Schönheit Nadja Tiller. Kölscher Willy. Unser Mann in Bonn. Onkel Tchibo auf Reisen. Langnese Eiscremekonfekt. Mon Cherie […] Undwassonsnochalles, undwassonstnochalles, wassonstnochalles, wassonstnoch. […] Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken«.21

Die Ablehnung gegenüber der Warenwelt bricht sich dann in Rom, Blicke fast in Reinkultur Bahn und lässt – viertens – das Spätwerk unter dem Zeichen einer resignierten, mitunter auch als reaktionär22 verstandenen Lossage von der kapitalistischen Warenwelt wahrnehmen: »Die USA-Dinger hätte ich gar nicht machen dürfen« notiert Brinkmann etwa in Rom, Blicke im Rückblick auf seine Vermittlerdienste in Sachen US-amerikanischer Pop- und Subkultur insbesondere in Acid und stellt wie aus Protest dagegen die Zeichen seiner römischen Form der Reproduktion auf Subsistenzwirtschaft: »und wenn ich die Koksrechnung nicht mehr bezahlen kann, gibt es genug Brennbares, was herumliegt, und das man sammeln kann, und wenn wenig zum Kaufen ist, dann kann ich Kartoffeln wieder ziehen und Mohrrüben und Kohl anpflanzen«.23

20 Rolf Dieter Brinkmann, Keiner weiß mehr, Köln 1968, S. 226. 21 Brinkmann, Keiner weiß mehr, S. 224. 22 Vgl. bspw. Michael Zeller: »Poesie und Pogrom. Zu Rolf Dieter Brinkmanns nachgelassenem Reistagebuch ›Rom, Blicke‹«. In: Merkur 34 (1980), S. 388-393. 23 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek 1979, S. 385.

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Ein solcher grand récit ist aber nicht alles, was über Brinkmanns Warenästhetik zu sagen bleibt. Ich möchte vielmehr im dritten Teil dieser Ausführungen genauer über Brinkmanns programmatische Bemerkung aus dem Fiedler-Essay über einen »Stil« nachdenken, »der alle Materialien gleichschaltet«24 – alle Materialien, d.i. warenästhetische wie pop- aber auch hochkulturelle. Dadurch soll der Akzent darauf gesetzt werden, dass die Warenästhetik beim frühen Brinkmann nicht etwa auf plakativ popliterarische Weise inszeniert ist, sondern noch tastend, aber durchaus bedacht als genuiner Teil der modernen Lebenswelt in die literarästhetische Selbstverständigung über den Ort der eigenen Prosa in der Poetik der Moderne einbezogen wird. Dies soll anhand eines bislang wenig interpretierten Text aus Brinkmanns erstem Erzählungsband Die Umarmung aus dem Jahr 1965 vorgeführt werden, der Erzählung Weißes Geschirr.

3. E IN S TIL , DER ALLE M ATERIALIEN GLEICHSCHALTET – B RINKMANNS E RZÄHLUNG W EISSES G ESCHIRR (1965) Mit »Fats Domino, Cliff Richard, Kenny Ball and his jazzmen« werden bereits in Weißes Geschirr Popstars durchaus beim Namen genannt, sie haben aber noch nicht den Status von Galionsfiguren, sondern firmieren als letztlich bloß »gefällig[e] […] Schlagermusik«.25 Aber auch gelabelte Waren finden sich in jenem Reigen »kleine[r], banale[r] Einzelheiten«, den die Erzählung versammelt. Eine gewisse Insistenz von Popkultur und Warenwelt ist also nicht von der Hand zu weisen: so ist von einem »Sicherheitsschloß« der Marke »Bekaes« (WG 119, 127) die Rede, und an einer anderen Stelle, an der meine Überlegungen ansetzen, findet sich dies: »Langsam, vorsichtig setzte er die Tasse vor sich ab und nahm noch einen halben Löffel Zucker, rührte wieder in der Tasse herum, rührte langsam wie

24 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 73. 25 Rolf Dieter Brinkmann, Weißes Geschirr. In: Ders., Erzählungen, Reinbek 1985, S. 114-141, hier S. 118. Im Folgenden mit der Sigle ›WG‹ und der Seitenzahl zitiert im laufenden Text.

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gleichgültig oder gelangweilt, mit dem zierlichen Silberlöffel am Tassenrand innen entlang, das Geschirr, die Untertasse, die Tasse vor ihm, weiß, geschmackvoll weiß, Rosenthal, Studio Linie, was er dachte, und er war bemüht, nicht mehr mit den Augen vom Tisch abzugleiten auf ihre Knie, das zu verwischen, was er kurz, ganz flüchtig wieder an ihr gesehen hatte wie damals, ihre Knie, ihre hübschen Knie« (WG 125).

Diese Stelle enthält in nuce den Plot der Erzählung. Man wird mit einer fast stillgestellten Handlung konfrontiert, einem Erzählerblick, der – wie bei den erwähnten Texten In der Seitenstraße oder in Strip – im Sinne der experimentell-avancierten Prosa der 1960er Jahre und ihrer Affinität zum sogenannten chosisme des nouveau roman, von einer eigentümlichen Fixierung auf die dingliche Welt geprägt ist. Bei Brinkmanns Erzählung ist eine solche freilich auch von der Handlungsebene her motiviert, dient sie dem Protagonisten doch dazu, den Blicken der bei ihm sitzenden Frau auszuweichen. Er und diese Frau sind einmal ein Paar gewesen, sie bringt ihn, wie man erfährt, nach wie vor »aus der Fassung«, und so ist er eigentlich fest entschlossen gewesen, »sie nicht zu besuchen, ihr nicht nachzulaufen wie ein Hund« (WG 119), und nun sitzt er dennoch bei ihr. Die erzählte Zeit des gut 30 Seiten umfassenden Textes beschränkt sich nun im Kern auf eine sehr knappe Zeitspanne in der Wohnung der jungen Frau, wo die beiden Protagonisten auf der Couch sitzen und Tee trinken. Der junge Mann scheint ebenso verstockt wie schüchtern und meidet die blickhafte Kontaktaufnahme. In diese Situation sind in Form von Rückblenden – seit Prousts Recherche ist Teetrinken dafür ja der topische Auslöser – Szenen der Ambivalenz aus der Beziehung der beiden eingewoben, Dokumente einer ebenso intensiven Suche nach Nähe wie ihrer gleichzeitig angstvollen Vermeidung, eine mit Aggressivität und Ekel dargestellte Geschlechtlichkeit, die weniger als gelingende Vereinigung denn als schmerzhafte Trennung erfahren wird. So ist die Rede von Situationen, da sie sich »noch umarmten, sich noch küßten und nachher dann beieinander auf der Couch lagen, nebeneinander, Seite an Seite aneinander festgeleimt, festgepappt und noch immer nicht aufhören konnten, sich zu küssen, flach ausgestreckt, zwei flache, längliche Fischleiber« (WG, 117) oder da die Freundin

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»für sich allein lebte und immer für sich allein, von ihm völlig unabhängig, leben und fortbestehen würde, ein anderes Leben besaß, anderes Leben war, eigener Atem, Stoffwechsel, Menstruation, das eine andere, immer andere, eigene Zeit lebte, in die er nicht eingedrungen war und niemals mehr würde eindringen können, und also wußte, daß sie es nie, niemals würden machen können, sich zu lieben, sich aufreißen, daß er sie nie so weit aus sich herauslocken würde oder in die vordringen konnte, in die Schleimhäute, in diese heiße, weiche Masse hinein« (WG 130).

Das Materielle oder Physiologische, zu dem diese Schilderung tendieren, färbt die gesamte Diegese und lässt darin geradezu obsessiv Szenerien hervorleuchten wie jene »zähe Schlicklandschaft«, einen »graue[n], breiige[n] Gürtel aus Schlamm […] mit vielen kleinen Prielen und draußen Scharen von Möwen, die in dem fettigen, glänzenden Schleim nach Nahrung suchten, in dem brackigen, abgelagerten Meeresschleim, dem öligen Salz auf toten Fischen herumhackten, kleine Fetzen und Happen aus den Kadavern rissen und schrien, kreischten« (WG 118) oder jenen »Fluß […], dessen Wasser schwarz war, teerig schwarz und schmierig, das faulig roch, nach Tran roch, nach Lebertran, nach Öl, Dieselöl, Schmieröl, nach Karbol, das brackig war und träge floß, zähflüssig, über das das Sonnenlicht hinwegglitt, Licht, das sich auf dem fauligen Wasser in Kreisen ausbreitete« (WG 121). Nicht nur die eingangs angesprochenen Dinge dienen dem Protagonisten als visuelle Fluchtorte vor soviel Kreatürlichkeit, auch im abstrakt Geometrischen des Raums verliert sich sein Blick: »Krampfhaft suchte er weiter nach dem toten Fleck, auf den er blicken konnte, wo er entschlüpfen würde, und sah vom Tisch fort, weg vom Geschirr und gegen die Zimmertür, das aufgestellte Rechteck in der gegenüberliegenden Wand, er rutschte mit den Augen darüberhin, glitt an der oberen Türkante entlang und suchte, sah weiter, sah hoch und stieß an die Zimmerdecke, wo Wand und Decke den rechten Winkel bildeten, sah in den Winkel hinein und rutschte mit dem Blick weiter, rückte weiter von ihr ab, versuchte ihr zu entkommen, zu fliehen, fliehen, verwirrt, verloren« (WG 133).

Bemerkenswert ist es schon, mit welcher Einlässlichkeit sich ein als Pop-Literat kategorisierter Autor wie in einer Reminiszenz an Verfah-

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ren des Fin-de-Siècle vom ersten Satz dieser Erzählung an in der Mikrostruktur der Dinge, ihrer ornamentalen Textur verliert:26 »In der Ecke, unter der abgeschrägten Außenwand die Couch, die Couch flach, mit dem rauhen, braunen Stoff bespannt, grob der Stoff, genoppt, und davor der niedrige, längliche Rauchtisch, dessen Platte mit Kacheln ausgelegt war, die Glasur der Kacheln rissig, von kleinen, kurzen Äderchen durchzogen, die ein feines, dünnes, spinnwebdünnes Netz bildeten, Kratzspuren, Risse […]« (WG 114).

»Gegenwart, einzig Gegenwart«, »kleine, kleinste Geschehnisse« (WG 137) sind es, in die sich der Erzähler in emphatischer Abwehr jener großen Erzählung vertieft, nach der die Liebesgeschichte eigentlich verlangt. Nun ist das allerdings nicht so einfach, in der Wohnung einer Verflossenen die Aufmerksamkeit mir nichts, Dir nichts auf vermeintlich unbedeutende Objekte zu leiten. Ein Zitat aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an Paula Modersohn-Becker (aus jener Zeit, als das Knistern zwischen beiden noch nicht durch die Eheschließung mit jeweils anderen Partnern abgeschwächt worden ist), belegt die gängige Übertragung zwischenmenschlicher Anziehung auf Dinge des Hausstandes: »Ich kam nachhause«, schreibt Rilke, »und wieder brannte die Lampe, die grüne, und die Kerze, bei der wir saßen. Und ich rührte kein Ding an, um von nichts den feinen Schmelz Ihres Dagewesenseins abzustreifen«.27 Brinkmanns Protagonist indes wehrt sich nach Kräften gegen den sentimentalen Sog, der von den Objekten ausgeht, gegen »all de[n] wertlosen Plunder abgestandener Gefühle, […] über die er nicht hinwegkommen konnte, in denen er absoff, jetzt, während er fast schon wieder darin untergetaucht war, was an ihm zog, was ihn weich werden ließ, diese Vergangenheit, diese verdreckte Wunde, dieser eiternde Bruch, jetzt. Jetzt, wo er mit

26 In der Brinkmann-Forschung hat bisher einzig Burkhard Schäfer auf diesen Aspekt in Brinkmanns Werk aufmerksam gemacht: Burkhard Schäfer: Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur, Frankfurt a.M. 2001, bes. S. 256-279. 27 Rainer Maria Rilke an Paula Becker, 13.1.1901, in: Paula ModersohnBecker, Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Mit Bildern von Paula Modersohn-Becker, Frankfurt a.M./Leipzig 2003, S. 34.

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dem Blick auf dem Bild klebte, nicht mehr weiter wußte, festgekeilt war, festgeklemmt, jetzt, jetzt und jetzt« (WG 137f.).

Von welchem Bild hier die Rede und mit welchen Erinnerungen es besetzt ist, erfährt man kurz zuvor, und auch die Versenkung in die vorsemantische Farbigkeit, in die Materialität des Bildes besitzt geradezu fetischistische Dimension: »[…] er floh weiter, floh weiter vor ihr mit den Augen, kroch mit dem Blick am äußersten Rand des Wohnzimmers entlang, kam hin zu dem Kleedruck, verhielt an dem Bild, Kleine Flußbaulandschaft, grün, sehr grün, aber wasserfarbenblau, das Blau, das leuchtete, grün, und abgezäunt das Grün, das grünte, das Wasser blühte grün, blau, schattig blau, was verlandete, Grasflächen, Grasbelag, Inseln […], die Landschaft floß sehr still vorbei, zerfloß, grün, grün, blau, dunkelblau und grün […]« (WG 135).

Man kann also auch im Objektbezug von Brinkmanns Text folgende Ambivalenz ausmachen: Zunächst wird die Dinglichkeit in Amorphes aufgelöst, offenbar, um den von Rilke sogenannten Schmelz des Dagewesenseins von den Gegenständen zu entfernen. Dieser Vorgang hat nun aber offensichtlich seinerseits eine regressive Komponente: Denn an der Farbigkeit des Bildes saugt sich der Erzähler gewissermaßen fest. Die Beschreibung markiert eine Art Stillstand, ein – so wäre das semiologisch zu übersetzen – Feststecken im oder Festklammern am Signifikanten, in der Fülle nur mäßig zur Amplifikation dienender Wiederholungsfiguren wie »grün, grün, blau, dunkelblau und grün« (WG 135), »jetzt, jetzt und jetzt« (WG 138) oder »weiß, geschmackvoll weiß« (WG 125). Die visuellen Tableaus, die der Erzählerblick ebenso aus konkreten Objekten wie aus amorphen Feinstrukturen und Farben bildet, sind in Brinkmanns Erzählung also sowohl Stationen eines Ausweichmanövers als auch Stätten regressiven Festhaltens, und letzteres, das Gefühl des Feststeckens, lässt den Protagonisten an einen mehr oder weniger gewaltsamen Ausbruch oder, wenn man so will, an ein Ausschlüpfen denken, etwa in Form eines Bildes »[…] das vor ihm in der Luft stillstand, dauerte und in sich geschlossen war, ein vollkommener Augenblick, ein großer Tropfen Zeit, durchsichtig, der sie mit grüner (!) Gallerte einschloß, und dann schnell der Einstich, der Eihautstich und das rasche Zerfallen« (131).

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Diese Dynamik lässt sich anhand einer zweiten Kunstanspielung genauer nachvollziehen. Die Rede ist von Bildern der Malerin Paula Modersohn-Becker [Abb. 1 u. 2], für die der Erzähler »eine Schwäche« zu haben einräumt und deren »Originale« er in Bremen neben manch »ziellose[m] Bummeln«, »Streifzügen durch die Kaufhäuser« und »Schaufensterbesehen« (WG 120) betrachtet; um dann dort in einer seltsamen Mixtur aus Versunkenheit und Aggressivität »vor diesen Gesichtern zu stehen, vor diesen Kindergesichtern von einfältiger Sanftheit mit den großen Augen, die in eine grüne (!), üppig verschossene Leere glotzten, vor diesen traurigen, heiteren, verblödeten Gesichtern, diesen Klötzen von Gesichtern, Gesichter, […] festgehalten in einem trägen Staunen und in sich versunken, nicht ratlos, nur unfähig sich auszudrücken, Worte zu machen, zu sprechen, die Zunge gelähmt, Gesichter, in denen er etwas von sich zu finden glaubte« (WG 122).

Die Identifikation mit Modersohns sprachlosen Kinderfiguren übersetzt das Hadern mit der Anhänglichkeit an die Geliebte in eine ödipale Phantasie: »Grob die Gesichter, die Gesichter still, die an schweren Brüsten hingen, an den prallen, schwer nach unten ziehenden Milchbeuteln sogen, Brüste mehr wie Euter, Kuheuter, massig, ungeheuer massig wie alle Leiber, die wuchtigen, nackten, erdbraunen Frauenleiber, die plumpen Körper, die Gebärmaschinen, die Muttersäue […]« (WG 122).

Die Aggressivität des Erzählers ist freilich nicht zuletzt dadurch motiviert, dass sein Rezeptionsakt selbst von der Verstrickung in das soeben Attackierte zeugt. An den Bildern der Modersohn-Becker hat er sich nämlich »festgesaugt, als seien seine Augen der Mund, der Rüssel, der über die Bilder hinwegtastete, der die Bilder in sich hineinsog, die Landschaften, die Stilleben, die Gesichter […]« (WG 122). Man kann diese Metaphorik des Hineinsaugens – zumal vor dem Hintergrund der erwähnten Sprachlosigkeit – als Anspielung auf Hugo von Hofmannsthals Chandosbrief verstehen. Dort schreibt der Verfasser über die Zeit vor seiner berühmten Sprachkrise: »in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer

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schönen, sanftäugigen Kuh aus dem Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog«.

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Diese Szenerie, die der Chandosbrief selbst an anderer Stelle eine »aufgeschwollene[] Anmaßung«29 nennt, figuriert in den Augen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers David Wellbery eine »Laktopoetik«, eine inzestuöse »Poetik des Milchstroms«, wurzelnd in einer »infantilen Wunschsphäre, deren prägendes Erlebnis der dem Infans an der Mutterbrust zuteilgewordene orale Genuß ist. Darin besteht das der Laktopoetik innewohnende Vergehen, daß sie sich am infantilen, also vorsprachlichen Weltmodell des Einheitsgefühls und der Ich-Aufschwellung orientiert«.30 Überwunden werden kann dieses Vergehen, das Chandos schuldhaft in eine Sprach-Krise stürzen lässt, nur durch ein radikales sich Ausliefern an die Objektwelt, durch eine »Sprache«, wie Chandos schreibt, »in der die stummen Dinge zu mir sprechen«31 – zu einem demütig aufnehmendem, nicht mehr narzisstisch gefräßigen Ich. Das unvermittelte Labeling in Brinkmanns Erzählung lässt sich daran anschließend als Versuch deuten, per Konzentration auf eine bestimmte Art Objekt – eben die gelabelte Ware – aus der regressiven Bindung an eine verflossene Liebe hinauszufinden, und zwar als Versuch sowohl des Protagonisten als auch der Erzählung selbst. Wenn in Ethnologie, Anthropologie oder Soziologie von Strategien der decommoditization zu lesen ist, von den Bemühungen einzelner Subjekte oder ganzer Sozietäten, aus den anonymen Waren wieder mit Persönli-

28 Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief. In: Ders., Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen [Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden], hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M. 1979, S. 461-472, hier S. 464. 29 Hofmannsthal, Ein Brief, S. 464. 30 David E. Wellbery, »Die Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination. Anmerkungen zum Chandos-Brief und zur frühen Poetik Hofmannsthals«. In: Ders., Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, München 2006, S. 196-229, hier S. 207. 31 Hofmannsthal, Ein Brief, S. 472.

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chem aufgeladene Requisiten zu machen,32 so geht es an dieser Stelle in Brinkmanns Erzählung um das genaue Gegenteil: um eine kalkulierte commoditization, die Überführung eines Objekts in einen Status der Warenförmigkeit mit dem Ziel, den Text per kultureller Aufladung aus der Tyrannei der Intimität zu befreien. Welchen Unterschied macht es, wenn das weiße Geschirr, das titelgebende Requisit, an einer Stelle der Erzählung als Produkt aus der Fertigungsreihe Studio-Linie der Firma Rosenthal konkretisiert wird? Zunächst einmal gibt dies zusätzlich lebensweltlichen Aufschluss über die Figuren der erzählten Welt, kennzeichnet die junge Frau als im Besitz einer Aussteuer, und zwar einer ungewöhnlich exklusiven. Diese scheint sie indes stärker als an einen Zukünftigen an den mutmaßlichen Financier, ihren Vater, zu binden, steht das Weiß doch als optischer Eindruck über einem Urlaub mit dem Vater und damit für das Gegenteil der düsteren, schleimig-fettig-öligen Texturen, auf die der Erzähler fixiert ist. Von seinem Freund Klaus hat dieser gewissermaßen als Auslöser seines Besuchs bei der ehemaligen Freundin erfahren: »dass sie gerade vorgestern zurück aus den Ferien gekommen sei, sie sei fast vier Wochen in Holland gewesen, habe mit ihrem Vater auf einer kleinen, holländischen Insel, auf Vlieland zauberhafte, phantastische Ferientage erlebt […], war gewöhnlich schon frühmorgens zum Strand hingegangen, der weiß war, von einem stechenden, scharfen, beißenden Weiß […]« (WG 117).

Gleichzeitig lenkt die Markierung der Serialität der Studio-Linie, die sie mit jedem nicht individuell gefertigten Markenprodukt teilt, den Blick aber auch weg vom bloß Individuellen, mit dem die Grundsituation des Textes trotz aller Ausbruchsversuche ins Dingliche gleichsam wie verstopft bleibt. Ein weißes Geschirr aus Rosenthals Studio-Linie ist kein bloßer Privatfetisch mehr, auf dem der – wie auch immer – feine oder fettige Schmelz einer Liebesgeschichte ruht, sondern objektiviert den Text und lädt ihn mit kultureller Bedeutung auf.33

32 Vgl. Kopytoff, »The cultural biography of things«, bes. S. 73-77. 33 Zur entmythologisierenden Wirkung der Serialität vgl. Georg Stanitzek, »Etwas das Frieda Grafe gesagt hat«. In: Heinz Drügh, Christian Metz u.a. (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a.M. 2010.

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Um diese zu aktivieren, muss man für einen Moment die Lektüre von Weißes Geschirr aussetzen und sich vor Augen führen, wofür Rosenthals Studio-Linie seit den frühen sechziger Jahren steht. Ursprünglich war Rosenthal Porzellan – so exemplarisch das New Yorker Time Magazine im Jahr 1963 – bekannt für seine »rococo curlicues and baroque designs«, für »pompous imitations of the past«.34 Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Familie des Firmengründers Philipp Rosenthal, eines konvertierten Juden, ins britische Exil gehen musste. Der Sohn des Patriarchen, Philipp Rosenthal junior, der ab 1939 sogar in der französischen Fremdenlegion Dienst gegen die Nazis getan hatte, trat 1950, nach Deutschland zurückgekehrt, wieder in die väterliche Rosenthal AG ein, wurde dort Werbedirektor und 1958 Vorstandsvorsitzender. Ende der sechziger Jahre zog er für die SPD (bis 1980) in den Deutschen Bundestag ein und war für kurze Zeit sogar Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft. Diese außergewöhnliche Figur nun ist die maßgebliche Triebkraft jenes Prozesses, der die Schnörkel der Rosenthal-Vergangenheit durch die neue Produktreihe Studio-Linie zu verdrängen sucht. Für deren programmatisch schlichte, elegante und künstlerisch wertvolle Entwürfe engagiert Rosenthal internationale, der Moderne verpflichtete Designer. Die Studio-Linie steht also wie kaum ein anderes Produkt für die Liaison von moderner Ästhetik und Warenkultur – auch wenn die in dieser Hinsicht symbolträchtigste Verheiratung im Rahmen der Studio-Linie erst 1968/69 in Form des legendären Teeservices TAC I statthat, das der Bauhaus-Gründer Walter Gropius gemeinsam mit Louis McMillen für Rosenthal entwirft. (Abb. 3) Damit ist der Weg zurück von der Studio-Linie zu Brinkmanns Text vorgezeichnet; die Anspielung auf das Rosenthal-Geschirr exponiert erstens einen künstlerischen Stil, der programmatisch den Weg in die Warenwelt antritt; zweitens steht das Image des Produkts für einen energischen Aufbruch, der mit dem Verhalten des Protagonisten kontrastiert. Freilich braucht es mehr als die richtige Tasse, um zum Schmied seines Glücks zu werden, und so könnte man sogar sagen, dass das Re-Entry von Rosenthals Studio-Linie aus dem kulturellen Netz in Brinkmanns Text dessen Ambivalenz fortschreibt und die Form eines ironischen, fast höhnischen Kommentars zu den Mühen des Protagonisten annimmt, sich aus der Beziehung zu der jungen Frau

34 »Rosenthal´s New Look«. In: Time Magazine, 29. März 1963.

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zu lösen. Etwa in Form von Ambrogio Pozzis bei aller ostentativen Schlichtheit doch Duo genannten Tischausstattung, die die Zweisamkeit im Namen trägt (Abb. 4), oder – fast schlimmer noch – in Form von Bjørn Wiinblads Romanze (Abb. 5), die, so die Firmenpublikation Rosenthal Studio-Linie: Porträt einer Idee, »bewusst in einem Kontrast zu den völlig geradlinigen Formen anderer Services gehalten ist, um dem Porzellan die ihm eigene Liebenswürdigkeit zu geben«, und deren »Oberfläche« wie eine Reminiszenz an des Protagonisten Flucht in Feintexturen von einem »Relief […] wie ein feines Webwerk« überzogen ist.35 Literarisierte Dinge, zumal wenn sie gelabelt und damit in ihrer Warenästhetik präziser nachvollziehbar werden, zeigen daher, mit Bill Brown gesagt, in der Tat etwas auf, »what is excessive in objects, […] what exceeds their mere materialization as objects, their mere utilization as objects«.36 Anders gesagt: durch ihre kulturellen Konnotationen und Verflechtungen eröffnen die gelabelten Dinge ein Reservoir an Bedeutungen, das sich Brinkmanns Erzählung Weißes Geschirr – noch tastend, aber mit dem Gespür für neue Wege des literarischen Ausdrucks – zu Nutze macht, und das in einer Analyse, die sich um die intertextuellen und intermedialen Referenzsignale des Textes kümmert – Klee, Hofmannsthal, Modersohn-Becker – mit zu berücksichtigen ist, Brinkmanns poetologischer Leitforderung nach einem Stil folgend, der »alle Materialien gleichschaltet«. Und als ob Brinkmanns Erzählung dies in Form einer Pointe zusammenführen wollte, steht das Label Studio-Linie im Dialog mit Hofmannsthal und Klee wie eine Abbreviatur für den Grundkonflikt der Erzählung: ihr Schwanken zwischen Regression und Aufbruch – verweist doch der Signifikant studio auf die erwähnte laktopoetische Phantasie aus dem Chandosbrief, während das Konzept der Linie für Paul Klee als dem innovativsten Linien-Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts der Inbegriff eines »von der Gegenstandsbeschreibung losgelösten« ebenso »autono-

35 Porträt einer Idee: Rosenthal Studio-Linie, Selb 1970, S. 19. 36 Bill Brown, »Thing Theory«. In: Ders. (Hg.), Things, Chicago/London 2001, S. 1-22, hier S. 5.

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men«37 wie dynamischen Kunsttuns ist: »Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie)«.38 Abb. 1: Modersohn-Becker Säugling mit der Hand der Mutter

Abb. 2: Modersohn-Becker Mutter und Kind

37 Régine Bonnefoit, Die Linientheorien von Paul Klee, Petersberg 2009, S. 176 38 Paul Klee, »Schöpferische Konfession«. In: Ders., Das bildnerische Denken. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre, hg. und bearbeitet von Jürg Spiller, Basel/Stuttgart, 2. Aufl. 1964, S. 76-80, hier S. 76.

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Abb. 3: Rosenthal TAC 1

Abb. 4: Rosenthal Duo

Abb. 5: Rosenthal Romanze

Tourismus und Literatur: Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke E CKHARD S CHUMACHER

»Sehr gut ist, daß ich nicht alles in der italienischen Umgebung verstehe«, kommentiert Rolf Dieter Brinkmann in Rom, Blicke, 1972/73 entstanden, 1979, vier Jahre nach seinem Tod, postum veröffentlicht, seine Entscheidung, während eines einjährigen Romaufenthaltes als Stipendiat in der Villa Massimo die italienische Sprache nicht zu erlernen.1 Brinkmann geht in Rom auf Distanz, nicht nur im Blick auf die Sprache, er distanziert sich von fast allem, was ihm begegnet, von den anderen deutschen Stipendiaten in der Villa Massimo wie auch vom Alltag und der alltäglichen Kommunikation in Rom. Damit unterläuft Brinkmann gleich auf mehrfache Weise die Erwartungen, die sich üblicherweise mit einem Aufenthalt eines deutschen Schriftstellers in Italien und im Besonderen mit einem Stipendium in der Villa Massimo verbinden. Er orientiert sich nicht am Bild des neugierigen, am vermeintlich Fremden (oder zumindest an der fremden Sprache) interessierten Schriftstellers, er erfüllt vielmehr das Klischee eines Touristen, der das Fremde nicht verstehen kann und auch nicht verstehen will. Damit versetzt sich Brinkmann in Rom aber zugleich auch in jenen Zustand der Instabilität, den Dieter Wellershoff 1979, in dem Jahr, in dem Brinkmanns Rom, Blicke publiziert wird, in einem Essay mit dem Titel ›Erkenntnisglück und Egotrip. Über die Erfahrung des Schreibens‹ mit dem Reisen verbindet:

1

Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke, Reinbek: Rowohlt 1979, S. 193.

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»Reisen ist gefährlich, jedenfalls in seinen archaischen Formen. Reisen ist ein Zustand der Instabilität. Man hat die sicheren Gewohnheiten verlassen und sich ins Ungewisse begeben. Das begründet die Beziehung der Reise nicht nur zum Abenteuer, als einer unvorhersehbaren Herausforderung durch die Außenwelt, sondern auch zur Krise als einer gefährlichen, aber auch heilkräftigen Erschütterung der eigenen Verfassung.«2

Hier zeichnet sich eine Vorstellung des Reisens ab, die die kulturell wirkmächtige Gegenüberstellung von Reisenden und Touristen prägt und die als solche auch einen wichtigen Hintergrund für Brinkmanns Rom, Blicke bildet. Bevor im Folgenden in dieser Hinsicht Stichpunkte für eine mögliche Lektüre von Brinkmanns Rom-Buch skizziert werden sollen, zunächst einige Hinweise zu der selten reflektierten, aber häufig in Anschlag gebrachten Opposition von Reise und Tourismus. Im Vergleich zum Reisenden markiert der Tourist in der Regel eine Schwundstufe, die all das, was spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert mit dem sehr viel älteren Konzept der Reise assoziiert wird, wenn nicht in ihr Gegenteil verkehrt, so doch zumindest unterläuft: Aktivität, Abenteuer, Herausforderung, Erschütterung, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, Individualität, Identität. Befördert durch die Ausdifferenzierung zu einem Massenphänomen, verdichtet sich Tourismus seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Sammelbegriff für die Standardisierung, Industrialisierung und Kommerzialisierung von Reisen. Entsprechend wird der Tourist zu einem vielfach angeführten Paradigma für Passivität, Sicherheitsdenken und Bequemlichkeit, für Oberflächlichkeit, für die Fixierung auf Konsum und geistlose Unterhaltung (in der Masse, denn Touristen treten meist in der Mehrzahl auf).3 Einige Grundzüge der wertenden Gegenüberstellung von Reise und Tourismus zeichnen sich schon in den jeweiligen Etymologien ab: Das Wort ›Reise‹ verweist auf das mittelhochdeutsche ›reis(e)‹, ›Aufbruch, Fahrt‹, abgeleitet vom Verb ›reisa‹, ›aufgehen, sich erheben‹,

2

Wellershoff, Dieter: »Erkenntnisglück und Egotrip. Über die Erfahrung des Schreibens [1979]«, in: Ders.: Das Verschwinden im Bild. Essays, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1980, S. 187–234, hier: S. 206.

3

Vgl. dazu u. a. Culler, Jonathan: »The Semiotics of Tourism«, in: Ders.: Framing the Sign. Criticism and its Institutions, Norman/London: Uni. of Oklahoma Press 1988, S. 153–167.

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und wird in diesem Sinn sowohl mit einem offenen Ausgang als auch mit Formen der Erhebung verbunden. Durchaus im Sinn des verwandten englischen ›rise‹, das zudem mit der Bedeutung ›aufbegehren‹, ›rebellieren‹, auch daran erinnert, das ›reisa‹ nicht zuletzt ›Heerfahrt‹ bedeutet und das Substantiv zum althochdeutschen ›risan‹ ist, das neben ›sich erheben‹ auch, davon zeugt etwa das Wort ›rieseln‹, ›herabstürzen‹ und ›niederfallen‹ heißen kann. Die von Johann Wolfgang von Goethe und vielen anderen popularisierte Formel ›Reisen bildet‹ setzt auch an diesen Dimensionen an, wenn sie die enge Verbindung zwischen Reise und Erfahrung zugleich an Vorstellungen eines unsicheren und unvorhersehbaren Neubeginns koppelt. »Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt«, bringt Goethe diese Vorstellung so konzis auf den Punkt, dass die Italienische Reise, in der sich das Zitat findet,4 schnell zu einem maßgeblichen Paradigma für ein Verständnis des Reisens werden konnte, das dieses als Projekt der Selbsterfahrung und damit zugleich als Form für einen Neuanfang begreift. Genau darum geht es, zumindest dem Wort nach, im Tourismus gerade nicht: Das Wort ist zurückzuführen auf das griechische ›tornos‹, ›zirkelähnliches Werkzeug‹, und gelangte über das lateinische ›tornare‹, ›runden‹, und das französische ›tourner‹ bzw. ›tour‹, für ›kreisförmige Bewegung, Umdrehung, Runde‹, ins Englische und Deutsche. Das, was der Tourist – seit Anfang des 19. Jahrhunderts auch im Deutschen unter dieser Bezeichnung – tut, hat entsprechend die Grundbedeutung eines Kreislaufs, der sein Ende an seinem Ausgangspunkt findet, von dort aus aber gleichwohl wieder erneut – auch für andere Touren – starten kann. Und das in der Regel regelmäßig, turnusgemäß im Jahresablauf, häufig auf den immer wieder gleichen, von anderen Touristen bereits begangenen und auch für nachfolgende Touristen vorgesehenen Pfaden. Oder zumindest in deren Nähe. Denn nicht minder kennzeichnend für den Touristen ist die Annahme, das eigentliche Glück liege abseits der touristischen Pfade, in den sogenannten Seitengassen, in die sich, so eine verblüffend unverwüstliche Hoffnung, keine Touristen verirren, in denen man aber die nur von

4

Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, Kommentiert von Herbert von Einem, München: C.H. Beck 1981 (= Hamburger Ausgabe, Bd. 11), S. 126.

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Einheimischen frequentierte, authentische Osteria findet. Entsprechende Empfehlungen findet man allerdings, und das macht die Sache nicht einfacher, schon seit den Anfängen von Cook und Baedeker in fast jedem tourist guide. Vorgesehen sind auch diese Wege dabei nicht nur im Sinne von Routenplanung und Reiseführerempfehlung, sie sind auch im engeren Sinn des Wortes ›vorgesehen‹: Der Tourist bekommt (und wünscht nicht selten auch) das zu sehen, was bereits betrachtet wurde, was für das wiederholte Betrachten vorgesehen ist und entsprechend – als Sehenswürdigkeit, als Sight – für das Sight-Seeing geeignet erscheint. Tourismus ist aus dieser Perspektive nicht zuletzt durch das gekennzeichnet, was John Urry Anfang der 1990er Jahre in Anlehnung an Michel Foucault als »tourist gaze«, als touristischen Blick, beschrieben hat.5 Dieser Blick ist nie nur ein individueller Blick, sondern steht immer auch in einer Relation zu anderen Sichtweisen und zu den Zuschreibungen und Vorgaben, die sich – etwa vermittelt durch Reiseführer oder Ansichtskarten – mit ihnen verbinden. Es geht um das Betrachten von etwas bereits Betrachtetem, das Sehen von etwas Vorgesehenem, das nicht selten auch als ein bereits beschriebenes, vorgeschriebenes und eben vorgesehenes – im Voraus normativ festgelegtes – Sehen erscheint. Das gerade in dieser Hinsicht die Unterscheidung von Touristen und Reisenden, zumal den vermeintlich ›wahren‹ Reisenden, nicht immer eindeutig zu treffen ist, zeigt sich nicht zuletzt in Goethes Italienischer Reise. Hier geht es, wie gesehen, auch und gerade darum, eben das »mit Augen« zu sehen, was man »teilweise in- und auswendig kennt«, was, wie etwa Rom oder, in dieser Hinsicht nicht minder prominent, Venedig, schon so vielfältig beschrieben worden ist, dass sich jede weitere Beschreibung zu erübrigen scheint.6 Goethes Betonung des Sehens »mit Augen« markiert in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, gleichwohl Differenzen zu markieren, über das Vorgesehene hinaus zu blicken, durch einen individuell, aber eben auch am Vorgesehenen geschulten Blick zu kontrastieren. Goethe konnte das Wort Tourismus allerdings noch nicht geläufig sein und auch die mit dem Wort bezeichnete Sache war um 1800 noch

5

Vgl. Urry, John: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary

6

Vgl. J. W. v. Goethe: Italienische Reise, S. 126 u. 64.

Societies, London u.a.: Sage 1990.

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nicht als jenes Massenphänomen ausgeprägt, auf das Henry James einhundert Jahre später mit einer deutlichen Gesten der Abgrenzung reagiert: »Tourists are ›vulgar, vulgar, vulgar‹«.7 Dass James um 1900 mit dieser Einschätzung keineswegs allein steht, zeigt sich schon daran, dass sie bei ihm eher das Zitat eines gängigen Klischees ist denn eine unvermittelte, individuelle Meinungsbekundung. Die wichtigsten Weiterentwicklungen dieser Einschätzung fasst neunzig Jahre nach James der Literaturwissenschaftler Jonathan Culler zusammen, wenn er anmerkt, Touristen gelten üblicherweise als »the lowest of the low«.8 Es fällt nicht leicht, Positionen auszumachen, die von dieser Einschätzung abweichen. In der Literatur- und Kulturwissenschaft finden sich Ansätze, etwa wenn Culler selbst Touristen als potentielle »agents of semiotics« entdeckt, die auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten und nach Zeichen authentischer Kultur nahezu alles – Städte, Landschaften, Kulturen – als Zeichensysteme lesen, die durch die in Form von Souvenirs und Ansichtskarten reproduzierten Sehenswürdigkeiten in komplexe Relationierungen von marker und sight verwickelt werden.9 Spuren einer solchen Lesart, die sich von der kulturkritischen Verachtung des Touristen ablöst, findet man im Bereich der Fotografie, etwa in der Faszination für den Touristen und den touristischen Blick, die sich auf den Fotos von Martin Parr10 oder von Michael Hughes finden, dessen Serie 'Souvenirs' Aufnahmen von touristischen Sehenswürdigkeiten aus der ganzen Welt auf sehr spezifische Weise versammelt und damit nicht zuletzt das vor Augen führt, was man als ›vorgesehenes Sehen‹ begreifen kann.11 In der Literatur, zumal der deutschsprachigen, wird man weniger leicht fündig. Und man ist, zumindest auf den ersten Blick, auch eher schlecht beraten, wenn man sich von Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke abweichende, nicht dem gängigen Bild entsprechende Darstellungen des Tourismus erhofft. Es lohnt aber dennoch, wie im Folgenden skizziert werden soll, Rom, Blicke in dieser Hinsicht in den Blick zu nehmen.

7

Henry James, zit. nach Urry, John: Consuming Places, London u. a.: Routledge 1995, S. 129.

8

J. Culler: The Semiotics of Tourism, S. 128.

9

Vgl. ebd., S. 155.

10 Vgl. etwa Parr, Martin: Small World. Introduced by Geoff Dyer, Stockport: Dewi Lewis 2007. 11 Vgl. http://www.hughes-photography.eu/ [20.10.2010]

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In einem der letzten in Rom, Blicke abgedruckten Briefe, datiert auf den 1. Januar 1973, aus Olevano, schreibt Brinkmann: »...die Selbstverständlichkeit eines Touristen ist mir verhaßt: ihre glotzenden Augen, ihr Buß-Gemeinschaften, ihre Hotelzwänge, ihre glotzende Einstellung zur Umwelt, die noch die letzte umgekippte Mülltonne bewundert ›Ausland‹.« 12 Hier, abseits von Rom, erfährt Brinkmann das, was zuvor in Rom, folgt man den gut 400 vorangegangen Seiten, so gut wie unmöglich schien: »befreiende Momente«, »beim Gehen über einen Grasabhang«, »beim Balancieren über Steine« – »aber«, setzt Brinkmann angesichts einer dem Brief beigefügten und im Buch reproduzierten Ansichtskarte des Walds der Schlangennester in Olevano Romano hinzu, »sobald man sich auf etwas Touristisches einläßt (siehe die Ansichtskarte), gerät man wieder in die Schrott-Zivilisation«.13 Abb. 1: Rolf Dieter Brinkmann – Rom, Blicke, S. 433

12 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 436. 13 Ebd., S. 433.

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Hier zeigt sich nicht nur, wie an vielen anderen Stellen in Rom, Blicke, Brinkmanns wütend ablehnende Positionierung gegen Touristen und Touristisches, es wird zugleich deutlich, dass er sich gleichwohl auf das Touristische einlässt – und nicht mehr an die unvermittelte Authentizität des vermeintlich abgeschiedenen Orts oder an das Konzept des ›wahren‹ Reisenden glaubt. Brinkmann wehrt den durch die Ansichtskarte vorgegebenen touristischen Blick nicht nur ab, sondern nimmt ihn zugleich auch auf, polemisch gewendet, aber offensichtlich gleichwohl mit Faszination, er macht ihn sich, im Text repräsentiert durch eine Reproduktion der Reproduktion (vgl. Abb. 1), als Ausgangspunkt für seine Reflexionen zu eigen. Vergleichbares findet sich auf einer der ersten Seiten des Buchs, wenn Brinkmann angesichts einer – im Manuskript von ihm selbst einmontierten – Postkarte, die die menschenleere Via Veneto in Rom zeigt, schreibt: »Gespenstische Gegenwart auch hier – erschreckende Abwesenheit von Menschen – nur noch einige touristische Zuckungen, die sich an historischen Resten delektiert./Ein Ersticken in Häßlichkeit wird gegen die Augen betrieben...«14 Auch hier ist es die Postkarte und der durch sie vorgegebene touristische Blick, von dem ausgehend Brinkmann seinen Blick vor Ort auf die Via Veneto lenkt, um sich von ihm, gedeutet als Zeichen des Verfalls, abzuwenden und seine Rele-

14 Ebd., S. 30.

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vanz dennoch, und sei es in der Abwendung, zu bestätigen. Auf vergleichbare Weise zeigt sich dies auch in der folgenden Passage, die Brinkmann am 19.10.1972 im Rahmen einer detaillierten Beschreibung von Rom-Eindrücken schrieb: »... wildes Gedränge und Gewühle auf den staubigen Straßen, Amerikanerinnen wie falsche Fuffziger nach Parfum stinkend quaken breit herum, man trifft sie überall wie auch Deutsche, also rotgesichtiges fleischerhaftes Glotzen aus Touristenbussen, Busse vollgestopft mit deutschen Rentnern, Diabetikern, Magenkranke, mit Fußkranken Rentnerinnen, die dich aus den Fenstern anstarren, Vorgarten-Greise auf Sight-Seeing-Tour, schaukeln glotzig in Bussen vorbei, fliegende Händler bieten Nippen-Feuerzeuge und Postkarten an... [...] Straßenszenen, die ein durchgehender Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen sind. ›Auch ich in Arkadien!‹, Göthe.«15

In wenigstens drei Hinsichten zeichnen sich hier Eigenheiten von Rom, Blicke ab, die verdeutlichen, wie die Paradigmen von Reise und Tourismus in den Blick kommen und wie sich Brinkmann im Schreiben an ihnen – und sei es in Gesten der Ablehnung und Abstoßung – orientiert. Zunächst zeigt sich hier jener Modus der Abgrenzung des Einzelnen gegen die Vielen, der Rom, Blicke fast durchgehend mitbestimmt. Nicht nur hier versucht sich Brinkmann vom Gedränge und Gewühle, von vollgestopften Bussen, abzugrenzen, nicht nur hier formuliert er ein Plädoyer für den Einzelnen, den er von der Masse abzusetzen versucht, und nicht nur hier sind es Touristen und touristische Medien, die zum Kennzeichen des Massenhaften werden. Auf der Piazza Navona etwa ist Brinkmann vom überall angebotenen »Nippes-Mist von Künstler-Hippies« ebenso angewidert wie von den Schilderungen der Sehenswürdigkeiten im Guide Bleu: »na, die Masse hat davon Besitz ergriffen und der Guide Bleu – ich stand da – schreckhafter Reflex – ›der bezauberndste Platz Roms‹ – ah, naja – weit, das ist gut, da sind die Menschen nicht so stinkend dickfällig zu spüren – ich bin ja eigentlich gar nicht da – wie kann man dasein vor soviel Kolossalität! Doch,

15 Ebd., S. 33f.

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doch, ich bin gegenüber solcher Kollossalität immer da, aber der Platz ist schön weitflächig und groß ...«16

Die Passage legt nahe, dass diese Selbstbehauptung gegenüber der »Kollossalität« sich nicht nur auf die Kolossalität der Monumente richtet, sondern zugleich auch eine Absetzungsbewegung gegenüber den Touristenmassen vollzieht, an der sie aber, fast unweigerlich, selbst teilhat – und sei es dadurch, dass die Abgrenzung gegenüber anderen glotzenden Touristen selbst zu den gängigen Verhaltensweisen des Touristen zu zählen ist. Auch Brinkmann folgt, irritiert und leicht angewidert, dem Guide Bleu, und auch Brinkmann glotzt. Allerdings richtet er seinen Blick nicht nur auf die Sehenswürdigkeiten, sondern auch auf die Busladungen von Touristen, die auf der Sight-SeeingTour die Sehenswürdigkeiten – oder eben ihn – anglotzen. Ein zweiter Aspekt, der die zitierte Passage bemerkenswert erscheinen lässt, ist der Hinweis auf Goethe. Die Formel »›Auch ich in Arkadien!‹, Göthe« findet sich, in dieser Schreibweise, wiederholt im Buch, und die Zusammenhänge, die mit dieser Formel kommentiert werden, legen durchgehend nahe, dass dieses Arkadien hier nur noch als, wie es in Rom, Blicke heißt, »reinste Lumpenschau« erscheint.17 Goethes Faszination für Italien ist hier kaum mehr, wie für fast alle Italienberichte nach Goethe, das maßgebliche Paradigma, weder für die Darstellung von Italien noch für die Vorstellung des Reisens als Form identitätsstiftender Selbsterfahrung. Entsprechend erscheint bei Brinkmann Rom auch nicht mehr als jener »Lieblingsort kultureller Identitätsfindung«, zu dem die Stadt »für Generationen deutscher Italienreisender« durch Goethes Italienische Reise geworden ist.18 Brinkmann schreibt mit Rom, Blicke aber dennoch nicht einfach ein Buch, das sich gegen das Vorbild Goethe wendet oder dieses ignoriert. Es zeigt sich, dass Brinkmann durchaus direkt an Goethe anschließt19 und

16 Ebd., S. 69f. 17 Ebd., S. 47. 18 Pütter, Linda: »›Roma, città aperta‹. Kontrafaktische Rom-Reisen? Goethe und Brinkmann im Vergleich«, in: Günter Oesterle u.a. (Hg.): Italien in Aneignung und Widerspruch, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 191. 19 Vgl. dazu Friedrich, Hans Edwin: »›Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau‹. Goethe und Rom in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke«, in: Dieter Ahrens (Hg.): Räume der Geschichte: Deutsch- Römisches vom

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in einigen signifikanten Hinsichten auf seine Weise auch ein Projekt fortsetzt, das sich schon bei Goethe findet: die Fokussierung auf das Sehen, auf das Auge bzw. auf die bei Brinkmann schon im Buchtitel hervorgehobenen Blicke. »[I]ch sehe, was ich sehe, und nicht was ich sehen will«, schreibt Brinkmann,20 und ist damit nah an den Vorgaben, die sich Goethe für die Italienische Reise setzt: »Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Auge licht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention.«21 Dass Goethe dabei »alles und jedes gut« findet, wie Brinkmann eher genervt anmerkt,22 und Brinkmann alles als Zeichen des Verfalls liest, fällt aus dieser Perspektive kaum ins Gewicht. Entscheidend ist, dass in beiden Fällen das Visuelle die Wahrnehmung bestimmt, dass Auge und Blick in den Vordergrund gerückt und zu Maßstäben der Darstellung werden. Und in beiden Fällen wird ein subjektiver Blick nicht zuletzt dadurch ausgebildet, dass er sich auch durch das leiten lässt, was vorgesehen ist, was durch vorliegende Beschreibungen oder Reiseführer vorgegeben ist – und dieses, zunächst fast mechanisch, unter der Voraussetzung der »Entäußerung von Prätention« zu erfassen versucht. Bei Brinkmann heißt das dann etwa: »Treten, Schritte, Sehen:klack, ein Foto!:Gegenwart, eingefroren.«23 In dieser Hinsicht lässt sich nicht nur in Rom, Blicke, sondern auch in der Italienischen Reise genau das beobachten, was Brinkmann der Lyrik Frank O'Haras zuschreibt, nämlich eine »Verklammerung von subjektivem Interesse und objektiven Gegebenheiten zu einer durchgehenden Oberfläche«.24 Dabei spielen für Brinkmann in Rom, Blicke – der dritte hier hervorzuhebende Aspekt – auch und gerade die vor Ort, etwa an den je-

18. bis 20. Jahrhundert. Eine Ausstellung des Städtischen Museums Simeonstift Trier zum Deutschen Historikertag, Trier 1986. Trier: Spee 1986, S. 143–156; Lange, Wolfgang: »Auf den Spuren Goethes, unfreiwillig: Rolf Dieter Brinkmann in Italien«, in: Wolfgang Lange u. Norbert Schnitzler (Hg.): Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, München: Fink 2000, S. 255–281. 20 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 279. 21 J. W. v. Goethe: Italienische Reise, S. 134. 22 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 115. 23 Ebd., S. 139. 24 Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 210.

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weiligen Sehenswürdigkeiten verkauften Postkarten von Sehenswürdigkeiten eine wichtige Rolle. Einerseits gehören die »fliegenden Händler« und Postkartenverkäufer zu dem von Brinkmann beschriebenen »Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen«.25 Andererseits arbeitet Brinkmann in Rom, Blicke, angewidert, aber eben auch fasziniert durchgehend mit vorgefertigten Bildern, Postkarten, die er mit eigenen Fotografien konterkariert, ergänzt, kommentiert und auch auf diese Weise an der »Verklammerung von subjektivem Interesse und objektiven Gegebenheiten zu einer durchgehenden Oberfläche« arbeitet. Besonders deutlich wird dies in Passagen, in denen Brinkmann die ›Must-Sees‹ in Rom aufsucht, etwa die Fontana di Trevi oder die Piazza di Spagna mit der spanischen Treppe. Für deren Darstellung im Buch fügt er Fotografien, Postkarten und ein Stadtplanausschnitt zu einer Buchseite zusammen (Abb. 2), bei der zunächst keine Hierarchisierung der unterschiedlichen Perspektiven zu erkennen ist.

Abb. 2: Rolf Dieter Brinkmann – Rom, Blicke, S. 53 Dass es Brinkmann nicht, wie man annehmen könnte, um eine Entscheidung für das subjektive Foto und gegen den objektivierten Anblick der Postkarte geht, sondern um eine Verschränkung und Verarbeitung der unterschiedlichen Perspektiven, kann sein Text bestätigen, der auf der Seite neben den collagierten Abbildungen gedruckt ist. Brinkmann schreibt: »Wieder zurück am Platz mit der Baustelle gehe ich die Via Sistina hoch bis zu der Spanischen Treppe, die, das ist nun ernsthaft mir sehr spanisch vorgekommen, äußerst un-imposant war, die Postkarten davon sind beeindruckender.«26 Hier lässt sich nicht

25 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 34. 26 Ebd., S. 52.

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nur, wie Hans-Edwin Friedrich gezeigt hat, eine »Fixierung der Phantasie« durch eine »Postkartenrealität« beobachten,27 der Postkarte wird zugleich auch eine Wirklichkeitsstatus zugeschrieben, mit dem die aktuell beobachtete, wirkliche Wirklichkeit nicht immer mithalten kann. Dazu abschließend, anstelle einer abschließenden These, eine weitere Passage aus Rom, Blicke, die, nun bezogen auf die Fontana di Trevi, wiederum in mehrfacher Hinsicht, durch die Zusammenführung verschiedener Medien, als »Verklammerung von subjektivem Interesse und objektiven Gegebenheiten zu einer durchgehenden Oberfläche« zu lesen (oder anzusehen) ist, und die einmal mehr unterstreichen kann, wie Brinkmann sich hier einerseits von den üblichen Zeichen des Touristischen distanziert und andererseits selbst, zumindest punktuell, auch die Position des Touristen einnimmt: »Unverhofft, nach mehreren schmalen Seitenstraßen, stand ich vor dem TreviBrunnen, ein marmornes flaches tiefer als die Straße gelegenes Becken mit Wasser inmitten eines verblaßten, engen, sich drückenden Häusergewimmels. [...] Ein steingewordener menschlicher Gedanke, ein Gehirnschnörkel, der jetzt mit Touristen umstanden ist: amerikanisches Hausfrauengequäke, erschöpfte Asiaten, eine ältere japanische Frau in Kimono mit Brille, zwei Fotografen schlichen herum. Dazu die Postkartenhändler. / Den Geist der dick-tittigen, stark-schenkligen Schwedin Anita Ekberg sah ich nicht, wohl die üblichen Bilder von Puff-Fotzen auf den Titelblättern am Kioskstand. – Überhaupt wirkt im Kino alles größer, weiter und überwältigender, Lichtgaukeleien, Projektionen. [...] Jetzt lehnte ich da an der Mauer und schrieb eine Postkarte.«28

27 H. E. Friedrich: Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau, S. 9. 28 R. D. Brinkmann: Rom, Blicke, S. 120.

Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung D IRK N IEFANGER

»Sieh mal die Profs. an: wie Du selber schreibst, können die Dir nicht sagen, also zeigst Du ihnen was, und das haut hin.«1 Rolf Dieter Brinkmanns ungelenker Angriff auf das akademische Establishment wirkt heute genauso wenig provokativ wie seine Philologenschelte: »Das Primäre sind die Aussagen der Dichter, – – – erst dann kommt Viehlologie als ein System! Das weißt Du auch, verteidige das!!!«2 Einen literaturwissenschaftlichen Beitrag heute mit solchen Zitaten beginnen zu lassen, erscheint gleichwohl angemessen, zeigen solche Äußerungen doch, wie reserviert der verunsicherte Autor gegenüber denen war, die aus professionellen Gründen vermeintlich mehr in sei-

1

Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974-1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell, [Reinbek bei Hamburg] 1999, S. 151. Die Grammatik des Satzes – »nicht« statt »nichts« – wurde korrigiert. Brinkmanns Ratschlag an Hartmut gehörte offenbar schon in den 1970er Jahren zur typischen anti-akademischen Haltung des jungen Brinkmann-Forschers. So jedenfalls kann man die Bekenntnisse des Dichters Martin Grzimek verstehen, der eine Dissertation zu Brinkmann begann, am akademischen Diskurs und seinem Jargon aber scheiterte: Hierzu vgl. den aufschlussreichen Essay Manfred Grzimeks: Gedanken vor einer Reise nach Vechta zur RolfDieter Brinkmann Gesellschaft am 19. April 1996, in: Mitteilungsblatt der Rolf-Dieter Brinkmann Gesellschaft 1997/2, S. 2936.

2

Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 121.

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nen Texten sehen, als er in sie hineingelegt hat. Solche Äußerungen zeugen von einer elementaren Angst des Autors vor dem (posthumen) Kontrollverlust. Die augenfälligen Selbstinszenierungen Brinkmanns sind insofern auch für seine späteren Ausleger gemeint:3 Beschäftigen wir uns also damit. Unspektakulär wirkt die Aufwertung des Dichters gegenüber dem Philologen, wenig provokativ die traditionalistische Unterscheidung von primärer Aussage und sekundärer Analyse. Hier verteidigt sich ein Autor gegenüber dem vermeintlich verfälschenden Zugriff durch die Wissenschaft; er sucht polemisch seine Autorität auch gegenüber dem philologischen Freund in Amerika zu schützen. Brinkmanns Selbsteinschätzung als enfant terrible der deutschen Literaturszene begünstigt eine solche Kraftmeierei gegenüber etablierten Textzugängen, aber sie traut offenbar den poetischen Texten selbst, zumal den eigenen, nur wenig Standhaftigkeit im Dschungel flottierender Auslegungen zu. Dieses offenkundige Misstrauen gegenüber der Stärke eigener Poesie verlangt geradezu eine begleitende Inszenierung eines starken Autors. Dass Brinkmann dies in seinen Lesungen durchaus gelingt, zeigen Berichte über seine Aufsehen erregende Auftritte. Noch im Februar 2002 schwärmt Julia Encke in der Süddeutschen Zeitung: »Nie wieder hat jemand eine solche Stimme gehabt, leicht lispelnd und rau, mit norddeutschem Einschlag, vulgär und voller Hass, und doch im nächsten Moment still und anmutig wie ein Lied von Soft Machine.«4

3

Der vorliegende Essay zu Brinkmanns Selbstinszenierungen versteht sich als dialogische Ergänzung zum etwa zeitgleich erscheinenden Beitrag meiner früheren Göttinger Kollegin Anke Detken: »Besser als ein Gedicht/ist eine Tür, die/schließt.« Zum Traditionsverhalten Rolf Dieter Brinkmanns, erscheint in: Kontroversen – Bündnisse – Imitationen. Zur Geschichte schriftstellerischer Inszenierungspraktiken, hg. v. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011. Den Zusammenhang von Autorinszenierungen und poetischen Texten vom 18. bis zum 21. Jahrhundert erforscht mein Erlanger DFG-Projekt Posierende Poeten. Autorinszenierungen als Paratexte (seit 2007, wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Alexander Fischer).

4

Julia Encke: Hineingepoppt: Brinkmann im Radio, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.Februar 2002 (Nr. 33), S. 16.

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Von »aufrühererischen Shows«5 des Autors kann man in einschlägigen Erinnerungen lesen. Nach einer Lesung 1972 in Graz soll Brinkmann den Verdacht geäußert, »er sei mit seiner Prosa nicht angekommen«6, weil er sich nicht skandalös genug inszeniert habe. »Ihm ging es um ihn«, interpretiert Alfred Kolleritsch dessen Befindlichkeit damals. Für den Sänger Heinz Rudolf Kunze ist er viel später noch der charismatische »Postbote der Moderne«: ein »virtuose[r], politisch und sexuell unkorrekt[r] Wüterich«.7 Auch wenn Brinkmann zumindest später ein poetisches »Programm« genauso ablehnt wie die Zuordnung zu irgendeiner »Richtung«,8 so sieht er sich gleichwohl permanent genötigt, das zu erklären, was er betreibt. Noch mehr: er sieht sich ständig gezwungen, seine Literatur und seine spezifische Autorschaft, sein Selbstbild als Dichter in Abgrenzung zum scheinbar Konventionellen zu konturieren. Er begründet dies in seinen poetologischen Essays und inszeniert dies in seinen provokanten Auftritten. Mit den hier vorgelegten Beobachtungen wende ich mich gegen eine vorschnelle Applikation postmoderner Autortheorie auf ein eher naiv anmutendes Verständnis vom aufrührenden Kraftgenie, das Brinkmann allerorten inszeniert. Nicht nur das, es erscheint ihm als probates Mittel seine Literatur dadurch adäquat in Szene zu setzen. Es gehört ganz offenbar zu seinem poetischen Selbstverständnis. Insofern hat sich Brinkmann keineswegs »für die bewusste Ablösung von einem Dichterverständnis, das den Autor als monadische Schöpferindividualität begreift«, entschieden.9 Seine Poetik der Selbstinszenierung, die einen starken sich vom üblichen Literaturbetrieb abhebenden Dichter ins Zentrum setzt, erscheint dabei durchaus kompatibel zu seinen Vorstellung des Autors als bloßem Sprachmedium, seinen auf Verringerung eigener Sätze zielenden Text/Bild-Collagen und seinen

5

Heinrich Vormweg, Die strahlende Finsternis unserer Städte. Ein Porträt, in: Rolf Dieter Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, Reinbek bei Hamburg 1995 (Literaturmagazin Sonderheft 36), S. 27, hier: S. 19.

6

Alfred Kolleritsch, Rolf Dieter Brinkmann 1972 in Graz, in: Rolf Dieter

7

Heinz Rudolf Kunze: Postbote der Moderne, in: Mitteilungsblatt der Rolf-

8

Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 124.

9

Sibylle Späth: Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart 1989, S. 47.

Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, S. 116-117, hier 117. Dieter Brinkmann Gesellschaft 2000/1-2, S. 6.

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Versuchen in kollektiver Autorschaft. Man könnte sogar die These wagen, dass gerade die Verringerung des Eigenanteils am Dichterischen, die sich in Brinkmanns poetischen Versuchen beobachten lässt, nach einer Aufwertung des äußerlich sichtbaren Autors im Literaturbetrieb verlangt. Für das Thema gibt es gewissermaßen einen obligatorischen Einstieg, der unmittelbar evident macht, dass die Selbstinszenierung des Autors mitunter wichtiger ist als das poetische Werk, um das es dabei ging. Viel zitiert und immer wieder gerne diskutiert wird Rolf Dieter Brinkmanns provokante Äußerung bei seinem Auftritt bei der Veranstaltung Autoren diskutieren mit ihren Kritikern in der Berliner Akademie der Künste, die im Herbst 1968 stattfand. Der provokante Zuruf war an die anwesenden Literaturkritiker gerichtet; er gehört zu legendärsten Zitaten Brinkmanns und er ist weit bekannter als die meisten seiner Verse. Bemerkenswert für den hier diskutierten Zusammenhang ist nur, dass man heute zwar noch weiß, wie ungeheuerlich Brinkmanns Angriff auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gewesen war, man aber über den genauen Wortlaut des Satzes uneinig ist. Was Brinkmann genau gesagt hat, wissen wir nicht mehr, ein Tonband lief ja nicht mit. Es kursieren aber geradezu erschreckend unterschiedliche Varianten seiner Polemik. Die vermutlich wahrscheinlichste zitierte zuletzt Maleen Brinkmann am 12. März 2010 bei der wissenschaftlichen Tagung Rolf Dieter Brinkmann. Medialität der Kunst an der Hochschule Vechta:10 »Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, dann würde ich sie jetzt niederschießen«,11 soll Brinkmann zu Reich-Ranicki gesagt haben. Die Witwe des Autors legte dabei Wert darauf, dass der Sprecher sein Buch metaphorisch als Maschinengewehr sehen wollte, also nicht eine tatsächliche Gewalttat antizipierte. Brinkmann meine sein eigenes Buch und wandele hier bloß ein bekanntes Zitat des Surrealisten André Breton, der in einer Kunstaktion nach einem Revolver schrie, um in die Menge zu schießen, ab. Der Titel des Buchs, das als Maschinengewehr genutzt werden sollte, wird in der Regel nicht mit überliefert. Ein Gleiches gilt nicht selten für die metaphorische Verwendung des Begriffs »Maschinengewehr«.

10 Vgl. den vorliegenden Sammelband. 11 Karl Heinz Bohrer: Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror. München 1970, S. 10.

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Angeblich, so hieß es bei der Tagung, habe Karl Heinz Bohrer in seinen essayistischen Abhandlungen unter dem schönen Titel Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror (1970) Brinkmanns Zitat genau in diesem Sinne verstanden und am vielleicht authentischsten wiedergegeben. Schließlich sei auch er ursprünglich zu dieser legendären Begegnung eingeladen gewesen. Doch liest man bei Bohrer nach, lernt man erstaunt eine neue Variante des Angriffs kennen: Brinkmann »bedauerte, kein Maschinengewehr zur Hand zu haben, um Reich-Ranicki Bescheid zu geben.«12 Vom eigenen Buch ist keine Rede; vom Bezug auf André Breton berichtet Bohrer indes schon. Doch gibt es eben einen erheblichen Unterschied zwischen diesem Fall und dem Brinkmanns. Die »Wort-Exzesse« des Surrealisten richten sich an »die Menge«,13 nicht an einen einzelnen. Zudem fordert er, innerhalb seiner Performance freilich, einen echten Revolver und arbeitet nicht, wie Brinkmann, mit einem Konditional-Satz, der sich auf ein ganz ungefährliches Schriftkunstwerk bezieht. Zwar wirkt Brinkmanns Ausfall insofern deutlich harmloser als der Bretons; allerdings erscheint sein Auftritt in der Diskussionsrunde doch spontaner und deshalb möglicherweise weniger ästhetisch überformt als derjenige Bretons, der ja spätestens seit dem revolutionären Second Manifeste du Surréalisme von 1930 als provokante Kunstaktion interpretierbar war. Nicht nur Bohrer auch der Realienband zu Brinkmann in der Sammlung Metzler überliefert nur die martialische Variante der Drohung ohne Buch: »Wenn ich ein Maschinengewehr hätte, würde ich sie jetzt niederschießen.«14 Im Grunde dienen diese Abweichungen der Dramatisierung des Falls; Brinkmanns Ausfall wirkt dadurch sensationeller und provokanter als er tatsächlich war. Mit dieser Stärkung der Figur Brinkmanns schreibt sich die Brinkmann-Forschung relevant. Offenbar ist es attraktiver über eine tatsächliche Gewaltdrohung zu schreiben als über ein Spiel mit Möglichkeiten. Brinkmann selbst notiert diesen Vorfall, so wichtig war er ihm selbst immerhin, in seinem Lebenslauf von 1974 unter der viel sagenden Rubrik »Auszeichnungen«, allerdings mit der falschen Jahresangabe 1969 gleich neben dem Villa Massimo-Stipendium und der Gast-

12 Vgl. Späth: Rolf Dieter Brinkmann, S. 42. 13 Bohrer: Die gefährdete Phantasie, S. 12. 14 Rolf Dieter Brinkmann, zit.n. Späth: Rolf Dieter Brinkmann, S. 42.

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dozentur in Austin/Texas.15 Der zornige Zuruf nötigt Marcel ReichRanicki noch 2005 zu einer längeren Erklärung, die eine eigene Variante des Zitats liefert: Wir saßen auf dem Podium, Brinkmann und ich, aber er wollte nicht diskutieren, er wünschte einen Skandal. Den gab es sofort: kaum daß wir begonnen hatten brüllte mich Brinkmann an – er sollte überhaupt nicht mit mir reden, sondern hier ein Maschinengewehr haben und mich über den Haufen schießen. […] Seine barbarische Drohung ging durch alle Zeitungen. Man war empört und entsetzt. Der wohl eher geplante als spontane Ausbruch war gemein und gefährlich, doch zugleich auch symptomatisch.16

Jamal Tuschik meint, nicht Reich-Ranicki, sondern Rudolf Hartung hätte der Zuruf gegolten: »Ich müsste ein Maschinengewehr haben und sie alle über den Haufen schießen«17 – so seine Zitat-Version; Tuschik bringt sie mit der Vorrede-Notiz zum Gedicht-Band Die Piloten zusammen, wo Brinkmann Warren Betty zur Rezeptionsweise seines Bonny und Clyde-Films zitiert: »Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehrfeuer müsst ihr den Ton ganz aufdrehen.«18 Tatsächlich hebt Brinkmann noch in seinen späten Selbstinterpretationen diese Szene als Verständnisschlüssel des Ra-ta-ta-ta-Gedichts: »Ratatata: bezieht sich auf den Film von Warren Beatty: Bonnie und Clyde […], die Schlußszene ist sehr grausam und mit vielen Maschinengewehrgeräuschen.«19 Das Gedicht bezieht provokativ die »Platzanweiserinnen« im Kino mit ein, die der Sprecher auch getroffen sehen möchte. Doch statt von Blut ist von »Klumpen roten Gelee[s]« die Rede und am Ende nutzt alles »der ganzen Marmeladenindustrie«.20 Der Auftritt in Berlin wäre wohl tatsächlich besser in dieser Weise zu lesen: als mediale Inszenierung, die sich der Medialität der Inszenierung bewusst ist. Sie nutzt, wie das Lauterdrehen des Maschinengewehrfeuers in

15 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 111. 16 Marcel Reich-Ranicki: Gibt es eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Renaissance?, in: FAZ Sonntagszeitung, Nr.21, 29.5.2005, S. 36. 17 Rolf Dieter Brinkmann, zit.n. Jamal Tuschick: So schön wie später nie, in: Rolf Dieter Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, S. 161-164, hier: 163. 18 Rolf Dieter Brinkmann: Die Piloten, Köln 1968, S. 8. 19 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 132. 20 Brinkmann: Piloten, S. 71.

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Bonnie und Clyde, einer erhöhten Aufmerksamkeit. Diese aber ist, das haben wir spätestens von Georg Franck gelernt,21 die wesentliche Währung der Kulturszene. Deshalb wirkt Brinkmanns legendäre Drohung weder barbarisch noch gefährlich – Reich-Ranicki irrt hier – sondern schlicht als eine wohl überlegte medial abgestimmte Selbstinszenierung. Diese suggeriert freilich ein hohes Maß an Spontaneität und Unverstelltheit, scheint aber in hohem Maße konzeptionell angelegt zu sein. Analoges findet sich ja auch in den poetischen Texten selbst; viele Gedichte scheinen kurz entschlossen und ohne viel Federlesens niedergeschrieben zu sein, erweisen sich bei genauerem Hinsehen aber als komplex entworfen und durchdacht. Im vorliegenden Essay geht es um Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierungen, genauer um die literaturtheoretische Begründung seiner Autorinszenierungen im kulturellen Feld, mithin um die Ideen, die dem Verfahren der sich selbst auslegenden Performanz des Autors Brinkmann zugrunde liegt.22 Ziel ist zudem zu zeigen, wie in den diskursiven Texten Brinkmanns eine ästhetisch begründete Überblendung poetologischer und performativer Aspekte stattfindet und zur literaturtheoretischen Selbstbegründung des Autors beiträgt. Denn auch bei der Konzeption seiner diskursiven Texte spielt die biographische Selbstdarstellung eine erhebliche, auch ästhetisch gedachte Rolle. Die einfachste dafür relevante Arbeitsanweisung – sie ist ausdrücklich für einen angehenden Brinkmann-Forscher gedacht – steht in den posthum zum Werk erhobenen Briefen an Hartmut (1974/75). Gerichtet ist sie an den amerikanischen Germanistik-Studenten Hartmut Schnell, der beabsichtigt hatte, seine Abschlussarbeit über Rolf Dieter Brinkmanns Werk und sein Verhältnis zur amerikanischen Gegenwartsliteratur zu schreiben. Zeitweise wurde auch eine Übersetzung

21 Vgl. Georg Franck: Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb, in: Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009, S. 11-21 und zum Kontext: Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf [1998], München 2007. 22 Zum Kontext vgl. auch: Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur, in: Johannes Pankau (Hg.): Pop – Pop – Populär. Popliteratur und Jugendkultur, Oldenburg 2004; S. 85-101, 215-217.

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mit essayistischem Vorwort erwogen. Der Autor – während seiner Gastprofessur in Austin/Texas im Frühjahr 1974 Hartmuts Lehrer – versucht in seinen Ausführungen, die den normalen Umfang einer Masterarbeit bei weitem übertroffen hätten, eine genaue Leseanweisung seiner Texte vorzugeben, die Kontexte frei- und Interpretationen nahe legt. In den Briefen evoziert Brinkmann überraschender Weise retrospektiv ein relativ einheitliches Autorbild von sich. Hartmut Schnell wird später sogar davon sprechen, dass Brinkmann ihn in seinen »extensive[n]« Briefen »sein Lebenswerk und sein Privatleben entdecken ließ«, ganz offensichtlich als untrennbare Einheit.23 Damit entspricht die retrospektive Selbstinterpretation Brinkmanns nicht den gängigen Einschätzungen der Forschung. Genia Schulz – etwa im Nachwort zum Reclam-Band Künstliches Licht – sei hier als Beispiel genannt, die einen Bruch im Jahr 1971 ansetzt: Die posthum erschienenen Texte würden »ein neues, umstrittenes Bild des Autors« herstellen.24 Die Arbeitsanweisung Brinkmanns in den Briefen an Hartmut rückt den Autor selbst als unhintergehbare Instanz ins Zentrum; die Rede ist von den drei ›richtigen‹, weil in größerer Auflage und als Sammlungen erschienenen Gedichtbänden Was fraglich ist wofür, Die Piloten und Gras, die er gewissermaßen als Werknukleus begreift. Der vierte Gedichtband, der »die Reihe der drei anderen« fortsetzt, wie es heißt, ist Westwärts 1&2: Da fällt mir noch was ein, was Du machen könntest in Deinem Vorwortessay: nämlich die 3 Schutzumschläge der Gedichtbände miteinzunehmen und zu zeigen, wie die drei Bücher herausgekommen sind. Bei allen Malen habe ich darauf geachtet, daß sie schön aussehen. […] Vielleicht kannst Du sie verkleinern, als genaue Ablichtung, in Deinen Essay einfügen. Denn die Oberfläche, das

23 Briefwechsel mit Hartmut Schnell, in: Rolf Dieter Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, S. 124. 24 Genia Schulz: Nachwort, in: Rolf Dieter Brinkmann: Künstliches Licht. Lyrik und Prosa, hg. v. Genia Schulz, Stuttgart 1994, S. 153-167, hier S. 154. Die Privatbriefe Brinkmanns an Hartmut liest Detken mit Genette als epitextuelle Paratexte unter dem Schutz privater Kommunikation; sie würden unter anderem sehr genau belegen, wie sehr sich Brinkmann vom Urteil der literarischen Öffentlichkeit und vom eigenen Erfolg abhängig sah. Vgl. Detken: Zum Traditionsverhalten Rolf Dieter Brinkmanns.

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Äußere ist ja wichtig. Auf dem Buch von Rowohlt [Westwärts 1&2] sind 4 Fotos von mir verwendet, Landschaften. Das setzt die Reihe der drei anderen fort.25

Die Schutzumschläge des ersten und dritten Bandes stammen nicht von Brinkmann; aber das Cover zu Die Piloten; entworfen hat er es im Stil des legendären Beatles-Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967).26 Wie wichtig Brinkmann insbesondere der selbst gestaltete Umschlag zu Die Piloten war, belegt eine weitere Passage der Briefe an Hartmut, die genau angibt, welche Personen auf der Collage zu sehen sind: »Auf dem Collagenumschlag, den ich im Winter 1967/68 zusammenschnitt, sind die Bekannten mit drauf: der Bruder, Maleen, Robert, ich selbst, ein Freund H. Pieper, dann Rygulla, mit dem ich damals übersetzte[.]«27 Das Cover soll vermutlich jene »Wi(e)derspiegelung der industriellen bunten Weltansichten«28 visualisieren, die die Gedichte des Bandes in Sprache fassen. Nur einer der abgebildeten Figuren ist – wie im Comic – eine längere Sprechblase beigegeben, Brinkmann selbst: »It is not enough to love art! One must be art.«29 Möglicherweise zitiert Brinkmann hier den amerikanischen Pop-Art-Künstler Andy Warhol. Von Brinkmann auf dem Cover seines bekanntesten Gedichtbandes sich selbst in den Mund gelegt, erscheint es als klares Credo für die Einbeziehung der eigenen Person, des eigenen Körpers und der eigenen Gedanken, wie Brinkmann es ausdrücken würde, der eigenen Bewegung, in die Kunst. Der Satz – als leselenkender Paratext der Piloten – drückt Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung in nuce aus. Der Text steht nicht allein; nicht nur der Sprecher, auch der Autor wäre mitzudenken, zumindest seine Selbstinszenierung als Kunstwerk. Etwas ausführlicher entwickelt Brinkmann diesen Gedanken einer autornahen Lektüre seiner Texte im ein Jahr später gesendeten Rundfunkbeitrag Einübung einer neuen Sensibilität (1969), der mit einer

25 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 143. 26 Zum Kontext vgl. Walter Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur, Berlin 22004. 27 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 131. 28 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 136. 29 Brinkmann: Piloten, Rückseite des vom Autor selbst gestalteten Umschlags.

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Bestandsaufnahme des literarischen Feldes einsetzt. Er konstatiert, dass die »Bankrotterklärung einer Generation von 40 bis 50Jährigen […] sich als eine der modischen Choks erwiesen« habe.30 Doch habe der »hysterische Kollaps«, den Autoren wie Michel, Karsunke oder Enzensberger unter dem Label ›Kultur, Revolution, Literatur‹ veranstaltet hätten, nicht die »Erstarrung in der Literatur hierzulande […] aufbrechen können«. Das »Denken der mit Abstraktionen vollgestopften jüngeren Generation« könne weder die Vorstellung vom »Tod der Literatur« noch vom »Ende der Literatur« vermitteln.31 Brinkmann plädiert für eine unverstellte Literatur, die »realer« werden, die das, »was alltäglich abfällt«, zu ihrem »Stoff« machen soll,32 die »Kultur und Zivilisation« nicht gegeneinander setzt oder hierarchisiert, sondern aufeinander bezieht.33 Soweit der ›neue Realismus‹ Brinkmanns, zu dem er sich, auch unter diesem Begriff, etwa in den Briefen an Hartmut noch mehr oder weniger bekennt.34 Die Poetik des Rundfunkessays geht noch ein Stück weiter: Brinkmann klagt, dass die modernen Autoren vor lauter hoher Kultur vergäßen, »ihren eigenen Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Erfahrungen und Gedankenprojektionen zu folgen.« Ihre Literatur sei noch auf sekundäre Einteilungen wie Gattungen angewiesen, weil »in dem Gegenstand sein Verfasser nicht enthalten« sei. Er bedauert, dass Figuren wie Arno Schmidt, »der sich selber und seine persönlichen Macken in seinen verschiedenen Publikationen realisiert hat«, nicht mehr die Literaturszene prägen würden.35 Natürlich schwingt hier der zumindest Ende der 1960er Jahre wohlfeile Vorwurf einer angepassten Literatur mit. Für die Poetik der Selbstinszenierung erscheint indes relevant, dass Brinkmann nicht auf eine kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft setzt, sondern auf die – möglichst unverstellte und unangepasste – Präsentation des Selbst im literarischen Text. Doch so einfach macht es uns seine spezifische Neuauflage der Erlebnisdichtung dann doch nicht; denn einer autonomen Selbstaussage verweigert

30 Rolf Dieter Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, in: Rolf Dieter Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, S. 147-155, hier S. 147. 31 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 147. 32 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 148. 33 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 149. 34 Vgl. Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 126f. 35 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 149.

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sich Brinkmann: Die Literatur sei nämlich als »Erfüllung einer Konvention in dem Augenblick tatsächlich ›tot‹, wo das Schreiben als die eigene Realisierung vom Autor betrieben wird.«36 Trotz dieser Kritik am konventionalisierten Selbstausschreiben des Dichters, beharrt Brinkmann auf dessen Anwesendheit. An Frank O’Hara schätzt er ja, dass in seinen Texten »überhaupt noch jemand da ist.«37 Sein Subjektivismus radikalisiert einen impressionistischen Gestus. Der Dichter soll sich der Gegenwart öffnen, soll als Filter oder Medium fungieren, aber keineswegs hinter seinen Texten verschwinden. Denn es stellt sich die Frage, was schreibe ich auf das leere Blatt Papier? Die Betonung liegt dabei auf das [sic!] Was und dann, im selben Moment, auf das ›Ich‹ … oder ein wenig anders ausgedrückt: je leerer ich bin, umso mehr füllt sich ein Gedicht, der Roman, der Essay – das, was ich jetzt zu schreiben beginne … ich weiß nicht, wohin mich das führen wird, und das ist mir wichtig, das Entscheidende ist, wie intensiv ich mich auf die Gegenwart einlasse.38

Brinkmann verfolgt kein postmodernes Autorschaftsmodell: Er beharrt auf der Stärke seines Zugriffs.39 Das Ich ist dem Was gleichgestellt, der Dichter seinem Gegenstand. Die Gegenwart soll zwar in den Texten Brinkmanns zum Sprechen kommen, als Sprecher soll aber der Dichter hörbar bleiben. Paradox formuliert: Je weniger der Dichter in seinen Texten tatsächlich zu Wort kommt, desto stärker soll er darin als Dichter vorkommen. Diesen Gedanken radikalisiert der Essay insofern noch einmal, als Dichter und Gegenstand eng geführt werden: Eine »Literatur, die in der Gegenwart anfängt«, solle eine »innere Dimension« erschließen.

36 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 150. 37 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 150 (Hervorhebung von Brinkmann). 38 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 151 (Hervorhebung von Brinkmann). 39 Zum Modell des ›starken Autors‹ vgl. Britta Hermann, »So könnte ja dies am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?« Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaft, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, Stuttgart, Weimar 2002, S. 479-500.

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Sie solle »zu einem Transportmittel der Entdeckung des eigenen Selbst, der Verrücktheit des Schreibers, seiner Konfusitäten, seines eigenen Wirrwars« werden.40 Er nennt diesen Vorgang später die »Realisierung des Autors als Subjekt.«41 Der konventionalisierten Realisierung des Autors als kulturtragendem Dichter – der »kulturelle[n] Definition des Autors«42 – stellt der Essay also die Realisierung des Autors als Subjekt, also seine bewusst einseitige und leichthändige Perspektivierung gegenüber. Die neue Literatur solle den Respekt vor dem weißen Blatt verlieren und möglichst unmittelbare »Momentaufnahmen, ›snapshots‹, Schnappschüsse« der Gegenwart liefern.43 Brinkmanns Poetik – und dieser Teilsatz wird im Typusskript emphatisch unterstrichen – sucht »die sinnliche Erfahrung als Blitzlichtaufnahme in einem literarischen Text« zu stärken.44 Gunter Geduldig nennt dieses Verfahren einen »radikalen Subjektivismus«.45 Vielleicht kategorisiert dieser Ausdruck Brinkmanns Literaturkonzept noch zu sehr von den Texten selbst her und zu wenig in Relation zum Kontext. Denn die Radikalität dieses Realismus erscheint in Brinkmanns Essay primär doch als Positionsbestimmung im literarischen Feld, das eine gewisse Aufmerksamkeit garantiert. Ausgangspunkt war ja die konventionalisierte Inszenierung eines Autors im hohen Diskurs der Literatur. Brinkmann kontert mit einer bewussten Tieferlegung. Der Autonomie wird die Durchlässigkeit, dem klassizistischen Wahrheitsanspruch die Öffnung zur Wirklichkeit, der traditionalistischen Erstarrung die Beweglichkeit und dem überzeitlichen Geltungsanspruch das Augenblickliche gegenüber gestellt. Gestärkt wird am Ende eine Anderspositionierung, konturiert wird aber kaum ein eigenständiges Literaturkonzept im engeren Sinn; es zeigt sich im

40 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 151f. (Hervorhebung von Brinkmann). 41 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 152. 42 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 152. 43 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 44. 44 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 154. 45 Gunter Geduldig: Der Tod in Vechta – Rolf Dieter Brinkmanns ›Raupenbahn‹, in: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns Vechta 2000, Vechta 2001, S. 37-46, hier S. 37.

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Grunde vor allem als das Andere einer vermeintlich klassizistischen Dichtungstradition in Deutschland. Verfolgen wir diesen Gedanken anhand des inzwischen vielleicht bekanntesten Programmessays von Brinkmann weiter, seinem Beitrag zur Debatte um Leslie Fiedlers Postmoderne-Thesen.46 Sein in der Wochenzeitung Christ und Welt am 15.11.1968 erschienener Beitrag Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter trägt die avantgardistische Feldmarkierung in den Paratext und macht klar: Im Folgenden zeige ich mich in Gegnerschaft zu den Alten und sage unmissverständlich, wo es lang geht. Wie der Rundfunkbeitrag Einübung einer neuen Sensibilität beginnt der Essay insofern mit einer Diagnose des kranken Literaturbetriebs, von dem man sich als junger, provokanter Dichter abzusetzen hat. Im Verfahren der Diagnose lässt Brinkmann einerseits das Performative aufscheinen, anderseits mixt er autobiographische Details, wie die Behinderung seines Sohnes mit ein. Beides hebt den Essay von den üblichen ›kalten‹ kulturkritischen Statements ab und macht ihn letztlich als scheinbares Dokument einer echten Erregung so lesenswert. Trotz der Krise, so hören wir, lesen die deutschen Dichter einfach weiter, so wie sie es schon immer gewohnt sind; sie präsentieren sich der medial veränderten Öffentlichkeit wie eh und je. Als primäres Mittel gegen diese Erstarrung bleibt die Erregung; diese muss beim Verfassen des Essays, so sein Sprecher, durch den Plattenspieler HS11 von Dual und eine Scheibe der Doors, die genau, einschließlich der Musiker und Produzenten, identifiziert wird, stimuliert werden: »Sollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen anstatt weiterzutippen …«47 Das Motiv des Lauter-

46 Vgl. Leslie A. Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur, in: Christ und Welt. Deutsche Wochenzeitung, 13.9.1968, 21. Jg., Nr. 37, S. 9-10 und 20.9.1968, 21. Jg., Nr. 38, S. 14-16. Die Thesen gehen zurück auf einen improvisierten Vortrag mit dem Titel The Case for Post-Modernism in Freiburgs Deutsch-Amerikanischem Institut im Juni 1968, der im Dezember 1969 unter dem Titel Close the Gap – Cross the Border in der USAusgabe des Playboy publiziert wird. 47 Rolf Dieter Brinkmann: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter, in: Pop seit 1964, hg. v. Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher, Köln 2007, S. 38-48, hier S. 40.

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stellens kennen wir schon von Brinkmanns mehrfacher Referenz auf das Ende von Warren Bettys Bonny und Clyde-Film. Im Fiedler-Essay gerät die Lautstärke seines HS11 zu einem Seismographen für erbetene Aufmerksamkeit: Wenn es etwa um den differenzierten Dialog mit den Autoren, die auf Fiedler geantwortet haben, geht, wird der Ton leiser gestellt: »Die Photos der Autoren […] liegen ausgeschnitten vor mir, Steckbriefe ganz wie ›in alten Zeiten‹ – ferne Stimmen, Splitter, die nach und nach verschwinden … [.]« Dann sagt es in ihm leise aber deutlich, worum es in der Auseinandersetzung mit den alten Dichtern wohl auch geht: um »Ruhm«, der überdauert. »Wer sagte das? – ich nicht«, liest man im Essay.48 Am Ende zielt der Essay ostentativ darauf, »daß die Kluft zwischen den Generationen sich noch weiter vertieft.«49 Der Traditionsbruch muss medial – nicht unbedingt in den literarischen Produkten selbst – sichtbar sein, damit die jungen Autoren als Alternative zu den Alten wahrgenommen werden. Dabei geht es Brinkmann nicht so sehr um Inhalte oder Formen der Literatur, sondern vor allem um Aufmerksamkeit. Den angepassten Autoren seiner Generation wirft er vor, dass sie die älteren Dichter bewundern und dass sie in ihren Traditionen weiter schreiben würden. Das Eigene bleibe dabei auf der Strecke. Dem setzt er den zwar unbestimmten, aber mehrfach wiederholten Ruf nach »Aktualität« und eine Offenheit gegenüber den neuen Medien entgegen. Denn genau diese garantieren im Medienzeitalter Aufmerksamkeit im literarischen Feld.50 Deutlich ersetzt im Fiedler-Essay insofern der Habitus – nicht so sehr im Sinne von Bourdieu, sondern der antiken Rhetorik, wo er deutlich im Dienste der Persuasion steht51 – die inhaltliche Position innerhalb der Postmoderne-Debatte.

48 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 43. 49 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 48. 50 Hierzu vgl. etwa Michael Billenkamp: Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard, in: Joch, Mix, Wolf (Hg.): Mediale Erregungen?, S. 23-43, hier S. 41. 51 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 2001, Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987 und Alexander Košenina: Habitus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1272-1277.

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Da die habituelle Selbstinszenierung im Essay der Feldbesetzung im Literaturbereich dient, könnte man auch den jetzt in der französischen Literatursoziologie gebräuchlichen Begriff der posture verwenden. Er meint »eine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben: ein Autor erspielt oder erstreitet« – so Jérôme Meizoz – »seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner posture.«52 Posture – Pose, Haltung – hat nach Meizoz zwei Dimensionen, die aufeinander bezogen werden: die non-verbale Dimension der Selbstpräsentation (Auftritt, Kleidung, Stimme, Lautstärke, Gebärden, Proxemik usw.) und eine diskursive, die wieder erkennbare kulturelle Vorstellungen in Worten und Bildern präsentiert, die – wie es heißt – »des diskursiven Ethos«.53 Beide Dimensionen der posture dienen der bewussten oder unbewussten Positionierung im literarischen Feld der Mediengesellschaft. Die Analyse der Selbstinszenierungspoetik befasst sich primär also mit der diskursiven posture. Bei der Literatur im Feld der Medien setzt auch Brinkmanns Essay Der Film in Worten von 1969 an;54 er wurde als Anhang zu einer Sammlung neuer amerikanischer Literatur veröffentlicht55 und später als Titel einer Sammlung von Prosatexten, Hörspielen, Fotos und Collagen bekannt.56 Der Essay richtet sich gegen das Primat der Worte gegenüber der sinnlichen Erfahrung, das Brinkmann in der literarischen Moderne als dominant empfindet. Die herrschende Avantgarde versuche angesichts der entfremdeten Situation der Gegenwart den »Schwierigkeitsgrad« ihrer »Künste zu erhöhen«57 und ihre so mit

52 Vgl. Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld, in: Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 177-188. 53 Meizoz: Die posture und das literarische Feld, S. 178. 54 Zum Folgenden vgl. auch: Dirk Niefanger: ›Etwas anderes tun‹. Symbol und performance in der deutschen Popkultur, in: Frauke Berndt, Christoph Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols, Freiburg 2005, S. 329-343. 55 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten, in: Acid. Neue amerikanische Szene, hg. v. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla, Reinebek bei Hamburg 1983, S. 381-399. 56 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974, Reinbek bei Hamburg 1982. 57 Brinkmann, Der Film in Worten, S. 383.

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einer Art Mimesis zweiter Ordnung zu begegnen. Die Komplexität der Zeichen, ihre Widerständigkeit solle die entfremdete Welt in neuer Weise ausdrücken. So Brinkmanns implizites Adorno-Referat.58 Während die »›kritische Theorie‹ […] oft genug nur eine bloße Abfassung von Wörtern ist – zu welchem Zweck?«59 plädiert Brinkmann – im Sinne Fiedlers – für Grenzüberschreitungen, für eine Vermischung der Gattungen und Schreibweisen, der Stile und der Medien, wobei das Evozieren sinnlicher, unmittelbar wirkender und sich bewegender Bilder im Zentrum der neuen Kunst stehen müsse. Er versteht die Literatur als »Film in Worten«:60 Losgelöst von vorgegebenen Sinnmustern wendet sich die Imagination dem Nächstliegenden, Greifbaren zu […]. Dem Anwachsen von Bildern = Vorstellungen (nicht von Wörtern) entspricht die Empfindlichkeit für konkret Mögliches, das realisiert sein will. Für die Literatur heißt das: tradiertes Verständnis von Formen mittels Erweiterung dieser vorhandenen Formen aufzulösen und damit die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich lassen, statt dessen Vorstellungen zu projizieren. – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster.61

Auch hier läuft die Argumentation wesentlich über eine heftige Absetzung vom Gegebenen. Die Abkehr von den tradierten Formen, oder besser ihre maßlose Ausweitung und damit radikale Entwertung, soll die sinnlichen Vorstellungen erweitern. Die durch die Literatur erzeugten Bilderfluten und nicht die jeweiligen Formen drängen zum Handeln, zum Verändern der Welt außerhalb der Kunst. Die Bilder werden zwar durch Worte vermittelt, diese bleiben aber nur Vehikel der Vorstellung. Die unmittelbare Wirkung des Bildes – seine gegenüber dem Wort »erweiterte Sinnlichkeit« schafft – mit Brinkmann – »ein Stückchen befreite Realität, die ihrerseits Gewaltanwendung seitens der Unterdrückten, Unterprivilegierten, Ausgeschlossenen und Außensei-

58 Vgl. etwa Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1973, S. 39. 59 Brinkmann, Der Film in Worten, S. 388. 60 Brinkmann, Der Film in Worten, S. 381. Vgl. Späth, Rolf Dieter Brinkmann, S. 44. 61 Brinkmann, Der Film in Worten, S. 381.

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ter gegen den militarisierten Standard […] ermöglichen hilft.«62 Die Hinwendung zum Real-Sinnlichen verbindet sich hier – ganz im Sinne der Protestbewegung nach 1968 – mit einem Aufbegehren gegen das Bestehende, gegen die Unterdrückung des Andersartigen und die soziale Benachteiligung. Vom Verfahren der Selbstinszenierung her erinnert der Film in Worten an die anderen diskursiven Prosatexte: Von den alten Dichtern setzt man sich ab; die neue amerikanische Literatur wird ihr entgegengesetzt.63 Dieser Versuch einer Neujustierung eines literarischen Teilfeldes wird durch Kataloge medial vermittelter Bilder (Vietnam, Sex, Elisabeth Taylor usw.) und Rocksongs sinnlich untermalt. Die Bilderflut verhindert eine Konkretisierung des Gemeinten: Es bleibt die posture des Anderen, des Alternativen die hier offenbar kaleidoskopartig entfaltet wird, ohne im Ernst überprüfbar zu sein. Ihr entspricht die Bemerkung der Herausgeber am Ende des Bandes: »Die Absicht dieses Buches ist, ein Gesamtklima vorzustellen« und zwar einer eigenen Kultur, die wesentlich dem »voroffiziellen Bereich« entstammt. Vollständigkeit oder philologische Genauigkeit ist nicht intendiert; wichtig war den Herausgebern vielmehr, dass es »Spaß« gemacht habe.64 So inszeniert sich Brinkmann bei diesem eher dokumentarisch angelegten literarischen Produkt am Ende über den Spaßfaktor des sinnlich-subjektiven Zusammenstellens selbst. Wie sehr die auf Andersartigkeit zielende posture, genauer die Absetzung vom Etablierten, Teil der Brinkmann’schen Medienpräsentation ist, erkennen wir nicht nur am Verfahren seiner Essays, sondern noch mehr an der gewöhnungsbedürftigen äußeren Form seiner späten Texte, insbesondere der Text/Bildkollagen, aber auch etwa an den

62 Brinkmann, Der Film in Worten, S. 384. 63 Hinweisen muss man auf die eher verdeckte Rezeption der französischen Moderne, die Brinkmann in der privaten Kommunikation einräumt: vgl. Detken: Zum Traditionsverhalten Rolf Dieter Brinkmanns und Jan Röhnert: ›Es grüßt uns sehr/Herr Apollinaire‹. Zur Präsenz der französischen Avantgarde in der deutschen Nachkriegslyrik – der Beitrag Rolf Dieter Brinkmanns, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 134 (2002), S. 129-146. 64 Alle Zitate: Acid. Neue amerikanische Szene, hg. v. Brinkmann u. Rygulla, S. 417.

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Fotoserien65 von Brigitte Friedrich und Henry Maitek oder seinen provokanten Auftritten bei Lesungen. Das Absetzen vom Tradierten, die Unkonventionalität sowie die Beweglichkeit des Neuen, die dem erstarrten Alten bewusst entgegengebracht wird – dieser Habitus der Selbstinszenierung erscheint als unabdingbarer Teil der Literatur Brinkmanns. Er wird immer wieder in den hier behandelten Reflexionstexten angesprochen und tatsächlich zum Programm erhoben. Insofern kann man von einer Poetik der Selbstinszenierung als Moment der Literaturtheorie, der sich Brinkmann im Prinzip ja immer wieder verweigert hat, verstehen. Aber auch eine vor sich her getragene Verweigerung der Literaturtheorie kann ja als Programm erscheinen: »Theorie als Schatten hinter Brinkmanns Texten«, hat das Genia Schulz genannt.66 So kann man auch seine Poetik der Selbstinszenierung interpretieren.

65 Brigitte Friedrich, Fotoserie, Köln 1969, in: Rolf Dieter Brinkmann, hg. v. Maleen Brinkmann, Sonderheft des Rowohlt Literaturmagazins 36, Reinbek 1995, S. 42-47 und Henry Maitek, Fotoserie [Köln 1969], in: ›Vechta! Eine Fiktion!‹ Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann. Ausstellung und Katalog von Gunter Geduldig, Ursula Schüssler, Vechta, Osnabrück 1995, S. 84-87. 66 Schulz: Nachwort, S. 164.

Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: Die leere Utopie des ›Einfach-Nur-Da‹-Seins G ERD H URM Endlich wohr et do, off zoröckjewese, Endlich kunnt merʼt lese, Hück vüür fuffzich Johr. Schonungslos un kloor, odemlos jeschrivve, Nix wohr övverdrivve, Halt su, wie et wohr. Ohne Punkt un Komma, unjefähr Drei Woche op Fernschreiberpapier, Kaffee, Zijarette, Speed em Bloot, Daach un Naach enn die Maschin jehack: ›On the Road‹ BAP, »WAT FÜR Eʼ BOOCH« (2008) Gib dich jedem Eindruck hin... Sei immer blödsinnig geistesabwesend. […] Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse... Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können... Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten! Lautete das Statement Jack Kerouacs, 1959 in der Evergreen Review veröffentlicht, ein Programm: aufzubrechen, etwas zu tun das, was man möchte, die Abrichtung, die auch in den literarischen Gattungen und Formen enthalten

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ist, zu durchschlagen, zu unterlaufen, sich nicht mehr darum zu kümmern. ROLF DIETER BRINKMANN, »FILM IN WORTEN« (1969) 1

1. »H ALT

SU , WIE ET WOHR «

Die Bedeutung von Jack Kerouac für die frühe US-amerikanische Rock- und Popkultur erneut herauszustellen oder Rolf Dieter Brinkmanns zentrale Vermittlerrolle in der deutschen Literatur für die amerikanische Pop- und Literaturszene der 50er und 60er Jahre noch einmal zu betonen, hieße Pferde nach Vechta zu karren. Nach wie vor sind diese Zusammenhänge sehr präsent: 2008 widmet der Leadsänger Wolfgang Niedecken der Kölner Rockgruppe BAP seinem Lieblingsroman On the Road das Lied »Wat für e' Booch« auf dem Album Radio Pandora. Die dazu veröffentlichte Website www.radio-pandora.de stellt explizit den Bezug zu Rolf Dieter Brinkmann und zu Grundannahmen der Rock- und Popkultur her: es geht BAP, Kerouac und Brinkmann um authentisches (Er-)Leben, um die Befreiung von Zwängen, um die Zerschlagung des einengenden »Käfig(s)« (FW: 238) literarischer, medialer und kultureller Traditionen.2

1

Die einleitenden Essays von Brinkmann aus den Anthologien ACID und Silver Screen werden nach der Ausgabe Film in Worten von 1982 zitiert (Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. Fotos. Collagen. 1965–1974, Hamburg: Rowohlt 1982). Die Texte werden im Fließtext abgekürzt als FW (»Film in Worten«) und SC (»Silver Screen«) zitiert. Brinkmanns Gedichtband Westwärts 1&2 sowie Keroaucs Roman On the Road werden im Fließtext mit WW bzw OR abgekürzt zitiert (Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2, Hamburg: Reinbek 2005; Jack Kerouac: On the Road, New York: Viking 2007). – Der Aufsatz verzichtet aus Platzgründen darauf, unstrittige Positionen in der Brinkmann- wie Kerouac-Forschung umfassend in Fußnoten zu belegen. Ebenso werden Zitate klassischer Stellen aus dem Bereich der amerikanischen und englischen Literatur ohne Beleg angeführt.

2

Die Webseite stellt Brinkmanns Bezug zu Kerouac heraus und zitiert hierfür seine Widmung in Westwärts 1&2 (WW: 78). Der Pressetext zur BAPTournee bezieht sich auch auf Brinkmann: »›Ich stelle mir eine Stadt mit Rock‘n‘Roll-Konzerten auf entspannten Plätzen vor, warme, lässige Som-

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Bei aller Bedeutung und Zentralität, die Kerouac und Brinkmann in diesem Kontext zugebilligt werden, ist dennoch in der Forschung die komplexe interkulturelle Dimension der Beziehung der beiden Autoren und ihrer Werke bisher noch wenig untersucht.3 Im vorliegenden Aufsatz soll deshalb einem kleinen, aber dennoch wichtigen Teilaspekt nachgegangen werden. Hierzu werden die widersprüchlichen Deutungen, die Kerouacs umstrittenes Meisterwerk On the Road und damit sein poetologisches Konzept in letzter Zeit erhalten haben, in Bezug zu Brinkmanns theoretischen Ausführungen in ACID (1969) und Silver Screen (1969) gebracht. Es soll untersucht werden, in welcher Form Brinkmann und Kerouac auf eine zentrale Denkfigur im USamerikanischen Utopiediskurs rekurrieren und wie ihnen diese Bezugnahme ermöglicht, auf je andere Weise, ihre ästhetischen Innovationen, trotz ausdrücklicher Vorbehalte gegen dominante Tendenzen der Moderne, mit einen residualen emanzipatorischen Diskurs zu verbinden.4

merabende, an denen die Gesichter entspannt sind‹: Der Kölner Dichter Rolf Dieter Brinkmann konnte 1975 nicht ahnen, dass sich nur kurze Zeit später in seiner Stadt mit BAP eine Band gründen sollte, die seither für so manchen Rock‘n‘Roll-Sommernachtstraum gesorgt hat. […] Für eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte sind mehr als Zufall und ein kleines bisschen Glück nötig, im Falle von BAP: das Festhalten an Rock‘n‘RollIdealen wie Authentizität und Glaubwürdigkeit bei gleichzeitiger, immer wieder in die Tat umgesetzter Bereitschaft zu Veränderung und Weiterentwicklung«.

http://www.radio-pandora.de;

http://www.suedkurier.de

vom 31.7.2009 3

Siehe hierzu auch Kirsten Okun: Unbegrenzte Möglichkeiten: Brinkmann Burroughs – Kerouac, Bielefeld: Aistethesis Verlag 2005, S. 15; Jörgen Schäfer: Pop-Literatur, Stuttgart: M&P 1998, hier S. 99.

4

Die folgenden Ausführungen sind bedingt durch die Kürze des Aufsatzes als erste Anregung zu verstehen, dem Zusammenhang dieser komplexen interkulturellen Vermittlung weiter nachzugehen und damit zu einem besseren Verständnis dieser beiden Autoren zu gelangen, die in der Forschung als einflussreich aber auch als widersprüchlich wahrgenommen werden. Für einen aktuell veröffentlichten, guten kursorischen Überblick siehe Johannes G. Pankau: »Angriffe aufs Monopol: Literatur und Medien – Brinkmanns Aufnahme der US-Kultur« in: Thomas Boyken/Ina Cappelmann/Uwe Schwagmeier (Hg), Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspekti-

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2. »E INFACH

NUR DA « 1. Das Überraschende der neuen amerikanischen Gedichte ist, daß sie zunächst einfach nur da sind. Daß ein Gedicht einfach nur da ist, stellt heute für das abendländische Bewusstsein von Gedichten sowohl für den Produzenten wie auch für den Leser den schwierigsten Ausgangspunkt dar. Denn besetzt von dem verschwommenen Wissen von einer sogenannten »Modernen Lyrik« und deren abstrakt-theoretischen Implikationen, ist die Sensibilität der Aufnahme von Gedichten abgestumpft. Immer ist da theoretisch an der Schraube gedreht worden, und jetzt dreht sich die Schraube leer im Gewinde auf derselben Stelle. Wir sehen durch Theorien auf Gedichte und erblicken dann nichts anderes als Belege für unsere Theorie. Das ist sehr langweilig. 2. Anstatt durch eine »Strophe« und die Vorstellungen in einer Strophe nach draußen zu blicken, so wie jemand am Fenster steht und nach draußen blickt. Er sieht das, was da ist. (SC: 248)

Die Forderung des ›Einfach-Nur-Da‹-Seins, die Brinkmanns Essay in Silver Screen einleitet und die in seinen beiden programmatischen Texten in verschiedenen Varianten mehrfach wiederholt wird, behauptet die Möglichkeit einer literarischen Präsenz durch Absenz. Damit »alltägliche Dinge« (SC: 251) einfach da sein und authentisch wahrgenommen werden können, müssen laut Brinkmann Theorie und Abstraktion, Reflexion und Kunst beseitigt bzw. marginalisiert werden. Ähnlich hatte schon Jack Kerouac in seinem poetologischen Essay Essentials of Spontaneous Prose (1959) argumentiert: »craft is craft«, sprich Kunsthandwerk bleibt Kunsthandwerk – das von ihm propagier-

ven: Orte – Helden – Körper, München: Wilhelm Fink, 2010. Siehe auch Okun: Unbegrenzte Möglichkeiten.

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te spontane Schreiben soll die einengenden Fesseln literarischer Tradition zerschlagen.5 Beide Autoren pflegen und prägen somit den Diskurs des Authentischen als ein Nichtvorhandensein, als eine Abwesenheit von Vorgaben, Zwang und Theorie.6 Zum einen zeigen sich Kerouac und Brinkmann damit als Erben einer romantischen Auffassung von Authentizität, die der englische Dichter William Wordsworth früh schon exemplarisch als ›spontaneous overflow of powerful emotions‹ definiert hat.7 Zum anderen, und dies ist weitaus wichtiger im vorliegenden Kontext, greifen die beiden Autoren eine US-amerikanische Variante des utopischen Diskurses auf.8 Beide Autoren beziehen sich auf eine traditionelle Denkfigur, die mit Amerika von Beginn an eng verbunden ist. Schon in den frühesten Beschreibungen wird der neue Kontinent als eine besondere UtopieVariante konzipiert, als U-topos, als Ort, der als abwesend definiert ist, dessen Überlegenheit als besserer Ort, als Eu-topos gerade durch Fehlendes, Abwesendes und Negationen ausgewiesen wird.9 Eine einflussreiche Fassung dieses Diskurses findet sich im ersten literarisch bedeutsamen Werk, das sich der Entdeckung der so genannten Neuen Welt kreativ annimmt: The Tempest (1614) von William Shakespeare. Im Rückgriff auf Ideen von Michel Montaigne entwirft Shakespeare, folgende Vision für die neue Welt:

5

Jack Kerouac: Essentials of Spontaneous Prose in: Ann Charters (Hg.), The Portable Beat Reader, New York: Viking 1992, S. 57–58, hier S. 58.

6

Für Brinkmann stellen sich Texte, die »einfach da« sind, »natürlich« gegen »bestehende Konventionen abstrakten Denkens« (SC: 249).

7

Armin Geraths: »Natur und Spontaneität: Zur Ästhetik der Kunstlosigkeit in der amerikanischen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts.« Günter Ahrends/Ulrich Seeber (Hg.), Englische und amerikanische Naturdichtung im 20. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1985: S. 370–95.

8

Zum Zusammenhang von Kerouac und US-amerikanischen Diskursen siehe John Lardas: The Bop Apocalypse: The Religious Visions of Kerouac, Ginsberg, and Burroughs, Urbana: U of Illinois Press 2001. Zu Utopie siehe Krishan Kumar: Utopia and Anti-Utopia in Modern Times, London: Blackwell 1987.

9

Im Englischen sind U-topie und Eu-topie zudem sprachlich verschmolzen: ›utopian‹ und ›eutopian‹ sind homonyme Begriffe.

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Iʼ thʼ commonwealth I would by contraries Execute all things, for no kind of traffic Would I admit; no name of magistrate; Letters should not be known; riches, poverty, And use of service, none; contract, succession, Bourn, bound of land, tilth, vineyard, none; No use of metal, corn, or wine, or oil; No occupation; all men idle, all, And women too, but innocent and pure; No sovereignty – […] 10

Shakespeare verbindet hier die Vorstellung einer eu-topischen, besseren Welt mit u-topischen Qualitäten, ausgedrückt in einer Fülle von Negationen: keine Arbeit, kein Reichtum, keine Verträge, keine Titel, keine Hierarchie, keine Macht. Das Fehlende und Abwesende kennzeichnet die Vision der perfekten neuen Welt. Diese Form einer Kolonialutopie (in Shakespeares Drama als ›brave new world‹ zugleich auch ironisch mit feudaler Korruption assoziiert) findet sich in der Folgezeit in vielen Varianten in europäischen Wunschvorstellungen, die auf den amerikanischen Kontinent projiziert werden. Die Denkfigur wird vor allem richtungsweisend für die antikolonialen Diskurse der europäischen Siedler innerhalb Nordamerikas. Im nationalen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika wird ab dem 18. Jahrhundert Natur, vor allem die unberührte Wildnis im Westen, etwa in den Gemälden der romantischen Hudson River School, als bevorzugter Ort des Utopischen und Authentischen definiert. Für amerikanische Transzendentalisten wie Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau oder Walt Whitman, sprich die rebellisch und nonkonformistisch agierenden Vorbilder der Beat- und Popszene um Jack Kerouac, Allen Ginsberg und Bob Dylan, ist das bessere Amerika ebenfalls in der wilden Natur zu finden.11 Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert sieht die US-amerikanische Gesellschaft insgesamt ihre utopi-

10 William Shakespeare: The Tempest, (Hg.) Stephen Orgel, New York: Oxford UP 1987, hier S. 135. 11 Kerouac leitet seine Version auf Endlospapier bezeichnender Weise mit einem Zitat von Walt Whitman ein. Howard Cunnell: »Fast This Time: Jack Kerouac and the Writing of On the Road«, in: Howard Cunnell (Hg.), On the Road: The Original Scroll, New York: Viking 2007, S. 1–52.

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sche Vorhersehung, ihr ›manifest destiny‹ in der Wildnis des mythischen Westens. Mit John F. Kennedy und seinem Wahlslogan der ›new frontier‹ sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die USamerikanische Jugendkultur erneut direkt Bezug auf die befreiende Kraft des amerikanischen Westens nehmen.12 In der Postmoderne wird dieser traditionelle Diskurs utopischer Absenz auf markante Weise von Jean Baudrillard weitergeführt. Zwar sind Baudrillards »Generalisierungen« in Amérique wiederholt als »unerträglich«13 kritisiert worden, dennoch hat sich seine Sicht als sehr einflussreich für postmodernes Denken erwiesen. Amerika, das »keine Vergangenheit und keine Gründerwahrheit« kennt, überrascht bei Baudrillard mit einer »ekstatisch-wilden Kraft zur Unkultur«, zu »Nicht-Sinn«.14 Amerikas U-topos ist absolute Absenz: Das Land wird

12 Wichtig ist der Diskurs, der authentische Präsenz durch Negation und Absenz erzeugt, auch in Bezug auf amerikanische Randgruppen und unterprivilegierte Minderheiten im anti- und postkolonialen Topos des ›Edlen Wilden‹. In ökologischen Utopiediskursen ist diese Denkfigur von an Anfang sehr wichtig, etwa in der Vorstellung der absoluten Naturnähe der indianischen Ureinwohner, die zugleich immer auch als Nichtvorhandensein von Rationalität und Zivilisation gepriesen wird. Gleiches gilt für die mündlich geprägte Kultur der Amerikaner afrikanischen Ursprungs, deren authentische Ausdrucksformen im Blues und Jazz zunächst häufig auf das Fehlen einengender künstlerischer und musikalischer Traditionen bezogen wurde. Tatsächlich verkörpern in Kerouacs Schilderungen befreiender Ekstase in On the Road bezeichnender Weise afroamerikanische Jazzmusiker die unverbildete, spontane Qualität dieses wahrhaftigen »IT« (OR: 129). - Diese Projektion unverbildeten ekstatischen Lebens brachte Kerouac den Vorwurf eines romantischen Primitivismus und Rassismus ein. Cf. Douglas Malcolm: »›Jazz America‹: Jazz and African American Culture in Jack Kerouac’s On the Road«, Harold Bloom (Hg.), Jack Kerouac’s On the Road, Philadelphia: Chelsea House 2004, S. 93-114. 13 Klaus Mladek: »Das faszinierende Schreckbild des ›estuary of easy going‹. Kalifornien, Disneyland und bei Adorno und Baudrillard«, in: Ingo Wintermeyer (Hg.), Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski: Festschrift für Klaus Jeziorkowski, Würzburg: Königshausen und Neumann 1995, S. 197–218, hier S. 216. 14 Jean Baudrillard: Amerika, Berlin: Matthes & Seitz, 2004, hier S. 106; Mladek: »Das faszinierende Schreckbild«: S. 216. Cf. Matthias Schöning:

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von Baudrillard zur »Erbin der Wüste« stilisiert, die »die Leere, die radikale Nacktheit« repräsentiert. Die USA sind so für ihn die »einzig aktuelle primitive« Gesellschaft. 15 Kerouac und Brinkmann greifen vor Baudrillard diesen traditionellen Utopiediskurs der Leere und Abwesenheit in ihren Schriften kreativ auf. Die eu-topische Dimension der Denkfigur, die Begründung, weshalb das neue besser sein soll als das »alte kritische Denken« (SC: 263), als das »akademisierte Denken abendländischer Observanz« (FW: 242), wird dabei in postmoderner Manier geflissentlich unterschlagen. Den alleinigen Bezugspunkt bildet wie bei Baudrillard das U-topische an sich, das Nichtvorhandenes und Leeres in den Vordergrund hebt.16 In Baudrillards postmodernem Diskurs wird so beispielweise die »verwirklichte Utopie« der Vereinigten Staaten mit der Wüste und der »leeren und absoluten Freiheit der Freeways« assoziiert. Brinkmann gestaltet diesen postmodernen Topos vorausschauend bereits in seinem Gedicht »Westwärts«: er verbindet dort die »wirklichen Dinge, die passieren« (WW: 66) mit sinnentleerten Reklametafeln: Ich starrte auf die Buchstaben, das war der Westen, als ich den leeren, weiten Parkplatz überquerte. (WW: 71)17

»Baudrillards ›Amerika‹ – Letzter Lagebericht vor dem Verstummen Europas«, in: diss.sense Thema Amerika, 24.03.99, URL: diss.sense.unikonstanz.de/ 15 Baudrillard: Amerika S. 88, 17. 16 In postmodernen Auslegungen wird dieser vermeintliche Verzicht auf transzendental verortete Metadiskurse affirmativ als »Inversion, Dekonstruktion und Entgrenzung« gefasst. Cf. Okun: Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 293. 17 Zur Nähe von Baudrillard zu Brinkmann siehe Stephan K. Schindler: »›Der Film in Worten‹: R.D.Brinkmanns postmoderne Poetik«, in: Seminar 32 (1996), S. 44–61.

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3. »H OLY C ON -M AN « […] the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn […] (OR: 5–6)

Dieser sinnentleerte Westen, den Brinkmann in Westwärts beschreibt und der Baudrillards ›verwirklichte Utopie‹ kennzeichnet, ist bei Kerouac bereits präfiguriert. Bis vor kurzem wurde allerdings Kerouacs On the Road vor allem als traditionelle, wertbesetzte Version des Westens gelesen. Diese Deutung ist in der neueren Kerouac-Forschung hinterfragt worden, allen voran auch die damit verbundene Bedeutung spontanen Schreibens in seinem ästhetischen Programm.18 Kerouac setzt sich in On the Road mit dem Utopiediskurs der eutopischen, sprich authentischen Welt im Westen kritisch auseinander. Der Protagonist seiner autobiographisch fundierten ›nonfiction novel‹, Dean Moriarty, verkörpert ausdrücklich den Westen als »sideburned hero of the snowy West« (OR: 2). Er hat als kongenialen Partner Jack Kerouacs schriftstellerisches alter ego Sal ›Salvatore‹ Paradise an seiner Seite, der die Authentizität Dean Moriartys fassen und damit, wie es der allegorische Name ›Salvatore‹ will, das Paradies des Westens erneuern und retten soll. Die Queste der beiden Beat-Figuren nach einem mystischen »IT« (OR: 129), dem präsentischen Inbegriff des Echten und Ekstatischen im Roman, führt die beiden Reisenden folgerichtig in den Westen. Allerdings wird im Roman schnell deutlich, dass die diversen Kicks weder im Westen noch im Osten ein nachvollziehbares Modell für ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben bereit halten.

18 Für eine detaillierte Darstellung der Diskussionen um den Roman siehe meinen 2010 veröffentlichten Aufsatz »Paradise on Speed: Discourses of Authenticity and Acceleration in Jack Kerouac's On the Road.« in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010): 281-300. Dort sind alle Positionen und weiterführende Quellen ausführlich verzeichnet, die hier in der Kürze nicht angegeben werden können.

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Das ursprüngliche Verlangen nach authentischem Sein, nach der eingangs zitierten Ekstase des »burn, burn, burn« ist in nuce in der Parkplatzszene enthalten, die Kerouac ganz zu Beginn des Romans zur Charakterisierung seines Helden entwirft: The most fantastic parking-lot attendant in the world, he [Dean Moriarty] can back a car forty miles an hour into a tight squeeze and stop at the wall, jump out, race among fenders, leap into another car, circle it fifty miles an hour in a narrow space, back swiftly into tight spot, hump, snap the car with the emergency so that you see it bounce as he flies out; then clear to the ticket shack, sprinting like a track star, hand a ticket, leap into a newly arrived car before the ownerʼs half out, leap literally under him as he steps out, start the car with the door flapping, and roar off to the next available spot, arc, pop in, brake, out, run; working like that without pause eight hours a night, evening rush hours and after-theater rush hours, in greasy wino pants with a frayed fur-lined jacket and beat shoes that flap. (OR: 6)

Die literarische Form ist in dieser Textstelle ganz mit dem Inhalt verschmolzen oder mit dem von Brinkmann oft zitierten Marshall McLuhan gesprochen: ›the medium is the message‹. Die kurzen, onomatopoetisch verdichteten Verben verkörpern schnelles, ekstatisches Leben: Dean ist hier »einfach nur da« (SC: 248). Die Intensität des offenen Moments, den Brinkmann bei Kerouac hervorhob, ist im spontan Verfassten festgehalten. Die Kultwirkung und die besondere Aura der Beat-Bibel On the Road wurde durch den Mythos befördert, Kerouac habe den Roman spontan in drei Wochen auf Endlospapier niedergeschrieben.19 Die Authentizität des Geschriebenen scheint durch die Absenz von Kontrolle und Abstraktion verbürgt. Allerdings zeigen philologische Vergleiche der Manuskriptfassungen, dass Kerouacs schriftstellerische Praxis anders aussah, als es der poetologische Anspruch vorgab. So hatte Jack Kerouac in jahrelanger Vorarbeit für den vermeintlich spontan vollzogenen Akt Notizbücher über seine Reisen mit Neal Cassady angelegt. Ebenso hatte er Passagen immer wieder überarbeitet, bevor er sie nun, in Verbindung mit

19 Kerouac selbst assoziiert in Briefen die von ihm präparierte Endlosrolle des Manuskripts direkt mit der Straße, mit On the Road und der dort verwirklichten Ekstase. Cunnell: »Fast«, S. 1.

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neuem Material, in die Maschine eingab.20 Auch nach der Fertigstellung der Endlosversion des Manuskripts, in gewiss physisch wie psychisch intensiven drei Wochen, begibt sich Kerouac entgegen seiner Überzeugung und Vorgaben sofort an neue Korrekturen am Text. Es vergehen weitere sechs Jahre bis zur endgültigen Publikation des Romans, in der Kerouac selbständig, aber auch auf Anregung der Verleger weitere Änderungen am Text vornimmt. Die Mär einer spontanen Komposition des Romans, die in den poetologischen Schriften weiter Verbreitung findet, kann also nicht aufrechterhalten werden und wird inzwischen auch in der Kerouac-Forschung als Teil der frühen Mythisierung des Beat-Literaten verstanden.21 Diese Einsichten in den tatsächlichen Schaffensprozess entlarven Kerouac keineswegs notwendiger Weise als ausgebufften Trickartisten, so sehr seine eigene Stilisierung als Verfechter des spontanen Schreibprozesses irreführend und irritierend bleibt. Kerouac alias Sal Paradise deutet gleich zu Beginn an, dass es sich bei den autobiographischen Schilderungen in On the Road um ein veritables tall tale, ein so genanntes Lügenmärchen handelt, in der Held wie Erzähler auch als »con-man« (OR: 5), als Schwindler, als Lügengeschichtenerzähler agieren. Kerouac lässt gleich zu Beginn augenzwinkernd die selbstreflexive Dimension seiner ›true-story‹ in den Ausführungen von Sal Paradise aufblitzen: »He [Dean] was conning me and I knew it« and »[…] he knew that I knew« (OR: 4). Da von Anfang an jedoch, etwa in der richtungsweisenden Rezension in der New York Times, die bahnbrechende, quasi dokumentarische Authentizität der geschilderten

20 Sein Kollege Philip Whalen hat Kerouacs Praxis des spontanen Schreibens später so beschrieben: »He would sit–at a typewriter, and he had all these pocket notebooks, and the pocket notebooks would be open at his left-hand side on the typing table–and heʼd be typing. […] Then heʼd make a mistake, and this would lead him off into a possible part of a new paragraph, into a funny riff of some kind that he'd add while he was in the process of copying. Then, maybe heʼd turn a page of the notebook and he'd look at that page and realize it was no good and heʼd X it out, or maybe part of that page. And then heʼd type a little bit and turn another page, and type the whole thing, and another page, and he'd type from that.« Whalen zitiert in Cunnell: »Fast«, S. 23–24. 21 Siehe Cunnell, »Fast«, S. 1–52; Tim Hunt: Kerouac’s Crooked Road: The Development of a Fiction, Berkeley: U of California Press 1996.

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Ereignisse hervorgehoben wurde, benötigte es einige Zeit bis der Roman auch als eines der vielen, von Kerouac selbstreflexiv gestalteten »poetic tall tales« wahrgenommen werden sollte.22 Die Angaben über den ekstatischen Lebensstil des fantastischsten Parkplatzwärters der Welt müssen also mit großer Vorsicht gelesen werden. Was wahr und was falsch, was echt und geschwindelt ist, ist eben nicht ›einfach nur da‹. Auf allen Ebenen der Komposition macht Kerouac Anleihen bei der Gattung des amerikanischen tall tale.23 Die vielen unbegründeten Superlative und unglaublichen Geschichten des Romans sind in diesem Kontext anzusiedeln. Besonders evident ist diese Dimension in der eingangs zitierten Parkplatz-Episode. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Szene, so sehr sie detailgetreuen Realismus vorgibt, überhaupt nicht authentisch sein kann. Ein Auto kann nicht mit 60 km/h in eine Parklücke gefahren und dann vor einer Wand zum Stehen gebracht werden (OR: 6). Das schaffen nur BeatHelden oder Figuren in Lügengeschichten. Viele andere Details sind in Münchhausen-Manier ähnlich übertrieben, etwa dass Dean sich auf den Sitz des Fahrers schwingt noch bevor der Besitzer ausgestiegen ist. Kerouacs Roman ist voller Passagen, in denen scheinbar Plausibles erzählt wird, der Leser dennoch unschwer erkennen kann, dass er augenzwinkernd an der Nase herumgeführt wird: Sal Paradise trinkt in einer Szene so viel, dass er alle zwei Minuten auf die Toilette muss (OR: 77). Die Leser spüren, dass hier authentisch erzählt wird, allerdings eine Geschichte im Gattungsdiskurs tall tale. Die Frage des Authentischen ist bei Kerouac zweifelsohne an Spontaneität, Ekstase und Regelbruch geknüpft. Doch ist dies nur ein Aspekt. Echtheit hängt ebenso von der Ambivalenz und Offenheit der Erzählstimme und damit vom Urteil der Lesenden ab. Was die Gattung tall tale bzw. urban legend auszeichnet, ist, dass die Wahrhaftigkeit des Berichteten erst im Rezeptionsprozess in der Gruppe ausgehandelt wird und nicht a priori ohne Transzendentalsignifikanten ›einfach da‹

22 Douglas Brinkley: »In the Kerouac Archive«, in: Archive Monthly 282 (1998), 49-76, hier S. 50. R. J. Ellis: Liar! Liar! Jack Kerouac—Novelist, London: Greenwich Exchange 1999. 23 Cf. Carolyn S. Brown: The Tall Tale in American Folklore and Literature, Knoxville: U of Tennessee Press, 1987. Henry B. Wonham: Mark Twain and the Art of the Tall Tale. New York: Oxford UP 1993.

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ist.24 Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum der Westen im Roman keinen unmittelbaren Zugang zu Authentischem liefern kann, warum Dean eine ambivalente Figur abgibt. Indem Kerouac die Authentizität des Geschilderten offen und dem Urteil seiner Leser überlässt, stellt er den traditionellen Mythos des Westens direkt und indirekt in Frage. Aus dieser Perspektive ist auch zu verstehen, weshalb bei Sal Paradise etwa am Ende die große Leere, die große Verunsicherung herrscht ob der negativen Erfahrung, die er mit dem ekstatischen Lebensstil von Dean Moriarty gemacht hat.25 Die in der Erzählstimme angelegte Doppeldeutigkeit erlaubt es Kerouac indes auch traditionelle Erwartungshorizonte wachzuhalten. Dabei kann er auf die konventionellen Assoziationen seiner Leserschaft bauen, die den Westen residual mit mythischen, eutopischen Qualitäten in Verbindung setzt.26

24 Wichtig zu wissen ist zudem, dass tall tales als Gattung zwar gemeinschaftsbildend und -erhaltend sein können, dass sie jedoch keineswegs basisdemokratisch motiviert sind, wie dies oft mit mündlichen Traditionen im Westen Amerikas assoziiert wird und damit zum Mythos des demokratischen Ursprungs von Folk- und Rockmusik gehört. Im Gegenteil, die Gemeinschaft der Lügenmärchenerzähler bilden eher elitäre Zirkel, die auf Zusammenhalt und Ausschluss angelegt sind. Nur diejenigen, die wissen, was im tall tale Sache ist, wie die Dinge zu interpretieren sind, was wahr und was falsch ist, werden in diese Runde aufgenommen. Oder wie Dean dies exemplarisch für die Beats im Roman ausdrückt: »I dig you, man« (OR: 119). Die tall tales dienen als Code und Test, ob der Diskurs verstanden wurde oder nicht. Der Roman führt über diese Gattung eine Form des Beat-Insidercodes ein, den Diedrich Diederichsen später als »Geheimcode« des Pop bezeichnen sollte. Thomas Ernst: Popliteratur, Hamburg: Rotbuch 2001, S. 6. 25 Baudrillard sollte diese »Leere« postmodern affirmativ als Produkt von Geschwindigkeit deuten. Die Leere der »natürlichen Wüsten«, die ihn auf die »Wüsten des Zeichens« einstimmt, setzt er in Verbindung mit Geschwindigkeit, dem »Initialraum des Leeren« und mit der Leere einer Reise »ohne Ende«. Amerika: S. 88, 18–19. 26 Die mit Wildnis und Westen assoziierte Spontaneität des kreativen Akts kann etwa im Sinne der amerikanischen Romantiker um Ralph Waldo Emerson auch als idealistische Korrespondenz mit der göttlichen Überseele, der oversoul gesehen und mit Vorstellungen amerikanischer Aus-

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Im Gegensatz etwa zu Baudrillards postmoderner Deutung des Westens geht es Kerouac nicht vorrangig um »radikale Nacktheit«, »Leere« und das Auflösen jeglichen Metadiskurses.27 Kerouac sieht seinen Helden sogar explizit auch als positive Verkörperung der »goodness« des »archetypal American Man«.28 Nach Fertigstellung seines Endlosmanuskripts von seinem Verleger befragt, von wem er seine spontanen Eingaben erhalten habe, antwortet Kerouac vieldeutig, nun wiederum als »con-man« (OR: 5) in eigener Sache, dass er diese vom Heiligen Geist, vom »Holy Ghost« habe.29

4. »D AS

IST

J ACK K EROUAC

GEWIDMET «

Sonnenblumen und Schnellzüge, die durch die finstere Ebene rasen, erinnern mich an amerikanische Poesie. Das ist Jack Kerouac gewidmet. (WW: 78)

Brinkmann übernimmt in seinen Einführungen in die Anthologien ACID und Silver Screen wichtige Eckpunkte des ästhetischen Programms von Kerouac. Allerdings sieht er durchaus, dass dessen poetologische Ausführungen nicht ganz widerspruchsfrei umgesetzt und nur »teilweise eingelöst« (FW: 227) wurden. Er legt dies allerdings zu Gunsten von Kerouac aus – auch in der Hoffnung auf die zukünftigen Entwicklungen der amerikanischen Literaturszene, da Kerouac mit den

erwähltheit verknüpft werden. Cf. Regina Weinreich: Kerouac's Spontaneous Poetics, New York: Thunder's Mouth Press 2002, S. 9. 27 Baudrillard: Amerika, S. 88. 28 Jack Kerouac: Visions of Cody, New York: Penguin 1993, S. ix. 29 Cunnell: »Fast«, S. 32. Wie sehr Kerouacs Konzept spontaner Prosa auf affirmativen Vorstellungen von der Größe Amerikas basierte, zeigt sich auch im Vorwort zu seinem Nachfolgeroman Visions of Cody. Dort begründet er sein Projekt wie folgt: »›Visions of Cody‹ is a 600-page character study of the hero of On the Road, ›Dean Moriarty‹, whose name is now ›Cody Pomeray‹. I wanted to put my hand to an enormous paean which would unite my vision of America with words spilled out in the modern spontaneous method. […] This is a youthful book (1951) and it was based on my belief in the goodness of the hero and his position as an archetypical American Man.« Kerouac: Visions of Cody, S. ix.

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Beats seine Vorstellungen »noch unbeholfen und häufig ungeschickt« (FW: 229) vorangetrieben habe. Brinkmann folgt Kerouac in der Annahme des amerikanischen Utopiediskurses, dass Präsenz durch Absenz begründet wird, dass so die überlegene, bessere Darstellung von Realität diejenige ist, die keine Theorien und Abstraktionen bemüht. Wiederholt betont er, dass das Besondere an den neuen amerikanischen Gedichten sei, dass sie ohne übergeordnetes Theoriegebäude »einfach da sind« (SC: 249). Er führt dazu ausdrücklich aus, dass ein »›übergeordneter‹ Sinn schwerlich festzustellen […]« ist: »Die Frage nach der Bedeutung erübrigt sich – die Erzählung ist einfach ›da‹, sie ist ihr eigenes Argument« (FW: 236). Für Brinkmann erlaubt diese »antitheoretische Haltung« (SC: 267) der amerikanischen Lyriker und Erzähler eine neue, nicht verfremdete Sicht auf »alltägliche Dinge« (SC: 251), auf »gewöhnliches Dasein« (SC: 248). Ebenso werden »neue sinnliche Ausdrucksmuster« (FW: 235) wie es der utopische Diskurs vorgibt, von Brinkmann vorrangig ex negativo definiert. Es gilt, den »Käfig« (FW: 238) literarischer Traditionen aufzubrechen, »anerzogene grammatikalische Regulierung« zu überspringen (FW: 244), einen »strengen Werk-Begriff« und einen »einheitlichen Stil« aufzulösen (SC: 257), »zwanghafte Assoziationsabläufe zu unterbrechen« (FW: 241), das »starre grammatikalische Gerüst« wegzuschwemmen (FW: 230) und die »negative Programmierung der Sprache« aufzuweichen (SC: 268). Auch spontan »schöpferische Produktivität« ist vor allem »unkanalisierter Ausdruck« (FW: 225), die »leere Form« (FW: 239) des Literarischen richtet sich allein nach dem »vorgefundenen Material« (FW: 230). Die Rhetorik Brinkmanns ist weiterhin offensichtlich dem Emanzipationsdiskurs der Moderne verpflichtet. Er macht jedoch deutlich, dass es kein Zurück zu den alten Positionen einer theorielastigen Moderne geben kann. Er will nachweisen, dass in der Praxis der neuen amerikanischen Lyrik etwas qualitativ Anderes entsteht. Literatur ist vor allem nicht mehr dem überholten Fortschritts- und Innovationsdiskurs verpflichtet: »Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich« (FW: 232). Brinkmann wendet sich konsequenterweise gegen die abstrahierenden Denkformen einer »akademisierten« Moderne (FW: 229) und kritisiert deren »überanstrengte Reflexion« (FW: 246). In der Vorwegnahme postmoderner Positionen, vor allem Jean-Francois Lyotards kleiner Erzählungen, lobt Brinkmann bei amerikanischen Autoren ein »Desinteresse« an »großen Dingen« (FW: 246). Vorrang hat die »Rea-

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lisierung eines winzigen Teils befreiter Realität« (FW: 240) bzw. die Befreiung »konkreter Details« vom Zugriff entfremdender Akademisierung und Abstrahierung. Auch institutionell sieht er das Periphere auf dem Vormarsch. Die neue Lyrik schafft sich passende Bedingungen in »kleinen Magazine(n)« (FW: 238) und »unzähligen kleinen Lyrikheftchen« (SC: 251) in »kleinen Pressen« und im »voroffiziellen, unregulierten« Bereich (FW: 238). Allerdings schleichen sich bei Brinkmann teilweise reflektiert, aber auch teilweise unbemerkt US-amerikanische Vorannahmen ein. Deutlich ist dies bei dem ins Negative gewendeten Utopiediskurs, der das Lob auf Gedichte begleitet, die »einfach da sind« (SC: 249). Den Vereinigten Staaten werden schlichtweg Kultur und Geschichte abgesprochen: Amerikanische Lyriker können sich der »leere(n) Form« (FW: 239) aufgeschlossen zeigen, da ein entsprechender »kulturhistorischer Hintergrund« fehlt und da es eine »Formen-Verbindlichkeit« aus »bloßer Tradition« nicht gibt (FW: 230). Sie haben keine »Vorurteile« und keine »alteingenisteten verinnerlichten Muster« (FW: 224). Brinkmann übernimmt auch amerikanische Eigenstilisierungen. So lobt er die »Eigeninitiative« (FW: 238), den Individualismus und Nonkonformismus der neuen Lyriker als deren kritisches Potenzial. Dabei übersieht er, dass diese Qualitäten im amerikanischen Kontext traditionell systemstabilisierend und durchaus affirmativ gemeint sein können.30 So pflegen etwa US-amerikanische Großkonzerne, wie zum Beispiel Microsoft oder Google, immer auch ein Image als Außenseiter und Nonkonformisten. Der wahre, authentische amerikanische Bürger, ist zumindest seit Ralph Waldo Emersons Ausführungen in Self Reliance (1841) immer auch ein unabhängiger, individualistisch ausgerichteter Bürger, ein gegen die Herrschaft der Masse rebellierender Nonkonformist.31 Sich gegen den »Hörighaltungs- und Abrich-

30 Dieser affirmative Nonkonformismus wird häufig als postmoderne Form der Subversion gedeutet. Okun etwa interpretiert die Ablehnung einer Gruppenbezeichnung der Beats als ein »dekonstruktives Spiel: der Widerwillen gegen jeglichen Akt des Kategorisierens als erster Schritt zur Eroberung des Inkommensurablen«. Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 12. 31 Sie hierzu auch die Studie von Lardas sowie meinen Beitrag »Neue Grenzen? Die affirmative Rebellion der Beat- und Pop-Gründerväter.« in: Klaus Neumann-Braun and Birgit Richard (Hg.), Coolhunters. Jugendkulturen zwischen Medien und Markt. Suhrkamp: Frankfurt 2005. 191-206.

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tungscharakter« von »tradierte(n) Ausdrucksformen« (FW: 246) zu wehren, zumal der Alten Welt, ist somit eher Teil des nationalen Selbstverständnisses. Auch Brinkmanns Begründung, warum amerikanische Lyrik in der Nachkriegszeit der europäischen überlegen sei, greift auf traditionelle Diskurse zurück. Brinkmann sieht Amerika an der Spitze einer medial fundierten, neuen »globalen Empfindsamkeit« (SC: 250), die an anderer Stelle im Essay mit der konventionellen Vorstellung verknüpft wird, die Vereinigten Staaten seien Europa im Kontext der nachholenden Moderne kulturgeschichtlich voraus (FW: 224). Die nötige kritische Distanz bewahrt sich Brinkmann jedoch dadurch, dass er die US-amerikanische Tradition auch als »voller Widersprüche in sich« (FW: 224) begreift. So postuliert er generell für sich und andere die Notwendigkeit einer Offenheit für Wandel und Brüche: Literatur hat »sich auszuweiten«, hat »offen« zu sein »für den ständigen Wechsel« (FW: 231). Und so kann seine Intervention als kreative »Irritation« (SC: 250) der deutschen Nachkriegsliteratur wichtige Impulse geben.

5. » DAS ,

WAS DA IST « Ein Gedicht Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden. In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht hier zum Anfassen. […] Das Gedicht hier steht einfach nur hier. . […] Das Gedicht besteht aus lauter Verneinungen. Die Verneinungen in diesem Gedicht werden immer mehr. […] Das Gedicht hier ist nicht gedankenlos. Das Gedicht hier ist nicht gedankenvoll. […] (WW: 17–19)

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Rolf Dieter Brinkmanns Ein Gedicht aus Westwärts 1&2 ist symptomatisch für den Teilaspekt, dem in diesem Aufsatz nachgespürt wurde. In der Betonung von Präsenz durch Absenz (»Das Gedicht hier / steht einfach nur hier«. […] Das / Gedicht besteht aus lauter Verneinungen«) zeigt es noch einmal den Bezug zur traditionellen Denkfigur des amerikanischen Utopiediskurses sowie zu den Gedichten der Anthologien ACID und Silver Screen, die »nichts« […] »meinen« (SC: 253). »Ein Gedicht« deutet dabei aber auch auf den komplexen Vermittlungszusammenhang hin, mit dem Brinkmann amerikanische Impulse kreativ in sein eigenes Schaffen integriert und mit dieser »Irritation« (SC: 250) die deutsche Nachkriegsliteratur bereichert.32 Wenngleich nur mit wenigen Beispielen angerissen, so zeigt sich doch im Verhältnis von Brinkmann zu Kerouac jene tief greifende Paradoxie, die der Diskurs der Postmoderne bis heute nicht zufriedenstellend reflektiert beziehungsweise geklärt hat. Beide Autoren versuchen eine Theorie zu begründen, die vorgibt, ohne Theorie auszukommen. Beide greifen jedoch hierzu letztlich auf die Emanzipationsteleologie der Moderne und deren Subversions- und Befreiungsversprechen zurück und können somit nicht widerspruchsfrei begründen, weshalb die neuen Formen besser als die der »alten« widerlegten Traditionen der Moderne sein sollten (SC: 263). Die amerikanische Denkfigur der Leere und Abwesenheit hilft hier, diese paradoxe Problematik zu kaschieren, da der u-topische Diskurs immer schon die eutopische Dimension unausgesprochen mittransportiert und beinhaltet. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Begründungszusammenhang bei Kerouac und Brinkmann je ein anderer ist. Kerouac kann auf traditionelle Denkmuster des US-amerikanischen Exzeptionalismus zurückgreifen, die Westen, Natur und spontan Gegebenes an Transzendentalsignifikanten zurückbinden und damit residual als metaphysisch überlegen ausweisen. Brinkmann hingegen deutet das »spezifisch Amerikanische« (FW: 231) universell als Tendenz einer geschichtlich aufziehenden, neuen »globalen Empfindsamkeit« (SC: 250). In beiden Fällen bleibt die Begründung problematisch. Wie we-

32 Für eine umfassende Deutung der Konnotationen von Westen bei Brinkmann siehe Sibylle Späth: »Das Gedicht besteht aus lauter Verneinungen«. Überlegungen zu Rolf Dieter Brinkmanns letztem Gedichtband ›Westwärts 1&2‹, in: Dieter Breuer (Hg.), Deutsche Lyrik nach 1945. Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 166–199.

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nig die beiden Autoren vermochten, den inhärenten Widerspruch ihrer ästhetischen Programme aufzulösen, zeigt sich auch daran, dass beide sich nach anfänglicher Euphorie scheitern sahen und enttäuscht zeigten von den leeren Emanzipationsversprechen der frühen Jugend-, Rockund Popkultur.33 Brinkmanns Impuls, der Komplexität des Kleinen und Alltäglichen nachzuspüren, zeigt sich im Nachhinein als richtungsweisend für wichtige Tendenzen innerhalb der Postmoderne. Allerdings bleibt das Hoffen des wunderbaren Provokateurs und Rebellen auf eine neue »einheitliche Sensibilität« (SC: 250) unerfüllt. Somit stellt sich weiterhin als Herausforderung, mit und gegen Brinkmann, all jene kreativen und kritischen Kräfte zu bündeln, die uns erlauben, in seinen Worten, »das« besser sehen und verstehen zu können »was da ist«. (SC: 248)

33 Schindler gelangt zu dieser gegensätzlichen Einschätzung: »Brinkmanns Poetologie ›Der Film in Worten‹ und seine nachfolgende Dichtung stellen einen originellen deutschen Versuch dar, postmoderne Erfahrungen jenseits metaphysischer Transzendenz oder kultureller Affirmation zu artikulieren.« Schindler: »Brinkmanns postmoderne Poetik«, hier S. 58.

Nachholende Moderne Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik M ARKUS F AUSER

Wie auch immer wir ihn einschätzen: ob wir glauben, er wollte am Ende gar kein Dichter sein, ob wir meinen, er sei bloß auf die Welt gekommen, um zu krakeelen, ob wir ihn für einen oberflächlichen Arrangeur von aufgeschnappten Songs, Textzeilen und Heftchenreklame oder für das einzige Genie der Nachkriegsliteratur halten; ob er als das unerträgliche Enfant terrible des Literaturbetriebs dasteht, das zielsicher alle Freunde vergrault hat oder ob er zum letzten großen Erneuerer und Grenzgänger zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur stilisiert wird – gleich, wo er stehen darf und ganz gleich, ob seine Schreib- und Arbeitsweise tatsächlich als Herausforderung überdauert – woher und wie dieser Autor zum Schreiben kam, bleibt im Dunkel. Wann und wie er seine Urwahl traf, wann und warum jenes unbedingte Sich-einsetzen begann, durch das jeder darüber entscheidet, was er sein wird und ist, wann und weshalb genau er empfand, dass er ein Anderer geworden war, können wir nach Lage der Dinge nicht erklären. Der folgende Versuch will nur einige Schritte auf neuem Terrain wagen, denn die Phase vor der ersten Buchpublikation Brinkmanns war bisher unbekannt. Von Beginn an, so weit jedenfalls herrscht wohl Konsens, haben wir es mit einem gewaltigen Nachholbedarf in der Literatur der fünfziger Jahre zu tun, der ganz verschiedene Projekte einer nachholenden Moderne hervorbrachte. Auch Brinkmanns Anfänge gehören dazu. Schon früh sucht er den Anschluss an die europäische Moderne und greift, was er bekommen kann. Arthur Rimbaud verschafft ihm das

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Gefühl des »maudit«1, des Verdammten, Verfluchten oder verwünschten Poeten der Moderne. Dem »grand maudit« fühlte er sich offensichtlich verwandt, auch er hat ja eine tüchtige Portion Giftes verschluckt, und den Dichter des bösen Blutes – Mauvais Sang heißt das zweite Gedicht der Saison en Enfer – sowie den »compagnon d´enfer« mit seiner Liebe zur Lästerung2 scheint Brinkmann ebenso verinnerlicht zu haben wie die Position Mallarmés und Rimbauds, die nach dem Kriege nicht nur im Kontext der Lyrikdebatten immer wieder zu hören war: »Il faut être absolument moderne.«3 Keine frommen Gesänge mehr, sondern moderne »Wiederholungen«, wie eine Abteilung der Gedichte von Paul Eluard hieß4, das war das Gebot der Stunde. Hinzu kam natürlich die Benn – Mode. Kein damals junger Autor konnte sich der Wirkung des wieder erstandenen Gottfried Benn entziehen, dessen Stimme eine von vielen Autoren (Rühmkorf insbesondere) bezeugte Anziehungskraft ausübte, die bis in die Nachbildung einzelner Redewendungen hinein nachweisbar die Lyrik der Zeit prägte. Auch frühe Wegbegleiter, die damaligen Lektoren Dieter Wellershoff und Renate Matthaei haben die ausgedehnten Lektüren des jungen Brinkmann bestätigt und darauf hingewiesen, welche Bedeutung die fast zwanghaft wirkende Suche nach Orientierungsfiguren bei weitgehend fehlender Literaturkenntnis und welche zweifellos stimulierende Wirkung alles das, »was er finden konnte« für ihn haben musste.5 Dabei genügten Brinkmann oft schon kleinere

1

Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Walther Küchler. 5., durchgeseh. Aufl. Heidelberg 1978, S. 110 und 270. Die Ausgabe war 1955 zum zweiten Male erschienen und Brinkmann erklärt in: Briefe an Hartmut 1974-1975. Reinbek 1999, S. 116, dass er 1955/1956 auf Rimbaud gestoßen sei.

2

Rimbaud, S. 288 der »Genosse aus der Hölle« und der »amour du sacrilè-

3

Rimbaud, S. 324. Die neue Ausgabe zu Stéphane Mallarmé: Sämtliche

ge« S. 266. Gedichte. Französisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Carl Fischer war in Heidelberg 1957 erschienen. 4

Paul Eluard: Hauptstadt der Schmerzen. Deutsch von Gerd Henniger. Berlin 1959, S. 5-30.

5

Wolfgang Rüger: Direkt aus der Mitte von Nirgendwo. Bruchstücke zu Leben und Werk von Rolf Dieter Brinkmann. In: Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Hg. v. Gunter Geduldig und Marco

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Sammlungen, wie die 1956 von Eva Hesse veranstaltete zweisprachige Auswahl zu Ezra Pound: Dichtung und Prosa. Mit einem Geleitwort von T. S. Eliot, deren Lektüre Brinkmann noch 1974 erwähnt.6 Ein Leben lang begleitet ihn gerade diese Erfahrung, auch wenn sie auf stark gekürzten Texten basiert, wie man an der Wanderung eines einzigen Pound – Zitates von den frühen Liebesgedichten an die Schulfreundin Elisabeth Piefke (Zöller) von 1957 bis zum Gedichtband Westwärts 1&2 (1975) nachweisen kann.7 In dieser Situation kommt der seit 2005 in Vechta vorhandene Teilnachlass gelegen. Er stammt von einem früheren Schulfreund und Mitbewohner der Kölner Wohnung Peter Hackmann, der über die Umstände des Erwerbs 1985 schrieb, dass Brinkmann ihm das gesamte Konvolut »Anfang der sechziger Jahre überlassen hatte. Diese Manu-

Sagurna. Vechta 1994, S. 75ff. Wellershoff sagt in diesem Interview: »immer stand er im Bann eines Vorbildes« und schildert in dieser Suche nach »Identifikationsfiguren«, welche alle »ein wenig entrückte Personen« waren, »gegen die er sich nicht behaupten musste«, ein Verhalten, das Harold Bloom eine alle Autoren umtreibende »anxiety of influence« nannte. Wichtig ist immer nur, was einer daraus macht. Zuletzt Dieter Wellershoff: In der Arena der Literatur. Über Rolf-Dieter Brinkmann. Mainz 2008. 6

Ezra Pound: Dichtung und Prosa. Mit einem Geleitwort von T. S. Eliot. Ausgewählt und übertragen von Eva Hesse. Berlin 1956 (Ullstein Buch Nr. 129 erhältlich für 1 Mark 90). Die Ausgabe war zuerst in Zürich im Verlag der Arche 1953 erschienen. Brinkmann, Briefe an Hartmut, 1999, S. 116, 186 und besonders 199 der Hinweis auf die Taschenbuchausgabe.

7

Pound, 1956, S. 132f. lässt Eva Hesse den Canto LXXXI aus den Pisaner Gesängen mit der Stelle beginnen, die Brinkmann 1957 und 1975 zitiert: »Was du innig liebst, ist beständig – der Rest ist Schlacke«. Das englische Wort »dross« verändert Brinkmann zu »Dreck« und lässt so sein Gedicht »Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i.O. für H.P.« enden. Im Vechtaer Nachlass befinden sich Kopien der Liebesgedichte an Elisabeth Piefke (gleiches Namenskürzel wie Ezra Pound). Eine der handschriftlichen Sammlungen unter der Überschrift »Gedichte 57/58« trägt das englische Zitat aus der genannten Pound-Auswahl: »What thou lovest well remains, the rest is dross. Ezra Pound in: Pisan Canto LXXXI«. Auch ohne Kenntnis des vollständigen Textes wird es für einen die Mitschülerin beeindruckenden Auftritt gereicht haben.

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skripte waren allerdings völlig ungeordnet und zudem zerrissen.«8 Als eines der wichtigeren Dokumente darf das Ablehnungsschreiben vom 16. Mai 1963 des damaligen Lektors bei Kiepenheuer & Witsch gelten, in dem Dieter Wellershoff wegen der »Schwächen Ihrer Lyrik« dem Autor den eingereichten Gedichtband Vorstellung meiner Hände zurückschickte. Darin muss man auch den Grund für Brinkmanns Reaktion sehen. Wenn alle Annahmen und Behauptungen zutreffen, dann hat Brinkmann danach alle Gedichtsammlungen zerrissen und sie sind dann in die Hände von Peter Hackmann gelangt. Darunter finden sich drei Lyrikbände, aus denen lediglich wenige Gedichte in anderen Fassungen von Brinkmann publiziert wurden. Die drei hier im Mittelpunkt stehenden Typoskripte sind erhalten unter den Titeln: Don Quichotte auf dem Lande: Gedichte 1959/1961 rolf diether brinkmann (Typoskript Durchschlag, 44 ungez. Blätter DIN A 4) Die wiederholte Schöpfung: Materielle Gedichte 1960/1963 (Typoskript, 31 ungez. Blätter DIN A 4) Vorstellung meiner Hände: Gedichte. 1963 (Typoskript, 34 ungez. Blätter, DIN A 4; beim Verlag eingereichte Fassung mit handschriftlichen Korrekturen des Autors und handschriftlichen Anmerkungen von Dieter Wellershoff sowie dem nicht zerrissenen Ablehnungsbrief).

8

Peter Hackmann: Rolf Dieter Brinkmann im Literaturkurs. In: Blinklichter. Mülheim/Ruhr 1985, S. 27. In diesem Heft erläutert der Deutschlehrer Dr. Peter Hackmann, wie er mit seinen Schülern im Schuljahr 1983/84 die Texte rekonstruierte. Der editorische Dilettantismus begann beim Zusammenkleben der in der Mitte durchgerissenen Papiere mit handelsüblichen Klebestreifen, die zum Verschwinden der unter dem Streifen befindlichen Texte beitragen. Die Seiten wurden nummeriert, nach Prosa und Lyrik getrennt, teilweise mit Inhaltsverzeichnissen versehen usw. Überliefert sind auf diese Weise 250 DIN A-4 Blatt Prosa, 314 DIN A-4 Blatt Lyrik und ca. 30 Notizzettel unterschiedlichen Formats in fünf schmalen Aktenordnern. Die erste Beschreibung mit Inhaltsangabe unternahm der Bibliotheksdirektor in Vechta, Dr. Gunter Geduldig, im Mitteilungsheft der Brinkmann-Gesellschaft: Orte und Räume 2004/2005, S. 39-60. Dort auch die Nachweise über die (wenigen) bereits von Brinkmann in anderen Fassungen veröffentlichten Texte aus diesem Nachlass.

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Ohne der editorischen Aufarbeitung vorzugreifen, will die folgende Interpretation lediglich bemerkenswerte Grundzüge der lyrischen Produktion eines Autors vor der schmerzlichen Ablehnung durch einen bedeutenden Literaturverlag erschließen. Und in der Tat zeigen die frühen Gedichte, wie sich Brinkmann an die Moderne heran arbeitet und wie er die ersten Gehversuche in der Primanerlyrik mit sehr bemerkenswerten Texten überwinden konnte. Der Teilnachlass erlaubt einen informativen Blick in die Schreibwerkstatt des Autors.

I

»P OÈTE MAUDIT « UND DER IN DER S CHULE

E XISTENTIALISMUS

Moderne bedeutet für den noch sehr jungen Brinkmann die Begegnung mit dem Existentialismus. Schon in der Schulzeit kann man das belegen. Die Schüler des »Gymnasium Antonianum« in Vechta trafen sich regelmäßig an Sonntagen, um nach strengen Regeln literarische Texte vorzutragen oder kleine Vorträge zu halten. Das Protokollbuch (eine Kladde) der »Rhetorika Vechtensis« dokumentiert in meist zwei- bis dreiseitigen Zusammenfassungen den Verlauf und die wesentlichen Thesen oder auch Vorfälle, die manchmal zu hitzigen Diskussionen oder Strafaktionen führten. Über Brinkmann berichtet vor allem die erste der beiden in der Vechtaer Bibliothek aufbewahrten Kladden (Protokolle vom 22.11.1953 bis 15.12.1957), denn die zweite reicht weit über den Abgang Brinkmanns von der Schule hinaus (12.1.1958 bis 18.6.1961). Im Alter von 16 Jahren tritt er mit mehreren Vorträgen über den Existentialismus hervor. Die Reihe beginnt am 13. Mai 1956: »Im ausgearbeiteten Vortrag sprach Brinkmann über das Thema »Der Existenzialismus und sein geistiges Konzentrat.« Kritiker Diekmann erkannte lobend an, daß Brinkmann sein Thema vorher bekanntgegeben hätte. Er kritisierte jedoch, daß der Vortragende nicht genügend das Wesen des Existenzialismus erklärt hätte. Diekmann bemängelte ferner an den Ausführungen Brinkmanns, daß die Zuhörerschaft z.B. über Begriffe wie »die intellektuelle Mode« oder der »existenziellen Prosa« vollkommen im Unklaren gelassen wurde. Der Kritiker erklärte, daß wir durch ein gewisses konfessionelles Vorurteil nicht unvoreingenommen über den Existenzialismus urteilen könnten, was Brinkmann in seinem Vortrag gefordert hatte. In der anschließenden Diskussion wandte sich Brinkmann scharf gegen den Kritiker und versuchte alle Gegenargumente Diekmanns zu widerlegen. Im weiteren Verlauf der Diskussion

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unterstrich Tenzer die Kritik Diekmanns und wandte sich gegen den Satz »Leben ist das Sein zum Tode«. Womit er verstanden haben wollte, daß ein Fortleben nach dem Tod nach der Existenzphilosophie nicht möglich sei. Die Versammlung wurde aber sowohl von Brinkmann als auch vom Kritiker aufgeklärt, daß es viele Varianten der Existenzphilosophie gäbe, bei denen es durchaus möglich sei an ein Fortleben nach dem Tode zu glauben. Der stellvertretende Vorsitzende brach die Diskussion ab, da Brinkmann uns in denn kommenden Sitzungen noch zwei Vorträge über den Existenzialismus halten will, nach denen ein (sic!) Diskussion zweifellos fruchtbarer sein wird.«9

Schon zwei Wochen später, am 27. Mai 1956 folgte der zweite Vortrag, in dem Brinkmann »den Begriff Existentielle Prosa« erklärte und dann über den »Aufbau des Existentialismus« sprach.10 Am 3. Juni 1956 beschließt er seine Reihe: »Im ausgearbeiteten Vortrag beendete Brinkmann seine Vortragsreise mit Untersuchungen über die linksradikale Seite des Existentialismus. Er gab in seinem Vortrag Charakteristiken führender Existentialphilosophen wie: Martin Heidegger, Jean Paul Sartre. Heidegger, so sagte er, habe die Vorstufe zu Sartre gelegt. Im Ganzen sei die existentielle Form Sartres die schärfste in dieser philosh. Richtung. Brinkmann ging darauf auf das Hauptwerk Sartres ein: »Das Sein und das Nichts«. In seinen Ausführungen über das »Nichts« nahm er »Die Einführungen in die Existenzphilosophie« von Emanuel Mau-

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Protokollbuch der Rhetorika Vechtensis. Bibliothek Vechta (ohne Signatur). Einige Abbildungen bringt der Ausstellungskatalog »Vechta! Eine Fiktion!.« Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann. Hg. v. Gunter Geduldig und Ursula Schüssler. Osnabrück 1995, S. 64-67. Die handschriftlich mit Füller geschriebenen Protokolle sind fortlaufend in die Kladde eingetragen. Die Vechtaer Bibliothek besitzt die beiden Kladden aus der Schulzeit Brinkmanns. Vorträge über Benn, Rimbaud, Alain Fournier und Lesungen von Gedichten Rilkes, Pounds und Benns sind dort bezeugt.

10 Leider fehlen weitere Angaben. Lediglich der Hinweis auf die Frage: »Inwiefern sind Augustinus und Sokrates zu den Existentialisten zu rechnen« lässt erkennen, dass Brinkmann mit dem später erwähnten Bändchen von Emmanuel Mounier: Einführung in die Existenzphilosophien. Bad Salzig 1949 gearbeitet hat. Dort findet man auf S. 11 eine Graphik in Form eines Baumes (»Der Existentialistische Stammbaum«), dessen Wurzelwerk mit den Namen Sokrates und Augustinus geschmückt ist.

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mirs zu Hilfe, worin es hieß: Sartre stellt uns ein einfaches Beispiel vor Augen: Ein Esel jagd (sic!) einen an einen Stab befestigten Maiskolben nach, den er aber nie erreichen kann. Zudem sei der Mensch von Geburt an zur Freiheit und zum Leben (verbannt) verdammt. Zum Gottesproblem sage Sartre: Der Mensch besitzt vollständige Freiheit, also kann kein höheres Wesen über ihm stehen. Der Geist wird als Geist gedacht, aber ein Geist kann nur aus sich selbst Geist hervorbringen. – Weiterhin sagte Brinkmann, daß der dialekt. Materialismus und die nihilistische Richtung der E – Philosophie die Endstadien neuerer Geistesentwicklungen seien, beides müsse man aus sich selbst heraus zu überwinden suchen. – Kritiker Diekmann bemängelte das Fehlen des Existenzphilosophen Jaspers und legte dar wie wir gerade an Jaspers die Struktur der E – Philosophie erkennen könnten. Brinkmann lehnte jede Stellungnahme zur Kritik ab, da er fürchtete, daß der Vortrag zerredet werden würde.«11

Zuletzt sorgt Brinkmann für einen Tumult, als er am 19. August 1956 für den Lesevortrag »einen Auszug aus einem Werk von Sartre vorlegen wollte«. In der heftigen Debatte weigern sich die katholischen Mitglieder der Versammlung, »das Stück weder anzuhören noch selber zu lesen«, worauf Diekmann und Brinkmann aus Protest die Sitzung (sie erhalten eine Rüge) verlassen. Auch am 16. September 1956 gelingt es Brinkmann, die Katholiken zu schockieren, indem er eine Bibelstelle (Offenbarung 3,16 »Er sprach über den Satz: Weil du weder kalt noch warm bist, will ich dich ausspeien«) existentialistisch auslegt. Einer der Kritiker bemerkt, es sei ihm schon klar, »was hier Brinkmann bezwecke. Außerdem gehöre Brinkmanns Ausführung, in der er Sartre und Existenzphilosophie erwähnte, nicht unter solch einen Satz.«

11 Emmanuel Mounier: Einführung in die Existenzphilosophien. Bad Salzig 1949, S. 62-71 das Kapitel über »Das Nichts« mit dem Esel-Beispiel S. 64. Schon bei Mounier ist das Bild vom Esel aus dem Kontext gerissen. JeanPaul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übersetzt von Justus Streller. Reinbek b. Hamburg 1985, S. 275: »ein vulgäres Bild« um zu zeigen, dass wir uns selbst nie einholen können. Die Übersetzung war 1952 erschienen. Ob das Buch überhaupt konsultiert wurde, ist nicht nachweisbar. Die Unsicherheiten des Protokollanten zeigen, dass die Zuhörer teilweise überfordert waren.

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Kein Zweifel: Brinkmann galt als Existentialist. Das bestätigt die Aussage der Jugendfreundin Elisabeth Piefke: »Brinkmann war berühmt-berüchtigt, schon aufgrund seiner Kleidung. Es wurde erzählt, er sei ein Existentialist«.12 Aber alle diese Äußerlichkeiten und Anekdoten wären nicht aussagekräftig ohne den Hinweis, den die Gedichte geben. Brinkmann kultiviert nicht nur in der schwarzen Kleidung, sondern auch in der Lyrik den Typus des modernen Poeten, wie ihn Sartre in seinem 1953 in deutscher Sprache erschienenen Essay über Baudelaire konstruierte. Zieht man eine kleine Auswahl von sprachlichen Wendungen aus den Gedichten heran, wird schnell deutlich, vor welchem Horizont der junge Brinkmann auch unmittelbar nach seiner Schulzeit schreibt. Aus der Sammlung Don Quichotte auf dem Lande stammt der Vers: »und widersprich aller Metaphysik« (Aufforderung an den Ritter de la Mancha), in der Sammlung Die wiederholte Schöpfung ist mehrfach die Rede vom Mitleid, »verkommen im Mitleid« (Schließe die Tür), »viehisches Mitleid« (Der verdammte Tod des Henri-Louis Destouches), »mein entsetzliches/Mitleid stirbt/unter der Last/physischer Bedürfnisse« (Le Chante du Monde (sic!)), von der »Katastrophe/unsres Daseins« (Schließe die Tür) ist die Rede, mehrfach vom missratenen Dasein, vom »Widerspruch zum cartesischen Daseinsbeweis« (Die Wahrheit) oder es wird der damals kultisch gelesene Céline gefeiert. Aus Anlass seines Todes 1961 stilisiert ihn Brinkmann zum Märtyrer des Existentialismus und beginnt mit den pathetischen Worten »Er/ist tot«. Das Céline – Gedicht liefert auch den Titelvers der Sammlung: »in aller Stille/geschah es, daß in ihm die Schöpfung sich/wiederholte, das große Heilsgeschehen« (Der verdammte Tod des Henri-Louis Destouches). Selbstverständlich taucht der ganz nach Sartre klingende Schöpfungsbegriff ständig auf, so in Kleist, ein Liebeslied, das ein Rollen-Ich sprechen lässt: »Worte, diese/Eitelkeit unter der ich leide, maßlos/die mein Hirn sprengt und heraus/quillt die Schöpfung noch/einmal in rohem/Zustand«. An einigen Stellen finden sich zwischen den Gedichten und Gedichtentwürfen hin und her wandernde Lieblingsformeln, die nur auf die Lektüre philosophischer Texte zurückgehen können: die »Ungenüge einer Schöpfung« (Die Bombe in meinem Kopf« und »Die Wahrheit) oder das offensichtlich sehr beliebte »Drängen des Bewußtseins« (Wid-

12 Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Hg. v. Gunter Geduldig und Marco Sagurna. Vechta 1994, S. 57.

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mung) verraten das Studium phänomenologischer Schriften. Das längere Gedicht »Die Widmung« wirft mit den Zentralbegriffen »Zeit«, »Schöpfung«, Bewußtsein«, »Dasein«, »Verzweiflung« und »Sterben« nur so um sich und kondensiert sie in einem einzigen Abschnitt, dem zweiten, zu einer Kurzeinführung in das moderne Lebensgefühl. Der Grundgedanke von der »wiederholten Schöpfung« gehört zum Kernbestand der Poetologie und Literaturtheorie bei Sartre. Im Baudelaire entwickelt Sartre die Urszene der Moderne aus der »Ur-Wahl« (»choix originel«)13, der unbedingten Entscheidung zur Vereinzelung. Zwischen sich und die Welt »drängt« sich das sich selbst beobachtende Bewusstsein, das die Empfindung seiner »Sinnlosigkeit« und Flucht vor dem »Abgrund« zu der Aufgabe führt, sich »unaufhörlich selbst (zu) erschaffen«.14 Das, so Sartre, könne man nun an Baudelaire lernen: »Und er hat wohl erkannt, daß mit diesem Bewußtsein etwas in der Welt aufspringt, das zuvor nicht darin war: die Bedeutung. Also vollzieht das Bewußtsein unaufhörlich und überall eine fortgesetzte Schöpfung. Baudelaire hat diesem aus dem Nichts Hervorbringen, das für ihn den Geist charakterisiert, eine solche Bedeutung beigemessen, daß die rein kontemplative Schlaffheit seines Lebens durch und durch von schöpferischem Elan durchzogen wird.«15

Nur im Schöpferischen besteht die reine Freiheit, wodurch es teil hat an der Grundlosigkeit des Bewusstseins: »gewollte, immer wieder überdachte, zum Ziel erhobene Grundlosigkeit«.16 Der herstellende Akt des Poeten lässt sich von daher phänomenologisch beschreiben als eine absolute Schöpfung, als die Wiederinbesitznahme der Welt. Die an sich unmögliche Synthese von menschlichem und dinglichem Sein gelingt im »dichterische(n) Ereignis Baudelaire«. Seine Gedichte sind »körpergewordene Gedanken«.17 Schon in der frühen Moderne lokalisiert Sartre einen Umgang mit Dingen, der für Brinkmann kennzeichnend werden sollte:

13 Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Ein Essay. Übertragen von Beate Möhring. Hamburg 1953, S. 15. 14 Ebd., S. 18f., 24, 33f. 15 Ebd., S. 35. 16 Ebd., S. 36. 17 Ebd., S. 141 und 144.

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»Baudelaires ganzes Streben ging dahin, sein Bewußtsein wieder zu gewinnen, um es zu besitzen wie ein Ding, das man in der Hand birgt. Und darum greift er nach allem, was etwas dinghaft Bewußtem gleicht: Parfüm, gedämpftes Licht, ferne Musik. Für ihn sind es begrenzte, lautlose, ihm zugängige Bewußtseinszustände«18

Die im Gedicht apostrophierten Dinge beruhigen das Verlangen, Gedanken zu greifen: Rolf Dieter Brinkmann wird den Band Die wiederholte Schöpfung mit dem bezeichnenden Untertitel Materielle Gedichte versehen. Nach beiden Richtungen, in die Materie und ins Geistige, überschreiten diese Dinge sich selbst, sie sind porös für das Materielle und das Transzendente. Es fällt leicht, auch die Titel der beiden anderen Gedichtbände phänomenologisch zu deuten, weil sie auf diese Phase der ersten Orientierung des Autors zurückgehen. Der seltsam erscheinende Titel des ersten Bandes Don Quichotte auf dem Lande verweist nicht nur auf den »Ritter, der sich an der Kirche stößt«19, sondern auf Kierkegaard als Vorläufer des modernen Existentialismus, eben als den »Don Quichotte der Existenz«20, bei dem schon das typische Verfahren der philosophischen Aufladung von Wörtern aus dem Alltag durch Deutung aus ihrem ursprünglichen Sinn sichtbar wird.21 Außerdem bot der Ritter von der traurigen Gestalt ein willkommenes, weil bekanntes Bild für den heroischen, zum letzten, unbedingten Einsatz bereiten Menschen, der eben darum aus der bürgerlichen Gesellschaft herausfällt und »wider den Spott der Welt« als »Narr« dasteht, wie es im Titelgedicht heißt. Brinkmanns »Aufforderung« zur Auflehnung präsentiert exakt den existentialistischen Ritter in seiner ganzen Entschlossenheit zur Selbstgefährdung, wie ihn phänomenologische Deutungen seit Unamuno sehen wollten.22 Dass Brinkmann mit diesen frühen Gedichten die Beschränkung des ländlichen Lebens in seinem Geburtsort abschütteln musste, ist

18 Ebd., S. 143. 19 Mounier, Einführung, 1949, S. 25. Er verwendet dieselbe Schreibung des Namens »Quichotte« wie Brinkmann. 20 Mounier, Einführung, 1949, S. 88. 21 Mounier, 1949, S. 8. 22 Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie. 4., erw. Aufl. Stuttgart 1955, S. 30f.

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ebenso ausgemacht wie sein unbändiger Drang nach Anschluss an die moderne Kunst. Der ohne Erfolg beim Verlag eingereichte Band Vorstellung meiner Hände trifft mit dem klugen Titel (er erinnert an Karl Krolows Gedichtband Unsichtbare Hände von 1962 oder an die Plastik La main (1947) von Alberto Giacometti) genau den Schwebezustand zwischen Präsentieren und Imaginieren, den Sartre umrissen hatte. Der menschliche Selbstbezug enthüllt am eigenartigen Verhältnis zu den Extremitäten seine Besonderheit. Denn das Bezogensein auf den Körper ist die elementare Erfahrung für die Beziehung zur Welt. Der Leib oder die Hände sind nicht einfach Dinge oder Werkzeuge, sondern Teil der bewussten Struktur des Bewusstseins.23 Die »Vorstellung« der »Hände« ist zugleich der Hinweis auf die Faktizität des Inder-Welt-Seins wie auch seiner Überschreitung. Fassbar und unbegreiflich zugleich steht der Körper als Zeichen für das Unfassbare des Ichs wie für das Unbegreifbare der Existenz im Vollzug. Die »Vorstellung« der Hände handelt vom Konkreten, Vorzeigbaren, und vom Abstrakten des Schreibens, von einer Tätigkeit, die zwar von konkreten Handlungen bedingt ist, dennoch aber jenseits solcher Bestimmungen liegt. Die Körpermetaphorik des Existentialismus eignet sich bei Brinkmann hervorragend für den Vergleich mit der künstlerischen Arbeit.

II

P OETOLOGISCHE G EDICHTE

Insbesondere bei der Reflexionslyrik in den drei Sammlungen ist Brinkmann sehr bemüht, eine philosophische Haltung herauszustellen. Im längeren Gedicht Die Wahrheit (Die wiederholte Schöpfung S. 19f.) spricht ein Rollen – Ich über sein Verhältnis zur Wahrheit: »Wider/meine Herkunft« sei die Wahrheit gesetzt, die »aufrecht« stehe »zwischen Wachsein und Schlaf«. Das Ganze sei »in Widerspruch zum cartesischen Gottesbeweis« zu denken und »wider den freien Fall«. Neben der maschinenschriftlichen sind mehrere handschriftliche Fassungen überliefert, die den Arbeitsprozess belegen und dokumentieren, wie Brinkmann um Eigenständigkeit beim Umgang mit den philosophischen Texten kämpft. Eine weitere maschinenschriftliche Fassung mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen ersetzt den Titel durch Selbstvernichtung. (undatierte Blätter S. 13-14). Dort lautet

23 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1985, S. 429.

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der Beginn: »Wider/meine Herkunft, dem zufälligen Menschsein«. Mit deutlicherem Bezug auf die existentialistische Position spricht das Ich dann auch vom Aufbegehren gegen die Beschränkungen: »dagegen (erhebe) empöre ich mich und vernichte mich selbst durch die Wahrheit« (mit Tinte am Rand). Zuletzt trägt die im Verlag eingereichte Fassung des Gedichtes dann den Titel Mein endgültiges Ende, sie enthält die beschriebenen Neuerungen und bringt die prägnantere Formulierung: »dagegen vernichte/ich mich selbst durch die Wahrheit«. (Vorstellung meiner Hände 1963, S. 19). Wenn beim jungen Brinkmann auch nur der Grundgedanke des Durchbrechens der Existenz im permanenten Setzen von Akten der Befreiung angekommen sein sollte, führen die Gedichte doch vor, dass diese Orientierung zu einer Steigerung der Produktivität gereichte. So bietet das Titelgedicht Vorstellung meiner Hände in einer Reinschrift (undatierte Blätter 33) eine ungleich präzisere Umsetzung des poetologischen Bildes als das später beim Verlag eingereichte Typoskript: »Vorstellung meiner Hände Überwunden von Hast, von Haarausfall von einem Schmerz an den Dingen, der nachziehenden Gangart gichtiger Männer ähnlich und meinetwegen wie Bäume verkümmern in Mißachtung veränderter Jahreszeiten, den Sommer vertan und gleich nach dem Winter ein Herbst, endgültig vertan, so liegen sie da auf dem weißen Papier, scheintot im Krampf, unfähig zu lieben, reine

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Worte zu schreiben, Landschaften die keiner mehr betritt vom Strandgut überschüttet, toten Fischen, Kanalisation über die leichtfüßig Wort und Widerrede geht, den Rock geschürzt, verstummt sind sie vor Hass, der lange Schwänze hat als ob er (es) sich nun rächte für den Augenblick verjährten Glücklichseins.«

Anders als bei der bemühten Metaphorik mit dem hergebrachten Schiffsvergleich in späteren Fassungen deutet der an Rilke erinnernde Vers vom »Schmerz an den Dingen« auf das Eigenleben der Dinge und darauf, dass sie nicht mehr umstandslos im Wortsinne zur Hand sind. Die Dinge ergreifen den Reflektierenden nicht mehr, ihre Existenz bleibt verborgen, sie führen ein beziehungsloses Dasein, zu dem das Ich keinen Zugang mehr findet. Dadurch wird auch das Imaginieren der beschäftigungslosen Hände zu einem fragwürdigen Vorgang.24 Die Widerständigkeit der Dinge erfährt das unglückliche Bewusstsein an der eigenen Körperlichkeit. Und wie bei Gottfried Benn sind »die Worte und die Dinge«25 getrennt. Im Gegensatz zum direkt weltanschaulichen Gedicht ist hier schon die Konkretion spürbar, zu der sich Brinkmann in der Folge durchringt. Und das geschieht bisweilen in ausführlichem Dialog mit der Tradition. Mehrere Entwürfe behandeln das Thema Die Vögel und die Dichtung, Die Vögel oder über das Schreiben von Gedichten, Poesie

24 Vgl. dazu die Debatte »Die Worte und die Dinge« in: Akzente 4/1957, Heft 4. Dort auch der immer noch lesenswerte Essay von Walter Jens »Der Mensch und die Dinge«. 25 Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. v. Dieter Wellershoff. Dritter Band: Gedichte. Stuttgart 1978, S. 5.

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(zu Vögel), letzteres ein »Poème en prose« wie bei Rimbaud, Baudelaire, Eluard, mit dem Datum »18/2/63« versehen (alle in undatierte Blätter): »Die Vögel und die Dichtung Wieder sind die Vögel in der Luft und füllen sie mit Federn und Krallen und eisernen Schnäbeln, den Schlüsseln, die durch Früchte und Augen stoßen (…) an der Stelle, wo ich verwundbar bin und (wo mein Dasein) auf die Dichtung traf, öffnen sie (…) Achseln und Schultern und lassen sie offen, sie treiben durch Hälse und Ohren und verließen Gedichte durch hohe Vokale und dünne Nasale: es sind wieder Vögel in der Luft, die stürzen als Worte in Brücken und Uhren.«26

Das Thema bietet reichhaltige Referenz an die Poesie von Baudelaire, Mallarmé, George bis hin zu Bobrowski (Vogelstraßen 1957) oder Ingeborg Bachmanns Mein Vogel aus der Anrufung des großen Bären (1956) und Johannes Poethens Flüge (1959). Für Brinkmann sind aber vor allem Jacques Prévert und Karl Krolow wichtig. Die Chansons erwähnt er in Don Quichotte auf dem Lande gleich am Beginn des Gedichts »Wovon ich lebe und woran ich sterbe«. Es sind »Die Vögel aus den Gedichten Jacques Preverts« (S. 21). Geradezu inflationär zu

26 Die erste Auslassung ist eine Kürzung, die zweite betrifft eine Streichung des Autors. Zitiert in der bei Kiepenheuer eingereichten Fassung. In den handschriftlichen Anmerkungen kritisiert Wellershoff die zahlreichen »Leiernden Verbindungen« wie »Federn und Krallen«, »Früchte und Augen« usw.

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nennen sind die Verweise auf Karl Krolow. Schon in den frühen Liebesgedichten zitiert er aus Kurze Nächte ein Motto und viele Titel der ersten Sammlung finden ihr Pendant bei Krolow: Augenblick im Sommer in Krolows Sommerlich, Brinkmanns Ländlicher Sommertag in Krolows Auf dem Lande, das auffällig im Titel der Sammlung wiederkehrt. Im poetologischen Gedicht über die Vögel heißt es in einer Fassung über die herabstoßenden Vögel, dass »keine Mühsal« dagegen helfe, »keine Grammatik, kein Gedicht«. Und zuvor schon, im Gedicht »Frühjahrstag« (Don Quichotte auf dem Lande S. 8) steht zu lesen: »(…) bilde dir nicht ein, die halb schon erdachte Grammatik enthielte die Vogelflüge bereits im voraus«

womit Brinkmann ein weiteres wanderndes Zitat verwendet. In Karl Krolows Verhandeln ist zwecklos (1954) wird nicht nur die Vogelmetapher für die Lyrik zitiert, sondern auch die Grammatik erwähnt: »Hinten im Zugwind/Steht die Grammatik des Dichters und wartet.«27

Das wandernde Zitat, wie im schon erwähnten Falle des Zitats aus Ezra Pound, ist bei Brinkmann aber Anlass für eine erneute, immer wieder erneuerte Bearbeitung des Themas. Die publizierte Sammlung »Ihr nennt es Sprache« bringt 1962 den Text Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes mit den Versen: »die angewandte Grammatik enthält nichts über Wetteraussichten und sie mißt dem

27 Karl Krolow: Gesammelte Gedichte I. Frankfurt a.M. 1965, S. 131. Ein Essay zum Thema Vögel und Dichter bei Michel Butor: Ungewöhnliche Geschichte. Versuch über einen Traum von Baudelaire. Frankfurt a.M. 1964, S. 154-162.

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Vogelflug nicht die geheime Formel bei leichter zu sein als die Schwermut (…)«28

Und in fortschreitender Verknappung taucht im Band Ohne Neger (1965) der »Vogel am leeren Winterhimmel« auf, dessen Flug durch den Raum nur noch »ein Klischee« genannt wird.29 Die Lakonie im Stile von Jean Follain und William Carlos Williams''30 Gedicht über einen Vogel als Bild für das Unbekannte (The Unknown) hat zu Figuren des Einfachen, Unauffälligen und Direkten geführt, die aber nicht weniger vorraussetzungsreich sind als die ausführliche Referenz. Die nackte Schönheit des Dings, die Follain31 und Brinkmann feiern, soll im Gedicht ganz nüchtern ausgestellt erscheinen – und ist dennoch ein höchst dialogischer Akt der Setzung durch Streichung des längst Gesagten. Dies vor allem kann man dem Teilnachlass entnehmen: Brinkmann feilt an den Texten, um eine eigene Sprache zu finden und er setzt sich intensiv mit Traditionen auseinander, die er als Fermente nutzt und in neuen Kontexten zu verwandeln sucht. Die Wiederaufnahme und Umarbeitung oft nach Jahren ist ein Verfahren der Inversion, in dem Bestandteile der Tradition in sich selbst gekehrt gegen das bloße Fortschreiben von Bekanntem genutzt werden können. Auch diese Technik muss Brinkmann erst für sich entdecken. Der Teilnachlass bietet viel-

28 Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 17. 29 Ebd., S. 78 und S. 136 dasselbe Gedicht unter dem Titel »Vogel« in »Was fraglich ist wofür« (1967). Vgl. auch Briefe an Hartmut, 1999, S. 70 über das Gedicht in der Druckfassung. Und William Carlos Williams: Gedichte. Amerikanisch und deutsch. Übertragung von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a.M. 1962, S. 114f.: »Gibt es dich/mein schöner Vogel« (1941 für »Paterson«). 30 Walter Helmut Fritz: Das Problem der Lakonie im zeitgenössischen Gedicht. In : Lyrik von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster. Hg. v. Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler. Frankfurt a.M. 1981, S. 259-263. 31 Die »poésie des choses« verdiente eine eigene Studie. Schon die Buchtitel von Jean Follain wie Les Choses Données (1952), Objets (1955) oder Tout instant (1957) sind für Brinkmann genauso wegweisend wie die Poetik Williams und O´Haras.

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fache Gelegenheit und zahlreiche Studienobjekte für das langsame Entstehen einer Schreibweise.

III D IE

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Die erste Phase der Werkgenese ist jetzt erst nachvollziehbar und in ihrer Bedeutung verstehbar. Innerhalb des gesamten Projekts einer nachholenden Moderne in den fünfziger Jahren kann der junge Brinkmann durchaus seinen Platz beanspruchen. Natürlich dominieren die Suchbewegungen. Ganz offensichtlich beschäftigt sich Brinkmann mit dem Expressionismus, der durch die neue Ausgabe der Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus (1920) im Jahr 1959 nach vierzig Jahren keinesfalls bloß dokumentarischen Wert beanspruchen konnte, sondern nun auf eine junge Generation von Autoren traf, die neben der Anknüpfung an noch lebende Vertreter wie Benn und Becher eigene Wege suchte. Benns Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts kam 1955 auf den Markt. Und in der »Rhetorika Vechtensis« spricht Brinkmann nicht nur über »Ein Menschenbild um 1920« (13. Januar 1957), sondern auch über August Stramm (2. Februar 1958). Kein Wunder also, dass der junge Brinkmann ausgiebig expressionistische Vokabeln zitiert. Selbstverständlich finden sich in Hülle und Fülle die zeittypischen Formeln wie »schwarzes Vogelgelächter«, die »toten Spiegel«, die »schwarzverfallenen Spiegel« oder Verse, die das Komische nicht immer vermeiden wie »die Füchsin lacht im Dunkeln« und »der Kuckuk fiel unter Amnestie«, aber solche Verse begegnen dem Leser eben auch bei anderen Autoren. Worin läge der Unterschied zu Karl Krolows »Alter Sinn gurrt wie ein Tauber«, zur »Heiterkeit der Aubergine« oder zu Bildern wie »Negermädchen verschenken ihr Schwarz an die Wolken«?32 Man muss nur die Bandbreite des »lyrischen Weltbildes der Nachkriegsdeutschen« (Peter Rühmkorf) beachten, um die Gefahr der Nähe, aber auch den Abstand Brinkmanns dazu ermessen zu können. Eine Zeit, in der Gedichtbände unter dem Titel Die heile Welt (Werner Bergengruen 1950, dem die Liebesgedichte an Elisabeth Piefke ein Motto verdanken) erscheinen, ist weit entfernt von der zeitgleichen Lektüre und Anlehnung an Mallarmés Les Fenêtres, dem er ein Motto

32 Karl Krolow, Gesammelte Gedichte I, 1965, S. 107, 129, 183.

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für die Liebesgedichte entnimmt: »Je me mire et me vois ange!«33 Die Spiegelung im Fenster der Erkenntnis bedeutet, die poetisch geformte Sprache, das literarische Bild als eine Form der Erkenntnis anzunehmen und ernst zu nehmen. Die intensive Aneignung der Moderne – sie äußert sich in der ausholenden Zitatpraxis, die Bergengruen, Bachmann, Mallarmé, Pound, Benn und Prévert nebeneinander stellt – gleicht einem umfassenden Versuch der Materialisierung des Bewusstseins in der Wiederholung moderner Positionen. Eine Wiederherstellung, eine Wiederholung gibt es bekanntlich nur im Existentiellen. Während die Zeit und das äußere Leben einfach fortschreiten, gibt es die Wiederholung nur als Wiedererweckung einer schon einmal verwirklichten Existenz.34 In diesem Sinne versammelt Brinkmann seine ganze Kraft im Augenblick und macht die Wiederholung zu einer Erfahrung der Gegenwart. Alle Figuren des Rückgriffs dienen dazu, die Herrschaft der Zeit zu brechen35, die unmittelbare Begegnung in der Präsenz herzustellen. Der existentielle Leser Brinkmann verleibt sich das Gelesene ein, um es neu zu erfinden, so wie Sartre das in seiner Literaturtheorie lehrte.36 Im Akt des Lesens und Schreibens – bei Brinkmann ohnehin kaum auseinander zu halten – gehören weder Autor noch Leser »mehr dieser Welt an: sie haben sich in einen reinen Blick verwandelt«37. Wie für kaum einen anderen Schriftsteller gilt für Brinkmann, dass er die unaufhörliche Tätigkeit des Hervorbringens als eine Möglichkeit der Existenz betreibt. Aus biographischen Anekdoten kennen wir die Arbeit in der Essener Buchhandlung, in der Brinkmann Zugang zu den Neuerscheinungen hatte, nicht anders als in der späteren Kölner Zeit, in der die Kiepenheuersche Verlagsbuchhandlung ihrem Autor erlaubte, alle Neuerscheinungen kostenlos zu nutzen, und man berichtet vom ständigen Vermitteln des Schreibprozesses nach außen in Diskus-

33 Stéphane Mallarmé: Sämtliche Gedichte. Französisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Carl Fischer. Heidelberg 4. Aufl. 1984, S. 26 f:: »Seh ich als Engel mich gespiegelt! tod und leben! – Ob in dem fenster mir die kunst die mystik glüht" 34 Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, 1955, S. 117. 35 Ebd., S. 118. 36 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Übertragen von Hans Georg Brenner Hamburg 1958, S. 29. 37 Ebd., S. 80.

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sionen und Gesprächen.38 Das Sammeln von Büchern gleicht sich immer mehr dem Leben selber an: mehrmals, so schreibt er in den Briefen an Hartmut, habe er in seinem Leben »Bibliotheken gesammelt und wieder verkauft«, aus purer Geldnot.39 Die Erfahrung des permanenten finanziellen Mangels ist für Brinkmann die Herausforderung, alle äußeren Setzungen abzustoßen. Im Wiederholen der Moderne gewinnt er dafür die Möglichkeit zum Vollzug eines Bestimmten, das aber in der ästhetischen Erfahrung als solcher auch nicht aufgeht. In einer Welt, in der alle selbstverständlich hingenommenen Wertvorstellungen fragwürdig geworden waren, suchte Brinkmann nach einem Halt. In der historischen Situation der späten fünfziger Jahre, in der er zu schreiben beginnt, spürt er das Fehlen einer Fluchtburg in der sinnlos gewordenen Außenwelt. Mit seiner ruhelosen und rastlosen Suche in der Kunst handelt sich Brinkmann aber ähnliche Probleme ein wie die Existenzphilosophen. Wo die Philosophen lediglich das unbedingte Sich – einsetzen predigen, als etwas »nur formal zu Bestimmendes«40, wo die Philosophen also bloß eine vorübergehende Antwort für eine Krisensituation bieten konnten, da macht sich Brinkmann die Grundfrage ganz zu eigen. In der Kunst verselbständigt sich das existentielle Sich – einsetzen zu einer Ästhetik der Präsenz, die den Schreibenden zum permanenten Einsatz zwingt.

IV K OORDINATEN DES W ERKS : ÄSTHETIK DER P RÄSENZ Betrachtet man das spätere Werk aus der Perspektive der Anfänge, so lässt sich vielleicht folgende Position vertreten: schon früh kristallisiert sich bei Brinkmann die bedingungslose Haltung heraus. Die frühe

38 Too much. Das lange Leben, 1994, S. 97-108 im Beitrag von Ralf-Rainer Rygulla. Und Wellershoff, In der Arena, 2008. 39 Briefe an Hartmut, 1999, S. 114f., 156, 162, 164, 180, 210 und der Hinweis auf die Amerika-Häuser. 40 Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, 1955, S. 128. Auch Hans Heinz Holz: Jean Paul Sartre. Darstellung und Kritik seiner Philosophie. Meisenheim 1951, S. 107ff. unterstreicht die Kritik Bollnows an der Existenzphilosophie als Ausdruck einer Krise; beide fordern daher ihre Überwindung.

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Erfahrung der Andersartigkeit und Erregbarkeit führt Brinkmann zu dem Versuch, radikal aus der Existenz heraus zu denken und dafür ein Kunstprogramm zu entwickeln. In den einzelnen Augenblicken des Kunstwerks sieht er Momente eines aufs höchste gesteigerten Daseins, das, sobald es wieder absinkt, nach Erneuerung verlangt. Gerade das Zurücksinken in den schäbigen Alltag soll die auf Permanenz gestellte Ästhetik der Präsenz unterlaufen. In der weitest möglichen und überhaupt denkbaren Angleichung von Kunst und Alltag soll einerseits die Differenz zum Verschwinden gebracht werden. Andererseits sieht Brinkmann in der Kunst aus dem erbarmungslosen Fremdwerden, aus dem Zurückgeworfensein auf das isolierte Ich heraus den einzigen Zugang zu Grenzsituationen, die er im Schreiben erfährt. Die seinem Werk eigentümliche Schärfe und Unnachgiebigkeit stammt aus einer tiefen Verzweiflung wie auch aus der Einsicht in die Ausweglosigkeit. Man ist versucht, die Koordinaten des Werks als konsequente Umsetzung dieser Ästhetik der Präsenz aufzufassen. Allerdings musste der Präsentismus immer neue Gestalt annehmen und erwies sich als immer neue Herausforderung. Das Gefühl des Ausgesetztseins, die Haltung der Kompromisslosigkeit und die auch der unmittelbaren Umgebung nur schwer nachvollziehbare ständige Empörung des Autors bleiben wohl konstant.41 Wahrscheinlich wird man sie als bewegende Faktoren für die anhaltende Produktivität werten müssen. Sie sind Garanten für das Aufspüren immer neuer Wege im Umgang mit der Unruhe als eines ästhetischen Prinzips. Alle Experimente, alle Formzitate, die umfängliche Dialogizität der Werke und das schier unglaubliche Ausmaß der Aufnahme von Vorgefundenem haben ihr Gemeinsames im Hervorbringen der künstlerischen Medialität. Sie sollen garantieren, dass im Verschränken von Abstraktion und sinnlicher Präsenz das mediale Potential der Kunst optimal genutzt werden kann. Am Beginn kultiviert er den »poète maudit«, den metaphysisch obdachlosen, in der Schule glücklosen Modernen, der in der Freizeit als Sartre – lesender Katholikenschreck auf dem Lande herumrennt. Bald nach der Schulzeit kommt weitere Weltliteratur hinzu. Robbe-Grillet und Henry Miller prägen die Prosa, William Carlos Williams, Robert Creeley, Burroughs, Kerouac und andere die Lyrik. Die Auskunftsfreude in den Briefen an Hartmut korrespondiert der zunehmenden Bewegung über die Literatur hinaus.

41 Wellershoff, In der Arena, 2008, S. 4-6, 10, 16.

N ACHHOLENDE M ODERNE

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Rygullas Heftchenkäufe in London, das Sammeln der Pornographie und der »underground« – Publikationen, geschäftsmäßig betrieben, versorgt ihn mit Stoff für die Anthologien. Zahllose Hinweise auf den Jazz, auf den Rock´n´Roll und die Filme belegen die Suche nach unerprobten Wegen. Schließlich die Abkehr von der Printliteratur und der Übergang zu Film und Rundfunkproduktionen. Dort, im Audionachlass, wird dann deutlich, dass alle Unternehmungen Brinkmanns diesem einen Ziel dienten: eine zeitgemäße Ästhetik der Präsenz zu finden, die, den puren, auch völlig belanglosen Augenblick kommentierend, der Kunst eine neue Leistung der Vermittlung abgewinnt. Er zieht alles, was er finden kann, in die Kunst hinein und er unterzieht alles und jedes der Prüfung für die Tauglichkeit als Element in einer Ästhetik der Gegenwärtigkeit. Auch das Zitierte. Das macht seine Position schwierig, weil sie schon immer auf einer zweiten Ebene argumentiert. Die Betonung der Bewegung, die in den Essays und Briefen genannte Bedeutung des »Gehens«42, das sind alles Hinweise auf die Bewegungen des Bewusstseins selber, auf die Gänge und Wege, denen es nachspürt. Zitiertes, der Rhythmus eines Gedichtes, der bloße Umgang mit dem Material sind in ihrer Gestalt aussagekräftig. Das Wegtreiben und Vorankommen mit und im Material, das Erzeugen von spezifischen Zuständen des Materials gibt ihm Augenblicke erhöhter Intensität. »Wie konkret die Welt ist!«43 – der Ausruf fasst Erstaunen und Entsetzen in eins und lenkt hin zur permanenten Aufgabe der Intensivierung von Erfahrung. Zugleich aber sollen alle Weisen der Wiederaneignung von Wirklichkeit die Paradoxien der Repräsentation überwinden, auf eine letzte Referenz nicht verzichten.44 Dem Reizmaterial aus einer total medialisierten Umwelt entnimmt Brinkmann Dinge und Ereignisse, als geschehe ihre Wahrnehmung das erste Mal. Brinkmanns Restitution einer ungewohnten Art von imaginativ – sinnlicher Kunst unterstellt durchaus überraschend die Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung von Wirklichkeit. Immer radikalere Formen nimmt der Präsentismus an, immer zwanghafter reagiert das Kunstwerk darauf, den direkten Zugriff auf die Assoziation beweisen zu können mit der Aufnahme rein zufälliger und damit auch willkürlicher

42 Briefe an Hartmut, 1999, S. 47-50, 53, 57, 73, 79. 43 Ebd., S. 122. 44 Was zum naiven Wiedererkennen von Orten und Personen verleitet, sobald man die ästhetische Strategie ausblendet.

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Elemente. Nicht immer kann man Brinkmann folgen, wenn er schon das einmal aufs Papier gesetzte Wort als jenen Zwang empfand, der für ihn jede spontane Reaktion rechtfertigte45, als eine Variante der modernen Kunst aber war diese Position einmal an der Zeit.

45 Ebd., S. 140.

Kreis, Punkt, Linie Poetische Verfahren und Medialität in R.D. Brinkmanns Die Umarmung, Die Stimme und Godzilla. M ARION H ILLER

In der Forschung zu Rolf Dieter Brinkmann lassen sich einige einseitige Gewichtungen feststellen. Konzentrieren sich die Arbeiten bis ca. 2000 vor allem auf poetologische Fragestellungen – auch im historischen Kontext der Pop-Literatur und in Bezug auf ›Augenblicklichkeit''1 – und werden diese hauptsächlich an den essayistisch-autobiographischen Äußerungen der Pop-Phase, an Westwärts1&22 sowie den 1

Vgl. z.B. Jörgen Schäfer: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, und den späteren Aufsatz mit vergleichbarer Stoßrichtung: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Pop-Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003, S. 69-80, vgl. v.a. S. 77, sowie Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2003, der auf die entscheidenden Punkte (vgl. v.a. S. 59f., 82, 91, 105-109) verweist, sie aber nicht an einzelnen (poetischen) Texten herausarbeitet.

2

Vgl. z.B. Hansjürgen Richter: Ästhetik der Ambivalenz. Studien zur Struktur »postmoderner« Lyrik – exemplarisch dargestellt an Rolf Dieter Brinkmanns Poetik und dem Gedichtband »Westwärts 1&2. Frankfurt a.M. u.a. 1983.

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posthum veröffentlichten Materialbänden3, kaum jedoch an den früheren poetischen Texten festgemacht4, so bezieht sich die spätere Forschung – auch entsprechend der allgemeinen Interessenlage in den Literatur- bzw. Kulturwissenschaften – größtenteils auf intermediale Fragestellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Text und Bild sowie Film.5 Diese nehmen wiederum – sinnfällig – vorwiegend die späten Materialbände sowie Godzilla, aber auch Westwärts 1&26 in den Blick.

3

Vgl. z.B. Thomas Groß: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. Stuttgart u.a. 1993.

4

So wird die Erzählung Die Umarmung lediglich in einer Rezension von Marcel Reich-Ranicki (In: Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller in den sechziger Jahren. Erweiterte Ausgabe 1991. 2. Auflage. München 1992, S. 104-109, wiederabgedruckt in: Brinkmann: Schnitte im Atemschutz. Hg. v. Karl-Eckhard Carius. München 2008, S. 36-39) behandelt. Bezüge in der Forschungsliteratur finden sich meines Wissens nur bei Olaf Selg (Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel: Prosaformen bei Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 2001), allerdings nur in knappen Verweiszitaten (vgl. S. 182f.), nicht jedoch in Analyse der Gesamterzählung. Ansonsten wird lediglich auf den Erzählband als solchen, mit kurzen Ausführungen zu Der Arm, Das Lesestück und Der Riß, Bezug genommen (vgl. Thomas Bauer: Schauplatz Lektüre. Blick, Figur und Subjekt in den Texten R. D. Brinkmanns. Wiesbaden 2002, S. 197-200). Auch Genia Schulz (Brandblasen der Seele. Zur frühen Prosa und späten Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. In: Merkur 39, H. 441 [1985], S. 1015-1020) beschränkt sich auf die erste und die letzte Erzählung des Zyklus, Der Arm und Der Riß (vgl. S. 1016-1018).

5

Vgl. Petra Gropp: Rolf Dieter Brinkmann »… und tarnen das Ganze als Kunst!« Intermedialität als Strategie der Schrift im Prozess kultureller Rekonfigurationen. In: Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte. Hg. v. Christian Schärf. Tübingen 2002, S. 175-193.

6

Vgl. z.B. Thomas Wild: Bild Gegen Satz. Rolf Dieter Brinkmann und Thomas Brasch: Kunst als Kampf gegen das juste milieu. Mit einem unbekannten Brinkmann-Gedicht von Thomas Brasch. In: Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Roger Lüdeke und Erika Greber. Göttingen 2004, S. 341-371.

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Medialität zieht sich jedoch offensichtlich durch das gesamte Œuvre Brinkmanns, nicht bloß in der fast durchgängigen Thematisierung von Wahrnehmung, sondern vor allem in der Verhandlung des Verhältnisses von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, somit in der Frage nach der Medialität und einer möglichen Nicht-Medialität des Weltverhältnisses überhaupt. Zugespitzt findet sich dies in dem fortwährenden Umkreisen des Verhältnisses von Realität und Fiktion, und zwar sowohl auf der Ebene der Präsentation als auch auf der des Dargestellten. Gerade darin verweisen die Arbeiten Brinkmanns auf sich selbst und ihre jeweils eigene Vermitteltheit, auf ihre Schriftlichkeit, auf ihr Zwischen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, auf das Verhältnis von Schrift und Bild und beziehen den Leser und Betrachter nicht nur in diesen Prozess mit ein, sondern führen ihn fast zwangsläufig in Prozesse der Selbstreflexion hinsichtlich seines Anspruchs an Wahrheit, Realität, Bestimmtheit und Verbindlichkeit der Werke. Fast unmerklich überschreiten diese somit die vermeintliche Grenze von text- bzw. werkinternem und -externem Bereich, von Fiktion und Realität, und verfahren somit im grundlegenden und umfassenden Sinne performativ. Diese Verhältnisse manifestieren sich in den ausgewählten Arbeiten vor allem in Strukturen des Kreises, der Linie und des Punktes, die symbolisch werden für Prozesse des Kreisens (in der Wahrnehmung, der Reflexion, der grundsätzlichen Vermitteltheit), der linearen Zielgerichtetheit (der Intention, der Entscheidung, des Versuchs des Ausbruchs aus der Vermittlung) und für das Geschehnis des punktuellen Herausspringens, der Ekstase, in die Unmittelbarkeit im kairotischen Moment. Gerade die Möglichkeit des Letzten wird in dem chronologischen Zusammenhang der ausgewählten Arbeiten zunehmend in Frage gestellt, und zwar vermittels symbolischer Prozesse aus Punkt, Linie und Kreis: Die punktuelle Ekstasis wird ständig – in der chronologischen Reihe auch vermehrt auf der Ebene des Diskurses – als notwendiger Flucht- und Rettungspunkt aus der Vermitteltheit und Isolation des Individuums anzitiert, linear anvisiert und zunehmend direkt durchkreuzt, in die Schwebe der Fraglichkeit gebracht und auf eine zirkuläre, in sich geschlossene Bewegung hin abgebogen.

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I.

K REIS , P UNKT , L INIE UND DIE M ÖGLICHKEIT DES KAIROTISCHEN M OMENTS : »D IE U MARMUNG «

Hinsichtlich der Möglichkeit eines kairotischen Moments sowie der relativen Unterscheidbarkeit von Fiktion, subjektiver sowie intersubjektiver Realität gestaltet sich Die Umarmung7 optimistisch, wenn auch überaus komplex. Das in dieser Hinsicht entscheidende Verfahren stellt die Technik der erlebten Rede dar, die zu dem Zeitpunkt der Niederschrift des Erzählbandes, von 1962-64, zwar längst traditionell geworden war, die hier jedoch konsequent zu ihrem Ende geführt wird: als Sexualisierung des gesamten Diskurses. Die letzte Behauptung ist auf der Ebene der Diegese unmittelbar klar. Es geht in einer durchaus homogenen Welt um eine Liebes- bzw. sexuelle Beziehung zwischen einer Er-Figur und einer ebenfalls anonymen ›Sie‹, von gemeinsamen Verabredungen zum Kaffee oder ins Kino nach der Arbeit, sonntäglichen Spaziergängen im Park, Kaffee bei ihm zu Hause bis zum ersten gemeinsamen sexuellen Akt, der für sie – im Gegensatz zu ihm – tatsächlich der erste ist, über die iterativ geschilderten Wiederholungen desselben bis zur Schwangerschaft und zu ihrer – in der Erzählung lediglich impliziten – Mitteilung an ihn, die die Jetztzeit der Erzählung darstellt. Diese Geschichte, die ich hier als ›plot‹, als motivierten Zusammenhang, rekonstruiert habe, lässt sich als solche rekonstruieren, jedoch nur mit erheblichem analytischen und abstrahierenden Aufwand, der nicht allein auf die Technik der erlebten Rede, sondern vor allem auf die Präsentation von Zeit in der Unbestimmtheit der Zeitpunkte zurückzuführen ist. Dem Leser stellt sich die Erzählung als Fluss von Geschehnissen und Episoden dar, deren Grenzen und Übergänge sich nicht anzeigen und deren zeitliche und logische Verortungen innerhalb der Erzählung zunächst nicht deutlich werden. Dem entsprechen die Effekte der erlebten Rede: Das epische Präteritum erzeugt ein Zwischen von Atemporalität und Präsenz sowie den Eindruck von Unmittelbarkeit bei gleichzeitiger Distanzierung durch das Hervortreten des Faktums der Narration (im Präteritum), die Verwendung der dritten

7

Die Zitate folgen der Ausgabe Rolf Dieter Brinkmann: Erzählungen. In der Grube/Die Bootsfahrt/Die Umarmung/Raupenbahn/Was unter die Dornen fiel. Reinbek 1985.

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Person, die Unmöglichkeit der Differenzierung der Gedanken- und Erinnerungsflüsse der Er-Figur von dem Erzählen eines Erzählers bei gleichzeitig evidenter Präsenz beider. In dem Erzählen in der dritten Person ist eine Instanz jenseits des Protagonisten implizit stets mit anwesend, lässt sich jedoch an keiner Stelle in ihrer genauen Differenz zum Protagonisten bestimmen. Mit dieser schwebenden Präsentationsweise hängt die Fokalisierung zusammen: Ist diese intern auf den Protagonisten bezogen, so werden von der Partnerin jedoch nicht lediglich äußere Beschreibungen gegeben, sondern auch solche innerer Befindlichkeiten. Gerade aufgrund der erlebten Rede ist – anders wie beim inneren Monolog oder gar ›stream of consciousness‹ – zumeist nicht zu entscheiden, ob es sich um Annahmen und Projektionen seinerseits, oder um textintern als wahr gekennzeichnete Beschreibungen seitens der mitsprechenden Erzählinstanz handelt.8 Diese Unbestimmtheit wird noch gesteigert, indem sich an einigen Stellen Signale finden, die darauf hinweisen, dass es sich um Einschätzungen seinerseits handelt: »was sie gewiß auch selber wusste«9, »erriet, wie sie schon den ganzen Abend dagesessen haben mochte […], um es ihm zu sagen und um sich nicht allein damit bis Donnerstag abquälen zu müssen«10. Aus diesen Markierungen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass in den anderen Fällen Wechsel der internen Fokalisierung auf ›Sie‹ und insofern textintern verlässliche Aussagen vorliegen. Vielmehr sind gerade auch hier die Grenzen nicht mit Bestimmtheit festzulegen. Einen ›plot‹ auszumachen, ist auf zweierlei Weisen nur in dem Heraustreten aus dem Erzählfluss möglich: zum einen als Rekonstruktion aufgrund des textexternen Wissens des Lesers, Mann-Frau, Sex, Schwangerschaft, denn die Erzählung ist – auch entsprechend Brinkmanns eigenen Forderungen – ›nah am Leben‹, literaturwissenschaftlich ausgedrückt, die erzählte Welt ist homogen, uniregional, stabil und möglich, zum anderen ist die Konstruktion eines erzählten Zusammenhangs möglich aufgrund der Erzählung als schriftlicher. Sie bietet als solche die Möglichkeit der Wiederholungslektüre und des analysierenden Quer- und Hin-und-Her-Lesens.

8

Vgl. z.B. S. 166 unten, 167 oben und Mitte.

9

S. 168, H.v.m.

10 S. 178, H.v.m.

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Die Erzählung provoziert diese analysierende Wiederholungslektüre geradezu, und die Rekonstruktion des ›plots‹ ist – neben den wenigen Markierungen zeitlicher Art (ist Werktag oder Sonntag, Nachmittag oder Abend?) – vor allem auf die Übergänge von einer Episode in die andere verwiesen, wobei diese Übergänge festzustellen und zu verorten oftmals nicht (zumindest nicht eindeutig) möglich ist. Die Übergänge sind größtenteils keine genau begrenzten Schnitte oder punktuell, sondern – filmtheoretisch gesprochen – Überblendungen. Sie sind zumeist zeitlicher Art, in der Regel Analepsen, oftmals verbunden mit iterativen Schilderungen, und erst, wenn das Ende der Erzählung mit dem Anfang zusammengelesen wird, kann überhaupt der Zeitpunkt des Erzählens deutlich und die geschilderten Geschehnisse als Erinnerungs- und Gedankenflüsse der Er-Figur können erkennbar werden. Der fast kreisförmige Übergang vom Ende zum Anfang – die erzählte Zeit muss denkbar kurz sein – ist für die Erzählung paradigmatisch.11 Wird auf der Ebene des Diskurses Manches deutlicher, so gerät das zu Beginn Geschilderte nachträglich ins Fließen: Erscheint die Eingangssequenz beim ersten Lesen am ehesten noch als die Darstellung eines Orgasmus12, so erscheint die Sequenz vom Ende her gelesen erstens unmotiviert und zweitens in dem, was dargestellt wird, unbestimmbar (Orgasmus, verkappter Orgasmus, Müdigkeit?). Was einzig klar bleibt, ist, dass hier Vorgänge im Körper des Protagonisten beschrieben werden, in welche die Sexualorgane involviert sind. Auffällig ist, dass der Protagonist darin alleine erscheint, während er vom Ende her gelesen seiner Geliebten gegenüber sitzt. Doch diese Isolation wird an keinem Punkt der Erzählung überwunden, selbst dann nicht, als der Protagonist zum einzigen Mal »Rührung« und

11 Überdies für den gesamten Erzählband, worauf Sibylle Späth (Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989) hinweist (vgl. S. 20). 12 »Es war grau, ein graues, träges Gefühl, das er in sich aufkommen spürte, langsam, zäh, was sich dann auseinanderzog, das nicht schon in den Fußgelenken begann, sondern erst von den Knien ab anfing in ihm hochzusteigen, das in die Oberschenkel eindrang, die Schenkel ausfüllte und weiterrückte, das sich augenblicklang in der Leistengegend staute, im Schritt, bevor es ungehindert in den Unterleib strömte, wo es weiter gleichmäßig anstieg und ihn bis über die Hüften überschwemmte, ihn schwerfällig machte, plump, taub und empfindungslos, als sei er abgesackt«, S. 160.

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»Zärtlichkeit«13 empfindet, die das Hinübergehen zu der Anderen, ein Miteinandersein, Nähe, ermöglichen könnten. Diese Möglichkeit ergibt sich bedeutsamerweise auf dem Tiefpunkt der Beziehung, aus der beiderseitigen Frustration aufgrund des abgebrochenen entjungfernden Koitus, somit aus der Negation der sexuellen Vereinigung heraus: Er merkte, »daß sie vor sich hin weinte, da war es in ihm aufgeweicht, war Rührung gewesen und eine scheue, vorsichtige Zärtlichkeit, mit der er sie […] neben sich wahrnahm und ihm davon ein Bewußtsein gab […], das eine angestrengte, leicht hysterische Sentimentalität hervorrief, die ihm neu war, das heftige, jähe Bedürfnis, sich wieder zu ihr hinzudrehen, sie in die Arme zu nehmen, zu streicheln […], und er hatte sich doch nicht rühren können, sich umdrehen, und war ohne sich etwas anmerken zu lassen versteint und bewegungslos liegen geblieben«14. Dies kann einerseits als Affirmation des westlichen Liebesdiskurses gelesen werden – wird die körperlich-sexuelle Vereinigung negiert, kommt es zur emotional-geistigen Sublimation –, oder andererseits als Affirmation der Negativität gedeutet werden: In die Unterbrechung, den Bruch, das Durchkreuzen der Agitation, des Aktes, kann etwas Neues, Anderes, ein- und darin aufbrechen. Paradigmatisch für die Diegese ist jedoch die Unfähigkeit des Protagonisten, diese Möglichkeit zu ergreifen, in die Realität umzusetzen und somit wirkliche Nähe zu erzeugen. Die für ihn bestehende Unmöglichkeit, zum Anderen generell bzw. hier verdichtet zu der Geliebten, hinüber zu gelangen, erstreckt sich auf alles Erzählte: auf körperliche Gesten, das gemeinsame Erleben (Spazieren durch den Park, ins Kino Gehen, Kaffee Trinken), das Sprechen15 sowie – als Höhepunkt der Paradoxie – auf den sexuellen Akt, dessen – wenn auch stattfindende Höhepunkte – an keiner Stelle als erfüllende Vereinigung beschrieben werden, sondern die Präsenz der Partnerin und die zeitweilige Einheit mit ihr nur negativ und im Nachhinein, als ihr zunehmendes Verschwinden nach dem Orgasmus,16 in den Blick genommen wird, bis »er allein lag«17.

13 S. 174. 14 S. 174f., H.v.m. 15 Vgl. S. 177. 16 Vgl. S. 170 unten. 17 S. 171.

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Werden die sexuellen Akte in erster Linie als Bewegungen des »Vordrängen[s]«18, als – wenn auch wild-verzweifelte, so doch – linear-teleologische Bewegungen hin auf die Vereinigung beschrieben, so werden selbst diese wiederum in eine Zirkularität leerer Wiederholung abgebogen, wenn sie »bis zum Überdruß wiederholt«19 dem Protagonisten »als eine lächerliche, unsinnige Mühsal bewußt werden«20 und »daß es so nichts anderes war als ein leerer Automatismus, eine Mechanik, die in ihm in Gang kam, ein Zwang, von der Zange umklammert, als onaniere er«21. Genau dieses Scheitern des Vordringens zum Anderen und das Abbiegen der linearen Dynamik in eine kreisförmig immergleiche und insofern leere Wiederholung hinein wird diskursiv in den zahlreichen iterativen Beschreibungen, oftmals sexueller Begegnungen, vollzogen. Ist bis auf einige wenige Markierungen nicht zu entscheiden, ob es sich bei den Beschreibungen innerer Zustände der Partnerin um Projektionen seinerseits oder um von seinem Bewusstsein (relativ) losgelöste Aussagen handelt, so wird das fast ausschließliche Kreisen des Protagonisten bzw. der Narration in sich doch dadurch deutlich, dass ›Sie‹, bezogen auf die Partnerin, im Vergleich zu ›Er‹ kaum Erwähnung findet; ein Ungleichgewicht, das nicht zwangsläufig aus einer internen Fokalisierung auf ›Ihn‹ folgen muss. Eine der wenigen Stellen, an denen sie in ihrer Befindlichkeit, als relatives Gegenüber, hervortritt, zu ihm hinüber gelangt und eine reale und ihr angemessene Reaktion in ihm auslöst, stellt die Episode des ersten Koitus dar. Was zu ihm hinüber gelangt, ist zwar auch nicht sie selbst, »sondern etwas in ihr, das sie vergeblich niederzuhalten versucht hatte, das sie nicht aus sich hatte herauslassen wollen und das ihr doch entwichen war als halber, halb zurückgelassener Schrei, der ihr von unten herauf bis in die Kehle gestiegen war, dagegen sie nicht mehr hatte anschlucken können«22. Doch wenigstens dies ›aus ihr‹ gelangt augenblickshaft zu ihm hinüber und lässt »ihm ihre Angst, ihre Schmerzen, das Stechen im Unterleib, das Reißen, Zerreißen, das

18 S. 169. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 S. 172.

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Ziehen mit einem Mal klar werden«23, führt zum Abbruch des Koitus und löst in ihm etwas später momenthaft, punktuell, die bereits beschriebene, ihm neue Empfindung wach, deren inhärente Möglichkeit, eine andere Dimension der Beziehung aufbrechen zu lassen, er nicht realisieren kann. Auf der Ebene des Erzählten kommt es nur in einer Hinsicht zu einem realisierten Neuen, das die beiden Protagonisten überschreitet und als Drittes von deren Vereinigung zeugt: auf biologischer Ebene als Embryo. Dies ist bei dem Fokus der Erzählung auf körperlichsinnliche Empfindungen konsequent, konsequent ist jedoch auch die Behandlung dieses Ereignisses: Erscheint der sexuelle Akt fast ausschließlich als zwanghaftes Kreisen aufgrund eines nicht beherrschbaren Triebes und führt der abgebrochene Akt zur Empfindung eines krebsartigen Wuchern des Geschlechts, das den gesamten Körper ›wegfrisst‹ und den Protagonisten gänzlich ersetzt24, so wird die im Vergleich (»als sei er nur eine einzige, krebshafte Wucherung neben ihr«25) beschriebene Empfindung als Metapher auf den Embryo übertragen: der »gierige[…], gefräßige[…] Keim, der sich in ihrem Bauch festgesetzt hatte, […] der sich daran mästete sich breit machte und in ihr sich auswucherte […], was nicht einmal mehr zu ändern sein würde, indem sie es sich wegmachen ließe«26. Dieses fortdauernde und in sich festgesetzte Kreisen findet seine Entsprechung in dem Vergleich der Liebesbeziehung mit einem Film bzw. dessen Abspielen: »wie im Film […], die billige, dumme Klamotte, auf die sie bereitwillig eingegangen waren, die sich nun in diesem schiefen, brüchigen Rahmen weiterdrehte«27. Realisiert sich eine Film-Projektion linear, so wird sie in dem Abspulen des immergleichen Films wiederum in eine Zirkularität abgebogen bzw. in ihr aufgehoben. Linearität und Kreisen in sich erscheinen – je nach Ebene – als sich wechselseitig inkludierend und setzen sich somit infinit fort. Dadurch gerät nicht die Erzählung als Ganze in Analogie zum Film – die Möglichkeiten des Ausbruchs wurden geschildert –, wohl aber das Erleben des Protagonisten, in dem die immergleichen Wahrneh-

23 Ebd. 24 Vgl. S. 173f. 25 S. 174. 26 S. 180. 27 Ebd.

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mungen und Empfindungen ablaufen und auf die Umgebung, sei es auf sein Zimmer (vgl. die Entsprechung seiner Empfindungen nach dem abgebrochenen Koitus28 und die Wahrnehmung seines Zimmers29) oder seine Mitmenschen – als wären sie eine neutrale Leinwand – projiziert werden. Der Protagonist erscheint so – in Analogie zu seinem Verhältnis zur Sexualität30 – als Filmprojektor, als Filmabspulmaschine, der den einmal festgelegten Film, das Muster seiner Empfindungen, immer wieder abspielen muss und auf seine Umgebung projiziert. Dem Verhältnis von Zirkularität und Linearität entspricht dasjenige von nicht realisierter Möglichkeit und Wirklichkeit, passiver Unentschiedenheit und Entschluss sowie von Starre und Bewegung. Die Diskrepanz von Möglichkeit und Wirklichkeit wurde bereits auf dem anfänglichen Tiefpunkt der Beziehung nach dem Abbruch des ersten Koitus deutlich, indem der Protagonist eine ihm neue Empfindung31 von »Rührung« und »Zärtlichkeit«32 nicht in sich zu-wendende Bewegung umsetzen, »sich doch nicht rühren […], sich umdrehen«33 kann und stattdessen »ohne sich etwas anmerken zu lassen versteint und bewegungslos liegen«34 bleibt. Ihre Zuspitzung erreichen diese Verhältnisse in den Reaktionen des Protagonisten auf die (bloß rekonstruierbare) Mitteilung der Schwangerschaft. Besteht seine erste Reaktion in einer für die gesamte Erzählung einzigartigen Bestimmtheit hinsichtlich des Endes der Beziehung, was einen Ausbruch aus der Unentschiedenheit35 bedeuten

28 Vgl. S. 173f. 29 Vgl. v.a. ab S. 175 Mitte. 30 Vgl. auch »besessen davon [von ihrem Fleischmaul] und durchgedreht, verrückt, verrückt geworden, ein verrückt gewordener, irrer, durchgedrehter Automat« (S. 170), wobei durch den Anschluß mit »die Pumpe, der Kolben, der saugte, der saugte, der stampfte, um es loszuwerden, aus sich herauszupumpen, zu spritzen« (S. 170) der Protagonist mit seinem Penis zusammenfließt, sich in diesem auflöst. 31 Vgl. S. 174. 32 Ebd. 33 S. 175. 34 Ebd. 35 »[…] womit [der Schwangerschaft] es doch ganz klar, ganz eindeutig zwischen ihnen zu Ende gegangen war, aus und vorbei, verspielt […], was

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würde, so wird diese lineare Bewegung hin auf eine bewusst bestimmte Wirklichkeit am Ende der Erzählung nicht bloß wiederum in die Zirkulärität und Unentschiedenheit von Möglichkeiten abgebogen, sondern sowohl auf der Ebene des Diskurses als auch der Diegese auf die Spitze getrieben. Die Weise, wie der Embryo von dem Protagonisten vorgestellt wird, bestätigt zunächst das Ende der Beziehung: Die früheren »gemeinsamen Augenblicke[…]«36 sterben ab, werden zu einem »Kadaver, der […] nun weggefressen wurde von dem gierigen, gefräßigen Keim«37, dem Embryo. Die darauf folgenden Phantasien über die Geburt lassen sich jedoch nicht mit der Realitätskenntnis des Lesers in Übereinstimmung bringen: Den »menschlichen Kloß« würde sie »irgendwann in den nächsten Monaten aus sich herauspressen […], schreiend, stinkend, was nicht einmal mehr zu ändern sein würde, indem sie es sich wegmachen ließe«38. Auf diskursiver Ebene heben vor allem die Übergänge zwischen Indikativ und Irrealis die Zukunft der Beziehung in die Unentschiedenheit und – auf Seiten des Lesers in die – Unentscheidbarkeit. Folgt auf die Feststellung der Unausweichlichkeit der Geburt der im Indikativ formulierte und insofern textintern als real markierte Verweis auf die Unmöglichkeit einer medikamentösen Abtreibung (»was […] ohnehin nicht mehr mit Pillen aus ihr herauszuspülen gewesen war«39), so wird diese Unmöglichkeit im Irrealis imaginiert (»[…], wie es in dem weißen, glasierten Klosettbecken geschwommen hätte«40) und geht in die Feststellung »um danach weiterzumachen oder von neuem

bis dahin all die Zeit, die es zwischen ihnen gedauert hatte, ohnehin nichts anderes gewesen war als schwebender, ungewisser und etwas haltloser Zustand, der sich zufällig ein wenig verlängert hatte, von Monat zu Monat, eine Dauer, die sie weiter hätten ausdehnen können, darüber sie sich aber mit einem blinden, einfältigen Vertrauen hinweggesetzt hatten, war es ihnen manchmal allzu deutlich geworden, wie leichtsinnig es im Grunde war, sich ohne Vorsicht, ohne Verhütungsmittel zu lieben […]« (S. 168). 36 S. 180. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd., H.v.m.

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zu beginnen«41 sowie in den Vergleich mit dem Nachmittag der ersten sexuellen Begegnung und den Filmvergleich über. Gerade nach der Imagination der medikamentösen Abtreibung (»[…], wie es […] geschwommen hätte, schnell und leicht fortgespült von dem herunterstürzenden Wasserfall, ab in die Klärgrube und Sand darüber gestreut, vergessen«42) geraten die Äußerungen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit ins ›Schwimmen‹. Erscheint die Feststellung »um danach weiterzumachen oder von neuem zu beginnen«43 in ihrer Unentschiedenheit und bezogen auf den Irrealis zunächst als Bestätigung der Unmöglichkeit, das frühere Beziehungsmuster fortzusetzen, so wird diese Deutung vor allem durch den zweiten Teil der Äußerung, »oder von neuem zu beginnen« irritiert. Er erscheint zunächst als Alternative (›oder‹) zu dem ersten Teil, was zudem durch ›neu‹ und ›beginnen‹ im Gegensatz zu ›weitermachen‹ bestätigt wird. ›Von neuem‹ suggeriert jedoch eine Wiederholung, rückt die Aussage somit in semantische Nähe zu dem ersten Teil, und ›Beginnen‹ konterkariert das frühere Beziehungsmuster geradezu. Die Unmöglichkeit, den Aussagen einen bestimmten Gehalt zuzuschreiben, wird in den folgenden Ausführungen gesteigert, nicht zuletzt durch das anschließende Anakoluth, das alternativ auch als Personifikation der ›Idylle‹ gelesen werden kann: »um danach weiterzumachen oder von neuem zu beginnen, wie eine sommerliche, freundliche Idylle«44. Sowohl das Anakoluth als auch die alternative Personifikation werden durch die syntaktisch und logisch korrekte Weiterführung durch »wie an dem Nachmittag im Stadtgarten«45 im Nachhinein aufgehoben, durch die semantische Entsprechung jedoch fortgeführt. Der Höhepunkt der Irritation wird in den näheren Bestimmungen des Films erreicht. Dieser wird syntaktisch zunächst parallel zu der ›Idylle‹, im Vergleich (»wie im Film«46), eingeführt, die näheren Bestimmungen jedoch vermittels eines Anakoluths (»wie im Film, heiter,

41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

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ein heiteres Flimmerbild, Kintopp, die billige, dumme Klamotte […]«47) angeschlossen. Lassen sich die Aussagen bis ›Kintopp‹ noch auf den Irrealis beziehen, so folgt nach »die billige, dumme Klamotte« die Fortführung im Indikativ als textintern reale Beschreibung des Beginns der Beziehung: »auf die sie bereitwillig eingegangen waren«48. Sowohl die syntaktischen als auch die semantischen Verbindungen werden im Unklaren gelassen, und der Vergleich mit einem Film, der zunächst noch auf den Irrealis bezogen ist, wird aufgegeben zugunsten des Ablaufens des Films selbst, der zudem textintern als real und präsentisch sich fortsetzend präsentiert wird: »die billige, dumme Klamotte, auf die sie bereitwillig eingegangen waren, die sich nun in diesem Halbdämmer, diesem schiefen, brüchigen Rahmen weiterdrehte«49. Mit den vorigen Äußerungen zusammen gelesen, ist weder der momentane noch der zukünftige Beziehungsstatus zu erschließen. Erscheint der ›Halbdämmer‹ als der ›schiefe, brüchige Rahmen‹, in dem sich die ›Klamotte‹, die Beziehung, ›weiterdreht‹, so ist nicht zu entscheiden, wovon die Beziehung abhängt, von den momentanen Lichtverhältnissen (?) und wann und wodurch und inwiefern überhaupt der brüchige Rahmen zerbrechen könnte. Den paradoxen Höhepunkt bildet das durch Komma angeschlossene »er wollte ihr das sagen«50, wodurch der Satz, der mit »Er«51 beginnt und sich über fast drei Druckseiten erstreckt, abgeschlossen wird, und »er« nach der Schilderung gemeinsamen sexuellen Erlebens (»er über sie gebeugt«52) zum ersten Mal wieder erscheint. Doch genau diese Identität, die das ›Er‹ impliziert, wird sogleich wieder zurückgenommen in der Unfähigkeit, sein Wollen zu realisieren. Ebenso paradox erscheint das eine Bestimmtheit suggerierende ›das‹ (das, was er ihr sagen will) dadurch, dass es sich auf den vorausgegangenen Höhepunkt der Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit zurückbezieht. Die Unfähigkeit des Protagonisten, zu der Partnerin hinüberzugelangen, wird in der hier aufgezeigten Unfähigkeit, überhaupt zu spre-

47 Ebd., H.v.m. 48 Ebd. 49 S. 180f. 50 S. 181. 51 S. 178. 52 S. 179.

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chen, auf die Spitze getrieben. Stattdessen sieht er – selbstbezogen, quasi zirkulär in sich gefangen – »an sich herab«53, bedeutsamerweise »an der Hose entlang«54, wodurch sich der Filmvergleich bzw. die Klamotte, die sich weiterhin abspult und zunächst als Metapher für die Beziehung erscheint, im Nachhinein in erster Linie als seine innere Realität erweist. Gerade dieses Hinabsehen an sich, das die Hose an den Knien fixiert, bildet den Anknüpfungspunkt an den Beginn der Erzählung. Das dort geschilderte Gefühl bewegt sich entgegen seiner Blickrichtung im Körper von unten nach oben, jedoch von dem Punkt ausgehend, an dem sein Blick endet, an den Knien: »ein graues träges Gefühl, das […] erst von den Knien ab anfing in ihm hochzusteigen«55. Erscheint der Beginn zunächst – trotz der irritierenden Attribute ›grau‹ und ›träge‹ – am ehesten als Darstellung sexueller Erregung, unter Umständen bis zum Orgasmus (»ihn bis über die Hüften überschwemmte«56), so suggeriert das Ende eine Deutung als »Müdigkeit«57, die sich mit dem »grauen, trägen Gefühl«58 deckt59, durch die sexuellen Bezüge jedoch konterkariert wird. Am ehesten ließe sich der Beginn als das Empfinden des nachträglichen Absterbens der als ›gemeinsam‹ deklarierten Momente sexueller Begegnungen60 deuten, was sich jedoch am Ende der Erzählung – die erzählte Zeit ist gegenüber dem Beginn fortgeschritten – in »nichts« als »Müdigkeit«61 auflöst. Die Markierung hinsichtlich der erzählten Zeit, die das am Ende Geschilderte gegenüber dem Beginn eindeutig als später bestimmt, »Ihm fiel wieder ein, daß er aufstehen wollte«62 im Vergleich zu »er dachte, daß er nun ja wohl aufstehen könne«63, bestimmt den Protago-

53 S. 181. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 S. 160. 57 S. 181. 58 S. 160. 59 Vgl. »er spürte, wie müde er war, […] und wie diese schläfrige Müdigkeit in ihm grau und schwer hochstieg«, S. 177. 60 Vgl. S. 180. 61 Ebd. 62 S. 181. 63 S. 160.

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nisten ebenso eindeutig als unfähig, seine Entschlüsse in die Tat umzusetzen, sich zu »bewegen«64, »hinaus[zu]gehen«65, aus dem zirkulären Kreisen in sich und den damit verbundenen Projektionen, aus seinem Dasein als Filmprojektor, als Filmabspulmaschine, auszubrechen. Damit deckt sich die Erzählung als Ganze jedoch nicht. Auf der Ebene der histoire wird die Möglichkeit einer neuen (vgl. »neu«66) und anderen Form der Annäherung an die Geliebte aufgezeigt, und der Diskurs realisiert diese anderen Möglichkeiten auch, v.a. im Modus der erlebten Rede. Dieser beruht zwar einerseits auf der Unmöglichkeit, Figurenrede und Rede der Erzählerinstanz mit Bestimmtheit voneinander abzugrenzen, impliziert aber andererseits keinen völligen Verschluss des Diskurses in dem Bewusstseinsstrom oder dem Autonomen Inneren Monolog des Protagonisten. Vielmehr ist in dem Modus der erlebten Rede eine zu dem Protagonisten andere stimmliche Erzählinstanz stets, wenn auch nicht eigens, gegenwärtig: Das Sagen des ›Er‹ oder des ›Sie‹ impliziert stets schon ein Drittes, das zumindest immer mit-spricht und ›mit-sieht‹. Der erlebten Rede ist, auch durch das epische Präteritum im Gegensatz zum Inneren Monolog und zum Bewusstseinsstrom, eine – wenn auch nicht bestimmbare – Distanz bzw. Differenz zum Protagonisten eigen. Stellt die erlebte Rede einen Modus mittlerer Distanz dar, so finden sich innerhalb dessen Variationen von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, v.a. in dem Wechsel von der erinnernden Beschreibung zur Reflexion sowie in der Verwendung von Vergleichen. Ist dies zwar auch in dem Inneren Monolog und dem Bewusstseinsstrom möglich, so lässt sich der Diskurs bei diesen beiden unmittelbaren Modi weiterhin der einzigen Erzählinstanz, nämlich der völligen Identität von Erzähler und Figur zuschreiben. Bei erlebter Rede ist diese Eindeutigkeit – parallel zu dem eventuellen und unentscheidbaren Wechsel der Fokalisierung – nicht gegeben: Sind Distanznahmen, Reflexionen und daraus resultierende Bestimmungen wie »was rasche, schnell vorbeiziehende Gedanken waren, aufblitzende Splitter, die gleich darauf wieder abgesunken waren ins Gedächtnis, darin verlorengegangen, Einfälle, die nichts weiter

64 Ebd. 65 Ebd. 66 S. 174.

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sagten, die bedeutungslos geblieben waren«67, Selbsterkenntnisse wie »was sie lange ausdehnten, drehten, umdrehten, damit sie ihr Zusammensein ausfüllten und hinzogen, um nur noch nicht aufstehen zu müssen, sich zu verabschieden, fortgehen, bis zum nächsten Mal«68 und Zusammenhänge herstellende Vergleiche wie »ganz so, wie sie mit ihm an dem Sonntag zusammengesessen hatte«69 dem Protagonisten oder einer sich hier relativ lösenden Erzählinstanz zuzuschreiben? Was bleibt, ist die Feststellbarkeit einer Nicht-Feststellbarkeit hinsichtlich der Erzählinstanz sowie hinsichtlich einer ›Wirklichkeit‹ oder ›Wahrheit‹ innerhalb der Diegese. In der analysierenden Reflexion auf die Erzählung lässt sich ein ›plot‹ rekonstruieren, doch ist dafür das textexterne Wissen des Lesers notwendig, und der ›plot‹ bleibt als Grundgerüst (gemeinsame Treffen nach der Arbeit, Café oder Kino, Spaziergang im Park, zu ihm nach Hause, Sex, wiederholter Sex ohne Verhütung, Schwangerschaft, ihre Mitteilung an ihn, Konsequenzen für die Beziehung?) skelettartig und nichtssagend. Das, worauf es eigentlich ankommt, die Beziehung zwischen den beiden, bleibt aufgrund der herausgearbeiteten Unentscheidbarkeiten in der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit. Realisiert der Diskurs selbst Reflexionen und provoziert die Erzählung als Ganze aufgrund ihrer narrativen Komplexität und diskursiven wie diegetischen Relativität die Abstandnahme des Lesers in analysierend-abstrahierenden Reflexionen, so erweisen sich diese zwar als geeignet, einen ›plot‹ zu rekonstruieren und die Problematiken und Unentscheidbarkeiten genau zu benennen und herauszuarbeiten, aus der Relativität heraus führen sie jedoch nicht. Vielmehr werden lineare ›Vorstöße‹ und diskursive Festlegungen sowie das relative Kreisen, das die Grundstruktur von Reflexion beschreibt, entsprechend der herausgearbeiteten Verfahrensweise der Erzählung auch auf Seiten des Lesers auf immer weiteren Ebenen wechselseitig und infinit aufgehoben. Worauf die Erzählung die Aufmerksamkeit lenkt, und darin überschreitet sie sich als Erzählung, ist die Relativität der Wahrnehmung, der Empfindung und der Reflexion, und nicht umsonst erfordert die Rekonstruktion des ›plots‹ das textexterne Wissen des Lesers. Ohne

67 S. 164. 68 S. 166f. 69 S. 167.

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dieses vorausgesetzte Wissen um die bloß biologischen Zusammenhänge zwischen den Geschlechtern scheint nicht einmal die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs möglich. Die konsequente Sexualisierung der Erzählung, einerseits auf der Ebene der Diegese, andererseits auf der des Diskurses als das Verschwimmen der Grenzen und Bestimmtheiten in dem Wechsel und Ineinander von Einheit und Zweiheit, von Vereinigung und Distanzierung, setzt sich somit in quasi sublimierter Form in dem Leser fort: als erotisch konnotiertes Streben nach Erkenntnis, als Begehren und Versuch, in die Erzählung einzudringen, ihren Kern herauszukristallisieren. Genau dies entspricht den iterativ geschilderten sexuellen Begegnungen, »seitdem das sie nicht mehr viel schmerzte«70, sie sich ihm überhaupt körperlich öffnen kann. In diesen Beschreibungen überwiegen die Empfindungen der Gewalt: »in ihr herumzustochern, tiefer, tiefer, weiter hinein, weiter, tiefer in den engen Spalt hinein, den Spalt wundzuscheuern, was er dann auf ihr liegend selbst nicht mehr ganz begriff, warum überhaupt das und diese Anstrengung, diese Mühsal, dieses Pflügen, Stechen, Zustechen, dieser Veitstanz auf ihr, das wütende, verbissene Drängen, Vordrängen, Hineindrängen, Bohren, der irre, verrückte Versuch, sie, ihren Leib, den prallen Sack Blut unter sich aufzureißen, die Blutblase einzureißen und auszudrücken, diese Schweinerei, diese wüste, chaotische Schweinerei noch weiterzutreiben, die Zerstörung«71. Werden zwar die (vermutlich späteren) sexuellen Begegnungen72 im Nachhinein als »gemeinsame[…] Augenblicke[…]«73 bezeichnet, so werden auch diese, wie die Höhepunkte, nicht als erfüllende Vereinigung beschrieben. Die einzige Möglichkeit des Ausbruchs aus sich und zu der Partnerin hin besteht in dem bereits beschriebenen Abbruch des ersten Koitus und dem darauf folgenden Aufbrechen einer ihm neuen Empfindung. Den damit – und in den sexuellen Vereinigungen lediglich negativ – anzitierten ›kairotischen Moment‹, der unverfügbar die gängige Agitation durchbricht und sprunghaft etwas anderes und Neues auf-

70 S. 168. 71 S. 169. 72 Vgl. S. 178-180. 73 S. 180.

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brechen lässt, kann der Protagonist nicht umsetzen, er erscheint jedoch – bezogen auf die Erzählung als Ganze – als dasjenige, wodurch allein ein Durchbrechen des infiniten Prozesses der Relativität und Unentschiedenheit möglich ist. Ein Augenblick, der sowohl Wahrnehmung als auch Reflexion überschreitet und in dem der/die Betroffene ekstatisch, außer sich, in eine Einheit und Fülle entrückt und zugleich ganz ›bei sich‹ ist.74 Wird dies auf der Ebene der Diegese gebrochen, so verweist die Erzählung als Ganze doch genau auf diesen immer wieder anzitierten Fluchtpunkt, den (ästhetischen) Augenblick. Den Verhältnissen der Erzählung als ganzer korrespondiert der Schlagertitel ›Begin-the-Beguin‹, der für den Protagonisten »mit ihr und dem Sonntag [der ersten sexuellen Begegnung, M. H.] eins geworden war«75 und entlang dem sich die assoziativen Erinnerungen, die die Erzählung bilden, abspulen. Betont der Titel den Beginn (›Begin‹) und stellt in geschriebener Form eine Aufforderung zu dem karibischen Tanz ›Beguin‹ dar, so fallen ›Begin‹ und ›Beguin‹ phonetisch – und das heißt auch in dem gesungenen Schlagertext – zusammen. Die Differenz ist nur in geschriebener Form erkennbar, gehört wird statt der Aufforderung zum Beginnen des Tanzes die Aufforderung zum Beginnen des Beginns. Die Wiederkehr des Verbs als Objekt kann sowohl als leeres Kreisen des Beginnens in sich und somit als Nichtbeginn oder aber als absoluter Beginn, als Anfang des Anfangs im Sinne eines kairotischen Moments und als Aufforderung, diesen tatsächlich umzusetzen, gedeutet werden.

II. M EDIALITÄT DER L YRIK UND DAS POETISCHE F AKTUM DES Z WISCHEN : »D IE S TIMME « Operiert die Erzählung mit Strukturen, die geometrisch als Punkt, Gerade und gebogene Linie, als Kreis, dargestellt werden können, so sind damit die Grundoperatoren, mit denen sich ›Bild‹ realisieren lässt, versammelt. Tritt bei Erzähltexten die Zweidimensionalität von Schrift

74 Vgl. auch die Ausführungen zur Sexualität bei Kirsten Okun (Unbegrenzte Möglichkeiten. Brinkmann – Burroughs – Kerouac. Sexualität, Geschlecht, Körper und Transgression als Subversion dualistischer Denkmuster. Bielefeld 2005), S. 91-95, v.a. S. 93. 75 S. 167.

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und die Flächigkeit des Blattes nicht hervor, und realisieren sich Erzähltexte insofern linear, so ist das bei schriftlichen Gedichten anders. Hier gewinnt die Verortung von Schrift aufgrund der Versstruktur an Bedeutung, und damit tritt zugleich die Zweidimensionalität der Schrift und des Trägermediums ›Blatt‹ eigens hervor. Zugleich wird – zumindest bei Brinkmanns Gedichten aus der angegebenen Phase – die Musikalisierung von Sprache – auch im stillen Lesen – stets mitgehört. Diese Verhältnisse zeigen sich in herausgehobener Weise in dem Gedicht Die Stimme76, das als paradigmatisch für den Gedichtband Was fraglich ist wofür gelten kann. Erscheinen hier offenkundig zunächst dieselben Strukturen wie in Die Umarmung, das Verhältnis von Punktualität, Linearität und Zirkularität sowie von Einmaligkeit und Wiederholung, so stellt dieses Gedicht ›Medialität‹ jedoch in einem noch weiteren Sinne dar: vor allem hinsichtlich der Medialität von Sprache als mündlicher und schriftlicher, wodurch das Gedicht auf seine Schriftlichkeit im Verhältnis zur Mündlichkeit durchsichtig wird. Der Gedichtanfang »Wenn sie/spricht«77 wird sicherlich zunächst als Sprechen einer Frau aufgefasst, und diese Ebene hält sich auch durch das gesamte Gedicht hindurch. Auch hier gestaltet sich das Sprechen nicht als ein Hin oder Hinüber zum Anderen, sondern als ein ›Fort‹, ein ›Weg‹. Inwiefern diese negativ lineare Bewegung (nicht auf etwas hin, sondern von etwas weg) gelingt, wird über zahlreiche Doppeldeutigkeiten und Umschläge ins Gegenteil (v.a. in den Strophen drei, vier und fünf) in der Schwebe gehalten und gipfelt in einer Ambivalenz in Strophe sechs, in dem »wie/hier«78. Bestätigt das »wie/hier« zunächst die Unmöglichkeit des Ausbruchs (»nie kam/sie von//der Stelle/fort wie/hier«79), so schlägt es in dem Weiterlesen (»wie/hier, wo/sie anfing«80) in das Gegenteil um. Dies wiederum wird jedoch von dem Folgenden in der Schwebe gehalten, wo eine kreisförmige Bewegung beschrieben wird: »wie um sich//selbst gehen«81. Wird das ›Anfangen‹ als Anfang von ›Etwas‹

76 Die Zitate folgen der Ausgabe Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 147. 77 St. 1, V. 1f. 78 St. 6, V. 2f. 79 St. 5, V. 3–St. 6, V. 3. 80 St. 6, V. 2-4. 81 St. 7, V. 4–St. 8, V. 1.

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gelesen, was neben dem gängigen Sprachgebrauch auch durch den erweiterten Infinitiv »zu hören«82 provoziert wird, so bilden die Strophen sieben und acht, die dieses ›Neue‹ darstellen könnten, ein Anakoluth: »wo/sie anfing//verloren/in ihrem/eigenen Gehen/wie um sich//selbst gehen/zu hören/wo keiner ist.«83 Es gibt zwei Möglichkeiten, syntaktische Stimmigkeit zu erreichen. Die eine besteht in der Streichung von »gehen« in der Verbalform, so dass es hieße: ›wo/sie anfing//– verloren/in ihrem/eigenen Gehen/wie um sich//selbst –/zu hören/wo keiner ist. ‘ Diese ›Notwendigkeit‹ der Streichung, auf die der Leser durch das Anakoluth gestoßen wird, ist durchaus in unterschiedlichen Hinsichten performativ zu verstehen: auf semantischer Ebene sicherlich als die Unmöglichkeit, das rein verbale ›Gehen‹, die bloße Dynamik, mit einem in sich geordneten und sich aus seinen Teilen zusammenfügenden Ganzen zusammenzubringen: Eines muss ›verabschiedet‹ werden, ›fortgehen‹, die bloße Dynamik oder die Ordnung eines Ganzen. Was nach der Streichung ›übrig bleibt‹, ist die Grundbedeutung des Beginns des Hörens, »wo sie anfing//[…] zu hören«84, wobei ›verloren/in ihrem/eigenen Gehen/wie um sich//selbst‹ als Einschub gedeutet werden kann. Das Gehen wird zu einem Gehen wie um sich selbst, in dem sie sich verliert, wo keiner ist, zum Kreisen um eine leere Mitte. Die andere Möglichkeit, das Anakoluth aufzulösen, führt in ein Verständnis des Anfangs in Strophe sechs als absolutem: ›wo sie anfing‹, nicht etwas zu tun, sondern ›wo sie anfing‹ ›als sie selbst‹. Gerade diese Deutung führt semantisch jedoch in eine völlige Leere: ›Um‹ muss hier final gedeutet werden, das ›Wie‹ (›wie um sich selbst gehen zu hören‹) hebt die Absicht in die Schwebe des Vergleichs und der Abschluss, »wo keiner ist«85, sagt indikativ die Abwesenheit eines entweder männlichen Gegenübers, das eigene Nicht-Sein oder die Nicht-Existenz von Mitmenschen überhaupt. Kann das bereits angesprochene »wie/hier«86 jedoch auch als Negation des »nie«87 gedeutet werden, so wäre gerade das Sich-Verlie-

82 St. 8, V. 2. 83 St. 6, V. 3–St. 8, V. 3. 84 St. 6, V. 3f. und St. 8, V. 2. 85 St. 8, V. 3. 86 St. 6, V. 2f. 87 St. 5, V. 3.

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ren im eigenen Gehen, dieses ›Hören‹ oder ›Nicht-Hören‹ auf das – wenn auch leere – Um-sich-Herumgehen, der (Neu-)Anfang. Und tatsächlich: Wird im Gesamtgedicht weder das Sprechen noch die Stimme nochmals thematisiert, so wird in dem nochmaligen Lesen des Anfangs des Gedichts deutlich, dass ›sie‹ sich auch auf ›die Stimme‹ beziehen kann: ›wenn die Stimme spricht‹. In beiden Fällen ist das Entscheidende nicht das ›Sagen‹ und schon gar nicht das, was gesagt wird, sondern das Sprechen als solches, wie es ist (»Wenn sie/spricht/ ist das/wie ein/Gehen«88) oder aber das Medium des Sprechens, die Stimme, die in dem zweiten Fall (›sie‹ als ›die Stimme‹) mit dem Sprechenden zusammenfällt. In beiden Fällen kann (in dem ersten) oder muss (in dem zweiten) das Gedicht als die Thematisierung der Medialitäten von Sprache, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gelesen werden, worin es zugleich sich selbst in seiner Schriftlichkeit thematisiert. In beiden Fällen ist es das mündliche Sprechen, das mit ›einem Gehen‹ bzw. einem ›Fortgehen‹ verglichen wird, das hier zu einem Vergehen, einem Verklingen wird, und eng mit dem Rhythmus des Gedichts korreliert. Dies wird besonders an der Entschleunigung in den Versen zwei bis vier der zweiten Strophe aufgrund der extrem harten Enjambements deutlich: »Gehen, wie/jemand/langsam/fortgeht«. Das immergleiche Fortgehen und Vergehen wird mit der ›ständigen‹ Aktualität des mündlichen Sprechens in eine Schwebe gebracht, »wie/schon vor//Jahren/schon/ einmal/in einem//Augenblick«89. Wird der ›Augenblick‹ aufgrund des Kontextes zunächst temporal aufgefasst, so wird der Leser im Weiterlesen auf dieses Wort zurückgeworfen durch das folgende Anakoluth, das sich nicht auflösen lässt: »in einem//Augenblick/wie dieser«90. Der Augenblick wird zu diesem aktuellen Augenblick des Lesens, die Augen springen auf das Wort »Augenblick« zurück, in dem Wort »dieser« springt das Gedicht aus seinem (syntaktischen und semantischen) Zusammenhang heraus und wird deiktisch auf den Augenblick des Lesens hin. Dasselbe gilt für das Darauffolgende »nie kam/sie von//der Stelle/fort wie/hier«91, das zum einen das vorangegangene Zurückspringen fasst und zum anderen

88 St. 1, V. 1–St. 2, V. 1. 89 St. 3, V. 3–St. 5, V. 1. 90 St. 4, V. 4–St. 5, V. 2. 91 St. 5, V. 3–St. 6, V. 3.

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in dem »hier« den Bezug auf die Örtlichkeit des Gedichts als Geschriebenem herstellt. Insbesondere das Folgende »wo/sie [die Stimme] anfing//verloren/ in ihrem/eigenen Gehen/wie um sich//selbst gehen/zu hören/wo keiner ist«92 zeigt die Prekarität des Gedichts zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Im geschriebenen Gedicht ist eine Stimme und doch keine mündlich sprechende Stimme, der Rhythmus des Fortschreitens des Gedichts ist auch im stillen Lesen da, und doch ist ›da‹ ›keiner‹, der spricht. Gerade im geschriebenen Gedicht kann sich die Stimme in ihrem eigenen rhythmischen Gehen, Fortgehen und doch Da-Bleiben hören, indem sie in dem schriftlich fixierten Gedicht ver- und geschlossen bleibt, in dem immerwährenden identisch-differenten Kreisen um sich, dessen Paradoxie sich in der Wiederholungslektüre, als Lektüre desselben und doch des jeweils Anderen, aktualisiert. Die Flächigkeit des schriftlichen Gedichts, seine ›Sinnlichkeit‹ auch im stillen Lesen, die An- und Abwesenheit einer körpergebundenen Stimme und das Ineinanderfließen von weiblicher und poetischer Stimme markiert die Gedichte auch als weiblichen ›Körper‹ und somit nicht nur als Aufzeichnungen im Anderen als Sprach- bzw. Schriftkörper, sondern auch als Aufzeichnungen in einem weiblichen Medium. Zum einen bedeutet dies – angesichts eines männlichen Autors – ein erotisches Verhältnis zum Gedicht, zum anderen verfließen aber auch die Grenzen zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹, indem zahlreiche weitere Gedichte des Bandes – ob projektiv oder nicht, das ist nicht zu entscheiden – von einer männlichen in eine weibliche Perspektive wechseln.93

92 St. 6, V. 3–St. 8, V. 3. 93 Vgl. z.B. »Sie/glaubt es/am Ende/auch selbst« (»Jetzt geh!«, St. 3, V. 1-4, In: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 120).

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III. T EXT -B ILD , F IKTION -R EALITÄT UND DIE U NAUFHEBBARKEIT DES K REISENS : G ODZILLA In dem Band Godzilla94 wird der weibliche Körper noch auf andere Weise thematisch: in Photographien von Teilen weiblicher Körper als Hintergrund für die Gedichte. Auffällig ist hier, dass die Texte nicht entlang der Körperteile auf den Bildern geschrieben sind, sondern sich druckgraphisch zum größten Teil an die traditionelle Anordnung von Gedichten halten95. Innerhalb der Sammlung haben nur wenige Texte eindeutig filmische und bildliche Pornographie96 zum Gegenstand (filmisch in Andy Harlot Andy, Godzilla-Baby und Celluloid 1967/68, bildlich in Meditation über Pornos), und weder die Texte noch die Abbildungen

94 Zitiert wird nach der Ausgabe Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 159-182. Zum Verhältnis zur Originalausgabe (Rolf Dieter Brinkmann: Godzilla. Mit einer Handzeichnung von Karl Heinz Krüll. Köln 1968) vgl. die Ausführungen zum Text-BildVerhältnis. 95 Ausnahmen bilden lediglich der variable Abstand zwischen Titel und Gedichtanfang, die Verschiebung des Titels nach rechts in Godzilla, der zentrierte und gedoppelte Titel »Eier Eier« sowie die teilweise stufenförmig in sich abfallenden Verse in Celluloid 1967/68. 96 Ina Cappelmann (Bild-Körper und Körper-Bilder im lyrischen Werk von Wolf Dieter Brinkmann: Einsatz und Wirkungsweisen eines Motivs. In: Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, S. 125-142) sieht die pornographische Dimension in den Texten und Bildern lediglich in der Reduktion der weiblichen Körper auf die Geschlechtsteile und in ihrer Funktionalisierung hinsichtlich sexueller Fantasien (vgl. S. 131), bezieht dies jedoch nicht auf die Performanz des gesamten Bandes, insbesondere der Text-Bild-Verhältnisse. In dieselbe Richtung, wenn auch ohne expliziten Bezug auf Pornographie, argumentiert Liesa Pieczyk (Godzilla meets Miss Maus. Norm versus Phantasma in Rolf Dieter Brinkmanns Godzilla. In: Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, S. 143-157), wenn sie die ersten beiden Strophen des Gedichts Godzilla als »Akt der Sexualisierung Godzillas« in dem Sinne deutet, dass »ein männliches Subjekt, also die lyrische Stimme, […] Godzilla als ein Sinnbild für eigene unbefriedigte Gefühle und unerfüllte Wünsche nutzt« (S. 147).

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sind selbst pornographisch in dem Sinne, dass sie sexuelle Erregung erzeugen würden. Dennoch vollziehen die Gedichte wie auch die TextBild-Verhältnisse die Funktionsweise von Pornographie performativ, und zwar sowohl hinsichtlich des Verhältnisses von Realität und Fiktion als auch hinsichtlich der strukturellen Stellung pornographischer Abbildungen. Das Letzte gilt in besonderem Maße für das Text-Bild-Verhältnis: Zum überwiegenden Teil überschreiben die Texte das Abgebildete ohne Rücksicht auf dessen Grenzen und Bestimmtheiten und vollziehen damit – ohne selbst pornographisch zu sein – das Verhältnis der Betrachter zu einer pornographischen Abbildung: Weder das Bild noch die abgebildeten Personen treten als solche hervor, vielmehr gehen diese gänzlich in der Funktion auf, sexuelle Erregung bei den Betrachtern auszulösen. Sie bilden eine projektive Instanz innerhalb des Rückbezugs des Betrachters auf sich selbst und somit seines Kreisens in sich.97 In der vorwiegenden Reduktion der Photographien auf ein bloßes Trägermedium tritt zudem die Differenz zwischen Bild und Schrift sowie die ikonische Differenz zwischen photographischem und realem Körper hervor. Genau diese Differenz überschreitet Pornographie einerseits und andererseits gerade auch nicht. Das Funktionieren von Pornographie beruht auf der Grenzüberschreitung und zugleich der Grenzsetzung zwischen dem pornographischen ›Bild‹, ›Film‹, ›der Illusion‹ und ›der Realität‹. Die gewünschte Erregung der Betrachter resultiert aus der Imagination der betrachteten Situation als realer, zugleich funktioniert dies aber auch aufgrund der Grenzziehung zwischen ›Bild‹ und ›Realität‹. Die Pornobetrachter befinden sich in einem gewissermaßen geschützten, illusionären Raum, in dem die realkörperliche Erregung funktioniert, ohne sich dieser in aller Konsequenz real aussetzen zu müssen. Sie bleibt kontrolliert, die Phantasien bleiben möglich, müssen jedoch nicht real werden. Diese Grenzziehung und zugleich -überschreitung in Bezug auf ›Illusion‹ und ›Realität‹ vollziehen besonders deutlich das Eingangs-

97 Andreas Moll (Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt a.M. u.a. 2006) sieht in dem Abschneiden der Köpfe ein performatives Verhältnis zwischen Bild und Text in Godzilla telefoniert so gern (vgl. S. 189f.)

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gedicht Godzilla98, Godzilla-Baby99 und vor allem Celluloid 1967/68 hinsichtlich des Onanierens während des Films: »Das ist//dann selber schon ein Film, der nicht aufhört abzulaufen als Celluloid, das sich wie von selbst krümmt und dann einrollt als Gehirn […] die Hauptsache: gekrümmt wie Celluloid, wirklich Celluloid wie hier«100. Verweist ›hier‹ einerseits auf die Masturbation, so bezieht es sich andererseits – gerade als räumlich deiktische Bezeichnung – auf die Schrift auf der abgedruckten Photographie und zugleich auf den Ort und den Augenblick, an dem das Wort gelesen wird. Diese Aktualisierungen und damit zugleich die Grenzüberschreitungen zwischen textinternem und textexternem Bereich vollziehen sich auch ausgehend von dem Text-Bild-Verhältnis. Bilden die Photographien zwar insgesamt keine Illustrationen zu den Gedichten101 und passt sich die Textstruktur nicht dem Bildaufbau an, so treten die wenigen Ausnahmen besonders hervor. In Bezug auf die Druckgraphik gilt dies vor allem für den – mit Ausnahme von »Eier Eier« – variablen Abstand zwischen Titel und Gedichtanfang. Dieser scheint – wenn auch nicht eindeutig motiviert – davon bedingt zu sein, welche Teile der Abbildungen überschrieben und welche dem Blick freigegeben werden sollen.

98 Vgl. den Übergang des Konditionalsatzes im Irrealis in den Indikativ und den Schluß »und er fühlt//es tatsächlich« (S. 161). Thomas von Steinaecker (Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007) sieht in dem Eingangsgedicht ein Kreisen um die »Diskrepanz zwischen abwesend und anwesend, echt und unecht« und sieht darin zu Recht einen indirekten Bezug »auf das Thema der Fotografie, in der man ja einen realen Gegenstand als authentische Abbildung bei dessen gleichzeitiger Absenz in Händen hält« (S. 118). 99 Ist die Hausfrau mit dem Bauchschuß Teil des Pornos oder sitzt sie als Zuschauerin in einer Videokabine (vgl. S. 167)? 100 S. 172. 101 Am ausgeprägtesten zeigt sich die Differenz in der Beschreibung pornographischer Filmszenen mit der direkten Nennung der »Fotzen« und »Schwänze« (vgl. Celluloid 1967/68, S. 169) im Gegensatz zu den Photographien, auf denen die Geschlechtsteile stets verdeckt, zumeist mit Bikini oder Unterwäsche bekleidet sind.

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Zu direkten Entsprechungen zwischen Bild und Text kommt es nur punktuell, und zwar wiederum im Sinne von Aktualisierungen, wenn beispielsweise »schwarzen« aus »schwarzen Gehäusen« über die dunkle Stelle eines geöffneten Mundraums geschrieben ist102 oder das deiktische »Diese« aus »Diese Fotze ist gut«103 in vierfacher Wiederholung entlang der Stelle erscheint, an der sich die ›Fotze‹ unter der Bikinihose verbergen dürfte. Gerade dadurch, dass die Vulva selbst aber verdeckt ist, wird die Aktualisierung gebrochen und die Deutung des Betrachters irritiert: Der Betrachter wird auf sich und die Frage nach der Evidenz seiner Deutungen zurückgeworfen. Gesteigert manifestiert sich diese Dynamik bei der intentionalen Suche nach weiteren Entsprechungen und extrem hinsichtlich der Text-Bild-Verhältnisse, in denen die Semantik der Gedichte stark von den Abbildungen abweicht, so z.B. in dem Eingangstext Godzilla104. Was genau hat der Text mit der Abbildung zu tun? Stellt es eine Überinterpretation dar, den Titelschriftzug entlang der Kehle – entsprechend dem Bezug auf das Filmmonster – als Schnitt zu deuten, zumal dieser Titel als einziger des Bandes nach rechts verschoben ist? Ist es sinnvoll, hervorzuheben, dass sich »hier bin ich!« bzw. die relative Mitte des Gedichts (das ist nicht zu entscheiden) eventuell über die Stelle des Bikinis schreibt, der die Brustwarze verdeckt? Die Suche nach Entsprechungen wird zudem dadurch irritiert, dass die Abbildungen in der Originalausgabe zum größten Teil von denen in der Ausgabe Standphotos105 abweichen. Bleibt die Textgestalt zwar durchgängig erhalten, so ist dies – abgesehen von dem Farb- bzw. Schwarz-Weiß-Druck – nur bei den Hintergrundabbildungen zu Meditation über Pornos, Von C & A, Celluloid 1967/68 bei dem letzten Bild, Französisch sowie Godzillas Ende der Fall. Einige der herausgearbeiteten Entsprechungen lösen sich dadurch auf, wie »schwarzen« über dem dunklen Mundraum in Godzilla-Baby sowie der Titelschriftzug Godzilla über die Kehle hinweg, andere kommen hinzu, wie »Der Zeigefinger« am Beginn von Wichtig: Der Text überschreibt genau den Beginn des Ausschnitts und weist somit in diesen hinein.

102 Vgl. Godzilla-Baby, S. 167. 103 Meditation über Pornos, S. 162. 104 Vgl. S. 161. 105 Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 159-182.

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Gebrochen bzw. verschoben wird diese Entsprechung jedoch dadurch, dass sich die »kleine Öffnung« im Text auf die Vagina und nicht auf die Öffnung des Ausschnitts bezieht. Die Text-Bild-Verhältnisse, die teilweise eindeutigen Entsprechungen sowie ihre relativen oder gänzlichen Brüche106 lösen beim Leser und Betrachter fast zwangsläufig die Frage nach der Berechtigung seiner Deutung und somit Reflexionen auf das Verhältnis von Intentionalität, Realität und Projektion aus; und dies sowohl in Bezug auf sich selbst und das Betrachtete als auch hinsichtlich des Wechselspiels zwischen beiden. Der Leser und Betrachter ist somit – auf reflexiver Ebene – in strukturelle Verhältnisse hineingenommen, denen Pornographie gehorcht: in das Verschwimmen von Realität und Projektion und in das Zurückgeworfenwerden auf sich – mit dem frappierenden Unterschied, dass diese Vorgänge auf reflexiver Ebene – im Gegensatz zur pornographischen – nicht intendiert und kontrolliert sind. Ein Ausbrechen wäre nur in einem kairotischen Moment jenseits der Reflexion möglich, doch gerade diese Momente werden in den Gedichten und den Text-Bild-Verhältnissen ständig anzitiert und durchkreuzt. Die Problematik, in welche die Godzilla-Arrangements den reflektierend-kreisenden Betrachter führen sowie die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines momenthaften Ausbruchs in die Realität wird denn gerade in dem Eingangsgedicht Godzilla sowohl thematisiert als auch vorgeführt: »Wenn er alle/Gedanken auf/einmal an sie/bei Gelegen-//heit zu Ende/denken könnte/kommt er dann/zu ihr und sagt//hier bin ich!/Aah, und es ist/dann etwas ganz/Gewöhnliches// was er fühlt/wenn er etwas/fühlt, was nicht//da ist, mit andren// Worten: was man hat/das hat man, was/nicht, das nicht. Aah, und er fühlt//es tatsächlich.«107 Der Band Godzilla realisiert das bereits an den Texten herausgearbeitete Verfahren, vermeintliche Bestimmtheiten und Gegensätze zum Fließen, Schweben und Changieren, in die Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit zu bringen, extrem. Zum einen ist dies sicher der

106 Michael Strauch (Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text-Bild-Montagetechnik. Tübingen 1998) sieht das Text-Bild-Verhältnis als reinen Kontrast und deutet ihre Verbindung als »zugleich Verherrlichung und Verdammung des Hauptthemas Sexualität« (S. 55). 107 S. 161.

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erhöhten Komplexität aufgrund des Hinzutretens der Abbildungen zu schulden, zum anderen werden aber auch innertextuell die extremen Umschläge von Sexualität in Gewalt beschrieben (vgl. Godzilla-Baby, Godzilla telefoniert so gern, und etwas uneindeutiger in »Romanze II« und Godzilla und der Vogel). Genau dieses Changieren und Zerfließen wird auch durch den Bandtitel Godzilla vollzogen: Was in den Texten und Abbildungen ›abläuft‹, ist ein Monster-Horror-Film, einerseits als vermeintliche Kehr- oder Gegenseite zur Thematisierung des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität, andererseits in genauer Bestätigung.108 Gewalt erscheint als untrennbares (filmisches oder photographisches) Negativ für Sexualität und das Geschlechterverhältnis. Paradigmatisch manifestiert sich dieses Verhältnis in der Pornographie, und die analysierenden Leser und Betrachter vollziehen genau dieses in quasi sublimierter Form: In der Reflexion, in dem Begehren des Durchdringens des Gegenstandes, sind sie erotisch auf diesen bezogen, verfangen sich jedoch geradezu in ihrer nicht endenden Reflexion und werden beständig, in sich kreisend, auf sich zurückgeworfen.109

108 Vgl. die vielfältigen Ausdeutungen mit Bezug auf das Unbewußte, z.B. bei Jan Röhnert (Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007, S. 319), Liesa Pieczyk (Godzilla meets Miss Maus. Norm versus Phantasma in Rolf Dieter Brinkmanns Godzilla. In: Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, S. 143-157, S. 147) und Burglinde Urbe (Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a.M. 1985, S. 101). 109 Damit kann durchaus Jan Röhnerts Fazit in Verbindung gebracht werden, wonach »Brinkmanns Collagen letztlich nach den Voraussetzungen bzw. der potentiellen (Un-)Möglichkeit von subjektiver Mündigkeit in der Industriegesellschaft fragen« (Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007, S. 322). Gerade die inszenierte Unmöglichkeit, mittels Reflexion zu Bestimmtheiten zu gelangen, weist auf den Fluchtpunkt eines ›kairotischen Moments‹ hin, auf das – wie Hanno Ehrlicher (Ästhetik der Entblößung – Rolf Dieter Brinkmanns literarische

Nacktheitsinszenierungen

zwischen

Sinnkrise

und

Sinnlichkeitsutopie. In: Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kultur-

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Ein weiteres Durchbrechen von werkinternem und –externem Bereich geschieht in der Inszenierung des Autorenverweises am Ende des Bandes: Brinkmann präsentiert sich – in Analogie zu dem Text-BildVerhältnis, jedoch ohne die Überschreibung des Frauenkörpers – im Vordergrund mit verschränkten Beinen nackt auf dem Boden sitzend, im Hintergrund versetzt stehend eine Frau, ohne Kopf abgebildet und lediglich mit einem BH bekleidet. Brinkmanns Geschlechtsorgane werden – im Gegensatz zu der behaarten Vulva der Frau – mit einer Dose des Scheuermittels »Vim 99« überdeckt, das 1967 mit dem Slogan »Sicherheit vor Bakterien durch VIM 99«110 beworben wurde. Das Bedeutungsspektrum im Kontext des Autorenverzeichnisses ist – im Gegensatz zu den sonstigen Text-Bild-Verhältnissen – relativ klar umrissen: Die Grenzüberschreitung von ›Werk‹ und ›Leben‹, der Bruch mit Konventionen des Autorenverweises in dem Bild, das Spiel mit dem kulturell-historisch angenommenen Gegensatz von Reinigungsmitteln und Sexualorganen und der Verweis auf die Masturbation, einerseits in der Symbolisierung des Phallus durch die stehende Dose, das Scheuermittel als auch durch die fast 100-prozentige (Vim 99) Sicherheit vor Ansteckung.

IV. AUSWEITUNG UND P OTENZIERUNG DER M EDIALITÄT : L YRIK , T EXT -B ILD , B ILD -S PRACHE UND B RINKMANNS EXPLIZITE P OETOLOGIE Insgesamt zeigt sich in dem Band Godzilla gegenüber den chronologisch früheren Texten eine Steigerung der Komplexität, einerseits durch die Übergänge von einem druckgraphisch linear verfahrenden Erzähltext zu einem Gedicht, bei dem aufgrund der Vers- und Strophenstruktur die Fläche des Geschriebenen hervortritt, zu einer TextBild-Konstellation, bei der die Ebene nicht abstrakt bleibt, sondern als Bild strukturiert und ›gefüllt‹ ist.

vergleich. Hg. v. Kerstin Gernig. Köln u.a. 2002, S. 273-299) formuliert – »Ereignis ›authentischer‹ Subjektivität« (S. 285). Es ist jedoch fraglich, ob dies in Godzilla überhaupt noch als möglich erscheint. 110 www.slogans.de/slogans.php?BSelect[]=5367, Aufruf vom 09.06.2010.

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In der Reihung erweitern sich die Dimensionen, und die Möglichkeiten von Bezügen werden gesteigert, jedoch in einer Weise, die der Entscheidbarkeit und insofern der Verwirklichung von Bezügen entgegenläuft. Genau diese Verhältnisse vollziehen die Texte in sich und mit den Rezipienten: Besteht in Die Umarmung noch die Möglichkeit des Ausbruchs und wird diese zwar vom Protagonisten nicht umgesetzt, kann sie von den Lesern jedoch analytisch-reflexiv bewältigt werden, so ist dies bei den späteren Beispielen immer weniger möglich. In Godzilla werden die anzitierten kairotischen Momente innerhalb der Texte und – gesteigert – im Text-Bild-Verhältnis augenblicklich durchkreuzt, und für die Betrachter ist es unmöglich, einen – dem ästhetischen Augenblick entsprechenden – Ausweg zu finden. In derselben Weise verhalten sich Brinkmanns poetologische Texte zu seinen poetischen. Ihr Verhältnis entspricht der Verfahrensweise der poetischen Texte in sich, und zwar hinsichtlich der beiden zentralen Topoi der expliziten Poetologie, dem Primat des Bildes und der Intention, aus der literarischen Tradition auszubrechen.111 Einerseits besteht sicherlich ein performativer Selbstwiderspruch zwischen dem propagierten Primat des Bildes und der überwiegend praktizierten Schriftlichkeit – auch in der Überschreibung der Abbildungen in Godzilla und dem Anzitieren von ›Bild‹ durch die strukturelle Realisierung der bildlichen Grundoperatoren Punkt, Linie und Kreis in den Texten. Andererseits zeigen die Texte und Text-Bild-Arrangements

111 Vgl. hierzu v.a. Brinkmanns Äußerungen zu den Gedichten Frank O’Haras (»Die Lyrik Frank O’Haras«. In: Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte. Aus dem Amerikan. übers. und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann. Köln 1969, S. 62-75), die als poetologische Selbstreflexion gedeutet werden müssen: »wir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer. Deshalb muß diese Oberfläche endlich angenommen werden, das Bildhafte täglichen Lebens ernst genommen werden, indem man Umwelt direkt aufnimmt und damit die Konvention ›Literatur‹ auflöst« (S. 69). Vgl. im selben Kontext »Leben ist ein komplexer Bildzusammenhang« (Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie. In: Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Hg. v. Rolf Dieter Brinkmann. Köln 1969, S. 7-32, hier S. 8) oder »Sprache [ist] gar nicht so wichtig« (Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten. In: Literaturmagazin 5 [1976], S. 228-248, hier S. 232).

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jedoch in zunehmendem Maße – und insofern konsequent – die Ausweglosigkeit der Reflexion an und entsprechen somit der expliziten Poetologie. Analoges gilt für die Intention, aus der literarischen Tradition auszubrechen. Auffällig ist – besonders deutlich in dem Vorwort zu Die Piloten112 –, dass gerade die lyrische Sprache oder Schrift spontane Befindlichkeiten konkret festhalten soll113. Darin spiegelt sich eine Auffassung von Lyrik, wie sie sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und die in diesem weiten Sinne als ›modern‹ gelten kann. Dasselbe gilt für die Verfasstheit des Weltverhältnisses, das Brinkmanns Äußerungen implizieren: Die Direktheit, mit der Wahrnehmungen, Empfindungen und ›Bilder‹ in Sprache festgehalten werden sollen114, impliziert deren vorausgehende, grundsätzlich sprachliche Verfasstheit und stellt wiederum eine Auffassung dar, die sich am Beginn der Moderne herausbildet. Gerade dieses sprachlich verfasste Weltverhältnis bedeutet die Unmöglichkeit des gänzlichen Ausbrechens aus der (immer tradierten) Sprache, die Unmöglichkeit eines gänzlichen Neuanfangs und die Unmöglichkeit, zu einer (objektiven) Wirklichkeit vorzustoßen. ›Bild‹ zeigt sich in den poetologischen Texten als ›inneres Bild‹, das – soll es mit der geforderten Direktheit sprachlich festgehalten werden können – selbst grundsätzlich sprachlich verfasst sein muss und sich somit als sprachlich verfasste Vorstellung erweist. ›Hinter‹ dem Bild, der Sprache, ist nichts: Ein Weltverhältnis, das auch als Gefangensein, als immerwährendes Kreisen in der (tradierten und eigenen) Sprache und ihrer Muster beschrieben werden kann und ein Verhältnis, das das Verfahren der poetischen Texte und der Text-

112 »Notiz«. In: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 185-187. 113 Vgl. »Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten« (»Notiz«. In: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 185-187, hier S. 185). 114 Vgl. auch »Ein Bild entsteht oder ein Vorgang, den es so nie gegeben hat, Stimmen, sehr direkt. Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben« (»Notiz«. In: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 185-187, hier S. 185).

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Bild-Arrangements mit den poetologischen Ausführungen zusammenbindet und deren Grenzen überschreitet. In dem Verhältnis der poetologischen zu den poetischen Texten sowie zu Godzilla vollzieht sich genau das, was Letztere performativ demonstrieren: den Versuch eines Ausbruchs aus tradierten Mustern, aus der (literarischen) Tradition, der jedoch nicht gelingt und in ein in sich potenziertes Kreisen mündet.115

115 Einer »Zweiweltenlehre, die zwischen Offenbarung und Verstellung,

zwischen reiner Gegenwart und der Patina der Tradition, zwischen einer ›wirklichen Wirklichkeit‹ […] und einer gespenstischen, phantomhaften unterscheidet« (Bernd Stiegler: Das zerstörende Bild. Versuch über eine poetologische Figur Rolf Dieter Brinkmanns. In: Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, S. 23-36, hier S. 27) entsprechen die herausgearbeiteten Prozesse nur bedingt. Die Texte, und zwar sowohl die poetischen wie die poetologischen, arbeiten zwar durchgängig mit diesen Dualismen, lösen sie jedoch konsequent auf. Was gerade nicht festzustellen ist, sind trennscharfe Zuweisungen, Bestimmtheiten und Einordnungen. Worum die Texte immer wieder kreisen und wohin sie vorzustoßen versuchen, ist ein kairotisch-ästhetischer Moment, nicht nur in Auflösung, sondern jenseits dieser Dualismen. Die durchgängig verhandelte Frage nach dieser Möglichkeit oder Unmöglichkeit wird in den späteren Arbeiten zunehmend selbst in Frage gestellt und somit hinsichtlich der Unentscheidbarkeit, und d.h. in konsequenter Auflösung der extremsten Form einer Zweiweltenlehre, potenziert.

Schreiben gegen das ›ptolemäische Weltbild‹ Hybride Schrift-Bilder und Piktographe im Werk Rolf Dieter Brinkmanns S TEFAN G REIF

S CHRIFT

UND

B ILD

Brinkmanns Essay Der Film in Worten gehört bekanntlich zu den Gründungsschriften der westdeutschen Popliteratur. Als Nachwort zu der Anthologie Acid konzipiert, werden überkommene ästhetische Konventionen verabschiedet, darüber hinaus attackiert Brinkmann die hehren Erwartungen, mit denen das bundesrepublikanische Bildungsbürgertum die Literatur auf die Beschäftigung mit einem »miesen, lumpigen abgelebten Humanismus« festlegt. Was Dichtung zu leisten vermag, die sich »mit zeitgenössischem Material« auseinandersetzt, ohne sich dabei in »heimeligen, liebgewordenen Vorurteilen zu verlieren«, veranschaulicht Brinkmann allerdings nicht allein popästhetisch.1 Mit dem Hinweis, »objektiv Gedachtes« in der Literatur gleiche einer »Abrichtung«, knüpft er an die Vorbehalte einer aufklärungskritischen Moderne an, die universal gedachten Wahrheiten ebenso misstraut wie deren Medien: Sprache und Schrift. Um ihre »grammatischen und syntaktischen Hindernisse« zu »durchschlagen«, empfiehlt Brinkmann

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Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: Acid. Neue amerikanische Szene. Hg. von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla. Frankfurt a.M.: März Verlag 1975, S. 381-399, hier S. 382.

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den Künstlern, »Mögliches konkret werden zu lassen« und dafür den eigenen »kulturhistorischen Hintergrund« zu ignorieren. Ohne diesen Verzicht könne kaum jene »Freiheit eingeübt« werden, »mit Vorhandenem etwas anderes als das Intendierte zu machen«.2 Wie im Folgenden zu zeigen ist, widersetzen sich diese Empfehlungen einem Logos, der seit dem 18. Jahrhundert auch die Bildwahrnehmung auf die Suche nach einem verbindlichen Schriftsinn einschränkt. Zu dessen renommierten Befürwortern gehört Lessing. In seinem Laokoon entwickelt er ein ›Schriftsystem‹, das den bildenden Künsten, aber auch der uralten Mnemotechnik überlegen sein soll. Fortan wird im Schreiben alles Merkwürdige festgehalten und einer kategorialen Begrifflichkeit unterstellt. Sein wohl anspruchsvollster Ausdruck ist nach Lessing eine Literatur, die Handlungsvorgänge mit Hilfe aufeinanderfolgender Erzählsequenzen wiedergibt und sich dabei sowohl ausufernder Beschreibungen als auch einer ›malerischen‹ Statik enthält. An deren Stelle tritt auf Rezipientenseite eine Einbildungskraft, mit der das Gelesene plastisch ›ausgemalt‹ wird.3 Warum Lessing solche subjektiven ›Illustrationen‹ für unbedenklich hält, erklärt sich aus den restriktiven Vorgaben des Textes: Einerseits verhindert dessen Zeit- und Raumgefüge, dass sich die Leser in Bildphantasien verlieren, welche gar zu unbedenklich das literale Handlungsgeschehen überbieten. Andererseits wirkt das Lesen nach Lessing schon aufgrund der linearen Darbietung des Textes kulturaffirmativ. Zu dieser Disziplinierung durch die Lektüre tragen neben der typographischen Gestaltung auch Grammatik oder eine kausale Gliederung des Schriftlichen bei. Bereits in ihnen manifestiert sich Schrift als Ordnungsmacht, die in der bürgerlichen Kultur zu den Grundlagen aufgeklärter Bildung gehört. Dieser ›graphischen‹ energeia korrespondieren Motive, Metaphern, Symbole, ethische Leitwerte und schließlich auch ein Figurenensemble, die Dichtung allesamt an distinkte Sinnangebote und einen als vernünftig ausgewiesenen Weltentwurf zurückbinden. Freisetzungen der individuellen Vorstellungswelt oder ›Abflüge‹, wie Brinkmann solche eigenwilligen Deutungsversuche des Gelesenen später nennen wird, verhindert das Schriftsystem folglich. Gleichsam schon im Vor-

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Vgl. ebd., S. 385-387. Aus Raumgründen, aber auch Brinkmanns eigene Ausführungen zu Lessing im Blick, kann hier die Argumentation des Laokoon nur verkürzt wiedergegeben werden.

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feld des eigentlich zu Erzählenden energetisch strukturiert, unterwirft es die Leser den gleichen zweckmoralisch definierten Gesetzmäßigkeiten, denen auch der Text zu folgen hat. Angesichts dieser Instrumentalisierung des Schriftmediums verbannen Maler von Jean Siméon Chardin bis Jackson Pollock das memorierende Zeicheninventar aus ihren Gemälden. Indem sie vermehrt aus der Farbe heraus Alltagsobjekte, später dann Ungegenständliches darstellen, eröffnen sie dem Betrachter eine vagantische Qualität des Wahrnehmens.4 An dieser dynamis des Bildes scheitert die Lektüre des auf der Fläche Sichtbaren. Was Schrift als Archiv idealiter nicht leisten soll – den parodistischen, distanzschaffenden Umgang mit dem Wort – realisiert sich jetzt im medial inszenierten Schweigen des Bildes. Diese unverbindlicheren Deutungsalternativen setzen das aktive, ›sehende‹ Sehen in Gang und unterlaufen das ›Studium‹ (R. Barthes) vermeintlich bildimmanenter Zeichenfolgen. Mit der Austreibung aller Schriftspuren aus dem Bildraum wird das Medium Bild seit dem 18. Jahrhundert aber auch zunehmend kulturkritisch reflektiert. Denn Wahrnehmung, die weder medial noch kollektiv einem impliziten Schriftsinn untersteht, widerspricht materialistischen, naturwissenschaftlichen oder soziopsychologischen Kultur- und Subjektmodellen, die den Menschen als Objekt ›seinshafter‹ oder vermeintlich naturalisierter Daseinsbedingungen begreifen. Demgemäß kann im bildtheoretischen Diskurs des 18. bis 20. Jahrhunderts die aktive Wahrnehmung auch als ein Handeln an der Kultur reflektiert werden, wohingegen Lektüre die Rezipienten auf das Eingedenken einer bewährten Schriftordnung verpflichtet. Die Trennung von energetischem Schriftsinn und dynamischer Bildlichkeit schließt die Integration von Worten im Gemälde keineswegs aus, wenngleich festzuhalten bleibt, dass im System der Künste deren ›wechselweise Erhellung‹ zunächst kaum vorgesehen ist. Solch eine strikte Trennung in Bild- und Textgattungen mag auch erklären, warum auf die ästhetisch verfremdende Darstellung von Schrift im Bild lange verzichtet wird. Angefangen bei den dadaistischen Collagen

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Diese Entwicklung charakterisiert natürlich nicht umfassend die Malerei der letzten dreihundert Jahre, sondern nur einen bild- und wahrnehmungstheoretischen Teildiskurs. Vgl. zum Folgenden ausführlich vom Verf.: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter. München: Fink 1998.



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bis hin zur zeitgenössischen Graffiti taucht sie vermehrt erst wieder in der Malerei des 20. Jahrhunderts auf, allerdings müssen sich die Buchstaben- und Wortfragmente hier der bildästhetischen Gesamtwirkung unterstellen. Solchermaßen vom approbierten Lesewissen befreit, wird damit die Materialität des Geschriebenen zur Anschauung. Bisweilen nimmt die Schrift als Bild aber auch Züge des Geheimnisvollen an. So sieht sich der mit dem Schriftgebrauch einer Szenekultur wenig vertraute Betrachter vor zeitgenössischer Graffiti als Lesender schlichtweg überfordert und von der sinnstiftenden Lektüre ausgeschlossen. In Anlehnung an Michail Bachtin lässt sich solch eine Unleserlichkeit als Protest gegen eine »ideologisch gefüllte« oder »ptolemäische Welt« beschreiben, die auf dem Gebrauch des ›reinen Wortes‹ basiert und alle »Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung« zu unterbinden versucht.5 In solchen Visualisierungen der Schriftkultur wird die Übermittlung von Bedeutungen nicht übergangen, aber erstens erschließen sich diese ›Zeichen‹ nicht lesend oder erinnernd. Zweitens bleibt ihr Sinn weitaus elementarer an die materiale, farbig-sinnliche Präsenz des Sichtbaren gebunden. Vor allem aber wird jener Bildungsgedanke, welcher der bürgerlichen Schriftkultur ›eingeschrieben‹ ist, in den Hintergrund gedrängt. Das dissidente Sehen der Schrift im Bild gewinnt insofern an ,dynamis‹ und destabilisiert die literale Betrachtung.

S CHRIFT

UND

H ERRSCHAFT

Dass Sprache und Schrift den bürgerlichen Bildungskosmos derart souverän beherrschen, mag an die mathematische Volte erinnern, mit der Ptolemäus die Umlaufbahn der Planeten zu beweisen versuchte. Beide abstrakten Erklärungsmodelle stehen lange im Ruf, die Ordnung der Dinge mit absoluter Genauigkeit beschreiben zu können. Doch solch einer Anspruchshaltung wohnt wie allen universalen Systementwürfen ein Moment der Selbstverkennung inne. Dazu gehören insbesondere sozialgeschichtliche Unschärfen. Konsequent antibürgerlich erinnert Rolf Dieter Brinkmann jedenfalls daran, seit mehr als zweihundert Jahren gehöre das Schriftsystem mitsamt seinem Bildungs-

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Vgl. Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 164f. u. 178.

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konzept zu den herrschaftskonstituierenden Medien. Mit seiner Hilfe unterscheiden bürgerliche Gelehrte beispielsweise streng zwischen der eigenen Hochkultur und minderwertigem Klamauk. Ferner sichert ihr schriftbasiertes Verständnis von Kunst oder Kunstautonomie der Literatur den Primat unter den Künsten, während andere ästhetische Ausdrucksformen zunehmend im Verdacht stehen, die kulturtragende Bedeutung des Geschriebenen zu unterlaufen. Entsprechend dieser Vormachtstellung des ›reinen Wortes‹, wird im bürgerlichen Kunstdiskurs seit dem 18. Jahrhundert immer wieder der Nachweis geführt, auch Malerei oder Musik basierten entweder auf einer verwandten Schriftordnung oder sie referierten zumindest symbolisch auf deren etablierten Sinn. Dass solch eine Literalisierung andere Künste deren Leistungsvermögen und Rezeptionspotenzial gehörig eingeschränkt, gehört seit Brinkmann ebenso zu den ›Trivialmythen‹ bürgerlicher Bildungspolitik wie die seit den 1960er Jahren diskutierte Hoffnung, neue Bildoder Speichermedien könnten nachhaltig die Logik des ptolemäischen Weltbildes oder gar dessen politische Ordnung verändern. Für Brinkmann besteht indes kein Zweifel, dass die Sprach- und Schriftbeherrschung bis auf weiteres über die Teilhabe an Machtverhältnissen entscheidet. Und warum sich die bürgerliche Kultur nicht im Einklang mit vermeintlich ›vorschriftlosen‹ Medien popularisieren wird, begründet Brinkmann in Der Film in Worten mit dem Argument, als energetisches Medium entscheide Schrift zwar wesentlich mit über die Legitimierung sozialer Einflussmöglichkeiten. In gleichem Maße verlange sie aber vom ›Schriftkundigen‹ bedingungslose Anerkennung. Eben diese latente ›Ohnmacht‹ der Machthabenden erklärt nach Brinkmann schließlich auch, weshalb die Sachwalter der Hochkultur massiv die Grenze zu populäreren Unterhaltungsbereichen verteidigen und zugleich die eher nachlässige Akzeptanz des Schriftwissens in volkstümlichen Medien betreiben. Wie energisch der bürgerliche Geltungsbereich vor einer Trivialisierung geschützt wird, verdeutlicht Brinkmann am Beispiel symbolischer Kunstwerke. Ihre gesellschaftliche Autorität verdankt sich wiederum dem Diktat der Bildung. Wer als Künstler überzeugen will, muss in seinen Werken unbedingt auf diese Grundvoraussetzung sozialer Vormacht referieren. Ohne diesen symbolischen Bezug würde gegen die Vernunft, welche auch dem allgemein als schön Akzeptierten innewohnt, empfindlich verstoßen. Um solchen Gefahren entgegenzusteuern, wird in der bürgerlichen Kultur das autonome Subjekt



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verabschiedet, respektive als Ideal dem Schönen, Guten und Wahren anvertraut. Gleichzeitig, so heißt es ergänzend in Die Lyrik Frank O’Haras, spricht man dem symbolischen Kunstwerk jede sinnliche Wirkung ab. Seinen eigenen Wahrnehmungsorganen ohnehin misstrauend, sieht der gebildete Kunstinteressierte folglich von den sensuellen Aspekten des Dargestellten ab. Ohne dieses dynamische »Aktionsmoment« bietet das Kunstwerk freilich auch keine weitsichtigeren Perspektiven mehr an. Brinkmann begründet diese Einschätzung wahrnehmungsgeschichtlich: Wo früher noch ein provozierender ›Einschnitt‹ den Leser oder Betrachter zu einer aktiven Deutung veranlasste, dort behaupte sich seit dem 18. Jahrhundert jene »vorsichtigängstliche europäische Haltung, die vor alles Tun zunächst die Reflexion setzt und gemeinhin auch darin steckenbleibt«. Salopp formuliert, liest der Rezipient also nicht nur während der Lektüre die herrschaftlichen Leitwerte der Schriftkultur mit. Auch Hören und Sehen vergehen ihm, solange Musik oder Malerei die bürgerliche Schriftkultur illustrieren. Für den Künstler hat solch eine systemische Selbstregulierung zur Folge, dass sein Werk zwar an »Exklusivität« gewinnt.6 Dafür aber wird sein Schaffen nicht mehr als Handeln an der Kultur wahrgenommen. Peinlich genau beachtet er deshalb die jeweiligen Gattungsnormen und die Verwendung daran geknüpfter Motive. Dem Laien bleibt derweil nur das zweifelhafte Vergnügen, die kulturaffirmative Regelmetrie des Kunstwerks und die ihm korrespondierende Weltanschauung zu bestaunen. Bekanntlich widersetzt sich Brinkmann solchen ›Vorschriften‹ mit cut ups, Assoziationssprüngen oder Bildcollagen. Doch ebenso konsequent lehnt er es ab, die Gräben zwischen Hoch- und Popularkultur zu schließen. In den zahlreichen Untersuchungen zu Brinkmanns literarischem Anspruch, ästhetisch ›Gegenwart‹ herzustellen, wurde diese strikte Fokussierung der Literatur meist übersehen und allein die nonkonforme Annäherung betont, zu der beispielsweise seine akausalen Langgedichte herausfordern. Brinkmann aber geht es in erster Linie um die Erweiterung literarischer Ausdrucksmöglichkeiten, gleichzeitig soll die Schriftordnung auf ihrem ureigensten Terrain unterhöhlt werden. In Die Lyrik Frank O’Haras heißt es bezeichnenderweise, das

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Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Die Lyrik Frank O’Haras. In: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965 – 1974. Reinbek: Rowohlt, S. 207-222, hier: S. 208f.

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literarische Schaffen müsse wieder »auf gegenwärtige Reizmuster« reagieren, dürfe sich allerdings nicht »soweit darin […] verlieren, daß es zu einer puren Verdoppelung« solcher Erfahrungen kommt. Demgemäß weigert sich Brinkmann, mit der literarischen »Trivialisierung« etwa »der Kunstform Gedicht« die Unterhaltungsgewohnheiten eines breiteren Publikums zu bedienen. Vertreibt er daher mit bildnerischen Mitteln den »pathetisch-hohlen autoritären Gestus« aus einer literarischen Gattung, so übereignet Brinkmann seine graphisch organisierten Gedichte und Bild-Text-Collagen keineswegs einer »haltlosen Exotik des Alltags«.7 Kulturpolitisch wird statt dessen Einspruch gegen den ›linguistic turn‹ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhoben und der »visuelle Sinn« wieder von jenen »ideologischen Doktrinen« befreit, die sich meist unvermerkt auch hinter der linguistischen Vereinnahmung des Ästhetischen verbergen.8 Entsprechend radikal distanziert sich Brinkmann spätestens in den Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand von Marshall McLuhan und dessen These vom Ende der Gutenberg-Galaxis.9 Nicht minder zynisch wird die vermeintliche Dominanz der Bildmedien seit den 1960er Jahren verhöhnt.10 Zwar besteht für Brinkmann kein Zweifel daran, dass die visuelle Reizflut zur intellektuellen Stagnation weiter Bevölkerungskreise beiträgt. Angesichts solcher Deformationen auf jenen ›pictorial turn‹ zu setzen, den Kulturwissenschaftler seinerzeit in Abgrenzung von einer universalistischen Semiotik proklamieren, kommt für Brinkmann indes dem Verzicht auf eine notwendige Reformulierung hochkultureller Kunstregulative gleich. Umgesetzt wird diese Aufgabe, indem Brinkmann den Rezipienten dazu anhält, sich der energetischen Leselogik zu verweigern. Von dieser ersten These aus-

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Vgl. ebd., S. 213 u. 215.

8

Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974 – 1975. Reinbek: Rowohlt 1999, S. 145.

9

Zu Brinkmanns Bruch mit McLuhan im Kontext einer radikalen Sprachkritik vgl. vom Verf.: »Schlagwörter sind Wörter zum Schlagen, hast du das begriffen?« Sprache und Gewalt bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Hg. v. Robert Weninger. Tübingen: 2005, S. 139-152.

10 Vgl. dazu auch Axel Fliethmann: Literaturtheorie ohne Bild mit Metapher: Vier Bilder Rolf Dieter Brinkmanns. In: seminar 43/4 (November 2007), S. 398-410.



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gehend, kann nun gefragt werden, was Brinkmann unter hybridem Schreiben versteht.

H YBRIDITÄT Hatte McLuhan noch Bastarde gefordert, die zwei Medien miteinander mischen und sich auf diesem Wege neue Darstellungsmöglichkeiten erschließen, so sucht Brinkmann nach Ausdrucksformen, die sich mit etwas beschäftigen, das der Schrift fremd bleibt. Gemeint ist jener Akt der Selbstsetzung, mit welchem die Leser Brinkmanns hybriden Texten begegnen müssen. Rezeptionsästhetisch ist dafür ein Feingefühl erforderlich, mit dem sich ästhetische und rationale »Anpassungsmuster« als weltanschauliche Vereinnahmungen durchschauen lassen. Produktionsästhetisch verlangt das hybride Dichten nach einem Autor, der auf symbolische oder metapoetische Ausdrucksmittel verzichtet. Wie ein ›Pilot‹ überschaut er das ihm vorliegende Material und gestaltet es solange, bis es statt energetischer Sinnzuschreibungen ein »winziges Partikelchen tatsächlich befreiter Realität« zur Ansicht bringt. Unterstützt sieht sich Brinkmann vonseiten eines modernen »technischen Bewußtseins«, das sich nicht länger mit »eingeübten verbalen Demonstrationen« des Bildungsmythos identifiziert.11 Von hier aus wird auch deutlich, warum Brinkmann immer entschiedener auf die Verwendung von bekannten Bild- und Schriftsymbolen verzichtet und an ihre Stelle obszöne, grausame oder abschreckende Motive treten lässt. Weil allgemeinverbindliche Referenzmedien nicht ernsthaft genug den ptolemäisch ergaukelten Orbit hintertreiben, bietet er mit dem ›Widerwärtigen‹ ästhetische Motive auf, die besonders drastisch den harmonistischen Schönheitskult der Hochkultur entlarven. Auf der Subjektebene fordern solche ›Einkreuzungen‹ den Betrachter heraus, Stellung gegenüber jenen Einblicken zu beziehen, die den Alltag der Populärmedien beherrschen, für die in der ›schöngeistigen‹ Literatur meist aber kein Platz ist. Das ›Überlesen‹ wird in Brinkmanns hybrider Literatur folglich zum Hinschauen angehalten, und das Sehen für das Misstrauen in die Logik eines fadenscheinigen Moralischen disponiert: »wir leben in der Oberfläche von Bildern […], auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer. Deshalb muß diese Oberfläche endlich angenommen werden, das Bild-

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hafte täglichen Lebens ernst genommen werden, indem man Umwelt direkt nimmt und damit die Konvention ›Literatur‹ auflöst […], hinter der sich ein verrotteter romantischer Glaube […] an Literatur als vorrangiges Heilmittel verbirgt. […] Die gesamtpersönliche Beteiligung bringt jeden dazu, sich selbst viel ernster zu nehmen.«12

Medienästhetisch liegt es nahe, Brinkmanns hybrides Schreiben mit den schon in den 1960er Jahren diskutierten Konzepten von Intermedialität zu vergleichen. Vielfach basieren diese auf der Annahme, das einzelne Kunstobjekt bringe »alle die in [seiner] Grundverfassung angelegten Medien zur Sprache«. Folglich stehe es »immer bereits in einem Austausch zu vielen anderen« Medien. Wer sich Brinkmanns Bild-Text-Collagen aus dieser Perspektive nähert, sitzt der tradierten Behauptung auf, Literatur verfüge über eine »bildliche Qualität«. Gemäß dieser »inhärenten Beziehung« zur Malerei, erzeuge der Dichter mit ›malerischen‹ Mitteln ein geistiges Bild, welches seit der Schwesterkunstdebatte die gleiche sinnliche und ästhetische Qualität haben soll wie ein materielles Gemälde.13 Hinter solch einem folgenschweren Missverständnis verrät sich, warum in der Schriftkultur unterschiedlichste Medien mit ›magischen Kanälen‹ verwechselt werden: ›Magisch‹ ist an ihnen allenfalls der ihnen eingeschriebene Gehorsam der Schriftkultur gegenüber. Und diese Botschaft ist es auch, die sich medial dem eigentlich Mitzuteilenden vorlagert. Intermedialitätsmodelle, die solche Kanalisierungen des Wahrnehmungsprozesses nicht hinreichend berücksichtigen, entlarven sich deshalb als unterschwellige Bemühungen, die Strenge des linearen und symbolischen ›Schriftbildes‹ beispielsweise auf die Visualität der Malerei zu übertragen. Brinkmann entgeht solchen Zwecksetzungen, indem er ähnlich wie der von ihm bewunderte Jackson Pollock jeden semantischen Zeigegestus vermeidet. Seinem Verständnis von Hybridität zufolge sieht er seine Literatur auch nicht zwischen Text und Malerei angesiedelt.14 Ebenso

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wenig zitiert Brinkmann aus der Bildkunst bekannte Themen oder Motive. Präziser ließe sich vielmehr von einer Inszenierung bildgestalterischer Ausdrucksmittel im Medium der Literatur sprechen. Dazu gehören etwa Leerstellen und verschiedene Möglichkeiten der Blicklenkung, ferner harte Kontraste oder der Einsatz von Farbwerten. Brinkmanns Begriff von Hybridität unterscheidet sich insofern von intermedialen Formen des Medienwechsels, als er das Lesen gezielt an seine Grenzen zu bringen versucht. Eine andere Möglichkeit des ›Durchkreuzens‹ stellt das Inszenieren der Malerei im Medium Buch dar. Hierfür potenziert Brinkmann den Schriftsinn bis zur Vagheit und überlagert das nur noch ansatzweise zu Lesende mit Bildfragmenten. Die auf jeder Buchseite ansichtige Ordnungsstruktur des Textes tritt dabei hinter das malerisch inszenierte Anschauungsmaterial zurück. In den Naturwissenschaften werden unter Hybriden pflanzliche oder tierische Mischwesen verstanden, deren Genmaterial keine stabile Fortpflanzung erlaubt. Entweder können Hybride überhaupt keinen Nachwuchs erzeugen, oder es setzt sich in der nächsten Generation wieder das Erbbild der ursprünglichen Eltern solcher Kreuzungen durch. Vor allem der Aspekt der Instabilität und die latente Präsenz der je genuinen ›Ausgangsmedien‹ umschreiben recht treffend weitere Forderungen, die Brinkmann an hybride Kunst stellt. Konkret umgesetzt werden sie, indem entweder Satzfetzen frei auf der Seitenfläche auftauchen, um die Textordnung zu unterbrechen und sie mit alogischen Leerstellen zu durchsetzten, oder Brinkmann konzipiert großformatige Bilder, auf denen Photos, Illustrationen und Schriftfragmente die lineare Blickorientierung vereiteln. Im ersten Fall handelt es sich um Schrift-Bilder, die auf den Einsatz von weiteren malerischen Darstellungsmitteln verzichten, es dafür dem Leser aber freistellen, welchen Weg er über die Wortfelder wählt. Davon zu unterscheiden sind die Piktographe. Sie eröffnen Sehräume, die einerseits auf detaillierte Rezeptionsanweisungen verzichten. Über die Konfrontation von oft unvollständigen Worten und schweigendem Bildmaterial werfen sie andererseits die Frage auf, ob das Dargestellte zu lesen oder anzuschauen ist. Bevor darauf jedoch eine Antwort gefunden werden kann,

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muss sich der Rezipient zunächst für oder gegen das ptolemäische Weltbild entscheiden.

S CHRIFT -B ILDER

UND

P IKTOGRAPHE

Für seine Schrift-Bilder greift Brinkmann auf ›offene‹ Gestaltungsweisen der Malerei zurück, das heißt er bietet dem Leser auf jeder einzelnen Seite einen Text, der sich variabel um ›Sehepunkte‹ gruppiert. ›Textdesign‹ und Thema ergänzen sich insofern, als die typographische Seitengestaltung zum Eindruck des Zerrissenen beiträgt. Auch der gelegentliche Verzicht auf kausale Zusammenhänge erschließt sich nicht über die Lektüre, sondern von den zunächst assoziationsfreien Leerflächen her. Trotz dieser Freisetzung der Leserimagination liegt diesen Schrift-Bildern eine »Gedankensteuerung« zugrunde.15 Wie Brinkmann in einem Brief an Hartmut Schnell ergänzt, ist es deren einzige Aufgabe, den Leser davor zu bewahren, sich selbst wieder zum Objekt einer skripturalen Ordnung zu machen. Was darunter genauer zu verstehen ist, legt Brinkmann am Beispiel des Gedichts Sequenz, Sweet was my rose dar: »Ich meine, daß dadurch Raum entsteht, weil der Druck ja immer linear, vorwärts, von links nach rechts geht, also eine Fortsetzung suggeriert, als ob alles immer weiter geht, während es doch tatsächlich oft ineinander geschieht, in Schnittpunkten usw. was wir Leben nennen und Ereignisse. Wir sind ja immer in der Welt, in einer Situation! […] Das Gedicht Sequenz beruht auf einer Erzählung, bezw. auf Aussagen des Mannes […], Erzählung und Impression und Reflexion sind ineinandergeschoben. Die Lücken kann jeder selber ausfüllen, und sie schaffen Platz dafür.«16

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㻌 Abb. 1: Sequenz, Sweet was my rose Quelle: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2

Über das Rezeptionsangebot hinaus, die ›blinden Flecken‹ selbstständig mit dem Text in Beziehung zu setzen, verweigern sich diese offenen Gedichte einem Leser, der »bei der (Gedanken)hand genommen« werden will, um sukzessive der Argumentation des Autors zu folgen.

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Brinkmann löst also das »Problem Autorität«, indem er es dem Rezipienten verwehrt, dem Dichter als kultureller Instanz zu gehorchen.17 Hybridästhetisch betrachtet, schwächt Brinkmann dafür nicht die Expressivität des Mediums Malerei ab, wie es etwa bei Illustrationen der Fall ist. Unter keinen Umständen dürfen sie ja Zweifel am Vermögen literarischer Anschaulichkeit aufkommen lassen. Deshalb ergänzt eine Abbildung auch bloß den Duktus der Worte. Brinkmanns Schrift-Bilder verstärken hingegen das dynamische Widerstandspotential des Bildmediums. Weil der ›Lückentext‹ nur noch sprunghaft gelesen werden kann, weil die Suche nach symbolischen Verweisen ferner durch den schweifenden Blick immer wieder unterbrochen wird, verkehrt sich die wahrnehmungsästhetisch gewohnte Rangordnung: Aus der energetischen Lektüre entwickelt sich gleichsam ein Spiel mit dem Bildungsauftrag des Schreibens. In seinem Verlauf muss sich der solchermaßen verunsicherte Leser auf die Unbestimmtheit dieser SchriftBilder einlassen.18 Auch für seine Piktographe übernimmt Brinkmann malerische Gestaltungsmittel. In ihnen potenziert sich eine ›unleserliche‹ Stille, um derentwillen sich das Textmaterial bisweilen auf Buchstaben oder Satzfragmente reduziert, die aus Illustrierten und Büchern herausgerissenen wurden. Meist auf die einmontierten Werbebilder oder eigene Instamatic-Photos geklebt, scheinen sie einzelne Bilddetails zu kommentieren. In Rom, Blicke und Schnitte kann das Bildhafte aber auch in ästhetische Konkurrenz zu Passagen treten, in denen Brinkmann mit Hilfe bilderloser Spaltendrucke das optische Erscheinungsbild einer Zeitung nachgestaltet. Was hier als Piktograph bezeichnet wird, stellt den Betrachter insbesondere aber medien- und rezeptionsästhetisch vor die Herausforderungen, dass es sich um komplexe Ansichten handelt, die ursprünglich als Bilder konzipiert sind. Deren sinnliche Beschaffenheit dokumentiert sich in Form unterschiedlicher Papiersorten, Photos, Kopien und Farbwerte. Zu ihnen gesellt sich ein Schreiben, das die Anfälligkeit der Worte für das Flüchtige und Fehlerhafte verrät. Harte Schläge auf die Tastatur, das Überschreiben einzelner Buchstaben oder falsche Trennungen signalisieren beispielsweise, wie Schrift in

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unredigierter Form ihren disziplinierenden Referenzcharakter verspielt. Mit dem Druck geht diese Materialität der Piktographe allerdings verloren. In das Medium Buch überführt und verkleinert auf Normgröße, verlieren die Originale folglich etwas von ihrer bildästhetischen Wirkung. Doch biedern sie sich damit dem energetischen Lesen an?

㻌 Abb. 2: Die letzte Seite Quelle: Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte

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Exemplarisch sei auf eine Collage aus dem Bildroman Schnitte hingewiesen.19 Fünf der sechs Photos zeigen Tod, Umweltzerstörung und Wüstenei. Ein fünftes Bild widmet sich in der unteren Seitenhälfte einer handschriftlichen Notiz, derzufolge der Tod der ›größte Kick‹ im menschlichen Leben sein soll und deshalb für das Ende aufgespart wird. Überschrieben ist das Ganze mit den maschinenschriftlichen Worten »gestern war«. Ergänzt werden sie durch »DIE LETZTE SEITE«. In Großbuchstaben gesetzt, stammt diese zweite Überschrift von der letzten Seite einer Zeitung, auf der landläufig Komisches oder Unterhaltsames dargeboten wird. Darauf macht zynisch ein weiterer Untertitel aufmerksam, der syntaktisch das zuvor Gesagte um den Hinweis ergänzt, die letzte Seite habe »ein Lied« mit der Zeile angestimmt: »nichts, niemand, nirgendwo, nie«. Die drei letzten Worte tauchen noch einmal als kleine bedruckte Schnipsel auf. In Anlehnung an die in der Malerei seit der Renaissance bekannte linea serpentinata finden sie sich auf verschiedenen Photos: »nirgendwo« klebt auf der Darstellung eines Speisesaals; »niemand« ist auf dem Bild angebracht, das eine verwüstete Tankstelle und ein Militärfahrzeug zeigt; »nie« konterkariert schließlich die Aufnahme, welche den handschriftlichen Hinweis auf den Tod zeigt. Flankiert von zwei Kolumnen auf der linken und rechten Seitenhälfte, unterlaufen diese Worte die Wiedererkennbarkeit des Sichtbaren. So verleiht beispielsweise das »nirgendwo« jenem Ort, an welchem das Photo ursprünglich aufgenommen wurde, den Anschein des Beliebigen. Demgegenüber greifen die schmalen, rahmenden Textspalten die Todesmotivik der Bilder auf. Aufgrund des vorgegebenen Schriftbilds der Kolumnen wird aber auch anschaulich, wie sich das Wortgefüge bis in die Silbentrennung hinein der Gestaltung des Bildraumes fügen muss. Zumindest diese Zeilen sind daher auch nicht impulsiv in das Papier gehauen, sondern mit Rücksicht auf die Breite der Textfläche präzise gesetzt.20

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Brinkmanns hybride Piktographe, so kann hier abschließend nur angedeutet werden, perforieren den Text im Dienste des Bildgefüges. In den Erkundungen heißt es über dieses Verfahren: »Ich benutze das Medium der Satz- und Buchstabenabbildung, um mein Medium, die Wörter, zu durchlöchern!«21 Der visuelle Effekt bleibt dabei bewusst ambivalent: Phasenweise überlagert Schrift das visuelle Dargebotene fast vollständig. In anderen Fällen arbeitet sie mit an der Flächenhaftigkeit des ›durchgeschüttelten‹, ohne »Folgerichtigkeit« entworfenen Panoramas.22 Eine grundsätzliche Positionierung im bürgerlichen Bildungskosmos erzwingend, sucht Brinkmann indes keine medienästhetisch harmonische Lösung für das Wechselverhältnis beider Ausgangsmedien. Seine instabilen Kreuzungen überlassen es vielmehr dem Leser, sich mit Schnitte als Text- oder als ›Bilder-Buch‹ auseinanderzusetzen. Aus der traditionellen Buch-Perspektive betrachtet, können die einzelnen Seiten durchaus auf thematische Bedeutungsfelder eingrenzt werden. Liegt der Fokus bei der Lektüre daher auf den Schriftspalten oder Abbildungen, die selbst wiederum Schrift darstellen, so scheint sich die Stabilität des bürgerlichen Schriftsystems zu bestätigen. Zu dieser Lesart mag selbst die Entdeckung beitragen, dass sich die Textpassagen nur auf die Variation weniger Motive wie etwa die verzweifelte Suche nach adäquater Sagbarkeit bescheiden. Wutausbrüche, die sich bis zum Selbsthass versteigen, mögen zudem auf ein zwar beschädigtes, sich im Text jedoch mitteilendes Erzähler-Ich hinweisen. Im Ergebnis dürfte diese Lektüre allerdings kaum über die Erkenntnis hinausgelangen, dass sich in Büchern wie Schnitte bewährte Formen des Erzählens in Zitationen einer oberflächlichen

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Wirklichkeit auflösen, der sich ein penetrant sexualisierter und sprachlich nur noch wiederholender Beobachter ausgesetzt sieht. Wer sich Schnitte demgegenüber als Bilder-Buch anschaut, dem dürfte nicht entgehen, wie sich die Zeichenfolgen auf jeder Seite gleichsam kolonisierend über die collagierten Photos legen und damit das dynamische Sehen irritieren. Auf diese Weise wird ohne konkrete Verbalisierung gesellschaftskritischer Vorbehalte sichtbar, wie sich Wortherrschaft zur pittoresken Wahrnehmung verhält. Um diesen »militarisierten Standard« zu unterlaufen, bedarf es nach Auskunft des Essays Der Film in Worten möglichst individueller und vielgestaltiger Attacken auf alle »Schematisierungen«: Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild(Vorstellungs-)zusammenhängen […] etc. Diese Bewegung bedient sich der technischen Mittel je nach subjektiver Vorliebe, vollzieht und schafft ein Stückchen befreite Realität, die ihrerseits Gewaltanwendung seitens der Unterdrückten […] [gegen] das standardisierte Verständnis ermöglichen hilft […], denn die neuen Produkte lassen sich nicht mehr ohne weiteres dem Bestehenden zuschlagen […]. Sie gehen davon aus, daß eine literarische Arbeit selber ein Politikum darzustellen hat, indem sie Übereinkünfte des Geschmacks, des Denkens […] sowie hinsichtlich des Gattungsgebrauchs und der inhaltlichen Momente bricht …23

Noch einmal angewandt auf Brinkmanns Taktik des Zerstörens innerhalb des Systems Literatur, setzen die Piktographe auf perfide Weise das ptolemäische Wissen der Lesers um die Grenze zwischen Bild und Text voraus. Wie nämlich schon Lessing mutmaßte, vermag die Malerei nur bewegungslose Ausschnitte größerer Ereignisfolgen darzustellen. Die Literatur widmet sich dagegen komplexen Progressionen und logischen Verknüpfungen. An dieser vertrauensvollen Zuschreibung scheitert die Lektüre der Schnitte. Immerhin simulieren die inszenierten Worte aus ihrer Unleserlichkeit heraus eine nur noch monotone Bewegung. Frei von symbolischen oder gattungsspezifischen Signalen, wird der Text folglich selbst zur Leerstelle. Darin noch radikaler als die Schrift-Bilder, setzen die Piktographe diese literalen Sehepunkte der Dynamis ›sprachloser‹ Bilder aus. Der befremdenden Stille der Schrift steht insofern ein Medium gegenüber, über das es angelegent-

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lich heißt, mit ihm allein komme die Welt der sichtbaren Dinge zum Stehen. Der Bildteil im Piktograph kann daher auch mit einem ›Standbild‹ verglichen werden, das sich mit beruhigender Wortlosigkeit der visuellen Komplexität des Daseins entgegenstellt. Anders der Text: Im Piktograph nimmt er sich wie ein verhindertes Stillleben aus, dem neben seiner Autorität auch die Fähigkeit abhanden gekommen ist, das Anschauliche zu ordnen und zu erklären. Getragen von dieser Spannung zwischen ›energeia‹ und ›dynamis‹, leisten die hybriden Piktographe jenen visuellen Widerstand, der nach Brinkmanns kein wortreiches Lamento, sondern ein beredtes Schweigen voraussetzt.24

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»Ich möchte mehr Gegenwart!«1 Aspekte der Intermedialität in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns S TEPHANIE S CHMITT

»I CH

BIN KEIN DICHTER «

2

»Betrachtet man Brinkmanns Gesamtwerk, stimmt man seiner Selbsteinschätzung zu. Er ist kein Dichter, eher ein multimedialer Chronist, dessen Zugriff auf die eigene Gegenwart immer der Versuch möglichst detailgetreuer Wiedergabe direkter und nicht durch Vermittlungsanstrengungen verfälschter Sinneseindrücke war.«3

Rolf Dieter Brinkmann experimentiert mit verschiedensten medialen Ausdrucksmöglichkeiten um Gegenwart zu dokumentieren. Er schneidet seine Umwelt auf Tonbändern mit, ist manischer Photograph und Filmer. Vor allem aber ist er ein Schriftsteller, der sein Werk der sprachlichen Wahrnehmungssezierung verschrieben hat.

1

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 145.

2

Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Herausgegeben von Herbert Kapfer, Katarina Agathos. Erding 2005.

3

Katarina Agathos: Poesie eines Güterzugs. Die Brinkmann Bänder. In: Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Herausgegeben von Herbert Kapfer, Katarina Agathos. Erding 2005.

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Die Realität, welche den Ausgangspunkt für Brinkmanns literarische Beobachtungen bildet, ist eine medial durchsetzte. Diesen Umstand vertextet Brinkmann, indem er nicht nur beschreibt, was er sieht, sondern auch wie. Die prägenden Medien4 seiner Sozialisation, welche sich in die Erfassung und Konstruktion von Realität einschalten und welche sich literarisch als intermediale Beziehungen5 der Texte niederschlagen, sind vor allem Musik, im Besonderen Rockmusik, Photographie und Film. Wenn Brinkmann nun die Darstellungs- und Wirkungsweisen dieser Medien in Literatur überführt oder sie mit Texten kombiniert, versprachlicht er zum einen die Wahrnehmungsgrundlagen einer medial durchsetzten Welt, zum anderen bildet er diese mediale Durchflutung seiner Beobachtung im Text nach. Der sprachliche Eindruck einer momentanen Sinneswahrnehmung, jenseits von Vermittlungsanstrengungen ist also ein komplex konstruierter. Brinkmanns Texte, von Prosawerken über Lyrik bis zu den Materialbänden, stellen ein Experimentierfeld intermedialer Schreibweisen dar, welche sehr unterschiedlich umgesetzt werden und differente Ziele verfolgen können. Davon abhängig wie intermediale Kontakte im Text inszeniert sind, womit sie kombiniert werden oder welche Intermedialitätsformen

4

Unter dem Begriff Medium verstehe ich den (Informations-)Träger mit dem jeweiligen semiotischen System, das die Kommunikation zwischen Sender/Erzeuger/Produzenten/Alter und Empfänger/Konsumenten/Rezipienten/Ego bewerkstelligt (zum Beispiel Literatur – Sprache, Photographie – Bild, Film – bewegtes Bild und Sprache).

5

Analog zur Intertextualität, welche das Phänomen der Beziehungen zwischen Texten beschreibt, benennt Intermedialität mögliche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Medien. Zur Kategorisierung unterschiedlicher Formen von Intermedialität vergleiche beispielsweise die systematischen Ausführungen von Irina O. Rajewsky (Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002 und Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Tübingen 2003) und meine in der Fertigstellung begriffene Dissertation zur Intermedialität im Werk Brinkmanns, welche verschiedene Beziehungen zwischen Text und Bild und Text und Musik von den frühen Arbeiten bis zum Spätwerk herausarbeitet.

A SPEKTE

DER I NTERMEDIALITÄT

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auftreten, entsteht ein anderer Effekt: durch die Verbindung von Intermedialität und literarischer Arbeit mit popkulturellen Codes entwickelt Brinkmann popliterarische Texte. Darüber hinaus dienen seine intermedialen Textexperimente ebenso der Erweiterung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten wie auch der Formulierung einer Medienkritik. Diese unterschiedlichen Aspekte intermedialen Schreibens schließen sich keinesfalls aus, sie sollen vielmehr ein Panorama möglicher Dimensionen und Wirkungstypen aufzeigen, welche gleichzeitig zentrale Aussagen des Werks Brinkmanns benennen.

POP Den Stoff für Brinkmanns schriftstellerische Tätigkeit liefert sein Blick auf seine gegenwärtige Innen- und Außenwelt. Die »Anwesenheit, Gegenwart, [das] [H]ier und [H]ier und [J]etzt«6 bestimmt inhaltlich und formal die Texte. Im Ausgangspunkt Alltag liegt auch Brinkmanns Rolle als »erste[r] deutsche[r] Schriftsteller, der das Label PopLiteratur auf sich gezogen hat«7 begründet. Ein vereinendes Definitionsmerkmal für popliterarische Schreibweisen ist die Verarbeitung alltäglichen Materials. So unterschiedlich die Auslegungen des Terminus ›Popliteratur‹ und die unter diesem Schlagwort verorteten Werke beziehungsweise Autoren auch sein mögen, ist doch eine elementare Gemeinsamkeit zu erkennen: nämlich die Fixierung auf die Gegenwart, ein Mitschreiben von Realitätseindrücken, ein sammelnder, sortierender und auswählender Blick auf die umgebende Lebenswelt und eine Transformierung der Gegenwartsauslese in Sprache.8 Die momentane Umgebung wird nicht nur beschrieben, sondern auch ganz konkret beim Namen genannt. Ein inhaltliches Spezifikum popliterarischer Texte ist die Arbeit an und mit popkulturellen Codes. Literarisierte Markennamen und Warenwörter dokumentieren ganz konkret und verorten so die Texte in bestimmen Zeiten und Szenen.

6

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 152.

7

Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. Mün-

8

Vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegen-

chen 2002, S. 164. wart. Frankfurt am Main 2003.

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Popliteratur sammelt popkulturelle Codes und generiert durch deren Bündelung und deren Aufladung mit beziehungsweise Entladung von Bedeutungen modifizierte Bewertungen9 und leistet auf diese Weise kulturwissenschaftliche Semantisierungsarbeit.10 Dieses inhaltliche Merkmal popliterarischen Schreibens, das Aufgreifen und Bearbeiten popkultureller Codes, wird durch ein formales Merkmal ergänzt. Popliteratur hat stets »eine grundsätzlich ›positive Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der (uns) umgebenden Welt, ihren Tönen und Bildern‹«11. Der Stoff des Alltäglichen und Gegenwärtigen umfasst nicht nur Inhalte, sondern auch den Blick auf die Dinge, die alltägliche Wahrnehmung selbst, welche eine medial gefilterte und geformte ist. Aus dem Nachkonstruieren dieser Realitätseindrücke innerhalb des literarischen Mediums resultieren intermediale Bezugnahmen, Kontakte zwischen literarischen Texten und anderen medialen Vermittlungssystemen. Die Wiedergabe und Simulation von medial vermittelten Erfahrungen innerhalb der Sprache erfolgt über eine Anlehnung an bildliche und musikalische Arbeits- und Wirkungsweisen. Der Medienalltag macht die Wirklichkeitserfahrung zu einer vermittelten, der verschriftete Blick auf sie schließt die Darstellung intermedialer Phänomene mit ein. Intermedialität und Pop treten also keineswegs zufällig gepaart auf, vielmehr bildet Intermedialität eine essentielle Komponente popliterarischer Texte. Die Verbindung von popkulturellen Codes und Kontakten zwischen Text und Musik12 veranschaulicht Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr auf vielfältige Weise. Sein einziger, 1968 erschienener Roman führt in assoziativer Weise die Krisen, die Unruhe, die Frustration und Unzufriedenheit des Protagonisten zu Zeiten der westdeut-

9

Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002.

10 Stephan Dietrich, Heinz J. Drügh: Pop-Literatur, an ihren Rändern betrachtet. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Heft 47/2 2002, S. 101. 11 Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt 2003, S. 325. 12 Der Roman stellt ebenso Verbindungen zwischen Text und Bild her; diese intermedialen Beziehungen sollen hier nicht näher ausgeführt werden, verfahren aber analog zu den angesprochenen Text/Musik-Verbindungen.

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schen Umbruchsstimmung um '68 vor. Im zwischenmenschlichen Spannungsfeld seiner Ehefrau und ihres gemeinsamen Kindes entsteht eine unterschwellig von Zwängen dominierte, zermürbende Grundstimmung, die durch die angedeuteten lethargischen Befreiungsversuche der Erzählerfigur, die von vorn herein zwecklos und halbherzig erscheinen, noch verstärkt wird. Auffallend ist die Häufung popkultureller Phänomene im Text, wie die Nennung zahlreicher Rock ’n’ Roll-Bands und deren Stücke, unterschiedlichster Marken und Moden, Stars, Kino- und Fernsehfilme. Die Umgebung des Protagonisten wird konkret beim Namen genannt: Es kommt nicht irgendein Brotaufstrich, ein beliebiges Erfrischungsgetränk oder Kaufhaus vor, sondern »Appels-Sardellenpaste«13, »Coca-Cola«14 und »C&A«15. Das Personal des Romans hört Musik von den Rolling Stones, James Brown und den Supremes. Warenwörter und Marken-, Band- und Personennamen haben unterschiedliche Funktionen: Zum einen verorten sie den Text in einer ganz bestimmten Gegenwart. Durch die Nennung beispielsweise der »Luxor-Schönheit Nadja Tiller«16 wird auf eine zeitgenössische Werbung des österreichischen Filmstars für die Seifenmarke referiert. Der Text ist nicht zeitlos, er ist in einem ganz bestimmten Moment verfasst und speichert durch die Mitschrift den (Medien)Alltag um 1968 im kulturellen Archiv der Literatur. Darüber hinaus reproduziert und generiert das literarische Aufgreifen von Marken- und Eigennamen von Stars, Bands oder Filmen popkulturelle Codes. Diese dienen hier vor allem der Positionierung des Protagonisten und des ihn umgebenden Klientels des Romans. Gleichzeitig verleihen die popkulturellen Attribute den Personen einen bestimmten Geschmack und Habitus und geben ihnen so ein deutlicheres Profil, eine Charakterisierung über Äußerlichkeiten und Vorlieben. Dadurch, dass der Romantext bestimmte Be- und Entwertungen literarisiert, speist er wiederum Codes in den popkulturellen Raum ein, dessen Teil er dadurch gleichzeitig ist. Im Fall von Brinkmanns Keiner weiß mehr dienen die expliziten Erwähnungen vor allem der Abgrenzung. Der autodiegetische Erzähler distanziert sich deutlich von der deutschen Popkultur, einer Kultur des

13 Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr. Köln 1968, S. 261. 14 Ebd., u. a. S. 138, S. 243, S. 261, S. 266 und S. 293. 15 Ebd., S. 219. 16 Ebd., S. 224.

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Spießertums sondergleichen. Positive Wertung erfahren im Roman allerdings amerikanische popkulturelle Codes von Coca-Cola bis Otis Redding. Gleichzeitig hat die Nennung von Musiktiteln, Bandnamen oder Filmschauspielern und Kinostreifen die Aufgabe der Medienthematisierung und kann zudem eine Markierungsfunktion für mögliche Mediendramatisierungen, also für die formale Orientierung des Textes an fremdmedialen Spezifika, ausüben. Musik spielt auf figuraler Ebene, durch die große Musikleidenschaft des Protagonisten und seiner Freunde eine wichtige Rolle. Es gibt »Unterhaltungen zwischen ihnen und dazu Musik, Schallplatten, die abliefen, Otis Redding, Wilson Pikkett, die Rolling Stones mit My sweet Lady Jane, das Stück, das Gerald am besten fand [...]. [...] Rainer mit seiner andauernden Musik im Kopf, überall, zu jeder Zeit, Otis Redding, Wilson Pickett, James Brown, die Supremes, mit seinen Flacons, Cremes, Gesichtswassern und den toupierten Haaren am Hinterkopf.«17

Musik erfüllt für die Romanfiguren unterschiedliche Zwecke: Phasenweise bildet sie die Hintergrundberieselung einer resignierten, lethargischen Grundstimmung, die auch noch so energetische Songs nicht zu durchbrechen vermögen, oftmals ist Musik ein Gegenpol zur hektischen, bedrohlichen Umwelt und vermittelt Ruhe und Entspannung und sie dient darüber hinaus zur Verortung der Figuren in einer bestimmten Szene, zur Charakterisierung ihrer Vorlieben und Abgrenzung zum ›deutschen Muff‹. Die Thematisierungen fungieren gleichzeitig als Signal dafür, dass Musik auch als textgeneratives Verfahren eingesetzt ist. Keiner weiß mehr wählt bereits ein Motto, das eine intermediale Verbindung zwischen Text und Musik eingeht. Der Refrainteil »Oh no, no, no/ Oh no, no, no/ Oh no, no, no«18 des Rolling-Stones-Songs She smiled sweetly ist dem Roman vorangestellt. Während die zitierten Textzeilen isoliert betrachtet resigniert und frustriert klingen, haben sie innerhalb ihres ursprünglichen vokalmusikalischen Zusammenhangs eine andere Wirkung: »Oh no, no, no« bezieht sich zum einen auf das Vorhergehende

17 Ebd., S. 49. 18 Ebd., S. 7.

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»and says don’t worry«19, zum anderen schafft die Melodie des Refrains eine positive und beruhigende Atmosphäre. Analysemöglichkeiten intertextueller Verweise werden also bei der Übernahme deckungsgleicher Komponenten, wie beim Zitieren der Lyrics eines Songs, durch eine intermediale Dimension, die musikalische Komponente, erweitert. Der vorgegebene Soundtrack zum Roman ermöglicht weitere kontextuelle Bezüge etwa auf die Art der Musik oder die Komposition des Stücks, dessen Textpart aufgegriffen ist. Auch die Stilrichtung des Songs verbundenen mit deren ideologischen Implikationen lassen sich mit Brinkmanns schriftstellerischem Konzept in Verbindung bringen. Schnittpunkte und mögliche Interpretationsansätze sind beispielsweise ein rebellischer Gestus, die Erzeugung von Authentizität, der Wunsch nach Schlichtheit, der Einbezug von Körper und Sinnlichkeit, der hohe Stellenwert des Laientums, das Propagieren einer Protesthaltung, das Mittel der Provokation und das Einschalten von technischen Entwicklungen. Neben Thematisierungen und dem Zitieren musikalischer Lyrics, wird oftmals evozierend auf Musik verwiesen. Im Roman sind zahlreiche Passagen zu finden, welche sich metaphorisch oder vergleichend auf Musik beziehen, wie die Umschreibung »die Eleganz dieser Szene ist die Eleganz von Musik, die man nicht hört«20. An anderer Stelle wird eine rauschhafte Wahrnehmung folgendermaßen formuliert: »eingehüllt in blauglasige Cinemascopewolken, die aufquellen und in sich dicht bewegt sind durch Musik, pure Musik, eingebildet.«21 Durch diese intermedialen Kontakte zwischen Text und Musik und die Literarisierung popkultureller Codes lässt sich Keiner weiß mehr als popliterarischer Text ausweisen. Brinkmanns Rolle als ›erster Popliterat‹ liegt dementsprechend in seinen intermedialen literarischen Experimenten begründet. Popliterarische Texte um 2000 schreiben unter den Bedingungen einer anderen Mediensozialisation das Projekt einer ›intermedialen Gegenwartsliteratur‹ weiter.

19 Vgl.: Rolling Stones: Between the Buttons. 1967. 20 Ebd., S. 111. 21 Ebd., S. 262.

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G RENZÜBERSCHREITUNG Ein weiterer Effekt intermedialen Schreibens ist die Erweiterung sprachlicher Möglichkeiten. Brinkmanns Poetologie entwickelt sich aus einer zutiefst literaturkritischen und sprachskeptischen Position heraus. Den Ausgangspunkt für die literarische Produktion bildet dabei eine mit Klischees beladene, sinn- und bildschwangere, von zwei Weltkriegen vorbelastete Sprache, der zu neuen Möglichkeiten verholfen werden muss. Seine Kritik der literarischen Tradition richtet sich vor allem gegen verkrustete Strukturen, seien sie institutioneller Art oder die der Gattungsgrenzen und -merkmale. So gelten Brinkmanns Kampfansagen ebenso dem Literaturbetrieb und -Kanon, wie auch beispielsweise der Lyrik, als »wohl ›unaufgeklärteste‹ literarische[r] Gattung im deutschsprachigen Raum«22. Man hat es bei deutschen Gedichten »mit höchst stilisierten Realitätsausschnitten zu tun, denn die verwendete Sprache ist ein Filter, der das Grobe, Direkte, das in der alltäglichen Umwelt aufzufinden ist, abhält«23. Die tradierte metaphorische und symbolische Sprachverwendung ist nach Brinkmann abzulehnen. Die deutsche Sprache muss dringend zu einer ›ursprünglichen‹ Sinnlichkeit zurückfinden. Seine Experimente mit sprachlichen Grenzen, Chancen und Möglichkeiten rücken unterschiedliche Kunstformen und Methoden der Vermittlung zusammen, mit dem Ziel eine direkte Sprache und antielitäre Form von Literatur zu entwickeln, welche gleichzeitig zeitgenössische mediale Wahrnehmungsstrukturen aufgreifen können, denn »aufgeklärtes Bewusstsein, auf das europäische Intellektuelle so lange stolz Monopolansprüche erhoben haben, nutzt allein nichts, es muss sich in Bildern ausdehnen, Oberfläche werden.«24 Die Konzentration auf die Oberfläche und die Orientierung an bildlichen Darstellungs- und Wirkungsweisen zeigt sich am deutlichsten am Beispiel von Brinkmanns ›Snap-Shot‹ Gedichten. Die Ästhetik des Schnappschusses, welcher genau und vermeintlich unverfälscht einen Augenblick, einen zufälligen Moment abbildet, ohne sein Motiv

22 Rolf Dieter Brinkmann: Über Lyrik und Sexualität. In: Streit-Zeit-Schrift. 1969 H.1, S. 65. 23 Ebd. 24 Rolf Dieter Brinkmann/Ralf Rainer Rygulla (Hrsg.): Der Film in Worten. In: Dies.: Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969, S. 382.

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›künstlich‹ in Szene zu setzten, wird auf die Lyrik übertragen. Das Ziel, ein direktes sprachliches Bild und einen oberflächlichen aber intensiven Eindruck zu erzeugen, versucht Brinkmann in seinen Gedichten zu erreichen, indem er sich an Spezifika des photographischen Mediums orientiert, denn er sieht im Gedicht »die geeignetste Form [...], spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht scheinbar isolierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse«25

Brinkmanns Lyrik zeigt verschiedene Modifikationen der Poetisierung des Schnappschusses beispielsweise die des geschlossenen Bildes: Geschlossenes Bild Überraschend die zufällige Anordnung des Aschenbechers der Tasse, der Hand zu einem geschlossenen Bild. Keiner kann sagen, hier wird gelebt.26

Durch die Orientierung an der Photographie soll im Text eine ›authentische‹ Momentaufnahme entstehen, die einen möglichst unverfälschten Eindruck vermittelt. Die sprachliche Orientierung an der photographischen Technik und Wirkung bezieht sich vor allem auf die Merkmale der Oberflächlichkeit und auf die Begrenztheit des gewählten

25 Rolf Dieter Brinkmann: Notiz (Die Piloten). In: Ders.: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 185. 26 Rolf Dieter Brinkmann: Geschlossenes Bild (Le Chant du Monde). In: Ders.: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 57.

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Bildausschnitts. Das Geschlossene Bild zeigt eine »zufällige Anordnung«, wahrscheinlich eines Arrangements auf einem Tisch, eines Aschenbechers und einen Tasse. Der Eindruck eines begrenzten und unspektakulären Realitätsausschnittes wird dadurch verstärkt, dass eine Hand erwähnt wird. Diese fügt sich in die Reihe der Objekte ein, wird Teil der starren Oberfläche des beschriebenen Bildes. Ein Schnappschuss wird in einer klaren, schlichten Sprache, in freiem Rhythmus und ungereimten Zeilen sehr reduziert in Orientierung an den Merkmalen des Zufälligen, Ausschnitthaften und Erstarrten, ins Gedicht transformiert. Zudem vertextet Brinkmann einen möglichen Moment des Rezeptionsvorgangs einer bildlichen Darstellung. Zwar kann in der lyrischen Beschreibung keiner sagen »hier/ wird gelebt«, dennoch stellt die angesprochene Hand, dadurch dass ihre Inszenierung als unbelebtes Objekt in der Aufzählung auffällt, einen mögliche Dynamisierung dar. Brinkmann richtet folgende Frage und Aufgabe an den Rezipienten: »Was ist da und fordert sie heraus? Fügen sie das den Gedichten, die sie mögen hinzu. In dem Augenblick werden es ihre Gedichte und sie gehören zu den Gedichten. Eine einheitliche Sensibilität jenseits der Sprachbarrieren entsteht. Keiner ist ausgeschlossen.«27

Dieses Rezeptionskonzept entspricht im Wesentlichen der Beschreibung photographischer Betrachtung von Roland Barthes, welche im Fall des punctums auftritt: »Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes zufällige an ihr, das mich besticht«.28 Barthes definiert das punctum in Abgrenzung zum studium. Sich aus studium für Photographien zu interessieren, heißt, sie auf einen bestimmten Zweck hin zu betrachten, beispielsweise, sie als Zeugnisse politischer oder kultureller Geschehnisse zu sehen oder sie als anschauliche Historienbilder zu schätzen. Der Betrachter hat in diesem Fall Teil an den konventionellen Informationen

27 Rolf Dieter Brinkmann: Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie. In: Ders. (Hrsg.): Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Köln 1969, S. 10. 28 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main 1985, S. 36.

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eines Bildes, die seinem kulturellen Wissen entspringen. Im Gegensatz dazu beschreibt das punctum den affektiven Blick. Das Geschlossene Bild deutet ein mögliches punctum an. Der Leser des Snap-Shot Gedichts könnte sich beispielsweise fragen, wem die Hand gehört und in welchen Ablauf oder welche Geschichte diese Szene eingebunden sein könnte. Inhalt einer Photographie ist immer ein erstarrter Moment eines optischen Sinneseindrucks, der im Rahmen des entwickelten photographischen Bildes ausschnitthaft und rein visuell einen eingefrorenen Aspekt der Realität vor Augen führt. Das Darstellen von Oberfläche, das Beschreiben eines Moments, der augenblicklich einfach nur da ist und sonst keiner weiteren Interpretation oder Analyse bedarf, sondern sich in seiner Bildlichkeit und Sinnlichkeit erschöpft, ist das Ziel, das Brinkmann durch die Übernahme photographischer Eigenschaften innerhalb der Möglichkeiten eines Textes verfolgt: »[I]ch finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und dass sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehr ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹!« 29

Die Gedichte im Spannungsfeld zwischen Photographie und Text beschreiben banale Realitätsmomente äußerst reduziert, klar und einfach. Die Oberfläche einer photographischen Abbildung wird in eine lakonische, konkrete Sprache verwandelt. Nicht die lyrische Sprachverwendung steht im Vordergrund, sondern das transportierte Bild soll beim Rezipienten sinnlich hervorgerufen werden. Das Photographien eigene punctum wird auf verschiedene Arten in die Gedichte aufgenommen und unterstützt den kreativen und anregenden Effekt, den die Lyrik beim Leser hervorrufen soll. Gleichzeitig werden durch die Banalisierung lyrischer Themen und Sprache Dichterposition und Gedichte entmystifiziert, welche damit dem antielitären Anspruch von Brinkmanns Werk gerecht werden. Darüber hinaus weist die Orientierung des Textes an der Darstellungs- und Wirkungsweise der Photographie einen Weg für den Reformierungsversuch

29 Rolf Dieter Brinkmann: Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹. In: Jörg Schröder (Hrsg.): Mammut. März Texte 1&2, 1969–1984. Herbstein 1984, S. 142.

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der Sprache. Intermedialität hat also auch die Aufgabe ein anderes Mediensystem als Orientierungshilfe zu benutzen, welches erweiterte Möglichkeiten der (literarischen) Sprachverwendung aufzeigt. Anzumerken ist, dass die Gedichte den Effekt der unmittelbaren Bildpräsenz komplex nachkonstruieren müssen: Ein Realitätsmoment wird durch die photographische Darstellung verfremdet und diese Transformation wird wiederum innerhalb der Bedingungen von Sprache ausgedrückt. ›Snap-Shot‹ Poesie erschöpft sich also keineswegs in der spontanen Verschriftung eines Eindrucks, sondern reflektiert stets die Semiotik der Photographie mit. Der Eindruck der Unmittelbarkeit und Oberflächlichkeit der Gedichte ergibt sich also aus einer Doppelung medialer Kodierung eines subjektiven Augenblicks.

M EDIENKRITIK Aus Brinkmanns Sprachskepsis heraus entwickelt sich nicht nur die oben beschriebene Erweiterung sprachlicher Möglichkeiten, sondern auch eine generelle Medienkritik. Nicht nur Sprache beurteilt er äußerst skeptisch, auch allen anderen medialen Möglichkeiten der Vermittlung steht er ambivalent gegenüber. Die Kehrseite seiner oben thematisierten Vorliebe für Rockmusik und der von ihm sehr geschätzten Unmittelbarkeit bildlicher Vermittlungssysteme ist eine generell kritische Positionierung gegenüber Medien. Vor allem Brinkmanns späte Werke30, zahlreiche Gedichte der Sammlung Westwärts 1&2 oder die Materialbände Rom, Blicke, Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin und Schnitte setzen intermediale Kontakte häufig ein, um den Medienalltag zu problematisieren. Die literarische Darstellung der Überflutung der persönlichen Lebenswelt mit medialen Informationen, zeigt sich exemplarisch am Text/Bild- Konvolut Schnitte. Anhand von Medienkombination, also der Koexistenz verschiedener Medien innerhalb eines medialen Produkts, werden Text und Bild durch ihre Präsenz in Kontakt gebracht.

30 Vgl. hierzu auch: Michael Strauch: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text-Bild-Montagetechnik. Tübingen 1998 und Andreas Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt am Main 2006.

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Der Materialband Schnitte bringt verschiedenste Bildkomponenten, von Photographien über Zeitschriftenbilder und Reklameanzeigen, mit Textpassagen und Wortfetzen unterschiedlichster Art durch die Technik der Montage31 zusammen. Die heterogenen Teile ergeben eine Gesamtwirkung, welche allerdings nicht darauf bedacht ist, die Fremdartigkeit in eine Aussage oder Komposition zu integrieren, sondern welche ihren Effekt über die offensichtliche Ausstellung der Heterogenität ihrer Teile erzielt. Die einzelnen Parts sind ausgerissen, überlappen sich, grenzen sich manchmal deutlich voneinander ab, visualisieren Einschnitte. Durch die Zerstörung kausaler, räumlicher, zeitlicher und logischer Zusammenhänge wird eine Unordnung rezipierbar, die jede Homogenität der Alltagswirklichkeit, deren Versatzstücke montiert kombiniert werden, illusionär erscheinen lässt. Wirkung wird durch die Spannung zwischen disparaten Formelementen erzeugt, die durch eine prinzipielle Mehrschichtigkeit und Mehrdeutigkeit zwar untereinander korrespondieren können, aber kaum auf einen festen Sinngehalt einzugrenzen sind. Dies führt zu einer Offenheit der Deutung und zu einem starken Einbezug des Rezipienten. Schnitte reduziert den Text zugunsten ausgerissener, zusammengeschnittener oder geklebter Bildbündel. Einzelne Wörter, Sätze oder Textfragmente sind entweder aus Zeitungsanzeigen, Illustrierten, Prospekten oder Plakaten ausgerissen oder sie wurden von Brinkmann in Spaltenform auf weißem Papier abgedruckt und anschließend innerhalb der Text/Bild-Kombination ausgeschnitten oder ausgerissen montiert. Durch Zeilenbrüche, die teilweise einzelne Wörter spalten, und extrem verknappte, unzusammenhängende semantische Einheiten werden logische Verknüpfungen und Sinnzuweisungen schon innerhalb eines kleinen Textblocks nahezu unmöglich, wie beispielsweise in folgender Passage:

31 Unter Montage verstehe ich die Kombination fremder und eigener Elemente, in Abgrenzung zur Collage, welche ausschließlich entlehnte zusammenführt. Brinkmanns Materialbände integrieren eigene Texte und Photographien und kombinieren diese mit fremden Materialien. Darum verwende ich in diesem Kontext den Begriff Montage (vgl. hierzu Victor Žmegač: Montage/Collage. In: Dieter Borchmeyer, Victor Žmegač: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen, 1994, S. 286–291).

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Verrotteter Kontinent &K ulturelle Wö rter!: Wahnsi nnige Rotati on/je schnel ler das kapu tt-caput-Kop f ging, desto besser, Aufst ände, Brände, Rauch):32

Die Zerstückelung geschieht allerdings nicht aus kompositorischen Gründen, sondern um die Fragmentierung der Bedeutung schon auf der Ebene der einzelnen Wörter zu markieren. In der Gesamtwirkung entsteht durch unsauber ausgerissene Schwarzweißbilder, kombiniert mit Bildfetzen farbiger Werbeanzeigen und Brinkmanns getippten Kommentaren, montiert mit typographisch unterschiedlichen Zeitungsschlagzeilen, ein beängstigendes Wahrnehmungskarussell fragmentierter Bild- und Textversatzstücke, die eine Simultaneität unterschiedlichster Verweiszusammenhänge und Sinnoptionen beinhalten, dem Rezipienten allerdings keinen Halt und keine Orientierung für das automatisch bedeutungssuchende Auge geben. Wie im einzelnen die Text/Bild-Komponenten durch Herstellen und Verweigern innerer und äußerer Bezüge zur einer Gesamtwirkung beitragen, zeigt folgende Doppelseite aus Schnitte exemplarisch:

32 Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 130.

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Abbildung 1:

Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 6–7. Hier korrespondiert die Affinität zwischen der Form und der Beleuchtung eines ausgerissenen überdimensionalen Auges mit einem ins Text/Bild-Gefüge eingearbeitetem Zahnrad. Die Rundungen werden in den Großbuchstaben des Wortes »CONTROL« wieder aufgegriffen und stellen über die Form einen Kontakt zu einer grob ausgerissenen Darstellung einer Frauenbrust her. Die kompositorisch eingesetzte Kreisform verbindet Schrift, ursprünglich belebte und unbelebte Materie und verbindet so Inhalte, welche einer kontrollierten Wahrnehmung widersprechen. Ein Effekt der Irritation wird durch die Wirkung der Sprachfragmente wie »...totes graues Neon am Morgen…«, »...sex in Fetzen...«, »dünne verschlissene Schatten...« oder »…nichts, niemand, nirgendwo, nie… (Phantomgegenwart)« unterstützt. Jedes Satzfragment wird zu einer nicht zuzuordnenden Stimme und jeder abgebildete Ort zum potentiellen Tatort. Die verwendeten Materialien, die Wahl der Motive und die Art ihrer Darstellung verweisen auf die Themen Sex und Gewalt, welche zum Großteil die Sensationsmeldungen der Presse und die Film- und Fernsehwelt bestimmen. Die »Phantomgegenwart« entspricht der das Subjekt umgebenden Medienrealität, welche von diesem in keine heterogene und sinnstiftende Form gebracht werden kann.

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Durch den Verlust eines zusammenhängenden narrativen Sinnes in Text und Bild und durch die Auflösung des Raum- und Zeitkontinuums ist auch der Rezipient in ein alptraumhaftes Flackern leerer Wort- und Bildhülsen eingebunden, um immer wieder mit den bildlichen Variationen der Themen Sex, Gewalt, Tod und Geld, in Verbindung mit düsteren Satzfetzen, konfrontiert zu werden. Die Bilder haben in diesem Fall den größeren Anteil an diesem Effekt, denn zum einen sind die Textfragmente flächig zwischen ausgerissene, zerstückelte Abbildungen montiert und werden daher innerhalb einer bildtypischen Rezeptionsweise wahrgenommen, die nicht linear vonstatten geht, sondern von einem Punkt ausgeht und sich dann weiter ausdehnt; zum anderen umgehen die bildlichen Fragmente durch die grobe und unsaubere Art ihrer Montage weitest möglich den Ästhetisierungsprozess, bedingt durch das Fehlen ihres geschlossenen Rahmens, wodurch ihr irritierendes Wirkungspotential erheblich gesteigert ist. Dadurch, dass die Abbildungsfetzen sich nicht in einer bestimmten Reihenfolge befinden und im Einzelnen keine geschlossene Rahmung besitzen, ist die Ebene narrativer Deutungen nahezu unmöglich, ebenso wie eine Rezeption nach konventionellem Muster. Die Suggestivkraft der Bilder zieht den Rezipienten an und führt ihm Schreckenseindrücke vor, welche auch Bilder, die etwa Models, Werbeprodukte oder friedliche Naturausschnitte zeigen, überlagern. Der Text unterstreicht diese Atmosphäre durch sprachliche Versatzstücke einer negativen, sinnentleerten Weltsicht. Dabei steht die unmittelbare Wahrnehmung von inneren und äußeren Realitätsfragmenten im Mittelpunkt der textlichen und bildlichen Reproduktion. Allerdings ist der Standpunkt des beschreibenden Subjekts nicht mehr auszumachen, da es, genauso wie der Rezipient, die einzelnen medialen Eindrücke nicht mehr bündeln kann. Die Schnitte und Risse zwischen den Montageteilen kennzeichnen die verlorengegangenen Bezüge, während die einzelnen Bilder und Worte eine Vielstimmigkeit und Vielfarbigkeit erzeugen, die ein dahinter verborgenes Subjekt völlig übertönen. Die verselbständigte Außenwelt stürzt auf das Individuum ein, dem Kontrollfunktion oder Selbstbehauptung abhanden gekommen scheint; übrig bleiben bedrohlich wirkende isolierte Einzelstücke, die auf den Leser den Eindruck des Verlustes einer Kontrollinstanz übertragen. Indem hauptsächlich Ausschnitte aus Zeitschriften, Illustrierten und Werbematerial zur Erzeugung dieser Wirkung eingesetzt werden,

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geraten die Massenmedien in den Blickpunkt der Kritik, sie bauen durch die Überflutung des Subjekts mit sinnentleertem Bild- und Textmaterial ein Realitätschaos auf, welches das Individuum nahezu völlig absorbiert.

»I CH

BIN EIN DICHTER «

33

Brinkmanns intermediale Experimente versuchen sich an einer Form der Sprachfindung, welche einer Darstellung seines Blicks auf die momentane Umgebung angemessen ist. Durch das Nachkonstruieren gegenwärtiger Wahrnehmung im Text entstehen unterschiedlichste intermediale Kontakte mit differenten Effekten. Brinkmanns frühere intermediale Arbeiten versuchen direktes Erleben auszudrücken, indem sie sich fremdmedialer Mechanismen bedienen um Unmittelbarkeit nachzukonstruieren. Die späteren Materialbände oder Gedichte transportieren durch ihre medienkritische Wirkung das Gefühl der Entfremdung des Individuums, da sich zwischen Subjekt und Welt ein medialer Filter geschoben hat. Seine Einstellung zu Medien generell und die sprachskeptische Haltung stehen in engem Zusammenhang. Genauso wie die Sprache trennend zwischen Subjekt und Welt tritt und nur noch manipulierte und konditionierte Reflexe des Wahrnehmenden zulässt, funktionieren für Brinkmann die anderen Medien. Auch Bilder sind nicht gleich Bildern, sondern die ›richtigen‹, unmittelbaren und sinnlichen werden vom vorgefertigten medialen ›Ziviehlisations‹-34 und Kulturmüll unterschieden. So befindet sich Brinkmanns Sprachkritik in einem ähnlichen Paradoxon wie seine generelle Medienkritik. Sprache ist zur Erfassung der Wirklichkeit nötig, Bilder sind zum unmittelbaren Erleben unerlässlich. Brinkmann muss also über Sprache und Bilder Gegenwart und Sinnlichkeit ausdrücken, welche durch ›standardisierte‹ Sprache und Bilder verloren gingen. Trotz aller Abneigung gegen den Literaturbetrieb und aller Unzulänglichkeiten der Sprache experimentiert Brinkmann stets aus der

33 Rolf Dieter Brinkmann: Eine Komposition, Für M. In: Ders.: Westwärts 1&2. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 103. 34 diese Schreibweise findet sich des Öfteren beispielsweise in: Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut, Hamburg 1999, u. a. auf S. 18.

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Perspektive des Schriftstellers und im Hinblick auf eine innovative Art der Textproduktion und -rezeption. Alle intermedialen Experimente Brinkmanns propagieren die Notwendigkeit, medial beeinflusste Wahrnehmung zu integrieren, wenn der Alltag beschrieben werden soll. Dennoch entwerfen sie implizit als idealen Zustand eine für sich und unabhängig von medialer Erfahrung existierende Realität. Der utopische Anspruch eines direkten Erlebens ohne Medien (zu welchen die Sprache selbstverständlich auch zählt!) und deren Prägung der Wahrnehmung ist Brinkmann sehr bewusst: »Wahrnehmen als ein wortloser Zustand, ohne Sprache wahrnehmen (eine schöne Utopie!) Schöne Utopie: wahrnehmen, sehen, aufnehmen erleben ohne durch Wörter, Verstehen, vorprogrammiert zu sein – direkt.« 35

Dabei ist signifikant, dass Brinkmann zur Erzeugung unmittelbarer Eindrücke eine doppelte Konstruktion vornimmt: Alltagswahrnehmungen werden (größtenteils) in Form von Sprache übermittelt, welche sich vertexteten Merkmalen, Rezeptions- und Produktionsmechanismen der medialen Vermittlung des Films, der Photographie und der Musik bedient. Damit wird einerseits zwar der Unumgänglichkeit medial vorgeformter Wahrnehmung Rechung getragen, andererseits aber im Dienst der Sprache versucht, die vorgefundenen Medienereignisse so umzufunktionieren, dass der Effekt direkten Erlebens erzeugt wird. Darum ist Brinkmann, trotz aller Sprachskepsis und -kritik, in erster Linie Schriftsteller. Die augenscheinliche Schwäche der Sprache, ihre Konventionalität und Konstruiertheit, die Bild und Ton durch intermediale Strukturen versinnlichen sollen, stellt sich als ihre größte Stärke heraus, nämlich jene, diese Diskurse aufnehmen und abstrahieren zu können.

35 Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut. Hamburg 1999, S. 78.

Redundante Wiederholungen, wiederholte Redundanzen Ein Lektürevorschlag zu Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte. M ORTEN P AUL

Wenn du dich schneidest, verbinde nicht den Finger sondern das Messer. Joseph Beuys

»Bis heute«, so attestiert Anita-Mathilde Schrumpf noch Anfang 2010 der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den sogenannten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns, »sieht sich Literaturwissenschaft bezüglich dieser Publikationen« »vor ernsthafte Lektüreprobleme gestellt«.1 Diese äußern sich für Schrumpf vor allem in der Enttäuschung konventioneller Leseerwartungen, die von den Bild-Text-Arbeiten Brinkmanns systematisch unterlaufen werden. Deshalb beschreibt die Forschung mit großem Aufwand die Medienkombinationen, die in Form von Collagen die Seiten der Bände füllen. Dabei werden die Herkunft des Materials sowie geschichtsphilosophische und poetologische Hintergründe rekonstruiert, ästhetische Konzepte angelegt und mit diesen eine grundsätzliche Bedeutungsoffenheit der Bände angenommen. Die leitende Annahme 1

Anita-Mathilde Schrumpf: »Wie lesbar sind Brinkmanns ›Materialbände‹ für die Literaturwissenschaft?« In: Thomas Boyken, Ina Cappelmann, Uwe Schwagmeier [Hrsg.]: Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte Helden - Körper, München 2010, S. 193.

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dieser Bedeutungsoffenheit lässt sich als Komplexitätsparadigma bezeichnen. Anderseits aber ist zu beobachten, dass viele dieser Auseinandersetzungen zu relativ ähnlichen, dabei erstaunlich kompakten Deutungsangeboten kommen. So bestimmen sowohl Thomas von Steinaecker im Jahr 2007 als auch bereits 1999 Karsten Herrmann die Trias »Geld, Sex, Tod« (teilweise in der Variation von »Werbung, Sex, Tod«) als die Hauptmotivik von Schnitte,2 dem letzten der drei postum veröffentlichten PhotoText-Bände, auf den ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Dieses Ungleichgewicht zwischen der Feststellung von Komplexität und der Einheitlichkeit der Deutung irritiert. Gleichwohl verweist es auf ein wesentliches Charakteristikum von Schnitte. Der folgende Lektürevorschlag stellt von der Einzelseitenanalyse auf die Beobachtung von Wiederholungen auf der Breite des Bandes um und ermöglicht so, beide vermeintlich gegenläufigen Aspekte in ein Verhältnis zusetzen. Redundanz ergibt sich dabei als wesentliches Bestimmungsmerkmal von Schnitte.

1. Zwei Satzfragmente, die in minimaler Variation beständig wiederkehren, weisen überdeutlich auf die Relevanz von Wiederholungsphänomenen für Schnitte hin. »Die letzte Seite« [5]3 ist schon auf das Titelblatt als Zeitungsausschnitt prominent montiert. Die Markierung »(Fortsetzung:)« [17] findet sich nach wenigen Seiten zum ersten Mal. Beide bilden nur einen scheinbaren Gegensatz. Das Satzfragment »Die letzte Seite« wird von Thomas Groß als Anspruch Brinkmanns gelesen, eine »apokalyptisch erfahrene Wirklichkeit aufzuschlagen«.4 Michael Strauch nimmt dagegen eine eher

2

Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007, S. 131. u. Karsten Herrmann: Bewußtseinserkundungen im »Angst- und Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher, Bielefeld 1999, S. 259.

3

Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte, Reinbek bei Hamburg 1988. Die Zitate aus Schnitte werden im laufenden Text in eckigen Klammern nachgewiesen.

4

Thomas Groß: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns, Stuttgart und Weimar 1993, S. 267.

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strukturale Lektüre vor: »Die erste Seite« – so zeigt er an – »ist schon die letzte.«5 Vier mal ist der aus einer Zeitung geschnittene Schriftzug als Kopie aufgeklebt, auch in den mit Schreibmaschine verfassten Passagen taucht er mehrfach auf. In Schnitte scheint jede Seite den Status einer letzten Seite beanspruchen zu können. Damit korrespondiert auch das beständige Wiederkehren des Wortes »Fortsetzung« oder seiner Abbreviatur als »Fort.« Jede Seite ist die letzte Seite und jede Seite ist die Fortsetzung der vorherigen Seite. Damit ist zugleich fraglich, ob in einem strengen Sinne überhaupt noch von einer Entwicklung innerhalb des Bandes zu sprechen ist. Denn welche Bedeutung auch immer dem Schnitt in das Material zugesprochen werden kann, seine auffallend häufige Verbindung mit dem Wort Fortsetzung als »Schnitt:&Fort.« deutet an, dass er keinen Bruch in der Folge einleitet. Es findet vielmehr eine Reihung statt. Eine Verbindung der geschichtsphilosophischen und strukturalen Lesart könnte also folgendermaßen lauten: Die Endzeit ist die Gegenwart, diese Gegenwart dabei entzeitlicht. Auf der Kompositionsebene erhärtet sich der Befund einer Reihung. Kann für die Cut-Up-Technik, die über die Vermittlung Ralf Rainer-Rygullas ein wichtiger Impulse der Brinkmannschen Medienexperimente war, tendenziell eine Vervielfältigung der Deutungsmöglichkeiten jedes einzelnen, seinem ursprünglichen Kontext entnommenen Elements angenommen werden,6 trifft dies für die Collagen in Schnitte nicht mehr zu, obwohl die für sie konstitutive Verwendung von Fremdmaterialien sowie deren häufiger Medienwechsel ein signifikantes Anwachsen von Verknüpfungsmöglichkeiten zu signalisieren scheinen. Zwar weist Michael Strauch allein für die Titelseite eine enorme Anzahl an thematischen Bezügen nach,7 meist bleiben diese jedoch in einem engen Rahmen. Außerdem verringern sich die Bezugsmöglichkeiten mit fortgesetzter Lektüre zunehmend, anstatt sich zu multiplizieren. Viele mögliche Assoziationen werden durch die

5

Strauch: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text-Bild-Montagetechnik,

6

Vgl. Andreas Kramer: »Beobachtungen zu deutschsprachigen Cut-Up-

Tübingen 1998, S. 97. Texten um 1970«, in: Dirck Linck, Gert Mattenklott [Hrsg.]: Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60iger Jahre, Hannover-Laatzen 2006, S. 59. 7

Strauch: Rolf Dieter Brinkmann, S. 96f.

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Dominanz einiger weniger wiederkehrender Motive unplausibel gemacht. Dass es sich bei der Cover-Story der Time, deren Titelseite die Basis des Coverbildes von Schnitte bildet, um einen Artikel über den (wissenschaftliche nicht anerkannten) Anthropologen Carlos Castaneda handelt, bleibt zweitrangig gegenüber dem in dem kleinen Foto rechts auf der Titelseite aufgemachten Zusammenhang zwischen Medialität und Gewalt: Der Angriff auf zwei Frauen findet vor einem großen Fernsehgerät statt. Dieser Zusammenhang ist im weiteren Verlauf des Bandes so dominant, dass er jenen ersten verdrängt. So kann auch ein anderer Bezug des Covers, der die Seite nicht mehr allein thematisch, sondern sowohl verfahrenstechnisch als auch in einer literarischen Tradition verortet, nur deshalb relevant werden, weil er präsent bleibt. Nils Plath zeigt, dass Brinkmann in der »gewählten Form der Montage William S. Burroughs Geste wiederholt, die Titelseite einer Zeitschrift zu verwenden und diese in umgestalteter Form zur Zeitkritik werden zu lassen.«8 Ohne Zweifel spielt die Rezeption Burroughs eine zentrale Rolle für Brinkmanns Produktion. Sie ist für Schnitte allerdings nur insofern von Interesse, als Burroughs Form der Zeitkritik von Brinkmann aufgenommen und reflektiert wird – ohne dass aber dabei dessen Arbeit selbst primärer Gegenstand dieser Reflexion wird. Die durch die große Anzahl an unterschiedlichen Elementen sowie deren scheinbare Unordnung suggerierte Unbestimmtheit und die daraus resultierende Mehrdeutigkeit ist eine inszenierte. Variation eines Ähnlichen ist dagegen das bestimmende Gestaltungsprinzip. Das auf die Seiten Geklebte verliert seine Spezifik und wird zum Typus. So verbindet Schnitte zwei rhetorische Anwendungsweisen der Wiederholung: In der Regel dient diese der Emphase. Häufig ist allerdings ein Verlust an Konkretion das Ergebnis beständiger Repetition. Brinkmanns Seiten bewegen sich zwischen diesen beiden Polen. So erklärt sich die trotz der unüberschaubaren Menge und komplexen Anordnung des Materials zu konstatierende inhaltliche Redundanz, welche von der Wortreihung ›Sex, Geld und Tod‹ erstaunlich zutreffend umschrieben wird. Es ist unmöglich, in Schnitte die unzähligen Bilder von Zerstörung, Körpern oder Abfall zu übersehen. Doch die Betrachtung verliert

8

Nils Plath: »Zur ›Fortsetzung. Fortsetzung. Fortsetzung. Fortsetzung‹. Rolf Dieter Brinkmanns ›Schnitte‹ zitieren«, in: Gisela Ferhmann u.A. [Hrsg] Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, 68.

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sich in der Fülle des Ähnlichen, die einzelnen Abbildungen gerinnen dabei zu einem identifizierbaren Typus. Die Elemente sind zwar nicht identisch, verweisen aber auf das Gleiche.

2. Ostentativ stellt Schnitte den Fragmentcharakter der verwendeten Materialien aus. Die Kleinteiligkeit der Elemente, ihre Überlagerung und Rissränder um Bild- und Zeitungsschnipsel betonen auf den angefüllten Seiten ihre Differenz. So verweigern sich diese Text-Bild-Collagen einer intermedialen Synthese.9 Schon im Bezug auf die Schrift ist es nötig, weitere Unterscheidungen vorzunehmen. Neben der auf nahezu jeder Seite auftretenden Schreibmaschinenschrift, die Brinkmanns eigenem Schreibvorgang entstammt, finden sich Ausschnitte aus Artikeln und Büchern, Illustrierten und Tageszeitungen. Diese unterschiedlichen Textformen sind häufig disparat auf die Seiten montiert, werden mitunter aber, wie beispielsweise auf Seite 82, auch zu einem Fließtext arrangiert. Jede dieser Textformen ist dabei noch einmal hinsichtlich zweier Kriterien differenziert. Zum einen ist auch bei den mit der Schreibmaschine geschriebenen Textpassagen ein erheblicher Anteil an Fremdtext zu konstatieren. Zum anderen findet sowohl im Schreibmaschinen- als auch im geklebten Text ein häufiger Sprachwechsel statt.10 Die Vielfarbig- und Vielförmigkeit der Schrift erzeugt ein Schriftbild, das, so Hans-Thies Lehmann, den »Blick […] auffordert […], die Seiten nicht als Text, sondern optisch zu erfassen […].«11 Seiner These nach entkoppelt diese massive Visualisierung der Schriftzeichen die Schrift von ihrer Funktion als Bedeutungsträger. So wird der Blick auf die Gemachtheit der Seite gelenkt und der Schnitt selbst rückt in den Fokus. Und tatsächlich scheint sich in der Vielfältigkeit des Textmate-

9

Schröter: »Intermedialität«, http://www.theorie-der-medien.de/text_druck. php?nr=12 [Letzter Zugriff: 20.3.2010, 10:43].

10 Vgl. bspw. [82]. 11 Hans-Thies Lehmann: »Schrift/Bild/Schnitte Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann«, in: Maleen Brinkmann [Hrsg.]: Rolf Dieter Brinkmann. Literaturmagazin Sonderheft 36, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 191.

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rials, das heterogenen Quellen entstammt und aus dem sich kein zusammenhängender Text ergibt, ein Absehen vom Sinn zu vollziehen. Das bestätigen vorgeblich auch Brinkmanns Eigenaussagen. Bereits in dem ersten Brief, den Brinkmann seiner Frau aus Rom schickt, und mit dem Rom, Blicke einsetzt, bringt Brinkmann seine Weigerung, Italienisch zu lernen klar zum Ausdruck.12 Wenn daraus abgeleitet werden kann, dass Brinkmann die von ihm montierten italienischen Ausdrücke nicht versteht, so stützt das möglicherweise Überlegungen zu einer eher graphischen Funktion des Schriftbilds. In voller Länge jedoch legt die Anmerkung zum verweigerten Spracherwerb eine andere Folgerung nahe. Sie schließt mit der Bemerkung, dass er »andererseits […] nicht jeden Mist zu verstehen« brauche.13 Genau genommen muss Brinkmann die italienische Sprache also deshalb nicht lernen, weil er glaubt zu wissen, was in ihr gesagt wird: Mist. Zugleich lassen sich diejenigen italienischen Begriffe, die Brinkmann verwendet, häufig leicht erschließen; es ist also nicht anzunehmen, dass die mangelnde Sprachkompetenz Brinkmanns hier das Problem darstellt. Die Titelseite unterstützt diese Annahme, weil erstens viele Wörter aufgrund ihres lateinischen Stammes deutschen Wörtern ähnlich und damit verständlich sind, zweitens die Wörter einem engen semantischen Rahmen entstammen. Eine auffällige thematische Homogenität des Wortmaterials zeichnet sich ab, welche ein erneuter Blick auf Seite 82 ebenfalls bestätigt. Zwar konstruiert der aus zahlreichen Einzelzeilen gebildete Fließtext kein zusammenhängendes Syntagma. Eine thematische Maske aber offenbart Rekurrenzen: Gesammelt nur für den Mittelteil der Seite ergibt sich im Bezug auf das semantische Feld »Sexualität« folgendes Paradigma: »ass«, »runter mit den Klamotten!«, »Fuck«, »kissing each other like mad«, »massage«, »cunts«, »sex«, »dirty joke«, vibrator«, »tits«, »fuck me«, »ready for you«. [82] Auf der Breite des Bandes setzt sich dieser Eindruck fort. Die Auswahl des Wortmaterials ist eindeutig gelenkt. In der Sichtung der Massenmedien entdeckt (und sucht) Brinkmann immer wieder identische bzw. analoge Formulierungen. Diese finden dann, ausgeschnitten aus dem je spezifischen Kontext, den in der Zeitung Orts- und Zeitangabe verbürgen, ihren Eingang in Schnitte. Deutlich unterscheidet sich Schnitte

12 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg 1979, 21f. 13 Ebd.

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darin von den Erkundungen14 und Rom, Blick sowie vom Notizbuchcharakter der Scrapbooks William S. Burroughs. Die Konventionalität der Zeit- und Ortsangaben selbst führt Brinkmann nämlich wiederum vor, indem er Datenangaben losgelöst in die Seiten montiert, deren Bezug unklar bleibt. Die Bedeutung der einzelnen zu Details geschnittenen Wörter wird damit gerade nicht gekappt, sondern forciert und in eine inhaltliche Totalität verwandelt. Damit korrespondiert, dass sowohl die gängige Leserichtung als auch die grundsätzliche Lesbarkeit aller Wortmaterialien trotz des chaotischen Ersteindrucks gewährleistet bleiben. Dies gilt in besonderem Maße für das auf der Schreibmaschine getippte Material, welches niemals gerissen oder unvollständig, sondern, in gerader Linie geschnitten, über dem übrigen Material angeordnet ist.15 Auch hier sind wörtliche und sinngemäße Wiederholungen die Regel. Noch in der Beschreibung seiner Zerrissenheit bestätigt sich das Text-Ich in Wiederholung selbst, wenn es etwa bereits auf der achten Seite heißt »/:Ich war ganz zerrissen, zwischen Hören, denn ich hörte etwas anderes als ich sah, und ich roch etwas anderes als ich spürte, […]« usw. bis insgesamt 28-mal die Personalpronomen ›ich‹ und ›mir‹ gefallen sind.16 Die Inklusion von Fremdtext in die Schreibmaschinenpassagen destabilisiert dieses Sprechen nicht. Im Gegenteil unterstützt der zumeist unmarkierte Einbezug der Fremdtexte dessen Redundanz, weil diese ganz offensichtlich aufgrund ihrer deutlichen thematischen Verwandtschaft ausgewählt wurden. In paralleler Weise lässt sich die Verwendung des Bildmaterials beschreiben. Kathrin Schönegg zeigt, wie das (photographische) Bildmaterial, das in seiner Konzeption des Snapshots gerade aufgrund seiner indexikalischen Speicherfähigkeit für Brinkmann attraktiv geworden war, in Schnitte diesen Verweis auf eine außerphotographische

14 Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch), Reinbek bei Hamburg 1987. 15 Diese Beobachtung verdanke ich Prof. Dr. Juliane Vogel. 16 Bernd Stiegler führt für diese spezifische Sprechform den Begriff der ›Lamentatio‹ ein, mit dem er die Brinkmannsche Listenpose als Klage klassifiziert. Vgl. Bernd Stiegler: »Rolf Dieter Brinkmann«, in: Fernand Hörner, Harald Neumeyer und Bernd Stiegler [Hrsg.]: Praktizierte Intermedialität, Bielefeld 2010, S. 222.

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Realität verliert, indem seine mediale Struktur hervortritt.17 Diesen sich abzeichnenden Verlust von Referentialität veranschaulicht sie in Bezug auf die technische Genese des Brinkmannschen Bildmaterials, indem sie für den Reproduktionsprozess eine »vierfache Übersetzung« annimmt: […] vom originalen Negativ, wird ein Positiv abgezogen. Selbiges erscheint als Reproduktion in der Zeitung, aus der Brinkmann es ausschneidet, manchmal erneut photokopiert und dann in die entstehende Bildseite montiert. […] Der dezidierte Bezug von photographischem Negativ zum Positiv geht durch die mehrmalige Übersetzung verloren. 18

Für Schönegg geht diese Ausschaltung der Referenz auch mit einem Verlust an Inhalt einher. Folglich müsste dieser beliebig werden. Wie bei den Textbestandteilen ist aber auch eine andere Konsequenz möglich. Zwar verliert das Einzelbild durch den Herstellungsprozess wie durch die Bilderflut, in der es auftaucht, seinen besonderen Status als Einzelbild, der Bildinhalt der allesamt ähnlich gelagerten Bilder tritt dadurch aber nur stärker hervor. Schon die Zusammenstellung der Motivik ist in dieser Hinsicht anschaulich. Auf Seite 94 beispielsweise finden sich sechs Bilder, die in mindestens vier Fällen dem kommerziellen Umfeld entstammen. Auf ihnen sind fünf Frauenfiguren dargestellt, von denen sich vier in offensiver Weise dem Betrachter anbieten bzw. diesem angeboten werden. Das Anbieten ist dabei ausnahmslos mit dem Einnehmen einer Pose verbunden. Das Dargestellte ist im Medium zu einer festen Form erstarrt. Die Pose ist das bildliche Analogon zur konventionalisierten Sprachformel. Vor diesem Hintergrund ist die quantitative Dominanz des pornographischen Bildmaterials entscheidend. Die pornographischen Bilder, die sich über den gesamten Band verteilen, beschränken sich nahezu ausschließlich auf die Ausstellung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale des weiblichen Körpers. Diese Ausstellung, die den weiblichen Körper verdinglicht und dem Betrachter anbietet, wird in zwei Photographien explizit thematisiert, die Bondage-Situationen

17 Kathrin Schönegg: »Als ich ohne Wörter im Kopf war, begann ich tastend zu sehen«. Rolf Dieter Brinkmann und die Photographie [Unveröffentlichte Magisterarbeit], Konstanz 2009, S. 84f. 18 Ebd. S. 88f.

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zeigen. Auf ihnen sind die bereits mit Bändern und Folie eingeschnürten Frauen zu sehen. Die durch fremde Hand konstruierte, abgeschlossene und vom Vorgang ihrer Herstellung losgelöste Pose lässt eine differenzierende Lektüre nicht mehr zu.19 So forciert Brinkmann eine phallozentrische Betrachtungsweise von Pornographie. Dabei ist gerade nicht die Relation zwischen Bild und Referenz, sondern die Relation, welche zwischen Betrachter und Bild besteht, für Brinkmann relevant. Mit dem symbolischen (und damit tatsächlichen Nicht-) Besitzen des fremden Körpers korrespondiert die mechanische Reaktion des Betrachters, der sich selbst befriedigt. So wird die Verdinglichung des weiblichen Körpers durch den heterosexuellen männlichen Blick bei Brinkmann auch zu einer Vergewaltigung eben dieses Blicks durch die konventionalisierten Bilder, deren Betrachter dabei »als passive Subjekte unheilvoller Ideologien entworfen (sei es die eines bürgerlichen Individualismus oder die einer phallozentrischen Misogynie)« werden.20 Auch deswegen ist es unerheblich, aus welchen narrativen, institutionellen oder medialen Zusammenhängen das einzelne Bild stammt. Die Bilder zeigen ausnahmslos das Gleiche: Eine Pose. Der von der Frau angehobene weiße Rock, der auf Seite 18 und Seite 24 neben expliziten Darstellungen des weiblichen Geschlechts montiert ist, gibt den Blick auf die Unterhose frei. Er ist damit aber nur das kokette Gegenstück zum Brinkmannschen Scherenschnitt um die Vagina. Das pornographische Bild wird in der Lesart Brinkmanns zum paradigmatischen Fall. Konventionen machen aus Sexualität »einkasernierten Sex!« [86] und verstümmeln sie damit. Faszination am Material wird damit allerdings zur Möglichkeitsbedingung einer Kritik, wie sie Brinkmann vornimmt. In diesem Sinne zerschneidet Brinkmann die dargestellten Frauenkörper keinesfalls, vielmehr schneidet er sie zu. Sexualität ist zur Konfektionsware geworden. Sprachlich kann Brinkmann das nachvollziehen, in dem die Bewegung der Brüste selbst zur verbalen Äußerung wird: »›Geld!‹ schaukeln die Titten« [74]. In einem emphatischen Sinne fallen hier Photo und Motiv unter dem Absehen von außerbildlicher Referenz in eins und bilden einen Konditionierungs- und Gewaltzusammenhang aus, dem das Subjekt

19 [36, 84]. 20 Linda Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«. In: Christian Kravagna [Hrgs.]: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 68.

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unablässig ausgesetzt ist. Die Formel der »Dressuren auf Fleisch« [89] bezieht sich mit der unbestimmten Präposition »auf« dann sowohl auf das Fleisch des Körpers der Frau, als auch auf den auf dieses Fleisch gerichteten Blick des Mannes. Beide disziplinieren sich gegenseitig in dieser Dressur, deren einziges Ergebnis weitere Disziplinierung ist. Immer wieder wird deshalb in den Schreibmaschinentexten ein durch kein Personalpronomen mehr vermitteltes Ejakulieren gegen Zäune, Mauern oder Bäume beschrieben. Befruchtung ist ausgeschlossen. Das Sperma fließt an der undurchdringlichen Oberfläche ab, hinter der die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verschwinden. So werden Bilder und die durch das Bild vermittelten Posen zwar nicht naturalisiert, aber ungeschichtlich und illustrieren in nuce das Programm der Entzeitlichung der Gegenwart in Schnitte. Wenn dieser Befund für nahezu alle zum Detail gerissenen Bilder in Schnitte gilt, so sind auch ihre Rissränder gerade nicht Anzeichen einer Unvollständigkeit und Offenheit, sie schließen vielmehr das einzelne Detail ab. »Wenn man die Photographie als unbewegtes Bild definiert,« so formuliert Roland Barthes in Die Helle Kammer, »heißt das nicht nur, dass die darauf dargestellten Personen sich nicht bewegen, sondern auch, dass sie nicht aus dem Rahmen treten: sie sind betäubt und aufgespießt wie Schmetterlinge.«21 Während das Photobild durch das Objekt bestimmt ist, welches es abbildet, bestimmt also die durch Bilder festgelegte Pose zugleich das abzubildende Objekt.

3. Die Seite ist der Ort, an dem Brinkmann seine Bild- und Textmaterialien anordnet. Erst hier wird die Redundanz der Elemente erfahrbar. Die über 300 einzelnen Bestandteile der Doppelseiten 74 und 75 belegen dabei die Präzision der Montagetechnik, die noch nicht einmal Kleberrückstände erkennen lässt. Nur in Ausnahmefällen verdeckt ein Textschnipsel hier den anderen. Zumeist sind die Schnipsel so geschnitten, dass andere wie Puzzleteile an sie anschließen. Der Schnitt in die Zeitung macht den Ausschnitt zum beweglichen Objekt im Raum, ihr Verfallsdatum ist Bedingung und Anreiz zur

21 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 66.

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Weiterverarbeitung.22 Brinkmanns Montage nimmt dem Ausschnitt dagegen seine Beweglichkeit. Er wird auf einer Unterlage festgestellt, die den flüchtigen und deswegen bearbeitbaren Charakter der Zeitungsseite auslöscht – gerade weil sie Buchseite ist.23 Anders als in Elfriede Jelineks Debütroman wir sind lockvögel baby!, der eine Anleitung zum Cut-Up der Seiten mindestens als ironischen Gestus dem Text voranstellt,24 ist in Schnitte die Seite ein in sich geschlossenes, aber eben auch abgeschlossenes Kunstprodukt. Sie ist der Bedeutungsträger von Schnitte und die einzige den Band strukturierende Entität. Auch der gleichförmige weiße Rahmen, den die Paginierung in der Reprintfassung um die Seiten legt, unterstreicht, wenn auch nachträglich, die Geschlossenheit der Seiten. In der Reproduktion wird die Tiefe der übereinander geklebten Bestandteile in eine neue Flächigkeit überführt, so dass die Einzelteile Materialität einbüßen und in die Seite eingehen. Weil die Materialität der Papierseite aber selbst eine ephemere ist,25 bleibt die distinkte Herkunft der montierten Elemente erkennbar. Das macht die besondere Spannung der Seiten von Schnitte aus. Auf ihnen addieren sich die einzelnen Details zu Ensembles, denen Brinkmann oft sogar eine Pointe abgewinnt. Auch bei deren Anordnung erweist sich Brinkmann als gewissenhafter Monteur. Einen deutlichen Hinweis darauf geben die auf einigen Seiten sichtbaren Linien des Konstruktionspapiers, welche sich gegen Ende des Bandes häufen. Die vermutlich unvollendeten Seiten enthüllen eine gerasterte Arbeitsfläche, welche erst von den fertigen Collagen gezielt verdeckt wird.26 Den Titel des Bandes Lüge strafend, sind

22 Vgl. Cornelia Vismann: »Zur Zeitung in zehn Schnitten«, in: Juliane Vogel, Anke te Heesen [Hrsg.]: Papieroperationen - der Schnitt in die Zeitung, Neue Freunde 2. Zum aktuellen Stand von art, science&business, Stuttgart 2004, S, 106. 23 Vgl. zum Verhältnis zwischen Zeitung und Buch: Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt am Main, 2006, S. 269–272. 24 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby! Reinbek bei Hamburg 1988. 25 Vgl. Thomas Macho: »Shining oder: Die weiße Seite«, in: Wolfgang Ullrich, Juliane Vogel [Hrsg.]: Weiß, Frankfurt am Main 2003, S. 22. 26 Rosalinde E. Krauss betont die fundamentale Funktion des Rasters für die moderne Kunst, in welcher sowohl Offenheit als auch Abgeschlossenheit angelegt ist. Insofern ist es aufschlussreich, dass Brinkmann zwar ein

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außerdem die kurzen aus Schreibmaschinenschrift bestehenden Abschnitte, die sich auf fast allen Seiten finden, keinesfalls aus einem längeren Text herausgeschnitten, sondern bereits beim Schreibvorgang auf der in die Schreibmaschine eingelegten Seite arrangiert.27 Ihr Zeilenbruch verrät das deutlich, denn er ist Folge des Zeilensprungs per Zeilenschaltung und nicht Ergebnis eines Schnittes. So ist auch die häufige Fortsetzung eines Wortes in der nächsten Zeile ein deutlicher Hinweis auf den intendierten Zeilensprung und ein Argument gegen den Schnitt als ein das Vorgefundene zerschneidendes Moment. Die Form der Textblöcke auf der Collagenseite ist also Ergebnis eines Produktionsprozesses, in welchem dem Ausschneiden mit der Schere nur eine instrumentelle Rolle zukommt. So wird das Einwirken des Zufalls, wie es Tristan Tzara im Zusammenhang der ›écriture automatique‹ für das Cut-Up betont,28 unterminiert. Er ist aus Brinkmanns Montageverfahren geradezu ausgeschlossen. Anders als Karl Kraus, dessen Ausschnittpraxis von einer unmittelbaren Bewältigung der täglichen Zeitungsproduktion motiviert ist,29 legt Brinkmann über ein Jahr lang Materialmappen an, bevor die Anordnung auf den Seiten konzentriert in vier Monaten erfolgt. Neben der Beschränkung durch die Auswahl des Materials erweist sich die Anordnung der verschiedenen Bestandteile als Verfahren, das Bedeutung nachgerade zu fixieren sucht. Nils Plath hat diesen mehrfachen Ettikettenschwindel als poetisches Prinzip Brinkmanns bestimmt. Für ihn bezeichnet »schon der Titel […] das umgesetzte Programm gleich in doppelter Weise, in dem sich das Wort Schnitte in Anführungsstriche gesetzt findet, die traditionell

Raster verwendet, dieses aber auf den fertiggestellten Seiten verschwindet. Vgl. Rosalind E. Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam, Dresden, 2000, S. 61 ff. 27 Vgl. Kathrin Schönegg: »Als ich ohne Wörter im Kopf war, begann ich tastend zu sehen«, S. 79. 28 Vgl. Tristan Tzara: »Dada Manifest über die schwache Liebe und die bittere Liebe«, in: Ders.: 7 DADA Manifeste, 2. Aufl., Hamburg 1978, S. 44. 29 Juliane Vogel: »Herren mit Scheren. Karl Kraus«, in: Juliane Vogel, Anke te Heesen [Hrsg.]: Papieroperationen – der Schnitt in die Zeitung, Neue Freunde 2. Zum aktuellen Stand von art, science&business, Stuttgart 2004, S. 33.

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als Zeichen für ein uneigentliches Sprechen, für eine Distanzierung und damit für eine selbstbewusste Reflexion der eigenen Praxis zu lesen sind.«30

Das in der Anordnung der Elemente erzeugte Ensemble unterstützt, entgegen dem visuellen Ersteindruck, die Geschlossenheit der Seite und bestätigt so noch einmal den Werkstatus von Schnitte. Bild- und Textmaterial ergänzen sich in einer Weise, die die Seitenstruktur unterstreicht, anstatt sie zu sprengen; so finden sich häufig Bildunterund Überschriften oder die Seite folgt einem nahezu emblematischen Aufbau. Zugleich wird auch in der Kombination aus Bild und Text zumeist die gängige Leserichtung beibehalten. Selbst die materialreichsten Seiten 72 bis 77, auf denen teilweise sogar die Einzelseitengrenze überklebt worden ist, sind in der Montage des Textmaterials fast sklavisch an den äußeren Seitenränder orientiert. Das am Material entwickelte Verhältnis zwischen ausgestellter Heterogenität und tatsächlicher Homogenität ist auch im Bezug auf die Seite konstant. Omnipräsent ist dabei die Verbindung von pornographischem Text- und Bildmaterial mit Elementen der Werbung, des Geldes und der Zerstörung. Brinkmanns aufwendige multimediale Technik kündet beredt davon, dass sich dieser Zusammenhang nicht in Form eines Aussagesatzes artikulieren lässt. Trotzdem finden sich häufig geradezu sinnfällige Bild-Text Kombinationen. Auf der Seite 11 bildet eine große Schwarzweiß-Photographie die Basis der Seite. Sie zeigt eine aus der Froschperspektive aufgenommene Frau, die beim Tanzen Rock und Bein hebt und so deutlich nicht nur ihre Strümpfe, sondern auch die Oberschenkel samt Strumpfbändern enthüllt. Auf das Photo ist in die rechte untere Ecke ein deutlich kleineres Photo geklebt – möglicherweise eine Post- oder Verlobungskarte. Auf ihm ist eine der ersten sehr ähnliche Frau zu sehen, die einen Blumenstrauß hält, dabei lächelt und von einem Mann am Arm gehalten wird, dessen Gesicht mit betont dunklen Lippen nah ihrer Wange verharrt. »Foto Quiz« ist in einem schwarz gerahmten Kasten oben links aufmontiert. Ein solches Photoquiz fragt nach dem Zusammenhang zweier Bilder bzw. dem Sinn, den sie zusammen herstellen, und verlangt deshalb eine kreative Übersetzungsleistung der Bilder in eine sprachliche Form. Im vorliegenden Fall könnte der Lösungssatz lauten, dass die bürgerlichen Konven-

30 Nils Plath: »Zur ›Fortsetzung. Fortsetzung. Fortsetzung. Fortsetzung‹. Rolf Dieter Brinkmanns ›Schnitte‹ zitieren«, S. 73.

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tionen, die hier selbst durch eine Pose repräsentiert sind, kaum noch eine durchgängige Sexualisierung überdecken können. Da aber auch diese Sexualisierung zu einer lächerlichen Pose gerinnt, die zudem schon in der bürgerlichen Pose enthalten ist und dabei sogar auf deren Attribute, wie etwa das Heben des Rockes, zurückgreift, werden beide als positive Setzungen negiert. Die auf den nächsten Seiten mehrfach einmontierten Geldscheine31 verweisen dann auf die beidem zugrunde liegende ökonomische Ordnung. Diese ist, die Abbildung von Papiergeld ist deutlicher Hinweis, selbst eine auf Konventionen basierende symbolische Ordnung. Auch sprachlich vollziehen die Schreibmaschinenpassagen diese Beobachtung nach, wenn es etwa auf Seite 22 heißt, dass »möglichstviele V/verstümmelungen:/schaffen,bringt/ möglichst vielG/eld«. Das Montageprinzip Brinkmanns kann also Parallelismen aufzeigen, lässt aber keine Kausalität erkennen, gerade weil es im Zeigen von dem, was sichtbar ist, verharrt. So bleibt selbst ob der deutlich benannten Verbindung von Verstümmelung, Geld und Verwüstung, deren Prinzip als »einfach genug« bezeichnet wird, unklar, warum nun genau, »möglichst vielV/erstümmelung: schaffen […] möglichstviel G/eld« erzeugt. Viele der Doppelseiten des Bandes sind formal und inhaltlich klar aufeinander bezogen. Dennoch bleibt eine nachvollziehbare Entwicklung auf der Gesamtlänge schwer nachweisbar. Es gilt vielmehr das Gesetz der Serie: Serialität lässt sich als dasjenige Prinzip bestimmen, nach dem Seiten und Seitenvarianten organisiert sind. Umberto Eco definiert dieses als eine (theoretisch) endlose Variabilität eines Schemas »und eine endlose Variabilität hat alle Merkmale der Wiederholung, aber nur sehr wenige der Variabilität.«32 Das ist für Brinkmanns Collageseiten in Schnitte unmittelbar einsichtig. Die Seiten beziehen sich nicht aufgrund von Narration, logischer Folge, Kausalität oder anderer festen Ordnungskategorien aufeinander, sondern ausschließlich über Ähnlichkeit und Differenz. Sie bewegen sich so innerhalb eines Schemas, das die konkrete Abfolge sowie die Anzahl der Glieder arbiträr werden lässt und dagegen Phänomene der Rekurrenz betont. Sinnstiftende Setzungen werden problematisch, weil sich die

31 [13, 14, 17]. 32 Umberto Eco: »Die Innovation im Seriellen«, in: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München, Wien 1988, S. 174.

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Flut an distinktem aber analogem Material nur in beständig variierender Anordnung überhaupt noch bewältigen lässt.

4. Vor dem Hintergrund dieser Problematik lassen sich mindestens zwei unterscheidbare Montagevarianten bestimmen, wenn auch Mischformen dominieren. In ihnen muss sich demnach eine unterschiedliche Haltung zum skizzierten Verhältnis zwischen Anordnung und Material ausdrücken. Zum einen sind viele Seiten vollständig mit einer großen Anzahl von Elementen bedeckt, so dass kaum Zwischenräume mehr zu sehen sind und die Fülle nur erlaubt, Differenzen, Ähnlichkeiten und Wiederholungen der Elemente festzustellen. Auf anderen Seiten sind einige wenige dieser Elemente so arrangiert, dass sie zusammen eine mindestens annäherungsweise verbalisierbare Pointe bilden. Obwohl beide Verfahren in der medialen Welt zu finden sind, gehören sie gleichwohl auch dort unterschiedlichen Ordnungen an. Die gefüllte Seite findet ihr Analogon in der mit Bildern und Text angefüllten Welt, also auf einer Makroebene. Die zur gezielten Komposition verdichteten Elemente treten gemeinhin als Cartoon, Werbeanzeige usw. auf, stehen aber auch in einer avantgardistischen Tradition, die sich etwa bis zu den Photomontagen von John Heartfield zurückverfolgen lässt. Sie gehören der Mikrostruktur der medialen Welt an. Es ist diese Unterscheidung zwischen den vollständig gefüllten und den auf einen Zusammenhang hin montieren Seiten, die eine gerichtete Gemachtheit der Collagen noch einmal belegt und erlaubt, drei differente Textpositionen zu entwickeln. Wo erstens in den an der Schreibmaschine geschriebenen Passagen ein egomanisches Text-Ich im Eigen- wie im Fremdtext immer nur das Gleiche sagt, da klebt zweitens der Materialsammler die Seiten solange mit den gleichförmigen Details der medialen Welt zu, bis keine Leerstelle mehr zurück bleibt. Drittens aber collagiert der Monteur einen zwar immer ausgesprochen ähnlichen Zusammenhang, markiert jedoch durch die Fähigkeit zur Setzung von ironischen Pointen eine Distanz zum Material seiner Montage. Auf der Seite 18 kommentiert der oben rechts gesetzte Zeitungsausriß »Gesprächspartner:« die darunter gruppierten Bilder, deren Zuordnung zum Wort durch den mitausgerissenen Doppelpunkt eindeutig ist. Auf keinem dieser Bilder ist allerdings ein zur Artikulation über-

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haupt fähiges Gegenüber, ein »Gesprächspartner« zu entdecken, sie zeigen vor allem den weiblichen Intimbereich. Doch wird dies weder beklagt noch affirmiert, sondern vor allem sichtbar. So findet das ›Gespräch‹ dann doch statt, im Rezeptionsakt zwischen Text und Bild. Diese Anordnung irritiert besonders im Vergleich zu den beiden es kontrastierenden Textpositionen, die sich den Polen eines unablässigen Sprechens einerseits und einem totalen Verlust an das Material andererseits annähern und die in ihrer Monomanie weder Distanz noch ein Gegenüber zulassen. Der ironische Moment besteht hier im – um mit Benjamin zu sprechen – ›Trick‹, »dass […] je zwei Bilder, Objekte oder Begriffe miteinander konfrontiert zu einem Aufeinanderprallen gebracht werden, um durch eine solche ›Kollision‹ Irritation und Verstörung erwecken […]« zu können.33 Damit nimmt die Montagepraxis Brinkmanns noch einmal überdeutlich einen modernistischen Versuch der Kontingenzbewältigung auf. Während Benjamin diesen Versuch politisch motiviert,34 scheint er bei Brinkmann zuallererst die Funktion eines textinternen Selbstkommentars auszuüben. Die Ironie bricht nicht die quantitative Dominanz von penetrantem Ich und penetranter Fülle, erlaubt dem Rezipienten oder der Rezipientin aber jene Distanzierung im Rezeptionsakt, die sie selbst zum Material einnimmt. Allen drei Textpositionen ist gemeinsam, dass sie den Rezeptionsakt und so die Bedeutungsgenerierung lenken. Alle drei vereint zudem ein dabei jeweils anders gesetztes Moment von Wiederholung: die Formeln des Texts, die Posen der Bilder sowie die Pointen der Seiten. Sie setzen damit keine Bedeutungsoffenheit ein, sondern bestätigen vielmehr Redundanz als zentrales Charakteristikum von Schnitte. Das Verhältnis, welches diese drei Textpositionen zueinander einnehmen, zeigt sich noch einmal besonders anschaulich in jenem Collagebaustein, von dem auch die Annahme einer Eindeutigkeit von Schnitte ihren Ausgangspunkt genommen hatte, dem Zeitungsausschnitt »Die letzte Seite«. Die geschichtsphilosophische bzw. geschichtsdiagnostische Lesart kann dabei dem Text-Ich zugeordnet werden, die Verfahren beschreibende, vielleicht sogar meta-poetische

33 Anna Schober: Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München 2009, S. 35. 34 Vgl. Walter Benjamin: »Der Sürrealismus«, in: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser [Hrsg.]: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften II,1, Frankfurt am Main 1977, S. 300.

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dem Sammler. Die dritte – ironische – offenbart sich, sobald der Ausschnitt in seinen ursprünglichen medialen Kontext zurück versetzt wird. In der Tageszeitung ist die letzte Seite jenem ›Diversen‹ vorbehalten, welches sich der Einordnung in die übrigen Rubriken entzieht. Auf der Seite 153, fast am Schluss von Schnitte, reflektiert Brinkmann dieses Moment und gewinnt ihm so selbst noch einmal eine ironische Pointe ab. Dort sind Photographien und Text so angeordnet, dass sie überdeutlich an eine Photostory erinnern, eine jener Textgattungen, die Zeitungen vorzugsweise auf der letzten Seite unterbringen. Allein ist der Inhalt der Photostory hier keine ›Photo-Love-Story‹ der Bravo, sondern die gleichfalls prägnante und kaum weniger dramatische Geschichte einer von Zivilisation zerstörten Natur. Der Schriftzug »Die letzte Seite« findet sich folgerichtig in der oberen rechten Ecke. Übertitelt wird er dort aber noch einmal, klein und in Schreibmaschinenschrift, mit »gestern war«. Die gefüllte Seite, der geschichtsdiagnostische Befund und die ironische Distanz werden zugleich aufgerufen, stellen sich so aus und erlauben ihre Befragung, ohne sich dadurch gegenseitig aufzuheben.

5. Die Lektüre von Schnitte mit Blick auf Wiederholungen hat konsistente Aussagen über einen Bedeutungsgehalt des Werkes ermöglicht. Entgegen dem offenen Rezeptionskonzept hat sich eine starke Blicklenkung durch das Arrangement der Seiten ergeben. Die Seiten wurden so als strukturierende sowie Bedeutung tragende Einheit von Schnitte etabliert. Sie sind in einem emphatischen Sinne lesbar. Auf verschiedenen Ebenen sagen die Seiten dabei das Gleiche. Erst vor dem Hintergrund dieses Befundes einer inhaltlichen wie weitgehend formalen Einheitlichkeit wird eine tatsächliche Mehrdeutigkeit von Schnitte sichtbar: Der Schreibmaschinentext mit seinem Text-Ich, die mit Material vollständig ausgefüllten Seiten sowie die Montage von ironischen Pointen durch Bild-Text-Kombination bilden drei unterschiedliche Strategien im Umgang mit der massenmedial produzierten Materialflut. Wenn die Feststellung, es handele sich bei Schnitte um ein lesbares Buch, damit ernst zu nehmen ist, so stellt sich abschließend erneut die Frage nach dessen angemessener Lektüre.

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Im Eröffnungstext seine Vortragssammlung Eigenblutdoping befragt Diedrich Diederichsen das Aufwachsen in den 1960er und 1970er Jahren im Hinblick auf die Differenz zum bürgerlichen Lebenslauf, der sein ästhetisches Äquivalent im Bildungsroman gefunden hatte. Gegen diesen realen Bildungsroman, den Diederichsen in einer dialektischen Kreisbewegung begreift,35 setzt er dann den Loop als Negation einer solchen Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte. »Der Loop ist keine Rückkehr«, weil er keine Relation zum Aufbruchsort aufrecht hält, »der Preis dafür, die Verbindung abgeschnitten zu haben, ist das Nie-irgendwo-Ankommen.«36 Diese negative Bestimmung ergänzt Diedrich Diederichsen positiv mit einer Erfahrung, die aus dem (musikalischen) Minimalismus zu gewinnen ist: Durch seine biegsame, verläßliche Konstanz werden unsere eigenen MikroVeränderungen plötzlich groß, die Welt um den Loop herum wächst. Wir sehen uns immer wieder unter den gleichen Voraussetzungen selbst an und sind immer wieder ein bißchen anders geworden.37

So rückt das Verhältnis von Rezeption und Loop in den Fokus. Nun sind in Schnitte weder die Seiten identisch, noch wiederholt sich eine Reihe von Seiten in immer gleicher Folge, noch ist das Buch zirkulär in dem Sinne, dass das Ende nach einer Bewegung mit dem Anfang zusammenfallen würde. Trotzdem kann das Konzept des Loop, wie es Diederichsen entwickelt, für eine Lektüre Brinkmanns nutzbar gemacht werden. Weil jede Seite zugleich die letzte ist, wird für Schnitte der Moment des Aufbruchs kontingente Setzung. Und weil trotz beständiger Variation von Material und Gestaltungsprinzip die Rekurrenzen dermaßen penetrant sind, kann der Leser oder die Leserin letztlich bereits nach dem ersten Drittel darauf verzichten, Brinkmanns Lenkung durch alle 156 Seiten hindurch zu folgen. Ab einem bestimmten Punkt ist nicht mehr bestimmbar, ob die Seiten einfach unvollendet sind oder ob das Prinzip lang genug verfolgt wurde und deshalb nicht mehr fortgesetzt werden muss. Möglicherweise aber wird hier tatsächlich im Leerlaufen durch Wiederholungen jener Zustand

35 Diedrich Diederichsen: »Leben im Loop«, in: Ders.: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2008, S. 25. 36 Ebd., S. 29. 37 Ebd., S. 35.

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erreicht, den das Text-Ich auf einigen Seiten als Kontrastprogramm zur überfordernden Weltwahrnehmung einführt, wenn es etwa auf der letzten Seite von Schnitte formuliert, dass »in ihm […] w/eiße Seiten blendende Helli/gkeit wieder« spiegelten, »menschenleer und schön« [156]. Diedrich Diederichsen, ohne sich dabei auf Brinkmann zu beziehen, beschreibt einen ganz ähnliche Empfindung wiederum vor dem Hintergrund der elektronischen Musik und charakterisiert diese durchaus kritisch als den Willen, »ein relatives Glück fest[zu]halten, das eben darin besteht, besonders ausgeprägtes Ich sein zu können, ohne Patriarch zu werden.« Denn »natürlich vermeidet und verweigert man so nicht nur die falsche Arbeit, die Entwicklung, sondern auch die gute Arbeit an der Welt, die Negation des Vorgefundenen.«38 Diese Verweigerung besteht in Schnitte allerdings für den Loop der rhythmisierten Stille, der zum Verweilen einlädt, genauso wie für die Wiederholung des Lärms der Welt, die in Wiederholungszwang umschlägt und dadurch paralysiert. Die ironische Distanz, die einige der Collagen markieren, kann dann vielleicht als Augenzwinkern Brinkmanns an diejenigen Leserinnen und Leser verstanden werden, die das Buch irgendwann einfach zuschlagen.

38 Diedrich Diederichsen: »Leben im Loop«, S. 35.

Bilder einer Neuropoetik Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch) S IBYLLE S CHÖNBORN

P ROLEGOMENA ZU EINER N EUROPOETIK 2004 stellt die amerikanische Kunsthistorikerin Barbara Maria Stafford als Reaktion auf die Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Forderung an die Kunst, Subjektivität neu zu bestimmen: »Es gilt, eine Somapoetik – eine Körperlehre der Psyche – zu formulieren oder, wie der Philosoph Thomas Metzinger es einmal ausgedrückt hat, ›eine Raumsemantik des menschlichen Innenlebens‹.«1 Exakt eine solche »Raumsemantik des menschlichen Innenlebens« hat Rolf Dieter Brinkmann bereits in den 1970er Jahren zu entwickeln versucht. Mit seinem Dichter-Vorbild Arthur Rimbaud ging Rolf Dieter Brinkmann seit seinen lyrischen Anfängen davon aus, dass die klassische Identitätsphilosophie und damit die Idee vom selbstbewussten Ich in der Gegenwart an ihr Ende gekommen seien. In den Erkundungen für die

1

Barbara Maria Stafford: Neuronale Ästhetik – Auf dem Weg zu einer kognitiven Bildgeschichte. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. S. 103.

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Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch)2 radikalisiert Brinkmann Rimbauds berühmten Satz »Je est un autre« zu der Antwort auf die Frage »[…] wer bist du? Ich bin viele!«3 und vertritt einen flüchtigen, multiplen Ich-Begriff: »Ich sind Viele und so gehe Ich durch viele Ichs«4. Den Identitätsbegriff definiert der ehemalige Popliterat nur noch negativ über seine kontingente Abrichtungs- und Überwachungsfunktion: »Die Erfahrungen der IchAuflösung in allen Stadien durchgemacht/diese schäbige und zu fällige Identität,dieses Eingesperrtsein durch einen Zweiten,der mich in dieser zufälligen Identität sieht.«5 Sigmund Freuds Diktum, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus sei, formuliert Brinkmann zu dem provozierenden Satz um: »ja,hier spricht Ihr vegetatives Nervensystem«6. Daraus folgt für ihn die Suche nach neuen Schreibszenarien, die ohne eine sprechende Subjektposition auskommen: »Dann schmeiß das verbale Ich weg.Und das Du.Und das Wir. Nichts ist lüg enhafter als Ich,Du,Wir,windige Phrasen […]«.7 Brinkmann experimentiert daher in seinen letzten Arbeiten konsequent mit neuen Schreibverfahren, die ihn aus der Schreib- und Subjektkrise herausführen sollen: »Ich finde widerlich,sobald jemand mit Personen!in einem Roman anfängt!!! Ich weiß,wie stark das einengt!Legt aber alles auch fest.Deswegen kann ich nicht mehr schreiben.Ich will von diesen Scheiß-Personen weg!!!«8 Aus der radikalen Negation auto- wie heterodiegetischer Erzählerpositionen für sein zukünftiges Schreiben, bei dem die Stelle des sprechenden Subjekts konsequent unbesetzt bleiben soll, entsteht die Idee einer »écriture automatique« des vegetativen Nervensystems, eines visualisierten Gehirntextes: »stecke tatsächlich mitten in Romanansätzen,ohne Personen,ohne Anfang,hänge in der Luft,zuviele Stücke, […] (aber keine Personen!Ich zersplittert)«.9 Dieser Verzicht auf ein den

2

Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch). Reinbek 1987. Im Folgenden als »Erkundungen« zitiert.

3

Erkundungen. S. 152.

4

Erkundungen. S. 100.

5

Erkundungen. S. 117.

6

Erkundungen. S. 103.

7

Erkundungen. S. 117.

8

Erkundungen. S. 197.

9

Erkundungen. S. 205.

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Schreibprozess strukturierendes Ich in Brinkmanns späten Texten entspricht auf Genaueste den Erkenntnissen der gegenwärtigen Neurobiologie. Denn der Hirnforscher Wolf Singer beschreibt das »Gehirn als ein in hohem Maße aktives, auf sein eigenes Wissen zurückgreifendes, selbstreferentielles System […], das auf der Basis der gespeicherten Information – genetischer ebenso wie im Laufe der biologischen Entwicklung erworbener – aus dem wenigen, was die Sinnessysteme zur Verfü10

gung stellen, ein kohärentes Bild der Welt zusammensetzt.«

Demnach »müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken«11, wie es Wolf Singer formuliert. Bei Brinkmann tritt bereits in den 1970er Jahren das Gehirn an die Stelle des identitätslogischen Ichs und wird zur autonomen Schaltstelle, in der neuronale Prozesse zusammenlaufen, verarbeitet und gespeichert werden. 1971 beginnt Rolf Dieter Brinkmann daher konsequent mit literarischen Experimenten am »offenen«, d.h. tätigen Gehirn, indem er Literatur mit Hirnforschung in Kontakt bringt, ästhetische mit naturwissenschaftlicher Theorie und Praxis kurzschließt. Um die Arbeit des menschlichen Gehirns im Selbstexperiment unterhalb der steuernden Ich-Schwelle zu visualisieren, entwickelt Brinkmann nach dem Vorbild naturwissenschaftlich-empirischer Versuchsanordnungen ein Schreiblaboratorium, in dem er den Schreiberprobanden von seinen gewohnten Lebenszusammenhängen vollständig isoliert und ihn ausschließlich auf den Schreibprozess konzentriert bzw. reduziert. Als Ergebnis dieses Schreibexperiments entsteht eine Neuropoetik, die als literarische Neurowissenschaft einem bildgebenden Verfahren aktueller Hirnaktivitäten entspricht, bei der Beobachtungsobjekt und Beobachter in einer Person und Beobachtung und Aufzeichnung zeitlich zusammenfallen: »[…] schreiben nach experimental-Psychologie/(:nennt sich dann innerer Weltraum)«12, lautet einer der vielen metanarrativen Einschübe in Rolf Dieter Brinkmanns Erkundungen, in denen seine späte lebenswissenschaftliche Poetik grundgelegt wird. Als Voraussetzung dieser Poetik

10 Wolf Singer. Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung. In: Iconic turn. S. 75. 11 Wolf Singer: In: Iconic turn. S. 75f. 12 Erkundungen. S. 213.

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formuliert er die Aufgabe: »Ich meine exakt/(neuro-physiologisch)Fragen stellen zu lernen (6.Oktober71)«.13 In seinem Essay Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975)14 zu dem postum publizierten Lyrikband Westwärts 1&2 schreibt Brinkmann sein in den Erkundungen experimentell gewonnenes Schreibverfahren zum ästhetischen Programm aus, indem er zum Beispiel einen endlosen parataktischen Schreibfluss produziert, der Gehirnströme in sprachliche Bilder übersetzen soll. Dieser Essay ist das Ergebnis der späten Schreibszenarien Brinkmanns, die dem Ziel folgen, die psychophysische Reaktion auf Umwelt in der unmittelbaren Gegenwart, in Echtzeit, im Akt des Schreibens selbst zu archivieren. Brinkmanns Schreibexperimente folgen damit nicht nur einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung, sondern sie beziehen sich auch auf eine interdisziplinäre Verhaltensforschung, die ganz postmodern-eklektizistisch Ansätze und Theorien der Neurophysiologie und Neurobiologie des 20. Jahrhunderts von der Reflextheorie Iwan Petrowitsch Pawlows, der frühen behavioristischen Verhaltensforschung Burrhus Frederic Skinners, der vergleichenden Anthropologie des Biologen Jakob von Uexküll und der Paläoanthropologie des Psychoanalytikers Robert Bilz bis zu der amerikanischen Hirnforschung des Physiologen und Kybernetikers William Grey Walter u. v.a. in einer explosiven Mischung ergebnisoffen untereinander reagieren lässt: »Sammeln und Daten Jagen: Womit ich jage? (Literaturangabe: Bilz, von Hentig, Hans, Walter Grey, Burroughs, Korzybski, Reich, Grundlagen der Psychologie Bd. 1&2,Ardrey,African Genesis, Nietzsche, Russel, Bayley, The Star Virus, Delgado, Sturgeon, Moritz, Kuttner, A.Schmidt, Patchen, Celine, Canetti, Krakauer, früher Robbe-Grillet, nicht alle positiv: sondern wandle ab!))//«

15

Brinkmann geht es darum, mit seinem Schreiben den komplexen Ablauf unbewusster psychophysischer Umweltreaktionen bewusst erfahrbar und beschreibbar zu machen. Damit richtet sein Schreiben den Fokus auf die entscheidende Schnittstelle zwischen Kultur und Natur,

13 Erkundungen. S. 67. 14 In: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek 2005. S. 256-330. Im Folgenden als Westwärts zitiert. 15 Erkundungen. S. 230.

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Geistes- und Naturwissenschaften, in der aus unserem Umgang mit selbsterzeugten Zeichensystemen messbare Reaktionen unseres vegetativen Nervensystems werden oder einfach ausgedrückt, auf die Beantwortung der Frage, wie Bilder, Töne, Sprache in elektrochemische Reaktionen unseres zentralen Nervensystems umgewandelt werden. In seinem Unkontrollierten Nachwort problematisiert Brinkmann diese Frage, die er in seinem Schreiblaboratorium erfahrungswissenschaftlich zu explorieren versucht: »[…] und keiner weiß, wie die Umsetzungen von Lauten, Sprache, in den Zellen zu elektrischen Impulsen erfolgt, die ihrerseits sich umwandeln in chemische Aggregate, und der Stoffwechsel zieht so und so eingefärbt durch den Körper, das Gehirn fixiert in Bildern und Vorstellungen […].«16 Dass sich Brinkmann in seinen letzten Texten von dem poetologischen Essay bis zu den Materialbänden Erkundungen und Schnitte17 ganz konsequent mit anthropologischen, neurophysiologischen und biologischen Fragestellungen auseinandergesetzt hat, wird erst in der zweiten, ungekürzten Publikation des Unkontrollierten Nachworts im vollen Umfang deutlich. Die Erstausgabe von 1975 hatte diesen Aspekt von Brinkmanns Poetologie nahezu vollständig ausgeblendet. In der zweiten Fassung wird sichtbar, dass Brinkmann auch hier wie in den Erkundungen und Schnitten konsequent unterschiedliches Bildmaterial aus neurobiologischen und populärwissenschaftlichen Publikationen in den Text einfügt. So wird zum Beispiel eine genaue, elektronenmikroskopische Abbildung der Nervenzelle einer Affenart in den fortlaufenden Text einmontiert. Bereits einige Seiten davor findet der Leser eine anschauliche Darstellung der quantitativen Repräsentanz der Körpermotorik im Gehirn. Das dritte Schaubild stammt aus dem Kontext behavioristischer Lerntheorien und soll die Entstehung von neuen synaptischen Verbindungen durch klassische Konditionierung veranschaulichen. Bezieht man die Komposition der ganzen Seite mit dem zweiten Bildelement mit ein, so kann dieses Foto einer nahezu blätterlosen Baumkrone, als ein weiterer Versuch gelesen werden, die Synapsenbildung im menschlichen Gehirn einerseits und andererseits die Textstruktur bzw. das poetische Verfahren im Schreiblaboratorium wie die Abbildung einer Nervenzelle zu veranschaulichen. Ähnliche

16 Westwärts. S. 273. 17 Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte. Reinbek 1988. Im Folgenden zitiert als Schnitte.

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Fotografien von zumeist blätterlosen Baumkronen rahmen den Band Westwärts 1&2 in den beiden Fotoserien am Anfang und Ende des Bandes ein. Diesen Fotos kommt damit eine zentrale Bedeutung zu, denn sie können zum einen als symbolische Darstellungen der Synapsenbildung im Gehirn und zum anderen als poetologischer Hinweis auf die Struktur und die Lesbarkeit dieser Texte gelesen werden. Als »Gehirnlandschaft«18 oder »Gehirnfilm«19 bezeichnet Brinkmann daher auch seine eigenen Texte, die das reflexartige Reagieren auf Umwelt, auf unsere selbsterzeugte Zeichenordnung, in einen unbegrenzten, leeren Textraum übertragen und sich der unlösbaren Aufgabe stellen, die Fülle der unwillkürlichen Umweltreaktionen möglichst umfassend und ungefiltert nachzukonstruieren. Brinkmann versucht so, mit seinem Schreiben einerseits Schaltungen freizulegen und andererseits Schaltkreise (kurz) zu schließen. Was auf diese Weise entsteht, ist eine endlose Spur scheinbar zufälliger, flüchtiger, heterogener Wahrnehmungen bzw. Reaktionen auf Umweltwahrnehmungen auf zweiter Ebene, die strukturell gleichgeschaltet, sich flächig über den Textraum verteilen und die unendliche Möglichkeiten der Verknüpfungen und Vernetzung untereinander aufweisen. Brinkmanns späte Collagenbände und die Notiz- oder Tagebücher aus dem Schreiblaboratorium verstehen sich so als Beiträge zu einer literarischen Hirnforschung.

T OPOSKOPIEN : W ILLIAM G REY W ALTER UND DIE G EHIRNLANDSCHAFTEN IN DEN T EXT -B ILD -C OLLAGEN Brinkmann bezieht sich mit seiner Poetik neuronaler Prozesse u.a. auf den amerikanischen Hirnforscher William Grey Walter, der wie viele seiner interdisziplinär arbeitenden Kollegen in den 1960er Jahren zur Darstellung seiner empirischen Hirnforschung immer wieder auf literarische Metaphern, Anspielungen oder Zitate zurückgreift und jedem Kapitel seines Bestsellers Das lebende Gehirn20 ein Motto aus der Li-

18 Schnitte. S. 143. 19 Schnitte. S. 148. 20 William Grey Walter: Das lebende Gehirn. Entwicklung und Funktion. Augsburg 1963.

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teratur voranstellt. So zitiert Walter für seine Definition des Gehirns den Begründer der modernen Hirnforschung Charles Sherrington, nach dem das Gehirn ein »verzauberter Webstuhl [sei], wo Millionen hinund herschießender Schiffchen ein vergängliches Muster weben, immer bedeutungsvoll, niemals beständig«.21 Dieser literarischen Metapher, deren Nähe zu einem postmodernen Textbegriff unverkennbar ist, stellt er gleich noch eine bildliche zur Seite: Abbildung: Toposkopie des Gehirns

Quelle: William Grey Walter: Das lebende Gehirn. Augsburg 1963. S. 54

21 William Grey Walter. S. 4.

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Bei dieser bildlichen Darstellung handelt es sich um eine Installation mit Fernsehröhren, die wie ein künstlerisches Objekt aus der Pop-Art wirkt. Die Installation soll die Tätigkeit des Gehirns in verschiedenen Situationen emotionaler Erregung visualisieren. Dazu formuliert Walter eine Frage, die die Arbeitsweise des Gehirns als Schreibszene begreift: »Was lebt im Hirn – wenn Tinte es schreiben kann«22. Auf diese Frage William Grey Walters versuchen Brinkmanns Texte eine Antwort zu geben, indem sie seine visuellen Simulationen der Hirntätigkeit mit anderen künstlerischen Mitteln fortzuschreiben versuchen. Walter hatte seine Apparatur zur Visualisierung der Gehirnströme als »Toposkop« bezeichnet. Mit Walter müssen die Text-Bild-Collagen Brinkmanns als »Toposkopien« neuronaler Prozesse gelesen werden. Die Faszination, die für Brinkmann von dieser frühen, hoch spekulativen Hirnforschung ausging, bestand in ihrer verblüffenden Disziplinlosigkeit und ihrer Nähe zu geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Verfahren und Methoden. Unschwer konnte Brinkmann in Sherringtons Webstuhl-Metaphorik und Walters bewegten Hirnbildern ein Modell für seine späten Text-Bild-Collagen finden. In Walter traf Brinkmann auf einen Hirnforscher als Künstler, während er selbst literarisch das menschliche Hirn zu explorieren versuchte: So können Brinkmanns Text-Bild-Collagen aus Schnitte neurobiologisch als mentale Abfallentsorgung gelesen werden, bei der die auf der Ebene der Zeichenordnung angelegten Konditionierungen, die erlernten Reflexe auf die Zeichenumwelt, in ein künstlerisches Text-Bild-Artefakt übertragen werden, um psychophysische Reiz-Reaktions-Schemata in Schrift und Bild sichtbar zu machen. In dem Unkontrollierten Nachwort erläutert Brinkmann das bildgebende Verfahren seiner Texte: […] das Bewußtsein vom menschlichen Gehirn stellt sich grafisch verzerrt dar als ein Comic: Stadtpläne und Reisepläne, Wechselkurse, Bürgerliches Recht, nächtliche Bahnhöfe, Fernsehprogramme, Anzeigen, Schlagzeilen, Wohnungseinrichtungen, Mietverträge, Altersversorgungen, Grundstückpreise, Abzah23

lungen, Mahnungen, Redensarten, aufgeteilt in Hirnhälften […].

22 William Grey Walter. S. 52. 23 Westwärts. S. 281.

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Einen Film in Worten sah Brinkmann auf der Leinwand des »Grey Room«24 in einem Essay aus dem Jahre 1969 ablaufen. »Gehirn-Comic« nennt Brinkmann in Abwandlung zu den Gehirntexten und -landschaften seine Bewusstseins-Scans in den späten Materialbänden. Allen diesen Metaphern ist gemeinsam, dass sie aus intermedialen Kombinationen von Wort- und Bildmaterial bestehen. Was Brinkmann in seinen späten Texten dem Leser präsentiert, sind Bewegungen auf dem »Bewusstseinsbildschirm« oder anders ausgedrückt Blitzlichter semantischer Reflexe auf der Leinwand des Gehirns: »Freitagnacht, 12.11.71: sortiere weiter Zeitungsblätter aus! Entsetzlich!/:Geisterbahn aus Bildern und Sätzen!/: Total kontrollierte Gegenwart! […]/: Schmerzfelder, Angstfelder, Panikgebiete!/: Öffentliche psychische Müllhalden!«25 Innerhalb dieses entropischen Raums der Gegenwart kann Brinkmann schreibend neuronale Muster als Ordnungsschemata erkennbar machen, die Bahnungen und Framings jenseits bewusster Steuerungsprozesse folgen. Diese Muster, nach denen sich Brinkmanns Material scheinbar unwillkürlich in den letzten Bänden immer wieder zusammenfügt, folgen als große Erzählungen der Postmoderne dem einfachen Reiz-Reaktions-Schema von Sex, Geld und Tod, die bereits im Reisetagebuch Rom, Blicke26 den Wahrnehmungsstrom dominieren und strukturierten.

D ISSOZIIERTES W ACHSEN : R OBERT BILZ UND DAS S CHREIBLABORATORIUM DER N OTIZBÜCHER Eine Variation von Brinkmanns späten Schreibszenarien stellen die aus der Lektüre des Paläoanthropologen Robert Bilz gewonnenen neurologischen Selbstversuche in den Erkundungen dar: »Warum habe ich die vielen Gehirnbriefe,die vielen Gehirnerzählungen die vielen Ge-

24 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. Fotos. Collagen 1965-1974. Reinbek 1982. S. 227 25 Erkundungen S. 234. 26 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek 1979.

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hirngespräche nicht festgehalten?«27, fragt Brinkmann 1971 auf dem Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit Robert Bilz einleitend zu seinem Experiment mit unkontrollierten ›wilden‹ Schreibszenarien. Diese im Gegensatz zu den Materialbänden bilderlosen, von ihm selbst Notizen oder Tagebücher genannten Aufzeichnungen generieren mit der Schreibmaschine einen Endlostext, der mechanisch den eigenen Hirnraum abtastet und maschinell scannt, um Reiz-Reaktion-Schemata unter verschiedenen Laborbedingungen offenzulegen. Durch die Lektüre von Robert Bilz‹ Studie Psychotische Umwelt28, die der Psychoanalytiker als »Versuch einer biologisch orientierten Psychopathologie« entworfen hatte, findet Brinkmann die Beschreibung eines als pathologisch bezeichneten Umweltbezugs, den er in seinem Schreiblaboratorium nachzustellen versucht. Bilz hatte am Beispiel dieser Studie über Trinker jene Veränderungen des vegetativen Nervensystems und der Funktionsweise des Gehirns beschrieben, die zu einer paläoanthropologischen Situation der Verwilderung, einer Steigerung der Umweltaufmerksamkeit, zur Hypervigilanz, führe, und im Zusammenhang mit Schlafentzug einen Zustand »d i s s o z i i e r t e [ n] Wachsein[s]«29 hervorrufe, in dem sich bewusste und unbewusste Wahrnehmungen bis zur Unkenntlichkeit wie in der Halluzination vermischen. Der faksimilierte, über die gesamte Seite laufende Schreibmaschinentext der Notiz- und Tagebücher dokumentiert bzw. archiviert den einmaligen, authentischen Akt des Schreibens und gewährt damit dem Leser einen sinnlichen Nachvollzug seines Entstehungsprozesses. Das mit einer mechanischen Schreibmaschine erstellte Typoskript lässt in den unverwechselbaren Typen der Schreibmaschine, im unregelmäßigen Anschlag, in den vielen Tippfehlern und dem bewussten Verzicht auf ihre Korrektur, in den Überschreibungen und Streichungen einzelner Buchstaben, im Farbband, in der Qualität des Papiers, im wechselnden Zeilenabstand u.v.m. den Anteil der körperlichen Arbeit an der Textproduktion sinnlich erfahrbar werden. Schreiben vollzieht sich unter den Bedingungen des mechanischen Zeitalters nicht mehr als jene organisch fließende Bewegung der Hand auf dem Papier, sondern

27 Erkundungen. S. 290. 28 Robert Bilz: Psychotische Umwelt. Versuch einer biologisch orientierten Psychopathologie. Stuttgart 1962. 29 Bilz: Psychotische Umwelt. S. 7.

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als Prozess der Zerstückelung eines Textes in kleinste Teilchen, die die Type im Stakkato-Rhythmus auf das Papier schlägt. Brinkmanns faksimilierte Notizbücher verweisen so nicht nur auf die Materialität der Schrift, sondern zugleich auf die physische Seite des künstlerischen Produktionsaktes. Als körperlicher Akt ist das Schreiben nicht nur eine anstrengende Tätigkeit, sondern wird auch zu einem Akt der körperlichen Entladung oder Entspannung, bei dem durch die Bewegung der Finger auf den Tasten die im Gehirn angelagerten Bilder abfließen können. Dieser mentale Entleerungsprozess hat auch einen körperlichen Effekt. Dort heißt es: »Beobachtung:(eine intime!):daß ich oft mit krampfhaft zusammengezogenem After vor der Schreibmaschine gesessen habe/und daß,sobald ich mir dessen bewußt geworden bin und dann mich zurücklehnte,um mich zu entspannen,und zwar um bewußt mein After zu entspannen,ich im Verlauf dieser langsamen Entspannung ein enormes Glücksgefühl verspürt habe,dann saß ich nur noch da 30

und lachte!/»

Die sexuellen Konnotationen des Schreibakts sind hier unverkennbar. An anderer Stelle formuliert Brinkmann noch einmal die ganzheitliche therapeutische Funktion des Schreibens: »Dieses Durchschütteln von Wörtern und Bilder im Schreibakt selber, ohne links und rechts und um mich herumzuschauen, ohne Rücksicht auf Konstruktionen und Folgerichtigkeit, erfahre ich beim Schreiben tatsächlich als eine physiologische Befreiung aus dem zusammengezogenen,geduckten Verhar31

ren.«

In seinem »Notizen« genannten Teil der »Erkundungen« stellt Brinkmann die von Bilz beschriebenen psychophysischen Zustände extrem gesteigerter, subjektzentrischer Aufmerksamkeit am eigenen Leib realiter her, indem er unter Schlafentzug über einen Zeitraum von mindestens 24 Stunden, zum Teil unter starkem Alkohol-, Tabletten- und Zigarettenkonsum schreibt, um jenen Zustand einer elementaren dissoziierten Wachheit jenseits von mentalen Steuerungsprozessen herzustellen:

30 Erkundungen. S. 252. 31 Erkundungen. S. 187.

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»((::was steckt denn dahinter,wenn jemand sich fertigmacht bis zur Erschöpfung mit Alkohol,Rauschgift,Kaffee,Zigaretten Wachsein,((::Wachsein über 24 Stunden produziert sofort Einsichten wie in einer High-Stimmung:Abstand, Gleichgültigkeit gegenüber den gegenwärtigen Formen,Einsicht in bizarre Körpersituationen und Verhaltensweisen,der körperliche Ausdruck meiner 32

Umgebung tritt schärfer hervor,weil ich unbeteiligter bin […]!«

Im Dezember 1971 zieht sich schließlich Brinkmann in eine einsame Mühle in der Ortschaft Longchamps oberhalb der Mosel zurück, um nun umgekehrt unter Entzug von Alkohol und Zigaretten sich völlig auf die schreibende Selbstbeobachtung zu konzentrieren. Brinkmann protokolliert seinen Selbstversuch wie folgt: »Freitagmorgen,26.November, gegen 1/2 7 Uhr morgens:totale Dunkelheit draußen,um 6 Uhr aufgestanden,seit 3 Uhr morgens gedusselt,im Halbschlaf gelegen und immer wieder gräßliche imaginäre Todesängste erlitten,im Halbschlaf zwischen Panik,jähem Drang etwas zu tun und passivem,starren Erschrecken gelegen,Szenen flammen wortlos auf,gestern,vorgestern, Dialogfetzen,einzelne Wörter,dann zuckt mein Körper in kurzem,heftigem Krampf zusammen wie bei einem elektrischen Schlag,meine Nerven entspannen sich dann,als löste sich jäh eine Spannung. […] Seit gestern nicht mehr ge33

raucht,und jetzt total durcheinander.Fummelig.«

Diese Schreibszenen unterhalb der Schwelle des Wachbewusstseins, bei denen Brinkmann eine endlose Zeichenfolge reflexartig im Stakkato-Rhythmus auf das leere Blatt Papier hackt, einzig unterbrochen durch Schrägstriche, Doppelpunkte und Klammern, die auch als Markierungen für spätere Einschübe von fremdem Text- und Bildmaterial gelten können34, lassen auf dem Hintergrund eines riskanten, zerstörerischen Selbstexperiments alptraumhafte Horrorszenarien und Halluzinationen entstehen, die tief verwurzelte Ängste an die Oberfläche treiben oder Panikattacken auslösen.

32 Erkundungen. S. 230. 33 Erkundungen. S. 360f. 34 Vgl. Erkundungen. S. 228.

B ILDER

EINER

N EUROPOETIK

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»AUTOBIOGRAPHIE « DES G EHIRNS : V ON DER AUTOFIKTION ZUR S CIENCE -F ICTION Dass unser Gehirn pausenlos Bilder aus der Umwelt aufnimmt und verarbeitet und gleichzeitig selbst ständig Bilder generiert bzw. aus beiden Bildbereichen, den äußeren und inneren, neue, flüchtige Bildwelten kurzfristig erzeugt, macht Brinkmann in den vielschichtigen Text-Bild-Collagen der Schnitte sichtbar, die das sich selbst prozessierende Gehirn bei der Arbeit in eine visuelle Raumkonstruktion übersetzen. Brinkmann versucht, der Archivierung und Visualisierung ungefilterter Umweltwahrnehmung auf einer synchronen Gegenwartsebene in den Trash-Collagen der Schnitte, die als mentale Abfallentsorgung, als Selbstreinigungsprozess des Gehirns gelesen werden können, in den Notizen eine diachrone Ebene anzuschließen, die unbewusste, ontogenetische Tiefenstrukturen in der Hirnlandschaft offenlegen sollen. In dieser Tiefenstruktur werden über Spuren und Bahnungen hoch emotionalisierte Erinnerungsreste aus der eigenen Biographie ebenso sichtbar wie Bruchstücke eines kollektiven Unbewussten aus noch tieferen Schichten. Als einer der ersten seiner Generation legt Brinkmann mit seiner experimentellen Öffnung eines unbewussten Erinnerungsstroms auf der biographischen Ebene frühe Traumatisierungen durch seine Kriegskindheit frei. So gelingt es ihm, in diesem künstlich erzeugten Zustand subjektbezogener Aufmerksamkeit Erinnerungen freizulegen, die bis in die frühe Kindheit des Dreijährigen zurückreichen: »(schreibe nur noch nachts,muß tagsüber schlafen!Würde gern einen Winterschlaf halten können wie manche Tiere!)/:gelbe Nikotinfinger stechen in den Raum!/[…] Erinnerung an die paar Tabakpflanzen hinterm Haus,von der Küche aus gesehen,Kuhmarkt Nr.1 […] & lange Jahre davor:meine militärischen Grüße Heil Hitler mitm Stahlhelm vom zivilen Luftschutz auf dem Kopf des 4 Jährigen Jungen,der ich einmal war/:und:Erinnerung:an die Stukas auf dem Flugplatz Vechta etwa 1944 und die Kanzeln aus Plexiglas,die mich faszinierten,und daß mich faszinierte, wie ich mit einem Mann,den ich meinen Vater nannte,ein gespenstisches Monstrum das plötzlich aus den immer wiederholten Wort »Vater« sprang, […] Forts.:Erinnerung:Die wilden Bilder von Hiroshima in der

Illustrierten/195o?/Von den Verschütteten in einem Bunker/

195o?/[…]Forts.:(?):Tippfehler in Massen!/:Erinnerung:Daß ich von Anfang an unter dem latenten dumpfen Todesdruck und einer namenlosen Bedrohung

226 | SIBYLLE SCHÖNBORN

aufgewachsen bin!(Wie jeder meiner Generation!Und wie diese Drohungen permanent in der Gegenwart wieder aktiviert werden!)«

35

Wenn Brinkmann in seinen letzten Büchern immer wieder die gleichen Muster obsessiv reproduziert und seine durch Krieg und Faschismus konditionierten Reflexe auf Umwelt mit neuem Material anreichert, dann betreibt er damit ein literarisches Framing, das die Ursachen für eine historische Psychopathologie seiner Generation zu einem Zeitpunkt lieferte, als die Mehrheit diesen Verdrängungszusammenhang noch lange nicht aufgebrochen hatte: »Forts.:ANFANG ROMAN:Noch einmal rufen und schreien die Jungen draußen,und ich höre sie rufen und schreien,draußeb,vor dem Haus.Komm ste mit?He, kommste mit?/:(szene 1949,Kuhmarkt)/:Dagegen:Szene 1944,wie ich in langen kratzenden Wollstrümpfen auf der Treppe sitze in Falkenrott und vor mir der Garten,wo ich später den Erdwall sehe,direkt neben dem Haus,in dem wir in dem Keller gesessen hatten,haarscharf am Disaster und Tod vorbei mit 3 Jahren!Und Dagegen:Szene:Die Protsetmärcshe,wo ich spaßig mittrottele 1969/Und dagegen:Wasserwerfer:1969/Und dagegen:Szene:1971:April in Ber36

lin/: Flickernde Bilder und Eindrücke,flickernde Gedanken!«

Brinkmanns späte Gehirntagebücher, die er selbst als eine neue Form des Romans verstanden wissen wollte, experimentieren mit Möglichkeiten der ungefilterten, simultanen Aufzeichnung von komplexen Hirnaktivitäten, bestehend aus flüchtigen situationsbezogenen Umweltreflexen und individuellen wie kollektiven Erinnerungsresten und Gedächtnisspuren, deren Aufzeichnung und Arrangement an die Stelle eines stabilen, identitätslogischen Ichentwurfs im Roman treten. Gleichzeitig markieren sie die Entstehungssituation des autofiktionalen Romans, wenn Brinkmann in seinen poetologischen Reflexionen der Erkundungen immer wieder darauf verweist, dass jedes Ich eine Erfindung, eine Fiktion und damit Literatur ist. Schreiben kann daher kein anderes Ziel haben, als diesen Roman des Ichs aus unzusammenhängenden Umweltreizen und -wahrnehmungen, historisch erworbenen und ontogenetisch verankerten Reaktionsmustern, Erinnerungsresten, Verletzungen und Traumata (Schnitten) aufzuzeichnen. Brink-

35 Erkundungen. S. 232f. 36 Erkundungen. S. 233.

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manns Schreibszene intendiert so eine Chronik des ›nackten Lebens‹, der möglichst lückenlosen Dokumentation einer psychophysischen Schreiberexistenz: »[…] dränge danach,jeden Gedanken,jede Erfahrung,jeden körperlichen Zustand in den vergangenen 3 Jahren aufzuschreiben!!!Das nenne ich meinen Roman!«37 Dieser Roman, den Brinkmann als seine »fiktive[.] Autobiografie«38 bezeichnet, hat keine den Text strukturierende Erzählerfigur mehr, die den Text zusammenhalten und ordnen würde. Und dieser Roman in Tagebuchform hat längst die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen überschritten: »Tagebuch,Fakten-Fiktion/:Fiktionen in den Fakten durchschauen lernen:::«39 Das Faktuale ist das Fiktionale und umgekehrt, so Brinkmanns Fazit: »[…] stecke tatsächlich mitten in Romanansätzen,ohne Personen,ohne Anfang,hänge in der Luft,zuviele Stücke,die ich nicht zusammenkriegen kann,zuviele Pläne und Einfälle/(aber keine Personen! Ich zersplittert)«40. Und weiter unten heißt es in einem Brief an den Freund Helmut Pieper: »Ich finde Personen ein fach scheußlich! […] Und wenn ich jetzt z.B. an Dich schreibe, und wenn Du z.B. an mich schreibst,:ist das nicht alles auch Fiktion? Pieper,Du bist eine Romanperson für mich. So wie ich für Dich eine Romanperson bin.«41 Die Lösung für die Schreibkrise der Postmoderne, die Brinkmann mit dem Verlust des identitätslogischen Subjekts in den Erkundungen metanarrativ reflektiert, findet er in einem autofiktionalen Schreiben unterhalb des selbstbewussten Ichs als Archiv der Gehirntätigkeit, seiner »Autobiographie« des Gehirns. Damit nimmt Brinkmann vorweg, was Serge Doubrovsky in »Fils«42 zuerst als Autofiktion bezeichnet hat: ›[…] Ich existiere kaum, ich bin ein fiktives Wesen. Ich schreibe meine Autofiktion.‹ […] Die klassische Autobiografie unterstellt ein Subjekt, das Zugang zu sich gewinnen kann über die Rückkehr zu sich, den inneren Blick, wahrhafte Introspektion, und eben dadurch ist es in der Lage, uns die Geschichte seiner Gedanken, Fakten und Gesten zu liefern, eine authentische Darstellung

37 Erkundungen. S. 230. 38 Erkundungen. S. 82. 39 Erkundungen. S. 225. 40 Erkundungen. S. 205. 41 Erkundungen. S. 209. 42 Serge Doubrovsky: Fils. Paris 1977.

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seines Lebens. […] Die Revolution der Psychoanalyse hat auch die autobiografische Landschaft verwüstet. […] Das Ich, sei es komplex oder widersprüchlich, vermag nicht mehr Akteur des Lebens und Autor der Erzählung zu sein: Da ist es, eingezwängt zwischen seinen Rollen, zwischen Es und Über-Ich. Die cartesianische Gewissheit ist nicht zerstört, aber reduziert auf die Augenblick43

lichkeit, die reine Punktualität.

Nach der Aufhebung der Trennung von Fakten und Fiktionen steht bei Brinkmann der Zusammenschluss von Science und Fiction, der Roman als Archiv neuronaler Prozesse jenseits des selbstbewussten Ichs, der Roman eines sich selbst prozessierenden Hirns.

43 Serge Doubrovsky: Nah am Text. In: Kultur und Gespenster: Autofiktion. Nr. 7. 2008. S. 126.

Piloten – Orangensaftmaschinen – (Augen)Blicke Zu Rolf Dieter Brinkmanns Raumkonstellationen P AWEL Z IMNIAK

I

R AUMPERFORMATIONEN

In seiner Notiz zu Standphotos schreibt Rolf Dieter Brinkmann Folgendes: »Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man gebraucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen lässt […].«1

Die Raumerfahrung als Subjekt-Objekt-Beziehung hängt mit einer besonderen Beobachtung zusammen und vollzieht sich über Deutlichkeit und Sichtbarkeit der Raumkonturen sowie über Bewegung und Handlung als Raum leiblicher Anwesenheit, in den sich das Ich einordnet. Durch Brinkmanns Verweis auf dieses erneute und neue Ent-

1

Brinkmann, Rolf Dieter: Notiz [Köln, Frühjahr 1968], in: ders.: Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 186.

230 | P AWEL Z IMNIAK

stehen von Eindrücken wird hervorgehoben, dass bei der sprachlichen Raumgenerierung nicht unbedingt die Frage nach der Realität und Fiktion die entscheidende ist, sondern die nach dem Performativen, zumal auch der konkret sinnlich wahrnehmbare Raum im Medium der Sprache in einen ›Raum zweiter Potenz‹ überführt wird. In diesem Sinne macht ein realer geographischer Bezug, eine reale geographische Lokalisierung und genaue Bezeichnung einer bestimmten räumlichen Kulisse aus ihr noch keinen Teil der realen und wirklichen Sphäre, auch wenn dieser (Schau)Platz real erscheinen mag. Räumlichkeit fungiert nämlich als eine mit Sprachzeichen und narrativ erzeugte Konstruktion, die nicht nur kulissenhaft als zum Setting gehörend eine textkonstitutive Funktion erfüllt, sondern auch performativ über die Subjekt-Objekt-Beziehung konstituiert wird. Sie hat in Rolf Dieter Brinkmanns Texten nicht die Aufgabe einer Wirklichkeitsrepräsentation, sondern stellt eine spezifische Form der Weltbemächtigung dar, so dass der Begriff ›Raum‹ im Sinne des Relationalen und Performativen aufgefasst wird. Die Konstituierung einer bestimmten Raumwahrnehmung wird bei Brinkmann an das wahrnehmende und empfindende Subjekt gebunden, das sich in seinen räumlichen Zugehörigkeiten als ›Empfindungsmaterial‹ erfassen lässt. Bei der Raumwahrnehmung und Raumerfahrung wird also nicht nur das Statische, sondern auch das Relationale und Performative deshalb relevant, weil der Raum – so Horst Wenzel – in Abhängigkeit von dem Blickpunkt des Betrachters jeweils anders erscheinen mag.2 Zu der jeweiligen Wahrnehmung gehört eine spezifische Einbindung des Wahrnehmenden, die sich im Ausdrucksmedium von Feststellungen, Überlegungen, Fragen, Zweifeln und Vorbehalten manifestieren kann. Wahrnehmungsgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster sind zugleich Bewusstseinsphänomene, die sich auf ein bestimmtes kognitiv-emotives System beziehen.3 Durch diese Ich-Einordnung wird überhaupt Stellung und Bedeutung von Dingen und Relationen konstituiert. Räume und Gegenstände sind in Rolf Dieter Brinkmanns Texten keineswegs

2

Vgl. Wenzel, Horst: Räume der Wahrnehmung, in: Jäger, Ludwig/Kurz, Gerhard (Hg.): Sprache und Literatur, 35. Jahrgang, Nr.94, Paderborn 2004, S. 1-8 (hier S. 4).

3

Vgl. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 32004 (erweitert und aktualisiert), S. 326-329.

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darauf beschränkt, den Figuren einen entsprechenden Handlungsort zu geben. Brinkmanns Wahrnehmungsräume sind atmosphärisch bestimmt und an eine bestimmte Gedanken- und Gefühlswelt seiner Figuren und seiner lyrischen Ichs gebunden. Zu Raumwahrnehmungen und Raumerfahrungen gehören auch Raumvorstellungen und Raumdeutungen. Wahrnehmung und Vorstellung sind dabei nicht oppositionell zu betrachten. Die Wahrnehmung ist gegenwartsbezogen und die Vorstellung als Erinnerung bezieht sich auf frühere Wahrnehmungen, sie ist also vergangenheitsbezogen, obwohl sich Vorstellungen prinzipiell auch am Zukünftigen (Vorstellung als Erwartung und abstrakte Idee) orientieren. Im Nachtrag zu dem Gedicht über Graham Bonney etc. schreibt Rolf Dieter Brinkmann: »Nach Meinung des schwedischen Nerven-Experten Holger Hydén ist das Erinnerungsvermögen in unserem Gehirn chemisch zu verstehen. Die Moleküle der Ribonukleinsäure werden durch ein Ergebnis in ihrer chemischen Strukturen auf bestimmte Weise verändert und dann in den Nervenzellen aufbewahrt. Die Erinnerung also könnte als ein im einzelnen noch nebelhafter Abtast-Mechanismus verstanden werden, der die kodierten Moleküle wiederfindet und bewußt werden läßt. Aber was taste ich ab? Ich vergesse, scheinbar, um dann umso deutlicher denselben Gegenstand zu sehen, ihn genauer zu sehen?«4

In der Erinnerung werden also bestimmte (Wahrnehmungs)Räume zur zweiten Potenz erhoben, und in dieser Nachträglichkeit der Wahrnehmung wird auch der ursprüngliche Eindruck potenziert. Bei der Analyse von Rolf Dieter Brinkmanns Raumkonstellationen werden exemplarisch folgende Aspekte herausgearbeitet: erstens Struktur und Präsentation des Raumes, zweitens der Modus der Raumwahrnehmung und drittens die Funktionalisierung von Räumen.

II

L ANDSCHAFTEN

DER

E RINNERUNG

»[…] du mußt warten, eine Landschaft erschließt sich nicht dir, sondern du mußt dich ihr öffnen, eine Landschaft ist wie eine Frau, langsam und ver-

4

Brinkmann, Rolf Dieter: Nachtrag zu dem Gedicht über Graham Bonney etc., in: ders.: Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 279.

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schlossen wie eine Frau und nie ganz zu erfahren, – gewiss: du kannst sie zur Hure machen, du kannst sie zerstören mit all deinem Ungestüm, ihr Haar versanden lassen, immer aber wird sie dir überlegen sein, weil nicht du sie besitzt, sondern sie dich, die Landschaft, die Frau.«5

Rolf Dieter Brinkmanns Erinnerung an seine Herkunftslandschaft als eine subjektive Raumerfahrung ist an die interne Fokalisierung gebunden. Das erzählende Ich ist dabei von dem Ich des Autors nicht eindeutig zu trennen. Die subjektive Semantisierung von Räumen bedeutet nicht nur eine räumliche Konkretheit (der Gestank des Moorbachs, Körper toter Vögel auf dem Schlackenweg – mit Luftgewehren erschossen oder mit Steinen totgeschlagen – oder Torfstechen), sondern eine Rückbindung an das persönliche Erleben. Die Wahrnehmung des vergangenen und gegenwärtigen Provinz-Raums konstituiert sich nicht als passives Ergebnis der Einwirkung der Außenwelt auf die Sinnesorgane, sondern sie stellt sich als Resultat einer kognitiv-affektiven Tätigkeit dar. In Wahrnehmungen gehen auch Empfindungen auf. Die wahrnehmungssinnliche Subjektivierung und Fragmentarisierung der Eindrücke stellt eine emotionale Nähe her. Im Bewusstseinsstrom der inneren Auseinandersetzung mit vergangenen Raumerfahrungen ist nicht nur von der notwendigen Bereitschaft die Rede, sich einer Landschaft zu öffnen, um sie überhaupt wahrnehmen und erschließen zu können, sondern von der Überlegenheit und Dominanz der Landschaft, von ihren Besitzansprüchen. Und diese Besitzansprüche bleiben trotz aller Zerstörungswünsche bestehen. Etwas scheinbar Schwächeres – und hier spielt der Vergleich mit der Frau und der Weiblichkeit eine Rolle – erweist sich im Nachhinein als dominant und beherrschend. Über die Unmöglichkeit der Befreiung von der Landschaft der Kindheit und der Jugend sinniert der personale Erzähler weiter: »diese landschaft, eine grüne, grünende zwangsjacke […]«6 Die Reflexion über den erfahrenen Außenraum der Kindheit und Jugend verbindet sich mit der Ausleuchtung des Innenraums, mit der Selektion, Strukturierung und Bewertung. Die interne Fokalisierung bedeutet zugleich

5

Brinkmann, Rolf Dieter: Erinnerung an eine Landschaft, in: ders.: Erzählungen. In der Grube/Die Bootsfahrt/Die Umarmung/Raupenbahn/Was unter die Dornen fiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 385-392 (hier S. 391).

6

Ebd., S. 386.

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| 233

eine Erfassung der emotionalen Befindlichkeit. Der Raum der erinnerten Provinz ist durch Gefühlsdisposition, Wertorientierungen und Reflexionen weiblich und männlich konnotiert. Bei der Raumdarstellung ist Nahsicht, Erfassung von Einzelheiten und Stimmungen genauso wichtig wie Demonstration intellektueller Überlegenheit, Beobachtung und Auswertung in Kommentaren, wenn es aus der Perspektive der Erzählinstanz heißt: »[…] du gehst fort, und es wird bewahrt in dem so verborgenen Bereich des Erinnerns, […], und während du durch eine andere Stadt gehst, und der Himmel ist ein großer Bogen, der weit spannt, oder während du in ein fremdes Gesicht blickst kurz im Vorübergehen, ist es da – einstige Zeit, unbegreiflich und einmalig.«7

Die Gedanken- und Gefühlswelt des personalen Erzählers hängt mit dem Grad der Intensität seiner Involviertheit in den Raum seiner Kindheit und Jugend zusammen, so dass die Erlebensdimension konsequent und ununterbrochen fokussiert wird. Die vergangene Provinz wird als gelebter und erfahrener Raum zum Anschauungsraum, der spezifische Sinnhorizonte ergibt. Die Beobachterhaltung wird weiterhin sich selbst gegenüber eingenommen: »[…] ein Reflex, in dem du dich selber begreifst und auch nicht begreifst, aber du als ein Teil der Wahrheit in dieser Landschaft, ein Stein, der ins Wasser geworfen, und die Kreise ziehen sich weiter […]«8

und doch: »Ich weiß nicht, ob du jemals das erfahren hast, wieviel an Fremde eine Landschaft in sich trägt, in der du doch hingeboren bist, vertraut ist sie und zugleich in gleicher Weise unbegriffen, weil niemals bekannt.«9

Die Fokalisierung als eine bestimmte Perspektivierung des Erzählten bezieht sich auf die unmittelbare Vermittlung der eigenen Situation, die von der Sprechergegenwart oft in die Vergangenheit projiziert

7

Ebd., S. 385.

8

Ebd., S. 385.

9

Ebd., S. 388.

234 | P AWEL Z IMNIAK

wird. Die Vermittlung der materiellen Realität funktioniert parallel zur Darstellung der psychischen Realität der Erzählinstanz. Es sind affektive Befindlichkeiten und emotionale Besetzungen des Sprechers, die den narrativen Raum zum Raum eines intensiven emotionalen Erlebens und zum Empfindungsraum machen. Bei der Befragung der individuellen Zugehörigkeit ist auch der Bruch da. Zweifel und Dissonanzen bilden einen Bestandteil der individuellen Erinnerungskultur, wenn sie Beziehungen, Grenzen und Sinnhorizonte markieren: »es macht mich krank: ich bin so krank davon, ich will sie verfluchen, und verflucht! sie ist verflucht wegen all der kindheitszeiten und jugend, es war doch zuviel fremde hier, und verflucht und verflucht! […] uns sagten sie: heimat und heimat und heimat […] und sie sagten: verstehen und verstehen und verstehen, doch die fremde in uns übersahen sie […].«10

Der vergangene Provinzraum mit der eigenen Zugehörigkeit dazu stellt sich als spezifischer Reflexionsraum und eine Reibungsfläche dar, wenn von der Erzählinstanz rückblickend reflektiert wird: »Der Zwischenraum, den ich am Morgen vor mir hatte, zwischen mir und den anderen Gesichtern, den Handschuhen, den Mänteln, den Schuhen, Stimmen, Einkaufstaschen, was um mich herum gewesen war, Lippen, Augen, Ohren, diese so eigenartige Entrücktheit, diese Fremde, die Unfaßbarkeit des Stoffes, in die ich mich hineinbewegt habe, das hatte mich leergespült, ich fühlte mich leer […], ich war einfach fortgefahren, was mir als einziges zu tun geblieben war, aus der Grube herauszukriechen, wie ich mir eingebildet hatte, und doch war ich nicht herausgekommen […].«11 »Aber wo liegt da ein Ganzes?«12

10 Ebd., S. 391. 11 Brinkmann, Rolf Dieter: In der Grube, in: Ders.: Erzählungen. In der Grube/Die Bootsfahrt/Die Umarmung/Raupenbahn/Was unter die Dornen fiel, S. 7-67 (hier: S. 65). 12 Brinkmann, Rolf Dieter: Erinnerung an eine Landschaft, in: ebd., S. 387.

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III (AUGEN )B LICKE »1. Noch eine Landschaft, ein einziger Baum, drei andere Bäume und ein Gebüsch […] Eine gelbe Maschine fährt/hindurch, eine gelbe Kehrmaschine! Und die Straße, wenn das eine Straße ist, leer. Ich blicke nach draußen es ist nichts. Aber dann, wenn ich nicht mehr hinsehe bewegt sich etwas ein Grashalm der biologisch schon lange tot ist. 2. Und eine Blume wächst sich aus zu einem ungeheuren Kopf. Ein Kind steht davor und steckt einen Finger in die Nase. Dann (nach fünfzig Jahren) lutscht es ihn ab und verschwindet.«13

Die Raumwahrnehmung verbindet sich in Nicht hinauslehnen/2 ländliche Bilder mit einem Aufmerksamkeitsmoment und einer bestimmten Perspektivierung. Die Simultaneität der Wahrnehmung und

13 Brinkmann, Rolf Dieter: Nicht hinauslehnen/2 ländliche Bilder, in: ders.: Standphotos, S. 195f.

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die Veränderung des Bildes erfolgt durch Beobachtung und Bewegung im Raum und in der Zeit, wobei die Landschaftsästhetik wechselt. Die Erinnerung rollt ein anderes Bild auf. Die Überlagerung der Zeitebenen ist im Text eindeutig durch den Abstand von fünfzig Jahren markiert. Das Kind von damals, das mit Neugier und Begeisterung die Entfaltung einer Blume beobachtet hat, ist zwar zeitlich entrückt und verschwunden, aber in dem Erinnerungsbild immer noch präsent. Zur räumlichen Wahrnehmungskonvention auf der Gegenwartsebene gehört nicht nur die Genauigkeit und Konkretheit des Bildes durch Vergegenständlichung und Simultaneität der Wahrnehmung, sondern auch Raum als optisches Medium mit Licht und Farbe. Das Vergangenheitsbild, das sich fast automatisch einstellt und mit dem ›inneren Auge‹ herbei geschworen wird, wenn die gegenwärtige Beobachterhaltung des Ich unterbrochen wird, ist viel intensiver und bedeutsamer. Seine Intensität und Relevanz wird nicht durch die Frage des Ich minimiert: »Was sollen wir damit machen?«14 Rolf Dieter Brinkmanns Raumkonstellationen werden im Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und Erstarrung präsentiert. Es sind nicht nur die jeweiligen Objekte und ihre Eigenschaften, die eine Art Dingzentrierung erzeugen, sondern auch Relationen zwischen ihnen. Zu Relationen gehören auch Verhältnisse, die Menschen in ihrer alltäglichen und praktischen Tätigkeit untereinander eingehen und den Raum in seinen performativen Qualitäten wirken lassen. In Gedicht »Für Frank OʼHara« heißt es: »Ich blicke mich um und sehe mich umgeben von Dingen, die behandelt werden möchten (das Bett, das ungemacht ist, der Aschenbecher, der nicht nur Zigarettenasche, Kippen und abgebrannte Streichhölzer enthält, sondern auch einen Zehennagel!) […]

14 Ebd., S. 195.

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Ich sage zu meiner Frau, die mit mir verheiratet ist: könntest du mir bitte das Vertrauen reichen, das dort neben dem Deodorant liegt … .«15

Raumelemente bilden ein Organisationsraster für das Beziehungsdenken. Brinkmanns Figuren und Ichs sind ›räumliche Wesen‹. Sie leben im Raum und sie erleben den Raum. Der ›möblierte Mensch‹ mit seinem Umfeld wird zum Zentrum subjektiven Erlebens. Das von der eigenen Leiblichkeit und Präsenz eingenommene Zentrum der subjektiven Raumzeit ist der Ausgang und Referenzpunkt aller Bewertung. Raumerzeugend und raumfüllend sind nicht nur Gegenstände, die durch ihre ästhetische Unvollkommenheit (ungemachtes Bett und überfüllter Aschenbecher mit Zehennagel) eine Handlungsnotwendigkeit erzwingen. Auch das Vertrauen und sein Fehlen ist die Realität des Erlebten und die Aktualität des Erlebens. Die direkte Nachbarschaft von Mann und Frau funktioniert jenseits der direkten Spürbarkeit von Vertrauen, das als begehrtes Gut herbeigesehnt wird. Was sich von der inneren Zone gegenseitigen Empfindens weiter entfernt, verliert mit der Entfernung an Bedeutung. Zur Präsentation des Raums in seiner performativen Qualität kommt es auch in Hier nicht, wenn das Ich mitteilt: »Es war ein Raum, den sie langsam füllte oder es war eine Bewegung, die sie machte oder nur, daß sie da war und blieb.

15 Brinkmann, Rolf Dieter: Gedicht »Für Frank O´Hara«, in: ders.: Standphotos, S. 309-315 (hier S. 313-314).

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Die Gelegenheit war entsprechend der Tageszeit zu seinen Gunsten glücklich. Die Zeit, die sie blieb und noch mehr. Die Bewegung, die Verwirrung. Die Art, sie gemeinsam zu entwirren. Beinahe hätten sie sagen können, wir sind glücklich.«16

Das wahrnehmungssensible Raumerleben schließt eine Befindensstörung, eine Störung der positiven Stimmungslage infolge ungünstiger äußerer Umstände ein. Der Raum wird zum atmosphärischen Raum. Es wird eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Mangelerfahrung notiert, wenn das Glücksversprechen weiterhin nur im Möglichkeitsbereich bleibt. Die räumliche Orientierung ist für Rolf Dieter Brinkmanns strukturierende Wahrnehmung der Umwelt und die eigene Positionierung in ihr fundamental. Es geht dabei nicht nur um die Feststellung, ob optische oder akustische Objekte der Wahrnehmung in Relation zum eigenen Standort nah oder fern, innen oder außen, vorne oder hinten situiert sind, sondern um die Bestimmung einer Einstellung des wahrnehmenden Ich zu diesen Objekten. Das Ich teilt in Jemand seine Gedanken- und Gefühlswelt mit. Es kommt dabei zu einer vertieften Selbstwahrnehmung und Feststellung von Beziehungsstörung und Verhinderung einer Bindungsmöglichkeit: »Leere Räume aber da ist wer. Ich nicht.

16 Brinkmann, Rolf Dieter: Hier nicht, in: ebd., S. 123.

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Es ist noch weniger es ist gering. Ich bin nicht da. Einmal hätte es so sein können, um da zu bleiben nicht weit entfernt. Das war noch nicht genug. Ich stand auf, um fort zu gehen. Es war, als hätte einer gesagt: bleib.«17

Das Bedürfnis nach räumlicher Orientierung scheint so unwiderstehlich zu sein, dass auch nicht räumliche Sachverhalte ständig räumlich modelliert werden. Leere Räume sind das Ergebnis einer zu leisen Aufforderung zum Bleiben und der nicht realisierten Nähe. Brinkmanns Erinnerung stützt sich auf konkrete Erfahrungsformen, die in verschiedenen Raumkonstellationen und Sinn(kon)figurationen verarbeitet werden. Es ist diesbezüglich ein weitgehendes Kausalitätsprinzip als eine Ursache-Folge/Wirkung-Relation zu verzeichnen, indem auf die Erfahrung als Ursache in nachträglich erfolgenden schriftlichen Aufzeichnungen rekurriert wird. In Rote Tomaten ist es z.B. der überraschende Effekt dieser Gemüseart, wenn man sie auf einmal in einer Ecke liegen sieht, ohne vorher an sie gedacht und sie vorher in dieser Menge auf einem Haufen liegen gesehen zu haben: »[…] und die Tomaten sind dann weg. Trotzdem hält sich der

17 Brinkmann, Rolf Dieter: Jemand, in: ebd., S. 100.

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Abdruck noch länger auf beiden Augen […].«18

Wahrnehmungsobjekte und Beziehungen unter ihnen spiegeln sich im Bewusstsein des wahrnehmenden Subjekts. Die Forderung von Genauigkeit und Unmittelbarkeit gehört dabei zu Brinkmanns persönlicher Poetik. Dinge und Figuren, Vorgänge und Bewegungen, Gefühle und Affekte werden wie in 10 Uhr 20 in Form von ›snapshots‹ festgehalten: »Die Frau tritt aus dem Haus und leert den Eimer, ehe sie in die Stadt geht. Überall ist das Licht. Langsam überquert ein Krüppel die Straße. Überall stehen die Fenster voll Licht. Aus der Wohnung nebenan kommt Klaviermusik.«19

Das Auge des Beobachters und Betrachters bewegt sich und sucht nach Erfassung und Zugänglichmachung fixer Punkte. In Brinkmanns Schnappschüssen wird ein bestimmter Zustand der räumlichen Kulisse, eine bestimmte Physiognomie der Landschaft inszeniert. Es entsteht eine, dem gegebenen »locus« eigene, situative Konkretheit, eine konkrete Ausfüllung des Raumes und seine Gestaltung aus der Gesamtheit der ihn erfüllenden Dinge und Figuren. Das nach räumlicher Orientierung durstende Auge verfolgt Grenzen und Grenzüberschreitungen. Zum System räumlicher Beziehungen gehört also nicht nur Begrenztheit und Endlichkeit, sondern auch Weite und Unbestimmtheit, also das Fehlen von Grenzen. Eine solche räumliche

18 Brinkmann, Rolf Dieter: Rote Tomaten, in: ebd., S. 248. 19 Brinkmann, Rolf Dieter: 10 Uhr 20, in: ebd., S. 54.

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Wahrnehmung kommt in Wie ein Pilot/populäres Gedicht Nr. 13 zustande, wenn das Auge des Betrachters die entschwindende Bewegung eines Flugzeugs notiert: »Durch eine völlig glatte Fläche ganz aus monochromem Blau segelt da oben der Pilot. Man sieht und denkt das gleichzeitig in einem Bild zusammen das mit einem Ruck verschwindet. Später sagt man sich, daß man es selbst gewesen ist, der dort als winzig kleiner Punkt verschwunden ist wie ein Pilot.«20

Die räumliche Ordnung der wahrgenommenen Situation wird zum organisierenden Element des Textes. Mit dem monochromen Blau des Himmels als Background für die aviatischen Künste des Piloten und der Erde als Aufenthaltsort des Betrachters wird der Raum topologisch-topographisch durch die Oppositionen von oben versus unten, hoch versus tief, innen versus außen, Himmel versus Erde differenziert. Auf diese Weise entstehen Teilräume, die aufeinander Bezug nehmen und als komplementär zueinander aufzufassen sind. Die topologisch-topographische Ordnung wird auch durch die Oppositionen von statisch versus dynamisch, bodenhaftend versus abgehoben, hoch in der Luft/in der Höhe angesiedelt, sichtbar versus unsichtbar semantisch aufgeladen. Das abrupte Verschwinden des Flugzeugs aus dem Blickfeld des Betrachters ist zugleich ein Verschwinden von festen Anhaltspunkten, von Abgegrenztheit und Markiertheit, so dass der Pilot jenseits der Raumgrenze situiert

20 Brinkmann, Rolf Dieter: Wie ein Pilot/Populäres Gedicht Nr. 13, in: ebd., S. 226.

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wird. Der retrospektive Zugriff auf den über den Wolken in scheinbar unbegrenzter Freiheit schwebenden Piloten verbindet sich vonseiten des Betrachters mit der Vorstellung eines Rollenwechsels und einer räumlich orientierten Metapher eines Aufbruchs zu neuen Ufern bzw. zu unbekannten Horizonten.

IV F AZIT In den analysierten Texten erscheint der (Provinz)Raum nicht in der Frage der Extensität, sondern der Intensität des Erlebens. Er bedeutet ein ›Empfindungsmaterial‹, ein räumlich-sinnliches Gebilde, das als eine spezielle Form affektiv-kognitiver Verortungsversuche gilt. Der (Provinz)Raum wird als Bezugspunkt mannigfacher geistiger Bewegungen und Aktivitäten begriffen. Dies geschieht im Sinne eines bewussten Festhaltens und Aufbewahrens vergangener Zugehörigkeiten, die auch als räumliche Zugehörigkeiten definiert werden. Diese geistig-emotionalen Verortungsversuche umfassen eine Herstellung von räumlichen Zugehörigkeiten, die es erlauben, antithetisch Heimwelt gegen Fremdwelt, Innen gegen Außen, Nähe gegen Ferne, Geschlossenheit gegen Offenheit, Stabilität gegen Mobilität, Bodenständigkeit gegen Weltläufigkeit auszuspielen. Rolf Dieter Brinkmanns Perspektivierungen erzeugen Räume in ihrer bestimmten Präsenz sowie in ihrer Nicht-Präsenz als ›verschwundene Räume‹. Sie bedeuten dabei weniger einen Bezug auf markante Anhaltspunkte im geographischen Sinne, sondern sind als eine den Texten eingeschriebene Position ichhafter Wahrnehmung aufzufassen: Noch ist Polen nicht verloren21.

21 Brinkmann, Rolf Dieter: Noch ist Polen nicht verloren, in: ebd., S. 81.

Pop-Mythos und Rebellion Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik S ASCHA S EILER Also gebt mir das Geld, ich muß den Flug bezahlen, das Hotel und die Band. ROLF DIETER BRINKMANN/ EIN GEWÖHNLICHES LIED

Im ersten publizierten Brief an Hartmut Schnell vom 3. Juni 1974 schreibt Rolf Dieter Brinkmann gleich zu Anfang, er lausche »aus den kleinen Lautsprechern hier, in meinem kleinen Mittelzimmer der Wohnung« in der Engelbertstraße in Köln der »Musik von Elton John, Goodbye Yellow Brick Road, Töne und Stimmungen, die mir viel offener und weiter erscheinen als die graue westdeutsche Gegenwart und Sprache, die nun wirklich so negativ und hassvoll aufgeladen ist, dass es stimmt, was Middleton sagte, dass die deutsche Sprache total von Todeswünschen aufgeladen ist.«1 Elton John, dieser »olle Popsänger«2, wie es in einem späteren Brief heißt, als Bote einer reineren, offenen Sprache, die positive Stimmungen in dem von seiner westdeutschen Umgebung angewiderten Schriftsteller hervorrufen; Erinnerungen wohl an die – zumindest im Rückblick – für ihn wunderbare Zeit

1

Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut. Reinbek bei Hamburg:

2

Ebd., S. 166.

Rowohlt 1998, S. 7.

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in Austin/Texas, wo er auch Hartmut Schnell kennenlernte. Schnell selbst erinnert sich an jene Zeit als er und Brinkmann »die großen Boxen, wie er meine Lautsprecher nannte, schon mal mit einer Lou ReedPlatte dröhnen« ließen und die Rockmusik »ein weiterer Berührungspunkt«3 für beide war. Auch in Elton Johns Song geht es um einen desillusionierten Mann, zu jung, um den Blues zu singen, wie es heißt, der zurück möchte in eine Phantasiewelt, die ihm reiner und weiter erscheint als die erdrückende Realität auf seiner Farm. Brinkmann jedenfalls findet auch noch 1974 im Pop Erfüllung, wenn auch nicht in der Popkultur und noch weniger in der deutschen Pop-Literatur, die er wie kein zweiter prägte, zu der er aber stets ein distanziertes, oft missverstandenes Verhältnis pflegte. Doch die Popmusik bleibt Brinkmann auch nach 1970 und dem scheinbaren Bruch mit dem Pop als wichtiger Faktor in seinem Leben erhalten, wie dutzende Stellen in den 1974 und 1975 geschriebenen Briefen an Hartmut sowie einige Gedichte in Westwärts 1 und 2 belegen. Wenn Jörgen Schäfer meint, Brinkmann habe sich ab 1970 »noch für Rockmusik interessiert, doch war dies nun eher eine ›private‹ Vorliebe«4, so hat die von Mark Ritz gestellte Frage, was denn genau der nicht-private Bereich sei5, durchaus seine Berechtigung. Natürlich war Brinkmann von der Übernahme der einstigen Subkultur durch das verhasste Establishment desillusioniert, wie man an zahlreichen seiner Texte vor allem in den Materialbänden Rom, Blicke und Erkundungen nachlesen kann: »Ich muß lachen, wenn ich daran

3

Hartmut Schnell: 1974-75, in: Rowohlts Literaturmagazin 36/1995: Rolf

4

Jörgen Schäfer: Pop-Literatur: Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis

Dieter Brinkmann, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 122-124., hier: S. 123. zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart: Metzler 1998, S. 250. 5

Vgl. Mark Ritz, Die Bedeutung von Rockmusik für Rolf Dieter Brink– manns Werk, dargestellt an »In Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin«, in: Schulz, Gudrun und Kagel, Martin (Hgg.): Rolf Dieter Brink– mann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Sym– posions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta: Eiswasser Verlag 2001, S. 207-217, hier: S. 208.

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denke – der Schwulen-Hokuspokus, der Pop-Hokuspokus…«6 schreibt er etwa in Rom, Blicke. »Alles in den Ofen stecken? – Weg müßten sie schon! Mir aus dem Kopf, vor den Augen weg – die USA-Dinger hätte ich gar nicht machen dürfen.«7 Dennoch bleibt das Kino, der Comic und vor allem die Popmusik ein wichtiger Bestandteil seines Alltags und daher auch seines Schreibens, denn bekanntermaßen ist Brinkmanns Werk ab 1970 geprägt von der Dominanz eines deterministischen Ich, das keinerlei Widerspruch duldet. Im Folgenden soll zweierlei versucht werden: Im Hauptteil soll ein Blick auf Brinkmanns Verhältnis zur (damals) zeitgenössischen Popmusik, vor allem nach seinem selbstverkündeten Bruch mit dem ›PopHokuspokus‹ geworfen werden, sowohl anhand seiner Briefe an Hartmut Schnell, als auch anhand des exemplarischen, für sein Verhältnis zur Popmusik jedoch zentralen Gedichts Ein gewöhnliches Lied aus Westwärts 1 und 2. Am Schluss soll dann das Zeitgenössische nun in der Gegenwart geortet sein und, quasi als späte Antwort auf seine intensive Liebe zum Rock’n'Roll, die Rezeption Rolf Dieter Brinkmanns in der deutschen Popmusik behandelt werden. Eine häufige, direkte Thematisierung von zeitgenössischer Popmusik findet sich etwa in Brinkmanns einzigem Roman Keiner weiß mehr, auch wenn sie hier, anders als in einzelnen Gedichten aus der Zeit, nicht so sehr im Mittelpunkt steht, sondern eher eine Art leitmotivische Funktion einnimmt: Schallplatten, die abliefen, Otis Redding, Wilson Pickett, die Rolling Stones mit My sweet Lady Jane, das Stück, das Gerald am besten fand und das nicht zuletzt durch ihn immer weiter in Gang gehalten wurde bis zum nächsten Mal, als ob er schon dadurch von ihnen etwas anderes, Bestimmtes bekommen würde, wie er es sich von ihnen erhoffte.8

Oft erschöpft sich die Thematisierung von Popmusik in der Beschreibung alltäglicher Rituale oder persönlicher Bedürfnisse: »Sie saßen vor-

6

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 325.

7

Ebd., S. 345.

8

Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 30.

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ne bei ihm im Zimmer und hörten Schallplatten, neue, die er sich auf einem seiner Gänge durch die Stadt gekauft hatte.«9 Und: »Musik zu hören, R&B-Musik, Otis Redding, Otis Redding, Otis Redding, immerzu.«10 Helmut Schmied sieht in seinem bereits 1979 publizierten Aufsatz über Rockmusik und Gegenwartsliteratur die Rockmusik als »einer der befriedigenderen Aspekte in der uniformen Umwelt des Helden.«11 Allerdings leiste sie nichts, »um sie auf die Dauer zu durchbrechen, bleibt letztlich Teil von ihr.«12 Die Musik habe die Funktion, immerzu gehört werden zu wollen, wobei sie jedoch immer gleich bleibe. Man kann nicht von ihr erwarten, so Schmied weiter, »dass sie sinngebende Zukunftsperspektiven vermittelt; sie wirkt eher wie ein Beruhigungsmittel, das vorübergehend über die Frustrationen hinwegtäuscht.«13 Und es sind vor allem die Rolling Stones, die im Roman immer wieder auftauchen. Nicht nur zeichnen sie für das Motto des Buches verantwortlich – »Oh no, no, no«14 aus dem Album Between The Buttons – auch tauchen Sie im Zusammenhang mit den Treffen bei Gerald immer wieder auf: Dazu der Gesang Mick Jaggers über Lady Jane, das Stück, das Gerald am Besten fand mit dem aufschwärmenden Gekreisch von Mädchen im Hintergrund die ganze Platte über durch den großen, hohen Saal, ein treibendes, ziehendes Mädchengeschrei, das ihn, Gerald, jedesmal an von Mädchenkörpern losgelöste haarige Geschlechtsteile erinnerte, weiche, haarige Gebilde.15

Und auch in der längsten Reflexion über Popmusik philosophiert der Protagonist über den Prominentenstatus der Rolling Stones. Auch in diesem Fall wird die Reflexion über die Gruppe eher von ihrer Wahrnehmung in den populären Medien und ihrer kulturellen Bedeutung beeinflusst und weniger von ihrer Musik:

9

Ebd., S. 69.

10 Ebd., S. 141. 11 Helmut Schmied, No satisfaction oder Keiner weiß mehr: Rockmusik und Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 9/34 (1979), S. 11-24, hier: S. 18. 12 Ebd., S. 18. 13 Ebd., S. 18. 14 Brinkmann, Keiner weiß mehr, S. 5. 15 Ebd., S. 162.

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Mick Jagger steht, die Füße über Kreuz, dicht am Mikrophon und wiegt sich davor hin und her. Charlie Watts soll ein stiller, in sich gekehrter Junge sein, ein Philosoph hinter dem Schlagzeug. Brian Jones leidet leicht unter Asthma. Ein deutsches Illustriertenmädchen reist ihm nach, er reist ihm ebenfalls nach. Ist es eine internationale Romanze? Man schweigt sich aus. Keith Richard ist der Kopf im Hintergrund der Gruppe, er bosselt mit Mick die Songs aus. Von Bill Wyman ist kaum was bekannt. Was für ein Gefühl müssen die eigentlich von sich haben, wenn sie morgens aufstehen und sofort wissen, ich bin Mick, Keith, ich Brian, ich Billy, und ich bin Charlie. Wir sind die Rolling Stones. Eigenartig, stell ich mir vor, so viel Macht, plötzlich, sagte Gerald. Wie siehst du dann das alles, überleg doch mal genau. Was weiß ich.16

Die Banalität der Art und Weise, wie Popmusik medial wahrgenommen wird, kommt in dieser Passage ebenso deutlich zum Vorschein wie die Ablehnung einer solchen Trivialisierung durch den Protagonisten. Brinkmann, dem offensichtliche politische Agitation zuwider war, der sich nicht »von ideologischen Doktrinen einfangen«17 lassen wollte, wollte das scheinbar objektivierte Alltagsleben auf eine eigene, subjektive Weise wahrnehmen, um somit vorgeschriebene Rezeptionsprozesse abzulehnen. Der Gedanke, dieses kulturell Wahrgenommene einer bestimmten politischen Ideologie zu unterwerfen, ist sowohl dem Protagonisten von Keiner weiß mehr wie auch dem Autor Rolf Dieter Brinkmann zuwider. Dies zeigt sich, im Kontext der Popmusik, vor allem, als sein Freund Rainer ihm die hochpolitisierte Rockgruppe The Fugs näher bringen möchte: Danach, ein paar Tage später, war es eine Schallplatte, die er vorher bei Rainer liegen gesehen hatte, The Fugs. Das kommt, paß mal auf, sagte Rainer, das kommt. Aktion! Aktion! Der von Ed Sanders geforderte totale Angriff auf die Kultur kann nicht länger durch systemimmanente Kritik erfolgen, sondern nur noch durch Kritik von außen, das heißt von Kriminellen, Süchtigen, Farbigen. Sind wir alle kriminell? Marx vertagte alle wesentlichen menschlichen Probleme auf die Zeit nach der Revolution, aber es ist jetzt nach der Revolution. Klar, Tuli Kupferberg.18 (KWM, 173)

16 Ebd., S. 179. 17 Brinkmann, Hartmut, S. 145. 18 Brinkmann, Keiner weiß mehr, S. 173.

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Vielleicht kann man, betrachtet man sich die zwar begeisterten, aber politisch wie kulturell wenig zielgerichteten Kommentare, die Brinkmann gegenüber Hartmut Schnell schriftlich äußert, doch Schäfers Vorstellung einer inneren Abwendung von der Popmusik folgen; einer Abwendung, die den privaten Genuss zwar nicht einschränkt, doch die Popmusik als soziales Ereignis negiert. So schreibt er in seiner Hartmut geschickten Vita: »seit 1967: Beschäftigung mit Rock’nʼRoll-Musik (ab 1972 abgebrochen)«19 und in einer zweiten Fassung: »zwischen 1959-1964: viel Jazz gehört«, »ab 1965: mehr Rock’nʼRoll (erste Rock’nʼRoll-Musik um 1955 aus der Musikbox einer Eisdiele in der Kleinstadt)«20. Gerade die letzte Äußerung ist wichtig, will man Brinkmanns persönliches Verhältnis zur Popmusik verstehen. In einem anderen Brief schreibt er: 1956 der erste Rock’nʼRoll aus einer Musikbox einer Eisdiele der Kleinstadt usw. was für eine Überraschung! Da habe ich mich mit lateinischen und altgriechischen Übersetzungen rumschlagen und quälen müssen, und aus der Musikbox nachmittags kam diese Musik! Das war ja wohl ein riesiger Sprung.21

Offensichtlich spricht Brinkmann hier von einem kollektiven Erwachen, einem »ersten Einschnitt […] »mit erstem RocknRoll aus der Musikbox nachmittags, was ganz gegen das stand, was vormittags in der Schule einem verabreicht wurde«22, denn auch Peter Handke schreibt in seinem Versuch über die Jukebox es sei ihm nicht gestattet gewesen, Popmusik auf dem elterlichen Plattenspieler aufzulegen, und aus diesem Grund habe er mehrere Fluchtversuche zu Jukeboxen in öffentlichen Einrichtungen unternommen, um dort der neuen und aufregenden Musik zu lauschen, etwa den frühen Beatles, dem »Chor der frechen Engelszungen« und ihrer Hits I saw her standing there oder I wanna hold your hand, die »alles Gewicht der Welt von ihm nahmen«23.

19 Brinkmann, Hartmut, S. 114. 20 Ebd., S. 116. 21 Ebd., S. 42. 22 Ebd., S. 76. 23 Peter Handke: Versuch über die Jukebox, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 89.

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Überhaupt ist die Wahrnehmung von Popmusik als Triebfeder der Erinnerung in jenen Jahren bei Brinkmann besonders groß, wie auch eine Passage aus Rom, Blicke zeigt The Platters, Only You, hohe Falsett-Stimmen, hohe weiche Negerstimmen, langsam und zu süß, die Süße einer Schallplattenmusik, die sich vermischt mit den vagen Träumen und Vorstellungen eines 16-jährigen Jungen in einer norddeutschen Kleinstadt abends, wo nichts geschieht, niemals etwas geschehen wird, niemals etwas geschehen kann […], und diese süßlichen negroiden Schallplattenstimmen vermischen sich mit der Pubertät und den Sehnsüchten eines Jungen in der Pubertät, es muß 1956 gewesen sein, jetzt ist es 1972…24

Und Popmusik scheint für Brinkmann auch im Jahr 1975 noch eine Form kultureller Artikulation zu sein, die es dem Künstler ermöglicht, recht unmittelbar Gefühle auszudrücken. Jedenfalls bekennt er: »Mir fehlt bloß, daß ich Gitarre spielen kann, eine Gitarre, eine Geige, die elektrisch verstärkt wird, eine Baßgitarre, ein Schlagzeuger und dann mit einem schönen gleichmäßigen kräftigen Rhythmus das singen.«25. Gleichzeitig ist er sich sicher »daß ich hübsche Rock’n'Roll Lieder schreiben könnte, lebte ich länger in den USA«26 und rät Hartmut, der sich offensichtlich auch als Songwriter versucht: »Du mußt mehr einfache direkte Lieder schreiben in Amerikanisch wie das, was Du zum Seminar gemacht hast, Parking Lot Blues oder so, […] erzähl Deine Geschichten in einfachen Liedern, Dir selber zum Spaß.«27 Diese Aussage ist von besonderem Interesse, weil Brinkmann in der Einfachheit der Rocklyrik seinen Anspruch nach Unmittelbarkeit erfüllt sieht, auch wenn er sich gleichzeitig sicher ist, »daß die Sachen [gemeint sind die Rock-Texte] doch sehr einfach sind und […] daß die Musik die räumliche ausschwingende rhythmische Dimension dazu schafft./Wäre die Musik nicht dazu, wären fast alle Texte eine richtige Klischeescheiße.«28 Im selben Brief vom Januar 1975 führt er die Reflexion über den Stellenwert des amerikanischen Songtextes fort, indem er schreibt:

24 Brinkmann, Rom, Blicke, S. 376. 25 Brinkmann, Hartmut, S. 68. 26 Ebd., S. 107. 27 Ebd., S. 169. 28 Ebd., S. 169.

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sieh mal, ich war so erstaunt zu erfahren, daß der Grund der Musik in Amerika wirklich kein Geschäft ist, ich meine daß so viel Musik gemacht wird, der Grund dafür ist ein wirkliches Bedürfnis, das aus der Einsamkeit und der Weite des Landes kommt…und ich finde, daß RocknRoll und Country, soviel das auch durch Technik und Kommerzielles später verdrängt und verquer wird, ein richtig legitimer ›kultureller‹ Anspruch der Bevölkerung ist – halte Dir da mal dagegen die Knödeljodler aus Bayern vor Augen […] Da hast Du eine Misere und Verarmung dieses Landes.29

Brinkmann ist sich sehr genau darüber bewusst, dass es auch die Popmusik war, die das Leben seit den späten 60er Jahren in Deutschland maßgeblich geändert hat, »daß da eine Menge die Rock’n'Roll Musik und das Dope usw. nehmen geändert hat, die Erfahrung der Unmittelbarkeit des Lebens z.B. usw. gegenüber den versteinerten Umwelten«30 Es habe einen Bruch in der westdeutschen Literatur gegeben, beeinflusst nicht nur durch Undergroundkino, nouvelle vague, Popart und die Beats sondern auch »durch die Heftige Stärke der Rock-nRollmusik«, diese »Hinweise auf Lebendigkeit«31 hätten den Autoren der 50er Jahre schlicht und einfach gefehlt. Oder, um es mit Brinkmanns eigenen Worten zusammenzufassen: Wie weit der Einfluß im einzelnen reicht, ist gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist, wie diese Musikart, von Blue Suede Shoes und Roll over Beethoven bis hin zu Deep Purpel [!] oder Frank Zappa oder Elton John oder wer immer, bis hin also in die lokalen Gruppen meinetwegen in Austin, ein Empfinden bewirkt hat – und daß diese Musik das einzige innerhalb der geregelten geordneten westlichen Welt (von den Drogen noch abgesehen) ist, was für Momente und sei es auch nur für Momente, viele von dem gegenwärtigen Zustand fortbewegt und ihnen momentlang ein anderes gefühl, sei das auch noch so vage, vom leben gibt.32

Doch welche Musik hört Brinkmann nun in den Jahren 1974 und 1975, was ist ihm wichtig? Neben den bereits in den 60er Jahren verehrten Rolling Stones, deren Album Between The Buttons er nicht nur für

29 Ebd., S. 177. 30 Ebd., S. 75. 31 Ebd., S. 145. 32 Ebd., S. 92.

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»die beste Platte, die diese olle Gruppe aus England gemacht« hat, hält, da sie »noch wirklich ehrliche klare Erfahrungen » enthalte, »ohne modische elektrische Schnörkel«33 und die er auch in seinem Gedicht Einige populäre Songs noch einmal verewigt, scheint es ihm die Band The Doors besonders angetan zu haben, da Jim Morrisons Texte mehrfach Erwähnung in den Briefen finden und er Hartmut sein Verständnis einiger Textzeilen erläutert. Auch die subtile Ironie, die Randy Newman auf seinem zynischen Album Good Old Boys, eine Parodie auf den reaktionären amerikanischen Süden, die sich Hartmut unbedingt anhören müsse, lobt Brinkmann als »zum lachen […] und doch sehr ernsthaft.«34 ; selbst dem ohne Lou Reed unter der Regie Doug Yules aufgenommenen und heute zu recht vergessenen Album Squeezed der nicht wiederzuerkennenden Velvet Underground findet er passabel. Brinkmanns Musikgeschmack – Rolling Stones, Doors, Velvet Underground35, auch Eric Burdon wird erwähnt36– ist, auch wenn er das wohl nicht gerne gehört hätte, eindeutig geprägt vom wenn auch nicht explizit politisch so doch zumindest sozial agitatorischen, ›authentischen‹ Rock der späten 60er Jahre; einer Musik also, welche gegen die starren Moralvorstellungen agitieren wollte und die herrschenden sozialen Zustände in Frage stellte, meist in Form einer gerne propagierten gesellschaftlichen Freiheit, in deren Mittelpunkt die freie Entfaltung der Sexualität und der Konsum illegaler Substanzen stand – auch wenn er in Rom, Blicke behauptet, er verabscheue den »durchschnittlichen, spätvergammelten Pop-Muff der braven kleinkarierten Bürgerkinder.«37 Diese Art Popmusik lebt von der von den Bands selbst propagierten und den Fans stets vehement geforderten Authentizität, eben »ohne modische elektrische Schnörkel«. Dies zeigt sich auch in Brinkmanns Äußerung zu David Bowies damals aktueller Platte Diamond Dogs, steht doch Bowie für den radikalen Bruch mit dem Streben nach Authentizität in der Popmusik und dem Spiel mit künstlichen Identitäten:

33 Ebd., S. 201. 34 Ebd., S. 182. 35 Vgl. ebd., S. 52. 36 Vgl. ebd., S. 187. 37 Brinkmann, Rom, Blicke, S. 322.

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Die neue Platte von David Bowie ist ein Hammer, total SF-haft, intellektuell, aber ich mag sie nicht, alles zu sehr Zukunft usw. was, wenn man die Gegenwart (die Vergangenheit ist) verlängert, richtig ist, aber mies. Ungeheuer technisch Raffiniert etc. ich meine die Platte Diamond Dogs (von Bowie) aber alles sehr artifizial…ich mag lieber Vergnügen!38

Interpretiert man nun Brinkmanns Äußerungen, gerade in den Materialbänden, so könnte man zu dem Schluss kommen, er sehe die populäre Kultur als Symbol für die gescheiterte kulturelle Revolution der 68er. Tatsächlich gesteht er ein, sich bezüglich des subkulturellen Potentials der populären Kultur getäuscht und ihren fatalen Hang zur Anpassung an die Strukturen des Establishments nicht rechtzeitig durchschaut zu haben. Zwar hat er in seinen Gedichten populäre Kultur in vielen Fällen instrumentalisiert, um der Bürgerlichkeit quasi einen Spiegel vorzuhalten, doch glaubte er stets auch an ein ihr implizites gegenkulturelles Potential. Ein gutes Beispiel für diese Desillusionierung mit der Popmusik ist das Gedicht Ein gewöhnliches Lied, das Westwärts 1 & 2 eröffnet. Bereits 1969 hatte Brinkmann im Gedicht Vage Luft seinen Abschied von der Popmusik verkündet. So heißt es am Ende des Gedichts: »Ich//stecke mir Ohropax ins Ohr, um die/Gegenwart des 20. Jahrhunderts ertragen/zu können. Das nennt man die persönliche//Flucht«. Immerhin waren zahlreiche berühmte Popstars auch bereits jung gestorben: der Tod von Jim Morrison, »der/in einer Badewanne in Paris gestorben ist//und dem ich gerne zugehört habe«, Jimi Hendrix, »an der eigenen Kotze erstickt«, und Brian Jones, der »kühl und ohne Gefühl im Planschbecken seines Landhauses«39 den Tod gefunden hat, sind Gründe für diese Flucht. Ein gewöhnliches Lied beschreibt den Auftritt eines Rockstars als sinnentleertes Ritual, das vom einst revolutionären Geist der Popmusik übrig geblieben ist. Das Gedicht beginnt mit einem Wutausbruch des Rockstars (»Ich schlag euch nieder,/ich weiß nicht, ob aus Wut,/dann kommen die Lieder/besonders gut«), der sich aufgrund seiner gespielt wirkenden Aggressivität als ›abgesprochene‹ Geste gegenüber dem Publikum entpuppt. Was einst als revolutionär und gesellschaftlich

38 Brinkmann, Hartmut, S. 87. 39 Brinkmann, Rolf Dieter: Vage Luft, in: Hans Peter Keller (Hg.): Satzbau, Poesie und Prosa aus Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1972, S. 243.

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anstößig galt, ist zu einem banalen Vertrag zwischen Performer und Publikum verkommen: »Sie schauten ihm bei dieser Arbeit zu,/von den bezahlten Sitzen aus, stumm, eine Art/der Wiederholung […]«. Das Publikum ist sich seiner Rolle bei diesem Ritual bewusst, denn: »Wenn er sie aufforderte zu singen, sangen sie/was er gesungen hatte, noch einmal, bevor er//weiter sang […]« Doch am Ende durchbricht der Rockstar das abgesprochene Ritual; als erscheine ihm sein Handeln plötzlich selbst als verlogen: […] Mein Lied ist gewöhnlich, mein Lied ist ein Dreck, und ihr sitzt da und seid ganz weg. Am besten ist, ich geh nach Haus, wenn der Weg nicht zu lang wär. Also gebt mir das Geld, ich muß den Flug bezahlen, das Hotel und die Band.40

Der Rockstar, der einst einen Gegenpol zum Establishment darstellen wollte, ist zum reinen Arbeitgeber mutiert; und der Zustand der Popmusik Mitte der 70er Jahre steht für Brinkmann symbolisch für seine – zumindest in seinen Augen – gescheiterten Vermittlungsversuche, da sich das Konzept des Gegensatzes von Underground-Kunst und etablierter Kultur selbst bei den scheinbar revolutionärsten Formen von ›neuer‹ Kultur aufgrund der Marktgesetze von Angebot und Nachfrage aufzulösen scheint. Jörgen Schäfer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »soziale[n] Etablierung des Pop« und dem damit verbundenen »Verlust seiner Verwurzelung in den diversen Subkulturen, die in den frühen 70er Jahren unübersehbar«41 wurde. Bereits in der Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2 heißt es: »[…] die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen

40 Rolf Dieter Brinkmann: Ein gewöhnliches Lied, in: ders.: Westwärts 1 & 2, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 9. 41 Schäfer, S. 254.

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weiter, die Rock’n'Roll-Sänger machen weiter«42; Brinkmann sieht die Popmusik ihres aufrührerischen Potenzials beraubt, da sie sich in den Alltagstrott eingliedert und letztlich zum Konsumartikel wird. Und wer aus der zeitgenössischen deutschen Popmusik hat Brinkmann aufmerksam gelesen? Zum Abschluss sollen nun drei recht unterschiedliche Beispiele von Brinkmann-Rezeption kurz betrachtet werden: Auf ihrem 2002 erschienenen Album Love Streams vertont die Kölner Elektronik-Band März die Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2, indem der Sänger mit monotoner Stimme über zurückgenommene elektronische Geräusche und einer repetitiv (und so an den Text stimmig angepassten) das ewig gleiche Muster spielenden akustischen Gitarre den Text Brinkmanns vorliest. Die Spex schrieb seinerzeit: »Love Streams hat sich umarmen lassen von den Gedichten Rolf Dieter Brinkmanns und erwidert diese Umarmung, womit sie auch als Referenz an des Dichters Liebe zur Musik funktioniert«43. Wie ist diese Symbiose zu erklären? Wobei der Bezug eher in die musikalische Ebene hineingelesen wird, anstatt Love Streams als direkte Vertonung von Brinkmanns Lyrik zu sehen, ohne diese, mit der Ausnahme der Vorbemerkung, zu zitieren. Was sicherlich übertrieben ist, dennoch geht von Introductury eine hypnotische Stimmung aus, die vor allem der Doppelung des repetitiven Elements – in Text und Gesang – und dem wie beiläufig, und deswegen passend, vorgetragenen Text geschuldet ist. Neben der Berliner Folkpop-Gruppe Zimtfisch, die einem Stück ihres Albums HeyHeyHeyHey den Titel Die Geschichtenerzähler machen weiter gaben – es klang einfach gut, wie die Band später meinte – lehnt sich Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer im Text seines 2003 auf dem Album Jenseits von Jedem erschienenen Song Alles macht weiter ebenfalls an der Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2 an und spinnt deren Aufzählung dessen, was denn im Alltag so alles ›weitermacht‹ fort: Alles macht weiter

42 Rolf Dieter Brinkmann: Vorbemerkung, in: ders.: Westwärts 1 & 2, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 7-9, hier: S. 7. 43 Wolfgang Frömberg: Love Streams, in: Spex 6/2002, S. 105.

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Die Zeit und ihr Garten Der Baum vor dem Fenster Das Hoffen und Warten Die Zwiebeln im Kühlschrank Alles macht weiter Der Alltag macht weiter Die Probleme und Zwänge Der Verkehr in den Straßen Die Einsamkeit in der Menge44

Auch wenn Distelmeyer anmerkt, nicht direkt von Brinkmann beeinflusst worden zu sein, so ist der Verweis auf Westwärts 1 & 2 doch ziemlich unmittelbar. So erzählte der Sänger, auf das unkommentiert veröffentlichte Quasi-Plagiat angesprochen: Ich weiß, Westwärts von Brinkmann arbeitet auch so. Das habe ich mir dann noch mal angeguckt und gesagt: Interessant. Es war aber nicht geplant. […] Ich finde es aber wichtiger, wenn man bei einem Stück schon nach Referenzen sucht, danach zu schauen, was das Stück denn selber sagt und was versucht wird zu vermitteln. Es machen ja bei uns auch ganz andere Sachen weiter als bei Brinkmann, oder? […]45

Immerhin fügt er hinzu: »Und natürlich hat man mit Rolf Dieter Brinkmann mehr zu tun als mit Peter Handke oder Martin Walser.«46 Distelmeyer möchte jedoch den Song dennoch wohl eher nicht als direkte Referenz an Brinkmann verstanden wissen, sondern sieht Kultur eher als Referenzspielraum; ein Schubladensystem, wie er selbst bemerkt, an dem man sich, wie man es wünscht, bedienen kann. Man speichere schließlich alles, was man einst konsumiert habe, irgendwie ab, und dann kommen diese Ideen wieder, ohne, dass man so recht weiß, woher. Eine postmoderne Songtheorie, aber sicherlich auch eine gezielte Spitze gegen die Überinterpretation und die Suche nach ›Bedeutung‹ in Blumfeld-Songs.

44 Blumfeld: Alles macht weiter, auf: Jenseits von Jedem, SonyBMG 2003. 45 Sascha Seiler: Ein gewöhnliches Lied. Ein Gespräch mit Blumfeld, in: DNASix 9/2003, S. 26-29, S. 28. 46 Ebd., S. 29.

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Kante-Sänger Peter Thiessen gab in einem Interview zu, die damals gerade erschienenen CDs mit Brinkmanns Tonaufnahmen gehört zu haben und schildert die Szene, als der Lyriker mit einem Aufnahmegerät durch Köln läuft, laut vor sich hin sprechend, woraufhin ihn ein Hundebesitzer anspricht, er solle nicht so brüllen, die Tiere seien schon ganz unruhig. Thiessen sieht hier einerseits eine banale, zufällige Alltagsszene, und doch eine tiefere Bedeutung, spinne man den Gedanken weiter, so wie er es in seinem Unheil verkündenden Songtext Die Tiere sind unruhig getan hat. Für Thiessen liegt die Besonderheit in Brinkmanns Gedichten in der Fähigkeit des Lyrikers, in Alltagserlebnisse symbolische Handlungen hineinzulesen und sie zu Poesie zu machen. Oder das alles eben nicht zu machen und es klinge einfach gut, so genau wisse man das ja nie. Mehr wollte er dazu nicht sagen, er sei schließlich »kein Literaturwissenschaftler«47 und rede daher auch nicht so gern über seine Texte. Auch Brinkmann verwendete ja das leicht abgewandelte Zitat als Anfang eines Gedichts in Westwärts 1 &2. Man könnte nun natürlich argumentieren, die drei Beispiele zeigen die Aktualität des Lyrikers Brinkmann in der intellektuellen deutschsprachigen Rockszene, doch ist dem leider nicht so. Es sind Einzelbeispiele, die etwas willkürlich wirken, außer vielleicht im Falle Blumfelds, doch wie Distelmeyer ja selbst bekennt, speist sich seine Lyrik aus kulturellen Begegnungen, die er sein Leben lang abgespeichert hat, und auch wenn das Kokettieren mit dem Zufall – Westwärts ›arbeite‹ auch so – sicher nicht mehr als genau das, kokettieren, ist und die Rezeption der Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2 sicherlich voll und ganz beabsichtigt, so bleibt es doch eine Referenz unter vielen, schaut man sich das Werk der Band an. Andererseits: Welcher deutschsprachige Schriftsteller, außer vielleicht Thomas Bernhard im frühen Werk Tocotronic, ist überhaupt in der zeitgenösssichen Popmusik präsent?

47 Aus einem unpublizierten Interview des Autors mit Peter Thiessen.

Rolf Dieter Brinkmanns Konstruktion und Destruktion des weiblichen Körpers A RLETTA S ZMORHUN […] ihr Körper, der so eigenartig in zwei Teile zerfiel, der Oberkörper eher noch mädchenhaft-kindlich, schmal, schlank, mit den kleinen birnenförmigen Brüsten, die man halb in den Mund einsaugen konnte, und dann der untere Teil breiter, die Hüftknochen ausgebreitet, der Hintern fest, ein breites Gesäß, gut zum Anfassen, weich zum Sichdrauflegen, stämmige Oberschenkel, […] gleichmäßig schlanke Beine, über die er langsam hochtasten würde […].1

Der weibliche Körper, der den männlichen Protagonisten in Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr in erotischer Unruhe hält, entsteht aus sprachlichen Zeichen und fungiert selbst als Zeichen. Die im Prozess der Beobachtung und der daraus resultierenden Fantasien entstandene Körperkonstruktion ist in dem Fall kein Effekt komplexer soziokultureller Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozesse, sondern sie spiegelt einfach das biologisch Gegebene. Kleine birnenförmige Brüste, fester Hintern, stämmige Oberschenkel und schlanke Beine der jungen Frau sind nicht lediglich als sekundäres Geschlechtsmerkmal

 1

Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1968, S. 143f.

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zu betrachten, sondern sie haben für den namenlosen Erzähler eine große Bedeutung als erotisches und sexuelles Signal und beeinflussen eindeutig sein Konstrukt von Weiblichkeit. Dies veranlasst zur Feststellung, dass literarische Texte das in anderen Diskursen gespeicherte Wissen über Körper und Körperlichkeit weniger wiederholen, als dass sie es gemäß den ihnen eigenen Modi von Rhetorizität, Figuralität, Symbolizität und Narrativität gestalten. Gerade weil literarische Texte von unmittelbaren referentiellen Funktionen entlastet sind, vermögen sie ein partikulares Wissen über den Körper aus anderen Redeordnungen aufzugreifen und unter den Lizenzen eines ›Handelns als ob‹ zu rekonfigurieren und zu transgredieren. In diesem Spiel ist auch ein besonderes Faszinosum literarischer Inszenierungen des (weiblichen) Körpers zu sehen.2 Am Beispiel des Romans Keiner weiß mehr von Rolf Dieter Brinkmann soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass der Körper nicht nur als Träger, sondern auch als Quelle von Sinn zu begreifen ist, »nicht nur als Ensemble, auf dem Bedeutungen angebracht sind, sondern als Bedingung der Möglichkeit des Bedeutens«.3 Das heißt, dass das scheinbar Naturgegebene auf der einen Seite als Manifestation kultureller Kodierungen und Symbolisierungen erkennbar wird. Auf der anderen Seite aber sind diese Kodierungen und Symbolisierungen auf die biologischen Konditionierungen zu befragen, auf denen sie beruhen. Erscheint der weibliche Körper in einer Perspektive als Effekt kultureller Semiose, so in der anderen als das Entzogene, auf das die kulturelle Semiose keinen Zugriff hat.4 In Brinkmanns literarischen Konfigurationen und Inszenierungen des Körpers kommt dieses Spannungsverhältnis von Natur und Kultur deutlich zum Ausdruck. Die von ihm entworfene Körperlichkeit oszilliert zwischen Schönheit, Hässlichkeit, Affektivität, Emotionalität und Zügellosigkeit, die zunächst als naturgegeben erscheinen mögen. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als komplexes Gefüge aus natur- oder kulturbezogenen Zuschreibungen. Brinkmann spielt mit Identitäten und Körperzeichen. Der von ihm auf die Bühne gesetzte weibliche Körper erscheint in Situationen des Begehrens, der Verach-

 2

Vgl.: Kellner, Beate/Kiening, Christian: Einleitung: Körper-Kultur-Literatur (1200-1800), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft 1/März 2009, S. 2-8, hier S. 2.

3

Ebd., S. 4.

4

Vgl.: ebd.

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tung, der Verabscheuung, der Schädigung und in verschiedenen Verlustsituationen. In Brinkmanns Text werden Körper von »nassen Ehefrauen« und »trockenen Mädchen«, von Striptease-Tänzerinnen und Prostituierten verhandelt – eine Kategorisierung, die den folgenden Beitrag in einzelne Kapitel aufteilen lässt. Die Diskursivierung des Frauenkörpers ist dabei eine ›Männersache‹, und es sind die Männer, die die Ordnung des Diskurses und der Geschlechter bestimmen, die Differenz festlegen und die Weiblichkeit definieren. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die im Text entworfenen Frauenfiguren keine Möglichkeit haben, über sich selbst zu reflektieren und das Eigenbewusstsein zu entwickeln. Die von den Frauen erwartete oder ihnen aufgezwungene Verhaltensweise fordert eine bestimmte Körperlichkeit, die durch situationsbedingte Umstände hergestellt wird. Die daraus resultierende Perspektive der Performativität und Funktionalität ermöglicht es, die mediale Erzeugung spezifischer Körpermodellierungen und damit einhergehender Gefühlslagen zu betrachten.

I

D ER K ÖRPER DER G EWALT

ALS

AUSTRAGUNGSORT

Brinkmanns Roman beschreibt »die vergeblichen Versuche eines Ehepaares, zu einem sexuellen Einverständnis und einer erträglichen Form des Zusammenlebens zu kommen«.5 Das Scheitern der intimen Beziehung hat seine Ursache in den falschen Frauenbildern, die sich im Kopf des namenlosen Erzählers festgesetzt haben und sein Verhalten gegenüber seiner eigenen Frau bestimmen. Die Reaktionen des verheirateten Mannes werden nicht zuletzt durch seinen Freund Gerald fehlgeleitet. Die von Gerald produzierten Bilder von »trockenen Mädchen« und »nassen Frauen« beeinflussen die Beziehung des Protagonisten zu seiner Gattin. Die Unfähigkeit, seine eigene Frau diesen Bildern gemäß definieren und beurteilen zu können, mündet in der Entfremdung. Die Verwandlung der Frau vom »trockenen Mädchen«, das mit solchen Qualitäten wie Jugend und Schönheit verbunden wird, zur mit körperlicher Verwesung und Schwangerschaft assoziierten

 5

Wellershoff, Dieter: Destruktion als Befreiungsversuch: Über Rolf Dieter Brinkmann, in: Akzente: Zeitschrift für Literatur, 23, 1976, S. 277-286, hier S. 280.

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»nassen Frau« bildet den Kernpunkt der Krise in der Beziehung. Der durch die Verwandlung der Frau ausgelöste beziehungsbezogene Tiefpunkt artet im Laufe der Zeit in Unterdrückung und Gewalt aus, die auf körperlicher, sozialer und räumlicher Ebene zum Vorschein kommen. In ihrer eigenen Wohnung erlebt die Ehefrau des Protagonisten eine lagerähnliche Situation, da der Protagonist ihr alle Rechte abspricht und von ihr verlangt, vorbehaltlos seinen sich ständig wechselnden Regeln zu folgen. Auch in der räumlichen Aufteilung der kleinen Wohnung, die auf Wunsch des Protagonisten entsteht, artikuliert sich die geschlechtliche Hierarchie. Die Frau wird zum Objekt stilisiert, über das der Mann völlige Kontrolle hat. Jeglicher Versuch, Widerstand zu leisten, wird im Keim erstickt und lässt den weiblichen Körper als Austragungsort der verbalen und manuellen Gewalt erscheinen: […] du Scheißfotze, Dreckstück, ja, Dreckstück, was, ich ein Dreckstück, ich laß mir das von dir nicht mehr gefallen, wozu, doch, ja, er haßte sie, hätte sie jetzt schlagen können, immerzu, und schlug sie, ja, Scheißstück, oh, oh, irrsinnig, verrückt, ja, weiter, immer feste drauf, auf den Kopf, ihr ins Gesicht, schlagen, bumms, da hast du, was du brauchst.6

Die Worte des namenlosen Erzählers »du Scheißfotze, Dreckstück« scheinen die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber seiner Frau zu rechtfertigen. Der von Wut und Ärger begleitete Angriff auf den weiblichen Körper stellt einen Angriff auf die Frustrationsquelle mit dem Ziel dar, sie zu beseitigen oder mindestens zu erniedrigen. Die rohe und verletzende Gewaltanwendung gegen die Ehefrau als eine Zwangseinwirkung auf eine andere Person ist mit Macht- und Herrschaftsbeziehungen verbunden, die den weiblichen Körper je nach Bedarf reglementieren und disziplinieren. Analysiert man das Phänomen der ehelichen Gewalt von gender-Positionen aus, so handelt es sich bei Brinkmann um zwei Formen der Gewalt: 1) Gewalt als Ausdruck des diffusen Zorns des Mannes und 2) Gewalt als Form der Konfliktaustragung.7 Obwohl der Protagonist das Bild des

 6

Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 173.

7

Vgl.: Benard, Cheryl/Schlaffer, Edit: Die ganz gewöhnliche Gewalt in der Ehe. Texte zu einer Soziologie von Macht und Liebe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1978, S. 19-23.

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»trockenen Mädchens« von dem seiner Frau trennt, kann er seine Frau als »nasse Frau« nicht akzeptieren. Die »nassen Frauen« werden wegen der Nässe und Zeugungskraft als abscheulich empfunden, obwohl das Feuchte ursprünglich vom Mann selbst kommt. Man kann also annehmen, dass es sich hier um eine Art Selbstabscheu handelt, die durch die Verantwortlichkeit für die Geburt des Kindes zusätzlich potenziert wird und Hass erzeugt. Der entstehende Hass auf sich selbst wird externalisiert und auf die Frau projiziert, so dass die Gewalttätigkeit im Angesicht der mangelnden reflexiven Selbstbeziehung als eine wirksame Strategie zum Aufbauen eines positiven Selbstgefühls und zur Stabilisierung der männlichen Beziehungsmacht erscheint, zumal diese Macht Krisentendenzen ausgesetzt ist. Ausbrüche von Gewalt präsentieren sich demzufolge als Element eines dauernden Krisenmanagements, als Versuch, die Dominanz, die die Gesellschaft dem Mann gründlich beigebracht hat, aufrechtzuerhalten und zu manifestieren. In Brinkmanns Roman wird die männliche Überlegenheit auch auf sexueller Ebene ausgespielt: Nein, nicht, ich will nicht, laß mich doch, wehrte sie ab, als er ihr mit der einen Hand unter den Rock griff und zwischen ihre eng aneinandergedrückten, geschlossene Schenkel drängte. Mit der anderen Hand hielt er sie dabei weiter aufs Bett gedrückt, bis er die hysterische Lächerlichkeit begriff, die in seiner Anstrengung lag.8

Der weibliche Körper erscheint hier als ein Ort der Einschreibung von sexueller Gewalt. Der Frauenkörper wird zur Grenze, an der sich der Täter und das Opfer treffen, zum Symbolisierungsfeld, auf dem Spuren traumatischer Erfahrungen hinterlassen und Herrschaftsverhältnisse geklärt werden. Die körperbezogene Beherrschungsgeste und der Stellenwert körperlicher Erfahrung zeigen sich im Moment der Interaktion und des gewaltsamen Handelns. Die dem Willen des Mannes unterworfene Körperhaltung der aufs Bett gedrückten Frau bewahrt eine Erfahrung auf und ist mit ihrer Bewegungsbeschränkung ein Körperzeichen und eine Ausdrucksform der Ohnmacht. Der weibliche Körper wird zum Austragungsort der Gewalt, die sich auch im Ausleben negativer libidinöser Energien in den zwischenmenschlichen Beziehungen äußert. Das gender-Regime in der Familie, das sich bei

 8

Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 211.

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Brinkmann in Form von Diffamierung und Ängstigung der Partnerin manifestiert, dient der kurzfristigen Stabilisierung des eigenen Selbstwertes durch Gewaltanwendung. Die eheliche Konfliktaustragung hat – schon allein auf Grund des dem Hausvater gebührenden Züchtigungsrechts – eine disziplinierende Maßnahme zu sein, eine Art pädagogischer Zurechtweisung, die nicht selten nach dem Muster Warnung-Drohung-Strafe organisiert ist und für die Zukunft die Willfährigkeit der Frau gewährleisten soll.9 Der Gedankenbericht des namenlosen Erzählers scheint diese These zu bestätigen: Sie ging ihm aus dem Weg, sie hielt sich zurück, aber das war eine Falle. Sie wollte ihm damit nur um so deutlicher zeigen, daß sie immer noch da war, sich durchgesetzt hatte und nachgeben konnte. Sie konnte jetzt großzügig sein, ihn das spüren lassen, wie großzügig sie war, indem sie sich scheinbar ihm gegenüber fügte. Ihn dadurch aber auch wieder nur zwang, sie zu hassen […].10

In diesem Zusammenhang drängen sich die Überlegungen des Sozialpsychologen Wilfried Gottschalch auf, der die männliche Gewaltaffinität auf die Frauenangst zurückführt. Wenn er schreibt, dass »der fundamentale biologische Geschlechtsunterschied eine folgenreiche Angst der Männer vor den Frauen erzeugt«11, dann meint er nicht biologistische Interpretationen, sondern zeigt auf, wie der biologische Unterschied sozial und kulturell verarbeitet wird. »Aus dem Geschlechtsunterschied folgt die Angst der Männer vor den Frauen, vor der mythischen Baubokratie. Das ist ein drängendes Motiv, das soziale Patriarchat, in welcher historischen Form auch immer, zu verteidigen und zu erneuern«.12 Dass dies auch heute noch nicht ausgestanden ist, zeigt nicht nur die immer wieder aufblühende populistische Literatur, sondern auch der Alltag, in dem diese »Urangst« des Mannes zur Geltung kommt. Die Ungewissheit, sich mit ihrem unzuverlässigen Penis vor der Frau oder in der Frau bewähren zu können, veranlasst viele

 9

Siehe mehr dazu: Benard, Cheryl/Schlaffer, Edit: Die ganz gewöhnliche Gewalt in der Ehe.

10 Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 173. 11 Gottschalch, Wilfried: Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit. Weinheim/München: Juventa Verlag 1997, S. 167. 12 Ebd.

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Männer dazu, das weibliche Geschlecht zu entwerten, zu erniedrigen und zu beleidigen.13 In Keiner weiß mehr kommt dieser Umstand deutlich zum Tragen. Im Verlauf des Textes mutiert die Gewaltanwendung zu Morddrohungen, die zwar nicht eintreten, aber kontinuierlich in sexuellen und emotionalen Kontexten impliziert werden: Kaputt, kaputt, kaputtmachen wollte er sie, ja, kaputtmachen, er war noch lange nicht kaputt, eher würde sie dabei kaputtgehen, endgültig, dann aus, weggeworfen, auf den Müll, aus, vorbei, warum haust du nicht endgültig ab, zieh Leine, los, mach schon, hau ab.14

Gottschalch zufolge ist die subjektive Aggression des Erzählers nicht nur als Reaktion auf das Versagen zu deuten, sondern vielmehr als Ausdruck der Persönlichkeitsspaltung – eines Defizites, das in männlichen Lebensläufen schwer wiegt. Wenn Hass zu eskalieren beginnt, wird ein Abwehrmechanismus in Gang gesetzt, dem sich die Männer des Öfteren nicht zu entziehen vermögen. Der desintegrierte Narzissmus ist ein Spaltungsprodukt. Weil man sich ungeliebt glaubt oder weiß, beginnt man sich zu hassen. Damit dieser Selbsthass nicht zur Selbstschädigung führt, muss er externalisiert werden. Der Hass mutet die anderen jedoch nicht zu freundlichen, sondern zu feindlichen Gefühlen an. So gerät der Mensch, der am desintegrierten Narzissmus leidet in eine negative Spirale, und was er durch Abspaltung und Projektion seines Selbsthasses erreichen wollte – die Rettung seines Selbst – schlägt ins Gegenteil um.15 Dieses Gewaltparadigma erscheint auch bei Brinkmann als eines der zentralen biographischen Probleme seiner männlichen Erzählinstanz.

II

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ALS F ABRIKAT DES MÄNNLICHEN AUGES

In der von Brinkmann eingesetzten Technik der Körper(de)konstruktion sticht die Ambivalenz der Darstellung ins Auge. Auf der einen Seite bleibt der weibliche Körper in die disziplinar-gesellschaftlichen

 13 Vgl.: ebd. 14 Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 119. 15 Vgl.: Gottschalch, Wilfried: Männlichkeit und Gewalt, S. 43f.

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Unterdrückungsverhältnisse eingebunden und wird als instrumentalisiert, gebrochen und diffamiert dargestellt. Auf der anderen Seite kommt es aber zur Rehabilitierung des Frauenkörpers durch die ihm gegebene Möglichkeit zur Subversion, deren exemplarische Erscheinungsform das Verführen ist. Der weibliche Körper verführt, weil er spricht, Unhaltbares verspricht und damit referenzielle Illusion erzeugt. Dabei ist der Frauenkörper nicht nur Träger eines Sprechaktes, sondern auch dessen Referenz, da ein Versprechen einen Körper zu einer anhaltenden oder wiederholten Handlung verpflichtet. Illusionär ist diese Referenz deshalb, weil das Versprechen nur die Möglichkeit dieser Handlung aufscheinen lässt, aber insofern unhaltbar ist, als dass der Körper als Träger unbewussten Begehrens durch das Versprechen nicht vollständig repräsentiert werden kann. Verführung bedeutet somit ein gekonntes Ausnutzen der reflexiven Möglichkeiten von (Körper)Sprache, das bei Brinkmann insbesondere im Striptease-Tanz deutlich zum Vorschein kommt.16 Ähnlich wie im Prosastück Strip lässt Brinkmann ihre Frauenfiguren auch im Roman Keiner weiß mehr einen Striptease hinlegen. Der namenlose Erzähler geht oft in einen dieser vielen schäbigen Striptease-Clubs, in denen ohne Unterbrechungen zu ablaufender Schallplattenmusik sich Mädchen entkleideten, ein Mädchen nach dem anderen, in abgegriffenen, flitterhaften Kleidern, während man kam und ging, aufrückte weiter nach vorn, um ganz nah an der Rampe zu sitzen und am Schluß jedesmal ganz nah vor sich den haarigen Fleck unten sehen zu können, wenn die Hand, die dort vorher kreisend gerieben hatte, mit einem Ruck weggezogen wurde und das Mädchen für einen Augenblick in einer übertriebenen Pose erstarrte. Gleichzeitig ruckte der Vorhang auch schon zu, das Licht wurde abgeblendet, eine neue Schallplatte aufgelegt.17 Brinkmann ruft das gesamte Repertoire an sprachlichen und visuellen Effekten auf, die den Striptease als ambivalentes Täuschungsmanöver erscheinen lassen: die Phasen der Entkleidung, die immer wieder unterbrochen werden, um neu beginnen oder einer anderen Tänzerin Platz machen zu können; die Umstände, unter denen eroti-

 16 Vgl.: Stauffer, Isabelle: Verführende SchriftKörper. Liebe, Ekel und Tod bei Christian Friedrich Hunold, in: Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft1/März 2009, S. 128-144, hier S. 130. 17 Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 191.

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sche Darbietungen vollzogen werden; die Diaphanität der Kleidungsstücke, der phantasmatische Charakter des Tanzes; das spannungsvolle Wechselspiel von Verschwinden und Auftauchen, von Licht und Dunkelheit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Dank diesen gestischen, vestimentären und musikalischen Elementen wird der Strip-Tanz zu einem sich steigernden Spiel mit der Konstruktion von Zeichen erhoben, zu einem Körpertext, der mit Bedeutungen jongliert.18 Die Simulation eines im weiteren Sinne verstandenen Autoerotismus intensiviert die Ambivalenz des Täuschungsmanövers auf der Bühne, weil der Körper der Striptease-Tänzerin dem Zuschauer einerseits suggeriert, eingeschlossen zu sein, ihn jedoch andererseits immer wieder ausschließt. Dies geschieht durch gekonnte Andeutungen und raffinierte Verzögerungen, die im erotischen Tanz zum Vorschein kommen. Der zusehende Erzähler identifiziert sich während des Strips mit der Darstellerin, indem er in sie seine exhibitionistischen Wünsche projiziert. In diesem Sinne gibt der Striptease ein großes sinnliches Versprechen, das durch den nackten Körper der Tänzerin jedoch niemals eingelöst werden kann. Im Zentrum des Geschehens steht »der haarige Fleck«, in dem sich der Blick des Erzählers verfängt. Das verheißungsvolle Innere der weiblichen Scham, das Bedürfnis, sie visuell zu durchdringen, bestimmen die Sehnsüchte des männlichen Zuschauers. In dem Augenblick, in dem die Stripperin ihr letztes flatterhaftes Kleidungsstück ablegt und sich dem Zuschauer nackt präsentiert, erstarrt sie in einer übertriebenen Pose. Die Bewegung der Tänzerin gerinnt so zu einem Augen-Blick, in dem die Ambivalenz von Distanz und Nähe im Bild des erstarrten Körpers aufscheint. Auf der einen Seite wird der weibliche Körper zum Austragungsort eines narzisstischen Rituals, weil er, voll von sexuellen Zeichen und Aufforderungen, unberührbar und selbstbezüglich bleibt. Auf der anderen Seite aber stellt die autoerotische Simulation eine Form von Nähe her, die es dem Betrachter erlaubt, die Körpergrenzen im Sehen zu durchbrechen. Denn die sich selbst liebkosende Stripperin ist laut Baudrillard blickund damit machtlos: Dieser Blick ist der neutralisierte Blick der autoerotischen Faszination, der Blick der Objekt/Frau, die sich selbst betrachtet und ihre weitgeöffneten Augen

 18 Vgl.: Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes&Seitz 1976, S. 171.

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in dieser Selbstbetrachtung verschlossen hat. Dies ist nicht die Folge eines zensierten Wunsches: es ist der Gipfel der Perfektion und Perversion. Es ist die Vollendung des ganzen sexuellen Systems, dass die Frau nur dann so verführerisch und ganz sie selbst sein läßt, wenn sie es akzeptiert, zunächst sich selbst zu gefallen […].19

Was Baudrillard als autoerotische Selbstbefriedigung phantasiert, scheint einem Mechanismus gleich zu sein, der dem Machtpotential voyeuristischen Sehens Vorschub leistet. Denn die zu einer Statue erstarrte Stripperin macht durch ihre simulierte Blicklosigkeit transparent, dass der weibliche Körper nur dann sein kann, insofern er vom männlichen Blick konstruiert bzw. dekonstruiert wird.20 Der Körper der Striptease-Tänzerin erscheint somit als ein fremdbestimmtes Territorium, auf dem sich Phantasmen männlichen Begehrens ablagern und es in ein phallisches Emblem transformieren. Mit den von Männern festgelegten Regeln des Striptease, mit seiner geschlechtlichen Ordnung von weiblicher Exhibition und männlichem Voyeurismus geht auch die visuelle Kolonialisierung des weiblichen Körpers einher.

III D ER K ÖRPER

ALS

T AUSCHOBJEKT

Der von Brinkmann auf seine Sexualität verdinglichte weibliche Körper kommt ohne Prostitution nicht aus. Die Prostituiertenfiguren bieten geradezu eine ideale Projektionsfläche für kulturelle Symbolisierungen des Weiblichen, die literarisch in die Inszenierung der »hungrigen« Körperlichkeit münden und sich der männlichen Dominanz entziehen. Die Körperlichkeit erscheint demzufolge nicht nur als gegebene Natur, sondern auch als Mittel zum Zweck, als Oberfläche, die je nach Situation mit anderen Inhalten zu besetzen ist. Als kulturelles Bild zeugt die Dirne von Dämonisierungsversuchen des Weiblichen und zudem von einem literarischen Diskurs, der einer restriktiven Sexualmoral mit der deutlichen Bevorzugung der Hure begegnet. Allerdings verraten diese Stilisierungsversuche käuflicher, verdorbener und lasterhafter Weib-

 19 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 170. 20 Vgl.: Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i.Br.: Rombach 1996.

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lichkeit auch das männliche Ringen um ein Selbstbewusstsein, das sich nur retten lässt, indem man der Prostituierten tatsächliches Lustempfinden zuschreibt.21 Der Blick auf Brinkmanns Roman legt offen, dass über die Darstellung der zügellosen Weiblichkeit die angekratzte männliche Selbstsicherheit zutage kommt. Das Ausgeliefertsein des Protagonisten an Sexualität, das bedingt ist von Unfähigkeit, zu befriedigen und befriedigt zu werden, äußert sich auch in der Inanspruchnahme des prostitutiven Körpers. Der Geschlechtsverkehr mit den Prostituiertenfiguren wird jedoch fast durchgängig als ekelerregend erlebt, anstatt als Befreiung von sexuellen Repressionen und Unzulänglichkeiten: Die Frau breitete sich vor ihm auf der Liege aus, um ihn nun auf sich drauf zu lassen […], nun mach schon, Schätzchen, komm, was ist, ist es nicht gut, doch, doch, doch, so daß er sich unbeholfen auf sie legte und es machte […] bis er nach ein paar ungeschickten Bewegungen bereits kam und in das Gummi schoß […]. Die Frau fragte, ob es gut gewesen sei. Doch, doch, ja, gut. Dann kommste mal wieder und wir machen´s uns gemütlich[…]. Sie war in ihre Corsage zurückgekrochen […], stand angezogen vor ihm, um ihn in den Flur zurückzubringen, wo er noch einmal ihren fleischigen, fetten Rücken vor sich gehabt hatte […], den kleinen wulstigen Rand, wo die Haut sich über dem Rand der Corsage staute, und unten die wabrigen, breiten Oberschenkel, die beim Auftreten merklich zitterten […].22

Ungeachtet seines eigenen Entsetzens lässt sich der namenlose Erzähler auf den schlappen Körper der Prostituierten mit dem Gedanken ein, seiner sexuellen Selbstsicherheit auf die Sprünge zu helfen. Der sexund geldgierige Körper der Prostituierten wird demzufolge als Konsumobjekt genutzt und die Frau zur Ware degradiert, derer man sich nach Lust und Laune bedienen kann. Die von Brinkmann entworfenen Prostituiertenfiguren verkörpern als Typus den weiblichen Geschlechtstrieb. Doch als Verkörperung des Geschlechtstriebes beweisen die Prostituierten, dass die Frau nichts als reine Widerspiegelung

 21 Vgl.: Catani, Stephanie: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885-1925. Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. Band XXVIII. Würzburg: Königshausen &Neumann 2005, S. 101. 22 Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr, S. 168f.

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männlicher Phantasien ist. Durch diese Einseitigkeit kommen die Prostituieren nicht aus der narrativen Unschärfe hervor – sie kommen aus dem Nichts und verschwinden im Nichts. Die männliche ›Oberflächenästhetik‹ ist dabei durch die gesellschaftlichen Denkmuster diktiert, die spezifische perspektivierte Wahrnehmungsarten, mithin auch bestimmte Frauenbilder, produzieren. In Brinkmanns Darstellungen der über die Prostitution definierten Verhältnisse gibt es keine Täter-Opfer-Beziehungen. Die literarischen Konstellationen, die Brinkmann in seinem Roman erstellt, erlauben es nicht, in diesem Fall von einer Anklage an eine männliche Dominanz über den weiblichen Körper zu sprechen. Der tauschbare Körper ist zwar ein weiblicher, jedoch scheint der Protagonist ebenso gefangen im Ausleben dieser Beziehungen wie die Prostituierten zu sein. Beide Kräftefelder – das begehrende Subjekt und der begehrte Körper – sind gleichermaßen mit Macht versehen, und die ,Objektwerdung‹ durch die Prostitution betrifft beide Beteiligten in diesem Tauschgeschäft. Indem Rolf Dieter Brinkmann den weiblichen Körper und die weibliche Sexualität als zu tauschende Ware vor Augen führt, stellt er die ›Natürlichkeit‹ dieser Phänomene in Frage. Nicht essenziell die Natur bestimmt, was der Körper ist, sondern dieser wird im sozialen Umfeld als Objekt verhandelt. Er wird inszeniert und situationsbedingt eingesetzt, um sich Vorteile zu verschaffen. Diese ›kapitalistische‹ Sichtweise des Körpers vermischt sich in Brinkmanns Roman mit einer sinnlichen Dimension, in der die Körperlichkeit durch sexuelle Triebkräfte geleitet wird. Die sinnesbezogene Leibperspektive knüpft zwar an das naturbestimmte Modell des Körpers an, aber sie setzt einen anderen Akzent. Die sexuelle Triebkraft erscheint nämlich nicht als eine durchschaubare Kategorie, sondern vielmehr als eine unkontrollierbare Kraft, die in bestimmten Situationen ins Krankhafte ausartet. Beide Kräfte – die Ökonomie als leitendes Prinzip zur Erfahrung der Körperlichkeit und zum anderen der Körper als sexuell beladenes Phänomen – bestimmen die Darstellung des Körpers, der Sexualität und der Erotik in Brinkmanns Roman.

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F AZIT Keiner weiß mehr steht exemplarisch für eine Literatur, die unübersehbar das weibliche Geschlecht zu ihrem Thema erhebt und dem wissenschaftlichen Glauben an die exklusiv über ihre Körperlichkeit definierte Frau Rechnung trägt. Die Verschränkung von wissenschaftlichem, gesellschaftlichem und literarischem Diskurs findet sich dabei auch in der Wahl der Frauentypen. So ergänzt Brinkmann eine aggressive Inszenierung von Weiblichkeit durch verfeinerte Züge einer fragilen Frau, die von der Ehefrau des Protagonisten vertreten ist. Von einer einheitlichen Darstellung der Frau lässt sich daher nicht sprechen, dagegen aber von einer Tendenz zur extremen Stilisierung der weiblichen Figuren, die einer konsequent maskulinen Sprache ausgesetzt sind und durch diese Sprache konstruiert oder de(kon)struiert werden. Durch männliche Fokalisierungsinstanzen und eine dem männlichen Blick entsprechende Perspektivenführung, mit der eine identifikatorische Schilderung von Männerschicksalen einhergeht, werden weibliches Erleben und weibliche Wirklichkeitserfahrung ausgeklammert. Der Leser sieht die Ereignisse in der erzählten Welt dominant durch die Außensicht eines als überindividueller Normrepräsentant fungierenden männlichen Erzählers. Die fiktionale Wirklichkeit erscheint daher als männlich erlebte Wirklichkeit, so dass männliche Subjektivität mit ihren besonderen Erfahrungen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt gerückt wird.

Restformen von Menschenleben Zum Verhältnis von Körperbild und Identität bei Rolf Dieter Brinkmann T ON N AAIJKENS

»Die Jahreszeiten draußen, obwohl in den Zimmern alles/gewöhnlich und unbezweifelbar erscheint, kehren sich um,/erstarren.«1 Das ist eine Zeile aus Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband Westwärts 1 & 2, der man eine starke Signalkraft nicht aberkennen kann. Die Idee einer Erstarrung, die auch in anderen Gedichten des Bandes – so etwa in Diese Blöcke der Jahreszeiten – auftaucht, hat eindeutig mit dem Eindruck zu tun, dass »jeder lebendige Impuls« aus den Jahren 1965 bis 1970 zerstört worden sei. Für sein Lebensgefühl nach 1970 benutzt Brinkmann auch den Begriff der Einzementierung, die dann zugleich die ganze Umwelt, seine Generation, die Welt betrifft: »Nur vier Jahre sind vergangen, und die ekstatischen Erfahrungen jener Jahre zwischen 1965 und 1970 sind nach dem Begriffsschema der Massenmedien, der Tageszeitungen, der Fernsehfeuilletonisten, der Angestellten der Öffentlichkeit, die adaptieren, was zum Alten passt, zur weiteren Einzementierung nützlich ist, oft selbst bei denen, die sie selber gemacht, erlebt haben, inzwischen wieder eingeordnet.«2 In der

1

Rolf Dieter Brinkmann, Verschiedene Titel, in: Westwärts 1 & 2. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2005 [= WW2], S. 154.

2

Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975), in WW2 [= UN], S. 265.

272 | TON N AAIJKENS

Verantwortung des Bandes Westwärts 1 & 2 – Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975), dessen Verbindungen zu den Gedichten zahlreich und eindeutig sind – wird das geschilderte Lebensgefühl noch präzisiert. Das Leben in »diesem Westdeutschen Territorium, Stadt und Land« umfasst nur noch »Restformen von Menschenleben, Stümmelformen.«3 Es ist eine Formulierung, die zum Beispiel in einem Gedicht wie Diese Blöcke der Jahreszeiten zweimal ein Echo erfährt: 1. »diese Dinge ringsum, diese Formen, ab/gehakt, Körper, Formen«; 2. »halb/verständliche Tierformen, die durch die Ruinen sich bewegten.«4 Brinkmann holt in diesem Nachwort weit aus und deutet persönliche Wahrnehmungen und Eindrücke zeitpolitisch und kulturhistorisch (und in einem gewissen Sinn auch literarisch). Interessant ist der immer wieder belegte Bezug auf den Körper und auf Körperlichkeit. Der Körper wird nicht mehr als ganz gesehen, sondern als fragmentiert, nicht mehr als wirklich, sondern als »Schatten« oder »Gespenst«. Wenn die Sinne tatsächlich nicht mehr funktionieren – »zugeschüttet« seien –, kann nur noch in Erinnerung an sie und an bessere Zeiten gesprochen werden. In einem seiner Briefe an Hartmut betont Brinkmann ebenfalls diesen Bruch in der Zeit, wenn er vom Jahr 1970 angibt, es sei das Jahr, in dem »alle Ansätze zu einer neuen starken Sinnlichkeit, einem neuen starken, sinnlichen Ausdruck« abgeschnitten worden seien.5 In der Literaturgeschichte wurde diese Entsinnlichung und der Versuch, sie zu überwinden, eingesetzt, um ein Programm einer neuen Subjektivität zu entwerfen; das Literaturmagazin 5, in dem das UN zum ersten Mal publiziert wurde, trägt den in dieser Hinsicht vielsagenden Titel »Das Vergehen von Hören und Sehen. Aspekte der Kulturvernichtung.«6 Das oben zitierte Gedicht Diese Blöcke der Jahreszeiten ist ein Fallbeispiel, weil es Zeitkritik in einer fatalistischen, dunklen Weise formuliert, die dann von positiven, harmonievollen Erinnerungsfetzen durchsetzt wird. »Wem gehörte die Zeit ringsum, in der wir auf der

3

Ebd., S. 285.

4

WW2, S. 109-110.

5

Rolf Dieter Brinkmann, Briefe an Hartmut 1974-1975. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999 [= BaH], S. 88.

6

Literaturmagazin 5: Das Vergehen von Hören und Sehen. Aspekte der Kulturvernichtung. Hrg. Von Hermann Peter Piwitt und Peter Rühmkorf. Reinbek: Rowohlt 1976.

R ESTFORMEN

VON

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schmalen Steintreppe am Flussufer saßen? Wir begannen noch einmal über den Augenblick zu sprechen und die Zeit bis 1970: plötzlich, 1970, der Schnitt und die große Kontrollmaschine stoppte den Aufbruch, setzte Nostalgie in Umlauf, alte Formen. Die Trips begannen unter der Einwirkung der Schlagwörter sauer zu werden, eingezäunt von dem Begriffsschematismus der FernsehDialektiker, den Zeitschriftenessays«, bestätigt Brinkmann.7 Die schmale Steintreppe in UN hat dieselbe Funktion wie im Gedicht das Geländer über der Autobahn oder die schwarzgeteerte Dachterrasse. Es ist die Ebene der positiven Erfahrungen vor 1970, so wie sie auch teilweise euphorisch und als wünschenswerter Einfluss aus Amerika in den Anthologien ACID (1969) und Silverscreen (1969) und deren Begleittexten zum Ausdruck kam. In den Texten nach 1970 werden Orte und Ereignisse erinnert und zugleich – in einer Art Wut – gegen die dumpfe Zeit danach abgesetzt. Die Zeit vor 1970 gilt auch als »summer of love«, wie sie archetypisch etwa von The Zombies in Time of the Season besungen wurde. Der Song wird öfters eingesetzt, um die Popkultur am Ende der sechziger Jahre zu repräsentieren, der Liebessommer ist zur Metapher für den Höhepunkt der Hippiebewegung und der Undergroundkultur am Ende des Jahrzehnts geworden. Bei Brinkmann, muss man hinzufügen, wird die Erfahrung eines Liebessommers immer zugleich auch disharmonisch besungen und negativ besetzt, aber ein Gedicht wie Diese Blöcke der Jahreszeiten verneint bei aller Zeitkritik die Möglichkeit von Glückserfahrung nicht, insbesondere wenn sie privat, im Moment und körperlich – vom Körper – durchgemacht werden kann. Das Gedicht hat durch die wiederkehrenden Zitate vor allem einen dialogischen Charakter, der durch die zweizeilige Struktur verstärkt wird. Der Dialog mit einer Frau macht es vordergründig zu einem Liebesgedicht; auf einer abstrakteren Ebene findet ein Dialog mit der Vergangenheit statt, wobei auf Erinnerungen hingedeutet wird, die sich im wirklichen Leben abgespielt haben, die inzwischen aber fiktionalisiert sind und filmisch in sogenannten »Lebensstudios« vorgeführt werden. Diese Blöcke der Jahreszeiten erzählt von der Erinnerung an einen nächtlichen Spaziergang (an das »Schlendern«) eines Ichs und einer Frau, der offenbar zu einem Liebesakt führt (»Und vergiss mich nicht, dabei«). Man befindet sich zugleich in einer Welt aus Bildern

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UN, S. 308.

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und erinnerten Dialogen, die sich im Kopf der sprechenden Person und stilisiert abzeichnet. In diesen Gedanken, die eine Kurzzeitgedächtnisszene schildern, wird der Körper des lyrischen Subjekts buchstäblich über den Boden gehoben, um danach – gewissermaßen abstrakt – zwischen den verschiedenen Jahreszeiten, die im Lauf der Zeit vorbeigegangen sind, zu balancieren. Die Umgebung im Gedicht ändert sich ständig, während die Zeit weiter läuft. Entweder wird eine Beziehung beschrieben, die über verschiedene Jahreszeiten anhält, wobei diese als Zeitangabe dienen, oder es handelt sich um den Verlauf einer Beziehung, in der die Eigenschaften der jeweiligen Jahreszeit den Zustand der Beziehung widerspiegeln. Die Erlebnisse werden wie Fotos wiedergegeben, der ganze Text läuft wie ein Film in Worten ab. Wie bei einem Video wird im Kopf des lyrischen Ichs die Beziehung zurückgespult und manche Szenen werden stumm, andere mit Bild und Ton angeschaut, etwa an einem Geländer über der Autobahn oder bei einer sogenannten »Abschiedsszene auf dem Bahnsteig«. In dem Gedicht werden sogenannte »Lebensbilder« dargestellt, was eine Verkünstlichung und Abstrahierung der Selbsterfahrung zur Folge hat: das Ich sieht sich Bilder an, auf denen es selber abgebildet ist; die Bilder, abgelichtet im Kopf des Ichs, stehen auch in den sogenannten »Studios« zur Schau, die an einer bestimmten Stelle denn auch »Lebensstudios« heißen. Neben den Bildern (schwarz-weiß) wird auch auf andere materielle Erinnerungsspuren angespielt, zum Beispiel auf »Ton/Bänder«. Erfahrungen werden also sowohl im Realen als im Virtuellen gemacht, sie werden sowohl individuell entzündet als medial vermittelt, wodurch sie immer auch einen kollektiven Charakter bekommen. Die geschilderte Welt ist medialisiert, die Bilder werden hergestellt, und wenn Schmerzen mit dem Geschehen verbunden sind, sind sie imaginär, als ob tatsächlich ein Film aus Worten abgedreht wird. So wie WW an sich eine Sammlung von Schnitten (Fotos, Texten und Collagen) ist, so ist dieses Gedicht von Erinnerungen, Traumbildern, abgebrochenen Dialogen und Wortwechseln, Überlegungen und Beschreibungen einfacher Wahrnehmung von der Umgebung durchzogen. Der Text ist eine Sammlung von verdrängten, intimen Momenten einer subjektgebundenen Vergangenheit, auch mit privatem

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Hintergrund, wobei der Dichter wie ein Kameramann vorgeht.8 Der Kameramann aber ist an sich ebenso wenig produktiv wie der Autor, aus seinen Händen kommen nur »nie geschriebene//Biografien, nicht fotografierte Fantasien«. In den Studios, die aus »dunklen Säle[n]« bestehen, werden neben Lebensbildern auch »Verneinungen« zur Schau gestellt. Brinkmann benutzt den Begriff der Verneinungen wiederholt, auch in UN, wo eine regelrechte Opposition zu einem eindeutigen Körperbild und die Assoziation mit einem Fotonegativ hergestellt werden: »Wo Menschen nichts als Fragmente sind, häufen sich immer mehr die Verneinungen. Nur mit dauernden Verneinungen, sobald man am Morgen aufwacht und der erste Gegenstand erscheint auf der Netzhaut und wird ins Gehirn, den eigenen Körper, transportiert, kann keiner leben.«9 Überhaupt wird der Gegensatz von Erfahrung, insbesondere Körpererfahrung, und Erinnerung visuell formuliert und nur das Ich und die Frau im Gedicht sind die einzigen als wirklich erfahrenen Wesen, die auch ohne Wörter (wortlos) auskommen. Die anderen Figuren – Menschen – werden Schatten genannt, »Schatten, die sprachen«. Zugleich wird der Gegensatz zwischen der Frau und den »huschenden« Schatten verkleinert, indem sie mit »schwarzgefärbten Lippen« und »schwarzen Fingernägeln« vor dem Hintergrund einer »schwarz geteerten Dachterrasse« erscheint. Ganzheit wird nicht angestrebt, weder in der Erinnerung an den Körper noch beim Aufrufen des vergangenen Lebens. Was sich ergibt, sind höchstens »Bruchstücke von Leben« und »Fragmente von Selbst«. Es wird stets mit zweierlei Maß gemessen, auch im Bewusstsein vom Vergehen der Zeit. Über die Frau wird positiv gesprochen (»Ihre Hand war nackt, eine//sanfte Nacktheit, als sie sprach«); um die anderen Menschen, die Schatten genannt werden, kümmert das lyrische Subjekt sich ganz und gar nicht. In deren Fall wird das von Brinkmann in UN entworfene Menschenbild gültig, welches den Mitmenschen ihre Körperlichkeit abspricht: »Die Sonntage und Feiertage gespenstisch, auch die Jahreszeiten schienen manchmal gespenstisch geworden zu sein wie die Gespenstersätze und Gespens-

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Henning Behme, Der Schrei eines Schmetterlings. Über die Gedichte Rolf Dieter Brinkmanns, in: Text + Kritik 71: Rolf Dieter Brinkmann. München: edition text + kritik GmbH 1981, S. 53.

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UN, S. 263.

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terwörter in der Gegenwart,« sagt er,10 in einem Satz, in dem auf einmal sogar die Jahreszeiten nicht mehr positiv bewertet werden. An einer anderen Stelle in UN heißt es: »Das eigene Körperempfinden, sprachlos, offen, hatte mit der ganzen Kulissenschieberei nichts zu tun. Ist die Gegenwart so vergangen, dass ich mir deshalb so fremd darin vorkomme?«11 Trotzdem – und auch trotz des Gedichttitels – wird hier eine harmonische Szene geschildert: »Die wenigen Momente erfahrener Harmonie mit der Welt sind bei Brinkmann die stillen Bilder, die den Betrachter in Ruhe lassen, ohne störende Geräusche: Maleen und der Sohn Robert im Aufbruch zu einem Lampionszug; der Blick in einer Winternacht auf das überraschend klare Firmament; wortlose Sinnlichkeit, in der sich die Sehnsucht nach einem Verstehen ohne Grammatik/Ordnung erfüllt.«12 Harmonie aber geht stets mit Verfremdung einher, Körperempfinden mit dem vergeblichen Versuch seiner Versprachlichung. »Das Leben ist ein nachgemachtes Labyrinth«, heißt es in einem anderen Gedicht aus dem Band Westwärts 1 & 2.13 Hier wird das Leben dem lyrischen Subjekt zu einem Leben ohne Thema und einer neuen Art mit der Welt umzugehen: »jeder Tag ist mit einer fast überwältigenden Anzahl von Dingen vollgestellt«, heißt es im UN, »In einigen meiner Gedichte habe ich die Situation darzustellen versucht, und innerhalb dieser Dinge die Bewegung, das Gehen.«14 Das Gedicht Variation ohne ein Thema bekommt zugleich eine paradoxale Funktion, die besonders in der ersten Zeile zum Ausdruck kommt: »Ein Gedicht die Grenze, danach/das Niemandsland.« Das UN referiert buchstäblich darauf: »Nach einem Gedicht beginnt das Niemandsland« heißt es dort15 und »Dichter sind die Athleten des Extraverbalen.«16 Niemandsland ist die Bezeichnung der im Gedicht beschriebenen Szenerie mit Baugesellschaften, Vororten und verlassenen Grundstücken, wo Kinder in Autowracks spielen. Die Funktion des Gedichts ist

10 UN, S. 262. 11 Ebd., S. 261. 12 Genia Schulz, Nachwort zu RDB, Künstliches Licht. Lyrik und Prosa. Stuttgart: Reclam 1994, S. 159. 13 Variation ohne ein Thema, WW2, S. 193-195. 14 UN, S. 263. 15 Ebd., S. 280. 16 Ebd., S. 288

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zugleich positiv, was in der liminalen (grenzgängerischen), dem Niemandsland entgegengesetzten Position, die sie einnehmen, zum Ausdruck kommt: Niemandsland heißt dann zugleich »Nirvana«, es bekommt die Züge einer einfachen Utopie (»Weiße Kleidung/in einem nächtlichen/Obstgarten, in einer Reihe aufgehängt, ein seltenes friedliches Bild«) . Hier wird die Poetik Brinkmanns, nach der Wörter keinen Sinn geben und Sprache nicht so wichtig sei, auf einmal entscheidend.17 Der Sinnlosigkeit von Sprechen gegenüber steht das wichtige eigene Körperempfinden,18 das ohne Sprache auskommt, und zusammen mit den Bildern die Erstarrung, Einzementierung, ein Schattendasein durchbricht. Dieser utopische Effekt von Bildern und körperlichem Selbstgefühl wird im zweiten Teil von Variation ohne ein Thema hervorgerufen. Im ersten Teil ist der Gang durch das Niemandsland noch bedrohlich und negativ besetzt, das isolierte Wort »Schachtelapartments« gibt dafür ein Signal ab, ein Wort übrigens, das in UN ebenfalls in einer negativ besetzten Reihe auftaucht: »Wie grau stellen wir uns die Zellen des Gehirns vor, sprachlich definiert grau, und Zellen, das heißt doch Staat, Gefängnisse, Schachtelapartments, Mauern, die da sind.«19 Brinkmann liefert in den Briefen an Hartmut dazu diesen Kommentar: »das menschl. Gehirn speichert Bilder und Wörter, die in eins verschränkt sind, und Wörter und Bilder sind ja auch Erinnerungen, das Gegenwartsbewusstsein ist oft durch Wörter und Bilder zugeschüttet, das schafft einen abwesenden Zustand, und das ist als Thema auch in manchen Gedichten enthalten, oder aus diesem Fakt beziehen manche Gedichte […] das vorausgesetzte, oft nicht mehr im Gedicht selbst mitgeschriebene Motiv.«20 Im zweiten Teil des Gedichts Variation ohne ein Thema wird versucht, zur negativen Weltbeschreibung auch eine Idylle hinzuzufügen, wiederum grundsätzlich vergebens. Das geschieht zunächst mit fantastischen Pflanzennamen, wie verräterisch sie zugleich auch formuliert werden (»Hunger/Blümchen, Schein/Früchte«), dann mit dem vorgenommenen Plan, eine »Geschichte der Gräser« zu schreiben, und zum Schluss mit dem Fotografieren des Grases »zwischen den/Fugen der Kopfstein gepflasterten Straße«. Die Perspektive hat sich damit

17 Ebd., S. 257, 260, 267. 18 Ebd., S. 261. 19 Ebd., S. 259f. 20 BaH, S. 135.

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nach dem Boden verlagert, wo die Erinnerungen am Liegen im Gras vom Fotografieren der einzelnen Gräser ausgehen. Die Details der Landschaft, wie sie auch von einem Kind erfahren werden können, stehen aber sofort im Gegensatz zur Umgebung, eines verwilderten Grundstücks, in dem das Ich sich als aufwachsendes Kind wahrnimmt, dessen Geschichte aber die einer Stadtplanung und Bebauung beinhaltet. Auch hier wird der Gegensatz so stark wie nur irgendwie möglich vergrößert: »ringsum war alles/Staat«. Ein paar Mal wird versucht die Momentaneität des Ablaufs zu betonen (»Zurück im Zimmer«, »11.9.74«, »Ich blickte herum«). Danach wird über drei thematische Spuren weiter argumentiert. Erstens wird der Prozess des Verfalls und der Einebnung lebensweltlicher Strukturen in einer technisch kontrollierten Umwelt artikuliert.21 Hans Magnus Enzensberger wird zitiert, der im Essay Zur Kritik der politischen Ökologie die These über die Zerstörung der Umwelt durch die Industrienationen aufgreift.22 Auf Technologie und Umweltzerstörung wird mittels verschiedener Begriffe angespielt (»Verkabelung«, »elektrische Zäune«, Stadtplanung zugunsten einer »Lastwagenstraße«). Brinkmann versucht das Heile und Schöne der Vergangenheit und somit auch der Natur durch den Bezug auf das Bedrohliche der Moderne (Technisierung und Industrialisierung) zu verdeutlichen und spielt auf das Denken der Umweltbewegung seiner Zeit an. Zweitens tritt eine positive Eigenschaft des technologischen Fortschritts zu Tage, indem an zwei Stellen an das Glücksmittel der Fotografie erinnert wird, das letzte Mal in einer Art Widerstandsakt, in dem die Technologie negiert und absichtlich gegen das Tageslicht fotografiert wird. »Dennoch ist ihm [= Brinkmann] die Fotografie als Medium zum Nutzen, um seine körperliche Anwesenheit zu dokumentieren.«23 Nicht, um anderen etwas zu zeigen, sondern um zu zeigen, dass er einfach da ist; nicht nur, um Abbilder zu geben, sondern um Spuren einer Empfindung nachzuzeichnen.

21 Nach Peter Brinkemper, www.glanzundelend.de (17.4.2010). 22 Kursbuch 33: Ökologie und Politik oder Die Zukunft der Industrialisierung, wieder abgedruckt in Hans Magnus Enzensberger, Palaver. Politische Überlegungen 1967-1973, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1974, S. 169-232. 23 Jan Röhnert, Springende Gedanken und flackernde Bilder: Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Göttingen: Wallstein Verlag 2007, S. 388.

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Die dritte thematische Spur hat mit dem Körperempfinden zu tun und wird in der Passage sichtbar, in der vom Schutz durch eine Tiermaske die Rede ist, vage erinnernd an den Roman, auf den hier angespielt wird: Animal Farm oder Farm der Tiere von George Orwell (1903-1950). Im UN kommt eine vergleichbare Stelle vor, in der von einem Besuch in einem Zoo die Rede ist, wobei der Unterschied zwischen den menschlichen Besuchern und den Tieren aufgehoben wird. Brinkmann deutet den »sanften Herbsttag in Deutschland mit Tierformen« eindeutig politisch: »Wir gehen ohne viel zu sagen an den Tiergehegen entlang, seltsame Tierseelen, in Felle gehüllt, zottelige Leiber, und keinesfalls kommt die Stimmung von Exotik auf, sondern von Weite, und die ordentlich gekleideten, hinkenden, starr daran entlang wandelnden, als Spaziergänger verkleideten Angestellten mit ihren kindischen Erklärungsversuchen und Reden zeigen eine lächerliche Ziviehlisiertheit. Der Zoo ist nicht groß,« sagt er, um so fortzufahren: »Was ist, fragte ich mich, lautlos, dieser Bereich in dem wir leben, Westdeutschland, Mitteleuropa, was ist noch da, das den Blick befriedigt?«24 – eine Formulierung, die wiederum den Bereich und die Wahrnehmung stark vergrößert und die zentrale Frage zu Anfang des Gedichts buchstäblich aufnimmt (»Wo lebst du/und wie?«) – »Ununterscheidbare Gesichter, kaum Gesichter, selten Verhaltensweisen, die erstaunen, geringe Variationsbreite. Nun ruhten sie anderthalb Tag aus, kleideten sich um, spazierten an den Wildformen vorbei, geschützt durch Wassergräben, Maschendraht, Betonmauern, gingen spurlos durch die Tieraugen, imitierte Pelze, zebragemusterter Mantel vor dem Zebragehege, Tigerhaartönung vor dem Tigergehege, von den Tierblicken aus betrachtet spurlose Wesen, nicht einmal mehr Schatten, nahezu zu Tode ziviehlisiert, geruchslos, geschmacklos, ohne zitternde geschmeidige Emotionen, in den Wortformen erstarrt, weder zu bedauern noch zu hassen, sie machten nur mürrisch in der Anhäufung, sogar das Entengequake besaß mehr Authentizität und Emotion.«25 Diese Kombination von fehlender Authentizität, einer Schattenexistenz und dem Versuch, doch genügend Tier, das heißt ganz, wirklich und echt zu sein, wird – in den Formulierungen Brinkmanns nicht immer rationell – im Gedicht von einem Zitat unterstützt, das Ludwig Tieck zugeschrieben wird: »den lebenden Schatten mehr Körper zu

24 UN, S. 296f. 25 Ebd.

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geben.«26 Die Gleichsetzung von Körper und Poesie, die darauf folgt, bestätigt die Wahrnehmung von Sibylle Späth, dass wirkliche Kommunikation erst zustande kommt, wenn sie von Körperlichkeit getragen wird: »Nur ihr kommt Wahrheit und Authentizität zu, Körpersprache und Begriffssprache werden in Brinkmanns Texten einander diametral gegenüber gesetzt. Nur in der Sprache des Körpers ist jene Utopie, die Brinkmann immer wieder beschwört, noch ausdrückbar und erfahrbar.«27 Der Tieck-Bezug wird auch im UN eingesetzt, dort »das poetische Programm Ludwig Tiecks genannt«28, und in einem abschweifenden Absatz mit der »Armut an Erfahrung« verbunden, die »die Gesamtszene in Westdeutschland und (…) das Grauen der überall abgeteilten Landstücke« kennzeichne.29 Auf Menschen bezogen, führt dies zum wiederholt zurückkehrenden Bild der »Gespenstermenschen« in einem Sprachbezirk, in dem »jeder Ansatz eines poetischen Empfindens (…) ausgerottet wird.«30 In diesem Ineins-Setzen von Menschbild und Poetologie hat Tieck für Brinkmann eine Schlüsselfunktion.31 In den Briefen an Hartmut nennt er Tieck »tatsächlich ein(en) Rauschtyp, wie Benn das charakterisiert hat, seltsame Szenen, Gespenster, hübsche Frauen, , das wars ja in der Romantik! Und er fährt oft einzelne Wörter in bestimmten Szenen mehrspurig, immer alles nur kurz, zerfahren, hin und her springend.«32

26 »Doch der Dichter, der Künstler, der Maler muß jenem Schein, dem der Scharfsinnige entfliehen will, mehr Wesen, dem Schatten mehr Körper, und seinen Träumen mehr Wirklichkeit zugestehen, wenn ihm nicht in seinem Handwerk die Arme ermüdet und ungläubig am Leibe niederfallen sollen.« Ludwig Tieck, Der Hexen-Sabbath, In ders.: Schriften, Bd 20, Berlin 1853, S. 196. 27 Sybille Späth, Rolf Dieter Brinkmann. Sammlung Metzler. Realien zur Literatur, Band 254. Stuttgart: Metzler Verlag 1989, S. 89. 28 UN, S. 276. 29 Ebd., S. 275. 30 Ebd., S. 258. 31 Es geht also m.E. um weit mehr als »dem flächigen Ausdruck einer Figur einen Raum zu geben, Volumen«, wie Genia Schulz das Einsetzen Tiecks in diesem Gedichtet deutet. Schulz, Nachwort zu RDB, Künstliches Licht. Lyrik und Prosa. Stuttgart: Reclam 1994, S. 163. 32 BaH, S. 34. Tieck taucht übrigens auch als Leitfigur im Motto zum Gedicht »Canneloni in Olevano« auf.

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Variation ohne ein Thema ist eine Aneinanderreihung von Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Zitaten, die polyphon gestaltet werden: mit anonymen Zitaten und Metakommentaren (oft in Klammern, wie »die Ideen der Pädagogen«, »die Sprache verlangte sinnlose Anstrengungen«), sowie Gedankenfetzen und Fragesätzen (wie »Wo und wie lebst du?«, »Konnte ich meine Tiermaske ablegen?« und »Rufst du zurück?«). Brinkmann nimmt so die avantgardistische Tradition auf, wie er sie etwa in Ezra Pounds Cantos oder in Apollinaires ´poèmes conversations´ angetroffen hat. Zudem wird die extravagante Struktur der Oppositionen noch verstärkt (Schachtelapartments und Obstgärten, Kinderspielplatz und Autowracks, heile Natur und Zerstörung, Trümmer und Technisierung). Nach einem horizontalen Strich folgt schließlich eine Koda, die die Irritationen der gegensätzlichen Eindrücke in einer erotisch geschilderten Versöhnung auflöst, als ob der lebende Schatten der lyrischen Subjekts mit Zunge, Körper, Bauch, Haut und Schweiß in der Tat einen Körper bekommen hat. Hier lässt sich eine deutliche Übereinkunft mit dem Gedicht Diese Blöcke der Jahreszeiten feststellen, wo ebenfalls positives Körperempfinden mit der Abwesenheit von Sprache verbunden wurde. Im UN wird das Thema von der Entsinnlichung oder sogar des Dahinsiechens vom Körper ein paar Mal aufgenommen. Es tauchte schon auf in der ACID-Anthologie, wenn Brinkmann in dem berühmten Nachwort Der Film in Worten auf den Roman The Mind Parasites von Colin Wilson hinweist, in dem der Kopf der Hauptfigur langsam von Parasiten leergesaugt wird.33 In UN wird das zu einem entscheidenden Zeitgefühl erweitert: »Wortviren, die seit Ende des Krieges hier in Westdeutschland losgelassen wurden, haben das Land, die Körper, ausgeplündert«; hier wird auch von einem »sinnlich, sexuell runtergekommenen Europa« gesprochen, angefüllt mit wiederum auf die Person bezogenen Aussagen wie »– was heißt ficken, vögeln, in einem Staat, der sagt, »fasst du jemanden an, und bist du noch so sanft, wild, direkt, machst du dich strafbar,« dh. der menschliche Körper ist durch Gesetz Eigen-

33 ACID. Neue Amerikanische Szene. Hrg. von Rolf Dieter Brinkmann und Rainer Rygulla, Darmstadt, Merz 1969, S. 292. Vgl. auch Ton Naaijkens, Lyrik und Subjekt. Pluralisierung des lyrischen Subjekts bei Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Ernst Meister und Peter Rühmkorf, Utrecht: Athabasca 1986, S. 109ff.

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tum des Staates.«34 Das Werk Rolf Dieter Brinkmanns spiegelt die Umbruchzeit der deutschen Literatur vor und nach 1968. Die Ideen Brinkmanns radikalisieren sich Anfang der siebziger Jahre, was insbesondere in Rom, Blicke (1979) sichtbar wird: »Hast Du Dir schon einmal klargemacht, dass diese alltäglichen Situationen und Umstände regelrecht zu zwanghafter Selbstverstümmelung führen müssen und auch tatsächlich führen? Und dieser Zug ist schon sehr erschreckend, da man sich ja gar nicht mehr weit entfernen kann. Die Sinne werden verstümmelt, der Blick und das Empfinden, jede zarte oder zärtliche Regung. Nach der Verstümmelung der Landschaft die Selbstverstümmelung des Menschen, auch folgerichtig und irrwitzig, witzig«, lautet es etwa.35 Das führt auf die Dauer zur Feststellung, dass eine Selbsterfahrung kaum möglich ist, weil Körper, Sprache und Ichgefühl nicht zusammenfallen. Folgende Passage aus Rom, Blicke bringt diese Feststellung auf den Punkt: »Ich hatte in dem Moment ganz von mir abgesehen, als sei ich gar nicht in einem Körper, trüge einen Anzug, ginge in Schuhen, habe Hunger und Durst, von tausend Kleinigkeiten des Tages befallen, sondern das war mir doch alles selbstverständlich, darum brauchte man doch kein Aufhebens machen, warum so viel Aufhebens darum machen? (Genauso wie ich gar nicht verstehe, dass man um Essen, Gemüse Aufhebens macht, Reklame verbreitet mit großen grünen Erbsen darauf, an allen Ecken diese Essreklame und Hinweise, als sei das nicht selbstverständlich! Dass man aß, dass es Erbsen gäbe und so weiter)./Und ich hatte völlig in dem Moment, da ich mit der Frage in mir dort ging, überhaupt nicht das Bewusstsein, ein ausdrückliches Ich zu haben im Sinne der Grammatik, ein Subjekt. Das war mir so selbstverständlich, dass ich es vergessen konnte.«36

34 UN, S. 293, 325 und 256. 35 Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 34. 36 Ebd., S. 147.

Autorinnen und Autoren

Baßler, Moritz, Prof. Dr., geb. 1962, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel, Tübingen und Berkeley, 1993 Promotion in Tübingen bei Gotthart Wunberg, bis 1998 Redaktor des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft, bis 2003 Wiss. Assistent bei Helmut Lethen in Rostock, bis 2005 Professor of Literature an der International University Bremen. Fellow am IFK Wien (2001), am ZfL Berlin (2007) und am FRIAS (2009/10). Zahlreiche Publikationen mit den Schwerpunkten Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie und Gegenwartsliteratur. Drügh, Heinz, Prof. Dr., geb. 1965, Studium der Germanistik, Philosophie und Politischen Wissenschaft in Bonn, Tübingen und Göttingen. Promotion 1997 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. mit einer Arbeit zur Allegorie. Habilitation 2004 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zur Ästhetik der Beschreibung. 2005 Gastprofessur an der Université Aix en Provence. Seit 2006 W3-Professor für Neuere Deutsche Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Zahlreiche Buchpublikationen zur Hermetik, zum Symbol und zur Warenästhetik. Fauser, Markus, Prof. Dr., geb. 1959, Studium und Promotion in Tübingen, Habilitation an der Universität Osnabrück; seit 2005 Prof. für Germanistische Literaturwissenschaft in Vechta; Mitherausgeber der »Enzyklopädie der Neuzeit«; zahlreiche Monographien, darunter die »Einführung in die Kulturwissenschaft«; Sammelbände und Editionen; Schwerpunkte: Kulturwissenschaften, Literaturtheorie, Literaturge-

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schichte des 17. bis 20. Jahrhunderts. Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann in Vechta. Greif, Stefan, Prof. Dr., lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Literatur des 18. Jahrhunderts, hier insbesondere Romantik und Klassik in ihrem Verhältnis zur Moderne, darüber hinaus die Literatur um 1900, die westdeutsche Popliteratur seit den 1960er Jahren sowie die Geschichte der poetischen Bildbeschreibung; zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturhermeneutik, dem medienästhetischen Verhältnis von Literatur und Künsten sowie zur Subjekttheorie vom Deutschen Idealismus bis zur Gegenwart. Hiller, Marion, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, allgemeine Ästhetik, Wechselbeziehungen der Künste, Verhältnis von Künsten und Wissenschaften, Verhältnis von Philosophie und Dichtung, Theorien von Sprache und Sprachlichkeit, Medialität; Habilitationsprojekt zu »Literatur im Spannungsfeld von Bildlichkeit und Musikalität«. Publikationen: Das »zwitterhafte« Wesen des Wortes. Eine Interpretation von Platons Dialog »Kratylos«. Tübingen 2001; ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800. Tübingen 2008. Hurm, Gerd, Prof. Dr., ist Leiter des Zentrums für Amerikastudien an der Universität Trier (www.tcas.uni-trier.de). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragestellungen der Moderne und Postmoderne, das Zusammenspiel von Medien, Rhetorik und Politik sowie der Wandel von Naturdiskursen in der US-amerikanischen Gesellschaft. In den letzten Jahren hat er sich verstärkt den Anfängen der Jugend- und Popkultur in den USA gewidmet u.a. in Arbeiten über Allen Ginsberg, James Dean oder Jack Kerouac. 2009 hat er hierzu das Ausstellungsprojekt Motorcycle: Beschleunigung und Rebellion? in der Europäischen Kunstakademie Trier kuratiert. Naaijkens, Ton, Prof. Dr. Lehrstuhl Deutsche Literatur & Übersetzungswissenschaft, Universität Utrecht, Niederlande. Leiter des Niederländisch-Belgischen Expertisezentrum für Literarisches Übersetzen (ELV, www.literairvertalen.org). Publiziert auf dem Gebiet der

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neueren Literatur, insbesondere Lyrik, und auf dem Gebiet der Geschichte des Übersetzens und der Übersetzungstheorie. Naaijkens schrieb einige Essays über das Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Er übersetzte u.a. das Gesamtwerk Paul Celans und Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten und dessen Vereinigungen ins Niederländische. Niefanger, Dirk, seit 2003 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte in der Frühen Neuzeit, besonders der Barockliteratur, der Klassischen Moderne, besonders der Wiener Moderne, und der Gegenwartsliteratur (Popliteratur, Autorschaft, Roman). Paul, Morten, studiert an der Universität Konstanz und am Goldsmiths College, University of London. Studienschwerpunkte: Dekonstruktive Literatur, poststrukturalistische Philosophie. Schmitt, Stephanie, geb. 1977, studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte in München und Tübingen. Von 2004-2005 wiss. Angestellte am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften in Tübingen. 2007 Koordinatorin des neu eingeführten Masterstudiengangs Literatur- und Kulturtheorie an der Philologischen Fakultät Tübingen. Seit 2008 Mitarbeiterin des Museums in Hölderlinturm. Arbeitet an ihrer Dissertation zur Intermedialität im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Schönborn, Sibylle, Prof. für Neuere Deutsche Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, diverse Arbeiten zu Rolf Dieter Brinkmann. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Literatur und Kultur, interkulturelle Literatur, literarische Ethnographie hybrider Räume (Böhmen, Schlesien, Galizien, Kaukasien). Schumacher, Eckhard, geb. 1966 ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Studium der Literaturwissenschaft in Bielefeld und Baltimore, 1996 Promotion an der Universität Bielefeld, 2007 Habilitation an der LMU München. Wichtige Publikationen: Die Ironie der Unverständlichkeit (2000), Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (2003), Pop seit 1964 (Mithg., 2007).

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Seiler, Sascha (Mainz), Dr. phil., geb. 1972, ist Akademischer Rat im Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Populären Kultur, der nord- und südamerikanischen Literatur, der Postmoderne und der Intermedialität. Letzte Buchveröffentlichungen: Von Zäsuren und Ereignissen (mit Thorsten Schüller) (2010); Handbuch der literarischen Gattungen (Hg. von Dieter Lamping mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel) (2009); 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien (mit Sandra Poppe und Thorsten Schüller) (2009); Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen (Hg.) (2008); Literarische Medienreflexionen (mit Sandra Poppe) (2008). Szmorhun, Arletta, Dr., Germanistikstudium in Zielona Góra, anschließend Forschungsstudium am Institut für Germanistik der Universität Wrocław, mehrere Studienaufenthalte in Österreich und Deutschland, Promotion 2007. Seit dem 01.10.2007 Dozentin am Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra; Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur nach 1945, Literatur und Gedächtnis, genderorientierte Erzähltheorie. Zahlreiche Publikationen zu deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Zimniak, Paweł, Prof. Dr., Jahrgang 1965, 1984-1989 GermanistikStudium in Zielona Góra und Berlin, 1995 Promotion an der Universität Szczecin; 2007 Habilitation an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsaufenthalte an deutschen Universitäten in Tübingen, Erlangen-Nürnberg und Gießen; seit dem 01.10.2006 Direktor des Instituts für Germanistik der Universität Zielona Góra; Lehre: Neueste deutsche Literatur, Narratologie, Methoden der Literaturwissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Literatur und Gedächtnis, literarischer Regionalismus; Publikationen: über 80 Aufsätze, 10 Bücher und Editionen; Teilnahme an über 70 internationalen Tagungen; Mitglied des Verbands Polnischer Germanisten an der Warschauer Universität und der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG)

Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Juni 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3

Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Februar 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930) April 2011, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Juni 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Februar 2011, 436 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1636-1

Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka Juni 2011, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0

Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« Juli 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit Juni 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang Die Tagebücher des Victor Klemperer Januar 2011, 478 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1615-6

Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald

Kirsten Scheffler Mikropoetik Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre

Juni 2011, ca. 302 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1

2010, 514 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1548-7

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