Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre: Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke [1. Aufl.] 9783839428238

What effects did 1968 have on Literature? Kluge, Brinkmann, Handke: Taking 1970s Literature into a new view .

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Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre: Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke [1. Aufl.]
 9783839428238

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Literatur und Kontext: Die Ausgangslage
2. Rolf Dieter Brinkmann: Das sich selbst erkundende Subjekt
3. Alexander Kluge: Das organisierende Subjekt
4. Peter Handke: Das den Raum erkundende Subjekt
5. Resümee und Ausblick – Eine ästhetische Erfahrung im Raum
Literaturverzeichnis
Wissenschaftliche Literatur / Sekundärtexte

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Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre

Lettre

Ich möchte allen danken, die mich auf dem Weg zur Promotion mit Rat und Tat unterstützt haben. Für ihre wissenschaftliche und fachliche Unterstützung danke ich Kai Kauffmann, Walter Erhart, Holger Dainat, Klaus-Michael Bogdal, Ingrid GilcherHoltey und Lothar van Laak. Ich danke Christian Wiebe, Lars Rosenbaum, Philipp Mußgnug, Mareike Gronich und allen anderen, die mir mit ihren großen und kleinen Ratschlägen zur Seite gestanden und die mir ihre Zeit gewidmet haben. Meinem Mann und meiner Tochter danke ich von Herzen für ihre große Geduld.

Angela Bandeili hat in Bielefeld Germanistik mit dem Schwerpunkt Literaturwissenschaft studiert.

Angela Bandeili

Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke

Zugleich: Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Philosophie, angenommen von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, November 2013. Die Promotion wurde gefördert durch ein Stipendium des Rektorates der Universität Bielefeld.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Angela Bandeili, Bielefeld, 2014 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2823-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2823-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

1

LITERATUR UND KONTEXT: DIE AUSGANGSLAGE | 17 1.1 „Gemeinplätze“ ein Jahrzehnt betreffend | 22 1968 – Bewegungen in Literatur und Kultur | 22

Aktuelle Perspektiven und interdisziplinäre Zugriffe | 31 1.2 Zur Auswahl der Autoren Brinkmann, Kluge und Handke | 43

Geteilte Erfahrungshorizonte? Zur Suche nach einer neuen Ästhetik | 43 Ästhetische Verfahren und Hypothesen | 55

2

ROLF DIETER BRINKMANN: DAS SICH SELBST ERKUNDENDE S UBJEKT | 67 2.1 „Bilder, die wiederkommen“ – Keiner weiß mehr (1968): Organisationsversuch des überforderten Subjekts | 74 Die Topologie der Bilder im bildlosen Roman | 74

Raum I: In der Zeit „herumgehen“. Topografische Aspekte der Darstellung | 86 Keiner weiß mehr, eine gescheiterte Organisation? | 97 2.2 Der Film in Worten (1965–1974) und die TonbandAufnahmen: Wörter Sex Schnitt (1973/2005) | 104 Subjekt I: Das Ich der ästhetischen Erfahrung | 107 Material oder „was alltäglich abfällt“ | 111 Organisation I: Die Reflexion des Mediums | 116 2.3 Rom, Blicke (1979) | 122

Zur besonderen Intermedialität des Materialbandes | 123

Eine Kartografie der Wirklichkeit Anfang der 1970er Jahre | 130 Organisation I: Olevano als Bruch | 138

3

ALEXANDER KLUGE: DAS ORGANISIERENDE S UBJEKT | 145 3.1 Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973) | 164

„Die Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren“. Science Fiction als Genre des Realismus | 172 Schreiben als Ausloten des Möglichen. Die implizite Theorie | 183 3.2 Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode (1975) | 187 Die Möglichkeiten des Literarischen: Realismus als Kritik | 190 Organisation II: Materialfülle, Sinnlichkeit und Theorie | 201 3.3 Neue Geschichten. Hefte 1–18. „Unheimlichkeit der Zeit“ (1977) | 217

Raum II: multiperspektivisches Erzählen und raumzeitliche Vernetzung | 222 Subjekt II: Kluges Nachahmung mit Motiv | 233

4

P ETER HANDKE: DAS DEN RAUM ERKUNDENDE S UBJEKT | 241 4.1 Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) | 262

Raum III: „Ich möcht den Ort nicht beschreiben, sondern erzählen.“ Die Topografie des Erzählens | 265 Literatur, Film, Fotografie – die mediale Inszenierung einer Reise | 277

4.2 Die Stunde der wahren Empfindung (1975) | 299

Subjekt III: Abhängigkeiten – Ohne Sprache kein Material | 303 „Es gab keinen Ort mehr“: Präskriptionen in Raum und Sprache | 311 4.3 Langsame Heimkehr (1979) | 316

Ästhetische Erfahrung als Wissenschaft? Die Offenlegung des literarischen Ordnungsprozesses | 322 Organisation III: Form, Raum, Gestalt und Riss – die Erprobung einer geologischen Schreibweise | 327

5

RESÜMEE UND AUSBLICK – EINE ÄSTHETISCHE E RFAHRUNG IM RAUM | 333 Literaturverzeichnis | 345 Primärtexte | 345 Briefwechsel | 350

Interviews / Gespräche | 350 Internetquellen | 351 Archivmaterial | 351 Filme / Audiodateien | 352 Wissenschaftliche Literatur / Sekundärtexte | 352 Interviews / Gespräche | 370 Internetquellen | 371 Filme | 373

Einleitung

„Das wirkliche Medium der Erfahrung, der Wünsche, der Phantasien, eigentlich auch: des Kunstverstandes, sind die wirklichen Menschen, niemals die Spezialisten. Die Menschen arbeiten in festen Berufen, mühen sich ab, d. h. wiederum: sie arbeiten an ihren Beziehungen; sie leisten Zusatzarbeit, um es in Arbeit und Privatbeziehungen auszuhalten. Das ist die innere Balance-Arbeit, lebenslänglich. Aus diesen drei gewaltigen Anteilen besteht die Lebenszeit, stellen sich die Jahrhunderte zusammen, samt Unglück und Irrtümern.“

1

Nah und doch fern genug, sind die 1970er Jahre unübersehbar ins Zentrum der literatur- und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit geraten. Sie werden als intermedial, authentisch, subjektiv und progressiv, zugleich auch als radikal, konservativ und desillusioniert wahrgenommen, und: Sie folgen auf die Protestbewegung, mit ihrem Höhepunkt 1968 und mit allen ihren Impulsen, die in Politik, Kultur und Gesellschaft wirksam geworden sind. Die Literatur, um die es in dieser Arbeit geht, ist ein zentrales Beispiel 1

Kluge: Die Medien stehen auf dem Kopf (1979). In: Ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik (hg. von Christian Schulte) (2011), S. 125, 126.

10 | Ä STHETISCHE E RFAHRUNG IN DER L ITERATUR DER 1970 ER J AHRE

dafür, dass diese Impulse nicht nur unter dem Vorzeichen des Politischen zu verstehen sind. Und doch sind viele Fragen offen. Was haben literarische „Suchbewegungen“2, was haben neue Verbindungen von Subjekt und Material, intermediale Montagen und Collagen in den 1970er Jahren zu tun mit den gesellschaftlichen Prozessen, den politischen Ereignissen? Welche Ideen und Techniken entwickeln sich innerhalb einer Literatur, deren Aufgaben und Gegenstand radikal in Frage gestellt wurden? Vor allem Letzteres beantwortet sich nur dann, wenn man konkrete literarische Texte in den Blick nimmt, die in dieser Zeitperiode die literarische Öffentlichkeit prägen. Aber auch nur dann, wenn Literatur gleichzeitig präsent bleibt als ein Bestandteil von Kultur, die den persönlichen Erfahrungshorizont und das Selbstverständnis der Autoren notwendig mitbestimmt. Welche Konzepte von ästhetischer Erfahrung3 prägen zentrale Texte der deutschsprachigen Literatur der 1970er Jahre und wie lassen sie sich sinn-

2 3

Rutschky: Erfahrungshunger: ein Essay über die siebziger Jahre (1980), S. 68. Diese Konzepte werden hier an der Schnittstelle von Produktion und Rezeption verortet, wie im Folgenden deutlich werden wird. Ästhetische Erfahrung gilt hier nicht als Synonym der ästhetischen Wahrnehmung (aisthesis). Abgrenzung von Wahrnehmung und Erfahrung wird verstanden wie bei Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis (2002), S. 21ff, wonach Erfahrungen als „komplexe Episoden des Erlebens“ gelten, deren Voraussetzung in der Regel einzelne Wahrnehmungen sind. Wahrnehmung und Erfahrung sind mithin „miteinander verschränkte Dimensionen performativen In-der-Welt-Seins“. Vgl. aktuellere Begriffsbestimmungen zur ästhetischen Erfahrung als „besondere Form wahrnehmenden Erlebens“, sowie ä. E. als Begriff, der „seit den 1970er Jahren v. a. im dt. Sprachraum zu einer zentralen Kategorie der Ästhetik avanciert“ ist und als Ausdruck einer „erfahrungsästhetischen Wende“ in Kunst- und Literaturtheorie figuriert, die insbesondere Rezeption und Rezipienten in den Blick nehme. Im allgemeinen Verständnis von einer anerkannten Definition „noch weit entfernt“, ist doch die Spezifik der Kontemplation und eines „nie endgültig an sein Ziel gelangende[n] Verstehensbemühen[s]“ deutlich, bei Schmücker: Ästhetische Erfahrung. In: Burdorf, Fasbender, Moennighoff (Hg.): Metzler Literatur Lexikon (2007), S. 50. Betont wird zur ä. E. „einerseits die Spezifik literarischer Erfahrung, andererseits zugleich deren Zugehörigkeit zu einem allg., philosophisch-lebensweltlichen Erfahrungsbegriff“ bei Zapf: Erfahrung, ästhetische. In: Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2004), S. 151–

E INLEITUNG | 11

voll darstellen? Grundlegend für diese Leitfrage ist zunächst, dass eine Antizipation der ästhetischen Erfahrung im Rezeptionsprozess für die Seite der Produktion angenommen werden kann. Während also Rezeption als individuelle Erfahrung, als Lese- und Verstehensvorgang eher im Bereich empirischer Forschung anzusiedeln ist, wird hier die sich erst mit der Rezeption realisierende, ästhetische Erfahrung als ein vom Autor mitgedachter und mitgelenkter Prozess verstanden und über die Strategien des Textes selbst erfasst. Dies sind, zusammengefasst, Erkenntnisinteresse und Grundannahme der vorliegenden Arbeit, in deren Fokus drei vielbeachtete Autoren stehen: Alexander Kluge, Rolf Dieter Brinkmann und Peter Handke. Um einen literaturgeschichtlichen oder literatursystematischen Gesamtüberblick des Jahrzehnts geht es mit dieser überschaubaren Auswahl natürlich nicht. Dennoch ist die Auseinandersetzung wesentlich auch durch literaturgeschichtliche Subsumierungsbegriffe angeregt worden: Neue Subjektivität oder Neue Innerlichkeit, Dokumentarische Literatur, Popliteratur, Realismus und Intermedialität sind Beispiele für Ordnungsbegriffe, die in Literaturkritik und Wissenschaft mit den betreffenden Autoren verbunden werden. Als mehr oder weniger problembehaftete Schlagworte fangen sie einerseits nur grob Tendenzen ein, andererseits können und sollen sie auch in der Beschäftigung mit einzelnen Werken nicht ausgeblendet werden – denn sie weisen bereits auf bestimmte Formen ästhetischer Erfahrung hin, die durch entsprechende Textstrategien ermöglicht werden. An diesem Punkt möchte die Arbeit ansetzen: In welcher Form lassen sich die Textstrategien, die eine solche Erfahrung bereitstellen können oder wollen, erfassen und beschreiben? Diese Frage kann meines Erachtens weder gestellt werden, indem stark bedeutungsgeladene Ordnungsbegriffe oder Schlagworte an Texte herangetragen werden, noch indem auf ein systematisches Instrumentarium verzichtet wird. Ich halte eine induktive Vorgehensweise für fruchtbar, die der Textanalyse zwar klare Kategorien und Kriterien voranstellt, primär aber die tatsächlichen Darstellungsverfahren der Texte in den Blick nimmt sowie Uneindeutigkeiten und Einteilungswiderständen offen gegenübersteht. Letzteres gewährleistet etwa auch die

152. Die Problematik eines zugleich deskriptiven und normativen Verwendungszusammenhangs wird beleuchtet bei Schweppenhäuser: Ästhetische Erfahrung. In: Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart (2000), S. 123–124.

12 | Ä STHETISCHE E RFAHRUNG IN DER L ITERATUR DER 1970 ER J AHRE

graduelle Annäherung der literarischen Produktions- und Darstellungsverfahren an einen Subjekt- oder Materialpol, wie im Folgenden noch genauer dargelegt werden soll. Bestehende Kategorisierungen und Ordnungsbegriffe der literaturgeschichtlichen Forschung können mit den Ergebnissen der Analyse differenziert, erweitert oder ergänzt werden. Mit Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke und Alexander Kluge wurden für diese Arbeit drei Autoren ausgewählt, deren Publikationen als prägend innerhalb der Literaturproduktion der 1970er Jahre eingestuft werden. Zugleich gilt für alle drei, dass sie mehr oder weniger quer liegen zu den literarischen Diskursen und Tendenzen ihrer Zeit, insbesondere zu einer mit der 68er-Bewegung in Verbindung gebrachten Tendenz der Politisierung. Die Eigenwilligkeit ihrer Literatur ist mitunter nicht zu übersehen. So sind die Rezeptionsanforderungen tendenziell hoch, die Texte gekennzeichnet durch eine häufig achronologische, montageartige und insgesamt unkonventionelle Erzählhaltung, die einen gängigen Plot in der Regel verweigert. Welchen Inhalt und welche Bedeutung die Texte erhalten, ist ganz wesentlich von rezeptiven Konstruktionsleistungen abhängig. Die Relationen von Ich, Welt und verfügbarem Zeichensystem, die Fragen nach Kontingenz und Zusammenhang, die Möglichkeiten des Erkennens und Vermittelns von Realität sowie ihre zugleich subjektive und objektive Verfasstheit bestimmen die Themenkomplexe der Autoren. Die Arbeit stellt keinen unmittelbaren Beitrag zur literarhistorischen Bedeutung der 68er-Bewegung dar, sie geht jedoch auf Diskussionen um die Veränderung literarischer Ästhetik und deren Zusammenhang mit der historischen Erfahrung ein. Sie konzentriert sich auf Konzepte ästhetischer Erfahrung in ausgewählter Literatur der unmittelbaren Folgezeit, das heißt vorrangig der 1970er Jahre und nimmt dabei Autoren in den Blick, deren Entwicklungspotenzial während dieser Zeit eminent ist. Jenseits eines eindimensionalen Bedingungsverhältnisses von Literatur und Politik oder auch Literatur und Gesellschaft, sind die unterschiedlichsten Kontakt- und Beziehungspunkte zwischen Literatur und den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Ist-Zuständen4 ihres Entstehungszeitraumes unübersehbar – und darüber hinaus grundlegend in einer sozialgeschichtlich und kulturwis-

4

Die Bezeichnung Ist-Zustand schließt hier die historische Bedingtheit desselben mit ein.

E INLEITUNG | 13

senschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft.5 Mit der vorliegenden Arbeit soll primär der Annahme Rechnung getragen werden, dass Innovations- und Wandlungsprozesse innerhalb des Mediums Literatur als eigenständige Transformationen6 betrachtet werden können und in ebendiesem Sinne kultur- und literaturhistorisch relevant sind. Literarische Prozesse und literarische Ästhetik als eigenständig wahrzunehmen bedeutet hier allerdings nicht, dass in einem nächsten Schritt auch der wissenschaftliche Zugriff gegen andere Disziplinen durchgehend abzugrenzen wäre. Im Gegenteil wird hinsichtlich der Forschungsgrundlagen ein Verständnis von Interdisziplinarität vorausgesetzt, das neben germanistischen und literaturwissenschaftlichen auch im weiteren Sinne kulturwissenschaftliche, kultursoziologische, (sozial)-historische und politikwissenschaftliche Ansätze integriert. In einem solchen Vorgehen sehe ich das Potenzial, die Eigendynamik in einem sich verändernden Literatursystem darzustellen, das zugleich in Kontakt und Austausch steht mit gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wandlungsprozessen. Die im Rahmen dieser Arbeit geplanten Textanalysen, die primär literarische Produktionskategorien berücksichtigen, erfolgen entsprechend nicht unter Ausblendung des historischen oder gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhangs. Dies wäre auch nicht zielführend.

5

Vgl. z. B. Huber, Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte: Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie (2000); Voßkamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), S. 73–85; Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen (2012).

6

Begriffsverwendung hier gemäß ursprünglichem, lat. Bedeutungsgehalt im Sinne von Umwandlung, Umformung. Vgl. auch Verwendung bei Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart (2012), worin das Bedeutungsspektrum soziale, literaturökonomische und diskursive Veränderungen umfasst – literaturimmanente Aspekte hingegen erst in einem zweiten Schritt untersucht werden. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne (2008), benutzt den Begriff der Transformation vorrangig zur Beschreibung des Verhältnisses der Postmoderne zur Tradition, wie sie sich im Architektonischen beispielhaft zeigt. Vgl. z. B. S. 104, 106ff.

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Was inzwischen für die kulturgeschichtliche Bedeutung der Studentenbewegung gilt, kann als Anleitung auch für die Auseinandersetzung mit ihrem Folgejahrzehnt gelesen werden. So kann es die Protestbewegung betreffend „nur darum gehen, die verschiedenen narrativen Konstruktionen in Bezug auf diese Zeit zu erweitern, hin zu einem gleichberechtigten Nebeneinander verschiedener, auch in Opposition stehender Geschichten von ,1968‘.“7 „Eine derartige Auflösung einer bisher oftmals noch einheitlich imaginierten Geschichte in ein inkohärentes und damit spannungsgeladenes Bild würde auch den mythisierenden Erzählungen von ,1968‘ entgegenwirken und eine differenzierte historische Bewertung der Kultur- und Mediengeschichte der AchtundsechzigerBewegung ermöglichen. Allen Vorwürfen von postmoderner Beliebigkeit zum Trotz wäre dies ein Weg, dem Diskurs über ,1968‘ seine Ereignishaftigkeit zurückzugeben, und gleichzeitig neue Sprech- und Sichtweisen zu ermöglichen.“8

Die Rede von den narrativen Konstruktionen erinnert zugleich an das kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse des New Historicism, der den Chiasmus der „Geschichtlichkeit von Texten“ und der „Textualität von Geschichte“9 als seine Grundlage versteht und damit nicht weniger davon ausgeht, dass es eine unmittelbar zugängliche Geschichte „an sich“ nicht geben kann. So weist Stephen Greenblatt darauf hin, dass „eine kulturbezogene Analyse [sich] einer rigiden Unterscheidung zwischen dem, was innerhalb

7

Klimke, Scharloth: 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung (2007), S. 4.

8

Ebd. Weiter heißt es dort: „Trotz aller Bemühungen um seine Historisierung: ,1968‘ hat seinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik noch nicht gefunden. Es steht als Mythos, Chiffre, Zäsur, als Heldenlied oder Verwünschungsarie noch immer im Zentrum der Frage nach einer Selbstdefinition der Geschichte der Bundesrepublik.“ Als Fazit darf gelten: „[…] die Revolte der 1960er Jahre wirft auch heute noch viele ungeklärte Fragen auf.“

9

Vgl. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Baßler (Hg.): New Historicism: Literaturgeschichte als Poetik der Kultur (2001), S. 60–93; hier S. 67.

E INLEITUNG | 15

und was außerhalb eines Textes liegt, prinzipiell widersetzen“10 müsse: Die Erkundung einer bestimmten Kultur führe zum besseren Verständnis eines literarischen Werkes aus eben dieser Kultur – zugleich führe die „sorgfältige Lektüre eines literarischen Werkes auch zum besseren Verständnis der Kultur […], in der es hergestellt wurde.“11 Die Praxis des New Historicism ist die „Methode, den historischen oder kulturellen Hintergrund in gleicher Partikularität und Konkretion zu repräsentieren wie die Texte selbst“12 und dabei die in den Text hinein- sowie aus ihm hinausführenden „Fäden“13 sämtlich zu verfolgen. Texte verweisen dabei wiederum auf vielfältige weitere Texte, auf ihre kulturelle Verfasstheit und damit auf den Umstand, dass sie „Teile eines anderen, weiteren Textes sind, des Textes der Kultur.“14 Einer so beschriebenen Praxis ist die vorliegende Arbeit nicht zuzuordnen – sie nimmt aber das Verständnis der Literatur als Teil von Kultur ernst und sieht hierin einen wichtigen Impuls auch für das Verständnis literarischer Produktionskategorien15. Literarisch-ästhetische Transformationen werden hier primär untersucht als Ergebnis eines literarischen Produktions- und Organisationsprozesses. Die genaue Textanalyse, das close reading, das zu diesem Zwecke betrieben werden soll und muss, bleibt aber zu den kulturellen und gesellschaftspolitischen Prozessen hin offen und wird keineswegs im Sinne eines hermetischen Vorgangs praktiziert. Dass Letzteres im Hinblick auf die zu behandelnden Autoren und Texte auch kaum zielführend wäre, deuten die Hinweise auf die literatursystematische Verschlagwortung, auf deren histori-

10 Greenblatt: Kultur. In: Baßler (Hg.): New Historicism (2001), S. 48–59; hier S. 51. 11 Ebd. Am angegebenen Ort zieht Greenblatt die Konsequenz, dass „die Analyse von Kultur im Dienste der Literaturwissenschaft“ nicht den Kern treffe, da „in einem weitgefaßten liberalen Bildungskonzept vielmehr die Literaturwissenschaft […] im Dienste des Verstehens von Kultur steht.“ 12 Baßler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), S. 132–155; hier S. 135. 13 Ebd., S. 134. 14 Ebd. 15 Subjekt, Material und Medium sind die hier primär untersuchten, im folgenden Kap. genauer beschriebenen Kategorien.

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sche Genese und den sowohl gesellschaftshistorisch wie literarisch geprägten Bedeutungszusammenhang bereits an. Ein Fokus auf literarische Organisationsprozesse soll entsprechend kulturwissenschaftlichen Verstehensund Deutungsprozessen nicht entgegenstehen. Festzuhalten bleibt: Die Erforschung und das Verständnis der literarischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Transformationen, die sich in den 1970er Jahren beobachten lassen, dürfen offenbar noch längst nicht als abgeschlossen gelten. Dass sie vor allem auch im Zusammenhang zu sehen sind mit den durch die 68er-Bewegung angestoßenen Veränderungen, ist zudem deutlich. Mit einem germanistisch-literaturwissenschaftlichen Blick auf ästhetische Konzepte in ausgewählten Werken der 1970er Jahre möchte die vorliegende Arbeit einen wesentlichen Beitrag hierzu leisten.

1 Literatur und Kontext: Die Ausgangslage

Befasst man sich aus germanistisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive mit den 1970er Jahren, führt dies notwendig auch auf das Jahr 1968 zurück. Die Zusammenhänge und Beziehungen zwischen gesellschaftspolitischen und kulturellen Prozessen sind hier besonders brisant, aber auch komplex und kaum linear darzustellen. Augenfällig ist, dass das historische Datum nicht nur Gegenstand der Geschichts- oder Politikwissenschaft ist, sondern zugleich in besonderem Maße in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsbereichen beachtet wird. Für ein umfassenderes Verständnis wird schnell ein Zeitraum von mindestens zwanzig Jahren relevant, da sich auch die Ereignisse von 1968 im Verlauf der sechziger Jahre vorbereiten sowie in die 1970er Jahre hineinwirken und nicht isoliert zu verstehen sind. Für das Jahr 1968 wurden in den Wissenschaften bis heute verschiedene Bezeichnungen, wie etwa Chiffre, Mythos, Wendepunkt, Zäsur, Revolte oder Höhepunkt, angewandt.1 Die Literatur, als eigenständiges Medium der Transformation, ist auch im Kontext der 68er-Bewegung mehr als ein Spiegel der Ereignisse. In ihr artikulieren sich sowohl geteilte Erfahrungshorizonte und die Auflösung bisher gültiger Bedeutungsmuster, als auch subjektive und ästhetische Prozesse, die die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft jeweils neu stellen. Im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft2 stellt das Jahr 1968 fraglos ein hochinteressantes Datum dar. Eine 1

Vgl. auch Klimke, Scharloth: 1968. Handbuch (2007).

2

Vgl. etwa Voßkamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), S. 73–85, der hier u. a. darauf aufmerksam macht, „daß die Beziehung zwischen kulturellen Manifestationen

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Auseinandersetzung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bedeutet dabei immer zugleich eine Konfrontation mit bereits bestehenden Begriffen und Schlagworten, als da sind Politisierung3, Tendenzwende4, Neue Sub-

und sozialen Strukturen (also auch die zwischen ,Literatur und Gesellschaft‘) keinen determinierenden Charakter hat.“ (81) Die Bemerkung, dass sich „Literatur von historischer Realität […] weder problemlos ableiten“ lasse, noch „in eine widerspruchsfreie ,homologe‘ Beziehung zu ihr gebracht werden“ (ebd.) könne, lässt sich besonders mit Blick auf die Beziehungen von Literatur und Politik um 1968 bedenken. 3

Als „politisierte Autoren“ werden in der Literaturgeschichtsschreibung etwa Heinrich Böll, Günter Grass, Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger genannt. Vgl. z.B. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003). Sprachimmanent, subjektivistisch oder experimentell verfahrende Autoren stehen ihnen gegenüber, wie unter anderen Peter Handke, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Becker, Helmut Heißenbüttel, Nicolas Born, Thomas Bernhard. Dass eine solche Grenzziehung abhängig ist vom jeweiligen Verständnis des Politischen und damit auch diskutierbar, liegt auf der Hand.

4

Vgl. hierzu Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (2006), S. 581ff; Bohnen: „Tendenzwende“. Zu einer Kulturkontroverse der siebziger Jahre. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses (1986), S. 171–177; Roberts: Tendenzwenden. Die sechziger und siebziger Jahre in literaturhistorischer Perspektive. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 56, Nr. 2 (1982), S. 290–313; sozialgeschichtlich bei Schildt: Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten: zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 44 (2004), S. 449–478. Tendenzwende wird mehrheitlich verstanden als Phase der Ent- oder Depolitisierung, als (politisch-)konservative Wende und Abwendung von den Zielen der 68er-Bewegung, als allgemeine Subjektivitätstendenz und Grundlegung einer Neuen Subjektivität in der Literatur. Hingewiesen wird gelegentlich auf eine Tagung der Bayrischen Akademie der Schönen Künste im November 1974 mit dem Titel „Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik“. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003), S. 244ff, betont durchaus Zutreffendes, Beschreibendes des „Begriffsbastards“ und zählt drei Voraussetzungen der sog. Tendenzwende auf: 1. Der „Lange Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke) ist gescheitert, insofern er nicht die er-

L ITERATUR UND K ONTEXT : DIE A USGANGSLAGE | 19

jektivität oder Neue Innerlichkeit, Neuer Realismus und anderes mehr, wobei diese zumeist zwischen ästhetischer Beschreibungskategorie und Gesellschaftsbezug oszillieren. Vieles spielt sich hier zeitgleich ab. Zum breiten Spektrum programmatischer Neuerungen, das in den ausgehenden 1960er Jahren in Literatur und Kunst anzutreffen ist, lässt sich zu Beginn der 1980er Jahre etwa lesen: „Wenn die ‚geistige‘ Situation der siebziger Jahre auf einen Nenner zu bringen ist, dann ist es die Vielfalt der Umorientierungsversuche […].“5 Die besondere Heterogenität der Literaturproduktion in den 1960er und 70er Jahren sieht Heinz Ludwig Arnold als das Ergebnis einer auf sich selbst zurückgeworfenen, „verlorene[n] Generation“6: „Wie hätte denn dieses Selbstverständnis auch beschaffen sein können? Nach soviel Zertrümmerung, nach so durchdringender Denunziation von Literatur und Kunst durch die radikale Linke? Mußten da nicht die Schriftsteller wieder von vorn anfangen: bei sich selbst, bei ihren eigenen Erfahrungen in ihrer unmittelbaren Umgebung, in ihrem Alltag?“7

Vielfalt impliziert auch noch das von Habermas in den 1980er Jahren aufgeworfene Stichwort der „Neuen Unübersichtlichkeit“8, das, ausgehend von

wünschten, grundlegenden und nachhaltigen Reformen erwirkt hat. 2. Das Auseinanderfallen der außerparlamentarischen Opposition, die Ausbildung einer Vielzahl (zum Teil gegeneinander arbeitender) linker Organisationen. 3. Die autoritäre Reaktion des Staates: von Willy Brandt angeregter Radikalenerlass (1972). In der Folge Strafanspruch des Staates als Faktor der Beurteilung auch literarischer Veröffentlichungen. Präventive Selbstzensur von Autoren und Verlegern. 5

Roberts: Tendenzwenden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Jg. 56, Nr. 2 (1982),

6

Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 100.

7

Ebd.

S. 310.

8

Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit (1985), erscheint zuvor bereits in Merkur. Der gesellschaftstheoretisch, sozialphilosophisch entstandene Begriff steht im Zusammenhang mit Habermas‘ Opposition zum Postmoderne-Begriff. Vgl. diesbezüglich auch Welsch: Unsere postmoderne Moderne (2008), S. 135ff, der u. a. auf Habermas eingeht.

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seinem gesellschaftstheoretischen Entstehungskontext, auf unterschiedlichste Bereiche des kulturellen Lebens transferiert wurde und im Zusammenhang einer allgemeinen Postmoderne-Debatte zu sehen ist. Kritisch gegenüber derartigen Begriffsverwendungen äußern sich die Herausgeber eines Sammelbandes zur Literatur der 1970er und 80er Jahre. „Über eines dürfte in der Literaturgeschichtsschreibung der letzten Jahre Einverständnis herrschen: Die Periodisierungsvorschläge, die immer wieder zur Diskussion gestellt werden, für den hier in Frage stehenden Zeitraum etwa Neue Subjektivität und Neue Unübersichtlichkeit, haben bestenfalls Indiziencharakter, indem sie bestimmte literarische Phänomene betonen und anderen vorziehen. Und sie können, ohne Zweifel, jederzeit durch andere, gleichermaßen legitimierbare ersetzt werden.“9

Zahlreiche avantgardistische Strömungen und Trends entwickeln sich bereits in den frühen sechziger Jahren und wirken in die siebziger Jahre hinein. Dass hier ein aus literatursystematischer Perspektive heterogenes Bild vorliegt, ist offensichtlich: Unter anderem die Dokumentarische Literatur und das Dokumentartheater, ein neues Interesse an der Konkreten Poesie, der Einfluss der Grazer Gruppe, Entwicklungen wie der Kölner Realismus Dieter Wellershoffs, das Autobiographische Schreiben, das Aufkommen der Performance- und Happening-Kunst10, die Weiterentwicklungen der angloamerikanischen Popart, neue Medien und Formen von Intermedialität

9

Delabar, Schütz: Serien und Solitäre. In: Dies. (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 7–12; hier S. 7.

10 Vgl. hierzu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (2004), die die so genannte „Performative Wende“ in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verortet, als Joseph Beuys, Wolf Vostell, Hermann Nitsch und andere mit ihren Aktions- und Performancekünsten Aufsehen erregten. Fischer-Lichte führt die Selbstverletzung der jugoslawischen Künstlerin Marina Abramović im Oktober 1975 als ein drastisches Beispiel performativer Kunstformen an, bei dem kaum mehr vom Zeichencharakter gesprochen werden könne: Schmerz und Verletzung werden nicht mehr gemeint, sondern unmittelbar am darstellenden Subjekt vollzogen. Nahe an diesem Zeichenkonzept bewegt sich auch die Analyse von Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik: die Produktion von Präsenz (2004). Vgl. auch Kreuzer: Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft (1975), S. 71.

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und anderes werden als neben- und nacheinander auftretende Phänomene in den Literaturgeschichten angeführt. Politisierung und potenzielle Tendenzwende, neue Formen von Multiund Intermedialität11, hiermit zusammenhängend auch die Bedeutung des Films beziehungsweise des Filmischen in der Literatur, Divergenzen der Literatur in Bundesrepublik und DDR und in besonderer Weise die Krisen und Debatten, vom Zürcher Literaturstreit 1966/67, über Fiedlers Postmoderne-Plädoyer 1968 bis zum Ende der Gruppe 47 im Jahr 1969 sind Beispiele für forschungsrelevante Themenkomplexe, die auch das kulturelle und literarische Geschehen der 1970er Jahre mit betreffen. Die Frage, inwiefern jeweils Prozesse und Phänomene, die für die 1960er Jahre beschrieben werden können, für eine Auseinandersetzung mit den 1970er Jahren relevant sind, ist offenbar je nach Erkenntnisinteresse anders zu beantworten. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Betonung der „Prozessualität von Geschichte […] gegenüber dem Versuch, Zäsuren, gar Brüche in eine Entwicklung hineinzukonstruieren, deren Elemente widerspruchsvoll aufeinander bezogen bleiben, die auseinander hervorgehen und Kontinuität auch in ihrer diskontinuierlichen Folge zeigen.“12 Diese Prozessualität soll auch

11 Rajewsky: Intermedialität (2002), S. 32, 33, postuliert „[a]ls Folge des Bedeutungs- und Statuswandels der audiovisuellen Medien, der Vorherrschaft multimedialer Dispositive der Weltaneignung und der Allgegenwärtigkeit der visuellen Dimension […] spätestens seit den 80er Jahren ein neues Verhältnis zwischen der Literatur und den technischen Kommunikationsmedien.“ Aus Forschungsperspektive: „,Hybridisierung‘ oder ,Kontamination‘ der Diskurse, ,crossover‘ und allen voran ,Intermedialität‘ sind Schlagworte, die spätestens seit Mitte der 90er Jahre in aller Munde sind.“ (S. 1). 12 Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003), S. 245. Auch strukturell wird dieser Prozessualität Rechnung getragen: Schnell fasst in seiner literaturgeschichtlichen Darstellung den Zeitraum 1961–1977 unter dem Stichwort „Erosionen“ und setzt damit gerade keine formale „Zäsur“ 1968, wobei allerdings auch die anderen gliederungsrelevanten Daten (1945, 1976/77, 1989) stets zur Diskussion gestellt werden. Vgl. auch Klimke, Scharloth: Maos Rote Garden? ›1968‹ zwischen kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis – eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 1–10; hier S. 2, die einen „relative[n] Bedeutungsverlust des Schlüsseldatums 1968“ be-

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in den folgenden beiden Kapiteln berücksichtigt werden, die sich einigen wichtigen Aspekten des zeitlichen Kontextes sowie der Forschung widmen, bevor die Auswahl der Autoren für diese Arbeit begründet wird.

1.1 „G EMEINPLÄTZE “ 13 EIN J AHRZEHNT

BETREFFEND

1968 – Bewegungen in Literatur und Kultur 1968 verhandelt Hans Magnus Enzensberger im von ihm selbst begründeten Kursbuch Nr. 15 „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“14 und schreibt sich damit in die Rezeptions- und Literaturgeschichten ein. Der Text ist tatsächlich selbst zu einem Gemeinplatz in der literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Forschung geworden. Die Brisanz des Essays wird deutlich, wenn Enzensberger vom gefeierten „Ende der Literatur“15 spricht. Das schwindende Bedürfnis nach Belletristik, das Interesse für Agitationsmodelle und Faktographien seien „gute Zeichen“16, welche man aber begreifen müsse. Aktuell sei das Ende eines von der Bourgeoisie dominierten Kultursystems jedenfalls „nicht abzusehen.“17 Enzensberger sieht zwar die Schuld nicht bei den Schriftstellern selbst – sie könnten das Problem nicht aus der Welt schaffen –, entlässt sie jedoch nicht aus der Verantwortung, wenn er das kritische Potenzial der zeitgenössischen Literatur als „bloßen Schein“18 abtut: „Heute liegt die politische Harmlosigkeit aller literarischen, ja aller künstlerischen Erzeugnisse überhaupt offen zutage: schon der Umstand, daß sie sich als solche de-

obachten, der begleitet werde von „Untersuchungen, die sich den gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen des Jahrzehnts widmen.“ 13 Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187–197; hier S. 187. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 187. 16 Ebd., S. 189. 17 Ebd., S. 193. 18 Ebd., S. 194.

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finieren lassen, neutralisiert sie. Ihr aufklärerischer Anspruch, ihr utopischer Überschuß, ihr kritisches Potenzial ist zum bloßen Schein verkümmert.“19

Ein von Enzensberger als gutes Zeichen gewertetes, abnehmendes Interesse am traditionellen Muster belletristischer Literatur, am „Schema: Exposition, Katastrophe, Lösung“20, konstatiert zwei Jahre zuvor auch Helmut Heißenbüttel. Er beobachtet einen neuen „Orientierungswillen“21 und sieht in der „Vereinheitlichung der thematischen Basis ein Symptom für eine vorübergehende allgemeine Unsicherheit“22. Seine Spekulation – „Das Engagé wird zunehmen“23 – ist positiv gefärbt, während sich bei Enzensberger der Eindruck einer enttäuschten Erwartung einstellt. Es ist ihm nicht mehr, wie noch Heißenbüttel, daran gelegen, neue Typologien und Tendenzen zu beschreiben.24 Was eine Kulturrevolution sein soll, ist ihm ein „Jahrmarkt“25. Die Vehemenz seiner Darstellung erfährt dabei durch die unklare Adressierung keine Abschwächung – im Gegenteil. Der Frage, welche Diskurse im Literatursystem der ausgehenden sechziger Jahre wichtig werden, wird eine dichotomische Darstellung sicherlich nicht gerecht, wenn auch das Hilfskonstrukt von den politisierten sechziger Jah-

19 Ebd. Wellershoff schreibt hierzu 1976: „Heute hat er [Enzensberger, Anm. d. Verf.] diese Position verlassen, schon dadurch, daß er selbst wieder Gedichte geschrieben hat.“ Rückblickend hält Wellershoff den vermeintlich kritischen Einwand Enzensbergers und (Karl Markus) Michels im Kursbuch 15 für unkritisch, denn: „Sozial harmlos wird Literatur innerhalb einer verharmlosenden Interpretation. Statt angewidert von der bildungsbürgerlichen Textarchäologie und Kunstverehrung die Literatur den toten Bildungsgütern zuzuschlagen, hätte kritische Rezeption sie vor dieser Sterilisierung bewahren müssen. Doch man hat sich dupieren lassen zu der Ansicht, daß mit Literatur ja doch nichts zu machen sei.“ In: Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs (1976), S. 77, 78–79. 20 Heißenbüttel: Über Literatur (1995), S. 132. 21 Ebd., S. 127. 22 Ebd., S. 128. 23 Ebd., S. 128. 24 Vgl. ebd., S. 214: „Mein Vorschlag […] besteht, aufs Ganze gesehen, darin, eine neue literarische Typologie zu bilden.“ 25 Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187.

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ren und den im Gegenzug subjektivierten siebziger Jahren dies gelegentlich suggeriert. Altbekanntes, Gewohntes löst sich auf und anderes beginnt, so suggerieren einige Titel der 1970er Jahre, wie Helmut Kreuzers Veränderungen des Literaturbegriffs (1975) oder Dieter Wellershoffs Die Auflösung des Kunstbegriffs (1976). Kreuzer verweist in seiner Untersuchung auf eine viel beachtete, von Horst Rüdiger angestoßene Diskussion in der Stuttgarter Zeitung im Januar 1964, die sich kritisch mit dem Literaturbegriff befasste. An ihr beteiligten sich unter anderen Ludwig Marcuse, Dolf Sternberger, Benno von Wiese, Wolfgang Schadewaldt und Käte Hamburger. Die engagierte Auseinandersetzung unter Experten wertet Kreuzer als ein „deutliches Indiz für einen literarischen und literaturwissenschaftlichen Umschwung […], der auch den Literaturbegriff betraf.“26 Sternberger gilt Kreuzer, der eine seiner Stellungnahmen zitiert, als der avancierteste unter den Diskutanten: „Verleiht denn das dokumentarische Werk, die Reportage, verleiht die moralische Qualität eines Erzeugnisses kein Anrecht, in den Umkreis der Literatur aufgenommen zu werden?“27 Die Frage erscheint berechtigt, bedenkt man, dass Heißenbüttel den neuen „literarische[n] Typen“ in seiner Publikation von 1966 eine „[a]usgeprägte Faktizität, bis zur Verleugnung der eigenen Stoffverarbeitung“ und ganz allgemein eine hohe Bedeutung des „Element[s] der Bestandsaufnahme“28 zuschreibt. Eine grundsätzliche Diskussion über den literarischen Status und die Qualität dieser Werke wird hier aber nicht mehr angestoßen. Die Literaturszene entwickelt offenbar neue Ausdrucksformen, für die ein normativer Literaturbegriff beziehungsweise das Kriterium der angemessenen Form kaum noch anwendbar scheint. Dies bezieht sich nicht nur auf die Relevanz nicht-fiktionaler, dokumentarischer Literatur29, wird aber an dieser in besonderer Weise deutlich.

26 Kreuzer: Veränderungen des Literaturbegriffs (1975), S. 69. 27 Ebd., S. 70. 28 Heißenbüttel: Über Literatur (1995), S. 130. 29 Die Konjunktur des Dokumentarischen konstatieren neben Heißenbüttel verschiedene Autoren: Vgl. Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs (1976), S. 9. Wellershoff sieht die „Wendung zum Dokumentarismus“ als Parallel- und Gegenentwicklung zu „extreme[n] Subjektivierungen […], experimentelle[n] Destruktionen und Willkürakte[n]“. Vgl. auch Winter: Von der Dokumentarliteratur zur ,neuen Subjektivität‘. In: seminar, Vol.17 (1981), S. 95–113; hier S.

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Kreuzer hebt in diesem Zusammenhang auch das zeitgeschichtliche Dokumentartheater (vor allem Peter Weiss, Rolf Hochhuth), das Agitations- und Straßentheater, die Darstellung von Industriemilieus durch die Dortmunder Gruppe 61 sowie die zunehmend vom Literaturbetrieb wahrgenommenen echten Reportagen und Reiseberichte hervor. Vor allem die zu Beginn der sechziger Jahre aufkommende Happeningkunst und die Popart stellten laut Kreuzer „mit wachsendem publizistischem Echo den überlieferten Kunstbegriff, insbesondere die Trennung von Kunst und Leben, in Frage“30. Nicht weniger betont Wellershoff in seinen dokumentierten Vorlesungen die „oszillierende[n] Übergänge von Kunst und Wirklichkeit“ und zitiert die bekannte, von Leslie Fiedler vertretene These „There is no ,gap‘ between art and life“ als Schlagwort zur „Haupttendenz der Kunst der sechziger Jahre in den USA und in Europa“31. Als viel beachtetes Beispiel zieht er wiederum Handke heran, der 1966 mit seiner Publikumsbeschimpfung sämtliche Zuschauererwartungen enttäuschte, indem er ihnen die erwartete Theateraufführung verweigerte: „Dieses sichere Vorauswissen des Publikums, daß alles nur Theater ist, versuchen Handkes Sprecher zu irritieren. Sie beanspruchen, mit dem Zuschauer in derselben Wirklichkeit zu sein und ihn deshalb wirkungsvoll und direkt beschimpfen zu können.“32 Die Begrenztheit eines solchen Verfahrens liege natürlich darin, dass die „Durchbrechung der Fiktion eine neue Fiktion“33 sei und sukzessive auch

96f. Bullivant (Hg.): Subjektivität – Innerlichkeit – Abkehr vom Politischen? Tendenzen der deutschsprachigen Literatur der 1970er Jahre (1986) fasst im Kommentar zum Britisch-Deutschen Germanistentreffen 1982 zusammen, dass die dokumentarische Methode in der Literatur zum Ende der sechziger Jahre Aufwind erlebte, jedoch ab den frühen siebziger Jahren bereits wieder bergab ging. Vgl. S. 357ff. 30 Kreuzer: Veränderungen des Literaturbegriffs (1975), S. 71–72. Dieses „Echo“ sieht Kreuzer selbst bei „artistisch-formalistisch orientierte[n] Autoren der Avantgardetradition“ für die „aliterarische Sprach- und Textformen literarisch interessant“ werden. Als ein Beispiel nennt er Peter Handkes Einfall, die Aufstellung einer Fußballelf unverändert in seinen Gedichtband aufzunehmen. In: Handke: Die Innenwelt der Außenwelt (1969), S. 59. 31 Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs (1976), S. 11. 32 Ebd., S. 14. 33 Ebd., S. 15.

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zu einer neuen Erwartungshaltung des reflektierten Publikums führe, die dieses bereits einkalkuliere. Doch was ist die Konsequenz dieses Oszillierens zwischen Kunst und Leben, worin liegt etwa der Reiz einer enttäuschten Fiktionserwartung? Notwendig führen solche Fragen auf den Begriff der ästhetischen Erfahrung und damit auf das wesentliche Potenzial künstlerischer und literarischer Produkte. „Nur das ist nämlich eine Erfahrung, was den bestehenden Erwartungen nicht ganz entspricht“34 – die oben angesprochene, modifizierte Erwartung des Unerwarteten mit eingeschlossen, ist dies eine anspruchsvolle Maxime. Rolf Dieter Brinkmann hätte ihr sicherlich zugestimmt, trotz mangelnder Zuversicht, dass Literatur „ein Stückchen realer“35 werden könne: 1969 beklagt er, dass „die Erstarrung des Vorstellungsvermögens bei jedem Einzelnen heute […] weit fortgeschritten“36 sei. In der „hohlen, pathetischen Formulierung vom Ende der Literatur“ sieht er jedenfalls nichts, „was wir gebrauchen könnten“37, da man doch den bekannten Kurs weitergeführt habe. Das Erbe der Nachkriegsliteratur stört Brinkmann nicht weniger als Enzensberger, die Forderungen sind indes andere: An Stelle einer politisch-agitatorischen Verpflichtung, verlangt Brinkmann vielmehr die Abwendung von einem vermeintlichen, kulturellen Auftrag und eine Hinwendung zum sinnlichen Erfahrungsgehalt konkreter Wirklichkeit. Das Verfallsdatum einer spezifischen literarisch-ästhetischen Erfahrung wäre demnach erreicht, wenn sie zum erwartbaren Selbstzitat wird, wenn „die gewohnten Formen der Organisation des Stoffes keine neuen Erfahrungen mehr erlauben“38.

34 Ebd., S. 31. 35 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität (1969). In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147. 36 Ebd., S. 149. 37 Ebd., S. 147. 38 Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs (1976), S. 31. Vgl. auch Jauß, der das „Wieder-Erkennen“, als „Quelle aller platonischen Erkenntnis“, der von der ästhetischen Wahrnehmung beanspruchten Erkenntnis entgegenstellt: „Erkenntnis, die den Stein wieder steinern macht, das Empfinden des Gegenstands wiederherstellt, kann nicht durch, sondern nur gegen Wiedererkennen gewonnen werden.“ Jauß: Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. In: Poetik und Hermeneutik, Nr. 6 (1975), S. 263–340; hier S.

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Der Ruf nach neuen Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen tauchte auch in der Wendung Neue Sensibilität auf, zunächst bei der amerikanischen Autorin Susan Sontag (New Sensibility) Mitte der 1960er Jahre.39 Herbert Marcuse verzeichnete in seinem Versuch über die Befreiung (1969) ebenso eine „neue Sensibilität“, unter deren Einfluss politischer Protest und ästhetische Dimension ineinander greifen würden. Bezug nehmend auf Kant spricht er hier von der „Aussicht auf ein neues Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft“, wobei „die Sinnlichkeit von der Imagination gelenkt [wäre], die zwischen den rationalen Vermögen und den sinnlichen Bedürfnissen vermittelt.“40 Brinkmann veröffentlichte seinen Radioessay Einübung einer neuen Sensibilität41 im selben Jahr und forderte eine radikale Unmittelbarkeit des Schriftstellers gegenüber dem alltäglichen Material, verbunden mit einer Distanz zum abstrakten und programmatischen Denken. Ein Verschwinden der Literatur ergäbe nur dann Sinn, wenn es bedeute, dass diese „ein Stückchen realer“42 werde. Etwas Ähnliches hatte Sontag bereits 1964 für die Kritik und Kommentierung von Kunst gefordert, deren vorrangiges Ziel nicht darin bestehe „mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist“, sondern „die Kunst – und analog dazu un-

294. Auf die aktuelle, begrüßenswerte Auseinandersetzung um Jauß‘ nationalsozialistische Vergangenheit (vor Aufnahme seines Studiums 1944) sei an dieser Stelle zumindest verwiesen. Vgl. z. B. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Karriere des Romanisten Hans Robert Jauss. In: Die Zeit, Nr. 15 (07.04.2011), S.62. Vgl. Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis (2002), S. 24, der darauf hinweist, dass Erfahrung „strukturell negativ“ sei, das heißt, sich zunächst als ein Bruch oder Einschnitt im Denken und Handeln zeige. S. 26: Dabei müsse zwischen starkem und schwachem Erfahrungsbegriff unterschieden werden, ersterer sei strukturell negativ und führe zur Einstellungsveränderung, letzterer besitze dagegen nur eine einstellungsintensivierende Negativität und führe somit zur Bestätigung einer Einstellung. 39 Vgl. Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise (One Culture and the New Sensibility) in der deutschen Übersetzung. In: Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen (1968), S. 285–295. 40 Marcuse: Versuch über die Befreiung (1969), S. 52. 41 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität (1969). In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995). 42 Ebd., S. 147.

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sere eigene Erfahrung – für uns wirklicher zu machen statt weniger wirklich.“43 Der Frage, ob und wie neue Erfahrungen in den kulturellen Prozessen der siebziger Jahre möglich waren, sind Michael Rutschky und Hanns-Josef Ortheil zu Beginn der achtziger Jahre bereits nachgegangen.44 Vor allem der Erfolg von Rutschkys Erfahrungshunger (1980) ergab sich daraus, dass dieses Buch „einen charakteristischen Zug dieser Zeit in vielfältigen Phänomenen aufdeckte: die Suche nach Authentizität, nach Identität, nach einer unverstellt-subjektiven Individualität“, die sich zeigte in „Theoriefragmenten und Filmen, in literarischen Zeugnissen und autobiographischen Dokumenten, in subkulturellen Bewegungen und alternativen Ausdrucksformen“45. Rutschky und Ortheil konzentrieren sich gleichermaßen auf essayistische Versuche, die weniger den Einzelaspekt fokussieren als vielmehr die Bandbreite der gesellschaftshistorischen und kulturellen Transformationen streiflichtartig beleuchten. Die beiden Autoren vereinen in ähnlicher Weise assoziatives Potenzial und profunde Kenntnisse der historischen Situation, woraus sich kreative Ansätze zum Zeitgeschehen ergeben. In der Forschung werden die Arbeiten, insbesondere Rutschkys, häufig als Impulsgeber aufgegriffen. Im Zentrum der Analyse Rutschkys steht die Annahme einer „Utopie der Unbestimmbarkeit“46, welche die siebziger Jahre kennzeichne. „Diese Utopie, die Sehnsucht nach einem ganz Anderen, das in jeder Fixierung verraten scheint, tritt in den siebziger Jahren besonders kraß zutage in Manifestationen der Subkultur, die mit dem Zerfall, der Auflösung, der Zerstörung der Protestbewegung entstanden ist.“47

Rutschky sieht die Utopie der Unbestimmbarkeit, die sich in zahlreichen „unruhige[n] Suchbewegungen“ sowie „programmatisch verwirrende[n]

43 Sontag: Gegen Interpretation (1964). In: Dies.: Kunst und Antikunst (1968), S. 9–18; hier S. 18. 44 Vgl. Rutschky: Erfahrungshunger (1980) und Ortheil: Köder, Beute und Schatten: Suchbewegungen (1985). 45 Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003), S. 248. 46 Rutschky: Erfahrungshunger (1980), S. 57, 61. 47 Ebd., S. 58.

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Tätigkeiten und Tendenzen“ der siebziger Jahre manifestiere, als „Reversbild jener Utopie der Allgemeinbegriffe“48, die sich Ende der sechziger Jahre entfaltete. Dabei sei es den Vertretern der Utopie der Unbestimmbarkeit nicht möglich, in der so genannten Außenwelt zu leben, sie könnten vielmehr nur im Rückzug daraus bestehen.49 Das Ergebnis der negativen Utopie der Allgemeinbegriffe in den siebziger Jahren sei ein „Unbehagen in der Kultur“ und „massenhafte Melancholie“, die dazu führte, dass ihre Protagonisten beständig die völlige Schematisierung ihres Lebens antizipierten und in diffuse Suchbewegungen nach diesem Leben ausbrachen.50 Daneben betont Rutschky die besondere Bedeutung des 1969 verstorbenen Adorno, dessen zentrale Erfahrungen in den siebziger Jahren präsent blieben, das heißt die historische Erfahrung des Zufälligen der eigenen Existenz im Hinblick auf den Holocaust sowie die daraus resultierende Identitätsbildung durch Negation. In den siebziger Jahren sei der kritische Geist Adornos zum Idiom geworden und auch bei denjenigen präsent, die ihn nie gelesen haben.51 So wie Adorno „in der Entwicklung der unnachgiebig klugen Beschreibung“52 überlebte, führten die Programmatiker der Desorientierung in den siebziger Jahren „ihr Leben als ein Gespräch über dieses Leben“53 – und damit in deutlicher Praxisferne. Wie stellt sich der Erfahrungsbegriff dar, der mit den beschriebenen Suchbewegungen der 1970er Jahre verbunden ist? Eine Erfahrung zu machen und diese auch zu formulieren, sieht Rutschky als zentralen Punkt etwa in der Autobiografie-Form der siebziger Jahre: Schrecken und Schmerz

48 Ebd., S. 68, 69. 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. ebd., S. 97. Vgl. auch ebd., S. 121, 122: Ihren „Erfahrungshunger“ versuchten die Leser dieser Jahre etwa durch Texte zu stillen, die dadurch überzeugten, dass sie Schrecken und Schmerz körperlich über die Schrift mitteilten. Rutschky sieht hierin eine Haupt-Gattung der siebziger Jahre und nennt als ein Beispiel die Erzählprosa Wellershoffs ab 1966. An anderer Stelle, S. 181 beschreibt R. das Charakteristikum einer solchen Literatur auch als „Substitution von Sinn durch Sinnlichkeit“ und führt beispielhaft Peter Handkes Wunschloses Unglück (1972) an, in dem der Autor den Selbstmord der eigenen Mutter schildert. 51 Vgl. ebd., S. 78–81. 52 Ebd., S. 92. 53 Ebd., S. 95.

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bilden ihr Material, nicht Theorie.54 Hierin liegt eine „Erfahrung im emphatischen Sinn“, die sich darstellt als eine „Wendung des Körpers gegen die Begriffe“55 und dennoch erzählbar ist. Die ästhetische, literarische oder künstlerische Erfahrung lässt sich damit verstehen als eine zugleich lebensweltliche, die an das konkrete, sinnliche Erleben anschließt.56 Hanns-Josef Ortheil schließt mit seiner Untersuchung direkt an Rutschky an, allerdings wird hier der Begriff der Utopie der Unbestimmbarkeit durch eine generalisierte „Suchbewegung“ abgelöst. Für ihn seit etwa einem Jahrzehnt in der (hauptsächlich) westdeutschen Literatur nicht mehr zu überhören: „dieses Anrennen, diese knappen Entrückungen, aufbrechenden Ekstasen, plötzlichen Aufbrüche“57. Als „Urchiffre“ beziehungsweise zentralen Impuls der Suchbewegung deutet er Rom, Blicke von Rolf Dieter Brinkmann, obwohl oder vielmehr gerade weil dieser Text nicht nachweislich für die Veröffentlichung vorgesehen war.58 In diesem Schreibprojekt, das seinen Anfang im Oktober 1972 nimmt, zeige sich in eindringlicher Weise das „Schreiben, Krakeln, Zittern, Ankleben“59, die „Schrift des Brüchigen“ und jene „Sprachbewegung“60 des Textes, die für die Suchbewegung charakteristisch sei. Nachgefolgt seien etwa Botho Strauß, Klaus Hoffer, Wolfgang Hilbig, Christa Wolf, Peter Handke, Peter Weiss und Hubert Fichte. Ortheil betont, dass die Texte zu einem Zeitpunkt entstehen, als das besagte Ende der Literatur „beschlossene Sache“61 schien. Doch dieses Ende sei weder durch das ersetzt worden, was Peter Handke vertrat62 noch durch

54 Ebd., S. 229. 55 Ebd., S. 164. 56 Vgl. ebd., S. 264. 57 Ortheil: Köder, Beute und Schatten: Suchbewegungen (1985), S. 19. 58 Vgl. auch ebd., S. 25: Der Initiationscharakter seines Rom-Buches für die Bewegung der siebziger Jahre sei Brinkmann nicht bewusst gewesen – er sei mehr das Opfer seiner Schrift als Herrscher über den Stil. 59 Ebd., S. 19. 60 Ebd., S. 21. 61 Ebd., S. 22. 62 Ortheil bezieht sich damit auf Handkes Protest gegen die „Beschreibungsliteratur“ (S. 22), den er 1966 während einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton äu-

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die Forderungen der Studentenbewegung – weder durch eine Literatur, die auf ihr sprachliches Material bezogen bleibt, noch durch eine politisierte Literatur. Dass sich um diesen Punkt herum eine Suchbewegung generiert, erscheint – so gesehen – nur konsequent. Suche und Neuorientierung werden möglich innerhalb einer Literatur, die von „Offenheit, Öffnung“63 geprägt ist; entsprechend gelten Heinz Ludwig Arnold diese Begriffe als „zur Charakterisierung wesentlicher Teile der Literatur in den siebziger Jahren“64 geeignet. Aktuelle Perspektiven und interdisziplinäre Zugriffe Wie teilweise auch bei Rutschky und Ortheil, so wird in der heutigen Forschung allgemein dem transformatorischen Potenzial des so genannten Wendepunkts 1968 ein besonderer Stellenwert zugemessen. Allerdings, wie Roman Luckscheiter bemerkt: „Eine allgemeingültige Bestimmung, was denn ,1968‘ eigentlich repräsentiere und welche Art der Zäsur es eventuell markiere, gibt es nicht.“65 Ein kritischer Zugang zu den potenziellen historischen Bruchstellen vor und nach der Studentenbewegung erscheint obligatorisch, stiftet jedoch nicht wenig Verwirrung.66 Von Bedeutung ist etwa, wann und in welcher Form eine Politisierung als Antwort auf das politisch

ßerte. Vgl. auch Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 29–34. 63 Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 113. 64 Ebd. 65 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls: ,1968‘ als literaturgeschichtlicher Katalysator. In: Klimke, Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 151–159; hier S. 151. 66 Vgl. etwa Roberts: Erzählungen der Modernisierung. Die Studentenbewegung und der gesellschaftliche Wandel in Deutschland. In: Rosenberg, Münz-Koenen, Boden (Hg.): Der Geist der Unruhe: 1968 im Vergleich. Wissenschaft, Literatur, Medien (2000), S. 61–82. Zu Anfang der 1980er Jahre fragt Roberts bereits, inwieweit die Aufgliederung in eine „Phase der Nachkriegsliteratur im eigentlichen Sinne“ und eine „Phase der neuen westdeutschen Literatur seit 1960“ zu revidieren ist, „indem wir den Hauptakzent von 1960 auf die Protestbewegung und ihre widerspruchsvollen Folgen hin verlagern“, in: Roberts: Tendenzwenden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Jg. 56, Nr. 2 (1982), S. 292.

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enthaltsame Nachkriegsjahrzehnt stattgefunden haben soll, eine Tendenzwende wiederum auf das politische Engagement der sechziger Jahre folgte, die jenes Subjekt wieder neu erstehen lassen sollte, welches in der „Utopie der Allgemeinbegriffe“67 unterdrückt worden war. Es finden sich unterschiedliche Antworten und Positionen, die jeweils nur bedingt zu verallgemeinern sind und sich vielmehr als Differentialdiagnosen für eine tatsächlich vorgefundene Literaturpraxis verstehen lassen. Es ist allerdings eine Verschiebung zu erkennen: vom Anspruch, die Wechselwirkungen politischer, gesellschaftlicher und literarischer Entwicklungen aufschlüsseln und kategorisieren zu können, hin zu einer offeneren Sichtweise, die Transformationen im Bereich der Literatur interdisziplinär aufgreift.68 Die frühe Forschung sieht sich offenbar noch mit dem „uneinheitliche[n] Bild der zwanzig Jahre nach 1960“69 konfrontiert und artikuliert im erst geringen historischen Abstand deutliches Unbehagen an den „handlichen, aber gerade in ihrer Undifferenziertheit bedenklichen Gegensatzpaaren“70, die von den Medien auf die Gesellschaft zurückgeworfen, wenn nicht gar erst evoziert würden. Während etwa der „Sammelbegriff“ Postmoderne Mitte der 1980er Jahre als ein noch wenig verifiziertes Modell erscheint, mit dem primären Zweck, „in der Vielfalt der Strömungen ein einheitliches Periodisierungsmuster freizulegen“71, besteht in der späteren

67 Vgl. Rutschky: Erfahrungshunger (1980), S. 68, 69. 68 Vgl. vor allem hinsichtlich der Bewertung der Protestbewegung und begleitender Prozesse: Klimke, Scharloth: Maos Rote Garden? In: Dies. (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 1–4. Vgl. auch Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart (2012). 69 Roberts: Tendenzwenden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Jg. 56, Nr. 2 (1982), S. 291. 70 Bohnen: Tendenzwende. In: Kontroversen, alte und neue (1986), S. 173. 71 Ebd., S. 177. Vgl. auch Winter: Von der Dokumentarliteratur zur ,neuen Subjektivität‘. In: Seminar, Vol. 17, Nr. 2 (1981), S. 95–113, zur Entwicklung der deutschsprachigen Literatur von den 1960er Jahren bis zum Anfang der 80er Jahre. Prüfung und Verifizierung noch junger Definitionen und Kategorien zum betreffenden Zeitraum überwiegen auch hier – eigene Definitionsversuche zur Dokumentarliteratur und Neuen Subjektivität werden vorgelegt.

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Forschung häufig kein wesentlicher Zweifel mehr am „Konnex zwischen der Chiffre ,1968‘ und dem Konstrukt einer ,Postmoderne‘“72. Nach den achtziger Jahren lässt sich eine Verlagerung von Sichtweisen beobachten, die auch mit einem seit Längerem zunehmenden Interesse für (inter)mediale Phänomene in der Literatur73 zusammenhängen dürfte. Bezüglich der Protestbewegung weisen Klimke und Scharloth darauf hin, dass in den Medienwissenschaften zunehmend die „Dialektik von Selbststilisierung und medialer Inszenierung des Protests und seiner Akteure“ beachtet werde, die „durch eine medienhistorische Schwellensituation ermöglicht wurde.“74 Weitere Autoren geben die Möglichkeiten derjenigen „Lesarten der Literaturgeschichte“ zu bedenken, die sich mehr am medialen Prozess orientieren: „Etwa auch jene, die den gesellschaftlichen Wandel nicht als politischen, sondern als medialen wahrnimmt: Folgt man ihr, so sind auch dann die siebziger und achtziger Jahre weniger durch Gruppierungen, Programme und Stile geprägt, wie sie sich beim Gegensatz der Gruppe 47 zu den konservativen Autoren der fünfziger und sechziger Jahre zeigt, sondern durch kritische bis optimistische Auseinandersetzung mit der Multimedialisierung.“75

72 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. In: Klimke, Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 152. Den Zusammenhang literarischer Krisen und Debatten mit dem Konstrukt der Postmoderne beleuchtet der Autor bereits in seiner Dissertation: Luckscheiter: Der postmoderne Impuls: die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung (2001). 73 Vgl. hierzu Rosenberg: Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich. In: Ders., Münz-Koenen, Boden (Hg.): Der Geist der Unruhe: 1968 im Vergleich. Wissenschaft, Literatur, Medien (2000), S. 153–179, der davon ausgeht, dass die „in der ersten Hälfte der 70er Jahre ergriffenen Initiativen zu einer systematischen Einbeziehung der neuen Medien in die Literaturforschung“ eine „bis heute nicht zum Abschluß“ gekommene Veränderung der Disziplin einleiteten. Literatur komme „unter medialen Aspekten in Betracht“ (170). 74 Klimke, Scharloth: Maos Rote Garden? In: Dies. (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 2. 75 Delabar, Schütz: Serien und Solitäre. In: Dies. (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 9.

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In einem solchen, veränderten Geschichtsverständnis mache darüber hinaus nicht mehr nur die „Linie des Zerfalls der Politisierung“ den Eindruck manifest, dass „mehr Kontinuitäten als Brüche zwischen den Hochjahren der 68er und denen ihrer desillusionierten, pop- und postmodernen Nachfolger bestehen.“76 Das Spektrum der Forschung zu den sechziger und siebziger Jahren, mit dem Kulminationspunkt 1968, umfasst neben den historischen und literaturwissenschaftlichen Zugriffen sozialpsychologische, politische, medienund kulturwissenschaftliche Ansätze, die in unterschiedlichem Ausmaß jeweils aufeinander zugreifen. Mehr oder weniger interdisziplinär ausgerichtete Sichtweisen überwiegen insgesamt. Aus sozialpsychologischer Perspektive nähert sich beispielsweise Angelika Ebbinghaus dem Phänomen 1968, als einem internationalen Geschehen, wobei sie zugleich auf historische und kultursoziologische Sichtweisen zurückgreift.77 Sie fragt nach den Gemeinsamkeiten in den westlichen Industrieländern, die eine Sychronizität der Bewegung möglich machten. Zu diesen „strukturellen Ursachen“78 gehören etwa das Ende des Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg und die weltweite Rezession Anfang der 1970er Jahre, die Studenten- und Arbeiterproteste evozierte. Hinzu kamen der Anstieg der Studierendenzahlen und der dadurch bedingte Wandel von der Eliteanstalt Hochschule zur „Massenuniversität“79. Die linke bis

76 Ebd., S. 9. Dieses Zitat greift auch Luckscheiter auf, der die Literaturgeschichtsschreibung vor der Herausforderung sieht, „neben der Politisierung ihres Gegenstandes um 1968 andere Faktoren auszumachen, mittels derer ›1968‹ als Bezeichnung eines Modernisierungsschubes lesbar wird“. Er bezeichnet die Schlagworte „Politisierung“ und „Neue Subjektivität“ zwar nicht als falsch, sieht jedoch die Dominanz dieses Erklärungsmusters, „wonach im Laufe der 1970er Jahre auf die heiße Phase der Politisierung eine regressive ›Neue Subjektivität‹ und dergleichen gefolgt sei“ kritisch, da es die „tatsächlichen Impulse“ verfehle, die von 1968 ausgingen. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. In: Klimke, Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 151. 77 Ebbinghaus: Die Bewegungen der 68er. In: Internationale Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik, Jg. 33, Nr. 1 (2008), S. 28–44. 78 Ebd., S. 29. 79 Ebd., S. 30.

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linksradikale Orientierung der 68er-Generation führt die Autorin auf diesen Wandel zurück, während „in früheren Zeiten die Intelligenz meist politisch konservativ bis rechts eingestellt war“80. Als dritten strukturellen Faktor führt sie die Dekolonisierungsprozesse der 1950er und frühen 1960er Jahre an, die jene Generation als Thema aufgegriffen habe. Das eigentlich Sozialpsychologische dieses Ansatzes wird deutlich, wenn im Anschluss Einstellungen und Mentalitäten – wie „individualistisch und demokratisch, libertär und sozialistisch“81 – skizziert werden, die international, vor allem in der „New Left“82-Bewegung, zum Ausdruck kamen. Als ein wichtiges Deutungsangebot greift die Autorin die kultursoziologisch angelegte Bewegungsforschung der Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey auf. Ein verstärkter interdisziplinärer Austausch wird jedoch in der germanistisch-literaturwissenschaftlichen Forschung nicht durchgehend als unproblematisch verstanden, sondern regelmäßig auch mit dem Einwand einer „philologischen Gegenstandslosigkeit“83 bedacht. Vor allem eine Zurückhaltung bezüglich der Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Politik und Literatur sowie, allgemeiner, Gesellschaft und Literatur ist bemerkbar. Diese Zusammenhänge werden dabei schon mit den erwähnten Begrifflichkeiten, wie Politisierung, Tendenzwende oder Neue Subjektivität angesprochen, die eine disziplinär unklare, zumindest partiell politische Genese aufweisen. Sie laufen notwendig auf die Frage hinaus, was hiermit im literarischen Fokus, in der literaturwissenschaftlichen Analyse gemeint sein kann.84 Doch die Frage nach den Kennzeichen des Literarischen beantwortet sich hier offenbar nicht auf dem Wege der Textimmanenz. Schon mit dem Begriff der Postmoderne, den Leslie Fiedler 1969 für die Literatur

80 Ebd. 81 Ebd., S. 31. 82 Ebd., S. 33. 83 van Laak, Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft – interdisziplinär (2010), S. 7. 84 Moritz Baßler resümiert in seiner Herausgeberschrift zum New Historicism treffend: „Ein Kunstwerk in seiner Zeit zu sehen, eine bestimmte Schreibweise mit ihrem historischen Ort auf eine Weise zu vermitteln, die nicht banal anmutet, ist inzwischen auch bei uns [in Deutschland, Anm. d. Verf.] das methodisch heikelste Problem jeder Interpretation.“ Baßler (Hg.): New Historicism (2001), S. 9.

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ausrief85, ist ein großes Spektrum an Disziplinen, unter anderen Architektur, Malerei, Philosophie und Soziologie, verbunden. Postmoderne, verstanden im Sinne einer „allgemeinen Grundverfassung“, bestimmt nach Welsch die „Breite der Lebenswirklichkeit“86. Der bestehende Zusammenhang von Postmoderne, Studentenrevolte und Literaturdebatten, wie ihn etwa Luckscheiter87 diskutiert, gibt ein interdisziplinäres, unter verschiedenen Vorzeichen kontextualisierendes Verständnis gleichsam vor. Ein solches Verständnis wirkt sich fraglos auch in der Analyse konkreter literarischer Texte aus. Insbesondere aber dort, wo literarische Akteure und politischer Impetus aufeinandertreffen, wie etwa Henning Marmulla mit seiner umfassenden Studie zu Enzensbergers Kursbuch gezeigt hat.88 Interdisziplinarität entwickelt möglicherweise gerade als unmarkiertes Verfahren ein besonderes Potenzial, das heißt, indem sie zwar ihre Quellen und Bezugstexte darlegt, auf eine durchgehende disziplinäre Abgrenzung aber verzichtet. So werden literarische und ästhetische Aspekte bekanntlich in unterschiedlichen Disziplinen, im Rahmen einer Darstellung historischer Gesamtphänomene, tangiert. Als Beispiel wäre wiederum der zeitgeschichtliche, kultursoziologisch orientierte Ansatz von Ingrid Gilcher-Holtey zu nennen, der politische Ereignisse und literaturhistorische Prozesse als Teilbereiche sozialer Bewegungen nicht trennt, sondern vielmehr unter dem soziologischen Feldbegriff Bourdieus zusammenführt.89

85 mit dem bekannten Aufsatz Cross the Border – Close the Gap, der 1969 zuerst im Playboy erschien; zugleich der Titel des Vortrages, den Fiedler 1968 an der Universität Freiburg hielt. Welsch: Unsere postmoderne Moderne (2008), S. 15, sieht bereits in der Veröffentlichungspraxis eine „Grenzüberschreitung“, die als „Programm dieser Literatur […] zugleich ein Verfahren der sie propagierenden Literaturkritik [war]“. 86 Welsch: Unsere postmoderne Moderne (2008), S. 5. 87 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls: die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung (2001). 88 Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68 (2011). 89 Vgl. etwa Gilcher-Holtey: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 2 (2004), S. 207–232; sowie Gilcher-Holtey: Transformation durch Partizipation? Die 68er Bewegung und die Demokratisierung der literarischen Produktionsverhältnisse In: Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik, Organisation (2006), S. 205–233;

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Dass es dabei keineswegs um eine Unterschlagung literarischer Eigengesetzlichkeiten geht, ist ebenso deutlich bei Axel Schildt, der sich primär sozialgeschichtlich mit den 1970er Jahren befasst. Die Bemerkung, dass die „literarischen Phänomene“ eine „eigene Analyse“ verdienten, ist der Beobachtung hinzugefügt, dass die „Rehabilitierung des Konservativen“ in dieser Zeitperiode sowohl Politikern als auch Philosophen und Literaten zuzuschreiben ist, die „nun den Begriff ,konservativ‘ für ihre jeweilige Ideenwelt [reklamierten].“90 Er konstatiert „[a]uf der einen Seite das Vordringen marxistischen und sozialistischen Gedankenguts auf dem Buchmarkt, befördert durch namhafte bürgerlich-liberale Verlage bis zur Mitte der 1970er Jahre, auf der anderen Seite, und zwar zum Teil durch die gleichen Verlage transponiert, zu eben diesem Zeitpunkt das Aufblühen einer ,neuen Subjektivität‘, irrationalistischer und esoterischer Strömungen. Einen sensationellen Erfolg […] erzielte der feministische ,Wandlungs- und Umkehrroman‘ von Karin Struck, die sich darin als Arbeitertochter im linken Lager vorstellte und eine ,Neue Sensibilität‘, gekennzeichnet von Unmittelbarkeit, Gefühlsbetontheit und Ungehemmtheit propagierte. Wie unter den Professoren lassen sich auch unter den Literaten nicht wenige finden, die solche neuen zeitgeistigen Tendenzen artikulieren, etwa Hans Magnus Enzensberger, Peter Schneider oder Botho Strauß.“91

Dass in einem „komplizierten Gemengelage von Lebensstil- und Wertewandel, gesellschaftlicher Modernisierung, partieller Liberalisierung sowie politischen Interessen und Deutungskämpfen“92 die Literatur und ihre Prozesse aus dem gesellschaftspolitischen Geschehen nicht auszulagern sind, ist kaum anzuzweifeln. Eine zunehmende „Hinwendung zu symbolischen

und Gilcher-Holtey: Die APO und der Zerfall der Gruppe 47. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25 (2007), S. 19–24. 90 Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 44 (2004), S. 461. 91 Ebd. Schildt verweist bezüglich der Charakterisierungen zu Strucks Roman auf Jost Hermand: Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965–1985 (1988). 92 Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 44 (2004), S. 478.

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Formen und semiotischen Praktiken“93 auch in der Geschichtswissenschaft ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich. Andersherum dürften ebenso wenig die gesellschaftspolitischen Ereignisse aus der Beobachtung literarischer Prozesse auszulagern sein – auch und gerade dann nicht, wenn es um deren Eigengesetzlichkeit geht. Ein Unbehagen am Politischen hat jedoch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus seine Berechtigung, wenn man eine Fehldeutung in den Blick nimmt, die impliziert, dass Literatur als Ausdruck oder schlicht als Kondensat des Politischen figuriere. Dies ist fraglos ein Missverständnis, das einen gewissen Rechtfertigungsdruck auf diejenigen ausübt, die sich im Rahmen germanistischer und literaturwissenschaftlicher Untersuchungen von ihrem Gegenstand (vermeintlich) entfernen. Wenn etwa der Germanist Roman Luckscheiter mit seiner Analyse von Bernward Vespers Die Reise den Anspruch verfolgt, „sowohl die sozialhistorischen und ideengeschichtlichen Bezüge als auch die genuin literarischen Strategien erkennbar werden [zu lassen], die die Verbindung von revolutionärem Impetus und postmodernem Impuls herstellen“94 , wird nicht nur eine methodische Zielsetzung vermittelt, sondern ebenso ein potenzielles Missverständnis insinuiert. Es gehe ihm nicht darum, im Anschluss an die theoretische Aufarbeitung historischer Literaturdebatten und PostmoderneKennzeichen, nun „eindimensional“ deren „Niederschlag“95 im literarischen Beispiel aufzuspüren. Dabei hat auch das so genannte genuin Literarische möglicherweise historische, gesellschaftliche, politische Implikationen, die aber als solche gar nicht zu kennzeichnen wären.96 Dies soll auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit beachtet werden: Wenn hier produktionsästhetische Kategorien (Subjekt, Material, Medium) strukturierend in der Analyse eingesetzt werden, so wird damit nicht zugleich behauptet, es gehe um ein genuin Literarisches im Sinne einer von gesellschaftshistorischer Prozessualität strikt zu separierenden Eigengesetzlichkeit.

93 Klimke, Scharloth: Maos Rote Garden? In: Dies. (Hg.): 1968. Handbuch (2007), S. 3. 94 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls (2001), S. 120. 95 Ebd., S. 119. 96 Vgl. den bereits zitierten Einwand gegen einen möglicherweise „determinierenden Charakter“ (81) bei Voßkamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), S. 73–85.

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Schließlich dürfte Eigengesetzlichkeit erst in Wechselwirkung mit einer breiteren Ausgangsperspektive, wie sie auch im Rahmen dieser Arbeit eingenommen wird, überhaupt bestimmbar werden. Dass eine grundlegende, disziplinäre Offenheit auch die Möglichkeiten des einzelnen Fachgebietes erweitert, ist kaum Streitpunkt. Inwieweit Abgrenzung hierbei notwendig ist, hingegen schon. Die Auffassung, dass allgemein eine „interdisziplinäre Zusammenarbeit zu einer disziplinären Selbstverständigung beitragen“97 kann, impliziert immer auch die hohe Bedeutung von „Fachidentität“ und „Disziplinarität“98. Erika Fischer-Lichte geht etwa davon aus, dass „Fragen nach der Identität“ wissenschaftlicher Disziplinen vorrangig dazu dienten, Strategien der „Ab- bzw. Ausgrenzung“ sowie Strategien der „Einverleibung“99 zu legitimieren – jenseits dieser Zwecke seien sie jedoch „weitgehend überflüssig“100 bis obsolet. Maßstab der Forschung solle vielmehr sein, innovative Fragen zu stellen und innovative Antworten zu finden, wie dies, „im Zuge postmodernen Denkens“101, zunehmend von inter- und transdisziplinären Ansätzen erhofft werde. Die Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften habe zwar einen Wissensschub befördert, zugleich aber im selben Maße Diskussionen um Rolle und Funktion der Fächer ausgeweitet, indem diese „sich in engen Spezialstudien verlieren, die außerhalb des sie hervorbringenden Faches bzw. Spezialgebietes keinerlei Relevanz besitzen“102. Dass eine derartige Verengung in den disziplinären Auseinandersetzungen mit der hier betrachteten Zeitperiode von verschiedenen Seiten nicht mehr als zeitgemäß angesehen wird, dürfte bereits deutlich geworden sein. Die von Fischer-Lichte entworfene Interdisziplinarität soll mithin nicht als Einverleibungsstrategie missverstanden werden, sondern „[b]ei dieser Art von Interdisziplinarität erübrigen sich also fachpolitische Überlegungen und Forderungen, die – in welcher Weise auch immer – auf die eigene dis-

97

van Laak, Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft – interdisziplinär (2010), S. 8.

98

Ebd., S. 9.

99

Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative (2001), S. 269.

100 Ebd. 101 Ebd., S. 271. 102 Ebd., S. 270, 271.

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ziplinäre Identität bezogen sind. Vielmehr treten spezifische Probleme in den Vordergrund, die von verschiedenen Disziplinen – wenn auch aus der jeweiligen Perspektive jeweils anders formuliert und begründet – als vorrangig angesehen werden, ohne jedoch von einer einzelnen allein befriedigend gelöst werden zu können.“103

Auf die Frage nach der disziplinären Identität geht auch Helmuth Kiesel ein. In seiner Auseinandersetzung mit Literatur und Politik in der Bundesrepublik spielt die Vorstellung von einem Niederschlag des Politischen im Literarischen keine Rolle mehr. Die Literatur als auch „[p]olitisches Medium“104 entfernt sich hier nicht nur vom Unterlegenheitsverdikt, sondern ist sogar zu einer „Umkehrung der Machtverhältnisse“105 zwischen Politik und Literatur in der Lage. Kiesel betont, dass die Politik für zahlreiche Autoren nach 1945 zum entscheidenden Bezugspunkt der Literatur wurde; in keiner Periode der deutschen Geschichte vor der Bundesrepublik sei „der Einfluss auf die Entwicklung der basalen politischen Kultur wie der ephemeren politischen Stimmungen“106 vergleichbar groß gewesen, was es auch legitim mache, den politischen Aspekt in der literaturhistorischen Perspektive unterzubringen. Das „Verhältnis der Literatur zur politischen Kultur der Bundesrepublik“107 sei bekanntermaßen bis in die sechziger Jahre sehr kritisch geblieben, angefangen mit dem Vorwurf einer „restaurativen“108 Politik, der von Hans Werner Richter und der Gruppe 47 ausging, sich aber nachträglich als Fehleinschätzung erkennen lasse. Die bereits erwähnte „Umkehrung der Machtverhältnisse“109 erläutert Kiesel schließlich an vier Fällen, in denen es zur Auseinandersetzung zwischen einem bekannten Politiker und einem Schriftsteller kam, sowie den darauf folgenden Ereignissen, die zeig-

103 Ebd., S. 271. Für die von Fischer-Lichte entworfene Interdisziplinarität, die gerade „nicht als Einverleibungsstrategie geplant“ (ebd.) sei, gibt mithin auch die Sammelpublikation von van Laak, Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft – interdisziplinär (2010) einige Beispiele. 104 Kiesel: Literatur und Politik in der Bundesrepublik. In: Die Politische Meinung, Jg. 51, Nr. 438 (2006), S. 59–69; hier S. 61. 105 Ebd., S. 65. 106 Ebd., S. 59. 107 Ebd., S. 65. 108 Ebd., S. 64. 109 Ebd., S. 65.

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ten, dass das Wort des Schriftstellers schwerer wog: „Angriffen, die im Namen einer hohen, wenn auch praxisfernen Moral geführt werden, ist schwer zu begegnen“110. Besonders, wenn die Äußerungen über Politiker im Rahmen literarischer Werke geschehen, zeigt sich die „Asymmetrie“111 des Verhältnisses, die im Grundgesetz ihr Fundament hat.112 Dort ist festgelegt, dass die Kunst einer strafrechtlichen Sanktionierung nicht unterzogen werden darf, stattdessen Wertung und Beurteilung ihrer Produkte der kritischen Öffentlichkeit obliegen. Die „Freiheit des [literarischen] Diskurses“113 ist weithin bekannt; um sie geht es an dieser Stelle auch nicht. Kiesels Darstellung führt allerdings eine wichtige Facette der weiter oben diskutierten, literarischen Eigenständigkeit vor Augen; denn was in dem besagten Missverständnis einer Literatur als Kondensat, Spiegel oder Trägermedium des politischen Diskurses mitschwingt, ist eine pejorative Sichtweise, ein Verständnis der Literatur als sekundär oder marginal. Hier hingegen werden historische Prozesse beschrieben, die Gegenteiliges belegen oder zumindest von einem jeweils auszuhandelnden Machtverhältnis zeugen, innerhalb dessen Über- oder Unterlegenheit, Rederecht und Deutungshoheit sowie die Richtung der Beeinflussung nicht von vornherein festgelegt sind. Es wäre zu diskutieren, ob die von Fischer-Lichte angesprochenen, disziplinären Ab- und Ausgren-

110 Ebd., S. 66. 111 Ebd., S. 67. 112 Dies erläutert Kiesel am Beispiel von Günter Grass’ Ein weites Feld (1995), worin der Autor mit der Wiedervereinigungspolitik des damaligen Kanzlers Kohl abrechnet und im Zuge dessen auch auf den 1991 von der RAF ermordeten Treuhandchef Detlev Rowedder eingeht. Rowedder wird als Kohls „Pappkamerad“ bezeichnet, Kohl selbst hingegen „war nie zu treffen, was schrecklich genug ist“. Angesichts der tatsächlichen Ereignisse bezeichnet Kiesel die Auslegungsmöglichkeiten als zumindest prekär, dennoch habe sich Kohl nicht an den Staatsanwalt gewandt, was ihm ohnehin nicht genutzt hätte. Auf der anderen Seite nennt Kiesel Beispiele für verbale Angriffe von Politikern auf Schriftsteller, die hingegen Stürme der Entrüstung auslösten und als böse Entgleisungen im Gedächtnis (oder sogar in den Literaturgeschichten) blieben, z.B. Ludwig Erhards „Pinscher“-Vorwurf gegen Rolf Hochhuth 1965. Vgl. ebd., S. 65 u. 66. 113 Ebd., S. 67.

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zungsstrategien sowie eine hiermit verbundene Verteidigung des eigenen Gegenstandsbereiches, sich nicht auch deshalb aufzulösen beginnen, weil diese Beobachtung zunehmend ins Bewusstsein tritt. Insofern bedeutet Eigenständigkeit allererst Autonomie der Rede, nicht aber eine Ablösbarkeit von Phänomen, Ereignissen und Prozessen, die in den primären Gegenstandsbereich fremder Disziplinen fallen. Um eine Autonomie der Beschreibbarkeit kann es folglich nicht gehen. Um Autonomie geht es ganz offensichtlich auch, wenn Komposita wie Gegenkultur oder Gegenbewegung im Kontext der Literatur um und nach 1968 auftauchen. Konzeptuell verweisen diese Begriffe auf den Handlungscharakter der Kunstform Literatur, die in ihrer Selbstständigkeit gleichberechtigt neben anderen Handlungsräumen und -formen steht, wie sie etwa Politik und Wissenschaft darstellen. Roman Luckscheiter bemerkt hierzu, dass „ein Zugang zur kulturellen Dimension der Protestbewegung, der sich aus dem soziologischen Konzept der Sub- bzw. Gegenkultur speist“ besonders „fruchtbar“114 sei. Schon bei Adorno erscheint Kunst immer als gegen etwas gerichtet und setzt sich konsequent gegen die gewohnten Verstehensformen ab, im Sinne einer „Negativitätsästhetik“115. Möglicherweise greift Kluge mit den Begriffen „Gegenprogramm“ beziehungsweise „Gegenöffentlichkeit“ oder „Gegengeschichten“ dieses Konzept auf.116 Hanns-Josef Ortheil spricht von „Gegentexten“117 und Handke nennt Literatur eine „Gegenwirklichkeit“118. Renate Matthaei weist auf die „Gegenkultur“ der Wiener Gruppe hin sowie auf die Gruppe 61 als „Gegenor-

114 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. In: 1968. Handbuch (2007), S. 152. Hierbei weist er darauf hin, dass der Begriff Gegenkultur erst zu Anfang der 1970er Jahre in Umlauf kam, wohingegen die Bezeichnung Subkultur schon früher geläufig war. 115 Vgl. Bertram: Kunst (2005), S. 142. Siehe auch Adorno: Ästhetische Theorie (2003), S. 15: „Noch das sublimste Kunstwerk bezieht bestimmte Stellung zur empirischen Realität, indem es aus deren Bann heraustritt, nicht ein für allemal, sondern stets wieder konkret, bewußtlos polemisch gegen dessen Stand zur geschichtlichen Stunde.“ 116 Vgl. etwa Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode (1975), S. 201, 222. 117 Ortheil: Suchbewegungen (1985), S. 24. 118 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 204.

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ganisation“ zur Gruppe 47 und spricht allgemein von „Gegenliteratur“.119 Nicht nur bei den Literaten selbst also, sondern auch im Rahmen des beschreibenden und forschenden Zugriffs auf Literatur tauchen verschiedenste Gegen-Wortschöpfungen auf, die die literarischen Produkte der Zeit charakterisieren.

1.2 Z UR AUSWAHL DER AUTOREN B RINKMANN , K LUGE UND H ANDKE Geteilte Erfahrungshorizonte? Zur Suche nach einer neuen Ästhetik Deutlich ist, dass die literarischen Produkte der 1970er Jahre auch im Kontext der in den vorigen Kapiteln skizzierten kulturellen Prozesse und Transformationen gesehen werden müssen. Nicht nur die erwähnte literaturprogrammatische Vielfalt und konzeptuelle Veränderungen in der Kunst sind hier wichtig: Zahlreiche historische Entwicklungen führten zur Auflösung oder Veränderung bisher gültiger Bedeutungsmuster, die unter anderem Sexualität und Moral, Familientradition und Geschlechterrollen, sowie auch die Medialisierung des Alltags betrafen. So trat etwa 1957 in der Bundesrepublik das Gleichstellungsgesetz in Kraft, das die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe, zum Beispiel in Bezug auf Kindererziehung und Erwerbstätigkeit der Frau, förderte. Im Vergleich zur vorherigen Gesetzeslage, war nun also eine Situation gegeben, die Emanzipationsbestrebungen zumindest erleichterte. Die Einführung der Antibabypille in Westdeutschland 1962 trug hierzu ebenso bei, indem sie die Selbstbestimmung der Frau sowie die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung vereinfachte. Die zunehmende Befreiung von konservativen, moralisch-sittlichen Restriktionen und die Neukonstituierung des weiblichen Selbstverständnisses veränderten auch den öffentlichen Umgang

119 Matthaei: Grenzverschiebung (1970), S. 38 u. a. Von Kunst als „Gegenstrategie“ – Bezug nehmend auf Viktor Šklovskij – spricht auch Wellershoff: Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Poetik und Hermeneutik, Nr. 6 (1975), S. 219–234; hier S. 219.

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mit Sexualität.120 Film, Fernsehen und Presse brachten die sexuellen Reize an die Oberfläche, was wiederum auf das Privatleben der Zeitgenossen zurückwirkte. Die Tatsache, dass sich das Fernsehgerät Anfang der 1960er Jahre zum Massenmedium entwickelte121, stellt sicherlich einen wesentlichen Faktor der Alltagsmedialisierung dar, die insbesondere von Rolf Dieter Brinkmann immer wieder problematisiert wurde. Der offensivere Umgang mit Weiblichkeit sowie eine gleichzeitige, zunehmende Kommerzialisierung und Medialisierung des Alltags scheinen den Autor sowohl fasziniert als auch irritiert zu haben. Besonders lässt sich dies im Godzilla-Zyklus von 1968122 sowie auch in dem Roman Keiner weiß mehr (1968) und dem späten Text Rom, Blicke (1979) erkennen. Die Themen Gleichberechtigung und Frauenbewegung als inhaltlichen Fokus bei Brinkmann herauszustellen, ist meines Erachtens allerdings verfehlt123 – vielmehr geht es um den Zwiespalt, der sich für Brinkmann aus der teils gewünschten, teils erzwungenen Neuorientierung in einer sich radikal verändernden Gesellschaft ergibt. Dabei stellt der Autor die zunehmende Präsenz von Sexualität und den kapitalistischen Verwertungszwang in seinen Büchern häufig als besonders aufdringliche, mitunter auch bedrohliche Aspekte des Fortschritts heraus.

120 Vgl. auch den provokativen Essay von McLuhan, Leonard: Die Zukunft der Sexualität. In: Brinkmann, Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene (1983), S. 368–376, wo es u. a. heißt: „Wie die Atombombe alle Ländergrenzen aufhob, so fegt die Pille alle Begrenzungen der Sexualität hinweg. Die Pille macht die Frau zu einer Sexbombe. Geschlechtslust und Fortpflanzung sind endgültig trennbar. […]. Wirkliche Gleichwertigkeit der Sexualtriebe ist gewährleistet und wird die Geschlechter einander annähern: Gleiche verstehen sich besser.“ (S. 373) 121 Vgl. hierzu etwa Matejovski: Operation Bildersturm. In: Ders. (Hg.): Neue, schöne Welt? Lebensformen der Informationsgesellschaft (2000), S. 178–203. 122 In: Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962–1970 (1980), S. 160-182. 123 Wenn Brinkmann sich auch über das „westdeutsche Emanzipiertengehabe“ ereifert. Vgl. Brinkmann: Rom, Blicke (1979/2006), S. 270. Vgl. auch Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk (2005) zur neuen Intermedialität bzw. zum „iconographic turn“. Moll sieht in der wiederkehrenden „Trias Sex-Geld-Tod“ (in Rom, Blicke) Ähnlichkeiten mit der barocken Emblematik.

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Auch dem Literaturbetrieb steht Brinkmann um 1968 skeptisch gegenüber. Vielversprechend erscheinen ihm einzig die popkulturellen und postmodernen Ideen, die sich seinerzeit in den USA entwickeln. Mit dem Übersetzungsband Acid beteiligt er sich 1969, gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla, an deren Popularisierung in Deutschland. Die Option auf politisches Engagement geht mit seinem Literaturkonzept jedenfalls nicht zusammen und die Positionen Enzensbergers sind ihm, der sich gegen jegliche Vereinnahmung und (politische) Programmatik zu sperren versucht, völlig fremd. Mit seiner offenen Rebellion gegen Traditionen und Autoritäten will er allerdings manchmal nur allzu gut zur 68er-Bewegung passen.124 Er selbst wundert sich, so notiert er in Rom, Blicke, wer seine Bücher unter dem Arm trug.125 Für die Autoren Handke und Kluge kann man ähnlich Zwiespältiges feststellen. Peter Handke wird seit seinem Auftritt während der vorletzten Tagung der Gruppe 47 in Princeton (1966), bei dem er gegen die Konventionen verstieß, im weiteren Kontext der 68er wahrgenommen. Dabei solidarisiert auch er sich zu keinem Zeitpunkt mit der Protestbewegung oder mit der Außerparlamentarischen Opposition, die das anschließende, letzte Treffen der Gruppe mit Protesten begleitet. Die Frequenz, mit der sein State-

124 etwa mit dem leider undokumentierten Auftritt bei einer Podiumsdiskussion in der Westberliner Akademie der Künste im Herbst 1968, als er den Literaturkritikern Marcel Reich-Ranicki und Harald Hartung entgegenruft: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen.“ Vgl. z. B. Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970 (2010), S. 239f; sowie Reich-Ranicki: Fragen Sie Reich-Ranicki. Gibt es eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Renaissance? In: FAZ, Feuilleton vom 28.05. 2005,

URL:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-sie-reich-

ranicki/fragen-sie-reich-ranicki-gibt-es-eine-rolf-dieter-brinkmann-renaissance -1235212.html (Zugriff am 05.05.2013). 125 Vgl. Brinkmann: Rom, Blicke (1979), S. 325: „[D]er Schwulen-Hokuspokus, der Pop-Hokuspokus (ich stellte mir darunter etwas sehr anderes vor als wie es sich gezeigt hat in den Auswirkungen, das betrifft auch meine Publikationen zu der Zeit – es hat mich ungeheuer erschreckt, als ich sah, welche Typen meine Bücher unterm Arm hatten […].“

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ment, der Vorwurf der „Beschreibungsimpotenz“126, abgerufen wird, erzeugt beinahe den Eindruck, er habe die Gruppe selbst „zu Fall gebracht“127 oder zumindest den wesentlichen Impuls hierzu gegeben. Dabei hält er sich von politischen Parolen fern; Politisches versteht er, insofern es überhaupt in die Literatur gehört, als Poetisches. Seine Haltung zum Engagement und sein Verständnis des Politischen128 an und in der Literatur sind alles andere als unkompliziert. Entsprechend brachte man ihm auch mal mehr von politisch rechter, mal mehr von linker Seite Sympathien entgegen. Alexander Kluge, der seine linkspolitische Ausrichtung offen kommuniziert, insbesondere in Texten wie Öffentlichkeit und Erfahrung (1973, gemeinsam mit Oskar Negt), ist zugleich von jeder greifbaren Parole weit entfernt. Unter anderem die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974) vermitteln ein gespaltenes Verhältnis zur 68er-Bewegung. Dieses dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass „Kluge sich nie der Illusion hingegeben [hat], dass sich gesellschaftliche Strukturen innerhalb kürzester Zeit nachhaltig verändern ließen“129, wie Christian Schulte bemerkt. Christoph Zeller konstatiert in einer aktuelleren Studie, dass Kluges Werke „im Allgemeinen jener Tendenz zur Politisierung zugeschlagen [werden], die sich seit Mitte der 1960er Jahre verselbständigte und unter dem Begriff des Engagements hervortrat“130 und sieht hierin zugleich einen entscheidenden Fehlschluss, infolge dessen der Blick auf die künstlerisch-experimentellen Aspekte des Werkes verstellt werde. Allein Kluges Nähe zu Adorno, der der engagierten Kunst stets skeptisch gegenüber stand, deute schon auf das Missverständnis hin. Helmut Heißenbüttel habe Kluge in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen nicht zufällig, sondern treffend im Kontext modern-

126 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 29. 127 Gilcher-Holtey: Was kann Literatur und wozu schreiben? In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 2 (2004), S. 207–232; hier S. 216. Gilcher-Holtey zitiert hier Grass. 128 Vgl. etwa die Aufsätze Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms; Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA; Die Literatur ist romantisch. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 19–28; 29–34; 35–50. 129 Schulte: Alexander Kluge. Praktiker des Eigensinns. URL: http://www.goethe. de/ges/pok/dos/dos/ wdp/ges/ (Zugriff am 18.03.2013) 130 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 93.

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experimentellen Erzählens verortet. Bezug nehmend auf Kluges Lebensläufe (1962) betont Zeller: „Kluges früheste Texte sind Formexperimente, die gewohnte Redeweisen in einen politischen Kontext transferieren und den journalistischen Bericht, die Sprache der Psychoanalyse, die Aktennotiz, das Bekenntnis, die wissenschaftliche Analyse, die literarische Skizze und den Jargon des Militärs miteinander kombinieren.131 Indem Kluges Lebensläufe das Material der Literatur – die Sprache – hervorheben, bestätigt sich ihr autonomer ästhetischer Status. Kluges Texte sind politisch aufgrund ihrer Literarizität und nicht etwa durch ihren vordergründigen Anspruch auf gesellschaftliche Veränderungen, wie ihn die engagierte Literatur der späten 1960er Jahre erhob. Engagiert sind Kluges Lebensläufe allein als Kunst.“132

Darüber hinaus nehmen die anspruchsvollen Texte immer einen gewissen Sonderstatus innerhalb literaturgeschichtlicher Darstellungen ein: Sowohl in der Kommunikation des Historisch-Politischen, als auch in der breiten perspektivischen Auffächerung liegen besondere Herausforderungen an den Rezipienten. Lassen sich dennoch klarere Einteilungen vornehmen, die den allgemein beobachtbaren Tendenzen folgen? Von politisierten Autoren im Sinne eines Böll oder Enzensberger kann man bei Brinkmann, Handke und auch bei Kluge jedenfalls nicht sprechen.133 Daneben markieren die häufig für Brinkmann und Handke abgerufenen Schlagworte Neue Innerlichkeit oder Neue Subjektivität134 zugleich eine deutliche Abgrenzung vom Werk Kluges, die allerdings bei genauerem Hinsehen zu undifferenziert ist.

131 Ebd., S. 98. 132 Ebd., S. 99. 133 Wodurch nicht suggeriert werden soll, diese (in der Literaturgeschichtsschreibung häufige) Zuschreibung sei bei Böll, Enzensberger und anderen im Einzelfall nicht zu diskutieren. 134 Vgl. hierzu allgemein, sowie mit Bezug auf u. a. Handke und Brinkmann, Gnüg: Was heißt ,Neue Subjektivität‘? In: Merkur, Jg. 32, Nr. 1 (1978), S. 60– 75, zum Zusammenhang der Phänomene einer neuen Subjektivität, neuen Sensibilität und eines „neue[n] Realismus der Welterfahrung als Selbsterfahrung“ (74); sowie Kreuzer: Neue Subjektivität. Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. In: Durzak (Hg.): Deutsche Gegenwartsliteratur: Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen (1981), S. 77–106; Rit-

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Es bleibt zu fragen, worin nun also die tragende Verbindung zwischen den drei Autoren besteht beziehungsweise was eine vergleichende Analyse fruchtbar macht. Wichtig ist zunächst, dass alle Autoren in den 1960er (Brinkmann vorrangig) und 1970er Jahren eine besondere Publikationsdichte aufweisen und in dieser Zeitperiode ihren Bekanntheitsgrad jeweils auffallend erweitern. Gemeinsam ist ihnen die Suche nach neuen Formen ästhetischer Erfahrung und insgesamt nach neuen Möglichkeiten der Darstellung. Die Intermedialität135 stellt ein wichtiges Experimentierfeld bei dieser Suche dar, die angetrieben wird von dem Wunsch, subjektive Erfahrung und objektive Lebenswirklichkeit in ein neues, fruchtbares Verhältnis zu setzen: Relationen von Ich und Welt, Subjektivität und Faktizität, Individuum und Gesellschaft, von internen und externen Erfahrungsangeboten, Erzählung und Dokumentation, Erlebnis und Vermittlung bilden dessen Facetten. Intermediale Verfahren werden in Anspruch genommen, um neue ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten zu entwickeln. Versuche oder auch erfolgreiche Vorstöße in Theater, Film, Hörspiel, Fotografie stehen nicht gesondert neben der literarischen Arbeit an Prosa- und Lyriktexten, sondern ergeben gemeinsam mit diesen neue Formen des Literarischen, die zu besonderen Herausforderungen auf Seiten der Literaturwissenschaft führen. Eine strikte Trennung der Vermittlungsformen in literarische, bildliche, filmische und auditive ist problematisch oder teils unmöglich. Dies gilt in verschiedener Hinsicht für alle drei Autoren, wenn auch die in Anspruch

ter: Die Neue Innerlichkeit – von innen und außen betrachtet (Karin Struck, Peter Handke, Rolf Dieter Brinkmann). In: Kontext 1. Literatur und Wirklichkeit (1976). S. 238–257; Drews: Selbsterfahrung und Neue Subjektivität in der Lyrik. In: Akzente, Jg. 24, Nr. 1 (1977), S. 89–95. 135 Begriffsverwendung nach Irina Rajewsky: Intermedialität (2002), S. 19ff, S. 199ff. Rajewky definiert Intermedialität allgemein als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“. Sie verwendet den Begriff Intermedialität zugleich als Oberbegriff für die drei Phänomenbereiche des Intermedialen: Medienkombination, Medienwechsel und intermediale Bezüge. Der häufig angewandte Begriff „Multimedialität“ wird einerseits als „Medienwechsel“ (Bsp.: Literaturverfilmung), andererseits als „Medienkombination“ (Bsp.: Fotoroman) im Sinne von Multimedia verstanden und fällt demnach ebenso unter den Oberbegriff „Intermedialität“.

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genommenen Medien sich jeweils unterscheiden. Das augenfälligste Beispiel für eine Verschmelzung primär differenter Medien liefern die TextBild-Kombinationen in den literarischen Arbeiten. Die fast gleichaltrigen Autoren Handke und Brinkmann bleiben dabei vorrangig Schriftsteller und der geschriebenen Sprache letztlich verhaftet, während für Kluge der Film zu einer gleichrangigen Realisierungsform seines künstlerischen Anspruches wird. Filmisches und literarisches Werk weisen bei Kluge vielfache Verflechtungen auf und können daher kaum gesondert betrachtet werden. Ein Zusammenhang ästhetischer Suchbewegungen und Transformationen, wie sie etwa von Rutschky und Ortheil für die 1970er Jahre beschrieben worden sind, mit den historischen, gesellschaftlichen oder politischen Prozessen ist leicht zu denken und in der kulturwissenschaftlich geprägten Forschung axiomatisch. Nach Generationsbrüchen geordnete Zugänge erscheinen aus literaturhistorischer Perspektive wenig differenziert, sind jedoch zum Teil wichtiges Element in historischen oder kulturgeschichtlichen Auseinandersetzungen mit der Nachkriegsperiode. Verschiedentlich wird etwa eine so genannte „skeptische Generation“ als Vorläufer der rebellierenden „68er-Generation“ gesehen136, wobei Erinnerungshorizont und daraus resultierende zentrale Fragen und Themen notwendig divergieren. Dies wurde auch auf Fragen und Themen der Literatur bezogen. So resümiert

136 Vgl. Ebbinghaus: Die Bewegungen der 68er. In: Internationale Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik, Jg. 33, Nr. 1 (2008), S. 38, 39: „Drei Generationen seien für die 68er-Bewegungen relevant. Die erste umfasse all diejenigen, die als Kinder während des Nationalsozialismus sozialisiert worden und am Kriegsende Jugendliche und junge Erwachsene gewesen seien. Der Beitrag zur Modernisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, den diese 45er-Generation, häufig auch als „skeptische Generation“ bezeichnet, geleistet habe, sei bislang zu wenig berücksichtigt worden. Die eigentliche 68erGeneration sei dagegen in den Jahren 1938 bis 1948 geboren und von der Nachkriegszeit geprägt.“ Ebbinghaus nimmt Bezug auf den Historiker Detlef Siegfried: ,Trau keinem über 30‘. Konsens und Konflikt der Generationen in der Bundesrepublik der langen sechziger Jahre. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 45 (2003), S. 25–32. Online unter URL: http://www.bpb.de/apuz /27305/trau-keinem-ueber-30#art1 (Zugriff am 18.02.2013); vgl. zum Thema auch Lauer (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationenforschung (2010).

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etwa Roberts 1982, dass „die starken Unterschiede in der Thematik der 1960er um 1930 geborenen Generation und der 1968er um und nach 1940 geborenen Generation als Indizien eines Paradigmawechsels hervorzuheben [sind].“137 Für die Auseinandersetzung mit den Autoren Kluge (*1932), Handke (*1942) und Brinkmann (*1940) ergeben sich aus solchen Einteilungen interessante Impulse, wenn fraglich ein Generationen- oder Paradigmawechsel vorliegt und die Autoren zugleich zeitgenössisch publizieren. Lassen sich an ihren Texten thematische und produktionsästhetische Verschiebungen erkennen, die explizit mit der Zugehörigkeit zu einer Generation erklärt werden können, im Sinne einer „soziale[n] Formation bestimmter Geburtsjahrgänge, die durch spezifische Prägungen, Denk- und Handlungsmuster sowie durch ein vages Gefühl der Zusammengehörigkeit miteinander verbunden“138 ist? Als ein dominantes Thema ließe sich dazu beispielhaft die in der Literatur kommunizierte Kriegserfahrung beleuchten. Dass diese Erfahrung etwa bei dem älteren Alexander Kluge eine Rolle spiele, bei den beiden jüngeren Autoren hingegen nicht, ist zumindest nicht haltbar.139 Trotz des Altersunterschiedes ist die Kriegserfahrung für alle drei Autoren auch literarisch von Belang. Sie nimmt aber innerhalb des

137 Roberts: Tendenzwenden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Jg. 56, Nr. 2 (1982), S. 297. 138 Siegfried: ,Trau keinem über 30‘. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 45 (2003). URL: http://www.bpb.de/apuz/27305/trau-keinem-ueber-30#art1 (Zugriff am 18.02.2013). Vgl. auch zu einer soziologischen Konstruktion des Generationenbegriffs, in Opposition zu biologistischen Erklärungsmustern Erhart: Generationen – zum Gebrauch eines alten Begriffs für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 30, H. 120 (2000), S. 81–107. 139 Vgl. etwa Hage: Die Kinder des Bombenkrieges. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche (2003), S. 84–96, der Kluge, Brinkmann und Handke, neben anderen Autoren wie Hubert Fichte, Thomas Bernhard, Bernward Vesper, als Autoren zusammenfasst, deren literarisches Schaffen von der Kriegserfahrung „als Kinder und Jugendliche“ (89) geprägt sei. Dennoch grenzt Brinkmann sich Ende der 60er Jahre auch diesbezüglich von Kluge ab. Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 226: „Involvement ist dieser [Kluges, Anm. d. Verf.] Generation fremd“.

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Werkes unterschiedliche Dimensionen an. So lassen sich bei Brinkmann und Handke gelegentlich Hinweise auf frühkindliche Erschütterungen finden; von Erinnerungen an Bombenkeller und Angst-Situationen ist die Rede, die sich in besonderer Weise auf ihr Sensorium ausgewirkt und zu erhöhter Alarmbereitschaft und Sensibilität geführt hätten.140 Hier geht es also noch um eine zumindest partiell unbewusste, emotional-affektive Beeinflussung. Demgegenüber erörtert und vermittelt Kluge offensiv, etwa mit dem bekannten Text Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945141, Strukturen und Strategien einer Tragödie, die er als 13jähriger Junge bereits sehr bewusst erlebte. Doch jenseits historischer und individuell-biografischer Erschütterungen, die sich als Impulse ästhetischer Transformationen diskutieren lassen, bleibt zu fragen, wie die ästhetische Organisation – als deren Ergebnis – konkret zu beschreiben ist. Bezogen auf das literarische Produkt kann man von einem Orientierungsverhalten sprechen, und zwar in dem Sinne, dass hier Subjektivität, Materialität und Medialität organisiert und in ein intentionsadäquates Verhältnis gesetzt werden müssen. Letztendlich ist das literarische (ebenso das intermediale) Produkt Ergebnis spezifischer Organisationsprozesse, welche jeweils die eigene oder eine imaginierte Subjektivität, das verfügbare Material und potenzielle Vermittlungsformen berücksichtigen. Die ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten, die der literarische Text offeriert, sind letztlich Ergebnis dieses Orientierungs- und Organisationsprozesses, wie im folgenden Kapitel noch genauer darzulegen ist.

140 Vgl. z. B. Brinkmann: Rom, Blicke (1972 geschrieben, 1979 veröffentlicht). Frühe Kriegserfahrung wird hier beschrieben als der „dumpfe Druck der Bedrohung“, als Auslöser einer konsequenten (An)spannung: „nie hat man uns Entspannung gelehrt“ (357); Hierzu auch Schönborn: Vivisektionen des Gehirns. Die Prosatexte R. D. Brinkmanns. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 355, die von „früh gebahnten Gedächtnismustern“ und einer „ursprünglich erfahrenen Bedrohung“ spricht. Ebenso bei Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied (1973), der sich aufgrund der Erfahrung „wie geboren für Entsetzen und Erschrecken“ (9) erlebt, mit einer „Anlage zu Schrecken und Panik“ (18). 141 In: Kluge: Neue Geschichten. Hefte 1–18. Unheimlichkeit der Zeit (1978), S. 33–106.

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Besonders für eine vergleichende Analyse lässt sich dieser Ansatz fruchtbar machen, indem die Organisationsprozesse der Autoren jeweils im möglichen Maße transparent gemacht und zu ihren eigenen ästhetischen Positionen in Beziehung gesetzt werden. Verschiedene Autoren haben bereits, in allgemeinerer Form, auf Parallelen zwischen den hier zu behandelnden Autoren und ihren ästhetischen Strategien aufmerksam gemacht. So etwa Roman Luckscheiter, der Bernward Vespers Strategie142, der Sprachkrise zu entkommen, „zur gleichen Zeit auch von Rolf Dieter Brinkmann und Peter Handke verfolgt [sieht], von den beiden Autoren also, die schon Martin Walser unter der Bezeichnung ,Neueste Stimmung im Westen‘ der Postmoderne zugeordnet hatte.“143 Luckscheiter bezieht sich hierbei auf die Texte Rom, Blicke (Brinkmann) sowie Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt und Deutsche Gedichte (Handke). Dennoch ist man bisher mit vergleichenden Forschungsansätzen eher zurückhaltend geblieben. Jüngere Studien zur Werkästhetik und -poetik der Autoren Kluge, Brinkmann und Handke liegen vor, die unter anderem Wahrnehmung, Intermedialität und Bildlichkeit ins Visier nehmen. Zumeist sind diese Arbeiten punktuell und immanent auf einen Autor bezogen.144 Allerdings gibt es ebenso Studien, die die Autoren, unter je spezifischem

142 Diese Strategie sieht er in Vespers Visionen: „das Leben in Metaphern (nicht als Metapher) und das Subjekt als reines Medium seiner Eindrücke. So will er den Gegensatz von Oberfläche und Tiefenstruktur aufheben und das Problem Wahrgenommenes deuten zu müssen, liquidieren.“ Luckscheiter: Der postmoderne Impuls (2001), S. 168. Gemeint ist Vespers Romanfragment Die Reise (1977), das, wie auch Rom, Blicke (1979), postum erscheint und in der Forschungsliteratur häufig mit letzterem in Verbindung gebracht wird. Vgl. z. B. Breuer: Autobiographisches Schreiben der 70er Jahre: Aspekte der Forschung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 33, Nr. 2 (2001), S. 9–25; oder Krauskopf: Das ,verrissene‘ Ich. Rolf Dieter Brinkmann und Bernward Vesper (2004). 143 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls (2001), S. 168. 144 Vgl. z. B. zu Handke Huber: Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz (2005); zu Kluge Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge (2004); zu Brinkmann Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk (2006).

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Erkenntnisinteresse, zusammenbringen. So etwa bei Thomas von Steinaecker, der 2007 eine Untersuchung zu Brinkmann, Kluge und Sebald veröffentlichte, die dezidiert die „Reproduktion von Fotos in literarischen Texten“145 zu einer „Art Nachschlagewerk“146 aufarbeitet. Der Vergleich zwischen Brinkmann und Kluge nimmt dabei allerdings wenig Raum ein und zielt nicht auf die Frage nach der ästhetischen Erfahrung. Matthias Keidel geht dagegen in einer 2006 erschienenen Arbeit zum Thema der „literarischen Flanerie“ unter anderen auf Handke und Brinkmann ein, als zwei Beispiele für die „Wiederkehr des Flaneurs in den 70er Jahren“.147 Ein wichtiger Bezugstext auch für die vorliegende Arbeit ist Christoph Zellers Ästhetik des Authentischen148, eine 2010 publizierte Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst um 1970. Es handelt sich hierbei vordergründig um eine Studie zur Geschichte und Theorie des Authentischen in Literatur und Performance Art. Dass hier, neben anderen, die Autoren Alexander Kluge (Lebensläufe), Peter Handke (Die Stunde der wahren Empfindung) und Rolf Dieter Brinkmann (Rom, Blicke) in den Blick genommen werden, unterstreicht ihre Relevanz für ein tragfähiges Bild einer Ästhetik der 1970er Jahre und unterstützt nicht zuletzt auch das Ziel dieser Arbeit. Hinsichtlich der für die Autorenauswahl relevanten Aspekte muss jedoch, neben ästhetischen und literaturprogrammatischen Kriterien, auch erwähnt werden, dass es sich hier um westdeutsche beziehungsweise im westdeutschen Raum agierende Schriftsteller handelt.149 Mehr als zwanzig

145 Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds (2007), S. 27. 146 Ebd., S. 30. 147 Keidel: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion (2006), S. 49ff. 148 Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970 (2010). 149 Rolf Dieter Brinkmann bleibt zeitlebens in Westdeutschland verhaftet (Vechta und Ruhrgebiet). Der in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geborene Kluge lebt nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Mutter in Berlin-Charlottenburg; er studiert und arbeitet ab 1950 im späteren Westdeutschland. Der in Österreich geborene Handke kommt mit seinem Debüt 1966 in Westdeutschland an und publiziert in westdeutschen Verlagen. Später wird Frankreich zu seinem Lebensmittelpunkt.

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Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung reflektieren Arbeiten, die sich auf einen Zeitraum während des geteilten Deutschlands beziehen, zu Recht diesen Tatbestand. Wie bereits aus dem argumentativen Vorgehen ersichtlich, wurden als Initial-Kriterien nicht die westdeutsche Herkunft beziehungsweise Aufenthalt angesehen – die Annahme einer wie auch immer gearteten Nationalliteratur darf ohnehin kritisch hinterfragt werden150 –, sondern zunächst die ästhetischen Verfahren und Vergleichsmöglichkeiten, die sich bei weiterführender Recherche herausstellten. Das Umfeld, in dem die literarischen Produkte rezipiert wurden, verbunden mit der kulturhistorischen Situation, auf die sie sich beziehen, spielt darüber hinaus eine wichtige Rolle. Jedoch wäre es, angesichts der teilweise erstaunlich hohen Publikationszahlen von ostdeutschen Schriftstellern in der damaligen BRD151, hinsichtlich der Rezeptionsmöglichkeiten nicht stichhaltig, diese zu selektieren. Jenseits topografischer oder ideologischer Grenzen sind allerdings die kulturgeschichtlichen Divergenzen der zwei deutschen Staaten, ihre unterschiedlichen Einflüsse und Traditionslinien, nicht von der Hand

150 Wie die Situation Handkes unterstreicht; vgl. Luckscheiter: Heimat der Heimatlosen. Peter Handke, Emmanuel Bove und das Genre der Vororterzählung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 37, Nr. 1 (2005), S. 49–58; hier S. 51, der für Handke feststellt, dass eine „nationale Zuordnung nicht leicht [fällt] – gebürtiger Österreicher, Hausautor eines der repräsentativen Verlage der Bundesrepublik Deutschland, Wahlheimat Frankreich. Eine – schon prinzipiell problematische – nach Nationen sortierte Literaturgeschichte“ müsse hiermit „ihre Schwierigkeiten“ haben, wobei die Kategorie „deutschsprachige Literatur“ anwendbar sei, und zeige, dass die Differenzierung schließlich nur (noch) auf Sprachebene möglich sei. 151 Bei Dietrich Löffler heißt es hierzu: „Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre stieg das Interesse an der DDR-Literatur.“ Schriftsteller wie Ulrich Plenzdorf, Christa Wolf, Stefan Heym und Günter Kunert erzielten teilweise hohe Auflagen in westdeutschen Verlagen. Das Politbüro versuchte noch 1979 mit einer Verschärfung der Zoll- und Devisengesetze den zunehmenden Kontrollverlust zu korrigieren, doch dies blieb ohne Konsequenzen: „Die Zahl der in der Bundesrepublik verlegten Titel nahm weiter zu.“ Vgl. Löffler: Der deutsch-deutsche Literaturaustausch. In: Opitz, Opitz (Hg.): Dichter in den Brüchen der Zeit (2005), S. 98–110.

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zu weisen.152 Für diese Arbeit wurde einleitend die Relevanz verschiedener Diskurse und Literaturdiskussionen um 1968 erläutert. Diese sind primär als Prozesse der Bundesrepublik zu verstehen, so dass sich zugleich westdeutsche Autoren mit ihnen in Verbindung setzen lassen. So hängt es wesentlich von dem Erkenntnisinteresse ab, welches Blickfenster sich für einen wissenschaftlichen Zugriff als stichhaltig erweist. Diesem Grundsatz folgt auch die vorliegende Arbeit, wenn sie die Autoren Brinkmann, Handke und Kluge zentral behandelt. Darüber hinaus dürften Arbeitsprojekte, die eine literarische Ästhetik der 1970er Jahre sowohl in der Bundesrepublik als auch in der damaligen DDR untersuchen, gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher kulturhistorischer Entwicklungen, zu aufschlussreichen Ergebnissen führen. Ästhetische Verfahren und Hypothesen Innerhalb dieses Kapitels soll das spezifische Interesse und methodische Instrumentarium der vorliegenden Arbeit genauer beschrieben werden. Es werden zunächst einige Hypothesen zu den ästhetischen Verfahren der drei Autoren formuliert. Wie bereits angedeutet, spielt dabei eine wesentliche Rolle, welche ästhetischen Positionen die Autoren dezidiert vertreten oder vertreten haben. Bezüglich dieser Positionen kann nur unter Vorbehalt von einer bestimmten Programmatik gesprochen werden, da diese Form der Theoretisierung teils von den Autoren selbst zurückgewiesen wurde. Dennoch formulieren sie in theoretischen wie auch in literarischen Texten ästhetische und poetologische Standpunkte, denen mehr oder weniger explizite Schreib- und Darstellungsprogramme zugrunde liegen.

152 Rémy Charbon fasst, anlässlich des Internationalen Germanisten-Kongresses 1985 in Göttingen, zusammen: „Der einleitende Satz der ersten Gesamtdarstellung der DDR-Literatur: „Es gibt zwei deutsche Literaturen“ (zitiert nach Fritz J. Raddatz), damals eine Provokation, ist heute selbstverständliche Voraussetzung literaturgeschichtlicher Arbeit. Die kulturkämpferische Unterscheidung von „affirmativer“ und „oppositioneller“ Literatur hat leidenschaftsloser Erkundung Platz gemacht.“ Charbon: Zwei deutsche Literaturen. Überlegungen zu einer Kontroverse. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses (1986), S. 84–88; hier S. 86.

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Zu klären ist zunächst, was genau unter den so genannten ästhetischen Positionen zu verstehen ist. Die Vielschichtigkeit des Ästhetischen, die vor allem durch die philosophische Tradition begründet ist, lässt sich auch an den literaturspezifischen Definitionen und Konnotationen des Begriffes Ästhetik ablesen. Dieser wird allerdings hier, wie eingangs dargestellt, vorrangig im Rahmen der Konzepte ästhetischer Erfahrung von Belang sein.153 So geht es auch dann, wenn von ästhetischen Positionen die Rede ist, im Wesentlichen um diejenigen Positionen, die diesen spezifischen Erfahrungskonzepten zugrunde liegen. Primär sind also jene Positionen gemeint, die auf die Realisierung einer bestimmten ästhetischen Erfahrung durch das künstlerisch-literarische Produkt abzielen. Das Erkenntnisinteresse lässt sich damit an der Schnittstelle von Poiesis und Aisthesis154 verorten: zwischen der Hervorbringung des literarischen Produktes und seiner Rezeption. Konkret bedeutet dies, es wird davon ausgegangen, dass die ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten im Rezeptionsprozess bereits auf Seiten der Produktion antizipiert werden und hieraus verschiedene Textstrategien resultieren. In der Einleitung wurde dieser Punkt schon genauer ausgeführt. Welche ästhetischen Positionen liegen nun also derartigen Strategien zugrunde?

153 Ästhetik als Wahrnehmungslehre beziehungsweise eine Schwerpunktverlagerung auf die ästhetische Erfahrung ist in der Literaturwissenschaft insbesondere seit den 1970er Jahren prominent. Vgl. Anm. 3. Vgl. Liessmann: Reiz und Rührung: über ästhetische Empfindungen (2004), S. 14ff. Die Entwicklung eines rezeptionsästhetischen Ansatzes durch Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser (Konstanzer Schule) ist im Zusammenhang dieser erfahrungsästhetischen Wende zu sehen. Zentrale Arbeiten zur jüngeren Auffassung von Ästhetik und Ästhetischer Erfahrung stellen bspw. Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976); Henrich, Iser (Hg.): Theorien der Kunst (1984); Bubner: Ästhetische Erfahrung (1989); Seel: Ästhetik des Erscheinens (2000); Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative (2001) dar. 154 Vgl. zu den Grundkategorien der Erfahrung Poiesis, Aisthesis und Karthasis Jauß: Negativität und Identifikation. In: Poetik und Hermeneutik, Nr. 6 (1975), S. 277f; sowie Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1991).

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Mit Blick auf die hier zu behandelnden Autoren sind – in unterschiedlicher Gewichtung – verschiedene zentrale Positionen auszumachen. Diese berühren zum einen die Kompetenz des Zeichensystems. Hierbei geht es um die Frage, wie der Autor sich hinsichtlich der Sprache und anderer verfügbarer Zeichensysteme positioniert. Wichtig ist also, in welcher Form diese reflektiert und ob sie als adäquate Medien beurteilt werden. Von Belang ist auch, wie sich etwa bildliche und filmische Vermittlungsformen zur sprachlichen verhalten. Diese Fragen verweisen bereits auf das Verhältnis von Subjekt, Welt und Zeichensystem, innerhalb dessen sich sowohl das Autorsubjekt als auch die Subjekte der Literatur bewegen. So sind beispielsweise bei Handke unter anderen wirklichkeitskonstitutive Funktionen des sprachlichen Zeichensystems elementar, während bei Kluge und Brinkmann verschiedene instrumentelle Sprachfunktionen im Vordergrund stehen, die das Verhältnis von Subjekt und Welt aushandeln. Gefragt wird hierbei immer auch nach einem implizit oder explizit Politischen, das sowohl die Funktion des Schriftstellers als auch die der öffentlichen Person berühren kann. Das Verhältnis von gesellschaftlichem System und Kunstsystem wird bei allen drei Autoren in je eigener Weise reflektiert. Während Kluge sich unmissverständlich zur Kritischen Theorie und zu linken Traditionen bekennt, sind die Positionierungen Handkes und Brinkmanns unklarer und vieldeutiger: Einer politisierten Literatur stehen sie allemal ablehnend gegenüber. Sympathien werden ihnen von Seiten der 68er-Bewegung nur bedingt entgegengebracht. Zumindest bei Handke lässt die spätere, so genannte Serbien-Debatte der 90er Jahre, hingegen rückwirkende Zweifel an der verbreiteten Vorstellung eines unpolitischen Spracharbeiters aufkommen. Deutlich ist: Die Autoren eint die Konfrontation mit einem historischen Prozess, innerhalb dessen das Verhältnis von Literatur und Politik, von ästhetischer und politischer Kommunikation neu ausgehandelt wurde. Sie befassen sich gleichermaßen mit dem um 1968 lautgewordenen Ruf nach Engagement und reflektieren, inwieweit dieses überhaupt eine Aufgabe der Literatur sein kann. Nur vermeintlich gegensätzlich zum Politischen steht die Bedeutung der Subjektivität innerhalb des Literarischen. Kulturhistorisch gilt dies auch für die 68er-Bewegung, innerhalb derer sowohl kollektive politische Impulse und Proteste von Belang sind, als auch Selbstverwirklichung und Freiheit des Individuums eine wichtige Rolle spielen. Die Subjektivität der Darstel-

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lung ist bei allen drei Autoren von besonderem Interesse: Sowohl bei einem tendenziell dokumentierenden, beobachtenden Standpunkt, wie ihn Kluge häufig einnimmt, als auch in einem primär subjektzentrierten Erfahrungsbericht, wie ihn etwa Brinkmanns Keiner weiß mehr (1968) vorstellt, als auch in einem Harmonisierungsversuch von Sprache und Welt, wie ihn Handkes Langsame Heimkehr (1979) vornimmt, sind starke Subjekte zu verzeichnen. Die Funktionen von Subjektivität sowie die Verhältnisse von Subjekt und Material des Literarischen fallen mithin unterschiedlich aus und werden mit Bezeichnungen wie Neue Subjektivität oder Dokumentarische Literatur notwendig nur partiell repräsentiert. Von zentralem Interesse sind, im Anschluss hieran, die produktionsästhetischen Verfahrensweisen, die die Autoren ihren Positionen entsprechend entwickeln und umsetzen. Zu klären ist, wie sie elementare Kategorien künstlerisch-literarischer Produktion organisieren. Diese Arbeit orientiert sich hierzu an den Kategorien Subjekt, Material und Medium155. Wie bereits angedeutet, bleibt auch hinsichtlich produktionsästhetischer Fragestellungen der Kontaktbereich von Produktion und Rezeption im Mittelpunkt. Dies erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass die ästhetische Erfahrung theoretisch – nicht empirisch – verstanden werden kann als das aus der Anordnung von Subjekt, Material und Medium sich ergebende Potenzial eines Textes. In der so verstandenen theoretischen Form ist die ästhetische Erfahrung bereits Element der künstlerischen Produktion. Unmittelbar nachprüfbar werden die produktionsästhetischen Verfahren am literarischen Produkt, an den spezifischen Darstellungsstrategien und formen, die es jeweils aufweist. Mit Blick auf die Autoren Brinkmann, Handke und Kluge ist dabei beispielsweise zu denken an achronologische oder dokumentarische Erzählformen, an so genannte filmische Schreibweisen, die eine mediale Distinktion teilweise auflösen, an den Einsatz von Bildlichkeit, an Montagen und Collagen. Darüber hinaus gehören hierzu auch Fußnoten und Vernetzungspraktiken, räumliche, topologische und topografische Darstellungspraktiken, die Vermischung von Traum und Wirklichkeit, von Dokument und Fiktion. Außerdem stellen die durch den Autor gesetzten Brüche und Verweise in Texten, das Montageprinzip sowie das wiederholte Aufgreifen von Motiven, Bildern und Begriffen eine potenziel-

155 Die Begriffe werden nur im Rahmen der theoretischen Fundierung, innerhalb der folgenden Kapitel aber nicht mehr durch Kursivierung hervorgehoben.

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le Leser-Lenkung zur Disposition. Für jeden Autor lassen sich eigene Strategien beobachten, aber auch zahlreiche Darstellungsaspekte herausarbeiten, die zugleich mit einem der anderen Autoren oder aber mit beiden geteilt werden. Ein Umgang mit dem Material, der sich bei allen drei Autoren beobachten lässt, ist die räumliche Darstellungsstrategie, die sowohl topologische als auch topografische Formen aufweist. Entsprechend wird hier auch in den Einzeltext-Analysen ein besonderer Schwerpunkt gesetzt. Aufschlussreich ist vor allem die Beobachtung, dass mit den räumlichen Aspekten eine Zusammenführung der Kategorien des Subjektes und des Materials verbunden ist: So geht es einerseits um faktische Orientierungspunkte, um Kartografie und konkrete Raumbeschreibung, andererseits um mentale, abstrakte, auch bildliche Ordnungsstrukturen und Lagebeziehungen, die eine primär subjektive Wahrnehmung repräsentieren. Das Subjekt verfügt, als Ort der Wahrnehmung, Reflexion und Bewertung, über das dem künstlerisch-literarischen Produkt zugrunde liegende Material. Das Subjekt als Kategorie ist im Einzelfall weiter zu spezifizieren, etwa dann, wenn das Verhältnis von Autorsubjekt und Subjekt des Textes relevant wird. Dieses Verhältnis zeigt sich bei den Autoren in unterschiedlichen Ausprägungen und variiert zudem mit den einzelnen Werken. Besonders naheliegend ist die Differenz zwischen einem nicht autorisierten, tagebuchartigen Text wie Brinkmanns Rom, Blicke (1979) und einem ästhetisch und stilistisch durchgearbeiteten Text wie Handkes Langsame Heimkehr (1979), um ein Beispiel zu nennen. Während in Rom, Blicke, unter verschiedenen Gesichtspunkten, Autorsubjekt und Subjekt des Textes durchaus gleichgesetzt werden können, ist dies in anderen Texten des Autors sowie in dem Handke-Text keineswegs der Fall. Die Unterscheidung und Untersuchung von Subjektkonstitutionen ist hingegen dort nicht zentral, wo es allgemein um das Subjekt als diejenige Kategorie oder Instanz geht, die einem Materialangebot gegenübersteht beziehungsweise über dieses verfügt. Dieses Material ist mithin der „Ausgangsstoff“156 der literarischen Produktion.157 Wie sich auch in den einzelnen Textanalysen zeigen wird, ist es

156 Wagner: Material. In: Barck, Fontius, Schlenstedt u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3 (2001); S. 866–882; hier S. 867.

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sinnvoll, von einem vielschichtigen Material-Begriff auszugehen. Dieser umfasst entsprechend sowohl eine abstrakte als auch eine konkrete Bedeutungsebene, das heißt sowohl Themen, Motive, Begriffe und Sprache an sich figurieren als Material des Literarischen, als auch die konkrete, realweltliche Dinglichkeit158, die dem Sprachlichen jeweils vorausgeht. Die Differenzierung wird etwa dann wichtig, wenn sich die Darstellungspraktiken der Autoren nicht nur hinsichtlich der thematischen oder motivischen Ausrichtung unterscheiden, sondern auch hinsichtlich der Materialebene. Beispielsweise zeigt sich eine zentrale Differenz dort, wo Sprache als wirklichkeitskonstitutives Material wichtig wird (Handke) und auf der anderen Seite im Dienste eines Zugriffs auf die konkrete, materiale Objektwelt (Brinkmann) und ihre Bedingungen (Kluge) steht. Dies sind vorläufige Zuordnungen, die die Autorpositionen stark vereinfachen, die aber bereits vorausweisen auf die Facetten des Material-Begriffs, die in den folgenden Kapiteln wichtig werden. Räumliche Darstellungsstrategien wurden bereits, als eine spezifische Form der Material-Verarbeitung, angesprochen. Die hier relevanten Bezeichnungen topologisch und topografisch sind vor allem im Zuge des so genannten Spatial Turn prominent geworden, dessen theoretische und histo-

157 Ebd., S. 866ff, merkt Wagner an, dass „auf keine eigene Bedeutungsgeschichte des Begriffs Material zurückgegriffen“ (868) werden könne. Charakteristisch werde in Literatur- und Medienwissenschaften „die phonetische Sprache“ als „physisch nicht greifbare[s] Material“ einbezogen sowie vorrangig „der Begriff der Materialität verhandelt“ (869). Wagner weist hier auf Gumbrecht, Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation (1988) hin. In Bürger: Theorie der Avantgarde (1974) bildet der künstlerische „Umgang mit dem Material“ (91), wie er sich in den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zeigte, einen offensichtlichen Interessenschwerpunkt. Unterschieden wird hier u. a. die „Haltung gegenüber dem Material“: Während der klassische Künstler „sein Material als etwas Lebendiges [behandelt], dessen aus konkreten Lebenssituationen entstandene Bedeutung er respektiert“, sei dem Avantgardisten „das Material nur Material“ (95), dessen Zusammensetzung und Bedeutung dem Künstler obliege. 158 Hiermit sind zugleich auch Objekte gemeint, die wiederum Zeichencharakter aufweisen, wie Bilder, Fotografien, Karten, Tickets u. a. Artefakte, die etwa im Kontext von Collagen und Text-Bild-Montagen auftauchen.

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rische Genese159 hier nicht weitergehend behandelt werden kann. Hingewiesen sei allerdings auf einige zentrale Aspekte, die im Rahmen der begrifflichen Präzisierung von Belang sind. Von Bedeutung ist etwa, dass topografische Aspekte vor allem im literatur- und kulturwissenschaftlichen Bereich akzentuiert werden, wohingegen eine „topologische Fundierung […] mit Blick auf die mathematische wie die phänomenologische Begriffstradition von philosophischer Seite gefordert“160 werde. Insgesamt lassen sich die beiden „Konkurrenzbegriffe“ als ein Ergebnis der „Unterbestimmtheit“161 des Oberbegriffes Spatial Turn verstehen. Eine zentrale Bestimmung des Topographical Turn innerhalb der europäischen Kulturwissenschaften wurde von Sigrid Weigel vorgenommen162, mit dem Ziel „eine Position innerhalb der Kulturwissenschaften stark zu machen, welche insbesondere Fragen der Konstruktion von Raum als einem territorialen und

159 Döring und Thielmann beschreiben etwa, dass der ursprünglich aus der Humangeographie, konkret: aus Edward W. Soja: Postmodern geographies (1989), stammende Begriff Spatial Turn erst 1996 eine präzisere Bestimmung und „paradigmatisches Gewicht“ erlangt habe. Wichtig geworden sei der Spatial Turn seither in verschiedenen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Geographie, Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft. Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kulturund Sozialwissenschaften (2008), S. 7ff; hier S. 9. Vgl. auch die Bemerkung Helmut Heißenbüttels zu den neuen literarischen Typen, im Jahr 1966: „Man kann schon heute von der Inventarerzählung, der Katalogerzählung, einer strategischen und einer topographischen Erzählung, einem statistischen oder einem topologischen Roman sprechen.“ Heißenbüttel: Über Literatur (1995), S. 130. 160 Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 7ff; hier S. 13. 161 Ebd. Günzel plädiert etwa dafür, die Bezeichnung Topological Turn „in Abgrenzung zum Ausdruck spatial turn“ – somit nicht als dessen Unterbegriff – zu verstehen. Günzel: Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen. In: Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 219–237; hier S. 220. 162 Weigel: Zum ,topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik, Bd. 2, Nr. 2 (2002), S. 151–165.

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historischen Gebilde betont“163. Kartografische Aspekte, die auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit von Belang sind, werden innerhalb dieser Position berücksichtigt, mit der Weigel unter anderem eine Abgrenzung von den anglo-amerikanischen Cultural Studies verbindet.164 Zentrale Positionen des Räumlichkeitsdiskurses, wie beispielsweise Michel Foucaults Heterotopie-Konzept (das hier bei Kluge relevant wird), Michail Bachtins Entwurf eines Chronotopos, Marc Augés Vorstellung der Nicht-Orte und Henri Lefebvres Theorie der Raumproduktion, werden in der Literaturwissenschaft unter verschiedensten Gesichtspunkten verhandelt. Die Begriffe topografisch – topologisch lassen sich für die vorliegende Arbeit gemäß den gängigen Unterscheidungsmerkmalen bestimmen, die Topografie vorrangig auf kartografisch darstellbare Aspekte des realen Raumes festlegen und Topologie schwerpunktmäßig auf räumliche Lagebeziehungen.165 Topografie (griechisch tópos = Ort; grafeïn = zeichnen, beschreiben) verweist bereits in seiner ursprünglichen Wortbedeutung auf die Ort- oder Geländeskizzierung, die mittels topografischer Karten beziehungsweise Kartografie erfolgt. Topografische Aspekte sollen entsprechend als diejenigen Aspekte des Werkes verstanden werden, welche mit dem Anspruch verbunden sind, Wirklichkeit im weiteren Sinne kartografisch

163 Günzel: Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. In: Döring und Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 219–237; hier S. 223. 164 Die Abgrenzung betrifft deren „Theoriedesign […], das Weigel als politisches Projekt versteht, in dem Gegendiskurse über Ethnizität und Partizipation in räumlichen Begriffen verhandelt würden“. Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 15, 16. Vgl. Weigel: Zum ,topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik, Bd. 2, Nr. 2 (2002), S. 151–165. Weigel beleuchtet die Cultural Studies im Sinne „einer ethnographisch beeinflussten Kulturtheorie, deren Texte durch topographische Konzepte dominiert“ (156) seien, während im europäischen Entwurf Orte mehr „als konkrete, geographisch identifizierbare“ (158) in den Blick kämen. 165 Bei Günzel zitiertes Bildmaterial, bei dem U-Bahn-Pläne als eine „Modifikation der Topographie unter Beibehaltung der Topologie“ betitelt werden, veranschaulicht diesen Gegensatz übersichtlich. Günzel: Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. In: Döring und Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 227.

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nachzuweisen. Sie sind damit primär der physisch-konkreten Materialität des Gegebenen verpflichtet. Notwendig dokumentarisch sind sie hingegen nicht, da die Wirklichkeitsbezüge ebenso im Rahmen literarischer Fiktionalität erfolgen. Demgegenüber referieren topologische Aspekte sowohl auf realweltliche Lagebeziehungen166 als auch auf ästhetische, bildliche und gedanklich-mentale Ordnungen. Lagebeziehungen konkreter Figuren und lebensweltlicher Strukturen werden damit ebenso repräsentiert wie Relationen innerhalb eines Vorstellungsraumes. Verbunden ist hier mit dem Topografischen mithin kein theoretisches Konzept, dessen Schwerpunkt in den „spezifischen Ausprägungen kultureller Muster in bestimmten Räumen“167 liegt. Die „Schrift eines Ortes/Raums“168, die in Form einer „vokabulär abzugrenzenden Repertoirelandschaft“169 in der Literatur erkennbar wird, weist in eine andere Richtung als die hier angenommene Begriffsbestimmung. Eine „Bindung an Örtlichkeiten […], deren Realität sich in eine unmittelbar vokabuläre überträgt“170 versteht etwa Helmut Heißenbüttel in dem Sinne, dass die Erzählung das dialektale, regionale Sprachrepertoire eines topografischen Raumes nutzt und somit immer auch auf diesen Raum beziehbar bleibt. Die von ihm genannten Beispiele, Samuel Becketts Der Namenlose (1953), Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium (1960), Jürgen Beckers Felder (1964), geben davon teilweise Zeugnis. Im Rahmen dieser Arbeit berührt am ehesten noch die Untersuchung von Brinkmanns Rom, Blicke ein derartiges Konzept, indem hier Rom, in geringem Maße auch die italienische Sprache, die städtische, medial geprägte Struktur gleichsam in das Dokument über-

166 Wie etwa das so genannte Mittelzimmer in Brinkmann: Keiner weiß mehr (1968); die topologischen Relationen eines historischen Kriegsereignisses in Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt. In: Ders.: Neue Geschichten (1978); auch die Topologie der Wohnung Keuschnigs in Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975). 167 Scheuer: Literarische Topographie. Vorwort. In: Der Deutschunterricht, Jg. 44, Nr. 5 (1992), S. 3–7; hier S. 3. 168 Weigel: Zum ,topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik, Bd. 2, Nr. 2 (2002), S. 157. 169 Heißenbüttel: Über Literatur (1966, 1995), S. 131. 170 Ebd., S. 180.

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gehen, das die Wege und besuchten Stätten textuell und bildlich dokumentiert.171 Die verbliebene Kategorie des Mediums bewerkstelligt die Organisation und Vermittlung der subjektiven und materialen Aspekte des Werkes. Der Medienbegriff172 ist im Rahmen dieser Arbeit vorrangig relevant hinsichtlich der Unterscheidung von Bildlichkeit und Schriftlichkeit sowie, vor allem die Arbeiten Kluges betreffend, Literatur und Film beziehungsweise literarisch-sprachlicher und filmisch-visueller Zeichencodes. Eine kategoriale Differenzierung, beispielsweise nach künstlerischen Sparten wie Fotografie, Literatur, Theater oder Hörspiel und, auf der anderen Seite, allgemeiner Vermittlungsformen wie Bildlichkeit, Sprache/Schrift, Ton ist vor allem im spezifisch medienwissenschaftlichen Zugriff obligatorisch.173 Mit der vorliegenden Arbeit werden notwendig verschiedene Begriffsbedeutungen aufgerufen, da es in den Autoren-Kapiteln etwa sowohl um die Entscheidung für ein Medium Literatur, als auch – innerhalb desselben – um die Nutzung von Bild und Sprache gehen kann, die ihrerseits als spezifische Zeichen- oder Symbolsysteme mit dem Begriff des Mediums erfasst werden können.

171 Vgl. in dieser Arbeit das Kapitel: Eine Kartografie der Wirklichkeit Anfang der 1970er Jahre. 172 kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterführend historisch aufgearbeitet werden. Wesentliche Positionen zum Medienbegriff werden bspw. verhandelt in Faulstich: Medientheorien (1991); Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets (1998); Rajewsky: Intermedialität (2002); Schulte-Sasse: Medien/medial. In: Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4 (2002), S. 1–38; Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft (2003). 173 Rajewky: Intermedialität (2002), S. 201, weist auf das breite wissenschaftliche Spektrum hin: „Wie der Terminus ,Medium‘ im einzelnen verwendet und definiert wird, ist abhängig vom jeweiligen Theoriehorizont. Zu unterscheiden ist etwa ein kommunikationstheoretischer von einem systemtheoretischen und konstruktivistischen Medienbegriff und beide wiederum vom Begriff des Mediums als ,Dispositiv‘, wie er vor allem im Kontext des französischen (Post-) Strukturalismus und der Kinotheorie entwickelt wurde.“

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Eine mögliche Unterscheidung zwischen „einer schwachen und einer starken Bedeutungsvariante von Medium“174 lässt sich hier in Richtung eines starken Begriffs treffen, da es in der Regel um das Medium geht als „Träger von Informationen, der diese nicht mehr oder weniger neutral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt“; und weniger um das Medium als reiner „Informations- und Kommunikationsträger“ beziehungsweise „Instrument“175. Insgesamt kann für ein Erkenntnisinteresse, das auf die Bewertung und Nutzung jeweiliger Zeichenrepertoires innerhalb des Literarischen gerichtet ist, ein enger gefasster Medienbegriff meines Erachtens nicht zielführend sein. Es ist aber im Einzelfall zu verdeutlichen, was unter Medium verstanden werden soll. Dies ist zugleich eine Voraussetzung, um den hier ebenso relevanten Begriff der Intermedialität nicht zwangsläufig als einen „termine ombrello(ne)“176 anzuwenden. Zentral ist die Organisation des Materials, die von der Auswahl des Mediums oder der Medien abhängt. Intermediale Verfahren, Medialität und mediale Vermittlung als solche, im weiteren Sinne auch Fragen der Darstellbarkeit und Wiedergabe von Realität bilden die Schwerpunkte, wenn es im Folgenden um die Kategorie des Mediums geht. Die produktionsästhetischen Verfahrensweisen werden also, wie mit dem Vorangehenden angekündigt, primär untersucht anhand der erläuterten Kategorien Subjekt, Material und Medium. Im Kern geht es aber nicht um ein schlichtes Erörtern dieser Kategorien des Literarischen, sondern darum, Aussagen über ihre Gewichtung, Funktion und Verbindung zu treffen und damit im weiteren Sinne Konzepte ästhetischer Erfahrung skizzieren zu können. Intendiert ist mithin keine einseitige, präoperationale Ausrichtung der Analyse an (vermeintlichen) Schwerpunkten, wie sie etwa mit den eingangs vorgestellten Begriffen der Neuen Subjektivität oder Dokumentarischen Literatur lanciert werden. Vielmehr sind hier graduelle Einteilungen der einzelnen Werke, die sich an einem Material- und Subjektpol orientieren, sinnvoll und werden entsprechend im Rahmen der Analyse vorgenommen: Sie berücksichtigen, dass produktionsästhetische Verfahren aller-

174 Schulte-Sasse: Medien/medial. In: Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4 (2002), S. 1. 175 Ebd. 176 Rajewky: Intermedialität (2002), S. 6. Rajewsky bezieht sich mit dem Begriff auf Umberto Ecos „,termine ombrello‘ = ,Schirm-Begriff‘“.

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erst im Sinne eines Orientierungs- und Organisationsprozesses zu verstehen sind. Innerhalb dieses Prozesses geht es weder um die Vormachtstellung des Subjektes, noch um ein Zurückdrängen des Subjektes zugunsten des realweltlichen oder sprachlichen Materials, sondern um deren adäquate Organisation und Verbindung als Grundlage einer spezifischen Form ästhetischer Erfahrung. Es wird davon ausgegangen, dass eine stärkere Präsenz eines der beiden Pole – Material oder Subjekt – erst als Ergebnis literarischer Organisationsprozesse verstehbar wird. Diese Prozesse von vornherein selektiv, etwa als material- oder subjektfokussierte oder auch im Sinne eines reinen Medienexperiments in den Blick zu nehmen, kann hierbei meines Erachtens nicht sinnvoll sein. So lassen sich beispielsweise die bereits genannten, räumlichen Darstellungsverfahren einerseits in Form dokumentarischer, kartografischer Raumbeschreibung (Topografie) beobachten, andererseits werden sie als mentale, subjektiv geprägte Repräsentation von Ordnungsstrukturen und Lagebeziehungen (Topologie) relevant. Im Einzelfall sind diese Formen eng miteinander verwoben. Sie geben nur ein Beispiel dafür, dass eine Beurteilung hinsichtlich subjekt- oder materialbezogener Darstellungspraktiken eines genaueren Blicks bedarf und sinnvollerweise zu graduellen Einteilungen führt, die auch Unterschiede zwischen den Einzelwerken miteinbezieht. Insgesamt geht es darum, zwischen den Konzepten der Autoren zu differenzieren und aufzuzeigen, worin Unterschiede bestehen – sowohl hinsichtlich der kategorialen Ordnungsprozesse als auch, hieran anschließend, hinsichtlich einer graduellen Einteilung in Richtung eines Subjekt- oder Materialpols. Ästhetische Positionen, produktionsästhetische Verfahrensweisen und die mit ihnen zusammenhängenden Organisationsprozesse sollen dabei als Grundlagen ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten nachvollziehbar gemacht und sinnvoll aufgeschlüsselt werden. Aus heuristischen Gründen soll den hier vorgestellten Kategorien ein Bedeutungsschwerpunkt zugewiesen werden, auf den im Rahmen der Gliederung der Arbeit und der Einzeltextanalysen Bezug genommen wird. • • •

Subjekt – Wahrnehmung Material – Raum (Topografie/Topologie) Medium – Organisation

2 Rolf Dieter Brinkmann: Das sich selbst erkundende Subjekt

„Das, was er bemerkte, was ihm immer schnell in einem Augenblick auffiel, war meistens nicht deutlich genug. Es bedeutete immer mehr, wußte er, ohne zu wissen, was dieses Mehr war. Anderes trat dagegen wieder zu deutlich aus einem Zusammenhang

heraus,

Lippenstifte,

aufge-

schraubt, so daß der rosafarbene Stummel etwas heraussah, diese glatten schwachgetönten Enden.“1

Der 1940 geborene Rolf Dieter Brinkmann wird häufig als ein Autor der frühen Popliteratur eingeordnet. Dass Brinkmann sich mit den Thesen Leslie A. Fiedlers2 identifizierte, sich für Andy Warhol und die amerikanische Underground-Szene begeisterte – diese Tatsachen haben sicherlich nicht wenig dazu beigetragen. Zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten lie-

1 2

Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 103, 104. Fiedler (*1917) führte den Begriff der Postmoderne in die Medientheorie ein und sprach als erster von einer Pop-Literatur. Er untersuchte den Einfluss der Beat Generation auf die Literatur. Betreffend Popliteratur und Postmoderne, wurde er zum einflussreichsten Theoretiker seiner Zeit in Deutschland (v. a. durch seine Vorträge 1968 in Freiburg). Vgl. Ernst: Popliteratur (2001), S. 30f.

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gen heute vor, die zu dieser Einordnung Stellung beziehen, sowohl fürsprechend als auch kritisch-hinterfragend, den Terminus Pop als solchen reflektierend.3 Gelegentlich wird eine bis heute fehlgeschlagene, literatursystematische Einordnung der Arbeiten Brinkmanns angeführt. Das Interesse an Autor und Werk ist allerdings immens und nimmt weiter zu. Neue Lesarten und Interpretationsvarianten werden in der Forschung erörtert, so dass diesbezüglich noch ein großes Input zu erwarten ist. Auch bisher Unveröffentlichtes, wie die frühen Gedichte der 1960er Jahre4, ermöglichen inzwischen einen tieferen Einblick in die Schreibentwicklung des Autors. Diese Entwicklung greifen vor allen Jan Röhnert und Gunter Geduldig als Herausgeber des ersten, vollständigen Lyrik-Kompendiums zu Rolf Dieter Brinkmann auf, das von den „frühen Gedichte[n] (1959–1966)“, über eine „PopPeriode (1967–1969)“, bis zur „späte[n] Poetik (1973–1975)“ reicht.5 Die Vechtaer Brinkmann-Tagung Medialität der Kunst6, unter der Leitung von Prof. Dr. Markus Fauser, widmete sich etwa dem Zusammenhang von Medium und Form. Bezüglich des Popdiskurses wurde hier eher Zurückhaltung kommuniziert. Besonders in Auseinandersetzung mit den späten Werken7 Brinkmanns, die ein gespaltenes Verhältnis zu den eigenen frühen Ar-

3

Vgl. z. B. Schäfer: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre (1998); Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (2003); Seiler: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960 (2006).

4

Brinkmann: Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Hg. von Maleen

5

Vgl. Röhnert, Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Ein-

6

Die Tagung Rolf Dieter Brinkmann – Medialität der Kunst fand vom 11.03. bis

Brinkmann (2010). zelinterpretationen. 2 Bände (2012), zit. aus Inhaltsverzeichnis. 13.03. 2010 an der Universität Vechta statt. Vgl. auch den Tagungsband von Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne (2011). 7

Gemeint sind die postum erschienenen, so genannten Materialbände, die häufig als mögliche Roman-Vorlagen oder -Vorstufen interpretiert werden: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand (entstanden zwischen Sept. und Dez. 1971, aufgefüllt mit früherem und späterem Material, 1987 er-

R OLF D IETER B RINKMANN : D AS SICH

SELBST ERKUNDENDE

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beiten erkennen lassen, wird die Frage nach der Einordnung Popliteratur virulent: Kann man einen Autor auf etwas festlegen, von dem er sich selbst derart deutlich distanziert?8 Ohne eine explizite Differenzierung der Positionen Brinkmanns zu Ideen und Formen des Pop wird man zumindest nicht auskommen, wie sich diese auch in der Brinkmann-Forschung durchsetzt. Mehr als die Pop-Diskussionen interessiert an dieser Stelle allerdings, dass der Autor häufig als ein zentraler Vertreter der so genannten Neuen Subjektivität der 1970er Jahre genannt wird. Insbesondere der Roman Keiner weiß mehr (1968) und der Lyrikband Westwärts 1 & 2 (Erstveröffentlichung 1975) werden als Belege hierfür herangezogen. Die Bedeutung des Subjekts wurde von Brinkmann selbst immer wieder hervorgehoben. So beklagt er etwa in seinem Plädoyer für die Einübung einer neuen Sensibilität (1969) die Angst der Autoren „vor dem anonym ihnen angetragenen Anspruch ,kulturelle‘ ,Leistungen‘ vollbringen zu müssen, ihren eigenen Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Erfahrungen und Gedankenprojektionen zu folgen und diese dem anderen anzubieten als Buch, Gedicht, Roman, Essay“9. In der Tat ist die Literatur Brinkmanns in weiten Teilen einer solchen „Angst“ nicht erlegen. Vorlieben, Abneigungen und Erfahrungen des Autorsubjekts sind vor allem in den tagebuchartigen Materialbänden

schienen); Schnitte (erschienen 1988) und Rom, Blicke (erschienen 1979) entstehen parallel, 1972/73. Vgl. hierzu auch Späth: Rolf Dieter Brinkmann (1989), S. 91ff. 8

So betont auch der Mitherausgeber des Übersetzungsbandes Acid. Neue amerikanische Szene (1969), Ralf-Rainer Rygulla, Brinkmann habe sich von ihm abgewandt, weil er ihn mit der so genannten Popliteratur und der amerikanischen Underground-Literatur in Kontakt gebracht hatte. Später habe er das alles für „Dreck“ und oberflächlichen „Flitterkram“ befunden. Vgl. Geduldig, Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann (2000), S. 99. Vgl. zur sich wandelnden Einstellung Brinkmanns auch Seiler: Pop-Mythos und Rebellion. Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik. In: Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne (2011), S. 243–256.

9

Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36, hg. von Maleen Brinkmann (Sonderheft, 1995), S. 147–155; hier S. 149. Der Essay wurde im Juni 1969 als Radioessay im Hessischen Rundfunk gesendet. Vgl. Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 243f.

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dominant, die sich schon konzeptuell einem kulturellen oder literaturspezifischen Mainstream verweigern.10 Während die postum herausgebrachten, autobiografischen TagebuchBände ohnehin die Frage nach der Differenz von Autorsubjekt und Subjekt des Textes aufwerfen, wird auch Keiner weiß mehr vielfach auf den autobiografischen Gehalt hin gelesen.11 Dieser ist dem Werk fraglos eingeschrieben. Dennoch ist zwischen einem Subjekt, das als ein literarisch-autonomes vom Autor selbst verabschiedet worden ist und einem Subjekt, für das dies nicht gilt, zu unterscheiden. Letzteres gilt für Rom, Blicke und die Materialbände insgesamt. Gegenüber einer Verteidigung dieser Arbeiten als abgeschlossene Werke12 ist eine Konzentration der Forschung auf das Potenzial gerade des Unfertigen, nicht Autorisierten, das hier voll zugänglich wird, möglicherweise eher zielführend.13 Wenn auch über die Publikationsabsichten Brinkmanns nicht abschließend geurteilt werden kann, so geben doch seine Forderungen nach mehr subjektiv-persönlicher Präsenz und die oben zitierte Absage an eine kulturelle Aufgabe einen gewissen Ausblick, was die Form eines potenziellen späteren Romans anbelangt: Mit diesem unverstellten Subjekt ist fraglos etwas gemeint, was in den Materialbänden bereits in hohem Maße praktiziert wird und was auch den Roman „von der Substanz […] hätte ausmachen können.“14

10 Vgl. auch Späth: Rolf Dieter Brinkmann (1989), S. 92. Späth deutet Brinkmanns Schreibprozess als nicht mehr nachträglichen, sondern als mit dem Leben und Erleben zusammenfallenden. Brinkmann habe seit 1970 keine fiktionalen Texte im klassischen Sinne mehr geschrieben, sondern vielmehr sein eigenes Leben. 11 Vgl. hierzu Selg: Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel: Prosaformen bei Rolf Dieter Brinkmann (2001), S. 226f. 12 Auch bei Christoph Zeller, der sich auf Jens-Thies Lehmann bezieht, wird diese Verteidigung vorgenommen. Vgl. Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970 (2010), S. 238. Vgl. zur Unterscheidung von „Original“und „Ausgangsmaterial“ bei Brinkmann auch Peters: Entscheidende und andere zufällige Augenblicke. Momentaufnahmen bei Rolf Dieter Brinkmann und Henri Cartier-Bresson. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 163–178; hier S. 164f. 13 Wie schon bei Ortheil angedeutet. Vgl. Ortheil: Suchbewegungen (1985), S. 25. 14 Di Bella: ‚Der Roman beginnt zu sagen, was er ist‘ – Zur Romanpoetik von Rolf Dieter Brinkmann. In: Schulz, Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ost-

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Ist bei Brinkmann von Subjektivität die Rede, dann muss fraglos sein persönliches Plädoyer für eine autobiografisch-authentische Form15 des Subjektiven beachtet werden. Die Bezeichnung Neue Subjektivität meint, neben den allgemeinen Charakteristiken der Introspektion und Selbstbezüglichkeit, unter anderem auch das dezidiert Autobiografische16. Im Rahmen einer Konturierung der Neuen Subjektivität werden außerdem zutreffend Aspekte der Lyrik und Prosa Brinkmanns herausgearbeitet. Allerdings führt der Schwerpunkt Subjektivität gerade bei Brinkmann zu Missverständnissen, wenn der Relevanz des Materials dabei keine Rechnung getragen wird. In der Variante des Neuen Realismus, wie sie, auch als Kölner Realismus, auf Dieter Wellershoff17 zurückgeführt wird, tritt die Relevanz des Materials schon deutlicher hervor. Brinkmann wird als ein wichtiger Vertreter dieser neuen, auf den französischen Nouveau Roman rekurrierenden Richtung geführt. Das Material des Alltags wird in einem subjektivistischen Wirklichkeitszugriff fassbar und darstellbar gemacht. In den Worten Wellershoffs geht es um den „sinnlich konkreten Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzten Bereich“, wobei nicht mehr „Stilisierung, Abstraktion, Projektion“ vorrangig sind, sondern vielmehr „dringt überall das Konkrete hervor, stellenweise kommt es zu einer

wärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns (2001), S. 248–258; hier S. 255. 15 Die oben zitierten Einteilungen „Buch, Gedicht, Roman, Essay“ sagen, Brinkmann zufolge, „längst nichts mehr, und das ist auch gut so, doch überall werden sie weiterhin zitiert und zur Charakterisierung herangezogen, da in dem Gegenstand sein Verfasser nicht enthalten ist…“ Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 149. 16 Vgl. etwa Drews: Selbsterfahrung und Neue Subjektivität in der Lyrik. In: Akzente, Jg. 24, Nr. 1 (1977), S. 89, der anmerkt, dass das „neue Interesse fürs Subjekt“ sich nicht nur als „autobiographischer Roman“ äußere, sondern Fiktionalität hier unverändert „eine viel günstigere Form [sei], gerade radikal individuelle und subjektive Erfahrungen niederzulegen.“ 17 Wellershoff war seit 1959 Lektor bei Kiepenheuer & Witsch und holte Rolf Dieter Brinkmann Mitte der 1960er Jahre in den Verlag.

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Inflation der sinnlichen Einzelheiten“18. Von einer Inflation der sinnlichen Einzelheiten, einer durchgehenden Präsenz der Objektwelt, die in das Innenleben des Subjektes eindringt, lässt sich bei Brinkmann in der Tat sprechen. Dies gilt bereits für den Debüt-Roman Keiner weiß mehr und mehr noch für die späteren Materialbände. So erscheint Rom, Blicke auch als eine Einlösung früherer Forderungen nach mehr Gegenwart in der Literatur und einer „Intensivität der Hinwendung auf die Gegenstände“19, die hier teils bis zur Überforderung durch das Reizangebot betrieben wird. Nicht immer sind Standort und Bedeutung des Subjektes dabei leicht ersichtlich. So lässt sich beispielsweise fragen, ob das Subjekt als Ort der Versprachlichung versucht, hinter dem Material zu verschwinden oder aber sich selbst erst über das Sammeln von Material realisiert und inszeniert. Die hier genannten, programmatischen Bezugspunkte – Popliteratur, Neue Subjektivität, Neue Sensibilität, Kölner Realismus und Nouveau Roman – deuten bereits auf die Vielschichtigkeit des Werkes, dessen Entstehungszeitraum dabei kaum mehr als ein Jahrzehnt umfasst. Von Seiten des Autors selbst gibt es außerdem deutlichen Widerstand gegen eine systematische Einteilung: Brinkmanns Feindseligkeit gegenüber jeder Art von Literaturprogrammatiken, Klüngeleien und Schriftstellerallüren ist weithin bekannt, seine „singuläre Stellung im zeitgenössischen Literaturbetrieb“20 entsprechend kein Zufall. Vor allem in Rom, Blicke lässt sie sich nachvollziehen: Allein die Vermutung, dass Schriftstellerkollegen sich im Namen eines bestimmten Schreibprogrammes zusammengerottet haben könnten, wird hier zum Anlass strikter Abgrenzung. Die Ereignisse in der Villa Massimo in Rom, in der Brinkmann sich 1972/73 als Stipendiat unter anderen deutschen Künstlern aufhält, bilden den Stein des Anstoßes; „[D]as Gebarme der Ideen, das Gemäste der Gedanken sogenannter Künstler am Leid anderer“, ihre „Programme, die Formulierungen“ evozieren bei ihm

18 Wellershoff: Neuer Realismus. In: Die Kiepe, Jg. 13, Nr. 1 (1965). Vgl. hierzu auch Baßler: In der Grube. Brinkmanns Neuer Realismus. In: Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne (2011), S. 17–31. 19 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 154. 20 von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds (2007), S. 103.

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das „schiere Entsetzen“. Alles hat für ihn „den Anschein der HordenStruktur, der Verweise, der Deckungen, der Rückversicherungen.“21 Hinzu kommt die bereits angesprochene Abgrenzung Brinkmanns von den eigenen Anfängen, von den Versprechungen des Pop, Beat und Underground. Ebenso in Rom, Blicke kommt der Schrecken zur Sprache, den der Autor empfindet, als er sieht „welche Typen [s]eine Bücher unterm Arm hatten“22 – unter vielem stellte er sich offenbar zunächst „etwas sehr anderes vor als wie es sich gezeigt hat in den Auswirkungen“23. Es wundert kaum, dass Brinkmann auch die von Enzensberger formulierten EngagementForderungen weit von sich weist und einer Politisierungstendenz insgesamt ablehnend gegenübersteht.24 Während die Anhänger der Protestbewegung aus linkspolitischen Gründen gegen traditionelle, alteingesessene Autoritäten demonstrieren, bleibt er ganz bei sich und seiner „Poetik des Delinquenten“25. Die Provokation von Autoritäten geschieht vielmehr im eigenen Namen – so etwa, als Brinkmann den Literaturkritikern Marcel ReichRanicki und Harald Hartung 1968, während einer Podiumsdiskussion in der Westberliner Akademie der Künste, zuruft: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen.“26 Vor dem Hintergrund der bisher genannten, literatursystematischen Einteilungen und der eigenen Positionen Brinkmanns bleibt also zu fragen, welches Konzept ästhetischer Erfahrung hier angelegt wird. Wie lässt sich

21 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 279. 22 Ebd., S. 325. 23 Ebd. 24 Vgl. etwa Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147. 25 Greif: „Innerlichkeit ist beschissen“. Rolf Dieter Brinkmann und die Studentenbewegung. In: Peter Weiss Jahrbuch, Bd. 20 (2011), S. 95–114, hier S. 99. 26 Vgl. etwa Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 239. Zu diesem bekannten, im Internet, in Presse- und Forschungstexten kursierenden Zitat existiert keine Tonaufzeichnung – wie die Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann (Gunter Geduldig, Universität Vechta) bestätigt. Greif: „Innerlichkeit ist beschissen“. In: Peter Weiss Jahrbuch, Bd. 20 (2011), S. 95–114, hier S. 97, kommt zu der Einschätzung, dass Brinkmann mit seiner Haltung die „Kulturkritik der 68erBewegung“ nicht widerlege, sondern sie vielmehr „radikalisiert“, indem er „der studentischen Politik eine zutiefst spießbürgerliche Herkunft nachweist.“

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das Verhältnis von Subjekt und Material, wie lassen sich die Ordnungsprozesse einzelner Texte beschreiben, ohne primär von einem Subjektivitätspostulat auszugehen? Nicht zuletzt: Welche besondere Rolle kommt dabei dem Medium zu?

2.1 „B ILDER , DIE WIEDERKOMMEN “ 27 – K EINER WEIß MEHR (1968): O RGANISATIONSVERSUCH DES ÜBERFORDERTEN S UBJEKTS Die Topologie der Bilder im bildlosen Roman Brinkmann war 1969 zu klaren Vorstellungen gelangt, die sich in den häufig provokativen Statements seiner Essays nachlesen lassen: „[D]as alles meint, daß nicht die Sprache wörtlich zu nehmen ist, sondern das Bild, das in ihr angeboten wird. Das aber hat bis auf das Äußerlichste konkretisiert zu werden.“28 Keiner weiß mehr liest sich als ein Roman, der Bilder und Bildlichkeit bereits zentral verhandelt, ohne dabei zugleich über Abbildungen zu verfügen. Bilder stellen sich hier dar als Möglichkeiten oder Realitätsvarianten, als Rätsel, „Vexierbilder“29 oder Erinnerungsfetzen, die, einem Daumenkino vergleichbar, als Blitzlichtaufnahmen des Vergangenen, „hintereinander aufgereiht“30, erscheinen: „Man lebt ja schließlich in den Bildern, die ständig zerfallen.“31 „Bilder, die langsam immerzu fallen, langsam, immer von neuem wiederholt, mit bestimmten einzelnen Worten wie Postkartenserien, die schnell hintereinander durchgeblättert werden immer noch einmal von vorn, Bilder, Bildchen, die nachei-

27 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 215. 28 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 154. 29 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 104, 112. 30 Ebd., S. 47. 31 Ebd., S. 233. Dabei wird im Roman zwischen Fotografien/konkreten, realen Abbildungen und Vorstellungsbildern nicht explizit unterschieden. Vgl. auch Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 250.

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nander wegklappen, fallen, so daß eine durchgehende Bewegung entsteht, die sich andauernd wiederholt.“32

Im Gegensatz zur Bewegtheit der Alltagsrealität erscheint das Bild auch hier zunächst starr im Sinne einer Unterbrechung. Während das Subjekt sich in und mit der bewegten Umwelt organisieren muss, versucht es zugleich, die Welt immer in der Momentaufnahme zu begreifen – in einem fixen Bild. Nachträglich erfolgt dann der Umkehrversuch: diese einzelnen Bilder zu einem befriedigenden Gesamteindruck zu synthetisieren. Aus den Bildern entsteht aber, trotz Daumenkino-Assoziation, nicht tatsächlich eine fließende Bewegung, wie es in filmtechnischer Perspektive als möglich gilt.33 Zwar ist von einer „durchgehende[n] Bewegung“ die Rede, zugleich aber handelt es sich um „Bildchen, die nacheinander wegklappen“34 und sich so in das Staccato des Erzählens einpassen. Bereits vor dem Hintergrund der Bild-Thematik in Keiner weiß mehr, dem auch hier schon „fotografische[n] Blick“, der zum „Wahrnehmungsund damit zum Schreibmodus“35 wird, erscheint es nur konsequent, dass die Auseinandersetzung mit Film und Fotografie zu einem wichtigen Element der Arbeit Brinkmanns wird. Der Film in Worten36 belegt dies ebenso wie

32 Ebd., S. 209. Auch Kinder geht von einem „Leitmotiv Bild/Foto“ aus. Vgl. Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. R. D. Brinkmanns „Keiner weiß mehr“ und die „Tendenzwende“. In: Ders.: Von gleicher Hand. Aufsätze, Essays zur Gegenwartsliteratur und etwas Poetik (1995), S. 53–77; hier S. 67. 33 Nach Seel: Ästhetik des Erscheinens (2000), S. 288, ist dies nicht möglich: „Das Bild ist ein Flächenphänomen, das nicht in (reale oder imaginäre) Raumverhältnisse überführt werden kann.“ Während Siegfried Krakauer den Film als Erweiterung der Fotografie bzw. selbst als eine Form des Bildes interpretierte, widersprechen Roland Barthes und Gilles Deleuze dieser Ansicht, indem sie Filme nicht als bewegte Bilder, sondern als „Bewegungsbilder“ einordnen. Auch Erwin Panofsky deutete den Film nicht als aus einzelnen Bildern zusammengesetztes Produkt, sondern als virtuellen Raum. Vgl. Ausführungen ebd., S. 289f. 34 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 209. 35 von Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007), S. 98. 36 Brinkmann: Der Film in Worten. Prosa Erzählungen Essays Hörspiele Fotos Collagen 1965–1974 (1982).

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die Materialbände und die 2007 als DVD veröffentlichen Super-8-Filme37. Kathrin Peters reflektiert den Gegensatz von Unterbrechung und Synthese, mit Bezug auf die Fotofolge unter dem Titel Wie ich lebe und warum 1970/197438. Ihre Beobachtung lässt sich auf den unbebilderten Roman Keiner weiß mehr durchaus übertragen. „Abgespult ergeben die Einzelbilder zwar einen Film oder eben einen „Film in Worten“, der aber beläßt die Momente der Unterbrechung sichtbar; die Flüchtigkeit des Wahrgenommenen erhält in der Unterbrechung erst eine Markierung und suspendiert jede filmische oder literarische Illusion und Narrativität.“39

Hiervon ausgehend lässt sich fragen, welchem Ordnungsprinzip die letztlich einzeln bleibenden (Sprach-)Bildchen nun also unterstellt sind und welchen poetologisch-ästhetischen Zweck sie erfüllen. Das häufig postulierte Ungenügen Brinkmanns an der Sprache, seine „Sprachskepsis“40 als Ursache für die Referenz auf Bildlichkeit heranzuziehen, erscheint mir vorschnell – zumal der Roman ja formal sprachlich bleibt. Sicherlich kann diese Skepsis nicht in Abrede gestellt werden. Sie dürfte vielmehr zum literaturwissenschaftlichen Konsens über die poetologischen Standpunkte des Autors gehören. Dennoch verweist die durchgehende Bildthematik des

37 von Harald Bergmann herausgegeben, 3 DVDs (1. Die Super-8-Filme, 19671970 / 2. Arbeitsbücher und Collagen, 1971-1973 / 3. Die Tonbänder (Kinofassung), 1973-1975) unter dem Titel Brinkmanns Zorn (2007). 38 In: Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 143ff. 39 Peters: Entscheidende und andere zufällige Augenblicke. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 174f. 40 Vgl. z.B. Cappelmann: Körper-Bilder und Bild-Körper im lyrischen Werk Rolf Dieter Brinkmanns: Einsatz und Wirkungsweisen. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 125– 142; hier S. 138. Cappelmann betont, dass Brinkmann „[d]ie Grenzen sprachlicher Darstellung in einer zunehmend durch visuelle Eindrücke geprägten Gesellschaft […] zeitlebens registriert und thematisiert“ habe. Seine „Sprachskepsis“ habe zu einer Sprache geführt, welche auf die Bildmedien Film und Fotografie rekurriere. Vgl. auch Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 250, der mit Bezug auf Keiner weiß mehr die „Suche nach einem Ausweg aus der sprachlichen Sackgasse“ konstatiert.

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Romans meines Erachtens primär auf etwas anderes, nämlich auf eine tragfähige Ordnungsfunktion des Bildlichen, die auch im Medium Sprache angelegt ist: Das Material ist „zuviel“41 und wird in einem Automatismus bildlich und räumlich-topologisch geordnet. Bildlichkeit realisiert sich in Keiner weiß mehr ausnahmslos sprachlich, so dass von einer tatsächlichen, medialen Alternative zur Sprache nicht gesprochen werden kann. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch die den angebotenen Sprach-Bildern inhärente Bedeutung, die als Vorzeige-Effekt auftritt: Ein Stiefel, ein Unterschenkel, ein Lippenstift und so weiter. Im Schreibduktus wird deutlich, dass Brinkmann hier nicht auf Beschreibung oder Interpretation von Bildmaterial setzt, sondern auf dessen sprachliche Präsentation und Zeigefunktion, so dass der Sprung vom bildlosen Roman zu den späteren Material-BildBänden nicht mehr allzu groß ist. Darüber hinaus sind „intermediale Bezüge“ in Keiner weiß mehr nicht weniger evident als in den nach 1970 entstandenen Werken, legt man die Terminologie Rajewskys zugrunde, wonach diese gleichzusetzen sind mit der „Bedeutungskonstitution eines medialen Produktes durch Bezugnahme auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder das semiotische System (=Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent“42. Dabei impliziert der Referenzbegriff sowohl das einfache Reden über ein mediales Bezugssystem als auch die Reproduktion bestimmter Elemente und Strukturen desselben.43 Nicht zu übersehen ist, dass Brinkmann mit seinem Roman das Bezugssystem Bild beziehungsweise Fotografie sowohl thematisiert, insbesondere in seiner auffälligen Relevanz für die Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse des Erzähler-Protagonisten44,

41 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 96. 42 Rajewsky: Intermedialität (2002), S. 76. 43 Vgl. ebd., S. 79f. 44 Die Bezeichnung „Erzähler-Protagonist“ wird durch die „Einziehung der Distanz zwischen Erzähler und Er-Held“ begründbar. Vgl. Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. In: Ders.: Von gleicher Hand (1995), S. 63. Vgl. auch Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 226–227, der darüber hinaus in Keiner weiß mehr eine „zunehmend autobiografisch-realistische“ Schreibweise realisiert sieht, wobei „die Namenlosigkeit des aus seiner Sicht die Ereignisse

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„[J]etzt war es wieder eine schwankende Unruhe, während er durch die Stadt ging, als ob er in einem viel zu großen Bild herumtappte, in dem er etwas vermutete, das unklar blieb, wie in einem Vexierbild, in dem man nach etwas Bestimmtem zu suchen hatte […].“45 „Womit hing nun, an dieser Stelle, was zusammen, er mit ihr, sie mit den Bildern, im dunkeln gelassen, die Bilder, im dunkeln gelassen, mit ihm, er mit den Bildern, die Bilder mit ihr, sie mit ihm in einem Bild, das Bild als Vorstellung, nicht seine, nicht ihre, von niemandem?“46

als auch Funktions- und Wirkungsweisen desselben reproduziert. So mutet die im Folgenden zitierte Passage wie eine sprachliche Reproduktion einer Frauen-Fotografie aus dem ebenfalls 1968 erschienen Gedichtband Godzilla an. Die tatsächlich bewegte Straßenszene (Beobachter und Beobachtete sind beide in Bewegung), wird dem Rezipienten als bereits abfotografierte Szene dargeboten. „[D]ie halbe Drehung eines Gesichts, ein Mädchen, das lachte, das Haar zur Seite gerutscht, nach vorn gefallen ins Gesicht und aus dem Gesicht wieder mit einer kurzen Handbewegung nach hinten geschoben, fast so wie auf den Bildern, ausgeschnitten, an die Wand gesteckt, in einer durchgehenden anhaltenden Bewegung, lebendig, sehr lebendig, lebendig festgehalten mitten in einer Drehung.“47

schildernden Erzähler-Protagonisten (,er‘) es den Lesern erleichtert, ,Rolf Dieter Brinkmann‘ an diese ,Leerstelle‘ zu setzen“. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie (2002), S. 64, definieren diese Erzählsicht als „Interne Fokalisierung: Erzähler ≈ Figur (,Mitsicht‘ – der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiß)“, wobei per definitionem davon ausgegangen wird, dass „sowohl der Erzähler als auch sein Erzählen eine Fiktion, d. h. nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension des Diskurses darstellen“ (68), d.h. die Nähe von Autor und Erzähler in fiktionalen Texten nicht zur Disposition steht – in Abgrenzung zu faktualen Erzählungen. 45 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 104. 46 Ebd., S. 115. 47 Ebd., S. 109.

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Insgesamt wird hiermit, die Aspekte Bildlichkeit und Intermedialität betreffend, mehr eine Entwicklungslinie als ein Bruch zu den späteren CollageWerken aufgezeigt. Dass deren dennoch evidentes, ästhetisches Eigenpotenzial nicht zu unterschlagen ist, wird mit dem noch folgenden Kapitel zu Brinkmanns Rom, Blicke deutlicher werden. Es bleibt die Frage, woraus sich das Ordnungsbedürfnis generiert, was also eigentlich Brinkmanns Erzähler-Protagonist „zuviel“48 geworden ist. Im Erzählverlauf wird rasch deutlich, dass es sich um ein Zuviel an lebbaren „Möglichkeiten“49, an möglichen Formen und Wegen der Lebensgestaltung handelt. Diese präsentieren sich auf zweierlei Weise: entweder als Bildprodukte der Printmedien oder aber als Vorstellungs- und Erinnerungsbilder, die sich aus den in Realität beobachtbaren Lebens-, Verhaltens- und Erscheinungsweisen anderer Personen generieren.50 Nicht nur „sie“, die Ehefrau, sowie die Freunde Rainer und Gerald verkörpern diverse Möglichkeiten, sondern auch fremde Personen auf der Straße: ältere Ehepaare, immer wieder Frauen, eine Prostituierte. Dass es sich, vereinfacht ausgedrückt, um eine Resignation angesichts vielfältiger Lebensmöglichkeiten handelt, das heißt im Grunde um einen größeren, postmodernen Problemzusammenhang, lässt sich an verschiedensten Stellen des Romans herauspräparieren.

48 Ebd., S. 219. Dort heißt es: „Zuviel. Zuviel. Überall alles Zuviel. Zuviel.“ 49 Ebd., S. 148: „[…] die Bilder, Möglichkeiten und sonst nichts.“ Vgl. auch Rauen:

Entwicklungsroman

und

,Zwei-Drittel-Gesellschaft‘.

In:

Boyken,

Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Neue Perspektiven (2010), S. 94, der betont, dass „die Entstehung von Keiner weiß mehr […] in eine Phase tiefgreifenden, gesamtgesellschaftlichen Wandels [fällt]“: einerseits sei ein „Homogenisierungstrend“ infolge des Wirtschaftswunders und allgemein steigender Durchschnittseinkommen zu verzeichnen, andererseits „ein gegenläufiger Trend zur Ausdifferenzierung von Lebensstilen“ beobachtbar, der sich „auf Basis erweiterter sozialer Partizipationschancen und medialer Vergesellschaftung durch Radio und Fernsehen“ entwickelte. 50 Zeller bemerkt hierzu allgemeiner: „Leben versteht Brinkmann […] als ein Medium, das sich in Bildern realisiert. Das Leben darzustellen heißt dann, dessen Bildlichkeit zu reproduzieren.“ Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 274.

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Nur vordergründig werden einzelne Dinge, Sachen, Alltagszeug für den Überdruss verantwortlich gemacht. „[D]ieses unaufhörliche Sichsummieren von Dingen, Sachen, Gesehenem, das sich in Augenblicken als einziges, was sicher zu sein scheint, zeigt“51, fungiert als Kommunikationsbasis für ein größeres Leiden. Dabei weiß „er“: „Zusammengenommen ergab das alles keinen Grund.“52 Die wiederholt erwähnten, in der Wohnung verstreut liegenden Sachen von Frau und Kind, Spielzeug, einzelne Kleidungsstücke, Zeitschriften und anderes, sind weder je für sich genommen Auslöser des Unbehagens, noch sind sie es in der Summe. Brinkmanns Held ist sich darüber im Klaren, wie mehrmals dargelegt wird. Ähnliches gilt für die in steter Regelmäßigkeit angeführten Fotografien und Vorstellungsbilder. Die Beobachtung, dass „die permanente Wechselwirkung der Medienfotografien mit den eigenen Vorstellungsbildern […] im Werk Brinkmanns nahezu ausschließlich über das Motiv des Körpers thematisiert [wird]“53 ist sicherlich richtig. Fraglos dominieren Körperlichkeit und Sexualität die Bildthematik von Keiner weiß mehr. Doch weder das Bild als solches noch das, was es konkret zeigt – ob im Kopf oder in der Illustrierten – sind ausschlaggebend. Das Bild fungiert als Projektionsfläche für durch den Erzähler-Protagonisten nicht näher bestimmte Lebensmöglichkeiten. Versteht man das Bild als (ikonisches/symbolisches) Zeichen, dann lässt sich eine Distanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem ausmachen, die auf Rezeptionsseite nicht leicht zu überwinden ist. In seiner sprachlichen Realisierungsform, das heißt unter Verzicht auf konkrete Abbildungen, kann es sich bei dem Bild ohnehin nicht um ein indexikalisches Zeichen54 handeln – so

51 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 81. 52 Ebd., S. 81. 53 Cappelmann: Körper-Bilder und Bild-Körper. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Neue Perspektiven (2010), S. 133. 54 Mit den Termini „ikonisches“/„indexikalisches“ Zeichen wird Bezug genommen auf Fulda: Am Ende des photographischen Zeitalters? In: Schmidt, Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968 (2009), S. 402f. Vereinfacht ausgedrückt, wird das ikonische Zeichen als symbolisches verstanden (z. B. Sprache), das keine Ähnlichkeit mit seinem Objekt aufweisen muss, wohingegen das indexikalische Zeichen von seinem Objekt abhängig ist und ohne dieses keine Funktion hätte (z. B. Fotografie). Hierbei unterscheidet Fulda sinnvoll zwischen prädigitaler und digitaler Fotografie, die sich fraglos

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dass diese Distanz ein Stück weit dem medialen Verfahren geschuldet ist. Jedoch weist Daniel Fulda auch darauf hin, dass „[i]n Brinkmanns Büchern […] die Referentialität der meisten Photographien durch ostentative Undeutlichkeit oder Konventionalität entwertet“ sei; „sie fungieren weniger als indexikalische denn als symbolische Zeichen“55. Wenn also für sprachliche und konkrete Bildlichkeit bei Brinkmann ganz Ähnliches gilt, ist folglich der Grad an Referenzialität nicht notwendig davon abhängig, ob der Text konkrete Abbildungen aufweist, Fotografie schlicht thematisiert oder „qua System“56 auf die Fotografie Bezug nimmt. Brinkmanns Verständnis von Unmittelbarkeit realisiert sich hier in der Präsentation von (sprachlich vermittelten) Bildern: Sie haben, so legt der Text nahe, für seine Figur ein konkretes Assoziationspotenzial und verweisen auf Möglichkeiten, die der Rezipient zufällig reproduzieren kann – oder eben zufällig nicht. Die Hypothese, dass Bilder in Keiner weiß mehr im Wesentlichen mit Möglichkeiten gleichzusetzen sind, lässt sich leicht stützen, wenn man einerseits die Wahrnehmung des Erzähler-Protagonisten selbst57 beachtet und andererseits verschiedene thematische Stränge des Romans rekonstruiert. Zu diesen gehören unübersehbar der stete Bezug auf das Erscheinungsbild – Schuhe, Kleidung, Figur, Gesten etc. – der anderen sowie die zwischen „Er“ und seiner Frau praktizierte Kommunikation über Dritte. Als ein besonders markanter Topos innerhalb dieser Kommunikation stellt sich der Stiefel dar, konkret: die Stiefel fremder Frauen.58 Erzählt

durch größere Manipulierbarkeit und abgeschwächte „Referenzsicherheit“ (412) auszeichnet. 55 Ebd., S. 409. 56 Rajewky: Intermedialität (2002), S. 76. 57 Vgl. in Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005) etwa die Perzeption der Außenwelt als „Möglichkeiten übereinanderkopiert“ (47) oder als „die vielen Möglichkeiten, die er sah und die immer außerhalb von ihm persönlich geblieben waren“ (78) und dazu „das Gehen, allein in der Stadt, die Bilder, Möglichkeiten und sonst nichts.“ (148) 58 Vgl. auch Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 246. Interessanterweise wird hier der Stiefel als Fetisch imaginiert und der „Stiefel-Fetischist […] in seiner auf einen Punkt zusammengedrängten Leidenschaft verständlich“ dargestellt. Sowohl für die religiöse als auch sexuelle Bedeutung des Fetischismus ist die zentrale Relevanz eines bestimmten Gegen-

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er ihr von den Schuhen anderer Frauen, meint er „im selben Moment noch mehr damit […], nämlich das Mädchen, das diese Schuhe angehabt hatte“ und das ihm alles in allem „viel intensiver anwesend“59 erscheint als seine Frau. Kauft sie sich entsprechend auf sein Anraten „auch jene gelben Lackstiefel“60, den offenbar aktuellen Modetrend, kann sie hiermit dennoch nicht genügen: Die Stiefel sitzen bei den anderen doch immer besser, „fester, strammer an den Unterschenkeln“61. Notwendig, denn ein ums andere Mal wird deutlich: „Er hatte etwas anderes gemeint, gewiß, nämlich den Rest. In ihm selber auseinandergefallen, so daß er noch einmal damit von vorn anfangen mußte. Mit den Bildern. In der Zeitschrift, die er aus der Stadt mitgebracht hatte und die sie nun durchsah.“62 Sie, seine Frau, durchschaut durchaus, zumindest aus Sichtweise des Erzähler-Protagonisten, die verlagerte Kommunikationsebene und fühlt sich zunehmend „in die Enge getrieben“63. Während es für die Schuh-Thematik charakteristisch ist, dass sie lediglich einseitig, das heißt von ihm, angestoßen und reproduziert wird, wird die Kommunikation über Dritte aber auch von ihr angeregt und beidseitig genutzt. Eine Szene, die dies eindringlich macht, beginnt mit dem einleitenden Satz „Manchmal passierte etwas, an dem sie zusammen teilnahmen“64 und wird dann ausführlich über sechs Seiten ausgebreitet. Das Paar beobachtet, abends auf dem Balkon stehend, wie ein Krankenwagen mit Blaulicht am gegenüberliegenden Haus eintrifft. Zahlreiche Schaulustige bleiben unten auf der Straße stehen, bis schließlich ein Leichenwagen vorfährt. Über die wechselseitig abgegebenen Kommentare verhandeln sie ihren eigenen Fall beziehungsweise die Möglichkeit, die sie ausgelassen haben: eine blutige Abtreibung in Eigenregie, die schließlich zum Tode führt.

standes oder Körperteiles bestimmend. Die Kommunikationsverlagerung auf einen fetischähnlichen Topos macht offenbar für den Protagonisten in dem Maße Sinn, in dem dieser das eigene Erleben und die Selbstwahrnehmung tangiert. Entsprechend wird diese Kommunikation einseitig von ihm angestoßen. 59 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 43. 60 Ebd., S. 90. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 112. 63 Ebd., S. 113. 64 Ebd., S. 67.

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„Sie meinte, es sei vielleicht eine Frau mit einer Fehlgeburt, die blutete und weiter blutete immerfort […]. Er begriff, was sie damit sagen wollte.“65 „Sie hatte recht. Es mußte etwas Derartiges sein, und es war sie neben ihm, die darauf gekommen war, sich womöglich selber so daliegen sah, immerfort blutend und blutend […]. Zwischen ihnen war ausgemacht, daß es eine Frau war, nicht viel älter als sie neben ihm auf dem Balkon, die dort gegenüber mehr und mehr abnahm, verblaßte […].“66

Schließlich, „wie um für sie beide […] den Vorgang abzurunden“67, beobachten sie einige Zeit später einen Mann, der allein aus dem Haus kommt und einen verstörten Eindruck macht. Wenn der Erzähler dazu ansetzt, diesen Abend auf dem Balkon als letztlich gewöhnlich und belanglos zu verbuchen, steht dies nicht nur im Widerspruch zu der auffällig umfangreichen, detaillierten Schilderung. Offensichtlich lässt sich auch die Tragweite des Ereignisses nicht ignorieren: sein Interpretationsversuch – „sie beide wie zusammengetan zu einem Bild, das ihnen zeigte, sie kamen aus, ganz gut mit solchen Abenden, so ähnlichen Vorgängen, den kleinen Erlebnissen“68 – wirkt wie die bloß vorgetäuschte Hoffnung auf ein ruhiges Miteinander-Auskommen. Die Resignation angesichts einer missglückten Kommunikation, die das Eigentliche unbeholfen ausspart oder in Außenbereiche abdrängt, klingt hier bereits an.69 Wiederum, wie die zuletzt zitierte Stelle zeigt, findet unübersehbar die Koppelung von Bild und Möglichkeit statt. Das Bild eines jungen Paares,

65 Ebd., S. 68. 66 Ebd., S. 69. 67 Ebd., S. 70. 68 Ebd., S. 72. 69 Vgl. Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 245, der in der Balkon-Szene die „Belanglosigkeit des Redens“ beispielhaft ausgedrückt sieht, wobei ihre Bedeutung „von der Hauptfigur projizierend zurechtgestutzt [wird] auf ihre tatsächliche Nichtigkeit in Bezug auf ihr Zusammensein“. Dieser Interpretation kann hier nicht zugestimmt werden, da dem Reden/der Kommunikation (über Dritte) tatsächlich, auch aus Erzähler-Perspektive, eine hohe Bedeutung zukommt, wenn diese auch weitestgehend misslingt.

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das sich erfolgreich über gemeinsame Beobachtungen zu verständigen vermag, stellt eine denkbare Möglichkeit dar, die jedoch nicht verfügbar erscheint. Wie viele andere Möglichkeiten erweist sich auch diese als „außerhalb von ihm persönlich“70. Die hohe Frequenz des Bild-Begriffs in Keiner weiß mehr entspricht der Flut an Möglichkeiten, die auf den Erzähler-Protagonisten einwirken – Möglichkeiten des Sich-Anziehens, Sich-Verhaltens, Sich-Wahrnehmens und Sich-selbst-Deutens. So ist das Abrufen und Erinnern von Bildern letztlich auch als Versuch zu deuten, diese Möglichkeiten im wortwörtlichen Sinne anschaulich und verfügbar zu machen, sich an ihnen abzuarbeiten. Einzelne Bilder lassen sich, verglichen mit den hochkomplexen Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung, deutlich leichter nebeneinander und zueinander in Beziehung und damit in eine topologische Ordnung setzen. Die eingangs erwähnte Kontrastierung von bewegter Umwelt und bildlicher Momentaufnahme spielt dabei eine wesentliche Rolle. Das „Land der Bilder, das eine neue Orientierung verspricht“71 gewinnt in dem Maße Oberhand, in dem die Sprache vom Anspruch adäquater Wirklichkeitserfassung entlastet wird – und dies gilt nicht erst für die fotografischen Abbildungen der Materialbände. Es handelt sich also auch um einen „Versuch, den verspürten Mängeln der Sprache eine […] ergänzende, sinnliche Komponente hinzuzufügen oder gegenüberzustellen.“72 Die Orientierung in der Gegenwart erfolgt insbesondere in Rom, Blicke zu einem Großteil mittels unterschiedlicher Bildformen73, wie Postkarten, Abbildungen aus Zeitschriften und ähnlichem. Jedoch bedeutet der Umstand, dass Keiner weiß mehr ohne den Abdruck von Bildern auskommt, nicht, dass diese als weniger relevant hinsichtlich des Orientierungsanspruches zu beurteilen sind. Brinkmanns Plädoyer für eine Literatur, die sich am „direkten, möglichst gering vermittelten Zugriff der Photografie auf Wirklichkeit orien-

70 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 78. 71 Stiegler: Das zerstörende Bild. Versuch über eine poetologische Figur Rolf Dieter Brinkmanns. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 23–36; hier S. 27. 72 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 250. 73 Vgl. hierzu auch Stiegler: Das zerstörende Bild. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 34f.

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tiert“74, spielt innerhalb seines ästhetischen Gesamtkonzepts eine wesentliche Rolle. Die Bildfolgen des Gedichtbandes Westwärts 1&2 setzen dieses, als „bewusst hergestellte Komposition“75, ebenso um wie die bebilderten Materialbände. Bereits in Keiner weiß mehr zeichnet sich der Anspruch an eine mediale Alternative ab; das bildliche Organisationsprinzip entfaltet dabei ein ambivalentes Potenzial zwischen Neuordnung und Überforderung76, indem der Rezipient unvermittelt mit den Assoziationsbewegungen des Erzähler-Protagonisten konfrontiert wird. Brinkmanns Idealvorstellung einer Literatur, die mit den bisherigen Konventionen bricht, stellt den Rezipienten vor neue Herausforderungen, denn „[d]em Anwachsen von Bildern = Vorstellungen (nicht von Wörtern) entspricht die Empfindlichkeit für konkret Mögliches, das realisiert sein will. Für die Literatur heißt das: tradiertes Verständnis von Formen mittels Erweiterung dieser vorhandenen Formen aufzulösen und damit die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich zu lassen, statt dessen Vorstellungen zu projizieren […].“77

Brinkmanns namenloser Protagonist verkörpert, „irgendwie suchend“78, gleichsam die neue, postmoderne Herausforderung des Vielen, Gleichzeitigen und zugleich Möglichen, das der Autor hier mit dem „Anwachsen von

74 Petersdorff: Intermedialität und neuer Realismus. Die Text-Bild-Kombinationen Rolf Dieter Brinkmanns In: Schmidt, Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenwechsel zwischen 1918 und 1968 (2009), S. 361–377; hier S. 365. 75 Ebd., S. 361. Petersdorff betont mit dieser Wendung noch einmal die, in seiner Auffassung, häufig übersehene Abgrenzung zu den Materialbänden, welche nicht mehr eigens vom Autor für den Druck vorbereitet wurden. 76 Vgl. hierzu Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. In: Ders.: Von gleicher Hand (1995), S. 63f. Kinders Formulierung einer „nicht nur unkonventionellen, sondern kommunikationsfeindlichen Darstellungsweise“, in der die „gewohnte zeitliche, räumliche, psychologische Handlungslogik im Sinne einer linearen Stimmigkeit aufgehoben“ und die „Verkettungslogik dem Leser uneinsichtig“ sei, schießt allerdings m. E. übers Ziel hinaus, da demgemäß ein Großteil moderner Literatur als kaum lesbar gelten würde. 77 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 223. 78 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 90.

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Bildern“79 umschreibt. Dabei entsteht keine sich als fließende Bewegung darbietende Bildsynthese, sondern vielmehr eine Topologie der Bilder, der auseinanderfallenden und nebeneinanderliegenden Möglichkeiten. „Er konnte den ganzen Zusammenhang nun genau überblicken und fühlte sich beruhigt, jetzt, und jetzt doch nicht, während der Zusammenhang, diese Bilder und diese Bilder und diese Bilder und diese Bilder, die er wie vor sich ausgebreitet liegen sehen konnte, noch immer zu überblicken waren. Einzelheiten, die Fakten überschaubar, aber nicht zu durchschauen, was die Bewegung anbelangte, die sich nun auch ohne sein Dazutun fortsetzte, kein Fotoalbum, kein Film, der, rückwärts abgespult, mit dem Anfang aufhörte.“80

Raum I: In der Zeit „herumgehen“81. Topografische Aspekte der Darstellung Mit dem Roman Keiner weiß mehr wird jedoch nicht nur topologisch, sondern auch in einem weiteren Sinne topografisch über das Material verfügt. Beide Begriffe sind dem literaturwissenschaftlichen Räumlichkeitsdiskurs entlehnt. Wie bereits im Theoriekapitel dargelegt, variieren dabei die Begriffsdefinitionen rund um den Spatial Turn, in dessen Rahmen die Räumlichkeitsthematik unter verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven verhandelt wurde. So sind auch die Begriffe topological/topologisch und topographical/topografisch nicht immer trennscharf verwendet worden.82 Letztlich, so ließe sich allgemein festhalten, referiert auch eine exakte, kartografische oder beschreibende, Raumdarstellung immer zugleich auf den Topologie-Aspekt, da sie neben der Darstellung des Raumes notwendig eine Abbildung der Lagebeziehungen seiner Objekte mitliefert.

79 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 223. 80 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 239. 81 Ebd., S. 103. 82 Vgl. Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn (2008), S. 13, wo es zum „Oberbegriff spatial turn“ heißt: „Erst dessen Unterbestimmtheit hat die beiden Konkurrenzbegriffe (topographical/topological turn, Anm. d. Verf.) auf den Plan gerufen.“ Vgl. Theoriekapitel.

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Dies gilt nicht weniger für sprachliche Raumbeschreibungen in Keiner weiß mehr. Dennoch soll im Folgenden, in Abgrenzung zum vorangehenden Kapitel, der Schwerpunkt auf den Topografie-Begriff gelegt werden, insofern es hier nicht mehr um ein vorrangig bildliches Organisationsprinzip, sondern um überwiegend realweltliche Raumverhältnisse geht. Festzuhalten ist zunächst, dass die Bedeutung des Raumes im Roman evident ist. In seinem Essay Einübung einer neuen Sensibilität gibt Brinkmann hierzu die poetologische Fundierung: „Eine Literatur, die in der Gegenwart anfängt, wird den ,Raum‘ entdecken“83. Raum wird einerseits im metaphorischen Sprachgebrauch des Erzähler-Protagonisten beständig aufgerufen: Das Ich, dargestellt aus personaler Perspektive, ordnet und versteht sich einerseits im Raum; auf der anderen Seite wird der Hauptschauplatz des Romans, die offenbar zu enge Mietwohnung, immer wieder im Sinne einer realen Raumsituation im Text verhandelt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das so genannte „Mittelzimmer“84, dessen Bewohner wechseln: einmal ist es der Freund Rainer, der sich dort langfristig einquartiert, ein anderes Mal Gerald, ein weiterer enger Freund. Auch als Schlafplatz des Kindes wird das Zimmer eingesetzt, sowie schließlich für die Ehefrau neu hergerichtet. Das vom bürgerlich-konservativen Idealmodell familiärer Wohnsituationen – als autonome Einheit – abweichende Wohngemeinschaftsleben überrascht für einen Roman der späten 1960er Jahre nicht, dessen auffallende Thematisierung und Problematisierung hingegen schon. Auf der Ebene der Wohnsituation artikuliert sich die auch sozialhistorisch mitbestimmte Bedeutung von Raum85, die das Individuum mit bestimmten Anpas-

83 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 151. 84 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), z. B. S. 11. 85 Auf die auch hingewiesen wird bei Lange: „Walk“. „Don’t Walk“. Dynamische und statische Raumbilder in Rolf Dieter Brinkmanns Westwärts 1&2. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 47–62; hier S. 48f. In seiner Analyse der Raumbilder in Brinkmanns Westwärts 1&2 weist Lange darauf hin, dass ein wahrnehmungspsychologisch orientiertes, Subjekt-fokussiertes „Konzept des erlebten Raumes“ die Komponente ausklammere, dass Raum auch eine sozial produzierte, „gesellschaftlich verhandelte Festlegung“ darstelle – wie dies hingegen im Rahmen des

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sungszwängen konfrontiert. Das unmittelbare Miterleben der sexuellen Intimität anderer im privaten Raum86 sowie die Zunahme sexueller Reize im öffentlichen Raum87, zwischen denen der Protagonist sich scheinbar rastlos hin- und her bewegt, forcieren das Bedürfnis nach einem einzig ihm vorbehaltenen, schützenden Raum. Fragen nach lebbaren Graden von Nähe und Distanz88, schließlich Reisen oder, besser noch, Wegbleiben kommen ihm in den Sinn. Ihm gelingt es weder im wortwörtlichen noch im übertragenen Sinne, sich in seiner Situation einzurichten. Die metaphorische Bedeutung des Raumparadigmas korreliert mit seinem realweltlichen Bezug. So ist die Besetzung des Mittelzimmers mit zwei wesentlichen, subjektkonstitutiven Aspekten in Verbindung zu setzen: Einerseits mit dem aktuellen, gefühlten Lebens-Mittelpunkt des ErzählerProtagonisten, andererseits, und hiermit zusammenhängend, mit der momentanen Ordnung der persönlichen Beziehungsstrukturen.89 Zu Beginn

Spatial Turn Konsens sei. Bei Brinkmann gehe es um das „individuelle Erleben des gesellschaftlichen Raumes“: „Die Analyse des öffentlichen Raumes und das Hinterfragen seiner Ordnungsmuster auf der Basis des persönlichen Wahrnehmens und Erlebens stehen im Zentrum zahlreicher Gedichte besonders des späten Brinkmann[…].“ 86 vgl. z.B. Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 157f. 87 mit denen er während seiner Streifzüge durch die Einkaufspassagen beständig, gewollt oder ungewollt, konfrontiert wird, vgl. ebd., S. 108f. Vgl. auch Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. In: Ders.: Von gleicher Hand (1995), S. 66, der auf den Entstehungszeitpunkt von Keiner weiß mehr abhebt, wenn er das Sehnen des Helden nach dem „schönen Schein“ in Verbindung setzt mit den „hundertwasserfarbigen Hochglanzfotos des ,Twen‘, auf denen der seximiniflowerpopop-Touch einer schwungvollen Pepsi- und Africola-Generation neuer langhaariger und langbeiniger german girls prolongiert wurde zur kühlen Ewigkeit des Moments“. 88 Vgl. Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 57: „[D]ieses: es gehört mir, du da, ich hier, hatte es dort [in London, Anm. d. Verf.], von ihr abgerückt, nicht gegeben.“ 89 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 228, hebt weniger auf die Beziehungsstrukturen ab, wenn er darauf hindeutet, dass das „Gefangensein in der eigenen Hilflosigkeit“ in der realen, beengten Wohnsituation „eine Ursache wie auch eine örtliche Entsprechung findet.“

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des Romans besetzt Rainer noch das Mittelzimmer. Während der Protagonist sich der starken Wirkung Rainers kaum entziehen kann und sich durch dessen „übertriebene Art, da zu sein“, durch „seine bunten, fremden Sachen, sein Äußeres“90 zunehmend überrannt und übervorteilt fühlt, wird der Freund zugleich deutlich störend im Kontakt zur Frau wahrgenommen, die sich entsprechend im Hinterzimmer aufhält.91 Ändert sich jedoch später, von ihm initiiert92, die Wohnsituation, wird diese als ebenso unbefriedigend erlebt. Die Frau ist jetzt nicht mehr durch das fremdbewohnte Mittelzimmer von ihm abgeschnitten, sondern hat sich ebendort einquartiert. Der nun aufkeimende Wunsch: „allein sein, ohne daß es diese kleinen winzigen Störungen gab“93. Dabei schaut er neidvoll auf die allein lebenden Freunde Rainer und Gerald, deren Beschwichtigungen ins Leere laufen: „Du übertreibst. Da ist vorn dein Zimmer und du brauchst dich ja gar nicht um jeden Kram zu kümmern. Ja, ich hab da vorn mein Zimmer. Das war richtig. Er hatte vorn ein Zimmer für sich, in der Mitte war sie. Hinten das Kind.“94

Dabei bestimmt das Kind, ins Hinterzimmer abgedrängt, nicht weniger den Alltag der Frau. Bei dem beständigen Eifer des Protagonisten, durch räumliche Veränderungen eine Verbesserung seiner Lebenssituation herbeizuführen, darf nicht übersehen werden, dass er sich durchaus der Vergeblichkeit dieser Bemühungen bewusst wird. Noch während er, in ihrer Abwesenheit, das Mittelzimmer herrichtet, drängt sich ihm die Erkenntnis auf, dass

90 Ebd., S. 9. 91 Vgl. ebd., S. 28: Der Protagonist sieht in dem geplanten Auszug Rainers zunächst eine Verbesserung: „dann würden sie wieder mehr allein sein, nicht zusätzlich noch gestört von außen, durch Rainer“. 92 Ebd., S. 77: „Sie mußte daneben noch etwas anderes haben, einen Raum, geschlossen, nur mit ihr darin. Außerdem störte ihn dann auch das Kind weniger. Mit dieser Neuordnung und dem Zimmer, freundlich eingerichtet in der Mitte für sie, wollte er sie überraschen, wenn sie zurückkäme.“ 93 Ebd., S. 26. 94 Ebd., S. 26.

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„dieser eng verklammerte Zustand überhaupt nichts zu tun hatte mit dem Umstellen eines Tisches oder dem Herrichten eines Zimmers für sie, wie er es sich eingebildet hatte, indem er Möbel umstellte und das Zimmer in der Mitte neu arrangierte.“95

Tatsächlich lässt sich die Beziehung nicht durch räumliche Veränderungen in eine positive Richtung lenken. Das in seiner Vorstellung Wünschenswerte – ein „Gefühl, das einfach da ist, nichts anderes. Hier ist sie. Hier ist er“ – könnte und sollte sich, wenn überhaupt, auch „[a]uf derselben Stelle wie vorher“96, ganz ohne räumliche Modifikationen einstellen. Das durch den Erzähler vermittelte, unbestimmte Gefühl, es sei immer etwas zwischen dem Protagonisten und dem von ihm jeweils angestrebten Lebenskonzept – „sie“, die Frau, mit dem Kind zwischen ihm und dem freieren Lebenswandel eines Rainer oder Gerald; Rainer, ebenso wie das Kind, wiederum störend zwischen ihm und ihr beziehungsweise der Möglichkeit, ein erfülltes, intimes Beziehungsleben zu führen – wird mit dem Erzähltopos „Mittelzimmer“ poetologisch eingelöst und als ein tragendes Element des Romans erkennbar. Gleichzeitig spiegelt sich im Mittelzimmer das metaphorische Konzept des Zwischenraums, das für das in der Schwebe Gehaltene, nicht zu einer festen Ordnung Kommende steht. Der Erzähler-Protagonist verwendet dieses Konzept in einer besonderen Konstellation: Indem er die geplante Reise gleichsetzt mit einem „Zwischenraum von mehreren Tagen“97 verweist er zugleich auf zwei metaphorisch-kompositorische Begriffe, deren Bedeutungskonstitution sich aus einer Koppelung von Raum und Zeit ergibt: Zeitraum und Zwischen-zeit. Die Reise verspricht, dem Protagonisten sowohl Raum als auch Zeit zu gewähren – zwei notwendige Faktoren, wenn es darum geht, die Beziehung noch einmal reflektierend „auseinander[zu]legen“ und „in Gedanken zu ordnen“, mit dem Ergebnis, dass sie beide „schließlich ihre Gedanken und Vorstellungen einander gegenüberstellen können, sie miteinander vergleichen“98. Der Ordnungsanspruch, der bereits für die prominente Bild-Topologie des Romans ausschlaggebend ist, zeigt sich auch hier. Auf Gedanken, Vorstellungen und Beziehungsstrukturen wird

95 Ebd., S. 30. 96 Ebd., S. 33. 97 Ebd., S. 180. 98 Ebd., S. 180, 181.

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mittels räumlicher Metaphern zugegriffen: Sie werden auseinandergenommen, gegen- oder nebeneinander gestellt und betrachtet, als handele es sich dabei nicht um reine Abstrakta, sondern vielmehr um ein im Raum wahrnehmbares, konkretes Material. Situatives Erleben wird wiederholt durch eine räumliche Metaphorik vergegenwärtigt. Auch die Straßenszene erweckt, subtiler, den Eindruck eines offenen, begehbaren Raumes, dessen Ordnung dem Subjekt Halt bietet: „Jedesmal war es für ihn ein befreiendes Gefühl, wieder unten aus dem Haus herauszukommen und sich einzufügen in die anderen Geräusche und Bewegungen, den Verkehr, die Leute, beschäftigt mit genauen Zielen, Aufgaben, die zu erledigen waren. Er hatte Zeit und konnte darin herumgehen, sich das ansehen, das Geschiebe, die Geräusche hören, Wagen, Leute, von alledem er sich wie von etwas Sicherem umgeben fühlte, das immer da war, eine feststehende Ordnung aus Geschäftszeiten, offenen Kaufhäusern, den einzelnen Ständen in den Hallen mit genau abgeteilten Waren, alles voll, aufgehäuft.“99

Materielles, das heißt an dieser Stelle Physisch-Konkretes, und Immaterielles bilden eine perzeptive Einheit. In Geräusche und Bewegungen kann das erlebende Subjekt sich scheinbar ebenso einfügen wie in eine Menschenmenge; Zeit und konkreter Raum – Öffnungszeiten und Geschäfte – ergeben erst in ihrem Zusammenwirken die beruhigende „feststehende Ordnung“. Brinkmanns Sprachgebrauch in Keiner weiß mehr vermittelt in besonderer Weise, dass das „Rückkopplungssystem der Wörter“ offenbar „längst nicht mehr tagtäglich zu machender sinnlicher Erfahrung [entspricht]“100 und erweitert werden muss; hier einmal mehr um den Aspekt des räumlichen Erlebens. Noch deutlicher wird diese Beobachtung im späteren Gedichtband Westwärts 1 & 2. Mit Bezug auf das hierin enthaltene Gedicht Westwärts konstatiert etwa Lange, dass „Brinkmann seine Bewegung in ein neues Territorium explizit auch als eine sprachliche Bewegung arrangiert“101, die sich

99

Ebd., S. 103.

100 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 223. 101 Lange: „Walk. Don’t Walk“. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 55.

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an der „Verschränkung von Raumerfahrung und Schreibprozess“102 ablesen lasse. Die genannten Textbeispiele – etwa: „Einige Zeilen weiter hob das Flugzeug ab“ oder: „Die nächsten Kapitel wurden überflogen“103 – verdeutlichen, dass Brinkmann hier noch einen Schritt weiter geht und neben der räumlich-topografischen Organisation des literarischen Materials beziehungsweise Stoffs auch den Schreibprozess als solchen in eine räumliche Ordnung setzt. Zusammengenommen stützen diese Beobachtungen die Annahme, dass Brinkmanns Verfahren hier eine poetologische Entwicklung aufzeigen, innerhalb derer der Räumlichkeitsdiskurs, mit Blick auf eine geforderte „Erweiterung der Kunst“104, zunehmend relevant wird und spezifische Funktionen erfüllt. Es liegt nahe, Bildlichkeit und Räumlichkeit in Keiner weiß mehr als gleichermaßen bewusst eingesetzte Textstrategien zu verstehen. Der bereits angedeutete Zusammenhang des Raumparadigmas mit der jeweiligen Ordnung der Beziehungsstrukturen lässt sich darüber hinaus über die Selbstwahrnehmung des Protagonisten erhärten. Diese wird mehrmals über die binäre Codierung von Schmutz und Reinheit vermittelt, die zuallererst an die Körperlichkeit des erlebenden Subjektes gebunden ist.105 Dabei entspricht die räumliche Trennung, die zentral über das so genannte Mittelzimmer verhandelt wird, der Wahrnehmung des AbgetrenntSeins von den relevanten Bezugspersonen. Dass „die in der Schrift enthaltenen topologischen Konzepte […] an die Körperlichkeit gebunden [sind]“106, wird hier deutlich. Über den Gegensatz von sauber/rein und schmutzig/unrein wird die vom Protagonisten erlebte Abtrennung bezie-

102 Ebd., S. 56.

103 Brinkmann: Westwärts 1 & 2 (1975), S. 42, 43. 104 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 230. 105 Vgl. auch die Darstellung literarischer Topologien (mit Bezug auf Jorge Luis Borges) bei Vittoria Borsò: Topologie als literaturwissenschaftliche Methode. Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Günzel (Hg.): Topologie (2007), S. 279–295; hier S. 287, 288, die sich auch bei Brinkmann anwenden ließe, insofern Borsò darauf hinweist, dass die „topologische Konstellation des Subjekts körperbezogen [ist]. Die Schrift zeigt, wie sich der Mensch mittels seines Körpers im Raum positioniert.“ 106 Ebd., S. 288.

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hungsweise Isoliertheit zusätzlich forciert: Während die Frau, das Kind sowie die Freunde Rainer und Gerald vorrangig als gepflegt und reinlich beschrieben werden, erlebt er selbst sich vielmehr als unsauber und dementsprechend abstoßend.107 Während die wichtigsten Kontaktpersonen in dieser Hinsicht also vergleichbar positiv erscheinen, fügt er sich, in seiner Selbstwahrnehmung, hier nicht ein. Ebenso gegenüber fremden Personen kommt dieses Erleben zum Tragen, so dass sich auch im öffentlichen Raum der Eindruck einer isolierten Außenseiterposition einstellt. In der Begegnung mit einem unbekannten Mann, während eines Gaststättenbesuchs in Hannover, wird dieses negative Selbsterleben besonders anschaulich: „Dabei kam ihm gleichzeitig der Mann so klar vor, eindeutig, genau im Umriß, in dem gutsitzenden Anzug, mit so einem weißen Hemd, dem Binder präzise zwischen den Spitzen des Hemdkragens vorne, ein dreieckiger, glatter Knoten, ein Mann um die Vierzig, interessiert, aufgeschlossen, dem gegenüber er sich verschlampt empfand, staubig, dreckig, ein Haufen angeschmutzter Kleidung, schäbig, und immer noch ein wenig schäbiger werdend, je länger er dem zuhörte […].“108

Beinahe wie eine Wiederholung der angeführten Szene mutet die Selbstwahrnehmung des Protagonisten an, als dieser ein Mädchen durch die Glasscheibe eines Cafés beobachtet:

107 Die Selbstwahrnehmung ist hier also eine primär körperliche. Reinlichkeit – Ungepflegtheit werden entweder über das Erscheinungsbild oder, an verschiedenen Stellen des Romans, auch über sexuelle Handlungsweisen thematisiert. Cappelmann weist darauf hin, „dass sich der Wandel ästhetischer Sicht- und Verfahrensweisen im Brinkman’schen Œuevre am Motiv des Körpers verfolgen und darlegen lassen“, was „in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung seiner Arbeiten bisher nicht berücksichtigt worden“ sei und resümiert: „motivische beziehungsweise motivgeschichtliche Untersuchungen zur Darstellung von Körperlichkeit im Werk Rolf Dieter Brinkmanns stehen derzeit noch aus.“ Cappelmann: Körper-Bilder und Bild-Körper. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S.141. Die Zusammenführung des Raumparadigmas mit einer Codierung des Körperlichen dürfte bereits als ein Vorstoß in diese Richtung gelten. 108 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 200, 201.

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„Das Mädchen wirkte mitten in diesem verwohnten, schäbigen Raum sehr sauber und ließ ihn sich draußen wieder klarwerden, wie vernachlässigt er selber aussehen mußte, schäbig und unordentlich, so daß das Mädchen einfach nur aufstehen würde, wenn er sich dazusetzte […]. Gerald hätte das gekonnt, dachte er […].109

Immer wieder erlebt er sich im Kontakt mit anderen oder in der Konfrontation mit seinem Spiegelbild als „dreckig, eine kleine, nachlässig zurechtgemachte, dreckige Figur“110. Dies führt so weit, dass er schließlich überzeugt ist, die Passanten in der Einkaufsstraße wichen ihm, angesichts seiner Erscheinung, bewusst aus.111 Im Rahmen der privaten Beziehungskonstellation, die im Wesentlichen bestimmt ist durch die Frau, das Kind, die Freunde Rainer und Gerald, wird dieses negativ gefärbte, von Unreinheitsphantasien bestimmte Selbstbild ebenso mehrfach abgerufen. Über den Umstand, „sich nicht entsprechend der Mode präsentieren“112 zu können, geht diese Problematik offensichtlich weit hinaus. Während die privaten Bezugspersonen als eine soziale Einheit erscheinen, ist er nichts weiter als an seine Frau „gehängt, ein Drecksbild“113 – wenn nicht gänzlich im Abseits stehend. „Sie waren alle zusammen hinter ihm verschwunden, sie, seine Frau, sauber und gepflegt und hübsch, nett, eine hübsche, nette junge Frau, das Kind, ein liebes, nettes Kind, freundlich und ein wenig verträumt, dann Rainer, immer auf Zack, tänzelnd, die Haare gut frisiert, die Unterhosen geblümt, aah, sehr charmant und exquisit, auch Gerald in seiner kurzen Lederjacke […].“114

Auch in seinen Gedanken an die Frau erscheint diese zumeist als rein und sauber, wobei – im Rahmen sexueller Assoziationen – zugleich eine Gleichsetzung von Reinheit und Unschuld intendiert scheint. An diese Unschuld kann der Protagonist selbst offensichtlich nicht heranreichen. Wäh-

109 Ebd., S. 196. 110 Ebd., S. 192. 111 Vgl. ebd., S. 192, 193. 112 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 269. 113 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 179. 114 Ebd., S. 204.

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rend er, von negativen Selbstgefühlen erfüllt – „schmierig, erschöpft, innen sehr trocken“ – masturbiert, wird er von Gedanken an seine Frau überwältigt, die „plötzlich da [ist]. Sie hat sich eingeschlossen in einer sauberen, weißen Toilettenkabine und hockt auf dem Beckenrand, die Oberschenkel auseinandergeklappt und breitgedrückt. Der Rock ist hochgeschlagen.“115 In seiner Vorstellung befriedigt sie sich selbst, wobei sie seine gleichzeitigen Annäherungsversuche energisch abwehrt. Seine Anwesenheit wird gleichgesetzt mit dem Verlust ihrer metaphorischen Reinheit: „Deswegen ist es auch nicht mehr länger diese saubere, weiße Toilettenkabine, in der sie still vor sich hinträumen kann“116. Das Empfinden der eigenen Unreinheit oder Ungepflegtheit kontrastiert auffallend den Medienerfahrungen des Protagonisten. Die von ihm immer wieder mitgebrachten Zeitschriften und Illustrierten üben eine Faszination auf ihn aus, die sich möglicherweise daraus ergibt, dass das angebotene Bildmaterial ihm ein direktes Gegenteil seiner Selbstwahrnehmung präsentiert. Hierdurch forcieren sie zusätzlich die gefühlte „Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Medienrealität“117. In der Codierung unrein – rein wird zudem ein wichtiger Aspekt deutlich, der zunächst übersehen werden mag: Indem die Zeitschriftenbilder immer wieder mit der eigenen Frau verglichen und ihr auch vorgelegt werden, entsteht zunächst der durch den Erzähler gestützte Eindruck, die „träge“, „schwerfällig[e]“118 Partnerin kontrastiere, nicht weniger als der Protagonist selbst, eindeutig dieser Medienrealität. Auch sie, an der die Stiefel immer nicht so aussehen wollen, wie an den Mädchen auf der Straße, wird diesen Bildern im Sinne einer Kontrastfolie entgegengestellt. Der Erzählduktus evoziert ein dezidiertes Verlangen des

115 Ebd., S. 224. 116 Ebd., S. 224, 225. 117 Cappelmann: Körper-Bilder und Bild-Körper. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 129. 118 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 113. Vgl. auch Luca: Sexualität und Weiblichkeit in ausgewählten Werken Rolf Dieter Brinkmanns. In: Schulz, Kagel (Hg.): Blicke ostwärts – westwärts (2001), S. 143–149; hier S. 146, die dies thematisiert: „Die Entfremdungsgefühle des Er-Erzählers äußern sich auch in seinem fundamentalen Abscheu gegenüber dem aus seiner Sicht deformierten, sexuell unattraktiven Körper seiner schwangeren Frau […].“

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Protagonisten, seine Frau möge diesen Bildern mehr entsprechen. Schließlich wird jedoch deutlich, dass dieses Verlangen als eine Projektion der eigenen Unzulänglichkeitsgefühle aufzufassen ist, „weil er es war, der nicht auskam mit sich, anderen gegenüber, auch ihr gegenüber, die er ganz einfach unter den anderen, Rainer, Gerald, sitzen sah, schön, wie sie sich hergerichtet hatte, das Haar, frisch gewaschen, das sehr weich an den Seiten bis auf die Schultern herunterhing […].“119

Die Unzulänglichkeit der Partnerin wird letztlich als eine Projektion aufgelöst und damit zugleich ein Stück weit entschärft. Während, in der Wahrnehmung des Protagonisten, sie, Rainer und Gerald das Potenzial auf eine nicht näher bestimmte und bestimmbare Idealität durchaus besitzen, versteht er selbst sich in dieser Hinsicht als gescheitert. Von dem, was in der Medienrealität als Reinheit, Schönheit und Unschuld angedeutet, hinsichtlich des jeweiligen Glücksversprechens aber nicht näher spezifiziert wird, empfindet sich der Protagonist als deutlich und geradezu räumlich abgetrennt.120 Die auf eine (vorgeblich) reale Raumsituation referierende Topografie des Romans, bleibt, in Anlehnung an sich verändernde Beziehungsstruktu-

119 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 235. 120 Die sich verändernde Medienwirklichkeit ist auch im Kontext der historischen Entwicklung zum Entstehungszeitpunkt von Keiner weiß mehr zu sehen. Insbesondere in der auf Frauenbild und Sexualität fokussierten BrinkmannForschung wurde auf die rasanten, gesellschaftsverändernden Prozesse seit den späten 1950er Jahren hingewiesen – vom Gleichstellungsgesetz (1957), über die Einführung der Antibabypille bis zur Studentenrevolte. Die Abkehr von den „drei großen K – Kinder, Küche, Kirche“ steht am Anfang einer Entwicklung, an deren Ende ein bisher ungekanntes Maß an sexueller Selbstbestimmung und Freiheit zu verzeichnen ist. Vgl. Brinkmann, Kohlbrecher, Schimpf: Ein Blick auf Rolf Dieter Brinkmann und sein Frauenbild. In: Schulz, Kagel (Hg.): Blicke ostwärts – westwärts (2001), S. 113–119; hier S. 113. Es ist anzunehmen, dass Brinkmanns Protagonist auf eine Medienwelt reagiert, die zu den hinsichtlich Sexualität und Reinlichkeit gewohnten Ordnungsmustern nicht mehr recht passen will. Das Selbstbild ist, diese Aspekte betreffend, ins Wanken geraten.

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ren, über die räumliche Organisation der Wohnung und das Mittelzimmer stets präsent. Dass dieser Aspekt zugleich in Zusammenhang und Ergänzung mit anderen Themenkomplexen des Romans zu sehen und zu verstehen ist, wurde über die körperliche Codierung im Ansatz erläutert. Der Protagonist in Keiner weiß mehr erlebt seine Sonderstellung nicht nur in einer besonderen, häufig sich selbst und andere überfordernden Wahrnehmungsweise, sondern wesentlich auch durch seine Körperlichkeit. Erst durch die Körperlichkeit wird die Raumforderung der Figur eindringlich, die sich im wortwörtlichen Sinne mit den gegebenen Umständen einzurichten hat. Der Erzähler-Protagonist ist im Übrigen der einzige, der in seinem Zimmer, dem Vorderzimmer, verbleibt. Hier befindet er sich nah am Ausgang und kommt damit einem latenten Fluchtreflex entgegen, der mit der Reise am Ende des Romans schließlich auch in die Tat umgesetzt wird. Keiner weiß mehr, eine gescheiterte Organisation? Nachdem die Organisationsaspekte Bildlichkeit und Räumlichkeit reflektiert worden sind, bleibt zu fragen, inwieweit Keiner weiß mehr sich darstellt als eine gelungene mediale Organisation. Dass Brinkmann mit seinem Roman ein in verschiedener Hinsicht überfordertes Subjekt zur Sprache bringt, dürfte deutlich geworden sein. Doch inwieweit spiegelt sich diese Überforderung auch auf der Darstellungsebene? Ausgehend von den im Theorieteil skizzierten Polen, Subjekt und Material, lassen sich konkretere Einteilungen vornehmen. Das topologische Ordnungsprinzip, dem hier primär die bildlichen Darstellungsverfahren zugewiesen wurden, ist insofern näher am Subjektpol zu verorten, als es zumeist dezidiert der Verarbeitung von Wahrnehmungen und Erinnerungen des Subjekts dient. Demgegenüber lassen sich eine topografische Organisation und Darstellung vorwiegend dort beobachten, wo es um die Herstellung realweltlicher Bezugspunkte geht, um die zu kleine Wohnung als Haupt-Ort des Geschehens, um die Besetzungen und Verschiebungen, die an einem fixen Ort, dem Mittelzimmer, sich abspielen und die mit dem Beziehungsgeflecht der Romanfiguren korrelieren. Material als Konkretum, als realweltlicher Ausgangsstoff besetzt hier also den Materialpol und gerät vor allem über die topografische Organisation in den Blick. Alles in allem dominiert die Topologie der Bilder, als Spiegel der subjektiven Wahrneh-

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mung des Erzähler-Protagonisten, eindeutig den Roman. Dennoch geht es um eine durchgehende, adäquate Verbindung von Subjekt und Material des Erzählens. Der Raum beziehungsweise Räumlichkeit als ein Oberbegriff, der für sowohl Topologisches wie Topografisches steht, bewerkstelligt diese Verbindung in besonderer Weise: Das Subjekt ist nicht nur Ort der Wahrnehmung, sondern es vergewissert sich seiner Selbst in hohem Maße auch über seine Körperlichkeit und unmittelbare, räumliche Präsenz, wie im vorigen Kapitel deutlich geworden sein dürfte. Dabei scheint Brinkmann mit seinem Romanaufbau, dem Erzählgerüst insgesamt keine verlässliche Organisation anzustreben. Weder topologische noch topografische Ordnungsverfahren geraten primär in den Blick; vielmehr gibt es Leseeindrücke eines „weitgehenden Verzicht[s] auf eine jederzeit eindeutig und durchgängig erkennbare Basiserzählung“121. Die erzählte Zeit, Sommer und Winter eines Jahres, ist leicht rekonstruierbar, allerdings wird durch Analepsen und Prolepsen, sowie die relative Unsicherheit, ob bestimmte Ereignisse mehrmals stattfinden oder nur mehrmals erinnert werden, eine „chronologische Rekonstruktion“ zumindest erschwert.122 Chronologie ist dabei kein notwendiges Kriterium, um moderne literarische Texte als geordnet beziehungsweise organisiert wahrnehmen zu können. Vielmehr lässt sich die enge Kopplung des Romanverlaufs an die räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungsprozesse des Protagonisten für den gelegentlich beklagten Eindruck der Unstrukturiertheit oder „kommunikationsfeindlichen Darstellungsweise“123 verantwortlich machen. Dezidiert subjektive Wahrnehmungsprozesse sind notwendig wiederholend, rückblickend oder vorausgreifend und kommen den an traditionellen Erzählmustern orientierten Verortungsansprüchen des Rezipienten wenig entgegen. So nähert sich das Erzählmuster bereits jenen späteren Arbeiten in Snapshot- und Cut-up-Techniken124 an, die zur Hereinnahme konkreten Bildmaterials übergehen und schließlich zu einem Verschnitt von

121 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 271. 122 Vgl. ebd. 123 Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. In: Ders.: Von gleicher Hand (1995), S. 64.

124 Die Cut-up-Technik geht auf einen der bekanntesten amerikanischen BeatAutoren, William S. Burroughs, zurück, der als ihr „Erfinder“ gilt. Vgl. Ernst: Popliteratur (2001), S. 18.

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Textualität und Bildlichkeit. Die Annahme liegt nahe, dass Brinkmann mit seinem ersten Roman Keiner weiß mehr im Grunde keine konventionelle Romanform intendierte.125 Dazu gilt es vorausdeutend anzumerken: Wenn später, in den Materialbänden, die Pläne für einen zweiten Roman wiederholt thematisiert werden, ist die Bezeichnung Roman ebenfalls immer vor dem Hintergrund der poetologischen Standpunkte Brinkmanns zu deuten.126 Trotz des steten Bezugs auf Bilder und Bildlichkeit verzichtet Brinkmann, im Gegensatz zu späteren Arbeiten, in Keiner weiß mehr auf Abbildungen. Das Medium ist die Sprache, die Dominanz des Bildes dementsprechend eine sprachlich erzeugte. Indem Brinkmann die klassische Romanform wählt, provoziert er zugleich die mit ihr verbundenen Ansprüche. Deshalb lässt sich fragen, ob der Autor hier bereits bewusst Ansprüche enttäuscht und so die von ihm selbst propagierte Abstandnahme vom herkömmlichen Gattungsdenken127 einleitet. Der Vorrang des Bildes sowie die räumlichen Organisationsverfahren bleiben eng an das Subjekt gekoppelt. Der Austausch zwischen Subjektund Materialpol ist essenziell, ausschlaggebend für die Organisation des Materials bleibt dabei aber immer das erlebende Subjekt. Fremdperspektivierungen sind nicht intendiert, was sich bereits an der nahezu aufgehobe-

125 Vgl. hierzu auch Schönborn: Vivisektionen des Gehirns. Die Prosatexte Rolf Dieter Brinkmanns. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 348: „Brinkmann hat diesen Roman zu schreiben versucht, ohne allerdings diese neue Form des Schreibens konsequent zu realisieren, die er parallel dazu in seinem Essay [Der Film in Worten, Anm. d. Verf.] über die neue amerikanische Literatur entwarf.“

126 Roberto di Bella wagt die Einschätzung: „Auch wenn die Materialhefte in der Absicht Brinkmanns nicht der Roman sind, so enthalten sie – insbesondere Schnitte – von der Substanz doch schon alles, was ihn hätte ausmachen können.“ Di Bella: ‚Der Roman beginnt zu sagen, was er ist‘ – Zur Romanpoetik von Rolf Dieter Brinkmann. In: Schulz, Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts (2001), S. 255.

127 Vgl. Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 149: „[…] Buch, Gedicht, Roman, Essay, wie auch immer – diese Einteilungen sagen längst nichts mehr, und das ist auch gut so, doch überall werden sie weiterhin zitiert und zur Charakterisierung herangezogen, da in dem Gegenstand sein Verfasser nicht enthalten ist…“

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nen Distanz von Erzähler und Protagonist ablesen lässt. Er lässt sich allzu leicht durch Ich ersetzen, wenn nicht gar, wie von einigen Interpreten angedeutet, durch Rolf Dieter Brinkmann selbst.128 Das Subjekt in Keiner weiß mehr figuriert als ein beobachtender, sammelnder Flaneur, der sich selbst negativ im Kontakt zur sozialen und materiellen Außenwelt erlebt. Auch Beobachtungen, die als in einem weiteren Sinne neutrale daherkommen, können dieser Negativität des Erlebens nicht enthoben werden. In dem Versuch, Wahrnehmung und Erinnerung unter anderem räumlich zu organisieren, zeichnet sich das Bedürfnis des Protagonisten ab, das eigene, aus den Fugen geratene Innenleben zu stabilisieren. Subjektivität wird neuerlich unterstrichen und kann nicht durch einen vorgeblich neutralen Ordnungsanspruch überblendet werden. Ausgehend von diesen Beobachtungen zur poetologischen Organisation wäre schließlich auch zu fragen, wie sich der Roman werkgeschichtlich einordnen lässt. Wird hier beispielsweise die Unzulänglichkeit des Mediums Sprache, wie Brinkmann sie mehrfach thematisiert hat, bereits tiefergehend verhandelt – oder aber geschieht dies erst mit Rom, Blicke, wo das Bild als Bild fungiert und nicht mehr nur sprachlich evoziert wird? Der Roman Keiner weiß mehr ist möglicherweise noch nicht die Realisierung eines ästhetischen Zielpunktes: „,Vorstellungen‘ im Kern treffend mitzuteilen, in diesem (poetologischen) Problem ist die Verbindung zwischen der Romanfigur und dem Autor Brinkmann offensichtlich. Letzterer ist anscheinend erst mit dem Einsatz von realen Abbildungen im Text auf dem Weg zu einer ästhetischen Lösung seines Problems, während der ErzählerProtagonist in Keiner weiß mehr keinen Ausweg aus seinem sprachlichen Dilemma findet.“129

Dennoch ist der Roman nicht als misslungenes Projekt zu bewerten.130 Vielmehr realisiert und verhandelt er bereits das benannte poetologische Problem und führt an spätere Lösungsstrategien heran. Keiner weiß mehr ist damit auch eine Reflexion auf die möglichen Übermittlungsformen des literarischen Ausgangsmaterials. Innerhalb der subjektiven Perspektivie-

128 Vgl. Anm. 237. 129 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 253. 130 Diese Ansicht teilt auch Selg, vgl. ebd., S. 276.

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rung wird häufig der Eindruck erzeugt, das Material sei, ontologisch betrachtet, einfach und unkompliziert und verliere erst durch die zwanghaften Prozesse des Erinnerns, Wiederhervorholens und Sortierens seine Eindeutigkeit. Indem diese Prozesse zugleich an Sprache gekoppelt sind, sind sie auch an deren Grundeigenschaften, Funktionen und Mängel gebunden. Die relative Realitätsreferenz sowie der hier bereits angesprochene, primär ikonische Charakter sprachlicher Zeichen131 kann fraglos nicht mit eigenen Mitteln, mit Sprache unterlaufen werden. Dies wird immer wieder deutlich. „Er wußte einfach nur, daß es dort diesen viereckigen Raum gab, wie man wußte, an welcher Stelle man einmal etwas vergraben hatte, das immer noch weiter an einer bestimmten Stelle vergraben lag, selbst wenn es schon längst zerfallen sein sollte, aber die Form, wie das ausgesehen hatte, was vergraben worden war, blieb so, unver-änderbar, einmal vergraben, man wußte, es war eine einfache, unkomplizierte Form, kompliziert war daran nur das, was damit geschehen war, es war vergraben worden.“132

Indem Brinkmann in Keiner weiß mehr wiederholt auf das Bild – in seinen verschiedenen, mentalen und konkreten Realisationen – zurückgreift, führt er die Vermittlungsform Sprache zugleich an ihre Grenzen. Mit den erläuterten topologisch-topografischen Verfahren gibt der Autor einen Ausblick auf neue Organisationsformen, die schließlich alternative Medien ins Spiel bringen. Im Zusammentreffen von Wort und Bild, „genau an diesem Schnittpunkt beginnt eine neue, alte, erweiterte Art der Literatur“133, wie Brinkmann in Einübung einer neuen Sensibilität zusammenfasst. Wo die Grenzen liegen, ist deutlich: Das Material ist zu viel und nicht überschaubar. Insbesondere die „einzelnen Teile“ sind, dem Selbstgefühl des Protagonisten entsprechend, „ohne Zusammenhang“134, wodurch eine

131 Vgl. Fulda: Am Ende des photographischen Zeitalters? In: Schmidt, Valk (Hg.): Literatur intermedial (2009), S. 402f. 132 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 182. In der zitierten Passage erinnert der Protagonist den früheren Arbeitsraum in einer Essener Buchhandlung. 133 Vgl. auch Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 152. 134 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 46.

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grundsätzliche Fremdheit gegenüber der materiellen Umwelt evoziert wird. Gleichzeitig besteht aber die Hoffnung, der Fokus auf die einzelnen Teile offeriere einen geeigneten Zugang zur Welt, weshalb Brinkmanns Held sich auch nicht vorrangig mit einem Gesamtverständnis abmüht, sondern vielmehr dem Einzelnen vor dem Ganzen Vorzug gewährt und entsprechend die Details seiner Lebenswelt in den Blick nimmt. So scheint selbst das Glücksversprechen sexueller Intimität in der Konzentration auf das Einzelne, auf „diese einzelnen Bewegungen und Teile von ihr“135, zu liegen. Sexuell konnotiert ist auch ein Detail, dem eine längere Textpassage im letzten Drittel des Romans gewidmet wird. Hier sieht der Protagonist sich mit der Fotografie eines nackten Körpers konfrontiert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht allerdings lediglich das besagte Detail, ein bestimmter Teil dieses Körpers: ein Knie. Offensichtlich werden die entblößten Genitalien von diesem Knie verdeckt. „Das hat alles nichts mit dem zu tun, worauf es einem nun ankommt. Es gibt nur noch das eine Knie, das hochgezogen ist und ein runder, knorpeliger Wulst, von vorne gesehen, der genau die eine entblößte Stelle verdeckt, die einem plötzlich einzig und allein wichtig erscheint […]. Aber das Knie steht davor. Und man ist beschäftigt, unermüdlich, jedes Mal, wenn man dieses Bild vor sich hat, das Knie zur Seite zu schieben. Du schaffst es nicht. […]. [D]ieses eine Mal meint man, es sei gründlich verschieden von dem, was man sonst davon kennt, nur wegen dieses Knies auf der Fotografie, das man nicht, niemals, zur Seite drängen kann.“136

Beispielhaft repräsentiert das Knie die Problematik der Detailfokussierung. Nicht das Detail selbst ist problematisch, nicht das liegengelassene Spielzeug des Sohnes, nicht der von ihr benutzte Lippenstift. Problematisch ist der Umstand, dass es sich im Grunde immer um mehr, um anderes, weiteres handelt, dessen das Subjekt nicht habhaft werden kann, zu dem ihm der Zugang verweigert bleibt. Das Knie verdeckt, ob zufällig oder nicht, die Genitalien und steht damit dem Eigentlichen im Wege. „Es ist ein Knie, sonst nichts!“137, heißt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Christian

135 Ebd., S. 176. 136 Ebd., S. 217. 137 Morgenstern: Galgenlieder, hrsg. von Kiermeier-Debre (1998), S. 38. Das hier zitierte, 1905 erschienene Gedicht Das Knie handelt von einem Knie, das als

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Morgenstern und ist dort, wo es um einen Kriegsversehrten geht, doch ebenso unwahrscheinlich wie hier – in einem der Postmoderne zugeordneten Text. Was Brinkmann an dem die Sicht behindernden Knie durchspielt, deckt sich darüber hinaus mit seiner Kritik an einer hochstilisierten LiteraturSprache, die einzig dazu geeignet sei, die sinnliche Wahrnehmung des Gegenstandes, des eigentlichen Materials, zu erschweren. Eine symbolische Sprachfunktion, die unter anderem die Distanz von Zeichen und Bezeichnetem ausschöpft, entwertet er als „übliche Addition von Wörtern“ und als „Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster“138. Letztlich handele es sich dabei um eine „bloße Abfassung von Wörtern, um die Leser auf Wörter reagieren zu lassen“139. In seiner Auffassung ist offensichtlich Sprache, so wie sie konventionell in literarischen Kontexten Verwendung findet, einem Zugang zur aktuellen, subjektiv erfahrbaren Realität eher hinderlich als nützlich. Zusammenfassend kann, in Brinkmanns Projekt „einer Literatur, die starre analytische Sprachstrukturen durch ungeordnete, sinnlich bildhafte Vorstellungen zersetzt“140, Keiner weiß mehr bereits im Sinne eines Übergangswerkes zu den späteren Materialbänden141 gedeutet werden. Auch zentrale inhaltliche Aspekte weisen voraus auf den 1972/1973 entstandenen

einzig unverletzter Körperteil eines im Krieg zerschossenen Mannes um die Welt geht. Das heiter-groteske Morgenstern-Gedicht greift im Übrigen Alexander Kluge auf: Er kombiniert es auf der letzten Seite der Patriotin mit schwarz-weißer Kriegsfotografie. Vgl. Kluge: Die Patriotin. Texte/Bilder 1–6 (1980), S. 480. 138 Brinkmann: Film in Worten. In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 223. In eine ähnliche Richtung weisen die sprachkritischen Argumentationen in Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Brinkmann: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147–155 und Brinkmann: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Gleba, Schumacher (Hg.): Pop seit 1964 (2007), S. 38– 48. 139 Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 232. 140 Schönborn: Vivisektionen. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 347. 141 So auch die abschließende Einschätzung bei Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 280.

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Materialband Rom, Blicke. So ist auch hier eine Reise, die ebenfalls im letzten Jahresdrittel angetreten wird, von elementarer Bedeutung. Sie wird als Palliativ herbeigesehnt, ohne diesem Anspruch letztlich gerecht werden zu können. Briefe an die Ehefrau142 bilden hier wie dort eine wichtige Kommunikations- und Selbstverständigungsbasis. Im Mittelpunkt der Gedanken des Protagonisten oder des Schreibenden steht entsprechend die Frau. Selbst vordergründig subjektbezogene Problematiken führen zumeist schlussendlich in eine Reflexion der Beziehungssituation. Der Reiz des Materiellen und zugleich der Überdruss an demselben – an den Hochglanzbildern und -magazinen, an der aktuellen Mode und omnipräsenten Werbung – steht für eine weitere Verbindungslinie zwischen dem Romanerstling und Rom, Blicke. Ebenso die Reflexion über alltägliche Details, über die jeweilige Lebenswelt und Lebenssituation, sowie der Wunsch nach Dauer und Entschleunigung stellen einen Konnex dar. Entschleunigung wird dabei möglicherweise auch durch Bildlichkeit, im Sinne eines Standphotos143, zu erreichen versucht. Sprachlich realisierte Bilder und Abbildungen bergen das Potenzial, Gegenwart einzufrieren und somit wiederholbar zu machen. Ob dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann, bleibt allerdings fraglich, wenn der Protagonist in Keiner weiß mehr und das Ich in Rom, Blicke sich gleichermaßen durch eine Bilderflut überfordert sehen.

2.2 D ER F ILM IN W ORTEN (1965–1974) UND DIE T ONBAND -AUFNAHMEN : W ÖRTER S EX S CHNITT (1973/2005) Brinkmanns Film in Worten vereint, wie der Nebentitel angibt, Prosa Erzählungen Essays Hörspiele Fotos Collagen aus den Jahren 1965–1974. Die Sammlung der Essays, insbesondere der gleichnamige Aufsatz Der Film in Worten, die Aufzeichnungen „Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom 142 In Keiner weiß mehr ist diese namenlos, in Rom, Blicke heißt sie Maleen (Maleen Brinkmann). 143 Der Titel des Gedichtbandes (von Brinkmann) aus dem Jahr 1969 lässt sich sowohl auf die Seite des Subjektes als auch auf die des Objektes beziehen: Betrachter und Gegenstand kommen durch die Fotografie, zumindest vorübergehend, zum „Stand“.

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Worlds End“, sowie die Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans 1970/74, gehören zu den vielbeachteten Publikationen des Autors, nicht zuletzt deshalb, weil Brinkmann hier in besonderer Dichte poetologische Positionen dokumentiert und auch durchspielt. Die Forschung greift bevorzugt auf diese poetologischen Texte des Autors zurück, wobei die Produktionskategorien Subjekt, Material und Medium in unterschiedlichem Ausmaß berücksichtigt werden. Nach der eingehenden Problematisierung des Subjektivitätsbegriffs144, auch im Zusammenhang mit der Tendenzwende, befasst sich die jüngere Forschungsliteratur schwerpunktmäßig mit der Kategorie des Mediums, die vorrangig als Verschränkung von Text- und Bildmedium in den Blick genommen wird145 Die Bedeutung des Materials sowie der „emphatische Wirklichkeitsbezug“146 interessieren dabei zumeist erst sekundär. Die folgenden Kapitel widmen sich der poetologischen Programmatik, die Der Film in Worten zur Disposition stellt und berücksichtigen Subjekt, Material und Medium dabei als gleichermaßen zentrale Kategorien. Zugleich soll ein Ausblick auf die erst 2005 veröffentlichten Tonbandaufnah-

144 Vgl. etwa Lampe: Ohne Subjektivität: Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung (1983); Lampe: Subjekte ohne Subjektivität: Interpretationen zur Prosa Peter Handkes und zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns; Kinder: Formen dargestellter ,Subjektivität‘. In: Ders.: Von gleicher Hand (1995), S. 53–76.. 145 Vgl. hierzu bspw. Weber: Prosa, der schnellste Film. Neue Varianten „filmischen“ Schreibens. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 105–129; Strauch: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text-Bild-Montagetechnik (1998); Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001); Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann (2006); von Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007); Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010); Kittner: Bilder vom Ende der Welt. Hannah Höchs und Rolf Dieter Brinkmanns Italienreisen. In: Imorde, Wegerhoff (Hg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der „Grand Tour“ (2012), S. 162–181. 146 Groß: Alltagserkundungen: empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns (1993), hier S. 29, wendet sich dem Material zu und analysiert vor allem die bei Brinkmann relevante Raumerfahrung und -erkundung.

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men Wörter Sex Schnitt147 gegeben werden. Diese späten, teilweise parallel zum Film in Worten entstandenen Aufnahmen148, geben ein Beispiel für das mediale Experiment, welches Brinkmann in seinen poetologischen Statements unter anderem antizipierte. Sie wurden einerseits, wie bisherige Freigaben aus dem von Maleen Brinkmann verwalteten Nachlass, mit Begeisterung in der Fachwelt aufgenommen, andererseits bot das Auswahlverfahren der Herausgeber einmal mehr Anlass zu Kritik und Skepsis unter den Brinkmann-Forschern. So wird etwa die Reduktion der insgesamt knapp elfstündigen Aufnahmen (etwa 657 Minuten) auf ca. 360 Minuten bedauert mit der Begründung, dass „die Auswahl zur weiteren Mythenbildung bei[trage], gerade in Verbindung mit der Vermutung, daß wahrscheinlich auch noch Manuskripte Brinkmanns auf ihre Veröffentlichung warten“149. Auch der im Jahr 2005 neu aufgelegte Gedichtband Brinkmanns, Westwärts 1&2, wurde 1975 zunächst unvollständig150 publiziert. An der Editionsgeschichte von Westwärts 1&2 zeigt sich die Problematik einer selektiven Materialauswahl jedenfalls deutlich, da „erst jetzt eine lückenlose inhaltliche Bewertung“151 des Bandes möglich ist. Diese ungünstige Entwicklung mit Blick auf die Edition der Tonbänder anzumerken, ist sicherlich berech-

147 Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Hrsg. von Herbert Kapfer, Katarina Agathos, unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann. Erding: intermedium records (2005). 148 Brinkmann fertigte die Aufnahmen für die WDR-Sendereihe Autorenalltag an. Ein Zusammenschnitt wurde 1974 schließlich unter dem Titel Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973 gesendet. Die Sendung wurde, wie Claas Morgenroth kritisiert, nicht in Wörter Sex Schnitt aufgenommen. Vgl. Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 123–147; hier S. 126, 127, der die „mangelnde Rezeption des Hörspiels“ bedauert. 149 Selg: „Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert“. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen „Wörter Sex Schnitt“. In: Weimarer Beiträge, Jg. 53, H. 1 (2007), S. 47–67; hier S. 48. 150 D. h. um zahlreiche Gedichte und einen Großteil des Textes Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten reduziert. 151 Selg: „Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert“. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen „Wörter Sex Schnitt“. In: Weimarer Beiträge, Jg. 53, H. 1 (2007), S. 48.

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tigt. Außer Acht gelassen werden sollte dabei allerdings nicht, dass das Verfahren einer posthumen Publikation und damit die inhaltliche Bewertung eines nicht autorisierten Manuskripts ohnehin Anlass zu verschiedensten Spekulationen bietet und völlige Mythenfreiheit eine sicherlich illusorische Zielvorgabe darstellt. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, was Brinkmanns spätes Tonbandprojekt, editorischen Zwängen zum Trotz, so interessant für die Nachwelt macht. Die Aufnahmen dürfen, mit Vorsicht formuliert, als ein Gradmesser der Realisierbarkeit von Brinkmanns frühen Ideen gelten: Das Material muss sich anders als (konventionell) literarisch organisieren und vermitteln lassen. Brinkmanns Lob der amerikanischen Literatur, die „völlig selbstverständlich Erfahrungen aus dem Umgang mit technischen Geräten integriert“152 habe, führt zu diesem Audio-Projekt schon hin. Es gehört zu den eigenen Versuchen des Autors, den von ihm beklagten „TotstellReflex“153 der überreflektierten zeitgenössischen Literaturpraxis hinter sich zu lassen, die auf nichts anderes als Wörter fixiert sei. Subjekt I: Das Ich der ästhetischen Erfahrung Der Film in Worten versammelt ein Textkonvolut, in dem einerseits formale Ansprüche an die Produktion literarischer Texte gestellt werden und andererseits konsequent die Dominanz des schreibenden Subjektes demonstriert wird. Programmatik und Ästhetik formieren hier einen Übergangsbereich des Schreibens, der keine Trennschärfe zwischen Reflexion und Produktion, zwischen Programm und Anwendung, erkennen lässt. Dies ist offenbar das, was Brinkmann unter jener „zeit-adäquate[n] Form“ des Essays versteht, die er im Film in Worten proklamiert: „heterogenstes Material zu einem Thema sammeln und miteinander verbinden […] – collagenhaft, mit erzählerischen Einschüben, voller Erfindungen, Bild- also Oberflächenbeschreibungen, unlinear, diskontinuierlich“154. Charakteristisch ist auch bei Brinkmann die Textform des Essays experimentell, unabgeschlossen und subjektiv – im Sinne einer „Methode des Fragens und Suchens“, die der

152 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 224. 153 Ebd., S. 246. 154 Ebd., S. 233.

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„Komplexität der Erfahrungswirklichkeit gerecht werden will“155 und zugleich dogmatisch-systematischen Wissensbeständen kritisch gegenübersteht. Das Subjekt als Ort der Wahrnehmung kann, im Idealfall, über das Material verfügen. Die Frage ist, welche Ordnung des Materials Brinkmann hier vorschwebt. Angesichts der Affinität gegenüber anderen medialen Formen gerät die Tatsache, dass mit dem Film in Worten (auch) ein Textmedium vorliegt, geradezu in den Hintergrund: Das Material wird zugleich in Hörspiele und Bildsequenzen überführt, der Affront gegen Wort- und Textgewalt bleibt allgegenwärtig. Mit Bezug auf Ed Sanders schlägt Brinkmann sich dem „Total Assault on the Culture“156 zu, stets kritisch gegenüber kulturell bedingten Gattungs- und Mediengrenzen, die er mit Einschüben von The Doors, Frank Zappa und gelegentlichen Werbesprüchen plakativ zu unterlaufen sucht. Seine Gewährsmänner sind Donald Barthelme, Jack Kerouac, Andy Warhol und Gerard Malanga. Nicht weniger im Übrigen Marshall McLuhan157, dessen These „The medium is the message“158 auch mit Blick auf Brinkmanns Werk neue Perspektiven eröffnet. Der Film in Worten erscheint nicht erst Anfang der achtziger Jahre im gleichnamigen Sammelband, sondern bereits 1969 als Nachwort der Übersetzungsanthologie Acid. Neue amerikanische Szene159. Mit dem Sammelband Der Film in Worten greift Brinkmann die Techniken und Hintergründe dieser neuen Szene noch einmal inhaltlich und stilistisch auf. Der Essay selbst verortet Rock´n´Roll, Jazz, Popart im jeweiligen historischen Zusammenhang. Doch so wie Brinkmann in seiner Realitätssuche, in seinem Drang, das Vorgefundene unmittelbar zu dokumentieren, gelegentlich über das einzelne Wort hinwegsieht, so geht es auch hier offenkundig nicht um

155 Schweikle, Kauffmann: Essay. In: Burdorf, Fasbender, Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, 3. Auflage (2007), S. 210–211; hier S. 210. 156 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 229. 157 Vgl. ebd., S. 231. 158 Vgl. McLuhan, Fiore: The medium is the massage. An Inventory of Effects (1996). Erstveröffentlichung 1967. 159 Die vielbeachtete, von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla herausgegebene, Übersetzung vereint verschiedenste amerikanische Beat- und Undergroundtexte – unter anderem Lyrik, Collagen, Kurzgeschichten.

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das einzelne, historische Zitat, um Chronologie oder Wissensarchivierung. Brinkmanns „Narration“160 – um auf die zu Beginn dieser Arbeit angeführte Problematik einer historischen Rekonstruktion der Zeit um „1968“ zurückzukommen – generiert sich aus einer dezidiert vom Subjekt ausgehenden Rekonstruktion ästhetischer Erfahrung. Diese Erfahrung erweist sich als primär zufällig und individuell; sie setzt musikalische, audiovisuelle und literarische Zeiterscheinungen zueinander in Beziehung, ohne dabei systematisch oder auf der Grundlage einer allgemeinen Rezeptionsgeschichte vorzugehen. Rutschkys und Ortheils Unbestimmbarkeits-Hypothese, das für die siebziger Jahre proklamierte Suchverhalten161, zielen auf eine neue Möglichkeit ästhetischer Erfahrung, nachdem man, verkürzt dargestellt, die Parole und den Allgemeinbegriff der gesellschaftlichen Erfahrung gefühlt hinter sich hatte. Geht man von einer solchen Situation aus, so ist zu vermuten, dass für eine ästhetische Erfahrung Formen der Realisierung162, der Rückholung in die Bewusstheit, fruchtbar gemacht werden konnten. Theoretisches wird demgemäß durch die konkrete sinnliche Erfahrung überboten. Brinkmann rekonstruiert mit seinem Film in Worten einen persönlichen Erfahrungshorizont, der mediale Grenzen sowohl theoretisch als auch praktisch ausblendet und, wie er selbst erläutert, „über das Verfolgen privater

160 Vgl. Klimke, Scharloth: 1968. Handbuch (2007) bzw. Einleitung dieser Arbeit. 161 Vgl. Theorie-Kapitel dieser Arbeit. 162 Sowohl Dieter Wellershoff als auch Odo Marquard weisen, unter verschiedenen Gesichtspunkten, im Rahmen der Reihe Poetik und Hermeneutik auf die Bedeutung der Bewusstheit für die ästhetische (und allgemeine) Erfahrung hin. Vgl. Marquard: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten für eine Theorie der nicht mehr schönen Künste. In: Poetik und Hermeneutik, Bd. 3 (1968), S. 375–392; hier S. 386, der den Beginn des „Weg[es] in die nicht mehr schöne Kunst“ umreißt: „All jene Untergänge, die real zu leben der Mensch scheuen muß, sucht er in künstlerische Unwirklichkeit zu übersetzen. Er konzentriert sich, gerade weil er es fürchtet, artistisch aufs Schlimme. Er versucht, sich seine Realisierung durch seine Thematisierung und durch die Weise seiner Thematisierung zu ersparen.“ Vgl. auch Wellershoff: Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Poetik und Hermeneutik, Nr. 6 (1975), S. 219–234; hier S. 221, der u. a. auf Viktor Šklovskijs These referiert, „daß wir die Kunst haben, um die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen.“

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Vorlieben und Interessen den literarischen Ausdruck mit anderen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten (Musik, Malerei) zu verbinden“163 sucht. Dem, in seiner Auffassung, „erblindete[n], weil akademisierte[n] Bewußtsein“164 setzt er ein persönliches Erinnerungs-Bewusstsein entgegen. In diesem Verständnis kann die ästhetische Erfahrung, die im Rahmen von Literatur angeboten wird, nur eine persönliche, dezidiert subjektive sein – oder aber sie ist keine mehr. Auf die Frage, wie eine funktionierende Literatur aussehen müsse, gibt Brinkmann zwischen den Zeilen des Film in Worten eine Antwort. Ablehnung erfährt jedenfalls die, in seiner Deutung, in einer zu intensiven Faschismuserfahrung steckengebliebene deutsche Literatur, deren durchgängige Angst vor dem Neuen, vor dem Potenzial des Technischen, sich aus der Assoziation „Vernichtungsmaschine“165 speise. Erweiterung statt Fortschritt – so lautet die entgegenzusetzende Forderung, die Wahrnehmung und Aufnahme neuen Materials gegen Traditionslinien und Gattungsgrenzen ausspielt. Programmatische Vereinnahmung steht dem entgegen. Brinkmann sieht im „modern-gesellschaftskritisch[en]“ Habitus der Avantgarde einen neuen „Markenartikel“166 und damit letztlich nicht Fortschritt, sondern mangelndes Bewusstsein. Zugleich betont er jedoch, in Abgrenzung von Enzensbergers Avantgarde-Kritik167, dass es nicht um eine „neuerliche Betonung des ,Inhalts‘“ gehe, was einem „Totstell-Reflex“ gleichkäme, sondern um die Befreiung der „sinnlichen Überfülle“, um Bilder und Vorstellungen, die in Wörtern, Sätzen und Begriffen „eingekapselt“168 seien. Angesichts dieser Statements dürfte kaum anzuzweifeln sein, dass es

163 Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 229. 164 Ebd., S. 229. 165 Ebd., S. 226. Vgl. den Hinweis bei Kiesel: Literatur und Politik in der Bundesrepublik. In: Die Politische Meinung, Jg. 51, Nr. 438 (2006), S. 67, auf die „aus der Erfahrung des Dritten Reichs resultierende Verpflichtung der Literatur auf Widerstand; sie machte gleichsam überwach und führte zu einer Verzerrung der Wahrnehmung.“ 166 Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 246. 167 Vgl. ebd., S. 227 u. S. 246. Gemeint sind die Arbeiten: Enzensberger: Gemeinplätze. In: Kursbuch 15 (1968), S. 186–197 und Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: Einzelheiten (1962), S. 290–315. 168 Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 246.

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Brinkmann an dem Potenzial einer subjektiven ästhetischen Erfahrung, weniger am Programm einer modernen Literatur, gelegen ist. Während Enzensberger in der gesellschaftlichen und politischen Harmlosigkeit künstlerischer Erzeugnisse zugleich ihr Ende sah, vermutet Brinkmann dieses vielmehr in dem nicht vorhandenen Sich-Einlassen auf Gegenwart, auf konkret sinnlich Wahrnehmbares, auch Banales – aus Sicht der Hochkultur. Folglich deutet er nicht nur das politisch Wirksame als daneben greifende Forderung, auch die artistische Überhöhung und Verkomplizierung literarischen Schreibens kann nicht das Erfahrungsmoment sein, welches Brinkmann mit seinen Paraphrasen des Da- und Hierseins169 lanciert. Material oder „was alltäglich abfällt“170 Die Kategorie des Materials muss sich unmittelbar anschließen, wenn von einem subjektiven Erfahrungsmoment die Rede ist: Welches Material ist relevant, ist alles oder aber nichts von Bedeutung? Brinkmanns tragende Idee – Erweiterung statt Fortschritt171 – lässt sich auf Subjekt und Material der

169 Vgl. auch Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147–155. Die Kritik an Verkomplizierung und (übersteigerter) Differenzierung richtet Brinkmann im Film in Worten, S. 226, an Alexander Kluge: Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (Spielfilm, 1968). Die für Brinkmann „gestrige[]“ literarische Generation „vermag es nicht, sich in Beziehung zu ,Maschinen‘ zu setzen – ihre Assoziation kommt sogleich auf ,Vernichtungsmaschine‘ … und so entsteht das Vorurteil, das Alexander Kluge in seinem Bilderfrikassee ,Die Artisten etc.‘ verbraten hat: Angesichts der unmenschlichen Situation bleibt dem Künstler nur übrig, den Schwierigkeitsgrad seiner Künste weiter zu erhöhen! Was auch den Hintergrund für ausdrückliche Denkakrobatik abgibt.“ 170 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 148. 171 Vgl. Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 229: „Total Assault on the Culture, – das meint: daß trotz singulärer Widersprüche und Unterschiede in all den Stilen, Arbeitsrichtungen, Verhaltensweisen, Bildern und neuen Denk-, Hör-, Seh- und Empfindungsweisen ein durchgehendes Moment bestimmend ist – das der Erweiterung, das dem Denken in Kategorien des Fortschritts entgegensteht.”

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Literatur beziehen, wie der Film in Worten verdeutlicht. Das Subjekt mit seinen individuellen Vorlieben und Sehgewohnheiten soll in der Literatur enthalten sein, entsprechend das tagtäglich vorzufindende „Material in Mengen, das nur aufgehoben zu werden braucht“172, vom „Kühlschrank in der Küche“, über „Schmierwurst von Hertie“ bis zu „Steaks in Klarsichtfolien“173. Beispiele, die vor Augen führen, dass Brinkmann mit dem Materialbegriff immer primär das Physisch-Konkrete, die alltägliche Dingwelt verknüpft – vor den Stoffen, Themen und Motiven des Schreibens. Realisiert sieht er eine solche Literatur seinerzeit nur in der amerikanischen Beat- und Undergroundszene. So nennt und zitiert Brinkmann zahlreiche der in der Übersetzungsanthologie Acid vertretenen Autoren, unter anderen Donald Barthelme, William S. Burroughs, Andy Warhol, Frank O’Hara, Ted Berrigan, Michael McClure, Tom Veitch, Ron Padgett und Marshall McLuhan. Die Aufhebung traditioneller Beschränkungen, die Absage an den politischen oder gesellschaftlichen Auftrag, die Verwertung alltäglichen, nebensächlich erscheinenden Materials – was zunächst nach einem Befreiungsschlag aussieht, ist Bürde zugleich, denn Reizüberflutung und Überforderung sind unvermeidliche Nebeneffekte, wenn alles erlaubt und relevant sein kann. Auch bleibt die Suche nach Sinn und Zusammenhang bestimmend; Brinkmanns gelegentliche Detailversessenheit führt nicht zur Beliebigkeit, sondern unterstreicht vielmehr die Suche nach dem großen Ganzen. Die positive Formel der Erweiterung führt ihr negatives Reversbild, die völlige Entgrenzung, bereits ins Blickfeld. Das fragende Subjekt entdeckt im Idealfall ein Ordnungspotenzial, im ungünstigeren Fall hingegen nichts mehr im vorgefundenen Material. Das „alltägliche[.] Angst- und Todesuniversum“174, wie Brinkmann den gesellschaftlichen Status quo etwa im Hörspiel Auf der Schwelle paraphrasiert, wirkt sich offenbar auch auf Thematik und Gestaltung der Literatur aus: Es lässt „nichts so sehr aufhorchen als Schüsse, Morde, Verstümmelungen“. Die Literatur sieht Brinkmann in der Pflicht, „nicht nach der vorgegebenen Logik der gewohnten Sprach- und Verständigungsordnung“175

172 Ebd., S. 226. 173 Ebd., S. 223. 174 Ebd., S. 25. 175 Ebd.

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zu verfahren, will sie einer solchen Realitätserfahrung noch entsprechen. Eine gewohnte Ordnung unterläuft der Autor auch, wenn er das Nachwort zum Hörspiel ohne Interpunktion verfasst.176 Brinkmanns Anspruch lässt sich leicht erkennen: Wenn die alltäglich zu machende Erfahrung jegliche Ordnung verweigert, dann muss sich dies in der Literatur auch ausdrücken. Diesem Anspruch steht jedoch das Ordnungssystem Sprache weitgehend im Wege – und zwar nicht allein durch seinen Gebrauch, sondern auch durch eine sprachlich vorgeprägte Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wenn Brinkmann schreibt „Nichts ist wirklich. Alles geträumt. Falsche Schüsse. Falscher Schmerz“177, dann geht es nicht um eine angezweifelte Realität, sondern um die angezweifelte Referenz der auf Realität abzielenden Zeichen: Ist Sprache, insbesondere die literarische, überhaupt geeignet, alltägliche und darüber hinaus ästhetische Erfahrungen abzubilden? Hier verschiebt sich der Fokus notwendig vom Material auf die Sprache, denn Brinkmanns Erweiterung löst noch nicht das Problem der Vermittlung subjektiver Erfahrungen. Die Texte des Film in Worten referieren immer wieder auf diese Problematik. Es ist deutlich, dass hier bereits die (ästhetische) Erfahrung als sprachlich vorstrukturiert erkannt wird und demnach das Vermittlungsproblem nicht erst mit der literarischen Umsetzung beginnt, sondern tatsächlich mit der vorausgehenden Erfahrung des schreibenden Subjekts. Hierauf soll im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen werden, wenn es konkret um das organisierende Medium geht. Es wird jedoch bereits deutlich, dass Brinkmanns Positionierungen hinsichtlich des literarischen Materials immer zugleich medienreflexiv sind. Wenn Brinkmann immer wieder auf das Material des täglichen Lebens, auf die tagtäglich zu machende Erfahrung abhebt, wird zugleich eine Kritik am willkürlich selektiven Blick der Literaturschaffenden artikuliert. Diese Kritik durchzieht die theoretischen Texte des Autors. „Schmierwurst von

176 Ähnlich William S. Burroughs, dessen Fragen „warum hier haltmachen warum irgendwo haltmachen“ Brinkmann wiederholt zitiert. Zitat aus Burroughs: Die unsichtbare Generation. In: Brinkmann, Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene (1983), S. 166–174; hier S. 170. 177 Brinkmann: Auf der Schwelle. In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 5–40; hier S. 33.

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Hertie“178, die „Titten einer 19jährigen“179 – es werden bewusst nebensächliche oder prekäre Ziele des alltäglichen Blicks ausgewählt, um jenen literarisch-künstlerischen Blick auszustellen, der für gewöhnlich das Material auf seine Sinnhaftigkeit scannt und strukturiert. Der Fokus soll zurückgebracht werden auf das Zufällige, Ungeordnete der Wahrnehmung etwa einer Straßenszene, eines verwüsteten Raumes oder einer Stripszene. Das, was in den Blick gerät, ist ebenso wenig kalkulierbar wie die Empfindungen und Assoziationen, die in der Folge ausgelöst werden. Aber wenn auch „die Anordnung der Kleidungsstücke in dem Zimmer offensichtlich zufällig entstanden ist, enthält sie [doch] eine Bedeutung, die nicht überschaut werden kann und zur Vorsicht mahnt.“180 Dem vorgefundenen Material wird ein Bedeutungspotenzial zugewiesen, das sich „nicht einmal in den einzelnen Sachen oder der Verteilung“ verberge, sondern vielmehr in den „Leerräume[n] zwischen den einzelnen Sachen“ vermutet wird, die sich „außerhalb des Zimmers möglicherweise zusammenfügen lassen zu einem genau kalkulierten Bild von eben diesem Zimmer“181. Die nachträgliche Deutung eines vorgefundenen Schauplatzes rekrutiert Brinkmann aus dem Zusammenhang des Kriminalfalls182, um sie auf der Ebene

178 Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 223. 179 Ebd., S. 227. 180 Brinkmann: Der Auftrag. In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 54–60; hier S. 56. 181 Ebd. 182 Vgl. auch Robbe-Grillet: Für einen Realismus des Hierseins. In: Akzente, Jg. 3, H. 4 (1956), S. 316–318; hier S. 318, der seine Auffassung eines realistischen Schreibens ebenfalls am Beispiel des Kriminalfalles / Kriminalromans verdeutlicht. Die Indizien, das heißt „die genaue Stellung eines Möbels, die Form und die Häufigkeit eines Abdruckes, das Wort auf einem Zettel. Nach und nach gewinnt man den Eindruck, daß es nichts anderes Wahres gibt.“ So wie die Indizien nur eine „greifbare Eigenschaft, jene ,da‘ zu sein“ besitzen, so hat auch die „Welt in der Dichtung“ in ihrem „Hiersein“ ihre Wirklichkeit. Doch die Suspendierung einer Bedeutungszuweisung kann auch RobbeGrillet, wie das Beispiel nahelegt, nicht ausrufen; Brinkmann verdeutlicht am Bsp. der Gangster- und Kriminalgeschichte vor allem auch Gegensätze zwischen der Erfahrung und ihrer sprachlichen Darstellung. Die Faszination des Gewaltaktes scheint durch Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit

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der Selbst- und Paarbeziehung, wie etwa in Nichts weiter und Das Alles183, zu problematisieren: Herumliegende Kleidung, Küchengeräte und Zeitschriftenreklame sind nur scheinbar nichts weiter. Hieraus lässt sich schließen, dass dann, wenn der zufällige Befund, die reine Oberfläche zum Gegenstand von Literatur werden, dies doch nichts ändert an dem individuellen Ordnungs- und Verstehensanspruch: Sinn und Zusammenhang werden auch hier mindestens vermutet. Oberfläche in Reinform kann es demnach nicht geben. Der Zufallscharakter von Szenen, Ausschnitten und Momentaufnahmen des Alltags suspendiert deren mutmaßliche, inhärente Bedeutung nicht. Sieht man das Material in der Funktion eines „nichtdiskursiven Arguments für die Unausweichlichkeit der Gegenwart“184 bleibt dennoch die Frage nach einer motivierten Auswahl und potenziellen Bedeutungszuweisung unbeantwortet. Das einfache Aufsammeln erweist sich auch für Brinkmann als letztlich unbefriedigend. Thomas Groß, der den „emphatische[n] Wirklichkeitsbezug“185 zu Recht als dominierend im Werk Brinkmanns hervorhebt, setzt auf eine Rückverweisungsschleife des Zeichenhaften, die doch eine Antwort schuldig bleiben muss – und möglicherweise auch soll – wenn er anführt, dass „die Dinge nicht allein Warendinge [sind], d. h. auf eine bestimmte Weise massenhaft produziert (und dadurch entoriginalisiert), sie sind als Warendinge auch Abbilder, Zeichen, Bildbotschaften oder Ton-Messages, also Reproduktionen eines selbst schon Produzierten (damit aber erst recht einer paradoxen, weil ohnehin nicht mehr vorhandenen, Originalität beraubt). Ihre unüberseh- und -hörbare Präsenz verdankt sich eben jenen neuartigen (Re-)Produktionstechnologien, die das Empfinden der Wirklichkeit selbst verändert haben.“186

begründbar, während die Darstellung und Vermittlung desselben sich durch Rationalität, Abstraktion und Zeichenhaftigkeit auszeichnet. 183 In: Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 72ff und 77ff. 184 Groß: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns (1993), S. 44. 185 Ebd., S. 29. 186 Ebd., S. 44.

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Die sinn- und ordnungslos erscheinende Warenwelt, die „überwältigende Materialität der sinnlichen Erfahrung“187 bildet Brinkmanns Schreibzentrum. Dennoch lässt sich den Texten ein Ordnungsanspruch sehr wohl zuweisen – mit der Exposition von Sinnverlust in der hochindustrialisierten Konsumgesellschaft geben sie sich kaum zufrieden. Von einer distanzierten Beobachtung lässt sich ebenso wenig sprechen, bedenkt man die Rastlosigkeit, die der Autor angesichts zahlreicher, zunächst undurchdringlicher Oberflächen im Werk kommuniziert. Die wiederholte literarische Zeigegeste, die das Werk bestimmt, ist die Präsentation des (vordergründig) Trivialen, Verkommenen und Marginalen. Eine Deutung, die das Ontologische oder nur mehr Oberflächliche der Dinge hier als letzte und einzige Projektionsebene darstellt, muss allerdings danebengreifen. Damit wären das Sich-Einlassen auf den Alltagsgegenstand, der Wunsch, in und mit der materiellen Umwelt „gesteigert dazusein“188 weitgehend missverstanden. Auch überblendet der häufig an die Tradition des Pop angelehnte Begriff der „Oberflächenästhetik“189 die Differenz von subjektivem Anspruch und ontologischer Lebenswirklichkeit, da er den Eindruck artikuliert, das schreibende Subjekt taste Oberflächen ab, worin sich Such- und Orientierungsverhalten bereits erschöpfe. Wie bereits angedeutet, ist die Reflexion des Materials bei Brinkmann stets eng an die Reflexion des (Sprach-)Mediums gekoppelt, insbesondere, wenn die Vermittlung an der sprachlichen Vorstrukturierung des alltäglichen wie des ästhetischen Erfahrungsmomentes, zu scheitern droht. Organisation I: Die Reflexion des Mediums Hiervon ausgehend ist zu fragen, was also das Medium für Brinkmann noch leisten kann. In welche Beziehung lassen sich Essays und Tonbandaufnahmen setzen, wenn man einen sprachkritischen Gestus voraussetzt? Brinkmann operiert mit Sprache – aber nicht ausschließlich, wie die Geräusch-

187 Ebd., S. 50. 188 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 109. 189 So bereits als Titelschlagwort bei Matejovski, Kleiner, Stahl: Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region (2008). Vgl. auch Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (2003).

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vielfalt der Tonbänder Wörter Sex Schnitt belegt: nicht nur gesprochene Worte beziehungsweise sprachliche Laute, sondern auch Kratz-, Reibeoder Atemgeräusche sind zu hören. Ebenso lange Pausen. Der Wechsel vom geschriebenen zum gesprochenen Wort bereichert um Tonlagen, Stimmungen und Hintergrundgeschehnisse, die der Text zwar berichten, nie aber unmittelbar als akustischen Reiz darbieten kann. Wenn Herbert Kapfer im Vorwort zu den Tonbandaufnahmen Wörter Sex Schnitt erläutert, „Nicht in das Material eingreifen als editorisches Prinzip: die Bänder bzw. Aufnahmen als readytapes so zu belassen, wie sie vorgefunden wurden – das bedeutet die teilweise Gleichsetzung von Material und Werk. (Der Begriff Material kommt übrigens in Brinkmanns Notizen zu den Bändern nicht vor.)“190

zeugt dies von einer gewissen Medienvergessenheit, die nicht nur hinsichtlich editorischer Notwendigkeiten verwundert191: Die Tatsache, dass es eines Mediums bedarf, scheint obsolet und wird hier doch von Brinkmann selbst auf die Tagesordnung zurückgesetzt. Die Differenz von Material und Werk wird mithin nicht geleugnet, sondern zum Ausgangspunkt literarischkünstlerischer Reflexion. Die Vermittlung der Wahrnehmung durch Sprache, sowie andererseits die sprachlich vorgeprägte Wahrnehmung, koppeln zugleich das Material eng an die Sprache. Das Material wird zum konstanten Rückverweis auf die sprachliche Konstitution der Wahrnehmung, die sich angesichts des von Brinkmann beklagten Verwertungszwangs noch potenziert. Aus dem Widerspruch, als Literaturschaffender in besonderer Weise an diesem Verwertungszwang Anteil zu haben, kann er selbstredend nicht aussteigen, allen sprachkritischen Stellungnahmen und Projekten zum Trotz.

190 Brinkmann: Wörter Sex Schnitt (2005), Booklet, Vorwort S. 3. 191 Zur mangelnden Differenzierung von „Original“- und „Ausgangsmaterial“ in der Edition bei Brinkmann vgl. auch Kathrin Peters: Entscheidende und andere zufällige Augenblicke. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 164, die darüber hinaus auf die „medienhistorische Zäsur“ hinweist: „Die Tonbandaufnahmen erscheinen auf CDs, die Super-8-Filme auf DVD.“

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In dem Hörspiel To a world filled with compromise, we make no contribution192 setzt Brinkmann sich offenkundig mit dieser Problematik auseinander. Indem er von Wörtern spricht, „die aufpaßten, wohin ich ging“193, macht er keinen Hehl aus der eigenen Betroffenheit. Von einem Befreiungsschlag kann dabei keine Rede sein, vielmehr von einer Suche, die immer hingeht auf das Leben, welches als ein „stiller, wortloser Bereich“ imaginiert wird, der jedoch „in jeder Form bedrängt“194 sei. Anstelle des herbeigesehnten, von Sprache und Worten befreiten Erfahrungspotenzials begegnen „Wortmüll“195 und eine zur „Collage erstarrt[e]“196 Lebenswelt. Idealerweise wäre Wahrnehmung folglich ein noch nicht sprachlich kontaminiertes Geschehen, ohne jene (sprachliche) „Form“, die für sich betrachtet „natürlich leer“197 ist. Brinkmann, der stets bemüht scheint, das programmatische Gerangel des Literaturbetriebs zu meiden, idealisiert hier bewusst einen blinden Fleck, denn die Charakteristika einer solchen Terra incognita der Wahrnehmung müssen zweifellos im Dunkeln bleiben. Wenn bereits der Wahrnehmungsmodus außerhalb des Vorstellbaren angesiedelt ist: Wie sollte eine Literatur aussehen, die ihr ureigenes Zeichensystem unterläuft? Der wortlose Bereich bleibt für die Literatur unbekanntes Terrain, auf das sich vielleicht ein im Sinne Fiedlers „prophetischer“ Blick werfen lässt198 – er ist entsprechend wenig gefährdet, an Attraktivität zu verlieren.

192 In: Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 121ff. 193 Ebd., S. 126. 194 Ebd., S. 122. 195 Ebd., S. 128. 196 Ebd., S. 129. 197 Ebd., S. 122. 198 Vgl. Fiedler: Die neuen Mutanten. In: Brinkmann, Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene (1969), S. 17, der darauf hinweist, dass „[g]anz offenbar […] die Literatur nicht allein eine traditionelle Funktion, sondern auch eine zeitgenössische [hat]. Das heißt, sie kann es sich zur Aufgabe machen, die Gegenwart und deren Bedeutung zu erhellen; denn die Gegenwart kann ebensowenig als bekannt vorausgesetzt werden wie die Vergangenheit. […]. Indes neigt die zweite Funktion des Romans dazu, sich in eine dritte zu verwandeln: eine revolutionäre, prophetische, ,futuristische‘.“

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Sprach- und Wortlosigkeit lässt sich im Audioprojekt allerdings tatsächlich einlösen, wenn hier Erfahrungen, in diesem Fall als Geräuschwahrnehmungen, unmittelbar angeboten werden. Die im Vermittlungssystem Sprache, in Perzeption und Rezeption gedoppelte Problematik bleibt ausgespart. Es bleibt zu fragen, was unterm Strich dabei herauskommt: Einerseits handelt es sich bei der Inklusion auditiver Alltagsreize um eine Erweiterung des Erfahrungshorizontes. Andererseits lässt sich der Effekt von etwa Klopf-, Schlag- und Atemgeräuschen auch als eine Reduktion des gemeinsamen Nenners und der erfahrungsästhetischen Komplexität verstehen, die durch Sprache möglich wird. Die Tonbänder heben diesen Zwiespalt, der sich aus der Gewinn- und Verlustrechnung der Sprachverwendung ergibt, jedenfalls nicht auf. Unübersehbar ist bei Brinkmann das „Misstrauen“199 gegenüber der Schriftsprache, die zu sehr die Medien beherrsche. Die Vorstellung und das, was tatsächlich vorhanden ist, würden zum Disparaten, nicht mehr Vermittelbaren. Die Tonbandaufnahmen verstehen sich vor diesem Hintergrund als konsequente Fortführung der medialen Testläufe, bei denen es stets darum geht, eine wie auch immer geartete Erfahrung mitzuteilen.200 Neben Lyrik, Prosa, Fotografie und Hörspiel gehören zu diesen Versuchen Brinkmanns auch die Super-8-Filme der späten 1960er Jahre, die 2007, zwei Jahre nach den Tonbandaufnahmen, im Rahmen des (Kino-)Films Brinkmanns Zorn veröffentlicht wurden.201 Die Tonbänder lieferten zu dem

199 Brinkmann: Ein Misstrauen. In: Ders.: Wörter Sex Schnitt (2005), Rosa CD. 200 Vgl. auch das Statement von Thomas Groß zur Veröffentlichung der Tonbänder: „Neu ist die Rückkehr des Worts zum Klang. Erstmals lässt sich akustisch mitverfolgen, was diesen Arbeiten schon immer nachgesagt wurde: dass sie mehr sein wollen als buchstäbliche Niederschrift, dass sie herausdrängen aus dem Raum der Abstraktion. Nichts anderes hatte das Auditorium in Cambridge [B. nahm 1975 auf Einladung am „International Cambridge Poetry Festival“ teil, Anm. d. Verf.] in Begeisterung versetzt: die physische Präsenz eines Autors in seinem Text.“ Groß: Warum brüllst du denn immer so, Rolf? Der akustische Nachlass des wilden Dichters Rolf Dieter Brinkmann ist erschienen. In: Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton: Kritik vom 22.04.2005. URL: http: //www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/369067/ (Zugriff am 18.03. 2013) 201 Bergmann: Brinkmanns Zorn. 3 DVDs. DVD 1: 1967–70. Die Super-8 Filme, DVD 2: 1971–73. Arbeitsbücher und Collagen, DVD 3: 1973–75. Die Ton-

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Film wiederum das sprachliche Ausgangsmaterial, dem die schauspielerisch-visuelle Darstellung konsequent synchron – und erstaunlicherweise erfolgreich – angepasst wurde.202 Ein Ding der Unmöglichkeit wäre, aus dem Wahrnehmungs- und Vermittlungssystem die Schriftsprachlichkeit herauszufiltern und damit in unbekannte, unbewusste Bereiche vorzudringen, die über das „gewisse[.] Maß an Unkontrollierbarkeit, mit dem im künstlerischen Prozeß gerechnet wird“203, hinausgingen. Die Tonbandaufnahmen wagen dennoch einen Schritt in diese Richtung, indem sie Unmittelbarkeit und Unüberlegtheit als künstlerisches Prinzip erproben: Das Mikrofon im Standby zeichnet neben überlegten Sätzen auch zufällige Pausen, ungeplante Geräuschkulissen und Antworten interviewter Passanten sowie den Affekt des Subjektes gegenüber unerwarteten Ereignissen auf.204 Weder die Antworten der anderen noch die eigenen Reaktionen können auf diese Weise antizipiert werden.

bänder, Kinofassung (2007). Tonbänder und Super-8-Filme erscheinen damit nicht in der Reihenfolge ihres Entstehens, da die Tonaufnahmen erst, so die editorische Notiz, zwischen Oktober und Dezember 1973 entstehen. 202 Zur besonderen Entstehungsgeschichte des Films und kritisch zum Terminus „Literaturverfilmung“ vgl. auch Paech: Die Töne und die Bilder: Brinkmanns Zorn (Harald Bergmann 2005). In: Spedicato, Hanuschek (Hg.): Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen (2008), S. 183–195. Paech beleuchtet das Prinzip der „umgekehrten Sprach-Synchronisation“ (184), bei der Schauspieler und Situationen jeweils, entgegen der üblichen Produktionsweise, synchron zum Tonbandmaterial eingesetzt und gespielt werden. Diese Art der Filmproduktion führt denn auch zu ungewöhnlichen Stellungnahmen, wie: „Der Film gibt Brinkmanns Sprache jene Welt zurück, die zu erfassen sie sich verwehrt.“ bei Kothenschulte: „Die Gegenwart so eng“. Harald Bergmann hat die Tonbänder des Kölner Autors Rolf Dieter Brinkmann verfilmt. In: Literaturen, Jg. 8, Nr. 1 (2007), S. 114. 203 Peters: Entscheidende und andere zufällige Augenblicke. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 172. 204 Vgl. auch Herbert Kapfer, der betont, dass es „völlig unberechenbar [sei], auf diesen Aufnahmen, was im nächsten Augenblick passieren wird.“ Groß: Warum brüllst du denn immer so, Rolf? In: Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 22.04.2005. URL: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/3690 67/ (Zugriff am 18.03. 2013).

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Auch der „Modus des Schimpfens“205 stellt einen Versuch dar, die Schriftsprachlichkeit zu unterlaufen und dennoch ein sprachliches Produkt hervorzubringen. Kathrin Peters weist darauf hin, dass das Schimpfen als „persönlichen Gemütszustand, gar als Charakter des Autors zu veranschlagen, hieße, es im Hinblick auf die ästhetische Produktion gänzlich unterbestimmt zu lassen. Denn es ist der Modus des Schimpfens, der dem Hervortreiben immer neuer Wörter und Sätze dient, Sätze, die anders als beim überlegten Verfassen sinnvoller Texte nicht-literarisch, nicht-metaphorisch und nicht-repräsentativ sind.“206

Brinkmann nutzt seine Aufnahmen, um das „Misstrauen“207 gegenüber der Schriftsprachlichkeit zugleich in Theorie und Praxis zu vermitteln, das heißt sowohl als Reflexion über Sprache als auch im unmittelbaren, ungeplanten Gebrauch von Ton und Sprache. Bereits mit dem zwischen Oktober 1972 und Januar 1973 angefertigten Band Rom, Blicke scheint Brinkmann sich von der literarischen Darstellung einer komplexen ästhetischen Erfahrung zu verabschieden. Der Verschnitt aus unterschiedlichstem Text- und Bildmaterial inszeniert die Absage an den konventionellen Roman kaum als eine Verlustgeschichte. Dies ist offenkundig auch nicht das vordergründige Ziel Brinkmanns; dennoch sind insbesondere ästhetische Naturerfahrungen in Rom, Blicke auch durch eine Verlustempfindung gekennzeichnet, die nachweislich mit einer mangelnden sprachlichen Vermittelbarkeit korrelieren. Neue Medienerprobungen können daher als der Weg nach vorne verstanden werden. Die Tonbandaufnahmen spielen fraglos mit dem Potenzial einer ästhetischen Erfahrung, ohne es dabei zu zelebrieren. Viel zu kritisch bleibt die Haltung Brinkmanns gegenüber den Medien schlechthin, was auf Seiten der literarischen

205 Peters: Entscheidende und andere zufällige Augenblicke. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 173. 206 Ebd., S. 173, 174. Auch Selg: „Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert“. In: Weimarer Beiträge, Jg. 53, H. 1 (2007), S. 50, spricht von einem „Hauptanliegen: der Unterwanderung der Konvention ,Literatur‘.“ Im Zusammenhang mit Brinkmanns allgemeiner Sprachskepsis nennt er (ebd., S. 55 u.a.) wiederholt einen wichtigen Gewährsmann Brinkmanns, den Philosophen Fritz Mauthner. 207 Brinkmann: Ein Misstrauen. In: Ders.: Wörter Sex Schnitt (2005), Rosa CD.

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Öffentlichkeit, die posthume Publikationen mit Begeisterung aufnimmt, nicht in Vergessenheit geraten sollte.

2.3 R OM , B LICKE (1979) Mit Begeisterung, mindestens aber ebenso viel Skepsis, wurde bereits Brinkmanns Materialband Rom, Blicke aufgenommen. Die Literarizität des 1979, das heißt etwa sieben Jahre nach seiner Entstehung, veröffentlichten Textkonvoluts wurde immer wieder kritisch hinterfragt. Dies lässt sich nicht nur auf die posthume Freigabe zurückführen, sondern ebenso auf den Wut-Ton, den Brinkmann hier anschlägt und mit dem er der literarischen Kultur eine generelle Absage zu erteilen scheint. Darüber hinaus hat die „Anti-Italien-Haltung“ des Autors offenbar „einen Aufschrei der Empörung bei der italienliebenden deutschen Literaturkritik ausgelöst“208. Die beiden anderen Materialbände erscheinen erst, obwohl ebenso wie Rom, Blicke Anfang der 1970er Jahre entstanden, 1987 und 1988. Einerseits wurde durch dieses Vorgehen Kritik an der Nachlassverwaltung durch Maleen Brinkmann laut, andererseits dürften die Bände Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand auch von dem Umstand profitiert haben, dass sich zu dem Status der posthumen Publikation im Falle Brinkmanns bereits ein Meinungsspektrum ausgebildet hatte. Ebenso ist sicherlich die Entwicklung der Edition als positiv im Hinblick auf die Rezeptionsmöglichkeiten intermedialer Werke zu beurteilen. So wird auch in der Forschung dezidiert auf die Veränderungen bei Rowohlt eingegangen.209 Während Rom, Blicke noch nicht als Faksimile, sondern in Buchtypografie veröffentlicht wurde, sind die Erkundungen hinge-

208 Amodeo: Rolf Dieter Brinkmanns Versuch, ohne Goethe über Italien zu schreiben. In: Arcadia, Jg. 34, H. 1 (1999), S. 2–19; hier S. 4. 209 Vgl. Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk (2006), S. 83f; Schrumpf: Wie lesbar sind Brinkmanns „Materialbände“ für die Literaturwissenschaft? In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 193–208; hier S. 194f.

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gen „ein Reprint der originalen geklebten Hefte“210, wobei immer noch ursprünglich farbige Bilder in Schwarzweiß-Abbildungen umgewandelt wurden. Schnitte (1988) schließlich „arbeitet mit Farbbildern und ist eine Reprint-Fassung. Demzufolge ist in Rowohlts Editionspraxis eine Entwicklung auszumachen: weg von einer indifferenten Vorlagen-Reproduktion, hin zu möglichst originalgetreuer, aufwendiger Wiedergabe in Buchform.“211 Zur besonderen Intermedialität des Materialbandes Rom, Blicke gehört, neben den beiden anderen späten Materialbänden212, zu den durchgehend und radikal intermedial gestalteten Arbeiten Brinkmanns. Während bereits Keiner weiß mehr, als Roman, konventionelle Ansprüche an die Gattung hinterfragt, wird mit Rom, Blicke ein schon im bloßen Erscheinungsbild (visuell) intermediales Werk präsentiert, indem hier Bildund Textmedium konsequent verschränkt werden. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass Brinkmann auch in seiner frühen Schaffensperiode konsequent mit Abbildungen arbeitet. Diese sind allerdings, abgesehen von dem auf die Materialbände vorausweisenden „Prosa-Foto-Text“213 Flickermaschine214, ausschließlich in der Lyrik anzutreffen. Der Vergleich des ersten und einzigen Romans mit dem Materialband Rom, Blicke lässt sich so

210 Schrumpf: Wie lesbar sind Brinkmanns „Materialbände“ für die Literaturwissenschaft? In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 194. 211 Ebd. S. 194, 195. 212 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand (1987) und Schnitte (1988) sollen hier allerdings nicht thematisiert werden. Die umfangreichen Textkonvolute sind zwar von ähnlicher Machart wie Rom, Blicke, eine Besprechung im Rahmen dieser Arbeit würde ihnen aber nicht gerecht werden können. Anzumerken ist, dass die drei Materialbände nicht chronologisch nach ihren Entstehungszeitpunkten erschienen sind. Vgl. hierzu Späth: Rolf Dieter Brinkmann (1989), S. 91ff: Die Erkundungen entstanden, aufgefüllt mit früherem und späterem Material, hauptsächlich zwischen Sept. und Dez. 1971 (erschienen 1987); Schnitte entsteht 1972/73 parallel zu Rom, Blicke (erschienen 1979), erscheint jedoch erst 1988. 213 von Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007), S. 120. 214 Brinkmann: Flickermaschine. In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 84–93.

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auch repräsentativ verstehen für jene Veränderung, die sich mit der Wende zu den 1970er Jahren vollzieht – auch und vor allem deshalb, weil mit den Materialbänden die Pläne für einen zweiten Roman korreliert sind, der jedoch von Brinkmann nicht umgesetzt werden konnte. Die innerhalb des Romans Keiner weiß mehr analysierten, bildlichen Orientierungsstrukturen sind auch für Rom, Blicke maßgeblich und reichen bis in die diskursive Ebene des Textes, worauf im Folgenden noch genauer eingegangen wird. Von Bedeutung ist zunächst, dass Bildlichkeit im Materialband bereits an der Oberfläche, das heißt, in der visuellen Wahrnehmung des Werkes eine Rolle spielt. Text und Bild werden hier durchgängig ins Verhältnis gesetzt, wobei die Bilder in der Regel nicht in einer nachrangigen Funktion, etwa als Illustrationen zur textuellen Information, eingesetzt werden, sondern als gleichrangiges Element einer Text-Bild-Collage. Dabei variiert die Text-Bild-Kombination innerhalb des Gesamtwerkes zwischen Text-Bild-Collagen215, reinen Bild-Collagen216 und dem Abdruck von Einzelbildern im Wechsel mit reinen Textpassagen217. Als intermediale Werke sind, der Terminologie Rajewskys folgend, sowohl Keiner weiß mehr als auch Rom, Blicke, aufzufassen. Die Medienkombination218 in Rom, Blicke macht den intermedialen Charakter dabei offensichtlicher, während intermediale Bezüge, als „explizite“ und „evozierende“, sowie „simulierende Systemerwähnungen“219, beide Werke auszeichnen. Die Differenz von evozierenden und simulierenden Systemerwähnungen erklärt Rajewsky dahingehend, dass bei der Evokation zumindest initial eine Thematisierung, ein explizites Erwähnen oder Reden über das Fremdmedium stattfinde, wohingegen die Simulation eine sprachliche Imitation des Fremdmediums darstelle und „somit auf einer Modifikation des narrativen Diskurses und nicht mehr allein auf einer Thematisierung

215 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), z.B. S. 188–191 oder 286–287. 216 Ebd., z.B. S. 211–219. 217 Ebd., z.B. S. 398–404. 218 In diesem Fall können Bild bzw. Fotografie und Text, in der Terminologie Rajewskys, als zwei distinkt wahrnehmbare und gleichermaßen materiell präsente Medien rezipiert werden. Vgl. zur Medienkombination als Form der Intermedialität Rajewsky: Intermedialität (2002), S. 15f. 219 Ebd., S. 79ff, S. 94.

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des Bezugssystems“220 basiere. Rajewskys Unterscheidung ist dabei eng an die Differenzierung von „histoire“ und „discours“221 gekoppelt. „Während das erste Verfahren […] allein mittels eines evozierenden ,Redens über‘ umgesetzt wird, hat man es im zweiten Fall mit einem Verfahren zu tun, das nicht mehr mit einer Thematisierung des Bezugssystems zu verrechnen ist: Die erforderliche Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Text und Film wird hier nicht nur festgestellt, suggeriert oder vorausgesetzt, sondern tatsächlich diskursiv hergestellt – sie resultiert aus der Simulation bestimmter filmischer Verfahren oder Elemente.“222

Der Wahrnehmungsmodus in Keiner weiß mehr ist größtenteils gleichzusetzen mit einem Sehen und Denken in Bildern. Die den Protagonisten umgebende Lebenswelt wird sowohl im Moment des Sehens selbst als auch in der (ordnenden) Erinnerung bildhaft erfahren. Die Evokation des medialen Fremdsystems223 Bild oder auch Fotografie ist offenbar – neben der häufigen expliziten Erwähnung des Mediums – von zentraler Bedeutung, da immer wieder bewusst Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen sprachlichem und bildlichem Darstellungsmedium hergestellt werden. Als evozierende Systemerwähnung verstehen könnte man etwa das mehrmals zitierte Daumenkino der Bilder, die „schnell hintereinander durchgeblättert“ eine sich wiederholende, „durchgehende Bewegung“224 entstehen lassen. Die stete Wahrnehmung der Umgebung als „ein Bild, ein Foto, wie ausgeschnitten, in einzelne Abschnitte aufgeteilt“225 sowie ein Protagonist, der durch die Stadt geht „als ob er in einem viel zu großen Bild herumtappte, in dem er etwas vermutete, das unklar blieb, wie in einem Vexierbild“226, können hier stellvertretend für zahlreiche vergleichbare Passagen angeführt werden. Hinsichtlich der Evidenz von Intermedialität lassen sich die beiden Werke nicht nur anhand der Medienkombination (in Rom, Blicke) unter-

220 Ebd., S. 96. 221 Ebd., S. 197. Rajewsky stützt sich, nach eigenen Angaben, auf die 1966 von Émil Benveniste eingeführten Begriffe. 222 Ebd., S. 91. 223 wiederum Bezug nehmend auf die Terminologie Rajewskys. 224 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 209. 225 Ebd., S. 46 226 Ebd., S. 104.

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scheiden, sondern auch durch den Umstand, dass die erläuterte, simulierende Systemerwähnung als ein wesentliches Kennzeichen des Materialbandes herausgestellt werden kann, während sie für Keiner weiß mehr noch keine zentrale Rolle spielt. So wird in Rom, Blicke augenscheinlich durch den Einsatz ideografischer Zeichen227, durch die Dominanz der Parenthese, durch die unkonventionelle, das Schriftbild zum Teil stark verändernde Interpunktion, durch das Fehlen oder Ersetzen von Leerzeichen durch Satzzeichen wie etwa Doppelpunkt oder Ausrufungszeichen, durch die sprachliche Imitation von Umgebungslauten228 ein vorwiegend staccatoartiger Stil229 erzeugt. Dieser erinnert mitunter an unruhige Kamerabewegungen oder Fotosequenzen: „Treten, Schritte, Sehen:klack, ein Foto!“230. Neben der charakteristischen Interpunktion wirken sich Bewegung und Erregung des Subjektes unmittelbar auf den Schreibakt und damit auf das Schriftbild aus, wie etwa in den folgenden Textpassagen. „Auch das gehört in diesen Zusammenhang, der immer heißt: Trieb-Anspannung, Trieb-Abfuhr, Entspannung – es heißt weiter: Ich und Die Vielen, – es heißt weiter: Wachheit und Wachsamkeit.

227 Beispiele in Brinkmann: Rom, Blicke (2006): & (ersetzt „und“); 1 (ersetzt unbestimmten Artikel in sämtlichen Beugungsformen, sowohl für Konkreta als auch für Abstrakta); x (ersetzt „mal“); = (ersetzt „gleich“); Zeitangaben, z. B. 2 ½ Stunden, ½ 11 abends (z. B. S. 307, 308). Vgl. zu Brinkmanns „Ikonisierung der Schrift“ auch Schrumpf: Wie lesbar sind Brinkmanns „Materialbände“ für die Literaturwissenschaft? In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 200ff. Schrumpf sieht hierin den Versuch, „das Notationssystem des Buch-staben-Alphabets mit den Möglichkeiten der Bildlichkeit von Schriftzeichen anzureichern.“ (204) Dabei könnten „Verbände von Schriftzeichen […] als Bildzeichen (ganzheitlich gestalthaft) oder als einzelne Buchstabenzeichen“ rezipiert werden. (205) 228 wie bspw. „Wrruummmm“. Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 139. 229 Vgl. Schrumpf: Wie lesbar sind Brinkmanns „Materialbände“ für die Literaturwissenschaft? In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann (2010), S. 204, die von einem „diskontinuierlichen Stau von Schriftzeichen“ spricht. 230 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 139.

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Jeder Trieb hat in sich die Tendenz, sich vollständig abzureagieren. (Das ist die Bewegungsrichtung eines Triebes, einer Anspannung). – Stehen zwei Triebe gegeneinander (Existenzerhaltung – Icherhaltung, Fluchtverhalten – Behauptungsverhalten usw.) treten eben die Kalamitäten des Übersprungverhaltens auf – das Subjekt versucht mittels eines anderen Verhaltens die Situation zu überspringen (Doofheit, Schlaf).“231 „[D]rehende Mischmaschinen-Laster, gelbe Kräne, ununterbrochener Wagenverkehr. – Fontane dell’Esedra (??) – Und viele, viele Autos. – Im Kolonnaden-Gang Zeitschriftenstände, Nippesläden, Kinos, Hippie-Muff ausgebreitet auf Tüchern.“232 „((Die Gegenwart, die jeder wahrnimmt, ist sie nicht wie eine Erzählung von etwas Vergangenem? Wie kann man das verstehen?? Das weiß ich selber nicht!!)) //: Das alte Labyrinth-Empfinden, ja, weiter, hier. […]. (Unbehaust, bis jetzt) /: (ich) /: (weiter) /: (Du! Maleen, bist schön!) /: (Und, verdammt, so wie ich Dich sehe, bist Du keineswegs ein liebliches imaginäres Gespenst! Für meine augenblickliche Kälte, im Mantel sitzend!)/:“233

Doch, wie leicht ersichtlich, lässt der Text Spielraum hinsichtlich der Interpretation des Als ob-Charakters. Welches Medium wird hier, wenn überhaupt, simuliert? Sowohl Fotoapparat als auch Kamera oder Tonbandgerät sind, je nach Textpassage, denkbar. Allgemeiner: Bild, Film und Ton als übergeordnete Medienkategorien. Klar ist zudem, dass Brinkmanns Schreibmodus auch eine Nähe zur Oralität evoziert. Dies gilt aber meines Erachtens werkübergreifend und unabhängig von der Beobachtung, dass hier Fremdmedien simuliert werden. Streckenweise ist die Schreibweise obszön, ungenau und alles andere als stilistisch versiert, was die Wahrnehmung fördert, es werde mehr gesprochen denn geschrieben. Damit ist jedoch die Besonderheit des Materialbandes noch nicht erfasst, betrachtet man das Text- oder Schriftbild und die erwähnte, hohe Frequenz der ideo-

231 Ebd., S. 298 (alle drei Absätze). 232 Ebd., S. 302. 233 Ebd., S. 354 (beide Absätze).

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grafischen Zeichen, für die die obigen Zitate ein Beispiel geben. Vielmehr wird der Text auch als Bild lesbar und die Rezeptionshaltung geht entsprechend in ein „Lesen-Betrachten“234 über. Hauptsächlich simuliert wird fraglos das Bildmedium, sei es in der Form des bewegten, filmischen oder des starren Bildes – dies variiert von Fall zu Fall. Die explizite Benennung eines Mediums, etwa des Fotoapparates, „Sehen:klack, ein Foto!“235, durch den Autor muss dabei der Auffassung, dass Brinkmann hier selbst das Medium sei236, nicht entgegenstehen, da das Subjekt als Ort der Wahrnehmung den Text und damit schließlich auch den Als ob-Charakter konstituiert. Das Subjekt verfügt hier im bildlichen Wahrnehmungsmodus über sein Material. Das Medium kommt also bereits auf Seiten der Produktion in seiner Eigenschaft als vermittelnde Instanz zwischen den Kategorien Subjekt und Material zum Einsatz. Die Rezeption schließlich erfolgt über Bild und Text. Die Bedeutung von Rom, Blicke und der Materialbände insgesamt hat offenbar, hinsichtlich einer Gesamtbetrachtung der Werke Brinkmanns und vor dem Hintergrund jüngerer Publikationen, weiter zugenommen. Die Werke des Autors werden zunehmend in der Gesamtschau als intermedial sowie miteinander verknüpft rezipiert und interpretiert. Die öffentliche Wahrnehmung der Tonbänder Wörter Sex Schnitt (2005) und des wiederum auf den Tonbändern basierenden Kinofilms Brinkmanns Zorn (2007) ist vorgeprägt durch die Rezeption der Materialbände. So liest man etwa zu Brinkmanns Zorn, „dass sich die Visualisierung jetzt an Brinkmanns Collageverfahren anlehn[e], indem Großstadtgeräusche, Musik und Brinkmanns Gedichtvortrag wie die Fotos und Texte im Buch ineinander ge-

234 Schrumpf: Wie lesbar sind Brinkmanns „Materialbände“ für die Literaturwissenschaft? In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 205. 235 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 139. 236 Vgl. Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 130f. Morgenroth spricht hier vom „Dichter, der als portables Medium seine Eindrücke an den Schreibtisch bringt. Der Vergleich zum photographischen Schreiben liegt nahe und wird durch Brinkmanns Affinität zur Kamera und zur Poetik des Snapshots nur unterstrichen. Brinkmann funktioniert in Rom, Blicke wie ein Aufzeichnungsgerät“.

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schnitten“ würden, gleich einem „Zitat der Buchcollagen“237. Weiter heißt es: „Eine Literaturverfilmung, die von einer auf Tonband aufgenommenen Stimme des Autors und zusätzlichen Geräuschen ausgeht und diese Tonbandaufnahmen wiederum als Grundlagen für einen biographischen Film über den Autor verwendet, kann gar nicht mehr anders als deutlich, d. h. selbstreferenziell, ,intermedial‘ zu verfahren.“238

Der medienreflexive, intermediale Nachlass Brinkmanns, die Tonbänder, Super-8-Filme und Collagenbücher, können demnach kaum ohne eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Funktionen und Erscheinungsformen des Intermedialen rezipiert werden. Vor allem mediale Adaptionen des Werkes sind hierauf verpflichtet, wie im obigen Zitat treffend dargestellt. Die Tonbandaufnahmen erinnern sowohl formal als auch inhaltlich an die „unkonventionelle Zusammenstellung“239 der Materialbände. Deren bildlich-sprachlose Mitteilungsform werde teilweise auch mit den collageartigen „Hörbildern“240 der Tonaufnahmen erreicht, wie Olaf Selg feststellt, der darüber hinaus Brinkmanns „ausdrucksstarke[n] Gestus der Destruktion“241 nicht nur in der Cut-up-Technik der Bände realisiert sieht. Auch im Bereich des Akustischen sei dieser, in Form von „sprachlichen Collagen“242, anzutreffen.

237 Paech: Die Töne und die Bilder. In: Spedicato, Hanuschek (Hg.): Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen (2008), S. 194. Paech behandelt die Tonbandaufnahmen, begründet mit Brinkmanns eigener Literaturkonzeption, als Literatur, Brinkmanns Zorn als Literaturverfilmung. Es entstehe „ein Bild von Literatur […], das für die Pop-Literatur steht und bekanntlich auch von Alexander Kluge u. a. praktiziert wurde […].“ (ebd.) 238 Ebd., S. 194. 239 Selg: „Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert“. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen „Wörter Sex Schnitt“. In: Weimarer Beiträge, Jg. 53, H. 1 (2007), S. 61. 240 Ebd. 241 Ebd., S. 62. 242 Ebd.

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Die Beobachtungen von Claas Morgenroth gehen in eine ähnliche Richtung. Er unterstreicht, dass es erst mit der Edition der Tonbänder möglich werde, „die Zusammenhänge, Interferenzen, Übertragungen und Differenzen zu untersuchen, die zwischen Brinkmanns Tonbandaufnahmen, seinen Texten und Schreibtechniken bestehen“243. Offensichtlich werden Fragen der Intermedialität und Mediennutzung zunehmend auf das Gesamtwerk Brinkmanns bezogen, wie die Beispiele aus der aktuellen Forschungsliteratur belegen. Es geht zudem nicht mehr nur darum, sich an dem Paradebeispiel der Text-Bild-Komposition abzuarbeiten, sondern präferiert wird ein wesentlich weiterer Blick auf das Spektrum und die Funktionen der Mediennutzung, das heißt auf Brinkmanns gesamtes „Experimentierfeld intermedialer Schreibweisen“244. Eine Kartografie der Wirklichkeit Anfang der 1970er Jahre Eine starke These ist Hanns-Josef Ortheils Deutung von Rom, Blicke als zentraler Impuls einer generalisierten Suchbewegung245, die sich innerhalb der westdeutschen Literatur zu Beginn der 1970er Jahre formiere. Dass Brinkmanns Materialband hinsichtlich seiner Form im Diskurs der frühen 1970er Jahre anzusiedeln ist246, wurde bisher in der Forschung nicht nur mit

243 Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 127. Der Fokus liegt bei Morgenroth auf den Möglichkeiten portabler Medien – hier also des Tonbandgerätes. 244 Schmitt: „Ich möchte mehr Gegenwart!“ Aspekte der Intermedialität in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns. In: Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne (2011), S. 175–192. Vgl. auch Greif: Schreiben gegen das ,ptolemäische Weltbild‘. Hybride Schrift-Bilder und Piktographe im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Fauser (Hg.): Medialität der Kunst (2011), S. 157–174. 245 Vgl. Ortheil: Köder, Beute und Schatten: Suchbewegungen (1985), S. 25. 246 Insbesondere mit seinem Versuch, den „Begriff der Literatur bis zur Auflösung auszuweiten […] bewegt sich Brinkmann im ästhetischen Diskurs der sechziger und siebziger Jahre, auf den er sich unter Berufung auf Richard Kostelanetz, Susan Sontag, Roland Barthes und Leslie Fiedler bezieht.“ Mor-

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seiner Intermedialität, als Form der Erweiterung des Literaturbegriffs, begründet, sondern auch mit dem „Stil des Authentischen“247 und der Absage an die „Linearität“248. Doch nicht nur die Form ist hier entscheidend: Auch inhaltlich gewährt der Materialband mit seinem Tagebuchcharakter profunde Einblicke in den historischen Entstehungskontext der frühen 1970er Jahre. Durch die fotografische Dokumentation der Reise von Köln nach Rom, in die Villa Massimo, durch die Ablichtung der Aufenthaltsorte, der Straßenzüge und umgebenden Landschaften, durch die Abbildung von Land- und Stadtkarten, von Bildmaterial aus Illustrierten und anderem mehr entsteht bereits über die visuelle Perzeption ein konkretes Bild der Zeit. Auffallend ist vor allem die Häufigkeit kartografischer Darstellungen in Rom, Blicke; an ihr zeigt sich, dass Brinkmann bei seinen Streifzügen durch das Rom der 1970er Jahre nicht zuletzt die räumliche Wirklichkeit, die real-topografischen Verhältnisse der Stadt im Visier hat. Er fixiert sowohl schriftlich, im Text, seine genauen Aufenthaltsorte „Der Ort [in diesem Fall: Olevano Romano bei Rom, Anm. d. Verf.] liegt 41 Grad 51 Minuten 36 Sek. Breite, 34 Grad 48 Minuten Länge, südlicher Meridian von Rom, Ausbreitung des Ortes süd-südwest, südliche Abweichung von Rom 1 Minute 8 Sekunden./ Rom 54 Km entfernt, der nächste Ort Bellagra (auf dem Berg) 5,2 Km/ Hügel Baldi (wo ich wohne): 571,20 Meter hoch gelegen, das Burggemäuer gegenüber: 584,12 Meter hoch.“249

genroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. In: Stingelin, Thiele (Hg.): Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens (2010), S. 129. 247 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 263. Brinkmanns Konzept lasse sich nicht mit Ideen der Pop-Kultur vereinbaren, der es allein um Oberflächen gehe. Vielmehr handle es sich um einen „Dualismus von Oberfläche und Tiefe“ (274). Ein „Perspektivenwechsel von der Pop-Kultur zu einer dualistischen Konzeption von Kunst nach 1970“ sei zu verzeichnen (275). 248 Luckscheiter, Roman: Der postmoderne Impuls (2001), S. 168. Luckscheiter, der beispielhaft Bernward Vespers Die Reise analysiert, nennt hier als weiteres Kriterium die „Einheit in der Vielheit“ (169). 249 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 429.

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als auch wiederholt visuell, über kartografische Abbildungen.250 Insbesondere in den Briefen an Maleen erweist sich diese Form der Dokumentation als ein wichtiges Kommunikationsmittel. Regelmäßig liefert er ihr eine „genaue Aufstellung“, um sie in Kenntnis zu setzen, „[w]o etwas liegt, was da ist, was ich sah und woran ich vorübergekommen bin.“251 Dabei geht er in seiner Akribie soweit, auch Pläne beizulegen „mit eingezeichneten Wegen, durch die ich bisher gegangen bin“252. Wenn Zeller betont, dass „nicht die Wirklichkeit, sondern die literarische Fiktion […] den Fluchtpunkt des Textes“253 bilde, so lässt sich dies, angesichts einer derart realitätsfixierten, kartografischen Dokumentation anzweifeln. Zeller unternimmt hier zu Recht den Versuch, der popliterarischen Deutung kritisch zu begegnen und verweist etwa auf die Zitate, Anspielungen und intertextuellen Bezüge, die Rom, Blicke fraglos enthält. Relevanz und Evidenz des Wirklichkeitsbezuges können allerdings kaum übersehen werden.254 Die Bedeutung des topografisch-kartografischen Aspekts in Rom, Blicke wird nicht so sehr im Vergleich mit den anderen Materialbänden, den Hörspielen oder Tonbandaufnahmen ersichtlich, deren intermediale Anlage offen zutage liegt, als vielmehr mit Blick auf den vier Jahre zuvor entstandenen Roman Keiner weiß mehr. Bedenkt man, dass Brinkmann in Italien Pläne für einen zweiten Roman schmiedete, möglicherweise „eine Prosa

250 Vgl. z. B. ebd., S. 8, S. 286–287, S. 303, S. 418. 251 Ebd., S. 284. 252 Ebd., S. 83. Brief vom 04.11.1972. 253 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 259. 254 Selg: Essay, Erzählung, Roman (2001), S. 276, vertritt bereits für Keiner weiß mehr die Position, dass Brinkmann den Roman nicht mit einer „zunehmende[n] Fiktionalisierung“ vor dem „offenen Ende“ bewahre, sondern deutet das Ende vielmehr im Sinne Peter Handkes: „Die Fiktion, die Erfindung eines Geschehens als Vehikel zu meiner Information über die Welt ist nicht mehr nötig, sie hindert nur.“ (zitiert aus der Aufsatzsammlung Handkes: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 24). Auch Schönborn: Vivisektionen des Gehirns. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 344, deutet das Schreiben Brinkmanns als nicht erst mit den Materialbänden, sondern „von Beginn an programmatisch antifiktional“.

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einmal aus [s]einem Materialbuch machen“255 wollte, dann scheint eine solche Blickrichtung umso sinnvoller. Wie bereits eingehend erläutert, wurden schon in Keiner weiß mehr topologische und topografische Ordnungsverfahren im Textmedium angewandt. Doch weder bildliche noch kartografische Darstellungen ergänzen hierbei die räumlichen Strukturen und Metaphern des Textes, worin ein ebenso offensichtlicher wie wesentlicher Unterschied zum spezifischen Intermedialitätscharakter des Spätwerkes gegeben ist. Von einer Dominanz des metaphorischen Raumparadigmas, das in Keiner weiß mehr etwa mit dem Topos des Mittelzimmers virulent wird, lässt sich für den Materialband nicht mehr sprechen. Vergleichbar ist sicherlich der sowohl reale als auch metaphorische Bewegungsaspekt, da auch in Rom, Blicke eine Reise angetreten wird, die zugleich als innere, distanzierende Reise zu verstehen ist. Allerdings wird hier wiederum die Reise beziehungsweise der Reiseweg kartografisch dokumentiert. Die räumlichen Ordnungsverfahren werden also – und das ist neu und kennzeichnend für das Spätwerk – auf der visuellen Ebene angewandt. Worin ist die Motivation zu einem solchen poetologischen Strategiewandel zu sehen? Oder entfernt Brinkmann sich mit der Visualisierung des Topografischen doch nur geringfügig von bisherigen Darstellungsmethoden? Wie bereits näher beleuchtet, bleiben im Roman Keiner weiß mehr die Vorrangstellung des Bildes sowie das räumliche Organisationsverfahren noch eng an das Subjekt gekoppelt. Was den Text offenbar primär ausmacht, ist die absolute Innensicht des Erzähler-Protagonisten – entsprechend wurde die Publikation häufig als radikal subjektivistisch eingestuft.256 Während der Austausch zwischen Subjekt- und Materialpol zwar

255 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 29. 256 Vgl. etwa Schönborn: Vivisektionen. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997), S. 349, die die „Obsessionen des Protagonisten“ als Grundlage des „einzigen langen Bewußtseins- und Erinnerungsstrom[s]“ von Keiner weiß mehr herausstellt. Der Roman propagiere „die kompromißlose Befreiung des einzelnen aus allen Zwängen, indem er aggressive Abwehrreaktionen gegenüber allen gesellschaftlichen Konventionen, Erwartungen und Zumutungen produzier[e].“

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als essenziell zu bewerten ist, bleibt doch immer das Subjekt ausschlaggebend für die Organisation des Materials.257 Mit Rom, Blicke kommt es diesbezüglich zu einer Neugewichtung. Das Subjekt bleibt auch hier als authentisch-autobiografisches Ich in einer zentralen Position, es verfolgt jedoch den Anspruch, sich selbst zurückzunehmen in dem „neue[n] Projekt von Schreiben und Leben“258. Ersichtlich wird die Absicht zu einer neuen Herangehensweise, dem „exakten Hinsehen – das heißt:nämlich [sic] sehen, was man sieht, und nicht sehen, was man sehen will, auf Grund der eigenen Prä-Okkupiertheit von Ideen und Motiven!“259 Für Brinkmann, das geht aus den poetologischen Essays mehrfach hervor, besteht kein Widerspruch zwischen der „Hinwendung auf den Gegenstand“260 und einer Anwesenheit des Subjektes261, solange sich mit beiden Haltungen gleichermaßen dem Denken in vorgefertigten Begriffen, den „Kopfprogramme[n]“262, opponieren lässt. Den Gegenstand, das Material zu fokussieren, nicht präokkupiert zu sein – diese Ansprüche Brinkmanns dürfen offenbar nicht mit einem Objektivitätsgebot gleichgesetzt werden. Objektivität kann und soll es innerhalb der Literatur auch für Brinkmann nicht geben. Und doch scheint es so, als wolle Brinkmann mit seinen Aufzeichnungen in Rom an Objektivität gewinnen – mit dem Ziel, eine tragfähige literarische Perspektive und Strategie angesichts der Fülle des Materials zu entwickeln. Brinkmanns unmissverständlicher Plan in Italien: Beobachten, Sehen, Aufsammeln, „[d]as, was da ist, mehr nicht“263. Eine genaue, nicht selten nervenaufreibende Dokumentation von „schnell vorbeispringenden

257 Hingegen greift eine Interpretation daneben, die von einer nicht vorhandenen Organisation bzw. Ordnungsstruktur des Textes ausgeht. Hierauf wurde im Zusammenhang mit Keiner weiß mehr umfassender eingegangen. 258 Späth: Rolf Dieter Brinkmann (1989), S. 107. 259 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 374. 260 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 154. 261 Brinkmann beklagt u. a., dass es in der Literatur „noch immer abstrakt um den […] Menschen geh[e]“ und nicht um den Einzelnen. Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 294. 262 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 374. 263 Ebd., S. 91.

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Eindrücke[n]“264 gehört zu diesem Projekt. Obwohl in Rom, Blicke tatsächlich verschiedenste Themen abgehandelt werden – die Positionierung des Autors gegenüber dem deutschen Literaturbetrieb, seine Abneigung gegen die italienische Großstadt, die alles überlagernde Liebesbeziehung zur Frau und Briefpartnerin Maleen, die eigene Lektüre265 und vieles mehr – steht doch ein selbsterteilter Auftrag an oberster Stelle: die Beobachtung der aktuellen, sinnlich erfahrbaren Lebenswelt, des unmittelbar verfügbaren, physisch-konkreten Materials. Die Fülle des Materials korreliert unübersehbar mit der kartografischtopografischen Darstellung.266 Mit Rom, Blicke wird ein Beispiel dafür geliefert, wie Abbildungen von Land-, Stadt- und Geländekarten, von Ortskizzen und Grundrissen dem Schreibenden nicht zuletzt dazu dienen, die gesammelten Eindrücke, Bilder und Gedanken in eine erste Ordnung zu setzen.267 Der an Maleen adressierte Ausschnitt aus einem Stadtplan, bis zur Unübersichtlichkeit mit Kennzeichnungspunkten, Pfeilen und Beschriftungen versehen, zeigt die nähere Umgebung der Viale delle Provincie und des Piazza Bologna. Die kartografische wird zudem von zwei fotografischen Abbildungen teilweise überlagert: einer Postkarte, die wiederum einen unspektakulären Abschnitt der Viale delle Provincie zeigt, also einen direkten Bezug zum Stadtplanausschnitt herstellt; sowie einem Illustrierten-

264 Ebd. 265 Hier ist vor allem die Lektüre von Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer zu nennen. So wird Rom, Blicke eingeleitet mit einem Zitat aus dem 2. Teil der Romantrilogie – „Träume, diese Blutergüsse der Seele“. B. rezipiert und zitiert darüber hinaus Burroughs, Benn, Nietzsche, Korzybski, Freud, Moritz und Tieck, um nur einige zu nennen. Ausführlicher hierzu vgl. Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 259. Zeller betont vor allem die Wechselwirkung von Lesen und eigener Beobachtung. Insbesondere „finden sich bei Jahnn Sequenzen, die Brinkmanns Wahrnehmungen eine Stimme geben“, wenn nicht direkt zitiert werden (260). 266 Die eingangs vorgenommene, kategoriale Zuweisung Material – Raum spiegelt sich hier. 267 Vgl. verschiedene Karten und Skizzen in Rom, Blicke auf S. 286/287, 365, 371, 418, 419. Auch Details wie Terrassen, Treppen, Antennen oder ähnliches werden gelegentlich verzeichnet.

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Bildchen, das die Rückenansicht einer nackten Frau zeigt. Brinkmann kommentiert seine Collage selbst. „Ich habe Dir auch auf den Auszug des Plans ein Bild aus den Illustrierten aufgeklebt (eigentlich, wenn man die Inhalte, den Sinn noch dahinter sehen kann, auch schön:=gut, gleich lustvoll, es hat keinen Sinn das in der Bedeutung jenseits der blöden Zeitumstände und der maschinellen Funktion zu verneinen!:) (:aber in welcher Umgebung passiert das? Und das verkuppelt es mit dem pervertierten Sinn!) (Einzementiert, das ist wohl der Begriff!) :und da tasten wir, jeder für sich, uns hindurch. (Enthüllt sich nicht so auch ein Stadtplan als pervertierte Kulisse für Leben, das wichtig ist?) (:ich komme wirklich nicht damit zu Recht, manchmal zerbricht es mir, was ich sehe, in lauter Konfetti)/Splitter/ (:Wie kann das auch einer in eine Reihe, in eine Ordnung bekommen?)“268

Der mit dem kartografischen Verfahren assoziierte Ordnungsanspruch ist kaum zu übersehen. Weniger offensichtlich, aber nicht weniger relevant ist dabei die Rolle des Subjektes. Die Verortung des Materials hängt unmittelbar mit der Verortung des schreibenden Subjektes zusammen. So sind, wie immer wieder in Text und Abbildung ersichtlich, etwa die abgeschrittenen Wege, der genaue Aufenthaltsort und seine Lagebeziehungen, sowie die Himmelsrichtungen von Belang. Brinkmann formuliert den Anspruch, mit sich selbst ins Reine zu kommen: „Ich will Ich werden, was immer das ist“269. Das Bedürfnis nach persönlicher und beruflicher Authentizität evoziert zunächst ein Suchverhalten mit unklarer Zielsetzung. Die Frage, wohin die Entwicklung des Subjektes gehen kann und soll, wird mit Rom, Blicke nicht nur teleologisch-theoretisch angegangen, sondern sie wird auch und vor allem räumlich verhandelt. Die Selbstverortung ist damit auch eine relative Standortbeschreibung: Wo bin ich – in der Welt? Dabei wird das Orientierungsbedürfnis nicht mehr einzig über das Textmedium abgedeckt,

268 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 285. 269 Ebd., S. 184.

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sondern in der visuellen, kartografischen Darstellung ergänzt. Während das Selbst als unsicher erlebt wird, wird zugleich dem Raum Sicherheit zugeschrieben: Variabilität und Unzuverlässigkeit der psychischen Identität kontrastieren dem statisch-verlässlichen Raum. Brinkmann kommentiert die zwanghafte Selbstverortung in Rom, Blicke, seine „reichlich genau“ ausgefallenen Skizzen, mit: „Orientierungszwang? Wie ein Tier, das erst mal wittert?“270 Seine örtlich-situative Anwesenheit beschreibt er als von einem „Labyrinth-Empfinden“271 begleitet. Dem Zweck der Selbstverortung im gegebenen Raum kann Brinkmanns „Mapping“272 fraglos entsprechen. Doch wie ist die Kartografie als Medium zu bewerten? Der kartografische Darstellungsmodus im Materialbuch ergänzt das Textmedium und kontrastiert ihm zugleich. Brinkmann stellt die Problematiken des Mediums Sprache bekanntlich immer wieder heraus273: die fehlende Unmittelbarkeit, die nicht zu vermeidenden, vorgefertigten „semantischen Reaktionen“274, die mit der Sprache evoziert würden und ihre unreflektierte Reproduktion begünstigten. Doch was für die Sprache gilt, muss auch für die Kartografie gelten, denn „[t]atsächlich ist die Landkarte nicht der Ort, wie Korzybski sagt. Alles ist viel zu sehr mit überalterten Bedeutungen aufgeladen.“275 Brinkmann kommentiert mit dieser Äußerung allerdings nicht Sprache, wie wohl Alfred Korzybski selbst, in dessen Allgemeine[r] Semantik (1933) Sprache als Landkarte der Wirklichkeit verstanden wird, sondern „eine Reihe von Plänen“276, die er Maleen aus Rom

270 Ebd., S. 409. 271 Ebd., S. 354. Vgl. auch ebd., S. 86: „das alltägliche Labyrinth“. 272 Kittner: Bilder vom Ende der Welt. Hannah Höchs und Rolf Dieter Brinkmanns Italienreisen. In: Imorde, Wegerhoff (Hg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der „Grand Tour“ (2012), S. 162–181; hier S. 177, deutet das „Mapping“ im Sinne einer „künstlerischen Aneignung des Raums, in der geographische und ethnographische Aufzeichnungsformen aufgegriffen werden“. 273 Auch in Brinkmann: Rom, Blicke (2006), z. B. S. 85: „das Wort, dieses miese elende Sprachverständigungsmittel“. 274 Ebd., S. 393. 275 Ebd., S. 83. Vgl. auch ebd., S. 61, wo Brinkmann ebenfalls zitiert: „Korzybski: das Wort ist nicht die Sache, die Landkarte nicht das Gelände, das sie darstellt.“ 276 Ebd., S. 83.

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sendet. So wie Sprache eine nur approximative Abbildung von Wirklichkeit sein kann, kann auch die kartografische Darstellung eines Ortes nur annähernd den Ort wiedergeben. Die semantischen Codes lassen sich demnach nicht umgehen, unabhängig davon, ob Sprache oder Kartografie als Vermittlungssystem fungiert. Die Kartografie lenkt jedoch die Rezeption dahingehend, dass eine zentrale Bedeutung des Ortes sowie des Ortswechsels erkennbar werden muss. Brinkmanns Suche nach neuen künstlerischen Möglichkeiten erfährt mit dem Aufenthalt in Olevano Romano eine deutliche Intensivierung. Die Reise nach Olevano, die mit dem letzten Drittel des Werkes beginnt277, wird zur inhaltlichen und stilistischen Demarkationslinie des Werkes. Organisation I: Olevano als Bruch Wenn das Subjekt in der Literatur Brinkmanns als ein sich selbst erkundendes verstanden wird, dann wird damit zwar eine subjektzentrierte Poetologie lanciert, aber dennoch stets ein Ordnungsprozess zugrunde gelegt: Die Fremdheit gegenüber dem verfügbaren Material führt gerade nicht zur Abwendung von demselben, zur reinen Innensicht oder Innerlichkeit, sondern vielmehr zu einem konsequenten Sich-Abarbeiten an den gegebenen sozialen, kulturellen und materiellen Ist-Zuständen. Die dem literarischen Werk zugrunde gelegten Produktionskategorien – Subjekt, Material und Medium – sind bei Brinkmann durchgängig als werkkonstitutive, einander bedingende Kategorien präsent, wenn auch der Subjektpol dominierend bleibt. Insbesondere mit der Olevano-Reise, die die letzten etwa hundert Seiten des Werkes inhaltlich und stilistisch prägt, wird der unabgeschlossene Organisationsprozess deutlich. Brinkmann ändert hier sowohl stilistisch-formal als auch inhaltlichthematisch den Kurs. Der abbrechende Staccatostil wird auffallend zurückgenommen. Den Lesefluss visuell unterbrechende Elemente, wie die Parenthese und eine ikonografisch lesbare Interpunktion, werden insgesamt sel-

277 Brinkmann schreibt ab S. 349 in und über Olevano. In der editorischen Notiz werden die Seiten 363–448 als 3. Heft, 1973 Olevano Romano/Rom, ausgewiesen. Auf S. 363 berichtet der Autor noch einmal rückblickend über die Abreise aus Rom.

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tener eingesetzt278, prosaische Passagen mit konventioneller Interpunktion kommen hingegen häufiger vor. Eine zunehmende Übersichtlichkeit der Collagen ist zu verzeichnen, beziehungsweise ein an illustrative Abbildungen erinnernder Bildeinsatz, der streckenweise alternierend und separat zum Text vorgenommen wird. Anzumerken ist, dass diese formalen Unterschiede auf einer Gesamtbetrachtung der ersten beiden Drittel im Vergleich mit dem letzten Drittel des Werkes basieren. So sind prosaische Passagen, konventionelle Interpunktion oder der Einsatz von Einzelbildern in klarer Abgrenzung zum Text, auch innerhalb der ersten beiden Drittel immer wieder zu bemerken. Es geht jedoch um die jeweils als vorherrschend wahrzunehmenden Charakteristika der Werksegmente. Deutlich ist, dass Brinkmann in Olevano zu einer ruhigeren Schreibweise kommt. Das Attribut ruhig kann dabei als Kontrast zu der aggressiven Trias „Sex, Tod, Geld“279 verstanden werden, die der Autor als bestimmend im Bewusstsein der europäischen Zivilisation erlebt und redundant in Text und vor allem Collagen280 der ersten beiden Werkdrittel einarbeitet. Die nackte, in anzüglicher Pose verharrende Frau mit dem Revolver281 ließe sich als allegorischer Verweis auf den abendländischen Kulturzustand, wie

278 kommen aber streckenweise auch noch ausgeprägt zum Einsatz. Vgl. z. B. S. 354, 355. 279 Ebd., S. 246. Vgl. auch ebd., S. 234, wo Brinkmann die „tote Bahnstation dieses Planeten“ beschreibt als „Sex, Geld, Tod, Autos, Reparaturwerkstätten, Nacht und erloschene Reklameschilder.“ 280 Vgl. z.B. ebd. Collagen, die sich aus pornografischen Abbildungen, Wohlstands- und Statussymbolen sowie Bildmaterial zur Kriegs- und Todesthematik zusammensetzen, S. 216, 217, 250, 251. Von der Sex-Geld-Tod-Trias ist in der Forschungsliteratur häufig die Rede. Vgl. zu diesen „Gedächtnismuster[n]“ etwa Schönborn: Vivisektionen. In: Delabar, Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre (1997); S. 355; von Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007), S. 128, über die „Trias, die die wichtigsten Leitmotive der Collagebücher zusammenfasst – sowohl auf der textuellen Ebene als auch auf der Ebene der Bilder.“, sowie Keidel: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion (2006), S. 55f, der die Motive der Collagen ebenfalls von dieser Trias beherrscht sieht. 281 Vgl. ebd. Collagen S. 46, 74.

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er sich für Brinkmann darstellte, verstehen. Derartiges Bildmaterial ist im letzten Werkdrittel beziehungsweise im Olevano-Abschnitt nicht mehr anzutreffen, was sich auf der textuellen Ebene spiegelt. Auffallend ist auch, dass hier, neben dem Fehlen pornografischen Bildmaterials, der Sprachgebrauch ohne sexistisches Vokabular auskommt. Als einzige Briefpartnerin während des Aufenthaltes in Olevano verbleibt Maleen – entsprechend überwiegt ein zärtlicher Ton. Darüber hinaus evoziert in den ersten beiden Teilen streckenweise die Kurzmitteilungsform Postkarte einen abbrechenden Schreibstil, während das Olevano-Konvolut nur noch Briefe beinhaltet, deren Langform hingegen wiederum die prosaische Textgestalt stützt. Inhaltlich tritt in Olevano die ästhetische Naturerfahrung an die Stelle der Zivilisationsklage. Die „Erfahrung, wie Leben, Dasein ruhen kann, wie man aufatmen kann“282 ist für Brinkmann „eine Qualität, die in der beschleunigten Rotation der Großstadt verloren geht“283, in der ländlichen Abgeschiedenheit aber offenbar wieder hergestellt werden kann. Der epiphanische Moment des Naturerlebens ist von kurzer Dauer, dafür umso intensiver. „Der zu Ende gehende Tag: Licht, Helligkeitsreste aufgetürmt, grelle Rinnsale, weiße Adern, Helle zwischen stumpfgrauen Blöcken, schmerzhafte Grelle, scharf geränderte Dampfschollen, mildere Abtönungen daneben, aber nicht schlaff, sondern angespannt, zartes Sanftes darein gemischt, weiter davon entfernt, (es macht mich überhaupt nicht einsam, das sich anzusehen), Ausschweifungen von Licht, kalt und dezemberhaft, menschenleere Weite, ist es ein prä-historisches oder ein posthistorisches Empfinden?“284

Über die Naturerfahrung, die Reduktion der Lektüre285, die Erfahrung von Einsamkeit und Isolation286 bietet der Olevano-Aufenthalt die Gelegenheit

282 Ebd., S. 353. 283 Ebd., S. 378. 284 Ebd., S. 391, 392. 285 Brinkmann packt für Olevano „überschaubares Material“ ein, „Lektüre, nur 3 Bücher: Bilz, Jahnn, Wieser“. Ebd., S. 375.

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zur umfassenden Selbstreflexion, die sich an Textgestalt und -thematik ablesen lässt. Doch wie gestaltet sich diese Selbstreflexion, wodurch ist sie gekennzeichnet? Nicht zu übersehen ist die zentrale Bedeutung der romantischen Tradition, mit der Brinkmann sich im letzten Werkdrittel dezidiert auseinandersetzt. Nicht zuletzt das Thema Romantik macht die Sonderstellung des Olevano-Heftes aus. In den ersten beiden Werkteilen gelegentlich angedeutet oder im metaphorischen Sinne verwendet, wird die Auseinandersetzung mit der Romantik – ihrer Historie, ihren Vertretern287 und ästhetischen Kennzeichen – hier unmissverständlich als Gegenstand der Reflexion artikuliert. In der Forschung wurde immer wieder, unter verschiedensten Vorzeichen, auf das romantische Potenzial hingewiesen, das sich in Brinkmanns Rom, Blicke verberge.288 Bis in die jüngste Brinkmann-Forschung

286 Ausgerechnet die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel 1972 verbringt Brinkmann in Olevano – und steigert dadurch bewusst die Einsamkeitserfahrung. 287 in Literatur und Kunst. So befasst sich Brinkmann etwa mit Tiecks Franz Sternbald und dem Gedicht Olevano; erwähnt werden auch Eichendorff, die Gebrüder Grimm, C. D. Friedrich, F. Preller, H. Reinhold, J. A. Koch, F. C. Spitzweg, F. T. Horny, G. F. Kersting, P. O. Runge und andere. 288 Vgl. etwa Amodeo: Rolf Dieter Brinkmanns Versuch, ohne Goethe über Italien zu schreiben. In: Arcadia, Jg. 34, H. 1 (1999), S. 2–19; Adam: Kleine Begebenheiten aus Italien: Ludwig Tiecks Reisegedichte. In: Rohmer, Schnabel, Witting (Hg.): Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit (2000), S. 118–147; Lange: Auf den Spuren Goethes, unfreiwillig: Rolf Dieter Brinkmann in Italien. In: Lange, Schnitzler (Hg.): Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik (2000), S. 255– 281; di Bella: „Der Roman beginnt zu sagen, was er ist“. In: Schulz, Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts (2001), S. 248– 258; Röhnert: „Canneloni in Olevano“. In: Schulz, Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts (2001), S. 90–99; Zeller: Unmittelbarkeit als Stil. Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke. In: Jahrbuch für internationale Germanistik, Jg. 13, H. 2 (2001), S. 43–62; di Bella: Lyrik-Interpretation zu Canneloni in Olevano. In: Röhnert, Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2 (2012), S. 403– 409.

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hält sich allerdings der Andeutungscharakter der Stellungnahmen. Dieser Befund ist sicherlich weniger auf die mangelnde Ableitbarkeit ästhetischformaler oder inhaltlicher Topoi zurückzuführen, als vielmehr auf den Umstand, dass Brinkmann keinen zitierfähigen Schluss aus seiner RomantikReflexion zieht beziehungsweise nicht nachweislich ein ästhetischpoetologischer Konzeptionswandel aus ihr abzuleiten ist. So ist auch in einem 2010 erschienenen Tagungsband noch von der „bislang nur wenig beachtete[n] Nähe zu den Schriftstellern der Romantik“289 und der „geheime[n] Romantik“290 bei Brinkmann die Rede. Brinkmanns theoretische Auseinandersetzung mit dem Romantischen, seine bewusste Abgrenzung vom Beschaulichkeits- und Verklärungsmythos der „zweitrangigen Interpreten“291 der Romantik, umfasst dabei mehr als zwei Seiten und sie beantwortet weitgehend die Frage, wo er selbst die Parallelen zum eigenen Schreiben sieht: Ausschließlich in der negativen Semantik des Romantischen sieht er diese gegeben, im „Vorzeigen des Ruinösen, des Zerfalls“, im unentwegten Blick auf das Einzelne – „immer ist es das Einzelne, was sie malen, eine Einzelheit“ – sowie in der „Fantastik des […] Am-WegRand-Liegens“, die „etwas Haltloses, Labiles“ und „keine Beruhigung“292 vermittele. Brinkmann erkennt sich offenbar selbst wieder in dem Anspruch der Romantiker, nicht beschauliche Landschaften, sondern eine „sterbende Welt“ darzustellen – „eine resignierende Welt, eine abendländische Welt, eine deutsche Welt, eine Todeswelt“293. Weiter betont er die Auflehnung der Romantiker „gegen ihre zerfallene Umwelt“ und das „Weg-Gehen am Schluß, raus aus der Enge der Stadt“294, das er offenkundig selbst praktiziert, indem er sich in den einsamen Bergort Olevano zurückzieht.

289 Boyken: „Die Umrisse verloren sich darin, die Körper wie aufgeweicht“. Körperdarstellungen in der frühen Prosa Rolf Dieter Brinkmanns. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S. 109–124; hier S. 120. 290 Pankau: Angriffe aufs Monopol: Literatur und Medien – Brinkmanns Aufnahme der US-Kultur. In: Boyken, Cappelmann, Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven (2010), S.161–178; hier S. 177. 291 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 431. 292 Ebd., S. 430. 293 Ebd., S. 431. 294 Ebd.

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Die zentrale Bedeutung des Olevano-Heftes innerhalb der Organisation des Werkes ist leicht ersichtlich. Die Wechselwirkung der formalen und inhaltlichen Aspekte des Werksegmentes, prosaischer Stil und romantische Thematik, sind für die Gesamtbetrachtung der medialen Gestaltung essenziell. Während Brinkmann an der kartografischen Darstellung festhält und die Markierung des Ortes von zentraler Bedeutung bleibt, wandeln sich die Bildinhalte von der Sex-Geld-Tod-Thematik hin zur romantischen Collage295 und werden insgesamt übersichtlicher. Was von Petersdorff für Brinkmanns Gedichtband Westwärts 1&2 bemerkt, lässt sich ganz ähnlich auch für Rom, Blicke feststellen: Die Bildstrecken des Gedichtbandes reproduzieren den typischen romantischen Impuls und realisieren damit ein traditionelles Konzept intermedial296: Der Weg führt von der Natur in die Zivilisation und wieder zurück in die Natur – im Sinne einer ästhetischen Befreiung von der zivilisatorischen Entwicklung. Die im Materialband dokumentierte Reise beginnt der Autor zwar im großstädtischen Köln, reflektiert jedoch in Rom immer wieder seine Herkunft aus Vechta und stellt diese den Erfahrungen städtischer Enge und Verschmutzung gelegentlich als Kontrastfolie gegenüber. Vechta wird hier, zumindest im Vergleich mit Rom, als ein natürlich gebliebener, unbelasteter Raum dargestellt. Die Olevano-Reise erscheint mithin auch als eine Rückkehr aus der urbanisierten in die weniger besiedelte, ländliche Landschaft. Rom, Blicke ist vor allem in diesem Sinne eine Selbst-Erkundung, die sich in der medialen Gestaltung des Werkes artikuliert. Die immer wieder genannten, variablen Verbindungen von Text und Bild, Collagen, Cut-upMethode oder Snapshot-Technik, die besondere Intermedialität gelten zu Recht als allgemeine Charakteristika. Diese sollten jedoch den Blick auf die innerhalb des Werkes vollzogene Bewegung und die Sonderstellung des Olevano-Konvolutes nicht verstellen: Mit dem durchgängig angewandten Mittel der kartografischen Darstellung lenkt Brinkmann selbst die Rezeption in Richtung auf den medialen Organisationsprozess, innerhalb dessen sowohl Material als auch schreibendes Subjekt Objekte der Verortung sind.

295 Vgl. S. 438–439. 296 von Petersdorff: Intermedialität und neuer Realismus. In: Schmidt, Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenwechsel zwischen 1918 und 1968 (2009), S. 377.

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Berücksichtigt man diese Prozessualität, dann kann die Bezeichnung Materialbuch oder -band nicht bedeuten, dass der Nachlass sich an beliebiger Stelle aufschlagen und rezipieren lässt wie eine lose Blattsammlung. Tatsächlich erschließt sich Rom, Blicke erst in der Gesamtbetrachtung.297 Indem Rom, Blicke auf seine eigene Organisation verweist, verweist es zugleich auf seine Unabgeschlossenheit. Das Subjekt, dessen Relevanz vor allem in Keiner weiß mehr einen nachhaltigen Ausdruck findet, macht hier einem neuen Projekt Platz: dem Aufsammeln, Verzeichnen, Einzeichnen und Registrieren alltäglichen Materials. Die Erkundung des Raumes ist eine über weite Strecken unbefriedigende Sisyphos-Arbeit, die das Subjekt nur umso mehr erstarken lässt. Eine Ästhetik, die zwischen Subjekt und Material oszilliert, wird mit Rom, Blicke erkennbar – ihr Programm und das mit ihr assoziierte, ästhetische Erfahrungspotenzial bleiben zugleich unterbestimmt. Das Registrieren des Vorhandenen wird spätestens im Kontext der romantischen Historie Olevanos wieder problematisch und führt den Autor auf die eigene „Prä-Okkupiertheit von Ideen und Motiven“298 zurück. Zu einer abschließenden Harmonisierung des Schreibprozesses kommt es nicht mehr. Auf die Gestaltung eines potenziellen zweiten Romans kann entsprechend kaum ein Ausblick gegeben werden. Brinkmann, der noch Ende 1971 in einem Brief an Helmut Pieper erwägt, „das ganze Schreiben erst einmal für 2 Jahre tatsächlich an den Nagel [zu] hängen“299, ist offensichtlich mit dem Abschluss von Rom, Blicke noch nicht aus der Schreibkrise entkommen. Das Materialband lässt jedoch erahnen, entgegen verschiedener Statements des Autors, dass eine ästhetische Erfahrung nicht nur eine unmittelbare, sondern auch eine mediale Erfahrung sein kann.

297 Womit auch Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. In: Stingelin, Thiele: Portable Media (2010), S. 130, nicht zuzustimmen ist, der Rom, Blicke als „monochrome Anordnung sich stetig wiederholender Gedanken“ deutet. 298 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 374. 299 Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Reise Zeit Magazin (1987), S. 351.

3 Alexander Kluge: Das organisierende Subjekt

„Ich weiß gar nicht, was ein Künstler ist. Ich würde sagen, in der jüdischen Theologie habe ich eine Wurzel. In der Kritischen Theorie, bei Horkheimer, Adorno, Negt, habe ich auch eine; bei Benjamin. Andererseits habe ich bei Hölderlin eine Quelle, bei Kleist, bei James Joyce und Arno Schmidt. Das heißt, ich lebe von sehr verstreuten Quellen, und ich habe noch nicht genannt, welche Quellen ich in der Musik hätte. Was in den klassischen Künsten einmal gelungen ist […] – in dieser Tradition verstehe ich mich, in der Richtung eines Berufs, den es als definierten Beruf nicht gibt.“1

Der im Jahr 1932 geborene Alexander Kluge ist acht Jahre älter als der 1975 verstorbene Rolf Dieter Brinkmann und zehn Jahre älter als Peter

1

Kluge: Reibungsverluste. Gespräch mit Klaus Eder (1980). In: Ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. von Christian Schulte (2011), S. 230, 231, auf die Frage, „[w]elches Selbstverständnis“ Kluge habe bzw. „in welcher künstlerischen Tradition“ er sich sehe.

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Handke. Auf den ersten Blick scheint schon das theoretische Fundament seiner Arbeiten ihn von den jüngeren Autoren abzutrennen. Kluges (geschichts)philosophische und ästhetische Standpunkte rekurrieren auf Theodor W. Adorno und Walter Benjamin2; sie werden zumeist unmittelbar oder mittelbar mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht. Dass dies so ist, ist sicherlich nicht allein auf das Werk, sondern ebenso auf die Biografie des Autors zurückzuführen, der als promovierter Jurist und juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung schon in den 1950er Jahren engen Kontakt zu Adorno hatte. Deutlich Stellung bezieht Kluge etwa in der Büchner-Preis-Rede, wenn er äußert, seine „Loyalität gehör[e] gedanklich der Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer und Adorno in Frankfurt gelehrt wurde“ und er „bekleide dort die weniger offizielle Stelle eines Erzählers.“3 Ebenso formuliert er aber innerhalb seines Werkes spezifische, eigene Positionen und Abgrenzungen, auch von Adorno und Habermas4.

2

Vgl. z. B. Schulte: Kairos und Aura. Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges. In: Schöttker: Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste (2004), S. 219–233. Schulte fasst als hauptsächliche Referenztexte Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), das Passagen-Werk (1982) und die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1942) zusammen. Die Rezeption Benjamins im Werk Kluges zeige sich an „Denkfiguren und Begriffsprägungen Benjamins wie Aura, Jetztzeit oder Verfallszeit, sowie wörtlich wiedergegebenen, veränderten oder erfundenen Zitaten“, wie auch an „Figuren, Haltungen und Gesten, die auf der performativen Ebene und ohne direkten Bezug auf Benjamin wie szenische Umsetzungen seiner Theoreme und Denkbilder wirken.“ (224). Vgl. auch Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), der in Kluges Ästhetik der 1970er Jahre vordergründig eine „Authentizität als Zitat“ erkennt (130ff). Das theoretische Fundament seiner Ästhetik habe Kluge bei Benjamin gefunden, den er sich zitierend aneigne (132); sowie Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien (2009), S. 22ff.

3

Kluge: Das Innere des Erzählens. Georg Büchner. In: Ders.: Fontane – Kleist –

4

Vgl. etwa Langston: Toward an Ethics of Fantasy. The Kantian Dialogues of

Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit (2004), S. 73–87; hier S. 75. Oskar Negt and Alexander Kluge. In: The Germanic Review, Vol. 85, Nr. 4 (2010), S. 271–293. Abriss über das Kant-Verständnis Kluges und Negts, sowie

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Auch wenn sich Kluges bisheriges Werk philosophischer, theoretischer geriert: Es hat mit denjenigen der beiden jüngeren Autoren Brinkmann und Handke mehr gemein, als sich zunächst vermuten ließe. Dies betrifft insbesondere die offenkundige Transparenz des medialen Organisationsprozesses, der im Rahmen dieser Arbeit als eine In-Beziehung-Setzung der literarischen Kategorien Subjekt, Material und Medium verstanden wird. Innerhalb der folgenden Kapitel wird daher primär der Frage nachgegangen, wie sich dieser Prozess auch als Voraussetzung einer spezifischen ästhetischen Erfahrung der 1970er Jahre, in ausgewählten Texten Kluges realisiert und konkretisiert. Dabei werden die Ähnlichkeiten und Differenzen unter den Werken der drei Autoren, das heißt vor allem ihrer ästhetischen Verfahren, bereits berücksichtigt und teilweise auch erläutert. Da weiterhin die Textanalyse im Fokus steht, bleibt ein umfassender vergleichender Überblick allerdings dem Abschlusskapitel vorbehalten. Auf die naheliegenden Aspekte wurde auch im einleitenden Kapitel schon eingegangen; an dieser Stelle seien sie noch einmal aufgegriffen: Ganz allgemein eint die drei Autoren ihre literarische Präsenz während der 1960er Jahre, insbesondere während der Phase der Protestbewegung sowie während der gesellschaftshistorisch ebenso ereignisreichen 1970er Jahre. In den 1970er Jahren erscheinen Einzelwerke der Autoren, die heute in literarhistorischer Perspektive als zentral eingestuft werden. Dies gilt für Brinkmanns Lyrikband Westwärts 1&2 (1975) und den Materialband Rom, Blicke (1979) ebenso wie für Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) und Langsame Heimkehr (1979); sowie für Kluges Neue Geschichten (1977), Die Patriotin (Film und Buch, 1979) und den Film Deutschland im Herbst (1978). Kluge selbst insinuiert dabei weniger den zentralen Stellenwert einzelner Arbeiten, als vielmehr die Rezeption eines für einzelne Geschichten, Figuren und Themen durchlässigen Gesamtwerkes, worauf im Folgenden noch eingegangen wird.

über (hiermit zusammenhängende) Ähnlichkeiten mit / Abweichungen von Habermas. Entscheidend ist für Kluge und Negt demnach weniger der normative Charakter des Diskursiven und die Institutionalisierung des Ethischen, als vielmehr das Denken und Handeln des Einzelnen. Vgl. hierzu beispielhaft zum Film Abschied von Gestern (1966), S. 283. In der Bedeutung des Kommunikativen herrscht Übereinstimmung.

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Neben dem Aspekt des Intermedialen, auf den schon mehrfach eingegangen wurde, einen die Autoren vor allem fragmentarische, achronologische Schreibweisen sowie unkonventionelle Erzählformen, die zumeist keinen klassischen Plot aufweisen. Das Schreiben selbst wird als Prozess, als eine mehr oder minder abgeschlossene Suchbewegung5 erkennbar: Orientierungsprozesse, die neben einer spezifischen Organisation der literarisch-ästhetischen Kategorien die adäquate Gewichtung von Subjekt und Material des Literarischen zum Ziel haben, sind entsprechend an der Oberfläche des Textes erkennbar. Produktionsästhetische Prozesse verschwinden auch deshalb nicht mit der Durchgestaltung des Textes, weil dieser fortwährend seine eigenen Bedingungen reflektiert.6 Die zwar unterschiedlich motivierte, aber gleichermaßen durchgängige Sprach- und Medienskepsis bei Brinkmann und Handke ist in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie Kluges Realitäts-Skepsis, die den eingeschränkten Rahmen einer linearen Erzählung notwendig unterminiert: Wirklichkeit gestaltet sich vielmehr multiperspektivisch, als Spektrum an Möglichkeiten. Sie schließt Versuch und Irrtum mit ein – auch auf Seiten des Rezipienten, denn „[j]e wahrscheinlicher“, so warnt Kluge selbst, „desto mißtrauischer sollten Sie werden. Realistisch verhalte ich mich immer, da ich aber die Realität als die größte Lügnerin ansehe, sind für mich unsere Irrtümer manchmal genauere Zeugnisse als die sogenannten Facts.“7 Eine intermediale Ausrichtung ist bei Kluge ebenso gegeben wie bei Brinkmann und Handke, wenn diese auch in unterschiedlichen Produkten resultiert. Offensichtlich ist die Nähe von Kluges durchgehender MontageTechnik und Brinkmanns Collage-Technik, bei denen gleichermaßen mediale Grenzen von Bildlichkeit und Schriftlichkeit überschritten werden, um

5

Zum Thema der „Suchbewegung“, als eine generalisierte Bewegung in der (hauptsächlich) westdeutschen Literatur der 1970er Jahre, sei hier noch einmal auf Ortheil: Köder, Beute und Schatten: Suchbewegungen (1985) hingewiesen.

6

In besonders eindrücklicher Form zu beobachten an Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode (1975). Indem Kluge hier die Dokumentation einer „permanente[n] Drehbuchabweichung“ (18) vornimmt, macht er sowohl die Entstehungsprozesse des gleichnamigen Films als auch diejenigen des weitgehend autonomen literarischen Produktes kenntlich.

7

Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg (2003), S. 201–210; hier S. 207.

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neue Sichtweisen anzubieten. In Kluges Fall ist Intermedialität vor allem als ein durchgängiges Zusammenwirken von Literatur und Film zu verstehen. Der Film steht gleichwertig neben literarischen und theoretischen Texten. So sind es vor allem auch zahlreiche Filmveröffentlichungen, die in den 1970er Jahren die Popularität des Autors festigen. Schon mit Beginn der 1960er Jahre machte sich Kluge als Filmemacher, als Mitinitiator des Oberhausener Manifestes und als Vertreter des Neuen Deutschen Films beziehungsweise des Autorenfilms einen Namen. Mit Produktionen wie Brutalität in Stein (1961), Abschied von gestern (1966) und Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968) propagierte Kluge ein neues Filmverständnis, das eine größtmögliche Distanz zum bisherigen deutschen Film und damit vor allem zur Unterhaltungs- und Heimatfilm-Tradition einnahm. Diese Filme zielten vielmehr darauf ab, gesellschaftspolitische Themen kritisch, jedoch nicht bevormundend, ins Bewusstsein zu setzen. Ein späteres, bekanntes Beispiel hierfür ist auch der erwähnte Spielfilm Deutschland im Herbst (1978)8, an dessen Regie neben Kluge zehn weiteren Regisseure, unter ihnen Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz und Volker Schlöndorff, beteiligt waren.9 Bei diesem Film hat die Regieteilung ihrerseits zum Ziel, nicht zu bevormunden und sich einer historischen Situation multiperspektivisch zu nähern. Das bisherige filmische und literarische Werk Kluges ist von beachtlichem Umfang: Allein die 2007 bei Zweitausendeins erschienene Gesamtedition der Filme10 hat eine Laufzeit von über 2000 Minuten; die alte und neue Texte vereinende Chronik der Gefühle (2000) umfasst mehr als 2000

8

Vgl. hierzu etwa die Einschätzung von Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003), S. 247, als Film, der „am genauesten die vielfältig sich überlagernden und durchkreuzenden Stimmungen und Denkweisen jener Jahre erfasst hat: das autoritäre Verhalten staatlicher Instanzen und Repräsentanten, die von historischen Prozessen nicht abdrängbaren individuellen Sorgen und Sehnsüchte, die globalen Verflechtungen von Kapitalinteressen und militärischer Technologie.“

9

Zu den biografischen und werkgeschichtlichen Daten vgl. Lewandowski: Alexander Kluge (1980); Böhm-Christl (Hg.): Alexander Kluge (1983); Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung (1998); sowie die aktuelle Homepage des Autors: URL: http://www.kluge-alexander.de/ (Zugriff am 02.03.2013).

10 Kluge: Sämtliche Kinofilme 1961–2007. 16 DVDs (2007).

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Seiten; jüngere Publikationen wie Die Lücke, die der Teufel läßt (2005) und Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006) sind mit ihren über 600 Seiten ebenso umfangreich wie schon die Neuen Geschichten (1977). Seit Mitte der 1980er Jahre ist Kluge darüber hinaus als Fernsehproduzent aktiv. Mit der Gründung der Development Company for Television Program (dctp)11 wurde es ihm möglich, Sendefenster auf RTL und Sat.1 als Plattform für unabhängige Kulturmagazine zu nutzen. Der bereits mit dem Oberhausener Manifest vertretene Anspruch, kulturelle Inhalte vom reinen Marktgesetz abzukoppeln, wird hiermit weiterverfolgt. Schon der Begriff des Kulturfensters, mit dem die Sendeplätze bezeichnet werden, kommuniziert ihre Sonderstellung. Diese hätte wohl auch Adorno begrüßt, der bezüglich des Fernsehens eine seiner „konstruktivsten Überlegungen“12 angestellt hatte: Dass nämlich in der „Koexistenz von Sendungen, die dem Geschmack der Mehrheit mehr und solcher, die ihm weit weniger angepasst sind“13, also in der Differenzierung, der einzige Ausweg aus der permanenten Entmündigung zu sehen ist, die ein Merkmal der bei Horkheimer und Adorno so genannten „Kulturindustrie“14 darstellt. Kluges erklärtes Ziel ist

11 Die Gesellschafter der dctp sind, jeweils mit einem Anteil von 37,5%, Alexander Kluge und die japanische Werbeagentur Dentsu, sowie, jeweils mit einem Anteil von 12,5%, die Neue Zürcher Zeitung und der Spiegel Verlag. Vgl. URL: http://www.dctp.de/ (Zugriff am 02.03.2013) 12 Keppler: Ambivalenzen der Kulturindustrie. In: Klein, Kreuzer, Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2011), S. 253–262; hier S. 259. 13 Ebd. 14 Der Begriff geht zurück auf ein Kapitel in der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung (1947; Neuauflage 1969). Vgl. auch Adorno: Fernsehen und Bildung (1963) In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969 (1970), S. 52–72. Adorno sieht die Aufgabe des Fernsehens vor allem darin, „Inhalte zu finden, Sendungen zu machen, die selber ihrem Gehalt nach diesem Medium angemessen sind, anstatt daß sie irgendwoher von außen übernommen werden.“ Hierbei seien u. a. „die Bedeutung des informatorischen und dokumentarischen Elements“; „die Bedeutung von Montage und Verfremdung gegenüber Realismus“ (71) und „die Wechselwirkung von Spezialsendungen und allgemeinen Sendungen“ (72) zu beachten.

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es, mit seinen Sendungen „Information, Bildung und Kultur in einem Gesamtprogramm zu verbinden“15. Die Kulturmagazine Kluges, 10 vor 11, News & Stories, Prime Time / Spätausgabe und das Mitternachtsmagazin16, bedienten und bedienen sich dabei zumeist des fiktiven Interviews, um verschiedenste kulturelle oder wissenschaftliche Themengebiete abzuhandeln. Da die Machart der Sendungen – häufig fokussiert die Kamera durchgängig den Interviewten, während Kluge aus dem Off spricht – sowie auch ihre Themen nicht auf einen Erfolg hinsichtlich der Einschaltquoten angelegt ist, gab es allerdings immer wieder Kritik von Seiten der Privatsender.17 Neben dem intermedialen Zusammenwirken von Literatur und Film spielen also auch die Fernsehmagazine bei Kluge eine wichtige Rolle. Für Kluge wird das intermediale Potenzial unterschiedlicher Vermittlungsformen vor allem dann ausgeschöpft, wenn diese sich „durchlässig“18 verhalten gegenüber Handlungsverläufen und -sequenzen, gegenüber Themen und Figuren. Dabei macht er sich diese Durchlässigkeit sowohl intramedial, etwa in Form von Verweisen oder Wiederaufnahmen innerhalb desselben Mediums, als auch intermedial19, in Form eines Austausches zwischen den Medien, zu Nutze. An den Beziehungen von Film und Literatur lässt sich dies leicht nachvollziehen. Neben reinen Drehbuch-Filmen veröffentlicht Kluge Filme, die über eine literarische Referenz verfügen, wobei sich diese Referenz unterschiedlich darstellen kann: als streckenweise oder überwie-

15 http://www.dctp.de/firma_p.shtml (Zugriff am 21.03.2013). 16 Das Mitternachtsmagazin wurde bis 2007, Prime Time / Spätausgabe bis 2008 ausgestrahlt. Vgl. zu den aktuellen Formaten die Internetpräsenz: http://www. dctp.de/. Inzwischen existiert parallel das Web-TV unter http://www.dctp.tv/. 17 Dabei ist diese Darstellungsform weit weniger spröde, als man zunächst annehmen mag. Vgl. Schulte: Cross-Mapping. Aspekte des Komischen. In: Schulte, Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge (2005), S. 219–232. Schulte widmet sich dem durchgängigen „Effekt des Komischen“ (231), der in den Kluge-Magazinen nicht im Widerspruch steht zu der Tatsache, dass der Autor „in der Regel den geschichtlichen Ernstfall“ (219) thematisiert. 18 Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6. Vorwort (1980), S. 7. Kluge bezeichnet es hier als „das Genre des Films, durchlässig zu sein […]“. 19 Vgl. die Begriffe Intra- und Intermedialität bei Rajewsky: Intermedialität (2002).

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gende Übereinstimmung von Literatur und Film20, als Mehrfachverwendung von literarischen Figuren in Filmen21, als Mehrfachverwendung von Erzählungen und Erzählsequenzen in Filmen22. Durchlässigkeit versteht also Kluge nicht dahingehend, dass Film und Literatur einander weitgehend entsprechen, sondern vielmehr so, dass Film und Literatur als „interagierende, aber gleichzeitig auch autonome Komponenten eines medienübergreifenden Gesamtprojektes“23 in Erscheinung treten. Im Vorwort der Patriotin gibt er den Hinweis: „Man muß nicht erwarten, daß dieses Buch mit dem Film Die Patriotin direkt zu tun hat.“ Um eine adäquate Verfilmung des Buches zu erreichen, müsse man „600 Stunden Film herstellen“24. Ähnliches merkt er in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin an, worin neben der Textliste des Films noch drei weitere, unveröffentlichte Filmentwürfe enthalten sind: Die „Geschichte einer Filmherstellung“ sei „eine permanente Drehbuchabweichung“25 und „[r]ichtig verfilmt wäre das Thema nur, wenn man alle diese Filme herstellte“26.

20 Vgl. etwa Kluge: Die Patriotin (Film und Buch 1979); Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (Film 1973, Buch 1975). Die Literaturtitel verfügen jeweils über einen Zusatz, nämlich Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 (1980); sowie Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode (1975). 21 wie die Geschichtslehrerin Gabi Teichert, in dem Buch Die Patriotin (1979), die nicht nur im gleichnamigen Film, sondern auch im Film Deutschland im Herbst (1978) auftaucht. 22 z. B. die Geschichte der Anita G. im Buch Lebensläufe (1962) sowie im Film Abschied von gestern (1966). 23 Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge (2005), S. 147. Sombroek bezieht sich hier auf das Beispiel Die Patriotin. Er geht unter anderem auf die fehlerhafte Einschätzung des Buches als Buch zum Film ein, die in der Sekundärliteratur zum Beispiel dazu führe, dass der Film über die Textliste des Buches zitiert wird. Dies ist im Einzelfall, aufgrund von Unterschieden, gar nicht möglich. 24 Kluge: Die Patriotin. Vorwort (1980), S. 7 [Hervorhebung im Original]. 25 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1980), S. 18 [Hervorheb. i. Original]. 26 Ebd., S. 19 [Hervorheb. i. Original].

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Als „[i]ntertextuelle Netzwerke des Erzählens“27 beschreibt Andreas Sombroek in seiner fundierten Studie zur Intermedialität und Intertextualität bei Kluge die Arbeiten des Autors und Filmproduzenten. „Durch zahlreiche intertextuelle Querverbindungen zwischen den Prosatexten, Filmen und – seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre – auch den Fernsehmagazinen erscheint Kluges Gesamtwerk als medienübergreifendes Netzwerk aus wiederkehrenden Figuren, Themen und Motiven. […]. Der aufmerksame Leser bzw. Zuschauer stößt immer wieder auf bereits bekannte Erzählungen, Namen, Abbildungen, Zitate und Formulierungen. Mit jedem neuen Text knüpft Kluge an ältere bzw. parallele Arbeiten an und schafft so wiederum ,Rohstoff‘ für kommende Projekte.“28

Zahlreiche Beispiele ließen sich für diese kaum zu übersehende Vernetzungspraxis anführen, die Reichmann auch mit Genettes Begriff der Paratextualität erfasst29, und die immer wieder auf das Ganze des bestehenden Werkes rückverweist. Georg Stanitzek bezeichnet Kluges Vernetzungspraxis, in Anlehnung an die Kommunikationsstrukturen des Informationszeitalters, als Hypertext30. Das bisherige Gesamtwerk Kluges auf sämt-

27 Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen (2005), S. 163. Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien (2009), S. 121, spricht ähnlich von einem „intratextuellen Netzwerk“ und „Erzählgitter“. 28 Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen (2005), S. 163, 164. 29 Vgl. Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge (2009). Im Sinne Genettes meint Reichmann die „Bezüge zwischen einem Text und seinem Titel, Motto, Vor- oder Nachwort, der Einleitung, dem Umschlagtext und anderen beigeordneten Texten.“ Neben dem Verweis auf fremde Texte seien vor allem „Paratexte interessant, die dazu beitragen, den Zusammenhang innerhalb der Bücher herzustellen und Einzeltexte miteinander zu verknüpfen.“ (120) Insbesondere in der Chronik der Gefühle, die sämtliche frühere Erzähltexte umfasst, macht Kluge seine Leser „sowohl auf verwandte Geschichten innerhalb des Buches als auch innerhalb des Gesamtwerkes aufmerksam“ (121). 30 Vgl. Stanitzek: Autorität im Hypertext: „Der Kommentar ist die Grundform der Texte“ (Alexander Kluge). In: Verstärker, Jg. 5 (1999), S. 1–56. URL: www. culture.hu-berlin.de/verstaerker/vs004/stanitzek_kluge.pdf (Zugriff am 10.10. 2013).

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liche Querverbindungen hin zu untersuchen dürfte dabei, schon angesichts des Umfangs, beinahe unmöglich sein. Allein die in der Publikation Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 aufzuspürenden Verweise auf Kluges Neue Geschichten sind zahlreich. Insbesondere die in Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 enthaltene Textliste31 zum Film stellt mehrfach Bezüge zu dem in den Neuen Geschichten enthaltenen Bericht über den Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 194532 her, wie auch Sombroek – allerdings ausgehend vom Filmmaterial – in seiner Arbeit zeigt33. Auffällig ist die Wiederaufnahme des Werbeplakates zum Propagandafilm Heimkehr, das bereits den Auftakt der Erzählung Luftangriff auf Halberstadt bildete. Als Anweisung findet sich in der Textliste „Plakatausschnitt zum Ufa-Film ,Heimkehr‘; es ist eine Dorfstraße zu sehen, die Darsteller: Paula Wessely, Attila Hörbiger, Peter Petersen“34. Einen Anschluss an die Gesamtheit der Neuen Geschichten stellt etwa der Titelzusatz zum Kapitel 3: Umgang mit Sümpfen, Ruinenkunde in der Patriotin her. Dieser lautet: „Neue Geschichten Hefte 20, 21*“ mit der Fußnote „*Unveröffentlicht. Entwurf. Bereits erschienen sind die Hefte 1–18, Neue Geschichten, ,Unheimlichkeit der Zeit‘, (edition suhrkamp 819) Frankfurt 1977.“35 Der zum Beispiel durch diesen Hinweis vermittelte Zusammenhang – als Fortsetzung der bereits veröffentlichten Geschichten-Reihe – ergibt sich dabei nicht unmittelbar aus den Erzählungen selbst, die in der Regel keine direkten thematischen Anschlüsse herstellen. Dennoch insinuiert Kluge hier einen Anschluss; in der Folge entstehen schon dadurch neue Rezeptionsbedingungen, dass der Leser sich zu dem hergestellten Erzählkontext verhalten muss. Das Sowohl-als-auch des Erzählens, das sich, in den Worten Kluges, aus einem „innere[n] Gefühl von Proportionen“36 bei der literarischen Produktion ergebe, findet also zunächst auf Seiten der Produktion

31 In: Kluge: Die Patriotin (1980), S. 39–179. 32 In: Kluge: Neue Geschichten. Hefte 1–18. ,Unheimlichkeit der Zeit‘ (1978), S. 33–106. 33 Vgl. Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen (2005), S. 166ff. 34 Kapitel 2: Die Patriotin (Textliste); Filmsequenz VII. Märchenwelt, Szene 59. In: Kluge: Die Patriotin (1980), S. 128. 35 Kluge: Die Patriotin (1980), S. 181. 36 Hage: Lakonie als Antwort. Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 204.

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statt. Ob dieses in der Rezeption nachvollzogen beziehungsweise tatsächlich als ein Erzählen in „Proportionen“37 wahrgenommen wird, bleibt notwendig dahingestellt, was im Einzelfall auch als problematisch anzusehen ist. Im Fall der Neuen Geschichten werden zumindest einige Erzählkonstruktionen durch nachträgliche Erläuterungen nachvollziehbar. Etwa dann, wenn der Autor erklärt, er hätte „[o]hne das Kapitel ,Verschrottung durch Arbeit‘, das sich mit einem KZ bei Halberstadt befaßt […] den Luftangriff nicht erzählen können“38, weshalb sie auch „in einem Kontext zu sehen“39 seien. Eine Passage aus Kluges Büchner-Preisrede aus dem Jahr 2003 liest sich wie eine Erläuterung der Vernetzungspraxis, die dem Autor vorschwebt. „Ich übertrage dieses Bild eines Netzwerks, das sich zwischen Menschen ausbreitet, auf das Verhältnis zwischen den Autoren und der Wirklichkeit. Das ist das sogenannte subjektiv-objektive Verhältnis. Es besagt: Es gibt keine pure Innerlichkeit und es gibt keine pure Äußerlichkeit. Die Texte aber, welche die Verknüpfung herstellen, bilden einen Erzählraum und die Poeten sind dazu da, diese ,Wohnungen unserer Erfahrung‘ zu bauen, auszubauen, zu verändern, einzureißen, neu einzurichten, d. h. bewohnbar zu halten. ,Dichterisch wohnet der Mensch‘ heißt es bei Hölderlin, d. h. alle Menschen sind in dieser Hinsicht Poeten und die professionellen Autoren sind nur besondere Vertrauensleute dieser Netzwerke, die umso nötiger sind, wenn es Menschen schlecht geht.“40

Die Charakterisierung der Arbeiten Kluges als Netzwerk spielt auch im Rahmen dieser Untersuchung eine wesentliche Rolle, insofern sie sich auf die Bestimmung und Verbindung der Kategorien Material und Medium auswirkt. Zunächst also: Was ist Kluges Material? Wie schon bei Brinkmann, so ist eine Präzisierung des Materialbegriffs auch hier grundlegend, da dieser bereits Aussagen über poetologische Prinzipien ermöglicht. Fragt man nach dem konkreten, rekonstruierbaren Ausgangsmaterial der Arbeiten Kluges,

37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 205. 40 Kluge: Das Innere des Erzählens. Georg Büchner. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 74.

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dann gehören dazu unter anderem fremde und eigene Filme und literarische Texte, Fotografien, Skizzen, Landkarten und strategische Karten, Gemälde, Archivaufzeichnungen, Briefe, Zeitungstexte und anderes. Diese Artefakte gehen sowohl thematisch-inhaltlich als auch in bildlicher Form, als Schwarzweißbilder, in die hier untersuchten Werke ein. Kluge eignet sich das Wirkliche – und hierin steht er wiederum Benjamin nahe – sammelnd an.41 Das Sammelsurium erinnert an das Ausgangsmaterial der Materialbände Brinkmanns. Deren Collagen unterscheiden sich allerdings von den zwar nicht selbsterklärenden, aber doch zumeist recht übersichtlichen TextBild-Kombinationen Kluges. Wie allerdings wäre, über diese Ebene des Konkret-Dinglichen hinausgehend, das Material als poetologische Kategorie bei Kluge zu bestimmen? Wie deutlich wurde, zielt Brinkmann, wenn er von Material spricht, in der Regel auf das Physisch-Konkrete, die sinnlich wahrnehmbare Objektwelt. Die Elimination der bestehenden Differenzen zwischen Schreibmaterial und lebensweltlicher Materialität scheint mithin als ein Ideal seines Schreibens auf. Vorausblickend auf Handke zeichnet sich eine ganz andere Konstruktion ab, die an dieser Stelle nur erst angedeutet werden kann: Hier geht es um Material vorrangig im abstrakt-sprachlichen Sinne. Sprache als Material der Literatur gerät ins Zentrum. Wie sind also die Arbeiten Kluges innerhalb dieses Spannungsfeldes einzuordnen? Klar dürfte in jedem Fall sein, dass es bei keinem der drei Autoren um eine Entweder-oderFestlegung gehen kann. Die Arbeiten der Autoren implizieren als sprachgebundene, literarische Werke fraglos einen vielschichtigen Materialbegriff. Es geht hier also, wie auch bei den anderen beiden Autoren, wiederum nicht um eine exklusorische Definition, sondern um einen charakteristischen, erkennbaren Schwerpunkt innerhalb der Arbeiten. Offenbar sind die Arbeiten Kluges weder befasst mit einem schonungslosen Fokus auf die Dinglichkeit der Lebenswelt, noch verschreiben sie sich einer dezidierten Erkundung des Poetischen selbst, die die Wirkmächtigkeit des Sprachlichen in den Mittelpunkt rückt. Vielmehr geht es um die

41 Vgl. Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge (2009). Reichmann charakterisiert Kluge treffend als Chronisten und „Sammler“: „wie Walter Benjamin für sein ‚Passagen-Werk‘, so sammelt auch er für seine Bücher und Geschichten die unterschiedlichsten Materialien ein.“ Die Arbeitsweise der literarischen Montage ergebe sich als „gemeinsame Konsequenz“ (90).

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sowohl verdeckten als auch offensichtlichen, synchronen und diachronen Zusammenhänge von Ereignissen und individuellen Erfahrungen sowie um deren Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit unterschiedlichster Personen und Gruppierungen. Auch für den Autor erschließen sich, nach eigenem Bekunden, diese „Zusammenhänge“42 nicht immer. Die logische Konsequenz ist daher ihre Darstellung in Form von „Geschichten ohne Oberbegriff“43. Die kaleidoskopartigen, häufig nur wenige Seiten umfassenden Erzählungen bieten einen spezifischen Zugriff auf Wirklichkeit, der immer noch weitere, erzählbare Brechungen und Spiegelungen antizipiert; Zusammenhänge werden auf diesem Wege zwar nicht vorgegebenen, aber es wird durchgehend auf die Möglichkeit eines Zusammenhangs verwiesen. „Die Überraschung, das Unwahrscheinliche, die scheinbare Unvereinbarkeit setzt die Sinne in Bewegung“44 – mit diesem Satz aus seiner Rede zum Heinrich-Böll-Preis appelliert Kluge vor allem an das Publikum, die Leser. Präskriptive Sinndarbietungen, die als „Gewalt des Zusammenhangs“45 das Gegenprogramm aufklärerischen Denkens seien, weist er zudem von sich. Mit dem Begriff „Rhizom“, der zum einen in der Biologie das Wurzelgeflecht von Pflanzen beschreibt und zum anderen auf ein vielbeachtetes Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari46 verweist, sieht der Autor sein künstlerisches Verfahren treffend beschrieben. Es gehe um einen unsystematischen, „unwillkürlichen Zusammenhang“ oder auch nur um die „Ahnung“47 desselben. Diese Beobachtungen sind grundlegend für das Verständnis der poetologischen Kategorie des Materials bei Kluge. Ähnlich wie schon bei Brinkmann, stellt hier der realweltliche Bezug den Ausgangspunkt des Schreibens dar. Verschiedenste Wirklichkeitsausschnitte bilden das zentrale Material der Arbeiten des Autors. Die konkrete Objektwelt, ebenso wie die sich in ihr abspielenden, konkreten Handlungen und Ereignisse sind we-

42 Kluge: Neue Geschichten. Vorwort (1978), S. 9. 43 Ebd. [Hervorheb. i. Original]. 44 Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 23–40; hier S. 26. 45 Ebd., S. 38 46 Deleuze, Guattari: Rhizom (1977). 47 Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 38.

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sentlich. Der Schwerpunkt liegt also auch hier im Physisch-Konkreten. Wie aber mit dem Verweis auf die Zusammenhänge bereits deutlich wird, geht es nicht – wie charakteristisch bei Brinkmann – um die Fragmentierung der Objektwelt, die das Subjekt auf sich selbst zurückwirft und, im schlimmsten Fall, kapitulieren lässt. Der Wirklichkeitsausschnitt bei Brinkmann erscheint häufig isoliert und verengt; er verweigert primär Zusammenhang, was sich auch in der sprachlichen Darstellung spiegelt. Diese Situation wird negativ als Entfremdung erlebt oder, seltener, positiv als epiphanischer Moment. Hingegen implizieren Momentaufnahmen und Wirklichkeitsausschnitte bei Kluge immer schon horizontale und vertikale Verbindungslinien; die Möglichkeit eines Zusammenhangs wird auch dort suggeriert, wo sie sich nicht von selbst ergibt oder abwegig erscheint. Miteinander erzählerisch verbunden sind etwa auch die wiederkehrenden Beispiele einer „Strategie von unten“ und einer „Strategie von oben“48, deren Motivationen und Ziele erst dadurch deutlich hervortreten, dass die jeweils andere Strategie als Gegenfolie präsent ist. Während bei Brinkmann die Konfrontation mit der konkreten Wirklichkeit nicht selten zur überbordenden Erfahrung wird und eine Bewegung des Subjektes nach innen provoziert, setzt sich das Erzählte bei Kluge in Form eines Netzwerkes (rhizomatisch) fort und geht vom einzelnen Subjekt immer nur aus. Wie bereits erläutert wurde, konstituiert das Selbstzitat in Form von Wiederaufnahmen von Figuren, Erzählungen, einzelnen Themen und Formulierungen diesen Zusammenhang mit, indem es eine Vernetzung des Werkes bewirkt. Dass dabei Mediengrenzen, insbesondere diejenige zwischen Literatur und Film, überschritten werden, führt notwendig zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen Medien: Was bedeutet die medienüberschreitende Vernetzung des Werkes für die Bewertung und Gewichtung des jeweiligen Mediums, als Kategorie innerhalb des literarischen Organisationsprozesses? Aufschlussreich hierfür sind vor allem zwei frühe filmtheoretische Texte des Autors: Die Utopie Film (1964)49 und Wort und

48 Diese werden sowohl in den theoretischen Texten, als auch in Interviews und literarischen Texten – insbesondere den Neuen Geschichten (1977) – häufig erwähnt und erläutert. Vgl. etwa Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 55ff; S. 62ff; oder Kluge: Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle. Theodor Fontane. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 18, 19. 49 Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1135–1146.

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Film (1965)50, in denen das Potenzial des Filmes sowie sein Verhältnis zu Literatur und Sprache thematisiert werden. Die Aufsätze vermitteln theoretisch, was sich an Kluges Text- und Film-Praxis auch ablesen lässt: ein ästhetisches wie methodisches Zusammendenken sprachlicher und audiovisueller Vermittlungsformen. Entsprechend sieht Kluge als „Hauptvoraussetzung für spätere Filmgestaltung […] eine intensive Beschäftigung mit der Sprache“51 an, die er unter den Ausbildungsanforderungen für ein Regisseur-Studium „im Sinne des ,Kinos der Autoren‘“52 subsumiert. Kluge geht zwar von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Wort und Bild innerhalb des Filmes aus, macht aber zugleich den Traditionsvorsprung der literarischen Sprache geltend. Der Film bleibe, mangels einer eigenen visuellen Sprache, auf literarische Sprache angewiesen und müsse zuerst ein Bewusstsein für den evidenten Vorsprung der literarischen Tradition vor den Massenmedien erwerben.53 Indem Kluge das Potenzial des Filmes von einem primären Traditionsmangel aus entwickelt, wird das eminente Bedingungsverhältnis der Medien deutlich. Auch Kluges Selbstverständnis als Autor ist hiervon betroffen: Der Film-Autor Kluge ist ohne den literarischen Autor Kluge nicht zu denken. „Erst wenn der Film über eine genügend große Metaphernwelt verfügt, wäre er in der Lage, literaturähnliche Verallgemeinerungen und Differenzierungen zu entwickeln. Dadurch, daß der Film die Sprache ohnehin miteinbezieht, hätte er dann an sich die Möglichkeit, Sachverhalte zu formulieren, die allein mit sprachlichen Mitteln nicht oder nicht hinreichend zu fassen wären. Die sprachlichen und visuellen Möglichkeiten des Films und des Zuschauers sind aber vorerst noch nicht so eingespielt, daß der Film auf diese Aufgabe vorbereitet wäre. Film ist (das wird hier sichtbar) keine ausschließliche Aufgabe der Filmautoren (ebensowenig wie die Literatur nicht allein ein Produkt der Schriftsteller ist), sondern eine Ausdrucksform, die ebenso von der Aufnahmefähigkeit einer Gesellschaft wie von der Phantasie der Autoren abhängig ist. Eine wirklich differenzierte Filmsprache ist auf eine filmische

50 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1015–1030. 51 Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1141. 52 Ebd., S. 1140. 53 Ebd., S. 1141.

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Vorstellungswelt in den Hirnen der Zuschauer, Kinobesitzer und Verleiher angewiesen.“54

Gleichwohl steht für Kluge fest, dass der Film „eine radikale Erweiterung der literarischen Mittel“55 zulässt. Auch Brinkmann spricht in seinem poetologischen Essay Der Film in Worten, von der potenziellen „Erweiterung“56 einer Kunst, die sich den neuen technischen Möglichkeiten nicht verschließe. Das Potenzial der Sprache wird nämlich dort Nachteil, wo es „breite Teile der Wirklichkeit abprallen“57 lässt. Was die Sprache rhetorisch umkreist, kann der Film, in Ausschöpfung seiner Möglichkeiten, in unmittelbare Anschauung überführen. Auf diese Weise kann er auch in besonderer Weise, so Kluges Ansicht, „die Wahrheit sagen“58. Insbesondere mache das „Zusammentreffen von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen und ihrer Integration in der Montage […] den Film zu komplexeren Aussagen fähig, als dies einer dieser Formen allein möglich wäre.“59 Eine Grundunterscheidung, die Kluge hinsichtlich des Darstellungsvermögens literarischer und filmischer Ausdrucksweisen trifft, ist diejenige zwischen begrifflicher „Präzision“60 und „Anschauung“61. Zwar vereine auch Sprache, indem sie sich auf einem mittleren Abstraktionsniveau bewege, in sich Begriff und Anschauung, das sich daraus ergebende Verhältnis sei aber „stabilisiert“, während der Film „radikale Anschauung im visuellen Teil und Begriffsmöglichkeiten in der Montage zu einer Ausdrucksform“62 verbinden könne.

54 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1019. 55 Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1145. 56 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 229. „Erweiterung“ versteht Brinkmann hier vor allem als Gegenbegriff zu „Fortschritt“, da es um diesen nicht gehe. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 1144. 59 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1020. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd.

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Auffällig ist, dass sich Kluges Filmcharakterisierung, vom Akustischen einmal abgesehen, leicht auf sein spezifisches Literaturverständnis übertragen lässt: Er geht davon aus, dass „der Film nach dem Prinzip der analytischen Kamera Perspektiven des Gegenstandes gewinnen [kann], die subjektiv nicht erfahrbar sind“, mit der Folge einer „Massierung von subjektiven und objektiven, von literarischen, akustischen und visuellen Momentaufnahmen, die zueinander in Spannung stehen.“63 Dies sind eben jene Ansprüche, die sich etwa auch an den Neuen Geschichten oder den Lernprozessen mit tödlichem Ausgang ablesen lassen. Subjektives und – tatsächlich oder vermeintlich – Objektives, Fiktives und Dokumentarisches, verschiedenste Perspektiven, Text und Bild tauchen hier ebenso auf und signalisieren eine nahe Verwandtschaft mit der Filmästhetik. Immer wieder geht es schließlich auch in der Forschungsliteratur zu Kluges Arbeiten um die Verschränkung des Filmischen und Literarischen. Sie wird sowohl innerhalb medien- und filmwissenschaftlicher als auch philosophischer und biografischer Untersuchungen als ein Spezifikum angeführt oder vorausgesetzt. Vielfach geteilt wird die Ansicht, dass es bei Kluge „um eine strukturelle Beziehung der Produktions- und Rezeptionsbedingungen beider Medien, um […] eine Literarisierung des Films und eine Filmisierung der Literatur“64 gehe. Auch in der Bezeichnung der filmischen Darstellungspraxis Kluges als „Film-Essay“65 wird diese Beziehung repräsentiert. Zwar hat Kluge gelegentlich geäußert, trotz Film- und Fernseharbeit sei und bleibe er „in erster Linie ein Buchautor“66, doch die elementare, ästhetische Vernetzung der Medien wird zu Recht als das vordergründige Charakteristikum des Werkes herausgestellt. Allerdings: Eine Beliebigkeit in der Medienverwendung ist hiermit keineswegs verbunden. Schon in den filmtheoretischen Texten setzt Kluge auf Distinktion, indem er dezidiert Potenziale und Traditionen von Literatur und Film unterscheidet: Das Aus-

63 Ebd. 64 Lewandowski: Literatur und Film bei Alexander Kluge. In: Böhm-Christl (Hg.): Alexander Kluge (1983), S. 233–244; hier S. 233. 65 Schweikle, Kauffmann: Essay. In: Burdorf, Fasbender, Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur (2007), S. 210. 66 Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 30.

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drucksvermögen, das heißt, die Repertoires an möglichen, dechiffrierbaren Symboliken, metaphorischen Verkürzungen und Zeichen sind unterschiedlich breit. Blickt man auf das bisherige Gesamtwerk Kluges, auf die Verwendung und Verbindung von Film und Literatur, dann wird Differenz hier zwar nicht als Präferenz des einen oder anderen Mediums erkennbar; sehr wohl erkennbar wird sie hingegen auf dem von Kluge selbst reflektierten Gebiet der Tradition, das zugleich auf den Standpunkt des Autorsubjektes, auf dessen Selbstverständnis und Rolle innerhalb eines je unterschiedlich fortgeschrittenen, künstlerischen Gebietes verweist. Während Kluge sich, nach eigenem Bekunden, als literarischer Autor in eine jahrtausendealte „Metaphern- und Begriffswelt“67 einschreibt, die auf die bereits „differenzierten Sprachen des Altertums“68 zurückgeht, wird er hingegen als Filmautor zum Teilhaber einer Entwicklung mit noch unklarem Ausgang. Das Potenzial des Filmes gilt es erst noch auszuschöpfen, eine „genügend große Metaphernwelt“, die „literaturähnliche Verallgemeinerungen und Differenzierungen“69 zulässt, erst noch zu entwickeln. Mit Tradition beziehungsweise Traditionsvorsprung zielt Kluge an dieser Stelle also weniger auf mangelnde Einzelleistungen historischer oder zeitgenössischer Filmemacher ab, als vielmehr auf das Funktionieren eines komplexen Vermittlungssystems. An Vorgängern mangelt es nicht: Sergei Eisenstein, Dziga Vertov, Fritz Lang und Jean-Luc Godard sind Namen, die bei Kluge, vor allem im Zusammenhang mit filmischen Montageprinzipien, immer wieder auftauchen. Mit der noch erst zu erwerbenden Tradition meint Kluge offenbar vor allem das Funktionieren einer „wirklich differenzierte[n] Filmsprache“70, die allerdings von den Rezipienten ebenso abhänge wie von den Produzenten des Films. Seine Rolle als Mitbegründer einer Tradition nimmt er ent-

67 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1019. 68 Ebd., S. 1018. 69 Ebd., S. 1019. 70 Ebd. Vgl. auch Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187–251; hier S. 220. Hier spricht Kluge, zehn Jahre später, nach wie vor von einem „Provisorium“ und dem „Charakter einer Baustelle“, den das Ganze habe: „Kino, Autorenfilm, politischer Film sind Programm, uneingelöst.“

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sprechend ernst. Angefangen beim Oberhausener Manifest, über die Gründung des Ulmer Instituts für Filmgestaltung 1962, gemeinsam mit Edgar Reitz, bis hin zur Schaffung unabhängiger Kulturprogramme im Privatfernsehen, hat er sich immer wieder medienpolitisch eingemischt und eine „politique des auteurs mit den Mitteln des dominanten Mediums“71 betrieben. Ziel der folgenden Kapitel wird es sein, diese grundsätzlichen Beobachtungen auszuweiten und den konkreten literarischen Organisationsprozess anhand ausgewählter Texte zu untersuchen. Die immense Materialfülle hat ihren Referenzpunkt immer in den wirklichen Verhältnissen, denen Kluge sich zuwendet, wenn die Darstellungsformen sich auch zwischen einem spezifischen, antagonistischen Realismus – dessen Theorie Kluge in den 1970er Jahren formuliert72 – den „Facts und Fakes“73 des Wirklichen und mitunter Science Fiction74 hin und her bewegen. Während die Poetologie Brinkmanns sich nahe am Subjektpol bewegt, weisen Kluges Arbeiten eine spezifische Nähe zum Materialpol auf, die allerdings einer Präzisierung anhand literarischer Beispiele bedarf. Doch wie ist dies in Einklang zu bringen mit einer durchweg präsenten Subjektposition? Dass hierin kein Widerspruch liegen muss, wird im Rahmen der Textanalysen deutlicher werden.

71 Schulte: Kairos und Aura. Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges. In: Schöttker: Schrift Bilder Denken (2004), S. 226. Schulte resümiert, es habe „in den vergangenen vier Jahrzehnten hierzulande kaum eine medienpolitische Entscheidung von Rang gegeben, an der Kluge nicht in irgendeiner Form beteiligt gewesen wäre.“ 72 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187ff. 73 Facts & Fakes ist der Titel einer als „Fernseh-Nachschriften“ angelegten Zeitschrift, die Bildmaterial, Themen und Inhalte der Fernsehsendungen Kluges noch einmal aufnimmt. Kurzzeitig erschienen im Verlag Vorwerk 8 (ab 2000). 74 Vgl. hierzu Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 249ff.

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3.1 L ERNPROZESSE (1973)

MIT TÖDLICHEM

A USGANG

Kluges Lernprozesse mit tödlichem Ausgang erscheinen 1973. Die Erzählung Lernprozesse mit tödlichem Ausgang umfasst, mit ihren über 100 Seiten, knapp ein Drittel des gleichnamigen Buches, sie verfügt über ein eigenes Vorwort sowie eigene Unterkapitel. Hauptsächlich wird es im Folgenden um diese Erzählung gehen, die gemeinsam mit den Science FictionFilmen Der große Verhau (1969/70), Wir verbauen 3x27 Milliarden Dollar in einen Angriffsschlachter (Kurzfilm, 1971) und Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte (1972), zu Kluges kurzem Vorstoß in dieses Genre gehört. Das Buch Lernprozesse mit tödlichem Ausgang fällt allererst durch eine Neuerung auf: Es ist der erste literarische Text des Autors, der bereits in der Erstauflage mit Fotografien versehen ist.75 Darüber hinaus bringt Kluge das Medium Musik ins Spiel, indem er die etwa ein Drittel des Buches umfassende Science Fiction-Erzählung mit zwei Partituren rahmt. Auch in der Mitte der Erzählung tauchen Noten auf, bei denen es sich um Motive aus Richard Wagner Ring des Nibelungen handelt. Der Abdruck von Notenfolgen kann eine „akustische Dimension“76 zwar nicht realisieren, immerhin aber auf sie verweisen. Musik als akustisches Medium erhält jedenfalls durch diese Form der Visualisierung eine stärkere Präsenz als durch die ebenso im Text vorhandene, einfache Zitation von Liedtexten77. Die anachronistisch anmutende Setzung der Partituren und Liedtexte bringt dabei ganz ähnliche Effekte hervor wie die historischen Literaturzitate, worauf im Folgenden noch genauer eingegangen wird. Die Vermutung, dass Kluges Erweiterung des Ausdrucksrepertoires sich aus der vorangehenden Konzentration auf den Film ergebe, erscheint zwar naheliegend: „[W]ie im Kino sollen nun im literarischen Text alle Sinne des Lesers / Betrachters angesprochen werden.“78 Allerdings sind filmische und literarische Aus-

75 Vgl. hierzu von Steinaecker: Literarische Fototexte (2007), S. 170. 76 Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 179. 77 Vgl. Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 261, 265, 304. 78 Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 179.

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drucksform bei Kluge von Anfang an verwoben. Nur bedurfte es sicherlich zahlreicher Filme, wie Kluge sie in den 1960er Jahren produziert, diese spezifische Ästhetik auszubilden und voranzutreiben. Die Tatsache, dass Kluge Noten in sein Zeichenrepertoire aufnimmt, überrascht zudem wenig: Die über den Vater erworbene Liebe zur Musik, insbesondere zur Oper, hat der Autor immer wieder betont. Ähnlich wie Adorno, „der größte Liebhaber der Musik unter den Philosophen“79 vertraue er auf die „intim wirkende Macht“80 der Musik. Anzunehmen ist, dass Kluge mit dieser Wirkung etwas Ähnliches verbindet wie etwa mit den Effekten des Komischen: nämlich eine wenig rationalistische, mehr assoziative Wahrnehmungsweise, die die gewohnten Sinnverknüpfungen unterläuft. Auf die Komik bei Kluge wird an anderer Stelle noch eingegangen. „Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.“81 Diese einleitenden Sätze aus Kluges Vorwort kommunizieren eine Resignation, die an Resümees der 68er Revolte erinnern: In der Euphorie der Bewegung trägt der kollektive Gedanke, danach entsteht Ratlosigkeit. Es scheint so, als spiele Kluge mit den neuen Lebensprogrammen auf diese geschichtlich naheliegende Situation an, auf die Ratlosigkeit oder notwendige Neuorientierung am Ende einer kollektiven Bewegung. Doch das Beispiel, das der Autor wenige Zeilen später entwickelt – fraglich das eigene – „bricht 1945 zusammen“82 und zielt also auf eine ganz andere, frühere Umbruchsituation ab: auf diejenige des Kriegsendes. Von hier ausgehend nimmt Kluge ein fremdes Einzelschicksal in den Blick, dasjenige von „Teddi Kunzmann“83. Die Verwirrung des Lesers ergibt sich aus dem Eindruck einer nicht vergangenen Geschichte, die die Jahre 1945 und 1968 gleichermaßen im Jetzt ansiedelt und noch einmal auf Kluges Nähe zum Geschichtsverständnis Benjamins weist. Benjamin hat dieses vor allem in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte (1942) dargelegt.

79 Kluge: Ad me ipsum. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 128. 80 Ebd. 81 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Vorwort (1974). 82 Ebd. 83 Ebd.

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Geschichte ist relevant, sofern sie den Lebenden gegenwärtig ist. Ist sie hingegen nicht zugänglich, verschüttet, muss man gleichsam erzählend nach ihr graben.84 Der in der Forschung vielfach beobachtete „Gestus des Grabens“85, der an Benjamins zitierende Geschichtsaneignung erinnert, wird von Kluge sowohl filmisch als auch literarisch umgesetzt. Insbesondere in dem Film Die Patriotin sowie in dem Buch Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 (1979) ist dieser Gestus allgegenwärtig: Die Geschichtslehrerin Gabi Teichert setzt sich, „den Spaten geschultert“86, gegen überkommene Unterrichtsvorstellungen zur Wehr. Ihr gegenwartsbezogener „Geschichtsbegriff“87 ist von der Erkenntnis geprägt, dass sich „aus Kleingedrucktem in dicken Büchern keine Geschichte entnehmen“88 lasse. Ähnlich wird auch bei Benjamin „[n]icht die Frage, wie und als was Geschichte überhaupt zu begreifen sei“ als zielführend angesehen, „sondern wie hier und jetzt ein Begriff von Geschichte beschaffen sein müsse, der sowohl historische Erkenntnis zuläßt, als auch die politische Veränderung auszulösen vermag.“89 Für Kluges Geschichtslehrerein muss dabei die konkrete Erfahrung des konkreten Subjektes zu „hören“90 sein, um überhaupt mit Geschichte umgehen zu können. Ohne Graben geht es offenbar nicht, denn „[w]enn die Lebenden mit der Geschichte nicht verkehren, dann muß man die Toten fragen; wenn jede Bearbeitung des Unterrichtsmaterials nichts taugt, muß

84 Vgl. Reichmann: „Ein Zeitfaden von tausend Jahren“. Zu einem Kapitel aus Alexander Kluges „Tür an Tür mit einem anderen Leben“. In: Text + Kritik 85/86 (2011), S. 109–117; hier S. 115. Reichmann spricht hier u. a. von den „weitgehend unbemerkt bleibenden explosiven Kräfte[n] unterhalb der Oberfläche der Geschichte“, die Kluge interessierten und weist auf die „vielen poetologisch interessanten, von archäologischen Grabungen handelnden Texte im Werk Alexander Kluges“ (116) hin, etwa auch in jüngerer Zeit, wie „Was ist ,Der Mittelpunkt der Welt‘?“ in Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006). 85 Schulte: Kairos und Aura. In: Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken (2004), S. 224; Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge (2009), S. 26f. 86 Kluge: Die Patriotin (1979), S. 60. 87 Ebd., S. 427. 88 Ebd., S. 428. 89 Konersmann: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte (1991), S. 12. 90 Kluge: Die Patriotin (1979), S. 427.

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man den Rohstoff der Geschichte überprüfen usf.“91 Die vorletzte Seite des Buches Die Patriotin bringt die hiermit verbundene Grundannahme, dass die Geschichte nicht eigentlich vergangen sei, noch einmal fettgedruckt auf den Punkt: „Es ist nämlich ein Irrtum, daß die Toten irgendwie tot sind.“92 Hierin begründet sich zugleich das Erzählprinzip Kluges, das auch die Lernprozesse beispielhaft vorführen. Befremdlich wirkt ein Einzelschicksal wie jenes von „Ritterkreuzträger und Jagdflieger Teddi Kunzmann“93, das Kluge direkt ins Vorwort einbaut. Der „Rohstoff der Geschichte“94 stellt sich auch hier nicht als geordnetes, auf Anhieb systematisierbares Material dar. Gleichwohl erscheint er ubiquitär und lässt sich nicht nur in der Vergangenheit aufspüren, sondern auch in Gegenwart und Zukunft, deren Ereignisse als Science Fiction denkbar nah und fern zugleich inszeniert werden. Tödliche Lernprozesse sind nicht nur rückblickend, etwa innerhalb der nationalsozialistischen Massenmobilisierung zu bestimmen, sondern lassen sich ebenso in das Genre der Science Fiction und damit in eine unbekannte Zukunft projizieren. Die theoretische Abhandlung Öffentlichkeit und Erfahrung ist im Zusammenhang zu sehen mit den Lernprozessen. Das von Alexander Kluge und Oskar Negt gemeinsam verfasste Theoriewerk erscheint 1972, ein Jahr vor den Lernprozessen. Während der Theorietext die mögliche Konstitution einer proletarischen Öffentlichkeit zum Thema hat und damit einen zumindest denkbaren Ausweg, geht es Kluge in den Lernprozessen um „die Fiktion eines entropischen Kapitalismus, der durch keine Gegenkraft oder Friktion erdgebundener Verhältnisse gehemmt wird, sondern in der unendlichen Freiheit seines Alls nur mit den eigenen Widersprüchen zu tun hat“95, wie Rainer Stollmann treffend zusammenfasst. Das kapitalistische System, ge-

91 Ebd., S. 24. 92 Ebd., S. 479 [Hervorheb. i. Original]. Vgl. hierzu auch Kluge: Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann (2001), S. 9, wo die Hrsg. darauf hinweisen, dass kein anderer lebender Autor Faulkners Satz „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ so ernst nehme wie Alexander Kluge. 93 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Vorwort (1974). 94 Kluge: Die Patriotin (1979), S. 24. 95 Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung (1998), S. 52.

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prägt durch ein die sozialen Verhältnisse bestimmendes Verwertungsinteresse, erweist sich als „fatalistisch“ und „die Überwindung des Kapitalismus scheint nicht möglich.“96 Kluge reproduziert das zum Zeitpunkt der Entstehung der Lernprozesse äußerst präsente Theoriegebäude von Öffentlichkeit und Erfahrung zumindest teilweise in seiner Erzählung.97 Augenfällig ist vor allem die modellhafte Aufnahme der chinesischen Kulturrevolution, die nichts „Exotisches“ sei, sondern Gemeinsamkeiten mit den „in den spätkapitalistischen Ländern auftretenden Protestbewegungen“98 aufweise. Sie wird übertragen, von Öffentlichkeit und Erfahrung auf die Lernprozesse, wo es wiederum chinesische Marxisten sind, die nach dem Untergang des Planeten „diesen Trümmerberg […] noch beleben und kultivieren“ und es sich also „um Trümmer nur [handelt] vom Blickpunkt der Ausbeutergesellschaft, für die Natur zu Trümmern wird, wenn an ihr nicht mehr auf einfache Weise Raubbau betrieben werden kann.“99 Das mirakulöse Überlebensprinzip und die Weltsicht der Marxisten dienen dabei offenbar weniger der spruchreifen Architektur eines Gegenmodells – hierzu gibt es keine Ansätze – als vielmehr der Verdeutlichung kapitalistischer Verhältnisse. Mit dem Kapitel Die Ostertage 1971100 bringt Kluge diese Verhältnisse auf eine kurze Formel: „Wenn die Produktion stillsteht, nehmen die Unglü-

96

Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 180.

97

Lewandowskis frühe Einschätzung der Lernprozesse als „ästhetisches Gegenstück“ und „literarische Konkretion“ (107) von Öffentlichkeit und Erfahrung geht allerdings übers Ziel hinaus, da – wie er selbst bemerkt – Kluges literarisches Werk „von Anfang an dafür offen war“ soziologische „Erkenntnisse“ (107) zu integrieren. Lewandowski: Alexander Kluge (1980). Außerdem wird das Potenzial einer möglichen proletarischen Gegenbewegung hier anders bewertet, indem „Hoffnung auf Veränderung, die in Öffentlichkeit und Erfahrung immer wieder anklingt“ hier „keinen Platz“ (168) hat, wie Bosse bemerkt. Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989). Später auch Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung (1998), S. 52.

98

Negt, Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), S. 267.

99

Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 286.

100 Ebd., S. 68–82.

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cke zu.“101 Zu den erklärten Zielen der theoretischen Auseinandersetzung in Öffentlichkeit und Erfahrung gehörte, die „analytischen Begriffe der politischen Ökonomie nach unten, zu den wirklichen Erfahrungen der Menschen hin“102 zu öffnen. Hier nun lässt sich diese Öffnung beispielhaft nachvollziehen: Erzählt wird von in den Produktions- und Arbeitsalltag eingebundenen Menschen, die durch unvermittelte Freizeit in den Zustand persönlicher und sozialer Überforderung gesetzt werden. Ob es sich um Arbeiter, Geschäftsmänner, Ingenieure oder Wissenschaftler handelt, ist dabei nur insofern relevant, als die situative Überforderung sich unterschiedlich äußert.103 Kluges im Arbeitsprozess funktionierende Figuren kapitulieren angesichts der „toten Tage“104; sie betrinken sich vorsorglich, sehen übermäßig fern, versuchen nach drei Jahren ohne Urlaub Erholung zu erzwingen und werden dabei schonungslos mit ihrer Einsamkeit konfrontiert, die sie doch wieder nur zur Arbeit hintreibt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keinen „Produktionsrhythmus für diese Tage“105 zur Verfügung haben. „Es kommen zu viele Absichten auf wenige Stunden der Freizeit (vier Tage) zusammen. Und diese Absichten haben nicht die Präzision, die sie im Produktionsprozeß, durch die Kooperation vieler, vermutlich hätten.“106

Ostern wird in diesem Zusammenhang zu einer absurden Institution, da das Fest sich mit den tatsächlichen „Sinnzusammenhängen“107 der Menschen

101 Ebd., S. 8, 73. 102 Negt, Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung: zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit (1972), S. 16. 103 In Öffentlichkeit und Erfahrung stellt die proletarische Öffentlichkeit das Kernthema, zentral für Kluge sind aber auch (entfremdende) Produktions- und Arbeitsverhältnisse an sich, von denen verschiedenste gesellschaftliche Gruppierungen betroffen sein können. So heißt es beispielsweise, dass „[d]ie traditionelle wissenschaftliche Tätigkeit als ein unter extremen und unnatürlichen Bedingungen stattfindender Leistungsprozeß […] wegen dieser Eigenschaften die Tendenz [habe], zum normalen Arbeitszustand hin abzusinken“. Negt, Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), S. 55. 104 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 79. 105 Ebd., S. 70. 106 Ebd., S. 74.

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im kapitalistischen System nicht deckt. Während der Sony-Radiowecker am Ostersonntagmorgen vom verschwundenen Stein vor dem Grabe Jesu spricht, kommt es auf vollgestopften Autobahnen zu Unfällen. Überarbeitete Menschen versuchen innerhalb weniger Tage ihr Recht auf Erholung wahrzunehmen und scheitern daran. Kluges Forscher-Figur Franz Mutzlaff geht in seiner Wissenschaft auf und wird nach einem selbstvergessenen Arbeitsmarathon im Labor von Ostern überrumpelt. Aus dem Zusammenhang gerissen, konzipiert er ein „Gegenostern“ und „kommt zu einem Bezugssystem (,feiernswert‘) mit 46 Koordinaten.“108 Dass in den Lernprozessen zentrale gesellschaftstheoretische Positionen Kluges verhandelt werden, ist mithin deutlich. Die Einschätzung, dass der Autor hier seine Figuren „wie Marionetten […] an den Fäden seiner Gesellschaftstheorie tanzen“ lasse und sie insgesamt weitgehend „gesichtslos“109 darstelle, geht meines Erachtens aber zu weit. Allemal suggeriert der Text, dass sich historische (Lern-)Prozesse an verschiedenen Subjekten durchspielen lassen, deren spezifische Identität hinsichtlich der Erfahrung aber sekundär bleibt. Dies ist allerdings eine Beobachtung, die sich auch an anderen Kluge-Texten machen lässt. Neben Ostern 1971 formieren unterschiedlichste Ereignisse die Erzählstationen der Lernprozesse, etwa unerwartete Todesfälle in einem Altenheim, militärische Vorgänge und individuelle Handlungen während des Kolonialkrieges sowie des Zweiten Weltkriegs, der Untergang eines Planeten in der Zukunft. Die Vorkommnisse reichen von der ferneren, über die nähere Vergangenheit und Gegenwart, bis hin zu einer hypothetischen Zukunft. Diese Zukunft bildet, ihrem Umfang nach, den Schwerpunkt der Lernprozesse, die für die jeweiligen Figuren nicht tatsächlich von Nutzen sind, da sie tödlich ausgehen.110 Die Gefahr geht nicht nur von den Ereignissen aus,

107 Ebd., S. 81. 108 Ebd., S. 81 [Hervorheb. i. Original]. 109 Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 180, 182. 110 Vgl. auch Lewandowski: Alexander Kluge (1980), S. 104: „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang sind Lernprozesse, die im Grunde nicht stattgefunden haben.“ Kluge erzähle hier „von Begebenheiten und Situationen bis ins Jahr 2103, deren Sinnzusammenhang sich den Beteiligten nicht erschließt, aus denen sie keine Lernmöglichkeiten ableiten können.“

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mit denen Menschen konfrontiert werden, sondern auch und vor allem von ihrem Umgang mit denselben: Nicht zu lernen erweist sich in jedem Fall als fatal. Die in den Lernprozessen enthaltene, gleichnamige Erzählung Lernprozesse mit tödlichem Ausgang ist dem Genre der Science Fiction zuzuordnen. In welcher Weise Kluges literarische und filmische Versuche innerhalb dieses Genres mit den historischen Ereignissen zu tun haben, hat der Autor selbst angedeutet. In einem Interview gibt er Mitte der 1970er Jahre an, die Entstehung der Filme hänge unmittelbar mit dem Auseinanderfallen der Oberhausener Gruppe zusammen, das sich zweifach ereignet habe. Einmal durch die Konfrontation mit der Gruppe 47, die die Autorenfilmer „in alle Winde diskutiert“111 habe und zum Zweiten durch das Aufeinandertreffen mit der Protestbewegung, da die Autorenfilmer der „vehementen, aber auch sehr abstrakten Linie der Studenten“112 nicht gewachsen gewesen seien. „Das hat dann zunächst dazu geführt, daß ich DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS gemacht habe, Reitz den ,Cardillac‘ einen Film zum gleichen Thema; und anschließend bin ich aus München weggezogen, nach Ulm. Dort war eine Gruppe, die hat überlegt: was können wir denn jetzt darstellen? In der Abgeschlossenheit des Ulmer Labors kam die Science Fiction-Idee auf. An sich eine Art Realitätsflucht.“113

Die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang bezeichnet Kluge schließlich als „literarische Wiedergutmachung für die Filme“, die von zahlreichen Irrtümern geprägt gewesen seien: „Zum Schluß der Filme, da wußten wir, wie wir sie hätten machen sollen.“114 Die „gesellschaftliche Situation“115 der Revolte um 1968 hat, so belegen Kluges Statements, im Entstehungskontext der Lernprozesse eine besondere Relevanz: Die Konfrontation mit der Bewegung wird unter anderem erkennbar als Motivation, sich einem neuen

111 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In. Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 172. 112 Ebd., S 173. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 174. 115 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Vorwort (1974).

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Genre zuzuwenden. Die Protestbewegung wird somit für den Autor auch poetologisch relevant, indem sie Fragen nach der adäquaten Ausdrucksform, nach dem Was und Wie der Darstellung provoziert. Bedenkt man die von Kluge vorgetragenen Beweggründe, sich diesem Genre zuzuwenden, dann hat der Titel fraglos eine selbstreflexive Komponente: Der Lernprozess Science Fiction endet zwar nicht für den Autor, aber doch für das Genre tödlich, das Kluge später nicht mehr bedient. „Die Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren“116. Science Fiction als Genre des Realismus Innerhalb der Lernprozesse mit tödlichem Ausgang erfüllt dieses Genre allerdings eine zentrale Funktion. Die gleichnamige Science FictionErzählung stellt ein knappes Drittel des gleichnamigen Bandes und treibt letztlich auf die Spitze, was Kluge schon im vorangehenden Text immer wieder neu beschreibt: die Unfähigkeit zu lernen. Konkret bedeutet dies, dass Kluge die Lebenszeit des Einzelnen als zu kurz darstellt, um nachhaltig zu lernen. Dieser Befund impliziert zugleich einen spezifischen Begriff von gesellschaftlicher Veränderung, der eher auf Langfristigkeit denn auf rasche Veränderung setzt und somit auch eine Abgrenzung zur Neuen Linken markiert. Entlang der „zentrale[n] Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis“ bildete sich der allmähliche „Bruch zwischen Studenten und Vertretern der Kritischen Theorie“117 aus. Die von Henning Marmulla so beschriebenen Abgrenzungsprozesse betreffen fraglos auch Kluge, als Anhänger der Kritischen Theorie. Seine Lernprozesse mit tödlichem Ausgang vermitteln ein Geschichtsverständnis, das demjenigen der Protestbewegung weitgehend zuwiderläuft: ein plötzlicher Umsturz zum Besseren erscheint hier weder im Denken noch im Handeln des Einzelnen vorstellbar. Die Unfähigkeit zu lernen betrifft in Kluges Buch den allzu häufig von seiner Arbeit entfremdeten, in den Produktionsalltag eingebundenen Menschen, der Moral und Ideal seines Lebensentwurfes mit den Bedingungen eines kapitalistischen Gesellschaftssystems abzugleichen hat. Schon der Ti-

116 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 267. 117 Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68 (2011), S. 131, 132. Vgl. hierzu auch ebd. S. 146ff, S. 218ff.

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tel nimmt, auf den „tödlichen Ausgang“ verweisend, die Hoffnung, dass dies tatsächlich gelingen könne. Nicht „Kooperation“118, sondern Ideologie und Vorteilsversprechen sind die primären Motivationen. So findet sich auch hier keine geglückte Formation proletarischer Gegenöffentlichkeit, die sich gegen Bestehendes richten könnte. Wenn Kluge und Negt in Öffentlichkeit und Erfahrung interessiert, „ob es überhaupt zur bürgerlichen Öffentlichkeit wirksame Formen von Gegenöffentlichkeit geben kann“119, dann fragen sie zugleich nach der Fähigkeit zur Kooperation. Kluges „Armada erstklassiger Individualisten“120, die in den Lernprozessen antritt, lässt diese Fähigkeit zumindest nicht erkennen. Auffallend ist die veränderte Zeiterfahrung und Zeitdarstellung innerhalb des letzten Textdrittels. Zeigt sich menschliche Erfahrung im ersten, umfangreicheren Textkonvolut der Lernprozesse eher streiflichtartig und punktuell auf der historischen Achse, so verdichtet sie sich in der Science Fiction-Erzählung, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in ihren Protagonisten vereint und deren erzählte Zeit 122 Jahre umfasst. Umso eindringlicher und zugleich fataler stellt sich das Nicht-Lernen der inzwischen 180jährigen Experten Dorfmann, Zwicki, von Ungern-Sternberg und Boltzmann121 dar, deren „Nacherzählung des Erlebten naturgemäß lücken-

118 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), z . B. S. 16. Die Fähigkeit zur Kooperation spielt bei Kluge eine zentrale Rolle: „Kooperatives Verhalten, im Produktionsprozeß immer mehr notwendig, ist in den Beziehungen zwischen den Menschen noch immer die Ausnahme. Die Regel ist Konkurrenzverhalten. Es ist kein Zufall, daß sich kooperatives Verhalten zunächst oft da entwickelt, wo Menschen asozial handeln und jetzt den Folgen dieses Handelns entgehen müssen. Das ändert nichts daran, daß Kooperation eine Haupttugend jedes künftigen sozialen Verhaltens sein wird.“ Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 92. Vgl. ebd. die erzählerische Umsetzung, als Kooperation von Roswitha und Bronski, und den „Abbau eines Verbrechens durch Kooperation“ im Spielfilm-Entwurf Das sabotierte Verbrechen, ebd., S. 23–51; sowie den späteren Film Die Macht der Gefühle (1983). 119 Negt, Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), S. 7. 120 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 9. 121 Sie werden als Protagonisten der Erzählung eingeführt, vgl. Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S.250.

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haft“122 ist. Rückblickend, vom Jahr 2103 aus, werden die Erlebnisse der Männer erzählt, beginnend allerdings erst mit dem Untergang des bewohnten Planeten Erde 1981. Zum Entstehungszeitpunkt der Lernprozesse ist dieses Jahr noch Fiktion. Zu diesem Zeitpunkt sind sie bereits, als ehemalige „Offiziere der groß-deutschen Wehrmacht“123, deutlich in die Jahre gekommen, jedoch noch lange nicht am Ende ihres Lernprozesses angelangt. Sowohl das unwahrscheinliche Alter der Protagonisten, als auch die bisweilen skurril anmutenden Vorgänge innerhalb eines vollkommen neustrukturierten, fiktiven Weltalls legen einen Begriff nahe, den Kluge selbst für die Charakterisierung seines Textes verwendet: Literatur als „Realitätsflucht“124. Was allerdings Kluges Erzählverfahren immer noch transportiert, ist das Mögliche, Wahrscheinliche – ganz gemäß der aristotelischen Poetik, nach der es „nicht die Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“125 Bei Aristoteles ergibt sich hieraus zugleich der Unterschied zwischen Geschichtsschreiber und Dichter. Die Relevanz dessen, was im menschlichen Erleben und Verhalten Realität ist oder werden kann, vermittelt die naheliegende allegorische Lesart: Auch in Kluges fiktivem Weltall gibt es Industrieanlagen, Ressourcenkämpfe, Manager und eine inzwischen vollkommen abstrakt gewordene Suezkanal-Gesellschaft, deren Interessen und Organisationsprinzipien ihre Aktualität haben – sie entsprechen denjenigen der real existierenden kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftssysteme. Zumindest der Leser kann also aus dem Text auch kurzfristig lernen. Kluges Interesse für die wirklichen Verhältnisse, für deren Geschichte und Aktuali-

122 Ebd., S. 251. 123 Ebd., S. 269. 124 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In. Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 172. 125 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann (1994), S. 29 (Kapitel 9). Vgl. auch Lewandowski: Alexander Kluge (1980), S. 87, der anmerkt, dass es Kluge „nicht um Phantastisches um des Phantastischen willen“ gehe, sondern „vielmehr um das Vorführen der möglichen, d. h. in den ökonomischen Strukturen des Kapitalismus angelegten Tendenzen.“

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tät, verbirgt sich auch in der Science Fiction-Erzählung.126 Dass Realität sich mit Rationalität oder einer vordergründigen Logik allein nicht befriedigend erfassen lässt, liegt für den Autor, dessen Werk insbesondere die „Macht der Gefühle“127 immer wieder betont, auf der Hand. Die Lernprozesse sind auch im Sinne dieser Erkenntnis zu lesen, indem sie das Wahrscheinliche des menschlichen Handelns nicht überwinden, sondern in eine unbekannte Zukunft projizieren. Dabei gilt offenbar: Nichts unterliegt dem Zwang, realistischer erscheinen zu müssen, als es ist. Den Gegensatz von Fakten und Fiktion bringt der Autor vielmehr bewusst ins Spiel. Ein Mittel der Vergegenwärtigung ist die Komik, die Kluge mit seiner Erzählung keineswegs nur unfreiwillig hervorruft.128 Bewusst skurril gewählte Bezeichnungen wie „Planet Wurst“129 oder „Planet Planschwasser“130 sind Beispiele dieser Komik. Kluges Bestimmung von Komik als „Würze des Realismus“131 verweist unmissverständlich auf ihre Intention. Auch Brechts Verfremdungsprinzip klingt hier an: Sensibilität für die Wirklichkeit sowie die Möglichkeit der Reflexion ent-

126 Vgl. auch Bechtold: Sinnliche Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit. Die multimedialen Montage-Texte Alexander Kluges (1983), S. 177, der betont, Kluges Text zeige, „daß die Bedrohung bereits in unserer Gegenwart stattfindet und daß die Weichen für kommende, zukünftige Katastrophen bereits in unserer Vergangenheit, in unserer Geschichte gestellt worden sind.“ 127 Titel eines 1983 erschienen Kluge-Films. 128 wie auch Schulte am Beispiel der Fernsehmagazine darlegt. Vgl. Schulte: Cross-Mapping. Aspekte des Komischen. In: Schulte, Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System (2005), S. 219–232. Vgl. auch Kluges Äußerungen im Interview mit Ulrich Gregor: „Ich wende mich an die Eigenschaften, die klassenmäßig im Menschen unterdrückt werden. Also ans Zwerchfell, ungehemmt. An das Erinnerungsvermögen, Assoziationsvermögen, ungehemmt. Die organisierteren Eigenschaften, die Eigenschaft der Logik, das Werturteil und so weiter, die desavouiere ich, wo ich kann.“ Kluge situiert darüber hinaus Komik in „Hirnzonen, die somatisch festgemacht sind und von unten nach oben funktionieren, bei denen die Wahrnehmung schneller ist als das Verständnis.“ In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 175. 129 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 363. 130 Ebd., S. 339. 131 Schulte, Stollmann: Verdeckte Ermittlung (2001), S. 89.

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stehen nicht durch den gelungenen Realitätseffekt, sondern indem dieser Effekt gebrochen wird. Eine Verbindung zu Brecht hat Kluge selbst immer wieder hergestellt. So referiert eine besonders häufig zitierte Bemerkung des Autors auf das Brechtsche Realitätsverständnis, worauf im folgenden Kapitel genauer eingegangen wird. Neben der Komik ist der Kommentar ein weiteres Mittel der Vergegenwärtigung des Gegensatzes von Fakten und Fiktion. Er taucht hier in Form einer kurzen Erläuterung zu einer Abbildung im Text auf. Es handelt sich um eine Skizze der von Marssiedlern geplanten, brückenartigen Verbindung zwischen mehreren Planeten. Die Erläuterung weist schon auf die Kommentare voraus, die Kluge immer wieder aus dem Off seiner späteren Fernsehsendungen vornimmt. Sie kennzeichnet Text und Bild an dieser Stelle als Fiktion: „Selbstverständlich ist diese Brücke bei der Bewegungsmechanik wirklicher Planeten nicht herstellbar, da die Himmelskörper sich auf Umlaufbahnen bewegen und zu keinem Zeitpunkt ,stillehalten‘.“132

Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974),

S. 338, 339.

132 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 339.

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Der Leser, inzwischen inmitten einer Science Fiction-Welt angekommen, zu deren Inventar Menschen mit spezialisierten Stielaugen und mutierten Werkzeughänden gehören, wird hier nun plötzlich und scheinbar unnötig auf die Fiktionalität eines Details aufmerksam gemacht. Die Effekte des Kommentars sind einfach: Zum einen wird, indem die Fiktionalität einer Einzelheit bekundet wird, dazu aufgerufen, den Kommentar auch auf das Textganze zu beziehen. Ist nicht der gesamte Text als Fiktion zu verstehen? Wenn nicht, inwieweit bildet er Wirklichkeit ab? Dass nicht allein das, was mathematischen Gesetzmäßigkeiten folgt, als Realität wahrgenommen werden kann, deutet sich hierbei jedenfalls schon an. Ein Aspekt, der an dieser Stelle nur erwähnt sei und der im Rahmen der noch folgenden Auseinandersetzung mit Kluges Realismusbegriff deutlicher werden wird. Zum anderen tritt die Instanz des Erzählers ins Bewusstsein. Im Fall Kluges ist diese Instanz immer sehr eng an den Autor selbst gekoppelt, der sich durch die bereits erläuterten transparenten Ordnungsprozesse und Vernetzungsstrategien stets als Akteur hinter dem Gesamtwerk zu erkennen gibt. Erzählerpräsenz bedeutet also in Kluges Texten in der Regel zugleich Autorpräsenz. Biografisches, eine enge Verbindung von Literatur und theoretischen Standpunkten sowie eine durchgehende Fußnotierung verstärken die Autorpräsenz zusätzlich. Im Vorwort wird noch mit der potenziellen Lesererwartung gespielt, das Folgende sei eine interne Fokalisierung (Mitsicht)133 beziehungsweise in der Figurenperspektive, nämlich „[a]ls Bericht von Experten, die alles das selbst miterlebt haben“134, verfasst. Diese Erwartung erfüllt sich nicht. Der kurze Kommentar zum interplanetaren Brückenbau bestätigt den Lesereindruck und bringt auf den Punkt, was die bisherige, den Erfahrungshorizont der Figuren immer wieder überschreitende, Erzählung nahelegt: Der Autor-Erzähler Kluge ist keineswegs in den Hintergrund geraten, sondern gewohnt präsent.135 Lücken des Textes sind

133 Der erzähltheoretische Begriff wird übernommen von Martinez, Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2002), S. 63ff. 134 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 251. 135 Vgl. hierzu Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (1975), S. 239, der den Kommentar als „Bewertungsangebot“ deutet, das nicht verbindlich sei, sondern „Wahlmöglichkeiten“ offeriere. In ihrer wechselnden „Orientierung“ böten Kommentare einen „Bewertungsspielraum, der neue Leerstellen im Text entstehen“ lasse.

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demnach auch nicht der Figuren- sondern der Erzählerebene zuzurechnen, da es sich um eine durchgehende Nullfokalisierung (Übersicht)136 handelt. Die offen kommunizierte, durch Komik und Kommentar vergegenwärtigte Differenz von Fakten und Fiktion ist an unterschiedlichen Arbeiten des Autors zu beobachten: Fernsehmagazine, Filme, Interviews und literarische Arbeiten sind hier gleichermaßen zu nennen. Doch die Differenz ist offenbar nicht immer eindeutig, was sich vor allem daran zeigt, dass Kluge auf Rezipientenseite regelmäßig Ungewissheiten über die Faktizität erzeugt. Die häufig kaum zu klärende Frage nach dem Wahrheitsgehalt ist in der Kluge-Rezeption typisch: Wo endet das Dokumentarische und wo beginnt Fiktion? Was sind tatsächliche, was nur erdachte Handlungen realer Personen? Und: Inwieweit ist dies von Belang? Die Tatsache, dass diese Fragen vielfach als bestimmend in der Textrezeption beschrieben werden, unterstreicht meines Erachtens wiederum Kluges Affinität zum Möglichen, Wahrscheinlichen. Ohne Unterscheidungsvermögen, so suggerieren seine Arbeiten, lässt sich schwerlich über die wirklichen Verhältnisse urteilen. Differenz ist also auch hier das Stichwort. Allerdings wird die Produktion derselben mitunter deutlich in Richtung des Rezipienten verschoben. Es geht offenbar weniger um gelungene, narrative Realismuseffekte – beispielhaft sei hier noch einmal der Planetenname „Wurst“137 in Erinnerung gerufen –, als vielmehr um einen durchgängigen Link zwischen Fiktion und Wirklichkeit, der unter anderem durch immer wieder auftauchende, reale Personen und Namen, historische Ereignisse und Fotografien aufrechterhal-

136 nach Martinez, Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2002), S. 63ff. Dass der Text die reine Figurenperspektive durchgehend nicht anbietet, verdeutlicht auch Bosse, die Kluges Hinweis im Vorwort als fingierte Geschichtsschreibung deutet. Diese werde von der Erzählung allerdings demontiert: „Von der Beschreibung der Zerstörung der Erde über Dialoge, an denen keiner der Experten teilgenommen hat, bis hin zum Wiederaufbau der Erde durch die Chinesen ist die Erzählung von Ereignissen durchsetzt, die die Protagonisten nicht selbst erlebt und von denen sie nicht gehört haben können.“ Darüber hinaus seien „die Kombination der einzelnen Abschnitte sowie kommentierende Einschübe […] nur aus einer übergeordneten Erzählperspektive möglich.“ Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 172. 137 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 363.

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ten wird.138 Die Ungewissheit des Lesers erhöht zugleich den Aufmerksamkeitspegel. Für den Abstecher in die Science Fiction gilt nicht weniger: Ein lektürevergessenes Abtauchen des Lesers in fiktive Welten ist einer solchen Literatur nicht inhärent. Diese Tatsache unterscheidet Kluges Science Fiction zudem von anderen Texten des Genres. Sie ist immer verwoben auch mit der Kritischen Theorie, mit dem sozialphilosophischen Hintergrund des Autors – hierzu liefert die zeitliche und thematische Nähe der Lernprozesse zum Theoriewerk Öffentlichkeit und Erfahrung nur ein Beispiel. Die Komplexität dessen, was sich dem Einzelnen als Realität darstellt, hat Kluge auch theoretisch bearbeitet.139 Die filmischen und literarischen Arbeiten stellen hierzu die Praxis. Das Bewusstsein für Komplexität läuft jedoch in Kluges Fall nicht darauf hinaus, dass Wirklichkeit sich der Erkenntnis letztlich verschließen müsse. Dies wäre ein Fehlschluss. Wirklichkeit bedarf vielmehr des genauen Blicks: Ihre Struktur ist rhizomatisch und entzieht sich einer reinen Oberflächenbetrachtung. Auch Handke, so wird noch zu zeigen sein, verweigert sich der Oberflächenbetrachtung. Die kritische Thematisierung der Verquickung von Sprach- und Lebenswirklichkeiten führt bei diesem Autor aber zu einer stärkeren Ablehnung von Faktizität im Allgemeinen. Nicht so bei Kluge: Neben der fiktionalen Erzählung lassen sich immer auch überprüfbare Fakten, dokumentarische Sequenzen und belegbare historische Ereignisse als charakteristische Bestandteile der literarischen Arbeit ausmachen. Die Science Fiction-Erzählung Lernprozesse mit tödlichem Ausgang bildet zumindest in dieser Hinsicht keine Ausnahme: So bringt Kluge etwa mit den Erlebnissen der Protagonisten in Stalingrad unmissverständlich Realität ins Spiel: „Die Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren“140, ist das resignative Fazit der ehemaligen Offiziere. Als Überlebende einer weiteren Katastrophe, der des Weltuntergangs im Jahr 1981, ist ihr Handeln immer noch von der frühen Erfahrung bestimmt. Nicht aber im Sinne eines gelungenen Lernprozesses, denn moralisch haben sie sich keineswegs zum Positiven entwickelt.

138 Vgl. auch Bechtold: Sinnliche Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit (1983), S. 171: „Die Bilder halten Verbindung zur Erde.“ 139 v.a. in den Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187ff. 140 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 267.

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„Sie kannten sich jetzt seit 40 Jahren, und es gab kein Verbrechen, das einer von ihnen hätte begehen können, das nicht die anderen bedingungslos gedeckt hätten. Die menschliche Substanz geht nicht unter, sondern wird eingedickt. Gar nichts erkennen, gar nichts mehr wollen – das macht sie zu den gefährlichsten Gegnern, die in der Galaxis ein Raumschiff starten konnten.“141

Der Gegensatz von Fakten und Fiktion wird hier erzählt über eine fiktive Lebensspanne, die schon Dagewesenes mit Zukünftigem, Unbekanntem in Verbindung setzt. Dieses Erzählverfahren führt zu einem weiteren Aspekt beziehungsweise zu einem ästhetischen Mittel, das in den Lernprozessen die Evokation historischer Realität und Geschichtlichkeit mitbedingt: die zitathafte, wörtliche Rede. Diese stellt ein generelles Charakteristikum der Arbeiten Kluges dar, das allerdings innerhalb der Science Fiction-Erzählung eine besondere Dynamik entwickelt: Von griechischer Lyrik über Shakespeare, Kant und Brecht, bis hin zu Mao Tse-tung reicht das Spektrum der Zitate, deren Positionierung zumeist in einem seltsamen Kontrast zum aktuell erzählten, fiktiven Weltraumgeschehen steht. Abgeschnitten von gewohnten Bildungszusammenhängen, von herkömmlichen Institutionen des öffentlichen Lebens, von Wissensbeständen und tradierten Werten der nahezu ausgelöschten Erdbevölkerung, erscheinen die Zitate als weitgehend sinnenthobenes kulturelles Kapitel. Doch gerade im Unpassenden, Querliegenden sieht Kluge offenbar die Möglichkeit gegeben, die Präsenz von Geschichte zu vermitteln. Ob dies in der Rezeption auch so gelingt, ist meines Erachtens zumindest davon abhängig, inwieweit dem Leser die Zuordnung der Zitate möglich ist. Dass und warum die Protagonisten unausweichlich mit Geschichte konfrontiert sind, erläutert Kluge im Vorwort: „Einen anderen Gegenstand der Aneignung hatten sie nun nicht mehr.“142 Konkret bedeutet dies, dass ihnen, der gewohnten Zusammenhänge enthoben und ohne Aussicht auf eine lebbare Zukunft, nichts anderes bleibt als „sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.“143

141 Ebd., S. 283. 142 Ebd., S. 251. 143 Ebd.

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Der ubiquitäre „Rohstoff der Geschichte“144, den Gabi Teichert sich in der Patriotin grabend anzueignen sucht, taucht hier im Zusammenhang der Zitate wieder auf. Historisches Zitat-Material, als Vergegenwärtigung des Geschichtlichen, wird von Kluge in den Lernprozessen ubiquitär eingesetzt, auch und gerade dort, wo der Leser kaum damit rechnet. Auffallend ist die starke Gewichtung des Materials, die sich hier zeigt: Nicht das einzelne Subjekt, das heißt weder die Subjektivität des Autors noch diejenige der Figuren, steht im Vordergrund, wenn es um das handfeste Material des Geschichtlichen geht, sondern die belegbare historische Erfahrung, die sich in den Zitaten bündelt. Dieses Zitat-Material führt zugleich immer zur konkreten, authentischen Erfahrung hin. Faktizität und Authentizität kennzeichnen gleichermaßen das Zitat. So stellt auch Christoph Zeller eine Authentizität heraus, die sich bei Kluge über das Zitat vermittelt.145 Geschichtliche Daten und Fakten finden sich regelmäßig bei Kluge, doch im Gegensatz zu den Zitaten figurieren diese nicht primär als Material einer authentischen Erfahrung. Dass diese Ästhetik des Zitats auf Kluges Benjamin-Aneignung zurückzuführen ist, wie Zeller und andere Autoren betonen, ist naheliegend. Kluges Technik weist eine deutliche Verwandtschaft auf mit „Benjamins Vergangenheitsbezug, wie er in seiner Zitiertechnik zum Ausdruck kommt“146. „Was und wie hier gesammelt und zusammengefügt wird, ähnelt der Methode des Surrealismus, also der Verfremdung des Gewohnten, der Sabotage am Vertrauten, mit einem Wort: dem Umsturz der Werte. Das Prinzip dieser Technik ist die Konfrontation des Unvergleichlichen […].“147

Kluges Zitate sind dabei so platziert, dass die Verwechslung von Figurenrede und historischem Zitat möglich ist. So etwa, wenn Admiral Hinnercke mit seinem Gesang Johann Gabriel Seidls Der Wanderer an den Mond zitiert und ein Gedicht im Justizpalast auf Planet Douglas einritzen lässt, das sich als Zitat anakreontischer Lyrik erweist; oder wenn die vier Protagonis-

144 Kluge: Die Patriotin (1979), S. 24. 145 Vgl. Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 132. 146 Konersmann: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte (1991), S. 55. 147 Ebd.

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ten ihre Verzweiflung gemeinsam mit einem abgewandelten ShakespeareZitat (Wie es euch gefällt) besingen. „Die vier Freunde in verzweifelter Stimmung: ,Nein, einem Mannesalter jenes verschlagenen und historisch gebildeten Egoismus entspricht ein mit widriger Gier und würdelos am Leben hängendes Greisenalter und sodann ein letzter Akt, mit dem die seltsam wechselnde Geschichte schließt als zweite Kindheit, gänzliches Vergessen ohn‘ Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.‘“148

Neben der Intermedialität von Text und Bild in den Lernprozessen, signalisieren die Zitat-Einfügungen eine intramediale Offenheit des TextMediums. Dabei geht es sichtlich nicht um Stringenz und Chronologie, denn das Zitat-Material kommt ubiquitär zum Einsatz. Die mit dem historischen Zitat verbundene Aktualität von Geschichte zeigt sich als ein Netzwerk aus Werten, Begriffen, Emotionen und Ideologien, das sich sowohl im einzelnen Subjekt als auch im Kollektiv aufspüren lässt. Während die eingeschränkte Zitat-Markierung bei Kluge im Einzelfall zum Übersehen des Zitats führen kann, bewirkt sie fraglos zugleich eine stärkere Einbindung in die Aktualität der Erzählung und damit in die Realität ihrer handelnden Figuren. Der theoretische Hintergrund für ein solches Verfahren ist, wie gezeigt werden konnte, leicht rekonstruierbar und auch nachvollziehbar. Wie bereits angedeutet, stellt Kluge allerdings mit seinem Zitateinsatz hohe Anforderungen an die Rezeption, die fraglos nicht immer eingelöst werden können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kluges Lernprozesse mit tödlichem Ausgang einen Lernprozess des Autors selbst aufzeigen. Kluge stellt mit seinem Text eine eigenwillige Interpretation des Genres Science Fiction vor, indem er es als eine im weiteren Sinne realistische Darstellungsform erprobt. Dabei wird der Gegensatz von Fakten und Fiktion nicht verschwiegen, sondern offen kommuniziert sowie auf dem Wege des Zitates historische Realität und Fiktionalität zusammengebracht. Kluges Anspruch, Traditionen mitbegründen zu können, zeigt sich auf dem Gebiet des Films deutlich. Auch filmisch setzt er sein Science Fiction-Verständnis,

148 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 364 [Hervorheb. i. Original].

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etwa mit Der große Verhau (1969/70) und Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte (1972), um. Allgemein geht es ihm mit seinen Filmen, wie eingangs beschrieben, um die Arbeit an einer noch unterentwickelten Filmsprache. Insbesondere das Genre der Science Fiction, das Kluge Mitte der 1970er Jahre als „eine absolut interessante Form“149 bezeichnet, hat in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt „keine Tradition“150, wie der Autor selbst bekundet. Kluge wagt sich an dieses Genre, zu dem Preis einer „ganzen Reihe von grotesken Irrtümern“151. Tatsächlich aber auch mit einem vielbeachteten, literarischen Ergebnis: mit dem Zusammenbringen historischer Realität und Zukunftsvision in den Lernprozessen mit tödlichem Ausgang. Schreiben als Ausloten des Möglichen. Die implizite Theorie Auch den theoretischen Hintergrund des Autors betreffend, sind die Lernprozesse aufschlussreich. Kluges Lernprozesse sind ein prominentes Beispiel für Literatur, die ihren theoretischen Hintergrund offensichtlich mit sich führt. Es ist nicht verwunderlich, dass in den Interpretationen zu Kluges Text meist schon innerhalb der ersten Zeilen auf Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) hingewiesen wird. Das gemeinsam mit Oskar Negt verfasste Theoriewerk steht nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich den Lernprozessen nah, da Kluge gleichzeitig an den beiden Texten arbeitet. Doch ist Kluges literarische Arbeit schlicht der Praxisteil zur komplexen Theorie? Warum zur Beantwortung dieser Frage auch die besondere historische Situation berücksichtigt werden muss, wird im Folgenden deutlich werden.

149 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 174. 150 Ebd. Vgl. auch Lewandowski: Alexander Kluge (1980), S. 84, der als historisch letzte Beispiele die Fritz-Lang-Filme der 1920er Jahre anführt (etwa Metropolis): „Insofern sind die Versuche der Gruppe um Kluge die ersten ernsthaften Anfänge des deutschen Films nach dem Zweiten Weltkrieg, sich diesen traditionellen Stoff anzueignen.“ 151 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 174.

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Kluge selbst hat angedeutet, dass die Studentenrevolte mit seinen Science Fiction-Versuchen in gewisser Hinsicht zu tun hat.152 Die Arbeiten lassen sich einerseits verstehen als persönlicher Rückzug und Fazit aus der misslungenen Begegnung von Autorenfilmern und Protestbewegung. Die noch kaum professionalisierten Filmemacher seien den Studenten nicht gewachsen gewesen, wie der Autor beschreibt. Andererseits lässt Kluges Science Fiction sich deuten als Vorstoß mit einer neuen Idee beziehungsweise als Versuch, mit etwas Neuem auch neu wahrgenommen zu werden. Allerdings verneint Kluge im Interview die Frage, ob er mit dem für ihn ungewohnten Genre versucht habe, dem Publikum wieder näherzukommen. Auffallend an seiner Antwort ist vor allem, dass sie eine Skepsis zum Ausdruck bringt gegenüber utopischen Gesellschaftsvorstellungen, die bekanntlich auch innerhalb der Protestbewegung eine Rolle spielten. „[D]amals haben wir an Publikum überhaupt nicht gedacht, sondern an Themen, daran, wie man Themen konsequenter machen kann, und der luftleerste Raum ist offenbar die Science Fiction, weil man sich dort frei bewegen kann, unabhängig von jeder Gesellschaft, und meint, man sei der Utopie am nächsten. Das ist nun überhaupt nicht wahr.“153

Die Lernprozesse stellen diese Beobachtung gleichsam unter Beweis. Kluge ist hier weder an der Konstruktion von Utopien interessiert noch vordergründig an den Unwägbarkeiten der Zukunft. Das utopische Modell einer funktionierenden, pazifistischen Gesellschaftsform bietet der Text nicht an; auch die chinesische Kulturrevolution, die hier auftaucht, nimmt Kluge nicht zum Anlass, ein solches zu entwickeln. Es geht vielmehr um das Prinzip Literatur als Probehandeln154, das etwa Dieter Wellershoff 1973 in Literatur und Lustprinzip thematisiert. Dieses lässt sich auf Kluges Lernprozesse im doppelten Sinne anwenden: einerseits auf der inhaltlichen Ebene und andererseits auf der formalen Ebene des Genres. Das Mögliche, Wahr-

152 Vgl. Ausführungen im vorangehenden Kapitel. 153 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 173. 154 Vgl. Wellershoff: Literatur und Lustprinzip (1973), S. 57. Wellershoff spricht hier konkret von „Simulationsräume[n] für ein alternatives Probehandeln mit herabgesetztem Risiko.“

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scheinliche und letztlich Fatale des menschlichen Handels wird innerhalb des freien Raums der Literatur, hier der Science Fiction, durchgespielt. Zugleich werden die Möglichkeiten des Genres und damit auch der spezifischen Darstellungsform ausgelotet. Das vor den Lernprozessen veröffentlichte Theoriewerk Öffentlichkeit und Erfahrung verfehlt, hinsichtlich des politischen Impetus der Kritischen Theorie, Ziele und Forderungen der linksorientierten Studenten nicht, wenn es auch später zur Spaltung zwischen den Vertretern der Kritischen Theorie und den Anhängern der Neuen Linken kommt.155 Vor allem Kluges CoAutor Oskar Negt ist eine der zentralen Figuren innerhalb des Protests um 1968, was die Nähe zur Bewegung unterstreicht. Kluge selbst steht dieser allerdings gespalten gegenüber. Die Verwobenheit seiner künstlerischen Produktionen mit der Kritischen Theorie bringt immer auch politisches Problembewusstsein und Veränderungspotenzial zum Ausdruck, einen Glauben an schnelle Veränderung und Werteumsturz vermitteln seine Texte hingegen nicht. So zeigt sich Kluge auch im Interview als Anhänger linker Ideen – „Ich reihe mich da ein, neben mir Jürgen Habermas und Oskar Negt.“ – mit gleichzeitiger Zurückhaltung, was die 68er-Bewegung betrifft: „Wenn ich mich aber zum Beispiel der Protestbewegung, die ja als links gilt, als Filmemacher oder Autor nähere, wird das kritisch.“156 Die Protagonisten der Lernprozesse liefern ein besonders augenfälliges Beispiel für die Langwierigkeit des Lernens: 122 Jahre sind mehr als ein Menschenleben und doch nicht ausreichend, um aus der (eigenen) Geschichte zu lernen. Auch die industrielle Produktion, die im neuorganisierten Weltraum zur Höchstform aufläuft, geht an der eigentlichen „Langsamkeit der Entwicklung“157, am menschlichen Lebenszyklus vorbei. Davon

155 Lewandowski fasst 1980 zusammen, Öffentlichkeit und Erfahrung sei „bis in seine Struktur hinein von der politischen Situation gegen Ende der 60er, zu Beginn der 70er Jahre abhängig. Das Buch ist Ausdruck der Hoffnungen, die sich mit der Studentenbewegung verbanden, es ist aber zugleich der Versuch, diese Bewegung lebendig zu halten.“ Lewandowski: Alexander Kluge (1980), S. 103. Vgl. hierzu auch Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68 (2011). 156 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 204, 205. 157 Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 351.

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profitiert sie: „Wenn der Widerstand der Leute organisiert ist, sind ihre Produktionsstätten nicht mehr Zentrum, sondern bereits Niemandsland.“158 Kluges Science Fiction-Erprobung in Film und Literatur ist hinsichtlich ihres Zeitpunktes, dem Beginn der 1970er Jahre, nicht überraschend. Auf die persönliche Motivation des Autors wurde hier schon eingegangen. Verschiedene Neuorientierungen und Positionierungen von Schriftstellern hingen mit den Impulsen zusammen, die von der Protestbewegung ausgingen und Literatur und Kunst im Allgemeinen betrafen. Kluges spezifische Situation bedarf aber eines genaueren Blicks: Mit der häufig angemerkten, theoretischen Nähe der Lernprozesse zur Publikation Öffentlichkeit und Erfahrung wird indirekt auch eine Verbindung zur 68er-Bewegung gezogen, es wird aber zunächst kein Bruch kommuniziert. Dabei ist die Beobachtung, dass die Lernprozesse Kluges Theorie in Literatur umsetzen, grundsätzlich nicht falsch, sie klammert aber einen wesentlichen Aspekt aus – nämlich den Bruch, den der Autor mit der Darstellungsform begeht und der ein Missverständnis auszuräumen sucht. Wenn die im Theoriewerk Öffentlichkeit und Erfahrung noch anklingende „Hoffnung auf Veränderung“ in der Erzählung Lernprozesse mit tödlichem Ausgang „keinen Platz“159 mehr hat, dann geht es damit auch um eine Absage an das utopische Denken: „Die Erwartung baldiger Revolution, die die Studentenbewegung beflügelt hatte, ist fern.“160 Kluge hintergeht seine eigene Theorie mit den Lernprozessen keineswegs, aber er distanziert sich hier inhaltlich von dem utopischen Potenzial, das man aus ihr herauslesen möchte. Science Fiction ist in dieser Hinsicht Praxis und Probehandeln vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen. Deren positives Veränderungspotenzial zu beweisen sieht Kluge aber nicht als Aufgabe seiner Erzählung an. Die Organisation des Materials innerhalb der Lernprozesse vermittelt, im Gegensatz zu Öffentlichkeit und Erfahrung, Kluges ganz eigenen, literarischen Umgang mit Theorie im Allgemeinen, mit Kapitalismuskritik, Kritischer Theorie und einer materialistischen Geschichtsauffassung. Das heißt, hier wird insbesondere die skeptische Haltung des Autors angesichts

158 Ebd. 159 Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 168. 160 Ebd.

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menschlichen Lern- und Veränderungspotenzials mit dem Glauben an die Notwendigkeit gesellschaftlicher Wandlungsprozesse vermengt. Dass die literarische Organisation von Material dabei mehr auf die Vermittlung einer Wahrnehmungshaltung denn auf eine gezielte Theorievermittlung hin angelegt ist, ist leicht ersichtlich; als weniger herausfordernd für den Rezipienten gestaltet sie sich hierdurch nicht. Im Gegenteil: Literatur, wie auch Film, appellieren bei Kluge gerade nicht an den Wahrnehmungsweg des geringsten Widerstands. Mit seiner Montagetechnik geht es ihm vor allem darum, das Assoziationspotenzial des Rezipienten herauszufordern. Der Autor selbst beschreibt, es gehe darum, ein erworbenes „Erziehungsbewußtsein“161 außer Kraft zu setzen. In seinem Verständnis ist die Wahrnehmung, die der Mensch typischerweise erwirbt und die das anerzogene Bewusstsein ausmacht, geprägt von einer „Sinnlichkeit des Habens“, von „Wertabstraktionen“ und „Hierarchien“162, mit dem Ergebnis einer „Überproduktion von Werturteilen“ und gleichzeitig „Unterproduktion von unmittelbarer Wahrnehmung.“163 Kluge versucht mit seiner spezifischen Materialorganisation, diese anerzogenen Wahrnehmungseigenschaften durch Brüche, Montagen und die hiermit verbundene Anregung zur Assoziation und nicht-logischen Verknüpfung (vermeintlicher) Haupt- und Nebenhandlungen zu unterlaufen.

3.2 G ELEGENHEITSARBEIT EINER S KLAVIN . Z UR REALISTISCHEN M ETHODE (1975) Kluges Gelegenheitsarbeit einer Sklavin ist die nächste literarische Publikation des Autors nach den Lernprozessen mit tödlichem Ausgang. Allerdings weist sie, im Gegensatz zu den Lernprozessen, ein filmisches Pendant auf, das bereits über die Titelgleichheit auszumachen ist. Der Film Gelegen-

161 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 166. Kluge bezieht sich im Interview vorrangig auf seine Filmarbeit. Das Prinzip der Materialorganisation ist jedoch übertragbar und dürfte allgemein auf den Annahmen zur erlernten Wahrnehmungshaltung basieren. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 176

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heitsarbeit einer Sklavin wird bereits 1973 veröffentlicht. Die gleichnamige Publikation von 1975 enthält unter anderem den entsprechenden SpielfilmEntwurf sowie die Textliste des Films, die aber mit der filmischen Realisierung nicht durchgehend deckungsgleich ist164. Die Hauptfigur, Roswitha Bronski, betreibt eine illegale Abtreibungspraxis und bestreitet hiermit das Haupteinkommen für ihre fünfköpfige Familie. Kluge fasst diese Relation von Privat- und Arbeitsleben in einem denkwürdigen Satz zusammen: „Um sich selbst mehr Kinder leisten zu können, unterhält Roswitha eine Abtreibungspraxis.“165 Die Gemeinsamkeiten mit anderen, bekannten Frauenfiguren Kluges, etwa mit Anita G. (Lebensläufe 1962; Abschied von gestern, 1966) oder Gabi Teichert (Die Patriotin, 1979), sind deutlich erkennbar. Kluges Frauen sind Getriebene, die ihren persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungswillen nicht gegen ein familiäres Idyll eintauschen. Dabei münden Antrieb und Veränderungswille Roswithas nicht selten auch in Übersprunghandlungen166, überfordern die Handelnde selbst, führen vorübergehend oder endgültig in Sackgassen. Die spezifische „Produktionsweise von Frauen“167, auf die Kluge im Rahmen seiner Realismustheorie dezidiert eingeht, steht dabei im Zentrum des Interesses. Weniger gehe es ihm aber um den Geschlechtsunterschied, als vielmehr um „Chiffren unterdrückter Eigenschaften, die auch bei NichtFrauen vorkommen“168, wie Kluge erläutert. Diese „vom unterdrücktesten Punkt in der Gesellschaft her zu untersuchen“ sei völlig legitim.169 Hierbei

164 Vgl. hierzu auch Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen (2005), S. 147. 165 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 144, 180. 166 Vgl. ebd., S. 217. Kluge geht an dieser Stelle, im Rahmen seiner antagonistischen Realismustheorie, auf den sich u. a. durch „Übersprungverhalten“ äußernden „Protest“ gegen die Wirklichkeit ein. 167 Ebd., S. 224. 168 Ebd., S. 223. 169 Ebd. Vgl. auch Kluges Kommentar im Interview mit Ulrich Gregor. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 160, mit dem er auf eine negative „Reaktion der Zeitschrift ,Frauen und Film‘“ eingeht: „Ich finde, es ist kein Zufall, daß dieser Angriff gekommen ist, daß man so einen Konflikt aber aushalten, austragen muß, weil Protest der Grund für Realismus ist. Denn ohne Grund bin ich nicht realistisch.“

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ist sicherlich auch zu bedenken: Mitte der 1970er Jahre ist die Rede von der Unterdrückung der Frauen, trotz Frauenbewegung und beginnender Veränderung in Richtung Gleichberechtigung, noch ganz anders zu bewerten als heute. Die inzwischen selbstverständliche Erwerbstätigkeit von Frauen löste allmählich erst klassische, familiäre Rollenverteilungen ab. Auch in Kluges Text sind traditionelle gesellschaftliche und innerfamiliäre Rollen bereits brüchig und uneindeutig. So implizieren bereits Konstruktion und Konstellation der Figuren, dass Unterdrückung sich nicht notwendig als faktische Abhängigkeit oder offensichtliche Unterwerfung gestaltet. Auch Roswitha ist einerseits eine im heutigen Sinne emanzipierte, in die gewerbliche Produktionsweise integrierte Frauenfigur; tatsächlich besitzt sie sogar finanzielle Autonomie und figuriert als Familienernährerin. Andererseits ist sie, wie schon der Titel ankündigt, Sklavin ihrer häuslichen Umstände sowie der (gefühlten) Defizite ihres Mannes, die sie auszugleichen hat und investiert ihre verbleibende Energie konsequent in Bereiche, deren unmittelbarer Nutzen nicht sichtbar ist und die das private Problem lediglich aus dem Blickfeld rücken: „Die Probleme, die sie lösen muß, liegen zu Hause. Sie bemüht sich aber um die Lösung von Problemen draußen.“170 Um noch einmal auf die Korrelation von Film und Buch zurückzukommen: Die Medienbeziehung bei Kluge entzieht sich bekanntermaßen meist herkömmlichen Kategorisierungen. So lässt sich an Gelegenheitsarbeit einer Sklavin beispielhaft nachvollziehen, dass weder das Konzept Buch zum Film, noch, andersherum, das Konzept der Literaturverfilmung auf Kluges spezifische Publikationspraxis anwendbar ist. Film und Buch sind unmittelbar verknüpft, gleichzeitig kommunizieren sie inhaltliche und formale Eigenständigkeit. Neben der Textliste, mit einem erläuternden Anhang zu Roswithas Programm, sind außerdem zwei weitere SpielfilmEntwürfe enthalten, sowie die Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff171. Letztere stellen den zentralen theoretischen Hintergrund für Kluges spezifische realistische Methode. Sie kann als grundlegend für die Werke der 1970er Jahre verstanden werden und wirkt sich darüber hinaus auf das bisherige, filmische und literarische Gesamtwerk Kluges aus. In welcher Weise der besondere Realismusbegriff des Autors den literarischen

170 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 180. 171 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187–251.

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Organisationsprozess, den Umgang mit den Kategorien Material, Subjekt und Medium bestimmt, wird dabei in den folgenden Kapiteln die leitende Frage sein. Die Möglichkeiten des Literarischen: Realismus als Kritik Die Begriffe Realismus und Realität, sowie die Bestimmung des Realismus als Epoche wie als ästhetisches Verfahren, werden immer wieder der wissenschaftlichen Problematisierung unterzogen.172 Indem Kluge ein eigenes Realismuskonzept vorlegt, setzt er sich zugleich mit einem der „komplexesten Begriffe der Philosophiegeschichte“173 auseinander, der systematisch wie historisch uneinheitlich definiert wird. Die Begriffe Realismus und Realität stiften auch in Kluges Fall zunächst Verwirrung. So stellt sich etwa die Frage, wie viel Realismus die Montagetechnik, die Film und Literatur gleichermaßen prägt, eigentlich beinhaltet; und hieran anschließend: welche Art beziehungsweise welches Verständnis von Realismus sie beinhaltet. Zu beobachten ist zunächst, dass es bei Kluge um eine realistische Darstellung im Sinne eines starken Wirklichkeitseffektes, der den Rezipienten gleichsam in die Fiktion abtauchen lässt, nicht gehen kann.174 Die fiktiven Welten des Films beziehungsweise der Literatur sind als solche erkennbar und sollen es auch für die Dauer des Rezeptionsvorganges bleiben. Neben der offensichtlichen Montage ist hieran auf Seiten des Films vor allem auch der an das Epische Theater Brechts erinnernde, deutlich wahrnehmbare Abstand zwischen Darsteller und Figur beteiligt. Als eine Entsprechung hierzu steht auf Seiten der Literatur die zum Teil inkonsistente Figurenkonstrukti-

172 Vgl. hierzu auch Müller: Die authentische Methode. Alexander Kluges antirealistisches Realismusprojekt. In: Ders.: Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne (2009), S. 97–121. „Realismus / realistisch“ sei als „Grundbegriff der Moderne ein historisch variabler, mehrdeutiger und zugleich selbstreflexiver Begriff, der um die Vorläufigkeit der jeweiligen, allerdings zugleich auch unverzichtbaren Realitätskonstruktionen, -zuschreibungen [wisse].“ (98) 173 Weidhase, Kauffmann: Realismus. In: Burdorf, Fasbender, Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. 3. Auflage (2007), S. 628–630; hier S. 628. 174 Dass dieser Wirklichkeitseffekt nicht unbedingt mit dem Wahrscheinlichkeitsgrad korreliert, stellen vor allem die unter großem technischen Aufwand produzierten Filme der jüngeren Filmgeschichte immer wieder unter Beweis.

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on: So entstehen immer wieder tatsächliche oder vermeintliche Widersprüche zwischen der Figurenbezeichnung, einem potenziellen historischen Vorbild und der Abbildung von Figuren auf historischen Fotografien.175 Einem simplen Identifikationsmechanismus wird also auch hier ein deutlicher Widerstand entgegengesetzt. Zugleich sind die Darstellungsverfahren überaus realistisch, insofern hierunter verstanden werden kann, dass dem alltäglichen Erfahrungsmodus, Wahrnehmungs- und Orientierungsverhalten des Menschen in hohem Maße entsprochen wird: Montagen, Brüche, abrupte Bildwechsel, eine zwischen Text und Bild oszillierende Wahrnehmung, die Ablenkung und das Verharren bei (scheinbar) Nebensächlichem und Nebenhandlungen sind Beispiele hierfür. Diese primär ungeordnete Wahrnehmung wird erst in einem nächsten, reflexiven Schritt geordnet. Bereits verinnerlichte Hierarchien, Einordnungen, Meinungen, Erlerntes mögen hierbei schon in der unmittelbaren Wahrnehmung selektierend wirken oder wiederum neu, verändert aus dem Wahrgenommenen hervorgehen. Kluge spricht, sein eigenes Realismusverständnis betreffend, von einem „antagonistischen Realismusbegriff“176 – einen Antagonismus vermittelt in der Tat bereits dieser oberflächliche Blick auf die Arbeiten des Autors, deren künstlerisches Prinzip sich einerseits zum Realismus hinbewegt, andererseits auch von ihm wegführt, wie die vorangehenden Beispiel deutlich machen. Kluge selbst formuliert hierüber hinausgehend das differenzierte Konzept, die Theorie eines Realismus, dem sich seine Arbeiten zuordnen lassen sollen. Innerhalb dieser Theorie versteht sich Widerspruch als eigentliche Idee, hebt also den Gedanken keineswegs auf. Der Antagonismus, um den es hierbei geht, ist zudem auch ein Effekt des Prozesshaften, Unfer-

175 Beispiele sind etwa die fotografischen Abbildungen der vier Offiziere in Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 272, 273. Die Frage Zwickis „Wie sehen unsere Gesichter wirklich aus?“, S. 281, greift die uneindeutige Setzung des Bildmaterials noch einmal (indirekt) auf; vgl. in Kluge: Neue Geschichten (1978) etwa die in die Erzählung über Gerda Baethe einmontierte Fotografie eines weiblichen Gesichts (55), die Abbildungen „Der Planer“ (70) und „Reporter Kunzert“ (81). 176 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187ff.

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tigen der „Produktivkraft Kino“177, die die Filmemacher des Neuen Deutschen Films sich zu Nutze machen wollten. Darstellungsverfahren und Darstellungsprobleme einer Literatur, die filmische Prinzipien aufgreift, verstehen sich mithin kaum isoliert vom Medium des Films. Was sich an Kluges Texten beobachten lässt, die Gleichzeitigkeit des betont Realistischen und des betont Fiktiven, ist zugleich ein filmisches Prinzip, das die noch unbewältigte Herausforderung der Filmemacher kommuniziert. „Ihre Filme haben nicht die immerhin plausible Illusionswirkung des klassischen Kinos, und sie sind auch nicht wirklich konkret. Sie sind Versuche einer noch nicht entwickelten Produktivkraft, deren Entfaltung eine Umformung der ganzen Kinorealität voraussetzt. Solche Filme wirken zerrissen. Aber wenn der Weg nicht konsequent fortgesetzt wird, dann ist die Filmgeschichte eine Sammlung primitiver Versuche.“178

Der Realismusbegriff, den Kluge für sinnvoll erachtet, hängt unmittelbar mit der Produktion von „Unterscheidungsvermögen“179 zusammen – ein Ausdruck, den der Autor auffallend häufig verwendet und der, bei aller Unterschiedlichkeit, eine besondere Nähe zu Peter Handkes differenziertem Realitätsverständnis vermittelt. Die Autoren eint fraglos die Überzeugung, dass die Erkenntnis von Wirklichkeit sich dem einfachen Blick auf das faktisch Vorhandene entziehen müsse. Das häufig von Kluge angeführte Brecht-Zitat, wonach die Realität „in die Funktionale gerutscht“ sei und „weniger denn je eine einfache ,Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussag[e]“180, thematisiert die hiermit verbundenen Schwierigkeiten. Brechts Beispiel, dass eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG

177 Ebd., S. 208. 178 Ebd., S. 209. 179 Ebd., S. 217. Vgl. etwa auch im Untertitel des Theoriewerkes Negt, Kluge: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen (1992). 180 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 203.

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über diese Institute „beinahe nichts“181 ergebe, ist für Kluge äußerst zustimmungswürdig. Auch Handkes Skepsis gegenüber medialen Wirklichkeitsvermittlungen deckt sich mit Brechts Bemerkung. Doch, wie im folgenden Handke-Kapitel noch zu vertiefen, gibt es einen wesentlichen Unterschied. Da dieser die ästhetischen Positionen hilfreich konturiert, sei er an dieser Stelle bereits angedeutet: Handke begegnet der RealitätsRealismus-Problematik, indem er ins Zentrum seiner Arbeiten die Komplexität des Sprachwirklichen stellt, die sowohl Selbst- als auch Fremdwahrnehmung beeinflusst. Realität lässt sich demnach kaum als reine Faktizität begreifen. Hingegen wendet Kluge sich der Komplexität des real Existenten zu, und sei es auch auf dem Wege ausdrücklicher Fiktion, indem diese die wirklichen Verhältnisse entlang des Möglichen und Wahrscheinlichen antizipiert.182 Kluge hält das Faktische für erzählbar; allerdings nie im Sinne einer großen Erzählung, sondern nur als ein am Subjekt und an der Einzelperspektive ausgerichtetes Spektrum an Erzählungen. Die Vielschichtigkeit des literarischen Realismusbegriffs beziehungsweise eines sich als realistisch begreifenden Erzählens wird bereits an den ihm Rahmen dieser Arbeit behandelten Autoren deutlich. Während Handkes Erzählprinzipien sich von einem literarischen Realismus abgrenzen lassen, ist dies bei Kluge und Brinkmann nicht der Fall. Nicht nur bei Kluge, sondern auch bei Brinkmann taucht der Begriff Realismus zudem dezidiert als ästhetisches Programm auf. Doch mit dem Neuen oder Kölner Realismus183 hat Kluges Realismus kaum etwas gemein. Während ein Vorrang des sinnlich Konkreten vor „Stilisierung, Abstraktion, Projektion“184 auch

181 Ebd. Vgl. mit ähnlichem Wortlaut auch in Kluge: Rede über das eigene Land: Deutschland (1983). In: Ders.: Fontane Kleist Deutschland Büchner (2004), S. 43–72; hier S. 62. 182 Wie auch schon mit den Lebensläufen (1962). Vgl. etwa Reich-Ranicki: Ein neuer Name: Alexander Kluge. Erfundene Tatsachenberichte und verlorene Maßstäbe. In: Die Zeit, Nr. 50 (14.12.1962). URL: http://www.zeit.de/ 1962/ 50/ein-neuer-name-alexander-kluge (Zugriff am 12.05.2013). Reich-Ranicki bezeichnet Kluges eigenwilliges Erzählverfahren als „Methode der um der Wahrheit willen erfundenen Tatsachenberichte und der um der Realität willen fingierten Protokolle“. 183 Vgl. Brinkmann-Kapitel. 184 Wellershoff: Neuer Realismus. In: Die Kiepe, Jg. 13, Nr. 1 (1965).

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bei Kluge zu erkennen ist, ist der zu einer „Inflation der sinnlichen Einzelheiten“185 führende, subjektivistische Fokus hier nicht zu verzeichnen. Gerade in dem Verschnitt, dem Aufeinandertreffen von Perspektiven, von Fremd- und Eigenerfahrung bildet sich offenbar für Kluge der Kern des Realistischen. Dabei ist die Begrenzung auf einen subjektiven, „sinnlich konkreten Erfahrungsausschnitt“186 für den Autor Mittel, nicht Zweck realistischer Darstellung. Details, scheinbar Nebensächliches und (vermeintliche) Nebenhandlungen bilden die poetologische Quintessenz des Realistischen; Kluges Interesse an den wirklichen Verhältnissen geriert sich insgesamt aber weniger als ein detailversessenes, denn als ein globales. Die Differenz zum Schreiben Handkes zeigt sich in diesem Punkt besonders scharf. Zwar erweist sich die Reflexion des Bedeutungsgehaltes von Realität und Realismus sowie sprachlicher Referenzwirklichkeit als elementarer Bestandteil auch der Literatur Handkes. Wie noch zu zeigen sein wird, führt diese Reflexion allerdings zu einer tendenziell wirklichkeitsabgewandten Poetologie, insofern Wirklichkeit als beobachtbare Faktizität (miss)verstanden werden kann. Das Potenzial einer poetischen, adeterministischen Sprache setzt Handke dem in seinem Verständnis vergeblichen Bemühen entgegen, Wirklichkeit in ein alltagsbegriffliches Surrogat zu überführen. Dieses Bemühen hält Kluge keineswegs für vergeblich. Die Gefahr eines Verfehlens von Wirklichkeit, wie der Autor sie etwa im Ideologischen sieht, hat für ihn offenbar mehr mit dem Ausgrenzen von Wirklichkeitsbereichen, denn mit einer Unzulänglichkeit des Symbolsystems Sprache zu tun. Die Empirie einer funktionierenden Verkehrssprache demontiert Kluge ebensowenig wie das Ausdruckspotenzial literarisch-poetischen Sprechens. Der Alternativlosigkeit des verfügbaren Symbolsystems lassen sich, wie Kluges Darstellungspraxis nahelegt, nur die Weite des Blickwinkels, die Inkaufnahme von Versuch und Irrtum sowie die Erprobung neuer kommunikativer Formen entgegensetzen. Dabei bleibt die Produktion von Unterscheidungsvermögen letztlich Aufgabe der Rezeption, das heißt des Lesers und Zuschauers.187 Kluges „jeunesse dorée“188-Kritik an dem von Peter

185 Ebd. 186 Ebd. 187 Für den Film bedeutet dies beispielsweise, dass die „Produktivkraft Kino nur gemeinsam mit den Wahrnehmungskräften der Zuschauer entfaltet werden

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Handke und Wim Wenders produzierten Film Falsche Bewegung (1975) entspricht der hier erkennbaren Konfliktlinie zum Werk des jüngeren Autors. Wenn Kluge mit Blick auf den genannten Film konstatiert, „[k]onsequenter Sensibilismus [sei] scheinbar das Bedürfnis des subjektiven Filmemachers, der die Zeit dafür hat und seinen Kopf lärmfrei hält, d. h. gegen Realerfahrung sperrt“189, schreckt er gerade nicht vor möglicherweise fehlbesetzten Begrifflichkeiten, vor den Gefahren sprachlicher Präskriptionen, zurück. Dies lässt sich als dezidierte, auch sprachliche Abgrenzung werten. Während Kluge radikale, assoziative Subjektivität im Sinne Arno Schmidts als fraglos verteidigungswürdig bezeichnet, extrahiert er aus dem Film Handkes eine intellektuelle „Erfahrungslosigkeit“190, die sich um einen Realismusbegriff gar nicht erst bemühe. „Die sog. Sensibilität ist im schlechten Sinne Intellektualität, d. h. ein Programm von sinnlicher Gleichgültigkeit, die sich dadurch abstützt, daß sie so tut, als wäre sie die Metakritik dieser Kälte. Man kann aber keine Metakritik von etwas betreiben, das gar nicht versucht worden ist. ,Unbestimmte Negation.‘“191

Eine wie auch immer geartete, intellektuelle Abwendung von den hier als „Realerfahrung“192 bezeichneten, wirklichen Verhältnissen, lehnt Kluge

[kann]“. Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 208. Vgl. auch Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge (2009), S. 35ff. Reichmann geht hier noch einmal auf Kluges Forderung einer aktiven, mitwirkenden Rezeption ein, die sich vom reinen Konsumieren absetze. Hiermit stehe Kluge sowohl den Aktivitätsforderungen bei Walter Benjamin und Bertolt Brecht nahe, als er auch auf Beobachtungen Max Horkheimers und Theodor W. Adornos rekurriere, die den Mangel einer solchen Kompetenz in der Dialektik der Aufklärung beklagt hatten. Auch in den frühen filmtheoretischen Essays weist Kluge bereits darauf hin, „daß Film ebenso von der Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft wie von der Phantasie der Autoren abhängig ist.“ Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1145. 188 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 206. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd. 192 Ebd.

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demnach strikt ab. Wobei allerdings zu bedenken ist, dass Kluge selbst im Rahmen von Kritiken und Rezensionen mit Vorwürfen des Intellektualismus, des kalt-distanzierten Erzählens193 konfrontiert worden ist, wenn auch aus einer gänzlich anderen Rezeptionserfahrung heraus. Der von ihm proklamierte Anteil beziehungsweise die Beteiligung des Lesers oder Zuschauers an der Rezeption hat offenbar auch zu Effekten geführt, die seiner Theorie eines realistischen Erzählens genaugenommen widersprechen. Wenn seine Filme und Texte immer wieder Abwehrreaktionen hervorrufen, die ihre Ursache in der Wahrnehmung einer allzu komplexen Intellektualität haben, dann stellt sich zumindest die Frage, ob die gewünschte Hinwendung des Rezipienten zur Realität vorwiegend eintritt. Kluges produktionsästhetischer Ansatz, „nicht Dramaturgie der Schule nach Sollvorschriften, sondern Dramaturgie der Schulpause“194 klingt unangestrengt, resultiert aber keineswegs in ästhetischer Berieselung: Er geht von einem Rezipienten aus, der sich auf eine freie Assoziation einlässt und „Harmonisierungsbedürfnisse“195 abzulegen vermag, ohne jedoch in eine passive Konsumhaltung abzugleiten. Was nach freiem Spiel klingt ist dabei, indem es Seh- und Rezeptionsgewohnheiten beziehungsweise das von Kluge so genannte „Erziehungsbewußtsein“196 unterminiert, immer auch der Gefahr des Misslingens ausgesetzt. Der Selbstabgrenzung von Handke ist dennoch zuzustimmen, sieht man von diesen generellen Schwierigkeiten der Rezeption ab: Kluge geht es weniger um Sprachästhetik oder um das Potenzial des Poetischen, sondern es

193 Vgl. hierzu den Kommentar Hans Magnus Enzensbergers zu Kluges Neuen Geschichten: Ein herzloser Schriftsteller. In: Der Spiegel, Nr. 1 (1978), URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40693842.html (Zugriff am 06.06.2013); Burmeister: Zwei Stimmen aus Deutschland. In: Schulte, Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System (2005), S. 83–92; hier S. 87ff. Burmeister weist auf die „trockene Lakonie“ (87) hin, sowie auf den „manchmal sogar grausam und gefühllos erscheinende[n] Zugriff auf die inhärente Logik dessen, was sich verhängnisvoll vollzieht“ – eine Beobachtung, die allerdings für den „mündlichen Erzähler“ (89) Kluge schon nicht mehr gelte. 194 Ulrich Gregor, Alexander Kluge: Interview. In: Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 174. 195 Ebd., S. 175. 196 Ebd.

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geht ihm im Kern um den kritischen Gehalt des Realistischen und um eine materialistische Ästhetik197, die ihren Ort in der Literatur hat. Voraussetzung einer solchen Ästhetik ist bei Kluge das Ausräumen des latenten Missverständnisses, realistisch sei die neutrale Wahrnehmung oder Darstellung einer „gegenständliche[n] Situation“198. „Die klassische Beschreibung der realistischen Methode“ beginnt Kluge entsprechend mit einem Marx-Zitat aus der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie.199 Dessen Inhalt ist die dem vermeintlich unmittelbar beobachtbaren „Realen und Konkreten“200 inhärente, abstrakte Komplexität, die Marx am Beispiel des Begriffes Bevölkerung darlegt. Die vordergründig als Konkretum innerhalb ökonomischer Theorien erscheinende „Bevölkerung“ sei letztlich „Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“201, deren abstrakte Genese zunächst nachverfolgt werden müsse. Kluge bringt weitere Begriffs-Beispiele, wie „Familie“ als „Kernzelle der Abstraktion“ und „Zirkus“ als „eine der abstraktesten Darstellungen der Ideale der Französischen Revolution“202. Realismus bedeutet für Kluge, so legen die Beispiele nahe, auch Sichtbarkeit von Geschichtlichkeit: So ist etwa eine Liebesszene nur dann im eigentlichen Sinne realistisch, wenn sie „die gesamte vorangegangene Erfahrung, auch die durch Verhütung ausgesparte, auch die der Voreltern und die aller fremder Liebesszenen“203 gegenwärtig macht. Dies gestaltet sich als Konflikt. Ideologisch wird die Liebesszene sowohl, indem man sie isoliert, das heißt als reine Gegenwart, darstellt, als auch, indem man ihr alle Illusion austreibt und sie damit verunmöglicht, wie Kluge beschreibt. Nimmt man diese Erläuterungen ernst, dann kann Kluge als Autor eines nicht im Sinn haben: einen subjektivistischen Wirklichkeitszugriff, der Ge-

197 Vgl. allgemein Leschke: Einführung in die Medientheorie (2007), S. 166ff; sowie genauer zu Kluges Theorie einer materialistischen Ästhetik Müller: Die authentische Methode. In: Ders.: Gegengifte (2009), S. 97–121. 198 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 218. 199 Ebd., S. 206, 207. 200 Ebd., S. 206 201 Ebd., S. 207. 202 Ebd., S. 213. 203 Ebd., S. 215.

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schichtlichkeit ausspart und die Dinge nimmt, wie sie erscheinen. Was seine Texte hingegen immer wieder vorführen, besonders eindringlich die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, sind Existenz und Wahrscheinlichkeit eines solchen, subjektiv-individuellen Zugriffes auf Wirklichkeit – entsprechend dem antagonistischen Konzept, wonach eine realistische Darstellung erst dann realistisch ist, wenn sie ihren eigenen Antirealismus204 miteinschließt. „Antagonistisch ist also nicht nur die Realität als Gegenstand, sondern auch jede menschliche Verarbeitungsweise dieser Realität, gleich, ob sie innerhalb der Realzusammenhänge sich abarbeitet, oder ob sie sich über die Sache stellt. Das, was das Realistische daran ist, der Antirealismus des Motivs (Protests, Widerstands), produziert das Unrealistische daran.“205

Auf den illusorischen Charakter von Realismus, auf die Gleichzeitigkeit des wirklichen und unwirklichen Anteils der Realität206, legt Kluge einen besonderen Schwerpunkt. Im Anschluss hieran fasst er den Protest207 als Motiv für Realismus. Die Protestform beziehungsweise den Realismus der „Nachahmung“ bezeichnet der Autor dabei als „am wenigsten schlimm“208 – hierbei verliere die Aussage lediglich an Klarheit. Während diese Formulierung noch eher an die Wahl des kleineren Übels erinnert, wertet Kluge wenige Seiten später dieselbe „Methode der Nachahmung sowie die Untersuchung aller Ausweichbewegungen des menschlichen subjektiven Apparates“ zu einem „hervorragende[n] Rohstoff“209 auf, der die gesamte indivi-

204 Vgl. hierzu auch Stollmann: Realismus / Antirealismus der Gefühle. In: Ders.: Alexander Kluge zur Einführung (1998), S. 29–42. 205 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 217. 206 Vgl. ebd., S. 215. 207 Vgl. ebd., S. 216, 217: „Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest.“ Dieser drücke sich „verschiedenartig“ aus: als „radikale Nachahmung“, als „Ausweichen vor dem Druck der Realität“, als „Angriff“ oder (schlimmstenfalls) als „gewaltsame Richtigstellung des verdrehten Verhältnisses zu den Dingen.“ 208 Ebd., S. 217. 209 Ebd., S. 221.

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duelle wie kollektive geschichtliche Erfahrung in sich aufzunehmen vermöge. Die von Kluge selbst thematisierte Unfertigkeit und Prozesshaftigkeit der eigenen Methode drückt sich, wie hieran zu erkennen, auch in den Unsicherheiten ihrer Beschreibung noch aus. Durchgehend unmissverständlich ist hingegen die Negativschablone zu dem von Kluge proklamierten Realismus: die gewaltsame, rationalistische Richtigstellung von Wirklichkeit, die sowohl die natürlichen Reaktionen des Bewusstseinsapparates als auch den gesamten Erfahrungsrohstoff unterdrücke.210 Die tatsächliche Wahrnehmung und Beschaffenheit von Wirklichkeit falle hierbei dem Wunsch nach „Klarheit“ und „Frontgenauigkeit“211 zum Opfer. Die Ansprüche an eine realistische Methode, die Kluge hier als Theorie formuliert, lassen sich in den literarischen Texten wie in den Filmen fraglos als Praxis wiederfinden. Die Vielschichtigkeit von Wirklichkeit, von Perspektiven und Handlungssträngen erhält unter anderem in der Montagetechnik, in der intermedialen Produktionsweise und in kleinschrittigen Erzählsequenzen einen Ausdruck. Das dabei entstehende, offene Netzwerk von Erfahrungen wurde schon mehrfach angesprochen. Erst durch dieses sieht Kluge die Möglichkeit einer nachahmenden Vermittlung von Wirklichkeit gegeben. Der oben genannte, materialistische Aspekt dieser Ästhetik soll an dieser Stelle noch einmal aufgegriffen werden. Er wird von Kluge selbst immer wieder erwähnt212 und klingt darüber hinaus sowohl in den MarxZitaten, in der Kritik an ideologischen Weltzugängen, als auch im „autonomen Realismus“ der „lebendige[n] Arbeit“213 und im „selbstgefesselten kritischen Bewußtsein“214 an. Materialismus wird zwar als linke Politik215 bezeichnet, nicht aber im Sinne eines politischen Programms aufgearbeitet. Als ein solches will Kluge die materialistische Ästhetik offenbar auch nicht verstanden wissen, zu sehr ist sie verwoben mit dem auch künstlerischen Prinzip der realistischen Methode, der kritischen Nachahmung von Reali-

210 Vgl. ebd. S. 217, 220, 221. 211 Ebd., S. 217. 212 Vgl. ebd., S. 191, 197, 247f. 213 Ebd., S. 208. 214 Ebd., S. 197. 215 Vgl. ebd., S. 249.

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tätsrohstoff. Sie ist, so wäre Kluges Position zu deuten, politisch im Sinne einer kritischen, nicht aber im Sinne einer idealistischen oder ideologischen Haltung. Die Beobachtung der Produktions- und Warengesetze und ihres Einflusses auf die unmittelbare individuelle oder gesellschaftliche Erfahrung lässt sich einerseits als Ergebnis einer materialistischen Geschichtsauffassung deuten, anderseits kommuniziert sie die allgemeine Notwendigkeit der kritisch-differenzierten Beobachtung von Realität, um die es Kluge geht: so ist etwa auch eine Liebesgeschichte alles andere als ein rein intersubjektiver Prozess. „Tatsächlich bestimmen nicht Menschen das Geschehen, sondern die Sachgesetze der Warenproduktion und der Geschichte. Die menschliche ,Handlung‘ wird von diesen objektiven Bewegungen im günstigsten Fall hinterhergezogen, viel häufiger: sie wird zerschnitten, unterbrochen. Einer hat im Frühherbst 1939 gerade angefangen sich zu verlieben. Jetzt wird er zum Polenfeldzug eingezogen, kehrt 1952 einbeinig zurück. Diese Liebesgeschichte ist nicht von ihm bestimmt.“216

Die Produktion von Unterscheidungsvermögen, die der Autor anstrebt, schließt die Erkenntnis eines realistischen Motivs mit ein, den Umstand, dass „Tatsachen und Wünsche“217, Wille und Wirklichkeit immer Verbindungen innerhalb des menschlichen Wahrnehmungsapparates eingehen. Keineswegs nimmt sich der Autor hiervon aus. Vielmehr kommentiert er den eigenen Produktionsprozess an anderer Stelle folgendermaßen: „Sachlich daran ist gar nichts.“ Es gebe „keinen reinen Rohstoff, es sind immer schon menschliche Anteile, die etwas bearbeitet haben, daraus entsteht die idée fixe.“218 Kluge unternimmt mit seinen Arbeiten den Versuch, diese Erfahrung in die eigene Produktion konstruktiv einzubringen. Dass dies nicht

216 Ebd., S. 204. 217 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 194f, wo Kluge auf die „Rebellion des Willens gegen die Wahrnehmung“ eingeht. 218 Kluge: Stichwort: Rohstoff (1979). In: Ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. (2011), S. 125. Vgl. auch Müller: Die authentische Methode. In: Ders.: Gegengifte (2009), S. 103: „Kluge [begreift] sein antirealistisches Realismusprojekt als geschichtlich, variabel, irrtumsbehaftet, in das Spiel von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, von Realismus, Antirealismus und dem Unrealistischen selbst verstrickt“.

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immer gelingt, hängt wesentlich mit dem angesprochenen Komplexitätsgrad des künstlerischen Ergebnisses zusammen. Insbesondere die charakteristische Verknüpfung von Dokumentar- und Spielfilmmaterial beziehungsweise literarischer Fiktion und Dokument ist eine Herausforderung von Differenzierungsleistungen, ergo Unterscheidungsvermögen219 des Rezipienten: Was ist wirklich und was fiktiv? Wird Wirklichkeit dargeboten oder inszeniert, werden falsche Fährten gelegt? Wo ist der politische Impetus? Der interessierte Leser oder Zuschauer kommt kaum umhin, sich mit derlei Fragen auseinanderzusetzen. Er ist mehr oder weniger gezwungen, Kluges Ansicht, es gebe immer ein Motiv für Realismus, sowohl auf sich selbst als auch auf den Autor kritisch zu beziehen. Der in Kluges antagonistischem Realismuskonzept enthaltene, aufklärerische Gedanke ist kaum zu übersehen: In seiner Ansicht befähigt erst die Erkenntnis der „Komplexitätsgrade der Realität“220 zur produktiven Auseinandersetzung mit dem Gegebenen, zur Erzählung einer „Gegengeschichte“221 und damit auch zur Produktion von Kunst. Organisation II: Materialfülle, Sinnlichkeit und Theorie Die theoretische Auseinandersetzung mit dem kritischen Potenzial einer realistischen Methode führt schon zu der Frage hin, wie sich dieses Potenzial konkret im Medium realisiert. Beinhaltet Kluges realistische Methode eine spezifische mediale Organisation und wenn ja, welche? Da in dieser Untersuchung die Literatur – nicht die Filmarbeit – des Autors im Fokus steht, ist es auch besonders aufschlussreich, nach der Motivation für eine literarische Ausdrucksform zu fragen: Welches organisatorische Potenzial bietet Sprache als Medium, wenn es um den Ausdruck komplexer Wirklichkeit geht?

219 Müller: Die authentische Methode. In: Ders.: Gegengifte (2009), S. 100, bezeichnet das von Kluge geforderte Unterscheidungsvermögen auch als „Emanzipationsmovens“ und damit im weiteren Sinne als Grundlage, anhand der eigenen Differenzierungsleistungen Entscheidungen und Bewertungen treffen zu können. 220 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 222. 221 Ebd.

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Zunächst ist augenfällig, dass Kluges Arbeiten auf einer besonderen Materialfülle basieren. Es geht offenbar nicht um die Abkürzung der wirklichen Verhältnisse oder um ein Weglassen des Nebensächlichen, sondern dezidiert um die Vermittlung von Komplexität und perspektivischer Vielfalt. Tatsächlich kann es notwendig werden, „große Massen von unerträglicher oder lachhafter Realität“ zusammenzutragen, um die „Fähigkeit eines geduldigen komplexen Wahrnehmens“222 wirksam werden zu lassen, wie Kluge erläutert. Den Anspruch, die rationalistische Verkürzung des Gegebenen auch dort zu vermeiden, wo der Wille gegen die Wahrnehmung rebelliert223, nimmt Kluge ernst. Welche Funktion hierbei die Montage erfüllt, wird im Folgenden genauer beleuchtet. Das oben genannte Zitat bezieht sich auf den Film; doch was hier postuliert wird, lässt sich ganz ähnlich am Text beobachten: Innerhalb des Buches Gelegenheitsarbeit einer Sklavin belegen schon die mit aufgenommenen Spielfilm-Entwürfe und das Kapitel „Abweichung vom Drehbuch“224, dass der Autor über ein entsprechend großes Materialangebot verfügt. Der gleichnamige Film, dessen Entwurf und Textliste hier abgedruckt sind, stellt fraglos eine Selektion von Material dar. Diese Selektion wird bereits thematisiert durch die Aufnahme des nicht filmisch realisierten, aber offenbar für Kluge nicht weniger relevanten Materials225, das beinahe zwei Drittel der Publikation ausmacht. Die Eigenständigkeit des literarischen Werkes wird zudem deutlich; um die Zwänge des filmischen Produktionsprozesses schert es sich bewusst nicht. Unter anderem um die „Sinnlichkeit des Zusammenhanges“226 geht es Kluge innerhalb des Theorieteils, der Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. Versteht man Kluges Texte als sprachliche Realisation

222 Ebd., S. 195. 223 Vgl. ebd., S. 194f. 224 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 10ff. 225 Ein Verfahren, das auch in anderen Film-Buch-Produktionen, wie der Patriotin (1979), zum Tragen kommt. Vgl. zu einem weiteren Beispiel auch Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung (1998), S. 30, der die Liste des Unverfilmten in Kluges Bestandsaufnahme: Utopie Film (1983) herausgreift als „Mängelliste dessen, was hätte verfilmt werden müssen“. 226 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 212.

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von Zusammenhang, dann stellt sich die Frage: Warum und auf welche Weise bewerkstelligt Literatur, die schließlich ohne Abstraktion nicht auskommt, in gelingender Weise den Zusammenhang? Wenn Kluge in seinem filmtheoretischen Essay Die Utopie Film (1964) das besondere Vermögen des Films erörtert, dann erfährt die sprachliche Darstellung dabei eine ernstzunehmende Kritik. Zwar hebt Kluge die über Jahrtausende ausgeprägte Tradition der Sprache hervor, die in ihren Verkürzungen und Metaphern der Filmsprache (noch) weit überlegen sei.227 Dennoch darf die negative Komponente an dieser Stelle nicht übersehen werden: Die Sprache sei traditionell gewöhnt, zu „harmonisieren“ und besetze ein „mittlere[s] Niveau zwischen Konkretion und Abstraktion“, das „breite Teile der Wirklichkeit abprallen“228 lasse. Gerade aber um diese Wirklichkeit, um die glaubhafte Kommunikation ihrer Komplexität, geht es Kluge. So ist davon auszugehen, dass die spezifische Vernetzung und Verbindung literarischer und filmischer Symbolsysteme, die Kluge praktiziert und die zu den augenfälligsten Charakteristiken des Werkes gehört, einen Mangel auf beiden Seiten ausgleicht. Nicht nur hat der Film seine sprachliche Fixierung und den gegenüber der Literatur bestehenden Traditionsmangel anzuerkennen, sondern auch die Literatur kann von den filmischen Darstellungskonventionen profitieren, indem sie vor allem Bildlichkeit und Montageprinzip übernimmt. Die Theorie eines antagonistischen Realismuskonzeptes formuliert Kluge Mitte der 1970er Jahre. Was diese Theorie für den medialen Organisationsprozess innerhalb der Literatur bedeutet, konkretisiert sich daher auch erst mit den späteren Arbeiten dieses Jahrzehnts: Auf dem Wege der Montage wird erst die Kommunikation einer komplexen Wirklichkeit möglich, die der Autor mit seiner Theorie eines antagonistischen Realismus im Sinn hat. Auch die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973) der frühen siebziger Jahre kombinieren Text- und Bildmaterial, doch das Vollbild des Montageprinzips stellen sie noch nicht aus. Bilder sind hier tendenziell „Illustrationen“ und überwiegend „so in den Text montiert, daß sie eindeutig zugeordnet werden können“229, wie die folgenden beiden Abbildungen beispielhaft zeigen.

227 Vgl. genauer Einleitung zu diesem Kapitel. 228 Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1145. 229 Bosse: Formen literarischer Darstellung von Geschichte (1989), S. 174.

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Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 272, 273.

Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 316, 317.

Erst mit den Neuen Geschichten (1977) steigert sich die Komplexität der Text-Bild-Kombination. Steigerung der Komplexität bedeutet in diesem Fall allerdings nicht, wie etwa überwiegend in den Collagen Brinkmanns, dass die Unübersichtlichkeit der bildlichen Reize zunimmt. Vielmehr verliert die Text-Bild-Korrelation an Eindeutigkeit, beispielsweise durch den

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Verzicht auf Bildbeschriftungen. Somit verschiebt sich auch die Rezeptionsanforderung, und zwar dahingehend, dass hier die potenzielle Eigenständigkeit von Text und Bild anerkannt werden muss. Die folgenden beiden Abbildungen zeigen beispielhaft, was hiermit gemeint ist.

Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 340, 341.

Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 480, 481.

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In der Patriotin (1979) ist dann eine durchgehende Montagetechnik erkennbar, die die Text-Bild-Beziehung noch weiter auflöst: Häufig wird hier auf die gewohnten Abbildungsunterschriften verzichtet; das Bildmaterial besteht zunehmend auch aus Text-Bildern, das heißt Text wird als Bild gerahmt, ausgeschnitten, hervorgehoben. Hierdurch wird die Bildlichkeit der Sprache als Schrift akzentuiert, ihre Form und materiale Beschaffenheit ausgestellt. Nicht nur hinsichtlich der kommunikativen Aufgaben, sondern auch in ihrer Materialität, so suggerieren die Bilder, ist die Schriftsprache störungsanfällig und unbeständig: Sie kann verwackelt, unscharf, abgeschnitten sein.230 Die Materialität zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Variabilität: Erscheinungsbild, Form und allgemeine Beschaffenheit der geschriebenen Sprache sind veränderlich, wenn auch der Sinn unverändert bleibt. In Kluges Buch taucht sie in wechselnder Typografie, als Majuskelschrift231, als Fett- oder Negativdruck232 (weiße Schrift auf schwarzem Grund) auf; sowie in wechselnden Genres, etwa in Form von Briefen233, Zeitungsausschnitten234 oder auch handschriftlichen Notizen235 auf. Sie ist auf dieser Ebene weniger abstrakt als vielmehr konkret, als Anschauungsmaterial, in der menschlichen Alltagserfahrung präsent. Schriftsprache ist immer auch ein Konkretum, doch als solches wird sie, aufgrund ihrer primären Funktion als Symbolsystem, kaum wahrgenommen. So ist Kluges Umgang mit Sprache hier auch als Vergegenwärtigung ihrer Materialität zu deuten. Dass diese Materialität brüchig sein kann, führt besonders eindringlich ein mehrmals abgedrucktes Textfeld vor Augen: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Dieses Wort ist bezeichnenderweise „Deutschland“236. Besonders im Buch Die Patriotin, das unter anderem den Umgang mit der deutschen Geschichte sowie deren Vermittlung zum Thema hat, wird „Deutschland“ hiermit zum denkwürdigen Wort. Kluge führt das Wort als materiales Konkretum vor und zeigt damit einmal mehr auf, wie wenig es als solches auszusagen vermag. Was Kluge mit dem Marx-

230 Vgl. bspw. Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 (1980), S. 114, 129. 231 Vgl. ebd., z. B. S. 128, 165. 232 Vgl. ebd., z. B. S. 28, 29; S. 300, 301. 233 Vgl. ebd., z. B. S. 264, 272. 234 Vgl. ebd., z. B. S. 262, 266, 324, 420, 455. 235 Vgl. ebd., S. 91. 236 s. folgende Abbildung 6.

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Zitat in den Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff schon im Sinn hat, läuft hier unübersehbar mit; dass nämlich ein Begriff mitunter als „Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“237 erst verstehbar wird. Das heißt, erst in der Anerkennung und im Wissen um die Geschichtlichkeit des Aktuellen erschließt sich der Zusammenhang und wird ein Verstehen möglich.

Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 (1980), S. 164, 165.

Auffallend ist auch die maximale Annäherung bildlicher und sprachlicher Darstellung. So erinnert etwa die oben abgebildete Negativschrift an den Negativfilm in der Fotografie. Auch benutzt Kluge im Film ganz ähnliche Mittel, wie etwa die Unterbrechung der bewegten Bilder durch Einblendung von Text in Form kurzer, überschriftenähnlicher Sätze oder aphoristischer Bemerkungen, die sich als Kommentare zum Geschehen lesen lassen. Im Buch entsteht durch die Abbildung von Kodak Safety-Filmen und Filmbändern mit Tonspur, die wie über das Buch gelegt wirken238, eine enge Koppelung von Film beziehungsweise Fotografie und Literatur. In Die Pat-

237 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 206, 207. 238 Vgl. in dichter Folge z. B. auf S. 50–73.

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riotin wird Film erkennbar als Synthese von Einzelbildern, deren Erinnerungsqualität das Buch zudem durch Wiederholung vergegenwärtigt.239

Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6 (1980), S. 72, 73.

Die Kommunikation einer komplexen Wirklichkeit und einer entsprechend komplexen, menschlichen Wahrnehmung derselben scheint für Kluge vor allem mit der Montage möglich zu werden. Die Beeinflussung durch Brechts Realitätsverständnis wurde hier mehrfach angesprochen – Bernd Stiegler gilt Kluges Arbeit geradezu „als Versuch, Brechts Einsicht montagepraktisch wie -theoretisch umzusetzen.“240 Die „Ästhetik der Montage“ konzentriere sich „auf die Materialien, die in der Summe der vorgeführten Fragmente ein Ganzes erahnen lassen“241, wie Christoph Zeller, mit der nötigen Vorsicht, feststellt. Der Anspruch, aus der vorhandenen Materialmasse des Wirklichen nichts herauszukürzen, was ihr immanent ist, stellt den Autor vor die Herausforderung, diese Masse auch ästhetisch bewältigen zu

239 Vgl. ebd., z. B. großformatige Wiederholung einer Abbildung (Männergesicht in Nahaufnahme) auf S. 268, die sich bereits auf dem Bildmaterial S. 51, 61 befindet. 240 Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik (2009), S. 253. 241 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 132.

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können. In einem Interview gibt er zu bedenken, es sei „ein Fehler, wenn man nur Material häuf[e]“, man brauche hierzu eine „Gegenbewegung, eine Verdichtung“242 und müsse „schreibend reduzieren“243. Die Verdichtung geschieht in seinen Arbeiten vorrangig auf dem Wege der Montage, des Verschnitts von Text und Bild. Die Sprünge der Wahrnehmung, die Facetten denkbarer Perspektivierungen wären in einer konventionellen, linearen Erzählung nicht in vergleichbarer Weise darzustellen beziehungsweise wären sie innerhalb einer solchen wiederum in die Konstruktion eines durchgängigen Plots einzubauen. Kluge erzählt zwar durchaus mit seinen Textsequenzen, doch nicht im üblichen Spannungsbogen. Auch Christian Schulte vertritt die Position, Kluge montiere, um „Erfahrungszusammenhänge zu integrieren“, die innerhalb der gewohnten „syntagmatischen Ordnungen des linearen Diskurses bzw. Erzählens“244 keinen Ort hätten. Dem Autor gehe es offenbar darum, „die syntagmatische Logik und ihre Eindeutigkeit zu durchkreuzen, sie zugunsten einer komplexeren Wahrnehmung durchlässig zu machen. […] Die Montage verleiht seinen Arbeiten ihre spezifische (A-)Grammatik“245. Das erzählerische Gleichgewicht, das Kluge dabei anstrebt, wirkt darüber hinaus im Idealfall einer Verkürzung entgegen, da der Fokus dort ist, wo man ihn nicht erwartet oder wo er, in der historischen Perspektive, aus verschiedensten Gründen nicht primär gesetzt worden ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang etwa Kluges Standpunkt zur Erzählbarkeit des deutschen Luftkrieges und zur Bedeutung der „Proportionen bei [s]einer literarischen Arbeit“246, der an anderer Stelle schon angesprochen wurde. Hierbei macht der Autor deutlich, dass das Gleichgewicht ausschlaggebend für sein Erzählprinzip sei, so etwa Luftkriegserzählung und Bericht über ein Konzentrationslager für ihn im selben Buch vorhanden sein müssten.

242 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 207. 243 Ebd., S. 208. 244 Schulte: Cross-Mapping. In: Ders., Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System (2005), S. 224. 245 Ebd. 246 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 204, 205..

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Das Potenzial der Montage ist für Kluge, um auf das in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin ausformulierte Realismuskonzept zurückzukommen, eine Materialorganisation, die nicht gewaltsam richtigstellt247, sondern Sinn- und Deutungsangebote bereitstellt. Auch den Begriff des Zusammenhangs hält der Autor, im Hinblick auf die Organisation von Material, für klärungsbedürftig: Von einer „Gewalt des Zusammenhangs“, die sich als „Gegenpol der Aufklärung“ verstehe, distanziert er sich unmissverständlich; es gehe vielmehr um den unsystematischen, unwillkürlichen oder auch nur geahnten Zusammenhang im Sinne eines Rhizoms oder Netzwerkes.248 Gewaltsam richtigstellen will Kluge, nach eigenem Bekunden, auch als Theoretiker nicht. Der Autor Kluge und der linke Theoretiker Kluge – diese Konstellation vermag, bei aller Differenziertheit, eine Systematik zu suggerieren, gegen die der Autor sich entschieden verwehrt. „Was das Medium Film betrifft, habe ich zum Beispiel die Anfangsgründe der Montage an Sergei Eisensteins Arbeiten erlernt. Eisenstein verwendet die Montage, um große rhetorische Zusammenhänge herzustellen. Die Montage vertieft die Überredungskunst. Das ist offensichtlich das Gegenteil von dem, was mich als Autor lebenslänglich interessiert hat. Ich vertrete (gelegentlich auf Kosten der leichteren Verständlichkeit) einen strikt anti-rhetorischen, nicht-überredenden Standpunkt. Die einzelnen Phänomene, die sich beobachten und beschreiben lassen, sollen gerade ihr Eigenleben behalten. Sie sind primär und von sich aus nicht Instrument eines übergeordneten Sinnzusammenhangs.“249

247 Vgl. Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 217, 220f. 248 Vgl. Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-BöllPreis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 38. Was dabei nicht übersehen werden sollte: Eine Zurücknahme der Autorposition beziehungsweise des Autorsubjektes bedeutet dies nicht, wie noch genauer zu untersuchen sein wird. Mit nahezu durchgehender Kommentierung und Fußnotierung bringt der Autor sich ins Spiel und lenkt immer wieder den Blick in bestimmte Richtungen, ergänzt möglicherweise Unklares. Dieses Verfahren beinhaltet immer auch eine graduelle Einordnung von Wahrnehmung, von Relevanz und Prioritäten. 249 Ebd., S. 25.

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„Es ist also offensichtlich, dass ich Montage in meinen Texten oder Filmen weder dazu gebrauche, Zusammenhänge zu verstärken, noch, um etwas rednerisch zu verkaufen. Die Montage ist vielmehr Ausdruck der Autonomie dessen, was ich beschreibe, der Versuch, etwas schwer Verständliches in seinem Eigenleben zu erhalten; die Liebe zu diesem Eigenleben ist das kommunikative Vehikel.“250

Das Montageprinzip lässt sich bei Kluge als die künstlerisch-ästhetische Praxis zur Theorie eines antagonistischen Realismusbegriffs verstehen. Diese Theorie verortet den kritischen Impuls des Realistischen in der anvisierten Herausbildung von Unterscheidungsvermögen. Deutlich ist, dass das Montageprinzip nicht nur innerhalb der Filme eine Rolle spielt, sondern ebenso der Literatur Kluges inhärent ist und hier eine wesentliche organisatorische Funktion erfüllt. „Spricht man über Montage bei Alexander Kluge, so mag man vielleicht vor allem an seine Filme denken. Montage ist jedoch weitaus mehr als ein filmisches Mittel. Sie ist ein ästhetisches, theoretisches und epistemologisches Prinzip. Sie ist eine Kunst der Analyse und Synthese, eine geschichts- und gesellschaftstheoretische Strategie, ein epiphantisches [sic] Verfahren einer strikt materialen Metaphysik und eine Kunst des Zusammenhangs. Es gibt keinen Text Kluges, der nicht mit ihr arbeiten würde, Filme von ihm ohnehin nicht und selbst in Interviews (eigenen wie fremden) spielt sie eine zentrale Rolle.“251

Wenn Kluge in der Patriotin bekundet, die Montage sei „in der Filmgeschichte ,die Formenwelt des Zusammenhangs‘“, die sich ergänzen lasse um den „Scheingegensatz von Dokumentation und Inszenierung“252, dann wird wiederum deutlich, wie eng filmische und literarische Darstellung hier beieinanderliegen: Für die literarischen Texte des Autors lässt sich Vergleichbares feststellen. Der Unterschied zwischen Film und Literatur ist dennoch, selbst bei Kluges intermedialer Arbeitsweise, nicht von der Hand zu weisen und um

250 Ebd., S. 26. 251 Stiegler: Die Realität ist nicht genug. Alexander Kluges praktische Theorie und theoretische Praxis der Montage. In: Text + Kritik, Neufassung H. 85/86 (2011), S. 52–58; hier S. 52. 252 Kluge: Die Patriotin (1979), S. 41.

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die Unterschlagung eines solchen Unterschiedes ging es dem Autor auch nie.253 Die zu Beginn des Kapitels formulierte Frage nach der spezifischen Motivation für eine literarische Darstellungsform beantwortet sich aus der Gesamtbetrachtung von Textpraxis und theoretischen Positionen. Als Anwendungsgebiet der erläuterten Montageästhetik ist Literatur zwar adäquates Medium, aber die Montage ist bei Kluge – wie mehrmals betont – ein gleichermaßen filmisches wie literarisches Mittel der Organisation. Wiederholt hat Kluge, unter Verweis auf Benjamin, darauf hingewiesen, dass der Film „nach dem Prinzip der Aufmerksamkeit ohne Anspannung“254 verfahre, was im Wesentlichen bedeute, dass der Zuschauer „zerstreut“ sei: „Dieses Verfahren erlaubt den Ablauf in Assoziationen, es erfordert bildliche Zeitsprünge und läßt gedankliche Logiksprünge zu.“255 Demgegenüber bewirke die literarische Form der Sprache, die zugleich als Kommentar im Film auftauchen kann, eine „Aktivierung“256 des Rezipienten, der mit der Sprache etwas machen und sie gegebenenfalls in Beziehung zu Bild und Ton setzen muss. Insgesamt deuten die theoretischen Positionen Kluges darauf hin, dass es – negativ formuliert – Mängel auf beiden Seiten, in Film und Literatur gibt, deren angestrebter Ausgleich die intermediale Arbeitsweise des Autors in besonderer Weise kennzeichnet: Um eine Aktivierung des Rezipienten geht es dabei immer, sowohl den Film, als auch die Literatur betreffend. Ebenso geht es in beiden Medien zugleich darum, die Aktivierung erlernter oder anerzogener Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster herunterzufahren und sich auf eine mehr assoziative Rezeption einzulassen. Diese erlaubt unter anderem: Querlesen, partielles Lesen, gedankliche Sprünge. Hierbei wird erkennbar, dass Kluge Sprache auf ein Potenzial hin nutzt, das offenbar nicht traditionell mit ihr verknüpft ist: „Sprachlich ist es in gewisser Hinsicht ein Durcheinander, liest man nicht-sprachlich, ist es unser Alltag.“257

253 Vgl. ausführlicher Einleitung zu diesem Kapitel. 254 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1017. 255 Ebd. 256 Ebd., S. 1024. 257 Kluge: Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6. Vorwort (1980).

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Das eher traditionelle Potenzial des Literarischen lässt sich bei Kluge einerseits ableiten aus der theoretischen Gegenüberstellung sprachlichliterarischer und bildlich-filmischer Ausdruckspotenziale258, andererseits aus der produzierten Literatur selbst: Vor allem das Buch Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode bedient sich eines Darstellungsspektrums, das der Film üblicherweise nicht einlösen kann. Hierzu gehören Erläuterungen zu den Abweichungen vom Drehbuch und zu filmpolitischen Zwängen259, zu dem von Roswitha verkörperten „Programm“260, Aufnahmen weiterer Film-Entwürfe, deren Zusammenhang mit dem Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin so gleichzeitig zur Disposition gestellt wird. Zuletzt ein theoretischer Apparat, die Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff, die zugleich wieder in Beziehung gesetzt werden können zu den im selben Band vorliegenden Filmentwürfen. Literatur als Medium leistet diese Form der Material-Organisation in besonderer Weise. Sie ermöglicht zudem die Rekonstruktion ihrer eigenen Ordnung, insbesondere durch Relektüre, intra- und intertextuelle Verweise (Netzwerk), Überprüfbarkeit, Vor- und Rückblenden innerhalb des Textes sowie zwischen Kommentar und erzähltem Zusammenhang, zwischen Fließtext und Fußnote. Kluge nutzt primär diese der Literatur immanenten

258 Vgl. vor allem die bereits mehrfach zitierten filmtheoretischen Aufsätze: Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1135–1146; Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1015–1030. 259 Vgl. Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 19, 20. Kluge weist hier auf die Notwendigkeit der Abweichung hin. Es gehe „um einen zusammenhängenden Aspekt, lediglich die Schwerpunkte und Perspektiven erscheinen verschieden.“ Das Thema wäre eigentlich erst verfilmt durch mehrere „abendfüllende Filme“, wobei Produktionsmittel lediglich für einen Film zur Verfügung gestanden hätten. Hintergrund dieser Argumentation ist die seinerzeit an Kluge gestellte Forderung, die Drehbuchprämie wegen Abweichung vom Drehbuch an das Bundesministerium des Innern zurückzuzahlen. Nach Protesten in Öffentlichkeit und Presse wurde letztlich hierauf verzichtet. Vgl. Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 149; Lewandowski: Alexander Kluge (1980), S. 118. Lewandowski bezeichnet, hiervon ausgehend, die Publikation auch als „Rechtfertigungs- und Verteidigungsschrift“. 260 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 179.

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organisatorischen Eigenschaften. Weniger geht es ihm im Gegenzug um die Akzentuierung einer individuellen Schreibstilistik oder um die metaphorisch-poetische Verdichtung261 von Material, das heißt um die spezifische Literarizität seines Schreibens. Die Organisation von Material steht im Vordergrund. „[D]ie Realität, die uns im Alltag begegnet, ist ja auch nicht geformt. Ich halte das Formprinzip, das Formen durch einen Autor, eigentlich für einen Fehler. Ich bin der Meinung, daß die wirkliche Qualität eines Autors in der Aufmerksamkeit liegt, durch die er aus der Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene ein Bild herauswählt, das dann wie ein Kristallgitter funktioniert. Um dieses Kristallgitter, die ursprüngliche idée fixe, kristallisiert sich jetzt ein ganzer Zusammenhang […].“262

Klar ist darüber hinaus: Die Rezeption von Literatur ist zeitlich anders strukturiert als diejenige des Film. Dieser bleibt, solange man hier nicht durch Zeitlupe, Vor- oder Rückspulen und erneutes Abspielen technisch eingreift, flüchtig und ist damit nicht spontan in seiner Organisation rekonstruierbar. Bedenkt man diese Unterschiede zwischen den Medien, so dürften die mitunter im Film zusammenzufassenden Realitätsmassen263, von denen der Autor spricht, theoretisch im Rahmen der Literatur geringer ausfallen. Die literaturtypische Rezeption impliziert Wiederholung und Vertiefung und bedarf, so ließe sich folgern, keiner raschen Bildfolge. Doch so einfach gestaltet sich dies im Fall Kluges nicht. Das Prinzip Intermedialität zeigt sich hier vor allem als Variabilität der medialen Organisati-

261 Daher dürfte ihn auch Reich-Ranickis Kritik an der mangelnden Literarizität kaum treffen. Vgl. Reich-Ranicki: Ein neuer Name: Alexander Kluge. In: Die Zeit, Nr. 50 (14.12.1962). URL: http://www. zeit.de/1962/50/ein-neuer-namealexander-kluge (Zugriff am 12.05.2013). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die poetische Dimension von Sprache und Literatur, die auch immer kulturgeschichtlich relevant ist, außen vor bleibt: Sie wird vor allem in der Form des Zitats gegenwärtig. Die zitierende Aufnahme unter anderem antiker und klassischer, lyrischer und dramatischer Literatur gehört zu den augenfälligen Charakteristiken der Literatur Kluges. 262 Jansen, Schütte (Hg.): Herzog Kluge Straub (1976), S. 157. 263 Vgl. Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 195.

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on. So ist etwa die „Massierung von Einzelaspekten“264 innerhalb des Films ein Versuch, „die der Sprache anhaftende Allgemeinheit“265 im Fremdmedium zu rekonstruieren und die filmtypische Festlegung auf den konkreten Einzelfall zu umgehen – mag dies auch vorerst Utopie266 bleiben, da der Film auf Konkretion angewiesen bleibt. Demgegenüber ist auf dem Gebiet der Literatur die partielle Umgehung sprachlicher Allgemeinheit zu beobachten: kleinschrittiges Erzählen, Einzelfall-Fokussierung, Einfügen von Bildmaterial. Hier erprobt Kluge also, anders herum, filmisch-bildliche Konkretion im Bereich der Literatur. Ein Vorteil des filmischen Prinzips, das gegenüber sprachlich-begrifflicher Darstellung größere Maß an Anschauung, wird zumindest partiell auf Literatur zu übertragen versucht. Zusammengefasst: Während der Autor für möglich hält, dass sich auf filmischem Gebiet langfristig eine „Metaphern- und Begriffswelt“ erzeugen lässt, „die die abgekürzte Erzählweise ebenso ermöglicht, wie die Metaphern- und Begriffswelt der Sprache“267, erprobt er zugleich eine sinnlichkonkrete, das heißt primär filmische Anschauung im Literarischen. Im Kern geht es Kluge um die Darstellung von Wirklichkeit, in all ihren Facetten, und um die Produktion eines Unterscheidungsvermögens, dass mit dieser Wirklichkeit umzugehen versteht: „Dies alles hat den Charakter einer Baustelle“, ist „grundsätzlich imperfekt“268 und bleibt in mehrfacher Hinsicht utopisch. Der Mangel des einen Mediums erweist sich als Vorteil des anderen, woraus Mischformen hervorgehen, aber (vorerst) keine tatsächlich neue Ausdrucksform. Eine Untersuchung der vom Autor angewandten, medialen Organisationsprinzipien muss dies berücksichtigen, will sie nicht die vom Autor selbst konstatierte Vorläufigkeit unterschlagen. Deutlich ist, dass es Kluge mit seinen Arbeiten nicht um die notwendig paradoxe Kritik an der Unzulänglichkeit des eigenen Mediums geht, die sich bei Brinkmann beobachten lässt. Die Kommentare zum antagonisti-

264 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1018. 265 Ebd. 266 Vgl. Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1135–1146. 267 Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1019. 268 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 220.

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schen Realismusbegriff kommunizieren, neben den genannten Problematiken, immer auch Machbarkeit sowie die Bereitschaft, sich auf Vorläufiges und Lückenhaftes einzulassen. Mediale Organisation bedeutet bei Kluge vorrangig Ausschöpfung von sowohl literarischen als auch filmischen Potenzialen mit unklarem Ausgang: am Ende steht entweder Film oder literarischer Text. Ohne Organisation kommt die mediale Darstellung von Wirklichkeit selbst dann nicht aus, wenn sie sich als objektiv versteht. Einen Mangel an Unmittelbarkeit beklagt der Autor nicht. Vielmehr sieht er in der Anerkennung eines solchen Mangels erst den Schlüssel zum notwendigen „Unterscheidungsvermögen“, zur „Unterscheidung des Realismus des Motivs“269. „[Die gegenständliche Situation] ist für die Sinne heute fast nirgendwo ,naturwüchsig‘ vorhanden. Sie muß produziert werden, konstruktiv, reduktiv, auch wenn es den Anschein hat, daß man sie nur ,findet‘. Dieses Vorfinden setzt ja bereits analytische und synthetische Arbeit voraus, sonst findet man gar nichts. Dieses Finden ist aktiv, weil es durch das Weglassen des Übrigen bestimmt ist. Es wird ,herausgeätzt‘. In der Momentaufnahme nicht Verbundenes wird zu einer Situation verbunden. Nur so wird die Vor- und Nachgeschichte, die jeder Situation immanent ist, offen sichtbar. Es geht immer um eine Konstellation. Eine gegenständliche Situation für sich, also die bloße Momentaufnahme, hat in sich nicht das organisierende Element, das sie konkret macht.“270

Im Verlauf der bisherigen Untersuchung zur (inter)medialen Organisation bei Kluge wurden die produktionsästhetischen Kategorien des Materials und des Subjektes bereits mehrfach angesprochen. In der folgenden Auseinandersetzung mit den Neuen Geschichten sollen sie genauer in den Blick genommen werden. Hier werden vor allem die topografische Organisation des Materials sowie die differenzierte Subjektkonstitution im Fokus stehen.

269 Ebd., S. 217. 270 Ebd., S. 218 [Hervorheb. i. Original].

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3.3 N EUE G ESCHICHTEN . H EFTE 1–18. ,U NHEIMLICHKEIT DER Z EIT ‘ (1977) Die 1977 erstmals erschienenen Neuen Geschichten enthalten einen Text, dessen zentrale Bedeutung innerhalb des Gesamtwerkes kaum zu übersehen ist: Der Luftangriff auf Halberstadt271, mithin die Heimatstadt Kluges, ist immer wieder Thema in Interviews und Stellungnahmen des Autors und wird in der Forschung vielfach aufgegriffen. Der Text findet sich nicht nur in den Neuen Geschichten und der im Jahr 2000 veröffentlichten Gesamtausgabe Chronik der Gefühle, sondern erscheint darüber hinaus 2008 bei Suhrkamp als eigenständige, um einen kommentierenden Aufsatz von W. G. Sebald und weitere Erzählungen ergänzte Publikation272. Der Luftangriff auf Halberstadt wird hier weitgehend unverändert zur Ausgabe von 1977 abgedruckt.273 Dass der Geburtsort Halberstadt eine wichtige Rolle für Kluge spielt, lassen zahlreiche weitere Erzählungen innerhalb der Neuen Geschichten vermuten: So befasst sich das Heft 4 mit dem „Gebiet südlich von Halberstadt als eines der sieben schönsten in Deutschland“274 und Heft 9 verbindet, als „Bilder aus meiner Heimatstadt“275, die Geschichte Halberstadts mit der explizit biografischen Erfahrung des Autors. Bezeichnend für Kluges Halberstadt-Text ist allerdings nicht nur der biografische Gehalt des Erzählten, sondern vor allem auch die Aufnahme eines anhaltend sensiblen Themas, des deutschen Luftkriegs. „Der Luftangriff ist erst wirklich, erst wahrnehmbar, wenn er erzählt wird“276, gibt der Autor in einem Interview zu bedenken. Indem er sich der Thematik mit

271 In: Kluge: Neue Geschichten. Hefte 1–18. ,Unheimlichkeit der Zeit‘ (1978), S. 33–106, Heft 2. 272 Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (2008). Als Quelle für diesen Text wird angegeben: Kluge: Chronik der Gefühle (2000), Bd. 2, S. 27–82. 273 Einige Fotografien und Skizzen werden umgestellt oder ganz weggelassen, sowie eine Textkürzung im Abschnitt „[Der Einsatz der Feuerwehren]“ vorgenommen. 274 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 129–161. 275 Ebd., S. 308–366. 276 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 205.

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analytischem Interesse nähert, die rationalistischen Kriegsführungsstrategien der alliierten Streitkräfte ebenso erzählt wie individuelle Überlebensstrategien am Boden, beschreitet er zugleich einen ungewohnten Weg der Darstellung. W. G. Sebald brachte 1997, im Rahmen einer Poetikvorlesung, die Frage nach der Erzählbarkeit des Luftkrieges in die Öffentlichkeit und machte auf das Missverhältnis zwischen der einschneidenden kollektiven Erfahrung und ihrer demgegenüber unzureichenden literarischen Verarbeitung aufmerksam.277 Die wenigen vorhandenen Texte drückten, so Sebald, vor allem das Ausmaß und die Folgen der Zerstörung nicht aus. Sebald bewertet die analytische Herangehensweise Kluges, in der Reihe der wenigen Literaten, die sich des Themas seit Kriegsende angenommen haben, als erste tatsächlich gelungene Aufarbeitung.278 Dies verdeutlicht auch der Artikel Zwischen Geschichte und Naturgeschichte, der als Abschlusskommentar in die Neuausgabe von Kluges Luftangriff auf Halberstadt (2008) aufgenommen wurde.279 Zwar geht Sebald hier dezidiert auf zwei thematische Vor-

277 Vgl. Hage: Erzähltabu? Die Sebald-Debatte: ein Resümee. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 113–131. Vgl. auch Carp: Kriegsgeschichten (1987), S. 136ff. 278 Vgl. allgemein zur ästhetisch-poetologischen Nähe der Autoren Sebald und Kluge z. B. Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007); Malkmus: Intermediality and the Topography of Memory in Alexander Kluge. In: New German Critique, Nr. 107 (2009), S. 231–252; hier S. 231. 279 Dabei handelt es sich um einen Auszug (S. 359 – 366) aus Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge. In: Orbis litterarum, Vol. 37, Nr. 4 (1982), S. 345–366. Sebald nennt es „zumindest verwunderlich, daß es bis zu dem 1977 als Heft 2 der Neuen Geschichten veröffentlichten Text Alexander Kluges über den Luftangriff auf Halberstadt vom 8. April 1945 kein literarisches Werk gibt, das diese sicher mehr als zufällige Gedächtnislücke einigermaßen ausfüllte […].“ (347). Vgl. Hage: Erzähltabu? Die Sebald-Debatte: ein Resümee. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 113–131. Hage weist hier darauf hin, dass „Sebalds Literaturliste erhebliche Lücken aufwies“, etwa Gert Ledigs Roman Vergeltung (1956) unterschlagen werde, teilt aber „im wesentlichen die Meinung, daß die Darstellung des Luftkriegs in der deutschen Literatur keine nennenswerte Rolle gespielt habe.“ (115)

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gängertexte ein, auf Hans Erich Nossacks Der Untergang (1943 geschrieben, 1948 veröffentlicht) und Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947), unterstreicht aber den auch durch diese Texte nicht beseitigten Mangel an einer analytisch-dokumentarischen Darbietung der Katastrophe. Eine solche Darbietung habe Kluge bewerkstelligt. Während die Literatur Nossacks, Kasacks und anderer noch „in der Hauptsache mit ,persönlichen Anliegen‘ und den privaten Gefühlen der Protagonisten beschäftigt“280 gewesen sei beziehungsweise der „symbolischen Verkleidung konkreter Schrecken“281 den Vorzug gegeben habe, zeige sich bei Kluge ein anderes Darstellungsinteresse. „Während Nossack uns keinerlei Aufschluß gibt über die dem Akt der Zerstörung vorgeordneten Motive und Vernunftgründe, bemüht sich Kluge, im vorliegenden Fall wie auch schon in seinem Stalingradbuch, um ein Verständlichmachen des organisatorischen Aufbaus eines solchen Unglücks und zeigt, wie dieses, auch bei bereits erreichter besserer Einsicht, aus Gründen administrativer Trägheit weiter noch seinen Verlauf nimmt, und daß dabei die problematische Frage nach der ethischen Verantwortung gestellt werden könnte. Kluges Text setzt ein mit einer Beschreibung der in Anbetracht der unwiderruflich sich abwickelnden Katastrophe völligen Inadäquatheit aller gesellschaftlich vorgeprägten Verhaltensweisen.“282

Obschon Sebalds These vom Erzähltabu von verschiedenen Seiten kritisiert oder abgestritten wurde283, ist seine Untersuchung unterschiedlicher Dar-

280 Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung. In: Orbis litterarum, Vol. 37, Nr. 4 (1982), S. 347. 281 Ebd., S. 345. 282 Ebd., S. 359. 283 Hage: Erzähltabu? Die Sebald-Debatte: ein Resümee. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 119, 120, fasst die Kritik zusammen und stellt für sich fest, dass „[d]ie Lücke, die nicht nur von Sebald empfunden worden ist, weniger eine der Produktion als der Rezeption [war und ist] – es sind viele Romane und Erzählungen über den Luftkrieg publiziert worden, doch sie fielen schnell und gründlich dem Vergessen anheim […].“ Auffällig sei „jedenfalls, daß sich,

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stellungsformen, des mythisch-symbolischen sowie des analytisch-dokumentierenden Erzählens, an dieser Stelle äußerst hilfreich. Die von ihm getroffene Unterscheidung erlaubt es, den spezifischen Erzählduktus Kluges herauszuarbeiten. Ausgehend von der biografischen Erfahrung, die der Autor bereits im Vorwort kurz aber vehement ins Spiel bringt – „Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.“284 –, widmet Kluge sich der Beschreibung dessen, was faktisch oder höchstwahrscheinlich passierte. Nicht nur die Fotografien der brennenden Stadt285 sind Belege des Wirklichen, auch verschiedenste Skizzen signalisieren einen dokumentarischen Anspruch, so etwa die „Staffelung der Kampfblöcke“286, der Bauplan einer „Flüssigkeits-Brandbombe“287 oder der „Einsatz der Feuerwehren in der Innenstadt“288. Diese Pläne stehen, indem sie offenbar rein Faktisches darbieten, immer zugleich im Kontrast zur emotionalen Seite des Geschehens, zur Unstrukturiertheit menschlichen Verhaltens und Reagierens, zu den Überlebensstrategien einzelner Protagonisten; die „Inadäquatheit“ der Verhaltensweisen289, von der Sebald spricht, scheint in Kluges Text durchgehend präsent. Die Erzählung Kluges evoziert zugleich die Frage, ob ein adäquates Verhalten angesichts der sich vollziehenden Katastrophe überhaupt denkbar ist. Die Kino-Leiterin Frau Schrader will sich etwa „mit einer LuftschutzSchippe daranmachen, die Trümmer bis zur 14-Uhr-Vorstellung aufzuräumen.“290 Die Turmbeobachterinnen Frau Arnold und Frau Zacke halten auch in beinahe aussichtsloser Lage, im sich nähernden Bombenhagel, an

was die Belletristik angeht, das Thema Luftkrieg weitgehend abseits dessen abgespielt hat, was allgemein als Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur gilt.“ (125) 284 Kluge: Neue Geschichten (1978), Vorwort. 285 Ebd., S. 38–42. 286 Ebd., S. 66. 287 Ebd., S. 72. 288 Ebd., S. 99. 289 Vgl. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung. In: Orbis litterarum, Vol. 37, Nr. 4 (1982), S. 359. 290 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 35.

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ihrem Auftrag fest: „auf nichts achten, sondern melden.“291 In einer Gaststätte wird geheiratet, trotz des Bombenangriffs und mit tödlichem Ausgang. Ein unbekannter Fotograf wird in der bereits brennenden Stadt wegen Spionageverdachts festgenommen. Von „Zweifeln bewegt hinsichtlich des Sinns ihres Tuns“292, halten viele Betroffene, mangels Alternative, an den Regularien des Normalzustandes fest. Das lakonische Fazit: „Mit den Hirnen von morgen könnten sie in diesen Viertelstunden praktikable Notmaßnahmen ersinnen.“293 Die physische und psychische Ausstattung ist aber immer nur die von heute und nicht die von morgen, die ein angemesseneres Verhalten vielleicht ermöglicht hätte, so verdeutlicht Kluges Text. Darüber hinaus wird in der besonderen Notsituation in keiner Hinsicht der Zeitbedarf menschlicher, individueller oder auch kollektiv wirksamer Lernprozesse erfüllt, den Kluge bereits in den Lernprozessen mit tödlichem Ausgang (1973) zum Thema macht: Hier ist vielmehr „der Mensch total außer Kraft gesetzt worden“294. Rationale, strategische Kriegsplanung und emotional gesteuertes, situatives Verhalten lassen sich gleichermaßen als beobachtbare Tatsachen, als Konstituenten des Wirklichen, aufzeichnen und nebeneinanderstellen. Dies tut Kluge – mit dem Effekt, dass zugleich Logik und Gefühl, Zweckorientierung und Planlosigkeit, Sinngebung und Sinnverlust ineinanderfließen, ohne dass dies der Erklärung bedürfte. Das Interview, das der fiktive Reporter Kunzert einige Jahre nach Kriegsende mit Brigadier Anderson führt, liefert ein Beispiel für diesen Effekt. Wenn Anderson auf die Frage nach einer Möglichkeit der Kapitulation Halberstadts – die offenbar faktisch nicht bestand – antwortet, bei den geladenen Bomben habe es sich um aufwendig hergestellte, „teure Sachen“ gehandelt, die man schließlich „nicht auf die Berge oder das freie Feld hinschmeißen“295 könne, nur weil ein fragwürdiges weißes Laken zu sehen sei, dann lässt sich hierin nicht weniger Fatalismus, Irrationalität und Inadäquatheit entdecken als in dem Verhalten zahlreicher Betroffener am Boden. Anders gewendet: Es handelt sich

291 Ebd., S. 46. 292 Ebd., S. 43. 293 Ebd., S. 53. 294 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 208, 209. 295 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 79.

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um eine irrationale Rationalität, deren Preis von Beginn an zu hoch ist und die sich selbst im Sinne einer kapitalistischen Kriegslogik nicht mehr sinnvoll begründen lässt. Für die Darstellung bedeutet dies, wie Kluge im Rahmen seiner Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff (1975) schon beschreibt, dass sie nur dann realistisch ist, wenn sie ihren Antirealismus mitzudenken imstande ist. Kluges Kommentar, Realität sei „kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes wollten und wollen“296, erhält vor dem Hintergrund von Kriegshandlungen eine besondere Tragweite. Realistisch ist die Darstellung darüber hinaus nur dann, so vermittelt es die Halberstadt-Erzählung, wenn sie neben der Gegensätzlichkeit von Rationalität und Emotionalität die Vielfalt der Perspektiven abzubilden vermag. Die Darstellung perspektivischer Vielfalt gelingt dabei nicht nur durch das immer wieder genannte Verfahren der Montage, sondern auch auf dem Wege eines räumlichen, topologisch-topografischen Erzählens. Wie sich dieses konkret gestaltet und welche Rolle dabei das organisierende Subjekt spielt, soll innerhalb der folgenden Kapitel genauer untersucht werden. Raum II: multiperspektivisches Erzählen und raumzeitliche Vernetzung Im Unterschied zu den anderen hier behandelten Autoren, sind topografische und topologische Erzählmuster bei Kluge deutlich stärker materialfokussiert. Subjektive Ordnungsstrategien, die ein reales Raumgefüge jeweils nur als Referenzpunkt in die Erzählung einbringen, stehen hier nicht im Vordergrund. Verschiedenste Abbildungen, die Kluge in das Textkonvolut der Neuen Geschichten aufnimmt, Homunculi, militärische Angriffspläne, Wetterkarten, Bomberformationen297 und anderes, geben nicht zuletzt topologische Relationen und Ordnungsprinzipien wieder, die einen hohen Grad an realweltlicher Objektivität aufweisen. Historische Fakten werden sowohl im eigenen Text vermittelt, als auch über Fremdmaterial, vor allem Fotografien, dargestellt. Im Halberstadt-Text wird das Ausmaß der Kata-

296 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 215. 297 Beispiele aus: Neue Geschichten (1978), S. 66, 67; 430; 601, 602.

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strophe des Luftangriffs nicht nur erzählt, sondern auch mittels Fotografien dokumentiert, durch technische und strategische Details der Angriffsplanung ergänzt. Historische Fotografien von Angehörigen des Militärs, Figurenrede im Text, Hintergrundinformationen und Lagepläne ergeben zusammen den für zahlreiche Arbeiten Kluges typischen, dokumentarischfiktiven Ereignischarakter. Dieser orientiert sich am Wahrscheinlichen und Möglichen, als Grundlage eines Netzes von Perspektiven und Details. Kluges „Realitätskontrolle“, die sich an der Frage orientiert: „Ist das, wenn ich es erfinde, noch im Bereich der Toleranz?“298, erweist sich als ausschlaggebend und produziert die gewohnte, partielle Ununterscheidbarkeit von Dokumentation und Fiktion. Topologische Ordnungsaspekte sind einerseits offenkundig, etwa in den immer wieder ins Feld geführten Strategien von oben und unten299, andererseits mehr oder minder verdeckt im Werk auszumachen. So sind die Vernetzungspraktiken innerhalb des Gesamtwerkes auch in einem weiteren Sinne als topologisch zu fassen, da sie Beziehungen in einem als „Erzählraum“300 wahrzunehmenden Text- und Bildkonvolut abbilden. Kluge selbst versteht Bücher als „Landkarten menschlicher Erfahrung.“301 Eindringlich zeigt dies auch die Gesamtausgabe Chronik der Gefühle (2000), die unter anderem das Textmaterial der Neuen Geschichten integriert. „Indeed, the reader is encouraged to dip in and out of Chronik almost like a hypertext, complete with arrows after many of the prose sections pointing to other sections in either of the two volumes, thereby offering an almost unlimited number of paths or routes through a body of prose work in which even Kluge’s earliest writings are in constant play in the creation of new networks.“302

298 Hage: Lakonie als Antwort: Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 207. 299 Vgl. bspw. Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 55, 62. 300 Kluge: Das Innere des Erzählens. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 74. 301 Ebd., S. 75. 302 Harris: Kluge’s Auswege. In: The Germanic Review, Vol. 85, Nr. 4 (2010), S. 294–317; hier S. 298.

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Es geht also immer auch um räumliche Lagebeziehungen, das heißt, die Perspektivierung und Verortung einzelner Figuren und Ereignisse gestaltet sich als In-Beziehung-Setzung – als Konsequenz der Vernetzungspraxis auch über das Einzelwerk hinaus. Für die Halberstadt-Erzählung, die hier im Zentrum steht, bedeutet dies: Die Darstellung einer individualmenschlichen „Strategie von unten“303 fordert gleichsam die Präsentation ihres Gegenstücks, der rationalistischen, übermächtigen „Strategie von oben“304. In welcher Weise topologische und topografische Aspekte die Kategorien Subjekt und Material erzähltechnisch zusammenführen, ist vor allem an Kluges Arbeit gut erkennbar. Das poetologische Ordnungsprinzip scheint hier einseitig nicht einlösbar, denn weder lässt sich das Material der Erzählung als reine Faktizität darbieten, noch ist das Subjekt einzig in seiner Subjektivität darstellbar. Vor allem von der gegebenen räumlichen Situation ist das Subjekt abhängig. Dabei geht es einerseits um die räumliche Bewegung des Menschen innerhalb der Katastrophe. So wird etwa der Weg eines „unbekannten Fotografen“305 kartografisch dargestellt, ebenso der Einsatzweg der Feuerwehren306 und, der Strategie von oben zugehörig, der „Kurs der angreifenden Maschinen“307. Als kartografische Überlagerung der Strategie von unten lässt sich der als „Weg des Bomberstroms“ bezeichnete, dicke schwarze Pfeil lesen, der hier die „Skizze des vermutlichen Wegs des unbekannten Fotografen“308 durchkreuzt.

303 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 55. 304 Ebd., S. 62. 305 Ebd., S. 38. 306 Ebd., S. 99. 307 Ebd., S. 74. 308 Ebd., S. 43.

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Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 42, 43.

Andererseits geht es um die räumliche Verortung des Menschen in seiner jeweiligen Lage. Während die kartografische Darstellung zurückgelegter Wege Bewegung und Dynamik kommuniziert, handelt es sich hierbei um ein statisches Moment. Die situationsgebundene Position des Menschen zum Zeitpunkt des Angriffs stellt Kluge topologisch, in ihren räumlichen Relationen dar. Erkennbar werden hiermit die Lagebeziehungen, das heißt das räumliche Verhältnis der Einzelperspektive zu jeweils anderen Perspektiven auf das Geschehen.309 Während eine Gruppe Soldaten im Keller des Kinos verbrennt, überlebt die Kino-Leiterin zufällig, da sie grundsätzlich nicht in den Keller geht und während der Zerstörung des Kinogebäudes durch die Straßen läuft. Friedhofsgärtner Bischoff steigt, erschöpft von den ihm angetragenen Leichentransporten in ein offenes Grab, um dort zu schlafen – der vermeintlich sichere Ort ist damit zugleich der möglicherweise letzte. Beinahe gelassen nimmt er zur Kenntnis, dass „noch keine

309 Vgl. Carp: Kriegsgeschichten (1987), S. 149, die den Aspekt der Perspektive im Halberstadt-Text mit dem Begriff „Optiken“ fasst. Carp interessieren allerdings weniger die räumlichen Verhältnisse und Lagebeziehungen, als vielmehr „das Sehen und die Perspektiven“ an sich: „Was und wie sehen die Bewohner von Halberstadt?“. Karte und Foto bezeichnet sie insgesamt als „gesellschaftliche Optiken“ (150).

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Maschinen in seinem Blickausschnitt nach oben“310 zu sehen sind. Die Turmbeobachterinnen Frau Arnold und Frau Zacke verfolgen, „luftschutzdienstverpflichtet“311, das Geschehen aus der Vogelperspektive. Trotz des weitläufigen Überblicks gilt auch hier: „Flüchten hatte keinen Sinn.“312 Letztlich werden auch sie zu Opfern einer „Strategie von oben“, die in diesem Fall sowohl hinsichtlich ihrer konkreten, räumlichen Position als auch hinsichtlich ihres technischen Machtpotenzials die Bezeichnung „oben“ für sich reklamieren kann. Deutlich wird die Ausweglosigkeit der jeweiligen Situationen erst in der Verbindung von topologischer Beschreibung und Bewegung. Weder ein horizontaler Fluchtreflex, noch vertikale Ausweichbewegungen sichern das Überleben, das sich sowohl ober- als auch unterhalb der Erdoberfläche – auf Beobachtungstürmen wie in Bombenkellern und Bunkern – als ein Zufallsspiel darstellt. Hartmut Böhmes Überlegung zum Raum, der erst durch die Bewegung „eröffnet und (aus)gerichtet“313 werde, lässt sich auch auf Kluges Text beziehen. „Bewegung, sowohl als Eigenbewegung, Bewegtwerden wie auch als Wahrnehmung von Bewegung, ist diejenige Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert (Nitschke 1990). Am Unbewegten wären weder Raum noch Zeit zu begreifen, ja wäre nicht einmal zu sagen, dass sie sind. Dies bedeutet: Die Bewegungen, die Menschen mit ihrem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was als Raum historisch erfasst werden kann.“314

Kluge erkennt offenbar den Raum des Geschehens als einen wesentlichen Darstellungsaspekt, wenn es um die Realität der historischen Erfahrung geht. Der Text kommuniziert die Dringlichkeit der subjektiven Erfahrung als temporären Verlust eines sicheren Ortes. Was ein solcher Verlust in der Konsequenz bedeutet, zeigt Kluge auf, indem er über einen amerikanischen Forscher berichtet, der sich wenige Wochen nach dem Ereignis den psychischen Folgen der Katastrophe widmet. Der Forscher trifft auf eine alles an-

310 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 44. 311 Ebd. 312 Ebd., S. 46. 313 Böhme: Kulturwissenschaft. In: Günzel (Hg.): Raumwissenschaften (2009), S. 191–207; hier S. 197. 314 Ebd., S. 197, 198.

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dere als feindlich gesinnte, resignierte Bevölkerung, die sich „in der elenden staubigen Gegend eingerichtet“315 hat, noch ohne ernsthafte Versuche eines Wiederaufbaus. „Es schien ihm, als ob die Bevölkerung, bei offensichtlich eingeborener Erzähllust, die psychische Kraft, sich zu erinnern, genau in den Umrissen der zerstörten Flächen der Stadt verloren hätte.“316

Was Kluge mit seiner topografisch-topologischen Darstellung trifft, ist die subjektive Erfahrung der Stunde. Sie setzt sich zusammen aus dem Zufall des momentanen Aufenthaltsortes, aus der hiermit verbundenen Perspektive auf das Geschehen, dem Fluchtreflex und Verharren, da ein Entkommen ohnehin unmöglich scheint. Bewegung und Starre sind antagonistische Reaktionen, die doch gleichermaßen nachvollziehbar werden. Sie betreffen sowohl die physischen als auch die psychischen Vorgänge, die sich während und nach der Katastrophe abspielen. Auch hier geht es also um die Gegenüberstellung des Gleichzeitigen, Widersprüchlichen, um das Aufzeigen des Rational-Irrationalen, das sich weder auflösen noch harmonisieren lässt. Am Ende bleibt die Frage nach dem Ergebnis eines solchen Erzählens, das auf den ersten Blick wenig tröstlich erscheint. Sebald konstatiert, Kluges „Rekonstruktion des Unglücks“ lasse sich „gleichsetzen mit der rationalistischen Struktur dessen, was von Millionen von Menschen als ein irrationaler Schlag des Schicksals erfahren wurde.“317 Mythisch-geheimnisvoll ist an der Planung, an der Durchführung und an den Folgen des Luftangriffs überhaupt nichts und gerade diesen Umstand möchte Kluge offenbar hervorheben. Ein sich zwanghaft und aus der Perspektive einer rationalistischen Kriegsstrategie scheinbar alternativlos vollziehender Angriff von „200 mittlere[n] Industrieanlagen“318 kommuniziert Hoffnungslosigkeit:

315 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 104. 316 Ebd., S. 106. 317 Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung. In: Orbis litterarum, Vol. 37, Nr. 4 (1982), S. 362. 318 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 69.

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„Die Geschichte der Industrie“319 nimmt offenbar rücksichtslos ihren Lauf. Dennoch liegt Kluges Text ein aufklärerischer Impetus zugrunde, der den Glauben an die ebenso alternativlose Strategie von unten, an den Verstand und Veränderungswillen des Einzelnen, nicht preisgibt. Anders als auf diesem Wege ist gesellschaftliche Veränderung für ihn nicht zu machen. „Gerade Kluges detaillierte Beschreibung der gesellschaftlichen Organisation des Unglücks, die programmiert wird von den beständig mitgeschleppten und beständig sich potenzierenden Fehlleistungen der Geschichte, beinhaltet die unausgesprochene Hoffnung, daß ein richtiges Verständnis der von uns arrangierten Katastrophen die erste Voraussetzung wäre für die gesellschaftliche Organisation des Glücks.“320

Das von Sebald angesprochene Glück ist eine Unbekannte. Sowohl in theoretischen Texten wie Öffentlichkeit und Erfahrung, als auch in den literarischen Arbeiten produziert Kluge keine glücksversprechenden Patentrezepte eines individuellen oder kollektiv-öffentlichen Verhaltens. Sie lassen sich auch nicht als indirekte Botschaften ableiten. Der Autor bringt durchaus, geschult an der Kritischen Theorie, Gegenentwürfe zur bestehenden Gesellschaftsordnung beziehungsweise zur kapitalistischen Wertorientierung ins Spiel, etwa mit seinem Hinweis auf die chinesische Kulturrevolution321. Als ausfabulierte, bessere Lösungen werden sie allerdings nicht angeboten. Indem Kluge immer wieder den Weg des Verstehens und Unterscheidens proklamiert und die Langwierigkeit individueller wie gesellschaftlicher Lernprozesse betont, distanziert er sich zugleich von umstürzlerischen Ambitionen. Eine realistische Haltung, wie Kluge sie versteht, beinhaltet demnach keinerlei Glücksversprechen, ebenso wenig aber läuft sie auf Resignation hinaus. Vielmehr entspricht es dem Selbstverständnis des Autors, mit seinen Arbeiten in den offenkundigen Zeitbedarf des nachhaltigen Verstehens und Lernens zu investieren.

319 Ebd., S. 103. 320 Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung. In: Orbis litterarum, Vol. 37, Nr. 4 (1982), S. 361. 321 In: Negt, Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), S. 267ff; Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1974), S. 285ff.

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Mit welchem Begriff ließe sich die dennoch durchscheinende Möglichkeit des Glücks, das positive Potenzial eines entmythisierenden, dokumentierenden und rekonstruierenden Blicks fassen? Ausgehend von der beschriebenen, räumlichen Darstellung, die Kluges Halberstadt-Erzählung kennzeichnet, bietet sich hierfür der durch Foucault eingeführte Begriff der Heterotopie an. Kluge verwendet diesen Begriff selbst mehrfach.322 Gerade vor dem Hintergrund der räumlichen Bedingungen des Unglücks, die der Autor beschreibt, erhält der Heterotopie-Begriff eine Kontur: Die Darstellung des realen Ortes sowie der Verlust eines sicheren Ortes als zentrale Unglückserfahrung bestimmen die Erzählung und provozieren geradezu die Antizipation eines möglichen, anderen oder besseren Ortes. Dieser ist auch in anderen Texten, in Interviews und Gesprächen Kluges präsent, vor allem dann, wenn es um die über das Faktische hinausgehenden Bereiche des Wirklichen geht. Auch Kluges erzählerische Suche nach „Auswegen“323 lenkt die Erwartungshaltung in Richtung eines anderen Ortes. Die Prägung des Heterotopie-Begriffs durch Michel Foucault ist an dieser Stelle vor allem insofern interessant, als sie durch die auch für Kluge geltende Nähe zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mitbestimmt ist. „Wie die Vertreter der Frankfurter Schule, die sich der „Sehnsucht nach dem Anderen“ (Max Horkheimer) verschrieben haben, weigert er [M. Foucault, Anm. d. Verf.] sich, das „ideale Bild“ einer utopischen Zukunft zu malen. Dies bedeutet jedoch nicht, die Utopie generell zu verwerfen, im Gegenteil: Foucault will der (abstrakten) Utopie einer vollkommenen Gesellschaft, die (konkrete) Erfahrung und das Experiment an einem wirklichen anderen Ort entgegensetzen. Nicht um den Abschied von der Utopie geht es also, sondern um deren Radikalisierung. Heterotopie, vom Kino bis zum Kibbuz, ist immer ein Stück verwirklichte, d. h. gelebte Utopie. Auf die „bemerkenswerte Nachbarschaft“ seines Schaffens und die „Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ hat Foucault selbst mehrfach hingewiesen. […]. Was der späte Foucault als „Ästhetik der Existenz“ in den Mittelpunkt seines Denkens stellt, findet sich in Ansätzen bereits bei Adorno, der erstmals im Winter-

322 Vgl. weiter unten angeführte Zitate. 323 Kluge: Das Innere des Erzählens. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 81, 82. Hage: Lakonie als Antwort. Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 205. Vgl. auch Harris: Kluge’s Auswege. In: The Germanic Review, Vol. 85, Nr. 4 (2010), S. 294–317.

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semester 1956/57 die Moralphilosophie zum Thema einer Vorlesungsreihe macht […].“324

In der Ansicht Kluges umfasst Wirklichkeit, neben den bekannten Antagonismen von Realität und „Anti-Realismus des Gefühls“325, stets mehrere Dimensionen. Dies bedeutet, dass die aktuelle Lebenserfahrung nicht nur aus Gegenwart besteht, sondern zugleich aus Vergangenheit und Zukunft, aus Konjunktiv und „Optativ“326, der Möglichkeits- und Wunschform. Erst ein „Erzählraum“327, der all diese Zeiten berücksichtigt, kann das Wirkliche erkunden. Diese Ansicht, die sich aus zahlreichen Kluge-Texten herauspräparieren lässt und etwa in Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006) konkret ausformuliert wird, ist zugleich als Plädoyer für die Heterotopie lesbar. Das heißt, es geht primär um einen Gegenbegriff zur Utopie, die innerhalb des Real-Raumes ohne Ort ist. „Menschen brauchen einen Horizont. Wenn Horizonte und Perspektiven verschlossen sind, werden die Träume größer. Die großen Träume dienen zur HorizontErzeugung. Das ist nicht das Gleiche wie die Träume, die man nachts hat. Früher sagte man zu den großen Träumen auch Utopie. Das ist ein falsches Wort. Utopie bedeutet: kein Ort. Ein Traum hat aber immer einen Ort. Der Träumende ist nicht irgendwo im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten Situation. Darauf antworten die Träume. Träume sind nicht nur ein Ausdruck von Wünschen, sie sind auch der Ausdruck von Not. Wären wir im Paradies, müssten wir nicht träumen. Träume sind keine Utopien, es sind Heterotopien, also andere Orte, eine andere Wirklichkeit, die gleich neben der ersten Wirklichkeit liegt.“328

324 Chlada: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault (2005), S. 9, 10. 325 Kluge: Das Innere des Erzählens. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 83. 326 den Kluge „in der griechischen Grammatik“ verortet. Interview mit Radio Vatikan: Menschen in der Zeit: Alexander Kluge – Seismograph der Gegenwart, 06.05.2012. URL: http://de.radiovaticana.va/articolo.asp?c=585396 (Zugriff am 26.03.2013). 327 Ebd. 328 Alexander Kluge: „Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel“: Gespräch mit Peter Laudenbach, 2009. URL: http://www.kluge-alexander.de/zur-

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Auch Foucault, der den Begriff der Heterotopie erstmals in Die Ordnung der Dinge (1966) einführt, sieht in ihm einen Gegenentwurf zur Utopie. In dem Text Andere Räume329, der auf eine Ende 1966 ausgestrahlte Radiosendung zurückgeht, unterscheidet er zwei Typen des Raumes: Die Utopien, als „Platzierungen ohne wirklichen Ort“330, und die Heterotopien, die sich als realisierte Utopien charakterisieren lassen und bei denen es sich entsprechend um wirkliche Orte handelt, „in denen die gleichsam wirklichen Plätze innerhalb einer Kultur zugleich repräsentiert, bestritten oder umgekehrt werden“.331 Als solche anderen, wirklichen Orte oder Räume bezeichnet Foucault etwa „Bordelle, Feriendörfer, Kinos, Züge, Motels und Gärten“, auch „das Altersheim oder die Sauna.“332 Eine Erfahrung, die sich

person/interviews-mit/details/artikel/traeume-sind-die-nahrung-auf-dem-wegzum-ziel.html (Zugriff am 26.03.2013); Vgl. auch die Version der BüchnerPreis-Rede Kluges (2003) unter URL: http://www.kluge-alexander.de/zurperson/reden/ 2003-buechner-preis.html (Zugriff am 26.03.2013): Hier spricht Kluge von den „an die Stelle der Kategorien UTOPIE und WIRKLICHKEIT“ getretenen „Aufmerksamkeitsraster[n] HETEROTOPIE und HETEROCHRONIE. Die gleiche Geschichte an anderem Ort, zu anderer Zeit kann zu jedem Moment einen anderen Ausgang nehmen. Dies verändert die Autonomie der einzelnen Erzählung. Sie gibt ihr aber neue Gleichgewichte, die sie in anderen, parallelen, zeitlich entfernten oder örtlich gleich daneben liegenden Geschichten, sozusagen ihren Brüdern und Schwestern, finden kann. Die Geschichtserzählung wird gesellig.“ Hiermit wird, neben den Träumen, die Relevanz des tatsächlichen oder möglichen Anderen als Grundvoraussetzung des ausgewogenen Erzählens betont. An anderer Stelle bezeichnet Kluge „das Nebeneinander von Rettung und Verhängnis“ als „Heterotopie“. Kluge: Die Aktualität Adornos. Rede zum Theodor-W.-Adorno-Preis 2009. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 67–75. 329 Foucault: Andere Räume. In: Barck, Gente, Paris, Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (2002), S. 34– 46. Der Text kursierte lange als Typoskript und wurde erst 1984 offiziell veröffentlicht. Vgl. Chlada: Heterotopie und Erfahrung (2005), S. 11. 330 Chlada: Heterotopie und Erfahrung (2005), S. 40. 331 Ebd. 332 Ebd., S. 38, 39.

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strukturell zwischen Utopie und Heterotopie einordnen lasse, gewährleiste der Spiegel. „Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.“333

Das Spiegelbild ist wirklich und unwirklich zugleich; man sieht sich, „wo man nicht ist“334 (virtuell) und doch auch dort, wo man (konkret) ist. Dass Kluge „jenseits des Idylle-Utopiezusammenhangs den von Foucault aktivierten Begriff der Heterotopie für sich reklamieren“335 kann, ist deutlich. Der Anspruch, den Kluge mit dem Heterotopie-Begriff verknüpft, liegt darüber hinaus auf der Hand. Weniger geht es um die bereits von Foucault klassifizierten, heterotopischen Räume, wie Schiffe, Heime oder Gärten, sondern vielmehr um das Potenzial, das im Konzept der Heterotopie liegt. Wenn Kluge von der „andere[n] Wirklichkeit, die gleich neben der ersten Wirklichkeit liegt“336 spricht, dann ist damit die Relevanz des Heterotopischen im Hinblick auf ein allgemeines Realitätsverständnis angesprochen: Im Sinne eines antagonistischen Realitätsbegriffs führt Realität immer schon Gegen-Realität, das heißt vor allem Antirealismus in der Haltung und in den Gefühlen des Einzelnen mit sich. Ergänzt um Wünsche, Träume, die Kluge als Heterotopien bezeichnet, deutet sich erst ein Gesamtbild dessen an, was als Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Auch die nicht eingelösten Möglichkeiten, die verpassten Gelegenheiten, das Nicht-Erzählte gehören zu diesem Gesamtbild, das die Neuen Geschichten und insbesondere der Halberstadt-Text sich vornehmen. Der Text über den Luftangriff verdeutlicht zudem die Raumbezogenheit des Heterotopie-Begriffs. Der Text kommuniziert in seiner topologischen

333 Foucault: Andere Räume. In: Barck u. a. (Hg.): Aisthesis (2002), S. 39. 334 Chlada: Heterotopie und Erfahrung (2005), S. 40. 335 Müller: Die authentische Methode. In: Ders.: Gegengifte (2009), S. 106. 336 „Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel“: Gespräch mit Peter Laudenbach, 2009. URL: http://www.kluge-alexander.de/zur-person/interviewsmit/details/artikel/traeume-sind-die-nahrung-auf-dem-weg-zum-ziel.html (Zugriff am 26.03.2013).

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Perspektivierung das Immer-Andere und möglicherweise Noch-nichtErzählte des Ereignisses, ohne einen Mythos des Unerklärlichen oder Unbegreiflichen zu bedienen: Wenn über Gerda Baethe und Friedhofsgärtner Bischoff berichtet wird, dann tauchen damit auch all die anderen Betroffenen und ihre jeweiligen Erfahrungen am Horizont der Erzählung auf, ohne tatsächlich erzählt zu werden. Die kollektive Erfahrung setzt sich zusammen aus einer Vielzahl individueller Erfahrungen, die der Autor jeweils punktuell aufgreift. Der temporäre Verlust eines sicheren Ortes betrifft jeden Einzelnen und jeden auf andere Weise. Der dauerhafte Verlust eines charakteristischen Stadt-Ortes, so wie er gewesen ist, betrifft alle Halberstädter. Von einer verlässlichen Ordnung oder Strukturierung kann kaum mehr die Rede sein: Die gewohnte Topografie der Stadt lässt sich noch erahnen, an ihr entlang, das heißt an „den durch die Trümmerwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach einigen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen.“337 Mit dem Konzept des Heterotopischen wird die Negativität der Erfahrung meines Erachtens um ein positives Element erweitert, nämlich um die realistische Möglichkeit eines anderen menschlichen Verhaltens, das ebenso denkbar ist. Der Luftangriff vollzog sich nicht als schicksalhafte Ereigniskette, sondern als ein Nach- und Nebeneinander menschlicher Verhaltensweisen, deren Motivationen sowohl durchschaubar als auch veränderbar sind. Subjekt II: Kluges Nachahmung mit Motiv Kluges Raumerkundung, sein dokumentarisches Interesse, die Vielfalt der Perspektiven signalisieren einen hohen Objektivitätsanspruch, eine geradezu „enzyklopädische[.] Verpflichtung auf die Wirklichkeit“338. Trotz dieser Verpflichtung bleibt aber die Kategorie des Subjektes in seinen Arbeiten durchgehend präsent.339 Die Stärke des Materialpols, die einleitend schon

337 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 102. 338 Martens: „Wann wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?“ Alexander Kluge und die enzyklopädische Literatur. In: Text und Kritik 85/86 (2011), S. 128–136; hier S. 130. 339 Diese grundsätzliche Beobachtung findet sich ebd., S. 129, unter Bezugnahme auf Andreas Huyssen und literatursystematisch: Kluge sei „genügend Subjektivist […], um der Objektivitätsfalle der Dokumentarliteratur zu entgehen, aber

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angesprochen wurde, ist auch am Halberstadt-Text zu beobachten, der durch eine Vielzahl von Daten, Fakten und Bildern gekennzeichnet ist. Kluge geht es immer wieder um das zitathafte, dokumentarische, fotografische Material des Geschichtlichen, das sich sowohl aus den verschiedenen Vergangenheitsschichten als auch aus der Erfahrungsebene Gegenwart herauspräparieren lässt. Um einen singulären Blick auf historische Katastrophen, der diametrale Perspektiven ausblendet, geht es ihm hingegen nicht. So ist etwa die persönliche Not der Gerda Baethe340 ein Darstellungsinteresse der Erzählung, das die Abbildung des Bauplans einer FlüssigkeitsBrandbombe keineswegs ausschließt, im Gegenteil. Beides ist erzählbar und relevant; subjektive Erfahrungen und objektive Gegebenheiten konstituieren gleichermaßen das historische Ereignis des Luftkriegs, so vermittelt der Text. Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz eingeschlossen. Doch ist die Erzählung damit annähernd objektiv oder motivfrei? Wie der Autor in den Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff (1975) erläutert, ist kein Zugriff auf Wirklichkeit von einem wie auch immer gearteten „Realismus des Motivs“341 freizusprechen, auch nicht die „Nachahmung“342. Auch hier werde Protest ausgeübt. Hieraus folgert der Autor: „Antagonistisch ist also nicht nur die Realität, sondern auch jede menschliche Verarbeitungsweise dieser Realität, gleich, ob sie innerhalb der Realzusammenhänge sich abarbeitet, oder ob sie sich über die Sache stellt.“343 Während das Subjekt bei Brinkmann im Wesentlichen Selbsterkundung betreibt, wird das Subjekt bei Kluge vorrangig als ein organisierendes erkennbar. Brinkmanns erzählendes oder erzähltes Subjekt stellt sich zudem als ein eng mit dem Autorsubjekt verquicktes dar, bis hin zur Ununterscheidbarkeit in den nicht-autorisierten Texten. Demgegenüber treten Kluges Einzelsubjekte, über die beziehungsweise aus deren Perspektive erzählt

objektivierend genug, um die Neue Subjektivität zu überstehen.“ Man könne die „paradoxe Kombination von Sachlichkeit und Bekenntnishaftigkeit“ bereits zahlreichen Kluge-Titeln ablesen. 340 Vgl. Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 55ff. 341 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 217. 342 Ebd. 343 Ebd.

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wird, als deutlich vom Autorsubjekt separierte in Erscheinung. Das Autorsubjekt bringt sich hier primär als organisierendes in den Text ein. Dies bedeutet, dass die Auswahl und konkrete Präsentation von Wirklichkeitsausschnitten eine spezifische Subjektpräsenz erwirkt, die sich zum Material der Erzählung distanzierter verhält als dies bei Brinkmann und auch bei Handke344 der Fall ist. In Anlehnung an Kluges Realismusbegriff schlage ich hierfür die Formel Nachahmung mit Motiv vor. Wenn Kluge feststellt, die „gegenständliche Situation“ müsse notwendig „produziert werden, konstruktiv, reduktiv, auch wenn es den Anschein hat, daß man sie nur ,findet‘“345, dann widerspricht er selbst einer solchen Einschätzung nicht. Vielmehr stehen seine literarischen und filmischen Arbeiten im Zeichen dieser Erkenntnis. Doch in welcher Form wird das Subjekt hier als ein organisierendes erkennbar? Zieht man Kluges eigene Positionierung heran, dann ist Realität „kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen“346. Diese Feststellung impliziert ein hohes Bewusstsein für die subjektiven Kräfte, die sich auf das Realitätsverständnis auswirken. Die Beweggründe und der persönliche Erfahrungshorizont des Individuums und damit auch seine spezifische Subjektivität beeinflussen jeweils Wahrnehmungen von Realität sowie die Realität selbst, da sie zugleich handlungsbestimmend sind. Negative Realitätserfahrungen provozieren „Eigensinn“347, bis hin zu einem „Anti-Realismus des Gefühls“348. Kluge versteht die „Anerkennung des Realismus des Protests und des Realismus des auf die Wirklichkeit umformend reagierenden menschlichen Gehirns“ als „die Grundbedingung des Realismus.“349 Hiermit formuliert der Autor zugleich die Grundbedingungen der eigenen Produktion. Das heißt, auch diese ist als genuin subjektiv zu verstehen,

344 wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird. 345 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 218. 346 Ebd., S. 215. 347 Kluge: Das Innere des Erzählens. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 83. 348 Ebd. 349 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 218.

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in dem Sinne, dass sie selbst nicht weniger durch ein Protestmotiv sowie ein spezifisches Wahrnehmungsraster geprägt ist. Die Besonderheit bei Kluge liegt allerdings in der theoretischen Positionierung, die das Wissen hierüber dem Rezeptionsprozess voranschickt: Subjektivität kann und soll, als ein Teil von Wirklichkeit, in den eigenen Arbeiten nicht ausgeschlossen werden. Subjektivität muss sich allerdings kritisch zu sich selbst verhalten, anderenfalls setzt sie sich absolut.350 In Abgrenzung hiervon nimmt Kluge für sich in Anspruch, einen durchgehend „nicht-überredenden Standpunkt“351 zu vertreten. Dieser steht offenbar im Gegensatz zu einem intern fokalisierten, identifikatorischen Lektüreangebot. Die entsprechende Rezeptionsanforderung fasst Kluge mit dem Begriff „Unterscheidungsvermögen“352. Kritisch angemerkt werden muss hierzu jedoch, dass auch die gewissermaßen erzwungene, assoziative Wahrnehmung von Komplexität in der Lektüre als eine Form der Überredung aufgefasst werden kann. Darüber hinaus ist die Selbstbeschreibung als nicht-überredend sicherlich auch im Hinblick auf die bei Kluge zu beobachtende Leserlenkung durch Fußnotierung, durch Verweise und Erläuterungen zu diskutieren. Ausgehend von der oben beschriebenen Grundbewertung des Subjektiven, die den Rezipienten in die Pflicht nimmt, bringt Kluge ein mitunter starkes Autorsubjekt in seine Arbeiten ein. Dessen theoretische Beeinflussung wurde schon mehrfach angesprochen, etwa mit der Prägung des Autors durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, durch Adorno, Habermas, Benjamin und Marx. Dies ist die eine Seite der Nachahmung mit Motiv, die andere ist die persönlich-private Erfahrung, die im Wesentlichen durch zwei zentrale Ereignisse gekennzeichnet ist. Diese hat Kluge selbst mehrfach benannt sowie ihren Stellenwert und ihre Bedeutung auf verschiedene Weise im Werk kommuniziert: Die Kriegserfahrung, das heißt vor allem der Luftangriff auf die Heimatstadt Halberstadt am 8. April 1945, sowie die Ehescheidung seiner Eltern. Die Ereignisse trennt nur etwa ein

350 Vgl. z. B. Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 206, zur „Sensibilismus“-Kritik am Handke/Wenders-Film Falsche Bewegung, dem Kluge dies indirekt vorwirft. 351 Vgl. Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-BöllPreis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 25. 352 Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 21

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halbes Jahr. Harro Müller sieht „Kluges Option für eine antirealistische Realismuskonzeption“ zumindest partiell bedingt durch diese beiden „zutiefst traumatischen Kindheitserfahrungen“353 und verweist in diesem Zusammenhang auf Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006). Hierin berichtet Kluge, ihm sei „klar, daß eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung, dient.“354 Im Interview äußert sich Kluge ähnlich. „Im streng autobiographischen Sinn geben Sie sich nur im Vorwort jenes Bandes ,Neue Geschichten‘ zu erkennen, in dem der Halberstadt-Text enthalten ist. ,Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam‘, heißt es dort. Und dann lakonisch: ,Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.‘ Ist das am Ende doch der Augenblick, wo aus dem gerade 13jährigen Jungen ein Schriftsteller wurde? Sie können das noch ergänzen: Diesem Angriff geht ein halbes Jahr vorher die Ehescheidung meiner Eltern voraus. Ich bin deswegen gewissermaßen Anwalt geworden, mitten im Krieg: Ich hätte alles getan, um die beiden wieder zusammenzubringen. Alles was ich denke, nährt sich aus dieser Zeit.“355

In seiner Rede über das eigene Land: Deutschland (1983) berichtet Kluge darüber hinaus, dass er durch die kindliche Kriegserfahrung, „aus diesem Erlebnis unten im Keller und dem Verlust des Hauses die Kategorie der Strategie von unten“356 entwickelt habe.

353 Müller: Gegengifte (2009), S. 114. 354 Kluge: Mein wahres Motiv. In: Ders.: Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006), S. 594–597; hier S. 594. Kluge findet diese „umweglose Antwort“ als Reaktion auf die sehr „direkte Frage“ Martin Walsers, warum er Geschichten schreibe. 355 Hage: Lakonie als Antwort. Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S. 209. 356 Kluge: Rede über das eigene Land. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. (2004), S. 53. Mit dem Fazit: „Strategie von oben hilft nichts, wenn wir im Keller sitzen und bombardiert werden. Gemeinsam Vorräte an Strategie von unten zu entwickeln mit zäher Geduld […] das würde etwas nützen.“

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Zahlreiche Themenkomplexe, die Kluges Werk charakterisieren, lassen in der Tat darauf schließen, dass der Autor sich an den „Dissoziationserfahrungen“ Scheidung und Luftkrieg „immer wieder abarbeitet“357: Kooperation, Kommunikation (auch misslungene), die Vielfalt der Perspektiven, das scheinbar Unvereinbare, die Relevanz des Zufälligen, vermeintlich Nebensächlichen, kulturelle Vermittlung, die wirklichen Verhältnissen, die Faszination am Gegensätzlichen, an der anderen Meinung wären hier beispielhaft zu nennen. Hieran anschließend lässt sich als zunehmend beliebte Darstellungsform in der Arbeit des Autors das Gespräch oder Interview beobachten, das Kluge vor allem in den Fernsehmagazinen praktiziert und ebenso in gedruckter Form befürwortet.358 Dies belegen zahlreiche Ausgaben in Buchform. Innerhalb dieser Darstellungsform wird ein starkes Interesse an den wirklichen Verhältnissen und Zusammenhängen immer wieder deutlich. Sie werden assoziativ und dialektisch aus dem bestehenden Erfahrungshorizont hervorgeholt. Zudem wird jeweils eine Einzelperspektive und damit ein einzelnes Subjekt wichtig und ernst genommen, ins Zentrum des Interesses gestellt, aber auch kritisch befragt und herausgefordert. Die Erzählung Der Luftangriff auf Halberstadt liest sich, vor allem in Kenntnis der Stellungnahmen Kluges, immer auch auf ihren biografischen Erfahrungsgehalt hin.359 Gleichzeitig stellt der Text eine durchgehende Dis-

357 Müller: Gegengifte (2009), S. 114. 358 Vgl. z. B. Suchbegriffe, die Erstveröffentlichung von 26 Transkripten der Gespräche zwischen Alexander Kluge und Oskar Negt, erschienen in Band 1 der Publikation: Kluge, Negt: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden (2001), die Langston 2010 als „the most extensive to date“ bezeichnet, „Kluge’s two volumes of transcribed televised interviews with author Heiner Müller come in second; the recent 2009 publication of dialogues with Germanist Joseph Vogl takes third place.“ Langston: Toward an Ethics of Fantasy. In: The Germanic Review, Vol. 85, Nr. 4 (2010), S. 277. Vgl. Kluge, Müller: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche (1995); Kluge, Müller: „Ich bin ein Landvermesser“. Gespräche mit Heiner Müller. Neue Folge (1996); Kluge, Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche (2009). 359 Vgl. Martens: „Wann wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?“ In: Text und Kritik, Nr. 85/86 (2011), S. 131: „Hatte man die Geschichten Kluges in den 1970er Jahren vor allem als gelungene Objektivierung von Lebensläufen und subjektiven Ereignissen betrachtet, so ist es inzwischen

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tanzeinübung vor, die weder auf die Perspektive des Autorsubjektes noch auf eine andere Individualperspektive beschränkt bleibt. Die subjektive Seite der Nachahmung mit Motiv, die persönlichen, privaten Beweggründe des Erzählens, stellt Kluge in seinen Kommentaren zur besagten Erzählung nicht in Abrede – im Gegenteil. In einer anderen, zum Teil offen biografisch gestalteten Erzählsequenz der Neuen Geschichten, den Bildern aus meiner Heimatstadt360, berichtet Kluge ganz selbstverständlich über seinen Vater, den Arzt Ernst Kluge. Zudem bebildert er seine Erzählung großzügig mit Fotografien aus dem Familienalbum.361 Der Text plädiert ganz offensichtlich für ein subjektives Erzählen, für eine Präsenz des Autorsubjektes und bestätigt die Beobachtung, dass Kluge keine strikte Objektivierung intendiert. Doch während man hier unvermittelt biografische Informationen entnehmen kann, ist der Luftangriff auf Halberstadt in diesem Punkt zurückhaltender. In diesem Text ist vielmehr ein organisierendes Subjekt tonangebend: Es lässt seine eigene Subjektivität als Movens, als Beweggrund gelten und auch durchscheinen362; an der Oberfläche des Textes dominiert hingegen keine subjektive Ästhetik, sondern eine differenzierte Präsentation von historischem Material. An diesen Beobachtungen wird bereits deutlich, dass es mit den Hinweisen auf die Subjektivität bei Kluge keineswegs darum geht, eine biographische Lesart nahezulegen. Im Gegenteil: erst durch das Verständnis der Nachahmung mit Motiv, durch das Verständnis ihrer subjektiven Genese, wird deutlich, weshalb Kluge an der Oberfläche seiner Texte keine subjektive Ästhetik einsetzt. Auf der konkreten Darstellungsebene dominiert Subjektivität nicht, sie tritt hinter den Anspruch eines multiperspektivischen, auch faktischen und partiell dokumentarischen Er-

möglich geworden, […] auch ihre autobiografischen, durchaus subjektiven Anteile zu entdecken.“ Anstatt von einem organisierenden Subjekt, spricht Martens hier von einem „bekenntnishaften Zug der enzyklopädischen Literatur“, mit dem diese Beobachtung in Einklang stehe. 360 In: Kluge: Neue Geschichten (1978), 309–366. 361 Biographisches Bildmaterial vgl. ebd., v. a. S. 317–322. 362 Vgl. z. B. Hage: Lakonie als Antwort. Alexander Kluge. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung (2003), S, 202; Martens: „Wann wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?“ In: Text und Kritik 85/86 (2011), S. 132; Kluge: Rede über das eigene Land. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. (2004), S. 53.

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zählens zurück. Die in diesem Kapitel skizzierte Position des Subjektes bei Kluge zu unterschlagen, hieße hingegen, die poetologische Organisation der Texte nur unvollständig darzustellen.

4 Peter Handke: Das den Raum erkundende Subjekt

„Und? Wenn es kein allgemeines Gesetz für mich gibt, werde ich mir nach und nach ein persönliches Gesetz geben, an das ich mich halten muß. Noch heute werde ich den ersten Satz dazu finden.“1

Es wundert nicht, dass Handke zu jenen Schriftstellern gehörte, die dem frühen Rolf Dieter Brinkmann einiges abgewinnen konnten.2 In dem „Ich, das querliegt zur Welt“3 dürfte Handke nicht zuletzt eine Reminiszenz an die eigenen Schreibanfänge erkannt haben. Die beinahe gleichaltrigen Autoren arbeiteten sich an ganz ähnlichen Problemen und Fragen ab, wie etwa an der Bedeutung des Mediums Sprache und an einer potenziellen gesellschaftspolitischen Relevanz literarischen Schreibens, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Die zentrale Stellung des schreibenden Sub-

1

Handke: Langsame Heimkehr (1979), S.160. Französische Anführungszeichen werden hier und im Folgenden gemäß Originaltext beibehalten

2

Vgl. etwa Born, Handke: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974–1979 (2005), S. 3–34; hier S. 4 und Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 95.

3

Handke: Notizenfragmente zur Laudatio. In: Petrarca-Preis 1975–1979: Rolf Dieter Brinkmann, Sarah Kirsch, Ernst Meister, Herbert Achternbusch, Alfred Kolleritsch, Zbigniew Herbert (1980), S. 123.

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jektes wird von beiden gleichermaßen betont, wobei das Von-sichAusgehen den Rang einer poetologischen Regel erhält. Mit Begriffen wie Neue Subjektivität oder Neue Innerlichkeit wurde zu Beginn der 1970er Jahre entsprechend der Charakter sowohl von Brinkmanns als auch von Handkes Texten beschrieben. Wie Heinz Ludwig Arnold feststellt, war „der gemeinsame Trend vieler Einzelpositionen in der Literatur der siebziger Jahre ein Subjektivismus, der mit einem deutlichen Hang zum autobiographischen Schreiben verbunden war“4. Allgemein hat sich jedoch in der Forschung die Ansicht durchgesetzt, dass die genannten Termini weder eineindeutige Umorientierungen mit Beginn der 1970er Jahre anzeigen, noch für das Verständnis des jeweiligen Einzelwerkes sinnvoll instrumentalisiert werden können.5 Darüber hinaus ist eine solche Kategorisierung vorwiegend negativ konnotiert, da sie sich nicht mehr nur auf eine allgemeine, literaturinhärente Subjektivität bezieht, sondern zugleich auf eine pejorativ besetzte, subjektivistische Manier verweist. Die entsprechend negativen Reaktionen registriert man auch, mit einem eher distanzierten Blick, in der angloamerikanischen Germanistik.

4

Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 105. Arnold verweist hier ebenfalls auf das Beispiel Handkes und stellt weiter fest: „Für diese Generation von Schriftstellern wurde das Schreiben ein ständiger Versuch, authentisch zu leben: Im Schreiben wurde Orientierung gesucht, Realität geschaffen, die sich zur Identifikation eignete.“

5

Während einerseits Handkes Stunde der wahren Empfindung (1974) in seiner „Signalfunktion für das Stichwort ,neue Subjektivität‘“ (Winter: Von der Dokumentarliteratur zur ,neuen Subjektivität‘. In: Seminar, Jg. 17, Nr. 2 (1981), S. 105) interpretiert wird, wird zugleich die Subjektivität als „kontinuierliche Eigenschaft des gesamten Werks“ (Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß (1984), S. 140) verstanden. Mit zunehmender historischer Distanz verzichtet Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 142, zwar auf den Subjektivitätsbegriff, sieht jedoch Handkes „Selbsterfahrungsprosa der siebziger Jahre“ durch einen Rückzug in den „Elfenbeinturm des Klassizisten“ während der achtziger Jahre abgelöst. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls (2001), S. 172, sieht insbesondere bei Handke keinen „Rückzug“ in die Neue Innerlichkeit, „sondern eine Fortführung von Impulsen aus der Schnittmenge von ‚1968‘ und der frühen ,Postmoderne‘.“

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„Short Letter, Long Farewell, and Handke’s works of the 1970s in general, have in some respects received a more favorable reception in America than in Germanspeaking countries, principally because of the negative reaction of some German critics to his ,inwardness‘ or ,subjectivity‘.“6

Handke hat seine poetologischen Standpunkte in verschiedenen nichtfiktionalen Texten deutlich gemacht. Zu diesen gehören auch zahlreiche Interviews7 und Briefwechsel8. In den siebziger Jahren, die hier im Zentrum stehen, erscheinen Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) und Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), die hauptsächlich Essays und Rezensionen enthalten; darüber hinaus im Jahr 1977 das Journal Das Gewicht der Welt.9 Handke, der in diesen Texten immer wieder Eigenwert und Macht der Sprache akzentuiert, nimmt zugleich eine distanzierte Position gegenüber einer „Auffassung von Wirklichkeit“ ein, die schlicht übersehe, „daß es in der Literatur nicht darum gehen kann, politisch bedeutungsgeladene Dinge beim Namen zu nennen, sondern vielmehr von ihnen zu abstra-

6

Halsall: Place, Autonomy and the Individual: Short Letter, Long Farewell and A Sorrow Beyond Dreams. In: Coury, Pillipp (Hg.): The Works of Peter Handke. International Perspectives (2005), S. 46–79; hier S. 46. Halsall zitiert hier zugleich Barry: America Reflected: On the American Reception of Peter Handke’s Writings/Handke’s Reception of America in His Writings. In: Modern Austrian Literature, Vol. 20, Nr. 3/4 (1987), S. 107–115; hier S. 107.

7

Häufig zitiert vor allem das Gespräch mit Herbert Gamper: Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987) sowie Müller, Handke: André Müller im Gespräch mit Peter Handke (1993) und Handke: …und machte mich auf meinen Namen zu suchen. Peter Handke im Gespräch mit Michael Kerbler (2007).

8

Mit Nicolas Born: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974–1979 (2005); mit Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages (2006); mit Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht (2008).

9

Spätere Veröffentlichungen nicht-fiktionaler Texte sind Die Geschichte des Bleistifts (1982); Phantasien der Wiederholung (1983); Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992 (1992); Am Felsfenster morgens (1998) sowie Mündliches und Schriftliches (2002); Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. Essays 1967–2007 (2007).

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hieren.“10 Der Anspruch, die eigene sprachliche und perzeptive Sensibilität zu verstehen, zu schärfen und zu vermitteln, geht bei Handke dezidiert vom schreibenden Subjekt, vom Autor-Ich aus. Die Rolle des engagierten Autors, der sich um politische Alternativen zum Gegebenen bemüht, kann und will Handke dabei nicht einnehmen.11 Es geht ihm offenbar aber auch nicht um das Recht, Literatur als zweckfreien Raum zu nutzen oder sich auf ihre formalistischen, ästhetischen Aspekte zu beschränken, wenn er betont, dass er „überzeugt“ sei, „durch [s]eine Literatur andere ändern zu können“12, nicht nur sich selbst, sondern auch andere „sensibler, empfindlicher, genauer zu machen“13. In der öffentlichen Wahrnehmung Handkes spielt die Politik allerdings durchaus eine Rolle, da verschiedene Auftritte und Aktionen des Autors die politische Sphäre tangierten oder ein politisches Verständnis auch bewusst herausforderten. Der in Forschung und Presse vielzitierte Auftritt des jungen Handke bei dem vorletzten Treffen der Gruppe 47 im Jahre 1966 in Princeton dürfte wohl als Paradebeispiel einer solchen Aktion gelten, die bis heute kaum an Relevanz eingebüßt hat. Die Gruppe 47 selbst besaß politisches Bedeutungspotenzial, obschon sie sich, abgesehen von einer demokratischen Grundorientierung, nicht als politische, sondern als literaturorientierte Formation verstand, zu deren Konsensus der Verzicht auf politische wie auf poetologische Grundsatzdebatten gehörte. Bei dem letzten Treffen der von Hans Werner Richter versammelten Gruppe kam es 1967 zu Protesten linksorientierter Studenten gegen die in ihren Augen unpolitische Einstellung der Gruppe. Die sowohl ästhetisch als auch politisch zunehmend gespaltene Gruppe konnte hierauf nicht mehr adäquat reagieren und wurde schließlich von Richter aufgelöst, indem er nach 1967 zu keinem Treffen

10 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 24, 25. 11 Vgl. ebd., S. 26, 27. Vgl. auch ebd. Handke: Die Literatur ist romantisch, S. 35– 50, der hier zu dem Schluss kommt, dass Literatur und Engagement eigentlich nicht vereinbar seien – erstere sei formal, letzteres materiell bestimmt. Die Bedingung der Möglichkeit einer engagierten Literatur sei zunächst eine neue Definition von Literatur. 12 Ebd., S. 20. 13 Ebd., S. 26.

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mehr einlud. Handkes Angriff auf die „Beschreibungsimpotenz“14 seiner Schriftstellerkollegen während des vorletzten Treffens 1966 wird in Forschung und Presse auffallend häufig erwähnt. Teilweise führte und führt dies auch zu dem Eindruck, er habe die Gruppe persönlich „zu Fall gebracht“15 oder zumindest wesentlich zu ihrem Ende beigetragen. Ingrid Gilcher-Holtey betrachtet den Zusammenhang differenzierter, wenn sie erläutert, Handkes „Auftritt“ habe lediglich „die internen Spannungen und Differenzen manifest werden [lassen], die 1968 infolge des durch externe Ereignisse geschaffenen Zwanges zur Stellungnahme zum Zerfall der Gruppe führen sollten.“16 Die 1972 in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms veröffentlichte Stellungnahme Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA relativiert außerdem die bis heute als „famous attack“17 bewertete Wortmeldung Handkes, deren mittlerweile veröffentlichte Tonaufzeichnung18 kaum das Selbstbewusstsein vermittelt, welches die Sekundärliteratur in der starken Identifikation von Autor und situativer Äußerung nahelegt. „Ich habe keine Meinung über die Gruppe gehabt und kann mich deshalb als unbefangen bezeichnen. […].

14 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 29–34; hier S. 29. 15 Vgl. hierzu kritisch-ausführlich Gilcher-Holtey: Was kann Literatur und wozu schreiben? In: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 14, Nr. 2 (2004), S. 207–232. Die Wendung „zu Fall gebracht“ zitiert Gilcher-Holtey, S. 216, aus einem offenen Brief von Günter Grass an Handke. Grass hatte sich durch die gelungene Selbstinszenierung Handkes angegriffen gefühlt. 16 Gilcher-Holtey: Die „große Rochade“: Schriftsteller als Intellektuelle und die literarische Zeitdiagnose 1968, 1989/90, 1999. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – MedienÖkonomien – Autorpositionen (2012), S. 77–97. Hier S. 84. 17 Vgl. http://www.princeton.edu/german/landmarks/gruppe-47/recordings/ (Zugriff am: 02.04.2013). Dort heißt es erläuternd: „Handke’s famous attack starts at 15:00“. Vgl. Polt-Heinzl: Peter Handke. In Gegenwelten unterwegs (2011), S. 50, die feststellt, dass „der Ruf des Provokateurs beinahe vor dem Autor da [war].“ 18 Vgl. ebd.

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Man hat mir später gesagt, ich hätte mit einer meiner Äußerungen eine stillschweigende Gruppenregel gebrochen, die verlange, daß nur über den gerade gelesenen Text gesprochen werde. Ich habe von dieser Regel nichts gewußt. Hätte ich davon gewußt, so hätte ich vielleicht nichts gesagt, und der Vorwurf, ich sei ,mutig‘ gewesen, wäre mir erspart geblieben.“19

Handke bezeichnet den Begriff „Beschreibungsimpotenz“ nachträglich als „Schimpfwort“, das er gebraucht habe, um sich von jener Form der Beschreibung zu distanzieren, die seinerzeit „in Deutschland als ,Neuer Realismus‘ proklamiert“20 werde. Dieser Realismus, der die Beschreibung von Dingen, das heißt von Realität im weitesten Sinne, zum Ziel habe, verkenne den durchaus manipulativen und wirklichkeitskonstitutiven Charakter der Sprache. Anstatt Eigenwert und Eigenleben der Sprache in und mit der Beschreibung zu verdeutlichen, glaube man, „naiv, durch die Sprache auf die Gegenstände durchschauen zu können wie durch das sprichwörtliche Glas.“21 Handke geht in seiner Kritik soweit, den Sinn einer solchen Literatur in Frage zu stellen, da sie sich selbst in ihrer Funktion aufhebe. „Ich glaube, daß es heutzutage nötig ist, die Welt näher anzuschauen und also detaillierter zu erfassen. Aber wenn diese vergrößert betrachtete Welt nur abgeschrieben wird, ohne daß mit der Sprache etwas geschieht, was soll’s dann? […]. In dieser Art von Literatur wird die Sprache herabgewürdigt zum Ersatz für die Kamera, zu einer Vorbereitung für eine Fotografie, zu einer gar nicht ironisch gemeinten Regieanweisung für eine Kameraeinstellung, zu einer Hilfswissenschaft.“22 „[D]ie Sprache [ist] eine Realität für sich und ihre Realität [kann] nicht geprüft werden an den Dingen, die sie beschreibt, sondern an den Dingen, die sie bewirkt.“23

In der Stellungnahme Handkes ist der sprachkritische Gestus durchgehend präsent; Sprache ist, in seiner Auffassung, abseits ihrer Beschreibungsquali-

19 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 29. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 30. 22 Ebd., S. 32. 23 Ebd., S. 34.

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täten nicht nur schön, sie ist auch eine „tückische“, mit ihr ist „jedes Ding zu drehen“24. Wie um dies zu bestätigen, provoziert Handke den öffentlichen Diskurs mit pressewirksamen Auftritten. Während das beschriebene, populäre Statement des Jungschriftstellers bei der Gruppe 47, verstanden als ein Akt der Rebellion, eher zu positivem Interesse sowohl an Person als auch Literatur Handkes geführt hatte, löste ein fast 40 Jahre später stattfindender Auftritt besonders kontroverse Reaktionen aus. Im Jahr 2004 besuchte Handke Slobodan Milošević im Den Haager Gefängnis. Diese Aktion erregte einiges Aufsehen. Voraus ging ihr der Eklat, der durch Handkes Serbien-Essay Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996) ausgelöst worden war und der durch eine umfangreiche Diskussion der tatsächlichen oder vermeintlichen proserbischen Haltung des Autors bestimmt wurde.25 Zusätzlich verschärft wurden die hierdurch angestoßenen Diskussionen über die politische Einstellung des Autors durch seinen Auftritt bei der Beerdigung Miloševićs im März 2006, bei der er eine Grabrede hielt. Während die Veröffentlichung des Serbien-Essays als zwar provokative, aber noch fiktionale, literarische Äußerung aufzufassen war (oder diese Auffassung zumindest mitgedacht werden musste), waren der Besuch Miloševićs sowie die spätere Grabrede eine konkrete, auch politisch deutbare Handlung der Person Peter Handke. Noch tiefer ins Kreuzfeuer geriet der Autor mit der Entscheidung der Jury des Düsseldorfer Heinrich-HeinePreises: Die Jury entschied im Mai 2006, den Heine-Preis an Handke gehen zu lassen. Der Düsseldorfer Stadtrat wollte diese Entscheidung aufgrund der Ereignisse und mutmaßlichen politischen Haltung Handkes nicht mittragen. Schließlich löste Handke den Streit selbst auf, indem er offiziell, in

24 Ebd,. S. 30. 25 Die zahlreichen Diskussionsbeiträge können an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt werden. Vgl. hierzu Weninger: „Der Ritt über den Balkan“. Gerechtigkeit für Peter Handke?. In: Ders.: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser (2004), S. 165–185; Gritsch: Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte (2009). Handkes Serbien-Essay erschien in zwei Einzelausgaben der Süddeutschen Zeitung, anschließend zudem als Buchpublikation bei Suhrkamp. Vgl. hierzu auch: Handkeonline. Forschungsplattform Peter Handke unter URL: http://handkeonline.onb.ac.at/ (Zugriff am 05.06.2013)

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einem Schreiben an den Oberbürgermeister, auf den Preis verzichtete.26 Insgesamt waren die Reaktionen auf Handkes Einstellungen bezüglich Milošević und des Jugoslawienkonflikts mehrheitlich von Unverständnis und Entsetzen27, seltener von Einverständnis und Zuspruch28 geprägt. Milošević, der ehemalige Staatspräsident Serbiens und später Jugoslawiens, wurde vom Internationalen Strafgerichtshof unter anderem wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Die Komplexität der Jugoslawienkriege, die zumeist vereinfachenden Darstellungen in der westlichen Presse, die darauf beruhenden Meinungen zu Milošević und zur gesamten serbischen Ethnie, alarmierten Handke offenbar in seiner medien- und sprachkritischen Haltung: Er „trat als ,Buchstabenmann‘, wie er, ,homme de lettres‘ übersetzend, sich nannte, an zu einem Aufstand gegen die Medien.“29 Durch die Herkunft seiner Mutter, einer

26 Die FAZ berichtet hierüber am 08.06.2006. 27 So kritisierte etwa Marcel Reich-Ranicki, angesichts der Ereignisse, die geplante Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Peter Handke scharf. Vgl. den Kommentar von Spiegel: Preis für Peter Handke. Heine wird verhöhnt. In: FAZ, Nr. 122 (27.05.2006), S. 33. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher /preis-fuer-peter-handke-heine-wird-verhoehnt-1333599.html (Zugriff: 07.06. 2013). 28 Alice Schwarzer äußert sich positiver. Vgl. ebd.; Die Schauspieler Käthe Reichel und Rolf Becker initiierten aus Protest gegen die Düsseldorfer Entscheidung, gemeinsam mit weiteren Unterstützern, einen alternativen „Berliner Heinrich-Heine-Preis“. Auch Claus Peymann unterstützte das Vorhaben. Handke nahm den Preis nicht an und wünschte stattdessen, dass ein für ihn gesammeltes Preisgeld an serbische Dörfer im Kosovo gespendet werde. Vgl. etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung: Heine-Preis. Handke lehnt Alternativpreis ab. In: FAZ vom 22.06.2006, URL: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/heinepreis-handke-lehnt-alternativpreis-ab-1330832.html (Zugriff: 15.12.2012). 29 Gilcher-Holtey: Die „große Rochade“. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart (2012), S. 94. Vgl. auch Sexl: Poesie als Medienkritik. Die Jugoslawien-Kriege im Werk Peter Handkes (2012), URL: http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/sexl-2013.pdf (Zugriff: 05.04.2013), sowie Struck: Keuschnig statt Kobal. Das Wechselspiel von Sprachkritik und Erzählen im Werk Peter Handkes (2013), URL: http:// handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/struck-2013.pdf (Zugriff: 05.04. 2013).

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Kärntner Slowenin, ist Handke darüber hinaus den Vorgängen auf dem Balkan in besonderer Weise verbunden.30 Doch weder seine literarischen Jugoslawien-Texte31 noch seine Kommentare und Richtigstellungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung32 und der Süddeutschen Zeitung33 oder seine mündlichen Äußerungen scheinen geeignet, eine öffentlichkeitswirksame Alternative zu der von ihm empfundenen mangelnden Sensibilität anzubieten. Vielmehr erhält Handke genau jene Kritik zurück34, die er selbst formulierte: mangelnde Sensibilität, verkürzte Darstellungen, Unwissenheit und Oberflächlichkeit. Ergänzt um den Einwand, die eigenen Kompetenzen mit derartigen, politisch lesbaren Wortmeldungen deutlich zu überschreiten. Handke bekundet: „Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wusste über diesen ,Schlächter‘ und ,zweifellos‘ schuldigen

30 Vgl. hierzu Herwig: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie (2011), S. 259, der feststellt: „Keine Frage: Was in den neunziger Jahren auf dem Balkan passiert, geht ihn an. Mit dem Austritt Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverbund und der Orientierung zum Westen hin verliert Handke sein ,Mutterkindland‘.“ 31 Hierzu gehören Handke: Abschied des Träumers vom neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien (1991); Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996); Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996); Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999); Handke: Unter Tränen fragend: Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999 (2000); Handke: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević (2006). Der letztgenannte Text entstand als Reaktion auf die zuvor von Handke abgelehnte Einladung der Verteidiger Miloševićs, als Zeuge am Den Haager Prozess teilzunehmen. 32 Vgl. Handke: Was ich nicht sagte. In: FAZ, Nr. 124 (30.05.2006), S.33. 33 Vgl. Handke: Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. In: SZ, Nr. 125 (01.06.2006), S.13. 34 Vgl. etwa Emcke: Handke-Debatte. Versuch über das geglückte Kriegsverbrechen, Spiegel-Online (04.06.2006), URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur /0,1518,419661,00.html (Zugriff: 02.04.2013).

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,Diktator‘, dem noch sein Tod zur Schuld gereichen sollte, weil er sich ,vor dem Schuldspruch, ohne Zweifel lebenslänglich, weggestohlen‘ habe - warum, fragte ich, bedurfte es da noch eines Gerichtes, um ihn schuldig zu sprechen? Solche Sprache war es, die mich veranlasste zu meiner Mini-Rede in Pozarevac - in erster und letzter Linie solche Sprache, nicht eine Loyalität zu Slobodan Milosevic, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache.“35

Diese „klärende[n] Worte verhallen ungehört“36, wie Malte Herwig rückblickend feststellt. Es ist unter anderem die Sprache, es sind einzelne Formulierungen, die Handke zum Verhängnis werden – seiner sprachkritischen und -reflexiven Haltung zum Trotz. Auch engste Freunde hatten Probleme, seine Motive nachzuvollziehen.37 Unabhängig davon, welche Absichten oder Motive sich hier rekonstruieren lassen, die absichtliche Verwirrung der Öffentlichkeit im Sinne einer Medienkritik, die Selbstentlarvung medialer, gesellschaftlich bedingter Machtverhältnisse, eine persönliche Bewegtund Betroffenheit, eine differenziertere Betrachtung der Kriegsereignisse, der serbischen Ethnie – Handkes Anliegen ist fraglos in dem Sinne misslungen, dass es bis heute für einen großen Teil seines Publikums nicht kommunizierbar geblieben ist.38 Die Gründe für die gescheiterte Kommu-

35 Handke: Endlich über Jugoslawien reden. URL: http://www.novo-magazin.de/ 83/novo8340.htm (Zugriff: 02.04.2013). Handke bezieht sich hier auf seinen früheren Artikel: Ich wollte Zeuge sein. Die Motive meiner Reise nach Pozarevac, Serbien – an Milosevics Grab. In: Focus, Nr. 13 (27.03.2006) 36 Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 251. 37 Ebd., S. 251. 38 Ein Geheimnis wollte Handke dabei, nach eigenen Angaben, aus seinen Besuchen bei Milošević, Karadžić (1996) und anderen nie machen. Vgl. Greiner: Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris. ,Erzählen‘, so sagt er, ,ist eine Offenbarung‘. In: Zeit-Literatur, Nr. 48 (Nov. 2010), S. 6, in dem Handke angibt: „Ja, ich habe einen serbischen General in Sarajevo besucht, der auf der Seite der Muslime gekämpft hatte, und ich wollte den Mufti von Sarajevo sprechen, aber das Treffen wurde aus Termingründen abgesagt. Nichts an der Reise zu Karadžić war ,klandestin‘ oder ,konspirativ‘, wie in Ihrem Feuilleton behauptet wurde. Da stand auch, ich hätte einen Verdienstorden der Republik Srpska bekommen. Das hat es nie gegeben, ebenso wenig wie die Rose, die ich auf den

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nikation können an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden. Sie sind ähnlich komplex wie das politische Thema selbst und wurden wiederholt von Autoren in Wissenschaft und Journalismus aufgegriffen. So hat beispielsweise Anne Lindner die politisch-historischen Ereignisse breit aufgearbeitet, um sie für eine literaturwissenschaftliche Perspektive fruchtbar zu machen. Innerhalb der „argumentative[n] Struktur“39 der HandkeSerbien-Debatte arbeitet sie primär eine hier wirksam gewordene „strukturelle Gewalt“ heraus, die „offenbar über Aussageregime ausgeübt“40 werde. „Es war eine Struktur der Brüche und der Blockbildung. Eine binäre und binarisierende Struktur, deren beide Fronten von einer Aussageseite aus definiert wurden. Diese Fronten hießen: ,Dies hat Handke geäußert.‘ Und: ,Dies ist die Situation und sind die gültigen politischen und ethisch-moralischen Maßstäbe unter denen die Situation und alle Äußerungen darüber zu messen sind.‘ Vor allem zwei Überzeugungen erfreuten sich dabei Prominenz und Anhängerschaft: 1. Der Schriftsteller sei in derartigen politischen Fragen zu wenig kompetent, als daß er sich nicht auf (moralisch-ethisches) Glatteis begäbe und dort zu Boden gehen müsse. 2. Eine Hinterfragung des medialen und berufspolitischen Konsenses über die humanitäre Legitimation des westlichen Vorgehens im Balkan könne nur aus der faschistischen Haltung einer irregewordenen Milosevic-Anhängerschaft erwachsen sein.“41

Auch ohne die Kompetenzfrage – die konsequenterweise an alle Akteure zu stellen wäre, seien sie Schriftsteller, Journalisten oder Politiker – klären zu können, dürfte für die meisten Teilnehmer und Beobachter der Debatte außer Frage gestanden haben, dass Handke „ein politisches Problem gestellt“42 hatte, das nicht nur aus dem Inhalt seiner Äußerungen resultierte,

Sarg von Milošević gelegt haben soll. So etwas zu schreiben heißt, dem Krieg den Krieg hinzuzufügen.“ 39 Lindner: Peter Handke, Jugoslawien und das Problem der strukturellen Gewalt. Literaturwissenschaft und Politische Theorie (2007), S. 17. 40 Ebd., S. 21. 41 Ebd., S. 17. 42 Ebd., S. 18.

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sondern wesentlich durch den Umgang mit diesen Äußerungen mitbestimmt war.43 Die naheliegende Frage, warum an dieser Stelle auf die Serbien-Debatte überhaupt eingegangen wird, beantwortet sich aus der theoretischen Fundierung der vorliegenden Arbeit. Ein wesentlicher Aspekt der Texte der 1970er Jahre ist der sprachkritische Gestus Handkes, der wiederum als eine Konstante in der ästhetisch-poetologischen Positionierung des Autors verstanden werden kann. Insbesondere für Handke schließen sich die Reflexion des explizit und implizit Politischen sowie des Engagement-Begriffs unmittelbar an den Sprachbegriff an.44 Fragen nach Politik und Engagement sind in diesem Sinne auch produktionsästhetisch relevant, wie besonders in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) deutlich wird. „Wie die Dinge durch die Benennung ,ihre Unschuld verlieren‘, so verlieren die Wörter durch die literarische Zitierung ihre Unschuld: sie zeigen überraschend nicht mehr auf die Dinge, sondern auf sich selber: sie zeigen sich selber.“45 „Jedes Engagement also wird durch literarische Form entwirklicht: in der Geschichte wird es Fiktion, im Gedicht Poesie, oder beides in beiden. Der engagierte Schriftsteller kann sich, als Schriftsteller, nicht engagieren. Die Literatur macht alles Wirkliche, auch das Engagement, zu Stil. Alle Wörter macht sie unbrauchbar und verdirbt sie, mehr oder weniger.“46

Im Rahmen dieser Arbeit wird die Bestimmung des medialen Organisationsprozesses selektiv, das heißt unter Auswahl einiger Publikationen, vorgenommen. Handkes ästhetische Positionen ergeben sich jedoch aus einem größeren Zusammenhang, innerhalb dessen nicht zuletzt die SerbienDebatte aufschlussreich ist. Darüber hinaus hat sie die Wahrnehmung und

43 Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Dusini: Noch einmal für Handke. Vom Krieg, von den Worten, vom Efeu. In: Amann, Hafner, Wagner (Hg.): Peter Handke. Poesie der Ränder (2006), S. 84–98. 44 Wie besonders eindringlich in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) vermittelt. 45 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 47. 46 Ebd., S. 49, 50.

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Bewertung nicht nur der Person, sondern auch der Arbeiten Handkes nachhaltig beeinflusst47. In der frühen Sekundärliteratur lässt sich noch wenig von einem spürbaren, politischen Impetus bei Handke lesen, sondern eher von einem „weitverbreitete[n] Mißverständnis bei der Kritik von Werken Handkes als ,unpolitischer‘ Esoterik.“48 Handke hatte sich auch im Kontext der Ereignisse um 1968, ähnlich wie Brinkmann, nicht politisch vereinnahmen lassen. „Es braucht keinen Scharfsinn, um zu bemerken, daß Handkes Werk in den siebziger Jahren ein Refugium für die anbietet, die von der Politik enttäuscht wurden. Daß er wie andere Autoren der Gegenwartsliteratur auf larmoyante Weise sich nun dem Ich zukehre […] ist falsch, denn Handke hat nie an revolutionären politischen Hoffnungen Anteil gehabt und hat auch nie aus politischen Motiven vom Ich Abstand genommen.“49

Handke gehört um 1968 zu jenen Autoren, die „als Repräsentanten der Innovation und des neuen Lebensgefühls wahrgenommen“ wurden, sich aber „rasch in der ihnen zugedachten gesellschaftlichen Rolle nicht mehr wiederfinden“50 konnten. Eine Beobachtung, die in verschiedener Hinsicht

47 Vgl. hierzu Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 251f. 48 Hüppauf: Peter Handkes Stellung im Kulturwandel der sechziger Jahre. In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 9–43; hier S. 39, 40. 49 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 142. 50 Polt-Heinzl: In Gegenwelten unterwegs (2011), S. 20. Vgl. auch Arnold: Die westdeutsche Literatur 1945–1990 (1995), S. 112, der Handke als Schriftsteller „einer Generation“ versteht, „die gegen die doppelte Moral der überkommenen Zeitmuster nicht die auf Verallgemeinerung basierende politisierende Handlung, sondern […] das subjektive literarische Beispiel stellt.“; sowie Hüppauf: Peter Handkes Stellung im Kulturwandel der sechziger Jahre. In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 40, der betont, Handkes Werke hätten „an der Veränderung der kulturellen Situation Anteil: am Angriff auf die Tradition, an der Diskussion und Erprobung neuer Definitionen und an deren schließlicher Deformation. Soweit die Revolte der sechziger Jahre auf neue Formen der ästhetischen und lebenspraktischen Kultur zielte, gehört Hand-

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auch für Rolf Dieter Brinkmann gilt. In Handkes Dummheit und Unendlichkeit (1969) liest sich der kurze Abschnitt Nachtvorstellung wie ein StilZitat Brinkmanns. Ton und Wortwahl Handkes erinnern hier an Keiner weiß mehr (Brinkmann, 1968), mehr noch an Rom, Blicke (Brinkmann, 1979), worin Brinkmann darüber hinaus inhaltlich, in der Distanzierung von Rechten wie Linken, mit Handke übereinstimmt. Handkes „Wunsch: daß man sie zusammentun würde, die linke Scheiße und die rechte Scheiße, die liberale Scheiße dazu, und eine Bombe drauf schmeißen“51, ist ein Bruch mit dem gewohnten Ton des Autors. Auf sprachliches Feingefühl und eine durchdachte Wortwahl scheint Handke hier bewusst zu verzichten – so, als adaptiere er den Gestus der Revolte auf dem Gebiet der Sprache, um sich zugleich inhaltlich von allen politischen Lagern zu distanzieren. Während Jugoslawientexte und Serbien-Debatte dazu beigetragen haben, dass man Handkes Ferne vom politischen Diskurs in Frage stellte, hält sich eine andere Ansicht konstant: bei Handke habe man es mit einem Widerstand gegen das Geschichtliche oder gar einer „Negation von Geschichte“52 zu tun. In der Forschungsliteratur ist hiervon immer wieder zu lesen. Der Autor selbst spricht im Interview mit Herbert Gamper von seinem „Widerstand“ im Schreiben: „Dann kamen eben zehn Jahre meines Lebens, wo ich – aber auch nicht nur natürlich – das Kind meiner Zeit war und mich dabei eigentlich auch in Gesellschaft gefühlt hab (was ich auch gebraucht habe). Aber natürlich, um ein Buch weiterschrei-

ke zu ihr“. Den übrigen „Dimensionen der Protestbewegung“ habe Handke hingegen „wohl eher fremd gegenübergestanden.“ 51 Handke: Dummheit und Unendlichkeit (1969). In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 153–157. Hier S. 156. 52 Handke im Gespräch mit Herbert Gamper: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), Klappentext. Vgl. auch Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 151, der feststellt, dass in Handkes Texten seit dem Kurzen Brief „Politik und Geschichte […] ausgeschlossen“ würden zugunsten einer „ästhetische[n] Erfahrung an alltäglichen Wahrnehmbarkeiten der Gegenwart“. Vgl. auch Huber: Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz (2005), S. 201, 202, der betont, dass „sowohl Aktualität als auch Historie für Handke Verfallszustände sind, beherrscht von sekundärer Wirklichkeit. Dagegen setzt er ein ahistorisches ganz Anderes, dessen Ort die Epiphanie ist“.

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ben zu können, muß man dann aufhören, das Kind seiner Zeit zu sein. An irgend einem Moment erkennt man dann, daß die Schreibarbeit gar kein Mitsprechen mit der historischen Epoche ist, sondern immer ein Heraustreten […]: es ist immer ein Widerstand.“53

Dabei macht Handke am Beispiel von Langsame Heimkehr deutlich, dass das Geschichtliche sich selbst aufdränge, zugleich aber – womit er an Adornos Diktum erinnert – sei dies „nach der Historie dieses Jahrhunderts […] ungeheuer eigentlich fast.“54 Handke verleiht dem sogenannten Widerstand gegen das Geschichtliche hiermit einen allgemeineren Charakter. Auf das eher Allgemeine hebt auch Bernd Hüppauf ab, wenn er 1979 aus geringer historischer Distanz die kulturelle Situation um 1970 als eine „Negation der bis dahin – etwa seit dem Ende der zwanziger Jahre – dominierenden“55 Geschichtlichkeit definiert. Die Fragen nach geschichtlichen Zusammenhängen würden um 1970 durch anderes, etwa die „Zuwendung zu den Phänomenen selbst“ und die „Inszenierung klein dimensionierter Realitäten“56 abgelöst, woran Handke Anteil habe. Demnach ließe sich der Widerstand gegen das Geschichtliche allererst in einem größeren Kontext literatur- und kulturhistorisch verstehen. Die Frage nach Handkes Haltung zur Geschichte wird allerdings immer wieder gestellt und eine eindeutige Positionsbestimmung bleibt problematisch.57 Im Gegensatz zu den Kontroversen um Politik und Geschichte, ist Handkes Affinität zur Sprachthematik unstrittig. Der bereits angesprochene sprachkritische Gestus betrifft einerseits Kompetenz und Macht der Sprache, andererseits das Verhältnis des Subjekts zu seiner Welt und dem zur

53 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 125. 54 Ebd., S. 19, 20. 55 Hüppauf: Peter Handkes Stellung im Kulturwandel der sechziger Jahre. In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 11. 56 Ebd. 57 So entgegnet Handke etwa auf die Anmerkung Ulrich Greiners in einem ZeitInterview, sein neues Theaterstück Immer noch Sturm sei „auch eine Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte“, dass dieses vielmehr „ein Sturm gegen die Geschichte, gegen Geschichte als Fortschrittskategorie“ wäre. In Greiner: Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris. In: Zeit-Literatur, Nr. 48 (Nov. 2010), S. 6.

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Verfügung stehenden Zeichensystem. Handke erkundet dabei nicht nur das schriftsprachliche Zeichensystem, sondern entdeckt ebenso Theater58, Hörspiel59 und Film60 für sich. Er verwirft allerdings die Literatur nie und bleibt dem schriftsprachlichen Ausdruck bis heute vorrangig verhaftet. Bereits 1963, mit Anfang Zwanzig, besucht er das Grazer Forum Stadtpark, das als eine innovative Vereinigung, als ein „Sammelpunkt unabhängiger Künstler, die frischen Wind in den Nachkriegsmief der österreichischen Kulturszene bringen wollen“61 von den Zeitgenossen wahrgenommen wird. Neben der Wiener Gruppe wird es zum „zweiten Zentrum der literarischen Avantgarde“62 Österreichs. Handke wird mit dem Forum identifiziert, befreundet sich mit Alfred Kolleritsch, dem späteren Präsidenten des Forums und Herausgeber der Literaturzeitschrift Manuskripte, wahrt jedoch stets eine skeptische Distanz zum Grazer Forum63. Er sieht sich selbst, rückblickend, nicht als Avantgardisten. „Ich war nie ein Avantgardist. Im Forum Stadtpark war ich immer der Nachzügler, der Konservative im Vergleich zu Wolfgang Bauer, zu Gunter Falk und vor allem zur Wiener Gruppe. […]. Ich hab dann das alles auch gern gehabt, auch die Avantgarde, und ich find die konkrete Poesie inzwischen auch sehr heilsam, das waren

58 Die Uraufführung des Sprechstücks Publikumsbeschimpfung (1966) unter der Regie von Claus Peymann verhilft Handke zum Durchbruch. Handke, der sich mit Popmusik gut auskannte, die Rolling Stones und die Beatles verehrte, trat selbst im Stil der Beatles auf – mit Pilzkopffrisur und Sonnenbrille. Die Publikumsbeschimpfung erhält, wie von Handke beabsichtigt, die Aufmerksamkeit eines Popkonzertes. Vgl. hierzu Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 144–156. 59 Vgl. Handke: Wind und Meer. Vier Hörspiele (1970). 60 Vier der insgesamt acht Filme, für die Handke die Drehbücher schrieb (und teilweise auch Regie führte), erscheinen in den 1970er Jahren: Chronik der laufenden Ereignisse (1970); Die linkshändige Frau (1977); Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) sowie: Falsche Bewegung (1975). 61 Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 113. 62 Ebd. 63 Vgl. hierzu ebd., S. 115.

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auch ganz großartige Leute… aber die Literatur ist kein Fortschritt. Es gibt Varianten, Nuancen und Varianten, auch wirklich große Variationen.“64

Handkes Selbstbezeichnung als konservativ ist auch ein Akt der nachträglichen Abgrenzung, der auf den ersten Blick weder zum Auftreten noch zum Debüt-Stück des Autors passen will. Als Anhänger einer bestimmten Mode oder eines wie auch immer gearteten Zeitgeistes möchte Handke nicht verstanden werden. Im Zentrum seiner Literatur stehen entsprechend keine aus einer bestimmten Mode oder Szene rekrutierten Themen oder Tagesaktualitäten, sondern allererst das erzählte oder erzählende Ich, dessen Kontextualisierung auf einer eher abstrakten denn konkreten Ebene erfolgt.65 Eine Identifikation von literarischem Ich und Autor-Ich schließt Handke nicht aus beziehungsweise befördert eine solche, wenn er in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms von dem Ziel spricht, sensibler und über sich selbst klarer zu werden.66 Die von ihm angestrebte Sensibilität ist dabei reflexiver als die eines Rolf Dieter Brinkmann, da sie das Wie, Was und Warum des Sprechens und der Sprache an sich mitdenkt.67 Sprache ist für Handke we-

64 Handke: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. von Klaus Kastberger (2009), S. 26. Brinkmann ist ähnlicher Meinung, wenn er schreibt: „Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich“. Brinkmann: Der Film in Worten (1982), S. 232. 65 Vgl. hierzu auch Borchmeyer: Mäanderschwingungen: Peter Handkes Briefwechsel mit Hermann Lenz. In: Dutt, Luckscheiter (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne: Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag (2007), S. 15–22; hier S. 22: „Für Handke […] ist die von der Dominanz der ,Story‘ geprägte Epoche des Erzählens vorbei. Episch ist die bildhafte Zuständlichkeit, das Verharren bei den Dingen, die zyklische Wiederholung, nicht mehr das Nacheinander und die lineare Progression einer erzählbaren Geschichte.“ 66 Vgl. Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 26. 67 Vgl. Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147–155. Brinkmanns Sensibilitätsbegriff zielt eher auf das, was physisch-konkret da ist, was mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Darüber hinaus gilt für Brinkmann Ähnliches wie für Handke: das (schreibende) Ich und die alltäglichen Dinge sollen in der Literatur enthalten sein, hingegen keine großen Themen abgehandelt werden. Vgl. auch Barry, der im Sinne McLuhans feststellt: „The medium for Handke is the message.“ Barry: Text as

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der als schlichtes Vehikel noch als ungenügend im Sinne einer auch physisch interpretierten Sensibilität zu verstehen, die das Sehen, Hören, Fühlen eines Ichs erfahrbar zu machen sucht. Verkürzt könnte hier man von einer Sprach-Sensibilität sprechen. „Sind die bestehenden Wörter nicht schon die Beweise, daß das von ihnen Bezeichnete, wenn auch im Moment nicht offenbar, Tatsache ist? Und kann man die Wörter nicht alle verwenden, im rechten Moment (im rechten Satz)?“68

Auch die Selbstsuche, das heißt der Drang nach Selbstverständnis und Selbstverständigung, spielt sich auf einer vorrangig sprachlichen Ebene ab. In der Erkenntnis, Sprache eigne sich nicht zum einfachen Durchsehen auf eine objektiv vorhandene Welt, stimmen die beiden Autoren überein. Während allerdings Handke sich der Sprache selbst zuwendet, „die tückische Sprache selber durchschauen“69 will und erkennt: Literatur wird „mit der Sprache gemacht“70, wendet Brinkmann sich gegen ein „akademisiertes Bewußtsein, das nur noch auf Wörter (Begriffe) zu reagieren versteht“71 und rät, „auf Wörter oder Sätze und Begriffe so lange draufzuschlagen, bis das in ihnen eingekapselte Leben […] neu daraus aufspringt […].“72 In der Kategorie des Materials, das heißt in der Frage, was das Material der Literatur sein kann und soll, zeigt sich somit die Differenz. Für Handke lässt sich ein vorrangig philosophisch-abstrakter Materialbegriff, im weiteren Sinne als „Korrespondenzbegriff zu ,Form‘“73, bestimmen. Die Hervor-

Life / Life as Text: Handke’s Non-Fiction. In: Coury, Pilipp (Hg.): The Works of Peter Handke. International Perspectives (2005), S. 283–309; hier S. 294. 68 Handke: Die Geschichte des Bleistifts (1982), S. 25. 69 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA (1966). In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 30. 70 Ebd., S. 29. 71 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 229. 72 Ebd., S. 246. 73 Wagner: Material. In: Barck, Fontius, Schlenstedt u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3 (2001); S. 866–882; hier S. 866.

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hebung des „physisch nicht greifbare[n]“74 Materials Sprache führt tendenziell zu einer Gleichsetzung von Material, Sprache und Medium. Demgegenüber steht der Begriff des Materials bei Brinkmann, insbesondere dann, wenn er ihn selbst anwendet, primär für das mit Sprache bezeichnete physisch und sinnlich wahrnehmbare Material. Auch die Abgrenzung zu Kluge ist deutlich, dessen Fokussierung auf das Material des Geschichtlichen – auf dessen rhizomatische Zusammenhänge, Gegenwärtigkeit und individuelle Wirksamkeit – im vorigen Kapitel herausgestellt wurde. Nicht nur an den frühen Arbeiten Handkes lässt sich ein Schwerpunkt im „Symbol- und Verweisungscharakter der Dinge auf den Zustand des Individuums“75 beobachten. Wo es um Dinge geht, geht es mithin nicht zwangsläufig um Faktizität oder Konkretion. Die Absicht, Sprache wie das „unbeseelte Objektiv einer Kamera“ einzusetzen und so eine „scheinbar unverfälschte Objektivität“76 darzustellen, liegt offensichtlich keinem der Handke-Texte zugrunde. Wie also versucht Handke seines Materials habhaft zu werden, das ihm zugleich als Ich-Maßstab dient? Wenn kein konventioneller Plot, keine tragende Story mehr instrumentalisiert werden und ebenso wenig auf die bloß abbildende Funktion sprachlicher Zeichen gesetzt werden soll, müssen andere poetologische Prinzipien zum Einsatz kommen. Konkret sollen diese mit den folgenden Literaturanalysen herausgearbeitet werden, einige allgemeinere Beobachtungen lassen sich aber schon jetzt formulieren. Deutlich ist, dass Handke, sowohl in der Aneignung des Wirklichen wie auch des Sprachwirklichen, den Schwerpunkt aufs Detail legt. Mit den Suchbewegungen des Subjekts wird nicht der große Überblick anvisiert77, sondern

74 Ebd., S. 869. 75 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 25. Auf die Verweiskraft spielt Handke im Gespräch mit Herbert Gamper: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 24, selbst an: „Diese Zeichenwelt, es muß ja nicht nur die Reklamewelt sein, tut mir weh – es sei denn, ich finde selber mein Zeichen, also ich entdecke an einem unschuldigen Gegenstand, an einem urwüchsigen, naturwüchsigen Gegenstand das Zeichen, das diesen sozusagen über sich selber hinaus gelten läßt“. 76 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 26. 77 Am Beispiel von Die Stunde der wahren Empfindung erläutert dies Michel: Verlustgeschichten. Peter Handkes Poetik der Erinnerung (1998), S. 40: „Dem Überblick stellt er eine andere Wahrnehmungsweise – die Eingrenzung seines

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primär das Detail und seine potenzielle Verweiskraft. Zudem erfüllen Räumlichkeit und Topografie wichtige Funktionen in der Literatur Handkes. Dies ist in der Forschung bereits umfassend thematisiert worden78 und stellt einen offensichtlichen, zentralen Bezugspunkt zu den Texten Brinkmanns und Kluges dar. Handke bezeichnet sich selbst als „OrtsSchriftsteller“, der „den Ort nicht beschreiben, sondern erzählen“79 will. Anstatt von einer Geschichte oder einem Ereignis auszugehen, nehme er stets einen Ort zum Anlass80, womit er auch an Heideggers „Rede von der ,Ortschaft des Seins‘“81 erinnert. Darüber hinaus ist Handkes Produktion durch eine charakteristische Bildlichkeit gekennzeichnet. Diese drückt sich, bei genauerer Betrachtung, weniger im gelegentlichen Einsatz von Fotos in

Blickfeldes bis hin zur Aufnahme am Boden liegender unscheinbarer Dinge – entgegen.“ 78 Konjunktur erlebte die Thematik sicher auch im Zuge neuerer Räumlichkeitskonzepte sowie des so genannten Spatial Turn, dessen Grundlegung in Kap. 1 skizziert wurde. Vgl. zu Handke etwa Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984); Halsall: Place, Autonomy and the Individual. In: Coury, Pilipp (Hg.): The Works of Peter Handke (2005), S. 46–79; Bartmann: Hand und Fuß: Peter Handkes literarische Anthropologie. In: Haslinger, Gottwald, Freinschlag (Hg.): Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit. Erzählen als (Über)lebenskunst. Vorträge des Salzburger Handke-Symposions (2006), S. 9–18; Luckscheiter: Heimat der Heimatlosen. Peter Handke, Emmanuel Bove und das Genre der Vororterzählung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 37, H. 1 (2005), S. 49–58; Tabah: Landschaft als Utopie? Ästhetische Topographien in Handkes Werk seit der „Langsamen Heimkehr“. In: Haslinger, Gottwald, Freinschlag (Hg.): Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit (2006), S. 19–30. Vgl. auch die Dissertation von Luckscheiter: Ortsschriften Peter Handkes (2012). 79 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 19. 80 Vgl. ebd. 81 Busch: Raum – Kunst – Pathos. Topologie bei Heidegger. In: Günzel (Hg.): Topologie (2007), S. 115. Auf Handkes Heidegger-Rezeption wird in der Forschung häufig eingegangen. Vgl. vor allem Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984) und Huber: Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz (2005). Vgl. hierzu auch Kastberger: Bodensatz des Schreibens. Peter Handke und die Geologie (2012), S. 6f, URL: http://handkeonline.onb.ac.at/ forschung/pdf/kastberger-2012a.pdf (Zugriff: 04.04.2013).

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Texten oder gar in seinen Filmproduktionen aus, sondern im Kern geht es „um die Bildlichkeit von Handkes Schreibweise, also um die Funktion, die Bilder in seinen Erzählungen besitzen, um die Kontinuität und um die Metamorphose von Bildern […]“, die eine durchgehende „Suche nach Formen“82 kommunizieren. Handke selbst berichtet im Gespräch mit Herbert Gamper, er habe sich bereits als Kind häufig durch Abbildungen ablenken lassen, jedoch auch in Momenten der Gelassenheit „durch die Ruhe alles wieder sehen“83 können: das, „was einem Antwort gibt, wie eine Farbe, an einem natürlichen Ort, und eine Form zugleich.“84 Bildlichkeit und Form der Literatur gehören bei Handke zusammen und lassen sich kaum auseinanderdividieren. Abgrenzungen zu einer topologischen Bildlichkeit, die hier für Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr (1968) diskutiert wurde, ergeben sich deutlich aus den untersuchten Textbeispielen. Dass Handkes Sprach-Bildlichkeit nicht in eine letztlich intermediale Schreibweise mündet, wie dies bei Brinkmann der Fall ist, unterstreicht einmal mehr die werkübergreifende Funktion des Sprachlichen. Der mediale Organisationsprozess, die In-Beziehung-Setzung von Subjekt, Material und Medium, ist bei Handke fraglos durch diese zentrale Positionierung der Sprachthematik geprägt. Wie aber wird Sprache letztlich poetologisch relevant, oder, anders formuliert: In welcher Form partizipiert sie an dem Organisationsprozess, als dessen Ergebnis eine spezifische ästhetische Erfahrung erkennbar wird? In den folgenden drei Kapiteln werden zentrale Texte Handkes aus den 1970er Jahren in den Blick genommen. Unter Berücksichtigung der vorgestellten Charakteristiken sollen so am literarischen Beispiel Antworten auf diese Frage herausgearbeitet werden.

82 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 20. 83 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 23. 84 Ebd.

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4.1 D ER KURZE B RIEF (1972)

ZUM LANGEN

A BSCHIED

Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied85 entsteht, so im Buch angegeben, im Sommer und Herbst 1971 und erscheint 1972. Die von der Kritik mit großem Interesse aufgenommene Erzählung86 gliedert sich in zwei etwa gleich lange Teile: Der kurze Brief und Der lange Abschied. Unter anderem der „chronologisch ungebrochene Geschehensablauf“87 führte zu der Auffassung, dass sich bei Handke eine Kehre beziehungsweise eine Annäherung an die konventionelle Erzählung vollziehe und dass der Autor hiermit „den sprachexperimentellen Ansatz seiner frühen Prosa hinter sich [lasse]“88. Auch die „autobiographische Komponente“89 wird zum Anlass genommen, von einer Kehre oder Wende zu sprechen. Christoph Bartmann stellt zudem fest, Handkes Texte seit dem Kurzen Brief handelten „von der Lust oder von dem Wunsch, sich eine kohärente Welt zu schaffen, deren Verknüpfung ästhetisch erfahrbar ist und die das Subjekt in sich ein-

85 Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied (1973). Im Folgenden auch abgekürzt mit Kurze[r] Brief. 86 Die Gattungsbezeichnung „Erzählung“ folgt Handkes eigener Bezeichnung. Vgl. das Gespräch mit Klaus Kastberger und Elisabeth Schwagerle in Handke: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. von Klaus Kastberger (2009), S. 16, wo Handke von seinem Selbstvertrauen berichtet, „aufgrund der Erfahrung der anderen Erzählungen vorher, angefangen vom Kurzen Brief zum langen Abschied bis zu Die Stunde der wahren Empfindung, dass ich gedacht habe, die Erzählung geht, das ist meine Sache, das ist mein Triumph […].“ 87 Mayer: Im „Western“ nichts Neues? Zu den Modellen in „Der kurze Brief zum langen Abschied“. In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 145–164; hier S. 145. 88 Stein, Stein: Chronik der deutschen Literatur. Daten, Texte, Kontexte (2008), S. 823. 89 Mayer: Im „Western“ nicht Neues? In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 145; Roberts: Peter Handke: Die Stunde der wahren Empfindung. In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen. (1979), S. 83–100; hier S. 87, spricht von der „Wende zu einer autobiographischen Selbstfindung in einer mythischen Neuen Welt“.

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schließt.“90 Vergleicht man etwa zeitlich nahe Texte Handkes wie Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969), Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) oder noch die Chronik der laufenden Ereignisse (1971) mit späteren Publikationen der 1970er Jahre, dann ist die Rede von einer merklichen Veränderung des Schreibens zumindest nicht haltlos. Neben dem Kurzen Brief sind auch Wunschloses Unglück (1972), Die Stunde der wahren Empfindung (1975) und Die linkshändige Frau (1976) Beispiele eines vergleichsweise kohärenten Erzählens und der Konstruktion in sich geschlossener Erfahrungs- und Lebenswelten. Auch im Sinne der Tendenzwende und einer Rückkehr zum Subjekt ist Handkes Kurzer Brief interpretiert worden, wobei von einer solchen nicht die Rede sein kann, wenn – an Stelle eines allgemeinen Blicks auf die Literatur der 1960er Jahre – die Werke des Autors selbst zum Maßstab genommen werden. Zu Beginn der 1970er Jahre sind offenbar weder literaturprogrammatische noch gesellschaftspolitische Themen oder gar eine Abkehr von denselben für Handke von zentralem Interesse, wenn diese ihn auch nicht unbeeindruckt lassen. Einschneidendes und Folgenreiches spielt sich im Privaten ab. Der Selbstmord der Mutter im Herbst 1971, noch während Handke am Kurzen Brief arbeitet, beeinflusst die Arbeit des Autors beinahe unmittelbar: Bereits acht Wochen später beginnt er mit der Niederschrift von Wunschloses Unglück91, Leben und Tod der Mutter literarisch zu verarbeiten. Schon im Kurzen Brief wird Privates verarbeitet, insoweit hier eine vorausgehende Amerikareise und eine problematische Beziehung des Autors Eingang finden. Auch Malte Herwig gibt eine autobiografische Lesart vor, indem er das private dem literarischen Ereignis gegenüberstellt. Für ihn verwandelt der Text primär das Scheitern der Ehe Handkes mit Libgart Schwarz in Literatur.92 „Von April bis Mai touren Peter Handke und Alfred Kolleritsch in Begleitung von Libgart durch die USA; beide lesen an diversen Colleges aus ihren Werken. […].

90 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 1. Bartmann spricht darüber hinaus vom „Universalitätsprojekt, das Handkes Werk seit dem „Kurzen Brief“ darstellt.“ (152). 91 Vgl. Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 186. 92 Ebd., S. 170.

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Während der Reise machen Handke und Libgart mit einer Polaroidkamera Fotos. Dieser Fotoapparat ist es, den der Erzähler gleich zu Beginn von Der kurze Brief im verlassenen New Yorker Hotelzimmer seiner Frau findet und an sich nimmt (,ich bin der Ehemann‘) […].“93

Handkes unpolitischer Blick auf die USA ist dabei von verschiedenen Seiten kritisiert worden. So wurde mitunter in der „Akzeptanz des Gegebenen“94 bei Handke eine naive Vermeidungsstrategie gesehen. Diese drücke letztlich ein nicht ungefährliches, beinahe gleichgültiges Einverständnis mit den gegebenen Umständen, wie etwa dem Vietnam-Krieg, aus. Handke habe also Ort und Zeitpunkt nicht gerade treffend gewählt. Dabei dürfte allerdings außer Frage stehen, dass der Ort für den Autor relevant ist. Die Stationen der Reise werden nicht nur im Text verhandelt, sondern auch paratextuell, mittels einer skizzenartigen USA-Karte dargestellt95. In welcher Form also wird der Ort für Handke zum Material der Literatur? Wie stehen Subjekt und Ort zueinander, insbesondere vor dem Hintergrund einer Entwicklung des Subjekts? Diese Fragen sollen in den folgenden Kapiteln eingehender bearbeitet werden.

93 Ebd., S. 170, 171. 94 Kleist: Die Akzeptanz des Gegebenen: Zur Problematik des Künstlers in Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“. In: Modern Austrian Literature, Vol. 21, Nr. 2 (1988), S. 95–104. Dies begründet Kleist damit, dass „in jenen Jahren das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft durch die heftigen politischen Auseinandersetzungen über den Krieg in Vietnam, die immer noch ungelöste Bürgerrechts-Problematik usw. schwer erschüttert [war]. Tatsächlich finden sich im Roman auch keine nennenswerten Darstellungen der gesellschaftspolitischen Zustände der USA oder Reflexionen darüber.“ (96). 95 Diese Karte befindet sich auf einer eingeklappten Verlängerung jeweils des vorderen und hinteren Umschlagblattes des Buches.

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Raum III: „Ich möcht den Ort nicht beschreiben, sondern erzählen.“ 96 Die Topografie des Erzählens Handke hat selbst in verschiedenen Stellungnahmen zu seinem Buch deutlich gemacht, dass es ihm zentral um eine persönliche Erfahrung gehe, für die der Kontext USA lediglich „eine Anordnung von Zeichen“97 oder auch „ein[en] Vorwand“98 darstelle. Dabei ist dies, aus poetologischer Sicht, vermutlich nicht als pejorative Instrumentalisierung eines geografischen oder politischen Raumes zu verstehen. Vielmehr nimmt Handke Amerika primär als einen ästhetischen, konstruierten Raum, der in seiner Bedeutung nicht festgelegt sein muss. Das mit eigenen Augen Gesehene, das heißt der autobiografische Hintergrund stellt dabei offenbar nur den Ausgangspunkt des Erzählens dar. „Mit der Erinnerung kann ich aus etwas… kann ich Orte, die ich gar nicht kenne, bestimmen zu Orten der Handlung. Das hab ich immer gemacht. […]. Beim Kurzen Brief zum langen Abschied zum Beispiel ging es mir so: am Anfang hab ich versucht, in den ersten paar Seiten, Orte zu erzählen, die ich vom Augenschein her gekannt habe. Und dann war es mir unmöglich, mit dem, was ich gekannt habe, weiterzutun, und hab dann Orte erzählt, die ich überhaupt nicht kannte. Und das war eine große Befreiung. […]. Also mit allem, was ich erzählt hab, hab ich eigentlich Orte erzählt – Landschaften weniger –, die ich entweder nur vom Hörensagen, vom Klang, oder die auch pure Erfindungen sind.“99

Die Abbildung einer Landkarte mit der Bezeichnung „UNITED STATES 1971“ mag die Erwartung provozieren, von dem realen, politischhistorischen Amerika des Jahres 1971 zu erfahren. Mit dieser Erwartung spielt Handke auch dort, wo er die historische Situation mittels einer Zeitungslektüre ins Spiel bringt und sich ihr zugleich verweigert. Die Verwei-

96 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 19. 97 Hage: „Eine Flucht? – Nein, eine Reise!“. Gespräch mit Peter Handke. In: Die Bücherkommentare, Nr. 2 (1972), zitiert nach Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 171. 98 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. Gespräch mit Peter Handke. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 85–89; hier S. 87. 99 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 234.

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gerung zeigt sich darin, dass der Ich-Erzähler zu allem, was er in der Zeitung zufällig liest, sofort ein Gefühl unaufgeregten Einverständnisses entwickelt. Sei es die Geburt eines Kindes in der Schnellbahn nach Long Island, sei es der Richter, der einen Angeklagten an den Stuhl ketten lässt oder der Hauptmann, der über ein Reisfeld fliegt und Schwierigkeiten hat, zwischen Mensch und Tier zu unterscheiden.100 Dass der Erzähler beim Lesen von Berichten über Kriegsereignisse und Gerichtsverhandlungen eine „zwanghafte Sympathie“, „eine unheimliche Behaglichkeit“ oder ein „Zusammengehörigkeitsgefühl“101 empfindet, ist mindestens ungewöhnlich. Er erschrickt zwar selbst kurz über dieses ihm unheimliche Gefühl des Hingezogenseins, das er bereits als Kind gelegentlich verspürte, lässt das Thema dann aber fallen und findet sich draußen auf der Straße wieder: „allein“102. Die Szene lässt sich deuten als ein Zurückfallen des Subjekts auf sich selbst. Dieses Subjekt versucht, sich durch eine Verweigerungshaltung gegenüber externen Vorgängen und deren Spielregeln zu schützen. Unbekannt ist dieses Verhalten dem Ich-Erzähler nicht; es erweist sich als ein aus der Kindheit fortgetragenes Reaktionsmuster, das dem Ich „plötzlich alles recht“103 sein lässt. Als Beispiele werden das unvermittelte Stehenbleiben vor einem Verfolger und das abrupte Verstummen im Streit genannt. Der verweigerten Positionierung hinsichtlich einer aktuellen politischen Wirklichkeit US-Amerikas stehen verschiedene Ideen gegenüber, die vorrangig ästhetischer Genese sind und aus den Gebieten Film und Literatur rekrutiert werden. Auch Robert Halsall erkennt, dass „the narrator’s journey across [America] is not just a setting for the novel”, sondern „a journey of confrontation with an idea which America represents for the narrator

100 Kleist kritisiert die Auswahl dieser Meldungen angesichts der rekonstruierbaren, tatsächlichen Vorfälle: Das Anketten des Bürgerrechtlers Bobby Seale, die Tötungen im Vietnamkrieg. Der „rein ästhetische Umgang mit der oftmals unästhetischen Realität“ sei äußerst „fragwürdig“ und nehme „die Faktizität der Sprache bereits für die Faktizität des Gegebenen“. Kleist: Die Akzeptanz des Gegebenen. In: Modern Austrian Literature, Vol. 21, Nr. 2 (1988), S. 99, 100. 101 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 41. 102 Ebd., S. 42. 103 Ebd.

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[…].”104 Diese „idea“ deutet sich etwa an, wenn Handke mehrmals auf den Roman The Great Gatsby (1925; deutsch: Der große Gatsby, 1953) von Francis Scott Fitzgerald eingeht. Zudem stellt Handke mit dem eigenen Titel eine Verbindung zu Raymond Chandlers Roman The Long Good-Bye (1953; deutsch: Der lange Abschied, 1954) her. Auf die intertextuelle Verbindung von The Great Gatsby und The Long Good-Bye, die beide mehrfach verfilmt wurden, geht auch Sigrid Mayer ein, wenn sie auf Chandlers Figur Roger Wade verweist, einen Schriftsteller, der „als Bewunderer von F. Scott Fitzgerald sich mit diesem zu identifizieren sucht“105. Als weitere zentrale Figur taucht in Handkes Text der amerikanische Regisseur John Ford auf, der vor allem durch seine Western-Filme bekannt wurde. Der Kurze Brief endet mit einem Besuch des Ich-Erzählers und seiner Frau Judith bei John Ford. Die Verbindung von realem Ort und Idee Amerikas wird am Western und mithin an der Figur John Fords besonders deutlich. In welcher Weise Handkes selbstbekundete Affinität zum Ort zu verstehen ist, lässt sich also auch am Kurzen Brief schon erkennen. Später, mit der Langsamen Heimkehr (1979), wird diese Affinität auch an der Oberfläche des Textes sichtbar, wenn das Orts-Interesse als spezifische, topografisch-geologische Terminologie und Sehweise des Subjektes kommuniziert wird. Die zentralen Orts-Texte des Autors, vor allem die Jugoslawien-Texte, entstehen zwar nach der Langsamen Heimkehr, die zunächst den Titel Ins tiefe Österreich106 erhalten sollte. Doch, wie noch zu zeigen sein wird, ist die Auseinandersetzung des Subjektes mit Ort und Raum tatsächlich nicht neu, sondern ein konstitutives Element auch der älteren Texte. Insbesondere gilt dies für den Kurzen Brief, dessen Erzählduktus wesentlich durch die Reise und eine spezifische Orts- und Raumerfahrung des Subjektes mitbestimmt ist. Die oben erläuterte Verweigerungshaltung gegenüber den historischpolitischen Bedingungen wird erst dadurch auffällig, dass Handke sich dem

104 Halsall: Place, Autonomy and the Individual. In: Coury, Pilipp (Hg.): The works of Peter Handke (2005), S. 47. 105 Mayer: Im „Western“ nichts Neues? In: Jurgensen (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen (1979), S. 145. 106 Vgl. Handkes Notizheft mit dem vorläufigen Titel in: Handke: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift (2009), S. 37.

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Ort an sich nicht verweigert. Im Gegenteil sind in seinem Text der Ort beziehungsweise die Ortsveränderung zentral; um eine weltabgewandte Introspektion handelt es sich entsprechend nicht. Walter Erhart hat unter anderen an Handkes Text die These geschärft, dass in den Amerika-Reisen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur die „Konfusion und Irritation der eigenen Existenz […] zum eigentlichen Reiseziel“ geworden sei. Mithin gehe es um „ein experimentelles Übergangsstadium“ der eigenen Identität, zu dem „gerade Amerika“107 verhelfe – und damit nicht mehr, wie noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, um die Stabilisierung der eigenen Identität auf dem Wege der Bestätigung eines kulturell geprägten, positiven oder negativen Amerikadiskurses. Jenseits der durch Erhart vorgenommenen historischen Gegenüberstellung, wird auch hieran deutlich, dass „Realität und Fiktion“ Amerikas für Handke „nicht weniger wichtig“108 sind, wenn sich der Text auch einer konkreten Orts- und Zustandsbeschreibung des fremden Landes verweigert. Mit dem Motiv der Reise versetzt der Autor das Subjekt in Bewegung. Dabei wird der Konnex zwischen Ortsveränderung und potenzieller Änderung des Subjektes immer wieder in Szene gesetzt. Jürgen Wolf erwähnt, dass der „Änderung des topographischen Standpunktes […] der Wechsel des Bewußtseins“109 folge, worauf auch die einleitenden Zitate110 aus Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser hindeuteten. Die Referenz auf den klassischen Bildungsroman111 wird dabei auch im Textverlauf, mit der fortwährenden

107 Erhart: Fremderfahrung und Ichkonstitution in Amerika-Bildern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Orbis Litterarum, Vol. 49, Nr. 2 (1994), S. 99–122; hier S. 107. 108 Ebd., S. 109. 109 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 38. Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 167, spricht, provokativ autorbezogen, von „Handkes langer Reise zu sich selbst“. Der Aspekt des Bewusstseinswandels wird hiermit aber ebenso angesprochen. 110 zu Beginn des 1. und 2. Teiles 111 In der Sekundärliteratur ist häufig auch die Rede vom Entwicklungsroman oder die Bezeichnungen Bildungs- und Entwicklungsroman werden beide verwendet. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (3., neubearbeitete Auflage 1997, hg. von Weimar) wird Handkes Kurzer Brief als Bsp. eines jüngeren Bildungsromans angeführt. Der Entwicklungsroman wird als

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Thematisierung und Zitierung von Gottfried Kellers Grünem Heinrich, beibehalten. Deutlich ist, dass auch für Moritz‘ Anton Reiser Ortsveränderung und Gemütsveränderung in einem kausalen Zusammenhang stehen. Handkes Ich-Erzähler formuliert das verinnerlichte Ideal, sich mit dem Ort ändern zu können. „,Jetzt bin ich den zweiten Tag in Amerika‘, sagte ich und ging vom Gehsteig auf die Straße hinunter und auf den Gehsteig zurück: ,Ob ich mich schon verändert habe?‘ […] Das Bedürfnis, anders zu werden als ich war, wurde plötzlich leibhaftig, wie ein Trieb. […] Wo aber war die Umgebung, in der ich endlich zeigen würde, daß ich anders sein konnte?“112

Antrieb des starken Bedürfnisses nach Selbstveränderung ist die Lektüre – in diesem Fall Der große Gatsby. Wie in der Tradition des Bildungsromans vorgezeichnet, geht es auch hier um das Gelesene, das den Wunsch des Nacherlebens auslöst. Die mit der Lektüre evozierten, neuen Gefühle drängen offenbar darauf, gezeigt und angewandt zu werden, was dem Ich aber noch nicht recht gelingen will. Trotz aller Bemühungen wird es überwältigt von dem gewohnten „Ekel vor allem, was nicht ich selber war.“113 Die mit der Ortsveränderung ausgelöste Erwartungshaltung des Subjekts richtet sich ganz offensichtlich nicht an die Umgebung, sondern ausschließlich an das Subjekt selbst. Als wesentliche Konstituenten einer Reiseerfahrung werden wiederholt Ort und Zeit beziehungsweise, wiederum subjektbezogen, Ortssinn und Zeitsinn in ihrer Relation dargestellt. Die Inszenierungen von Ort und

„Oberbegriff“ zum Bildungsroman erläutert; die „literaturwissenschaftliche Bemühung um den Gattungsbegriff“ wird dargestellt, die zu „Abgrenzungen zwischen dem Entwicklungsroman als einem überhistorischen Formtypus und dem Bildungsroman als einer Sonderform, die nur unter den geistes- und sozialgeschichtlichen Bedingungen der Goethezeit möglich wurde“ führte. Um die Begriffsverwirrung zu vermeiden, soll hier ebenfalls der Begriff Bildungsroman ausreichen, wenn auch gilt, dass der von Handke zitierte Roman Anton Reiser (1785/90), im Gegensatz zu Kellers Grünem Heinrich (1854/55), noch vor Goethes Wilhelm Meister (1795/96) entstand. 112 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 17, 18. 113 Ebd., S. 19.

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Raum sind eng an die Zeiterfahrung des erzählenden Ichs gekoppelt. Diese Zeiterfahrung ist ungewöhnlich in dem Sinne, dass die Zeit entweder deutlich zu langsam, seltener auch zu schnell vergeht oder aber außerhalb des Vorstellbaren liegt. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die zentralen Figuren, der Ich-Erzähler und seine Frau Judith, sich in ihrem Orts- und Zeitsinn fundamental unterscheiden. Positiv gewendet ließe sich auch von einer gegenseitigen Ergänzung der Figuren sprechen, wenn man sowohl örtliche als auch zeitliche Wahrnehmung als Grundlagen der bewussten Orientierung eines Subjektes voraussetzt. Der Erzähler diagnostiziert bei sich einen geradezu „hysterische[n] Zeitsinn“114, der sich in Form starker Ungeduld zeige. Der Frau hingegen wird jeglicher Zeitsinn abgesprochen, stattdessen verfüge sie über einen ausgeprägten Ortssinn115, den er nicht vorweisen könne und sich daher häufig verirre. Die Feststellung der Frau, sie habe keinerlei Sinn für sich selbst, bringt den Ich-Erzähler schließlich zu dem Schluss, dass es sich bei ihm entsprechend andersherum verhalten müsse. „Dabei behindert andrerseits mich mein übertriebener Zeitsinn, dachte ich jetzt, und das heißt vielleicht: der übertriebene Sinn für mich selber, an der Gelöstheit und Aufmerksamkeit, die ich erreichen möchte.“116

Diese Schlussfolgerung ist insofern relevant, als sich an ihr Entscheidendes über die Konstitution der Reiseerfahrung im Kurzen Brief ablesen lässt. Das Subjekt der Erfahrung ist vorrangig zeit- und damit selbstfixiert. Gleichwohl übt der Ort als externer Faktor einen starken Reiz auf das Subjekt aus, der sich auch im Sinne eines undefinierbaren Sehnsuchtsortes verstehen ließe. Das Verharren an einem Ort käme damit einer endgültigen SelbstFixierung gleich, die den Glauben an Veränderung nicht mehr möglich macht. Das Reiseerlebnis ist vorrangig ein Zeiterlebnis für den Ich-Erzähler. Ein Würfelspiel in einer Bar in Providence wird zu einem epiphanischen Zufallsereignis, das für einen kurzen Moment eine Alternative zur gewohnten, chronologischen Zeiterfahrung „aufleuchten“ lässt. Der Erzähler, dem

114 Ebd., S. 20. 115 Ebd., S. 21. 116 Ebd.

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die verstreichende Zeit stets schmerzlich bewusst ist, imaginiert hier eine „ANDERE Zeit“, in der er nicht wie gewohnt „vor und zurück“117 denken würde. „Diese andere Zeit bedeutete nicht etwa die Zukunft oder die Vergangenheit […]. Es war ein durchdringendes Gefühl von einer ANDEREN Zeit, in der es auch andere Orte geben mußte als irgendwo jetzt, in der alles eine andere Bedeutung haben mußte als in meinem jetzigen Bewußtsein, in der auch die Gefühle etwas anderes waren als jetzt die Gefühle […]. Mein Leben bis jetzt, das durfte noch nicht alles sein! Ich schaute auf die Uhr, zahlte und ging in das Zimmer hinauf.“118

Die Imagination dieser anderen Zeit wird durch jenen kurzen Moment möglich, in dem die gewünschte Zahl – die letztlich nicht gewürfelt wird – auf dem Würfel erscheint. Alexander Huber vermutet als „Handkes Bildquelle […] Stéphane Mallarmés Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897)“, in welchem der Würfelwurf „zum Symbol eines Entwurfs der Wahrheit“119 wird. Durch die Momenthaftigkeit, das kurze Aufleuchten oder Erscheinen, erhält die Szene die Charakteristik der Epiphanie120; im Augenblick der Erfahrung, das heißt ihrer Bewusstwerdung, ist dieselbe schon wieder vorüber. Daher ist die Szene weniger in ihrem Ablauf, als vielmehr in ihrer Wirkung auf das Subjekt beschreibbar. Den Ausblick auf die utopische, andere Zeit beendet Handke abrupt, mit einem Blick des IchErzählers auf die Uhr. Weniger in seinem Verhalten als in seinem Erleben wird Handkes Subjekt demnach durch die Orts- und Zeiterfahrung der Reise beeinflusst. Das Warten oder Hoffen des Subjekts auf eine Veränderung der eigenen Person

117 Ebd., S. 25 [Hervorheb. i. Original]. 118 Ebd. [Hervorheb. i. Original]. Die auffällige, typografische Hervorhebung der „ANDEREN ZEIT“ spiegelt dabei ihren wahrnehmungsspezifischen Sonderstatus auf Ebene der Schrift. 119 Huber: Versuch einer Ankunft (2005), S. 79. Die deutsche Übersetzung Ein Würfelwurf, in der das betreffende Gedicht enthalten ist, erscheint Mitte der 1960er Jahre. 120 Vgl. ebd., S. 85: „Im Motiv des Würfelwurfs exponiert Handke die Kernmerkmale der Epiphanie: Zufälligkeit, Plötzlichkeit, Transitorik, Unbestimmtheit, Transzendenz.“

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bleibt in dieser Hinsicht nicht unerfüllt. Auch das Moritz-Zitat zu Beginn des zweiten Teiles, Der lange Abschied, hebt auf die Modifikation des Erlebens ab. „Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?“121

Es ist zugleich Überschrift einer durch den Ortswechsel induzierten Veränderung, die der Ich-Erzähler an sich selbst erfährt: Der Übergang von Traum und Wirklichkeit, vom Wachen zum Schlafen, wird zusehends hindernisfrei erfahren und erzählt.122 Der Wahrnehmungsmodus des Wachzustandes geht in die Eigengesetzlichkeit des Traumzustandes über, womit sich die Beschränkungen der raumzeitlichen Orientierung und Bewegung schließlich aufheben. Der Übergangsbereich, „Halbtraum“123 oder „Halbschlaf“124 genannt, wird als beruhigend empfunden, da das Subjekt in diesem Zustand weder von den Angstbildern des Tiefschlafes bedroht, noch von der Anspannung des Wachseins betroffen ist. „Auf der Rückfahrt nach Rock Hill sagte ich zu Claire: ,Ich fühle mich wie in einem Halbschlaf: ich bin allmählich aufgewacht, und beim Aufwachen sind die Traumbilder immer langsamer geworden; dann sind sie stehengeblieben und haben sich in schöne, stille Halbschlafbilder verwandelt. Ich fühle keine Angst mehr wie im Traum, sondern lasse mich von den Bildern beruhigen.‘“125

Die Beschreibung des Halbschlaf-Zustand erinnert an die imaginierte „ANDERE ZEIT“, die der Ich-Erzähler in seiner Vorstellung „nur zu betreten brauchte, um [s]eine angstanfällige Natur und ihre Beschränktheiten endlich loszusein.“126

121 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 107. 122 Vgl. z. B. S. 57, 58; 66; 104, 105; 134; 154; 160; 172; 178. 123 Ebd., S. 134. 124 Ebd., S. 154. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 101 [Hervorheb. i. Original]. Das hier anklingende Glücksversprechen einer nicht weiter spezifizierten, anderen Zeit taucht auch in Handkes unveröf-

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Dass der Ich-Erzähler mit seiner Reise primär eine Zeiterfahrung macht, ist so ungewöhnlich nicht: Das Reiseziel ist Sehnsuchtsort und doch ist die Ankunft nicht einziger Zweck einer Bewegung, die sich – als Reiseerlebnis – zunächst einmal selbst genug ist. Die unbefriedigende Erfahrung des Zeitverlustes beim Zurücklegen der Reisestrecke macht auch Handkes Erzähler, dem gelegentlich „sogar im Schlaf die Zeit zu langsam“127 vergeht. Seine Reisegefährtin Claire konfrontiert ihn mit ihrer Beobachtung, er lasse sich stets, ähnlich wie der Grüne Heinrich, „Erfahrungen vorführen, statt [s]ich hineinzuverwickeln“128, als sei die Welt eine eigens für ihn erschaffene Bühne. Der Ich-Erzähler muss dieser Bemerkung unumwunden zustimmen und liefert mit seiner Antwort zugleich eine Erklärung für die massive Ungeduld, derer er sich nicht entledigen kann. „,Es stimmt‘, sagte ich, wieder sorglos, unbeteiligt wie in einem Spiel: ,Wenn ich etwas sehe und anfange, es zu erleben, denke ich sofort: ,Ja, das ist es! Das ist die Erfahrung, die mir noch fehlt!‘ und hake sie gleichsam ab. Kaum verstricke ich mich in etwas, schon formuliere ich es mir und trete daraus zurück, erlebe es nicht zu Ende, sondern lasse es an mir vorbeiziehen. ,Das war es also!‘ denke ich und warte, was wohl als nächstes kommen wird.“129

Das metaphorische Abhaken und Zurücktreten aus der Erfahrung versetzt das Subjekt notwendig und vorzeitig in den Modus des undankbaren Wartens zurück. So wird auch die Wegstrecke zwischen Columbus und Indianapolis, einmal als (Reise-)Erfahrung verbucht, zur unangenehmen Zeitdehnung in einer sich kaum verändernden Landschaft. Zugleich wird das Subjekt mit seiner ungerichteten Erwartungshaltung, mit seinem abstrakten Erfahrungsdrang konfrontiert: Welche Erfahrung ersehnt es sich und ist diese Erfahrung überhaupt ortsgebunden? Der erste Gedanke bei der Ein-

fentlichtem Notizbuch: November 1975 – Januar 1976 (DLA Marbach, HS.2007.0010.00001.) auf. Dort heißt es, S. 24 [Paginierung A.B.]: „sich etwas anderes vorstellen zu können [...], Lust auf andre Orte und eine andre Zeit zu haben, überhaupt, wieder denken zu können, das empfinde ich fast als eine Art Gnade". 127 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 83. 128 Ebd., S. 97. 129 Ebd., S. 98.

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fahrt in Indianapolis – „Ich wollte die Stadt nicht sehen“130 – verneint jedenfalls letzteres. Eine Bemerkung, die angesichts der Ratlosigkeit, die sich schon während der Fahrt einstellt, nicht mehr verwundert. „Ich schaute vom Schlamm, der nicht trocknen wollte, auf die Landschaft, die sich nicht ändern wollte, und unsere Bewegung kam mir so sinnlos vor, daß ich mir kaum mehr vorstellen konnte, einmal am Ziel in Indianapolis zu sein. Ich spürte eine Unlust bei unserer Bewegung, ein Gefühl, als seien wir mit laufendem Motor stehengeblieben, und wünschte andererseits doch, auch wirklich stehenzubleiben.“131

Der kindliche Wunsch nach „Siebenmeilenstiefel[n]“132, den der IchErzähler hier noch einmal nacherlebt, ist unspezifisch und noch nicht kontaminiert mit jenem Antizipationsvermögen, das die eigene Zielerwartung schon im Voraus zu hinterfragen vermag. So wird die Konstitution der Reiseerfahrung – die primär eine Selbsterfahrung ist – immer wieder über den Faktor Zeit verdeutlicht: Die sich mit der Reise potenzierende Ungeduld des Subjektes, seine auffallende Zeitfixierung sowie die Imagination einer „anderen Zeit“ und die mit dem Wachzustand zunehmend übergangslos zusammenhängenden Traumsequenzen, die durch eine zeitliche Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet sind. Die Beschaffenheit des (Sehnsuchts-)Ortes lässt sich vorrangig über innere Prozesse des Subjektes bestimmen – nicht primär der externe, reale Ort, sondern das Ich ist Objekt des Veränderungswillens; im Fokus steht entsprechend vielmehr eine geistige, denn eine physische Bewegung. Handke weist selbst darauf hin, dass man, seine Erzählung betreffend, „statt ,Reise‘ besser ,Weg-Reise‘, Fortbewegung von einem bestimmten, alltäglichen Leben sagen“133 sollte. Der unter Referenz auf den klassischen Bildungsroman inszenierte Konnex von Ortswechsel und Gemütswandel erhält in Handkes Kurzem Brief eine ganz eigene Charakteristik, indem vor allem die Partikularität von realem Ort und innerem Ort nicht mehr gegeben ist. In der folgenden

130 Ebd., S. 94. 131 Ebd., S. 92, 93. 132 Ebd., S. 96. 133 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. Ein Gespräch mit Peter Handke. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 85.

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Textpassage wird besonders deutlich, wie sich äußere und innere Bewegung, sowie äußere und innere Topografie im Text synchronisieren. „Im Kopf, als ich jetzt reglos saß, fing etwas an, sich hin und her zu bewegen, in einem ähnlichen Rhythmus, in dem ich den ganzen Tag mich durch New York bewegt hatte. Einmal stockte es, dann lief es lange Zeit geradeaus, dann fing es sich zu krümmen an, kreiste eine Zeitlang und legte sich schließlich. Es war weder eine Vorstellung noch ein Ton, nur ein Rhythmus, der ab und zu beides vortäuschte. Erst jetzt fing ich an, die Stadt, die ich vorher fast übersehen hatte, in mir wahrzunehmen. Eine Umgebung holte mich ein, an der ich tagsüber nur vorbeigegangen war. […] Und trotzdem war mir dieser Vorgang angenehm: das Muster von New York breitete sich friedlich in mir aus, ohne mich zu bedrängen. […]. Alles, was ich vorher nur ganz nah sehen konnte, Glasflächen, Stopschilder, Fahnenstangen, Leuchtschriften, rückte nun, gerade weil ich stundenlang nichts weiter weg hatte anschauen können, zu einer Landschaft auseinander, in der man sah, so weit das Auge reichte. Ich bekam Lust, mich hineinzulegen und darin ein Buch zu lesen.“134

Die spezifische Orts- und Raumdarstellung des Kurzen Briefes lässt sich als eine vorrangig innere Topografie lesen, die wiederum unabhängig ist von der physischen, realen Zeitgebundenheit des Subjektes. Einzig in diesem Sinne und nicht in seiner materiellen Verfasstheit wird der Ort zum Material der Literatur. Handke spricht von einer fiktiven Außenwelt Amerika, deren Relevanz hier letztlich eingeschränkt wird auf ihren Signalcharakter für das schon Erlebte und noch zu Erlebende.135 In diesem Verständnis erfüllt das Material die Funktion des Ich-Maßstabs. Im oben zitierten Textabschnitt wird der Ort auf das Ich appliziert und tritt auf diese Weise in eine Beziehung zum Ich. Die Subjektzentrierung ist daher in diesem Fall nicht als introspektive Zurückweisung eines realweltlichen Kontextes zu verstehen, sondern sie konstituiert sich gerade erst durch diesen Kontext, indem die innere Topografie zugleich auf die äußere verweist. Es wird vielmehr Einverständnis denn Entfremdung kommuniziert.

134 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 46, 47. 135 Vgl. Karasek: Ohne zu verallgemeinern. Ein Gespräch mit Peter Handke. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86.

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Dabei wird der reale Ort gelegentlich zur Bühne einer inneren Orientierungslosigkeit. So flaniert der Ich-Erzähler ziellos umher, nicht wissend, in welche Richtung er eigentlich gehen soll. Er nähert sich „[a]llem möglichen“136 und verliert doch die Lust, sobald er dort ist. Handke erzählt im Kurzen Brief von der Suche nach einem inneren Ort, die Beschreibung eines äußeren Ortes bewusst vernachlässigend. Wenn der Autor zwischen der Erzählung des Ortes – die er beabsichtigt – und der Beschreibung des Ortes – die er nicht beabsichtigt – unterscheidet137, so ist die Differenzierung in innere und äußere Prozesse möglicherweise ein entscheidender Schritt zum Verständnis dieser ästhetischen Konzeption. Roman Luckscheiter, der von „symbolische[n] Topographien“138 bei Handke spricht und Christoph Bartmann, der das Gehen bei Handke als „Prozedur des inneren Maßnehmens“139 versteht, weisen mit ihren Interpretationen bereits in eine solche Richtung. Die Relevanz einer inneren Topografie, die in einem durchgehenden Bedingungsverhältnis steht mit dem realen Reise-Raum, steht in erkennbarer Differenz zu den Texten der anderen hier behandelten Autoren. Brinkmann bedient zwar in vergleichbarer Weise das Motiv der Reise. Auch steht diese in Zusammenhang mit einer Veränderung des sich zentral positionierenden Subjektes, doch der äußere Raum wird zu keinem Zeitpunkt harmonisch in die Erfahrungsstruktur des Subjektes integriert – stattdessen eignet sich hier eher das Stichwort Entfremdung. Zwar ist ebenso in Handkes Texten die Entfremdungserfahrung ein Thema, doch anvisiert wird eine autonome Harmonie von Subjekt und Material. Während es bei Brinkmann vorrangig um die physische Präsenz des Objektiven geht, steht hier offenbar eine immaterielle, zeichenhafte Dimension der Objektwelt im Vordergrund. Dass bei Kluge hingegen räumlich-topografische Darstellungen vorrangig dort angewandt werden, wo es um die Komplexität realer Erfahrungszusammenhänge geht, wurde im vorigen Kapitel herausgearbeitet –

136 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 161. 137 Vgl. Anm. 953. 138 Luckscheiter: Heimat der Heimatlosen. In: Jahrbuch für internationale Germanistik, Jg. 37, H.1 (2005), S. 51. 139 Bartmann: Hand und Fuß: Peter Handkes literarische Anthropologie. In: Haslinger, Gottwald, Freinschlag (Hg.): Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit (2006), S. 9–18; hier S. 13.

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auch hier ist mithin die Differenz zu Handkes Versuch, den Real-Kontext Amerika als eine fiktive Zeichenanordnung zu verstehen, deutlich erkennbar. Literatur, Film, Fotografie – die mediale Inszenierung einer Reise Handkes Erzähler rezipiert während seiner Amerikareise Gottfried Kellers Grünen Heinrich (1854/55). Die Lektüre des Bildungsromans durch den Erzähler lässt der Autor immer wieder über direkte und indirekte Zitate in den Text einfließen. Sie provoziert nicht zuletzt die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Kurzen Briefes selbst, wie bereits im vorangehenden Kapitel angesprochen. Indem Handke die beiden Teile des Kurzen Briefes jeweils mit einem Anton Reiser140-Zitat einleitet, stellt er eine weitere, initiale Referenz auf die Tradition des klassischen Bildungsromans her. Insbesondere der Konnex von Ortswechsel und Gemütsveränderung oder auch einer charakterlichen Entwicklung des reisenden Subjektes erinnert an Karl Philipp Moritz‘ zentrale Figur des Anton Reiser. Die Zitate werden den beiden Textteilen wie Motti vorangestellt. „Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden.“ Karl Philipp Moritz, ,Anton Reiser‘141 „Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?“ Karl Philipp Moritz, ,Anton Reiser‘142

140 Die vier Teile des Romans entstehen 1785–90. 141 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 5 [unpaginiert]. 142 Ebd., S. 107 [unpaginiert].

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Handke konterkariert, indem er Bildungsromane aus dem späten 18. Jahrhundert beziehungsweise der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Spiel bringt, die historische Situierung der fiktiven Reise im Jahr 1971. Die bereits näher erläuterte, von verschiedenen Seiten auch kritisierte Verweigerungshaltung gegenüber aktuellen Themen und Ereignissen des real-politischen Raumes Amerika findet hierin eine Entsprechung. Für den Erzähler wird ausgerechnet der fremde Raum zum Anlass, das ästhetische Potenzial eines anderen historischen Raumes – und damit auch einer „anderen Zeit“143 – zu erkunden und auf sich selbst zu beziehen.144 Dass er dabei auf zentrale Texte der deutschen Literaturgeschichte zurückgreift, muss einem Interesse am fremden Kulturraum nicht widersprechen. Die Erkenntnis des Anderen über das Eigene ist durchaus auch ein Motiv des Kurzen Briefes, lenkt aber einmal mehr den Fokus auf die spezifische Erfahrungswelt des reisenden Subjektes. Die Form, die Handke für seinen Text wählt – eine Ich-Erzählung mit klarer Referenz auf den Bildungsroman – bereitete ihm offenbar einiges Unbehagen, was die literaturhistorische Situation anbelangte. Von der Erkenntnis „das geh[e] ja schon längst nicht mehr“145, man könne „doch nicht mehr so schreiben, die Zeit war überhaupt nicht fürs Erzählen da“146 berichtet der Autor mehrfach, zugleich aber auch von der Unerlässlichkeit, gerade im Schreiben eben das Falsche zu tun, um weiter zu kommen. Offensichtlich ist Handke von den literaturprogrammatischen Innovationen und Strömungen seiner Zeit, insbesondere der 1960er Jahre, nicht unbeeindruckt, als er zu Beginn der 1970er Jahre am Kurzen Brief schreibt. Handkes Bereitschaft, sich notfalls auch querzustellen, lässt sich kaum anzweifeln. Den-

143 Ebd., S. 25. 144 Michel: Verlustgeschichten (1998), S. 29 spricht, Handkes Rezeption des Grünen Heinrich betreffend, von der „identifikatorischen Lektüre“, bei der „der Text zum Anlaß [wird], das Aufgenommene mit dem eigenen Leben zu vergleichen.“ 145 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 141. 146 Handke: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift (2009), S. 22. Wie im späteren Tagebuch, so begründet sich auch hier das Unbehagen aus der literaturhistorischen Situation: „die konkrete Poesie war da, die engagierte Literatur war da“.

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noch mutet das, was der Autor 1976 in sein Tagebuch notiert, fast wie eine Erleichterung an: „Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: ,Die Konkrete Poesie‘, ,Andy Warhol‘, und dann Marx + Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr einschüchtern als das Gewicht der Welt"147

Der Autor ist sich offenbar der latenten Provokation bewusst, die in der Poetologie des Kurzen Briefes liegt: Das zeitgenössische Amerika als „Vorwand“148 erscheint bereits einigen Kritikern fragwürdig. Noch dazu lassen sich Handkes intertextuelle Bezüge149 zum Bildungsroman als ein archaisches Lob auf die Versenkung und Bildung durch Lektüre lesen, was den Eindruck einer Abwendung vom aktuellen, realweltlichen Kontext stützt. In dieser Hinsicht kommuniziert der Text auch eine Adäquatheit des historischen Mediums Literatur und ein weitgehendes Einverständnis mit der literarischen Sprache. So wird hier, im Vergleich mit früheren Arbeiten Handkes, von „einem weniger aufgeregten, produktiven Gespräch mit der literarischen Tradition“150 oder gar von einer „Selbstfindung der eigenen

147 Notizbuch: März 1976 (DLA Marbach, HS.2007.0010.00002.), S. 14 [Paginierung A.B.] [Hervorheb. i. Original]. Handkes 1977 erschienenes Journal Das Gewicht der Welt, dessen Titel hier auftaucht, umfasst Aufzeichnungen des Zeitraums November 1975 bis März 1977. 148 Vgl. Karasek: Ohne zu verallgemeinern. Gespräch mit Peter Handke. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 87. 149 Zu diskutieren wären Handkes Bezüge auf den Bildungsroman als eine intramediale Systemreferenz (sowohl Systemerwähnung als auch Systemaktualisierung), insofern hier eine vorrangig als Erzählung/Kurzroman zu charakterisierende Textform immer wieder zitierend und reflektierend auf bestimmte Bildungsromane eingeht. Terminologie nach Rajewsky: Intermedialität (2002), S. 78ff. 150 Hinck: Neue Wahrnehmung der Mitwelt. Faszination des Films. Peter Handke: „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1972). In: Ders.: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. (2006), S. 190– 196; hier S. 191.

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Person quasi auf dem Wege der geborgten literarischen Erfahrung“151 gesprochen. Auffallend ist, dass das ästhetische Potenzial einer Versenkung in die literarische Lektüre jener Schnelllebigkeit kontrastiert, die der IchErzähler in Amerika beobachtet. Eine Beobachtung, die er zudem provokativ verabsolutiert, indem er Lektüreerfahrung und Reiseerfahrung gegenüberstellt. Ihm fällt unter anderem auf, dass er „bis jetzt in Amerika kaum jemanden gesehen hatte, der in etwas versunken gewesen war. Es genügte, etwas wahrzunehmen, dann schaute man wieder woandershin.“152 Die affirmative Haltung zur literarischen Tradition führt allerdings nicht dazu, dass moderne Medien im Kurzen Brief unterschlagen würden, im Gegenteil: Während Handke einerseits, etwa mit der Reflexion eines Theaterbesuches, wiederum auf tradierte Thematiken des Bildungsromans zurückgreift, sind andererseits der moderne Film und die Fotografie von zentraler, im Weiteren noch zu diskutierender Bedeutung. Zentral bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst, dass Handke unübersehbar mit diesen Medien operiert, sie literarisch-ästhetisch in Szene setzt und sie im subjektiven Erfahrungshorizont des Ich-Erzählers fruchtbar werden lässt. Auffallend ist, dass das Zitat der den amerikanischen Kulturraum betreffenden Literatur – im Gegensatz zu den historischen Bildungsromanen – in viel stärkerem Maße eine Brücke zur modernen Lebenswelt schlägt. Der Originaltext des Großen Gatsby (1953) datiert auf das Jahr 1925, der mit dem Titel zitierte Roman Chandlers, Der Lange Abschied (1954), auf das Jahr 1953. Das Interesse des Ich-Erzählers für den Western-Regisseur John Ford, dessen zahlreiche Filme zwischen 1920 und 1970 entstehen, bildet auf den ersten Blick einen überraschenden Kontrast zur vertieften Bildungsroman-Lektüre. Die vom Ich-Erzähler beobachtete und als amerikanisch insinuierte Oberflächlichkeit der Wahrnehmung, der Widerstand gegen die Versenkung, erfahren in der Figur des Regisseurs sowie im Werk John Fords eine ästhetische Dopplung. So steht im Kurzen Brief außer Frage, dass weder die Filme noch die Person John Fords auf die Durchdringung einer Oberfläche abzielen, die nur scheinbar Wirkliches zeigt. Zugleich wird diese Haltung als eine amerikanische Haltung zur Disposition gestellt, wenn die Figur Ford hier, mit dem Impetus eines weitläufig be-

151 Dahms: Erlesene Welten: Der fiktive Leser in der modernen Literatur. KarlPhilipp Moritz – Gottfried Keller – Peter Handke (2005), S. 153. 152 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 171.

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kannten Protagonisten amerikanischer Kultur- und Filmgeschichte, wiederholt auf das vorgebliche „Wir“153-Gefühl der Amerikaner eingeht und selbst in die Berichtsform des Plural verfällt. Der an den Schluss der Erzählung gesetzte Besuch bei John Ford perpetuiert ein Amerika-Bild, über das Handkes Erzähler offenbar bereits verfügt, das aber zugleich unscharf und wenig greifbar bleibt. Inwieweit der Große Gatsby für dieses Bild eine Rolle spielt, bleibt unklar. Dass Fitzgeralds Protagonist nicht nur in eine „Liebesgeschichte“154 verwickelt, sondern auch an der Oberflächlichkeit der amerikanischen High Society erkrankt ist, thematisiert Handke nicht. Der Regisseur wiederholt dem IchErzähler letztlich, was er „schon auf der Reise von Claire und andern über Amerika gehört hatte; seine Meinungen waren nicht neu, aber er erzählte die Geschichten dazu und zeigte, wie es zu diesen Meinungen gekommen war.“155 Auch hier also geht es mehr um Ansichten denn um Fakten; mehr um die Wahrnehmung der Realität denn um die Realität selbst. Es bleibt zu fragen, inwieweit Handke die Divergenz der medialen Erfahrungspotenziale – John Fords Western-Kulissen einerseits, Heinrich Lees Kindheitserlebnisse andererseits – poetologisch in Szene setzt. Das differenzierte Rezeptionsverhalten des Erzählers stellt meines Erachtens lediglich den Rahmen dar für die spezifische Funktion von Literatur im Kurzen Brief. In der Lektüre erst konstituiert sich der Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt.156 Das reisende Subjekt positioniert sich zu den eigenen Erfahrungen, indem es liest und Vergleiche zieht. Sowohl eine Hinwendung zu den Ereignissen als auch eine Abkehr von denselben sind dabei denkbar. Die Reisegefährtin Claire konstatiert Letzteres, wenn sie den IchErzähler mit seiner beobachtenden, passiven Haltung konfrontiert, die sich in vergleichbarer Weise beim Grünen Heinrich zeige. Er lasse „Erlebnisse vor sich aufspielen, ohne selber einzugreifen“157. Diese Eigenschaft, die der Erzähler offenbar mit seinem literarischen Vorbild teilt, ist zugleich die

153 Ebd., S. 188f. 154 Ebd., S. 16. 155 Ebd., S. 187. 156 Vgl. auch Dahms: Erlesene Welten (2005), S. 122, die feststellt, dass an seinen Büchern „der Held Innenwelt und Außenwelt, Vergangenheit und Zukunft zu reflektieren [beginnt]“. 157 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 97.

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Kehrseite einer fundamentalen Erkenntnis: Indem die Dinge und Ereignisse in eine sprachliche Formel gebracht werden, erhalten sie bereits den Charakter des Wirklichen. Geht die Formulierung158 eines Ereignisses seinem Ende schon voraus, so ist ein Zurücktreten aus der gedanklich bereits beendeten Erfahrung nur konsequent, wenn auch nach außen passiv. Das distanzierende Moment des metaphorischen Zurücktretens erweist sich gelegentlich als entlastend. So wundert es wenig, dass der Erzähler, als Reaktion auf Claires zutreffende Beobachtung, zwar „Scham“159 empfindet, aber keinen glaubhaften Veränderungswillen zum Ausdruck bringt. Er fühlt sich „zurechtgewiesen, und doch wieder so selbstbewußt“ als wäre ihm „geschmeichelt worden“160. Neben dieser Eigenart des metaphorischen Zurücktretens aus der Erfahrung bietet auch die Lektüre des Grünen Heinrich eine Möglichkeit der Entlastung und Distanzierung von äußeren Umständen. Vor allem die Wahl des Lektürezeitpunktes deutet hierauf hin: Der Erzähler beginnt im Greyhoundbus, kurz vor der Ankunft in New York, das Buch zu lesen. Dies ist zugleich der Moment, in dem ihm die Aufdringlichkeit der äußeren Bilder buchstäblich über den Kopf zu wachsen droht: „riesige überschäumende Bierkrüge, eine leuchtturmgroße Ketchupflasche, ein naturgroßes Bild von einem Düsenflugzeug über den Wolken.“161 Waren ihm derartige Bilder zunächst als „Signale“162 willkommen und boten Verlässlichkeit hinsichtlich der erwartbaren Reiseerfahrungen – „Tankstellen, gelbe Taxis, Autokinos, Reklametafeln, Highways“163 – so werden sie hier bereits übermächtig und provozieren die Abwendung des Blicks. Der Erzähler „schaute kaum auf“ und „fing an […] zu lesen“164, während die Leute im Bus das

158 Vgl. ebd., S. 98: „Kaum verstricke ich mich in etwas, schon formuliere ich es mir und trete daraus zurück, erlebe es nicht zu Ende [...].“ 159 Ebd., S. 97. 160 Ebd., S. 98. 161 Ebd., S. 28. 162 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86. 163 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 81. 164 Ebd., S. 28.

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exakte Gegenteil tun: sie beginnen, sich neugierig der Umgebung zuzuwenden, zu fotografieren und zu filmen.165 In Handkes Kurzem Brief liegen die ästhetischen Erfahrungspotenziale einer kontemplativen, identifikatorischen Lektüre, einer Imagination fremder Zeiten und Orte sowie des Nacht- und Tagträumens konzeptuell nah beieinander. Sie versetzen das Subjekt gleichermaßen in einen Erfahrungsmodus raumzeitlicher Ungebundenheit, der dem Getrieben-Sein des Reisens in kritischen Momenten entgegengesetzt werden kann oder, wie die Szene im Greyhoundbus verdeutlicht, von einer Übermacht bildlicher Eindrücke entlastet. Die etwa von Michel de Certeau angesprochene Ortlosigkeit der Lektüre spielt in diesem Erfahrungsmodus eine entscheidende Rolle: „Sie hat tatsächlich keinen eigenen Ort“166. Entsprechendes gilt für den Leser. „[S]ein Ort ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere, sondern weder der eine noch der andere, gleichzeitig innen und außen; er verliert beide, indem er sie vermischt, indem er stilliegende Texte miteinander in Verbindung bringt, deren Erwecker und Gastgeber er ist, die aber niemals zu seinem Eigentum werden. Dadurch entgeht er ebenso dem Gesetz jedes einzelnen Textes wie dem Gesetz des gesellschaftlichen Milieus.“167

Im Zuge dieser Beobachtungen von einer eskapistischen Funktion der Literatur im Kurzen Brief auszugehen, führt allerdings in eine falsche Richtung. Vorrangig geht es um die Wechselwirkungen von realweltlichen und literarischen Wirklichkeitskonstruktionen, deren Dualität durchaus hintergehbar ist. Handke verhandelt mit seinem Text nicht zuletzt das grundsätzliche Verständnis dessen, was gemeinhin als wirklich bezeichnet wird. 1967 schreibt er in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, die „Wirklichkeit der Literatur“ habe ihn „aufmerksam und kritisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht“ – und auch für die Literatur selbst, „die ja wohl zur Wirk-

165 Ebd., S. 29. 166 De Certeau: Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit. In: Barck, Gente u. a. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (2002), S. 295–298; hier S. 297. 167 Ebd., S. 297, 298.

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lichkeit gehört“168. Handkes Erzähler im Kurzen Brief ist sich bewusst, dass er „nicht mehr so nach und nach leben kann wie der Grüne Heinrich“169 und dennoch: „Wenn ich von ihm lese, dann ergeht es mir geradeso wie ihm selber […]; so empfinde auch ich bei seiner Geschichte das Vergnügen an den Vorstellungen einer anderen Zeit, in der man noch glaubte, daß aus einem nach und nach ein andrer werden müsse und daß jedem einzelnen die Welt offenstehe. Im übrigen kommt es mir seit ein paar Tagen vor, daß mir die Welt wirklich offensteht und daß ich mit jedem Blick etwas Neues erlebe. Und solange ich dieses Vergnügen eines meinetwegen vergangenen Jahrhunderts empfinde, solange möchte ich es auch ernstnehmen und überprüfen.“170

In diesem Fall geht es also um eine bestimmte Haltung, die, aus einem literarischen Kontext rekrutiert, im realweltlichen Handlungs- und Erlebenszusammenhang Wirklichkeit erhält. Zugleich ist dies also eine Gegenbewegung zu dem Versuch, Wirklichkeit in die Literatur aufzunehmen beziehungsweise Wirklichkeit literarisch darzustellen. Im Falle John Fords ist es der Film, der „lebenswahr“171, das heißt, mehr als eine „Illusion von Wirklichkeit“172 sein will und mithin die mögliche Überschreitung der Grenze von Kunst- und Lebenswirklichkeit in den Blick bringt. Wenn Handke in einem Interview zum Kurzen Brief angibt, er wolle den „Naturalismus ein

168 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 19. 169 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 142. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 193. 172 Cavell: Welt durch die Kamera gesehen. In: Henrich, Iser (Hg.): Theorien der Kunst (1992), S. 447–490; hier S. 465. Cavell vertritt die kritische Position, hinter der Rede vom Illusorischen verberge sich lediglich die Angst, anzuerkennen, „wie wenig wir die Voraussetzungen unseres Glaubens an die Wirklichkeit kennen.“ Diese Angst werde auch vom philosophischen Skeptizismus verschleiert. Durch die „Idee einer ,Illusion von Wirklichkeit‘“ würde „das Verlangen der Kunst, sich der Wirklichkeit zuzuwenden, um gegen unsere Illusion von ihr anzugehen“, verkannt. Cavells filmspezifische Thesen ließen sich auch für die Literatur bedenken.

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bißchen in die Schwebe […] bringen“173, spricht er dabei ebenso diese Grenze sowie die nicht immer unproblematische Differenz von Realität und Fiktion, an. Im Fall der Eheleute, die einander im Kurzen Brief verfolgen, versteht der Autor unter dem Naturalistischen auch jenen „Ernst“174 einer überschätzten Wirklichkeit, der die einmal angenommene Bedeutung und Gewichtung der Ereignisse nicht mehr zu hinterfragen vermag. Dabei demonstriert bereits die literarische Form, wie das, was wirklich „passiert“175 ist, eher durch ein Spektrum an Möglichkeiten denn durch Faktizität greifbar wird und immer auch mit der jeweiligen Bedeutungszuweisung – sowohl auf Seiten der Figuren als auch auf Seiten der Leser – steht und fällt. So wird etwa erst mit dem abschließenden Bericht Judiths, wie sie ihren Mann „verfolgt“ und „beraubt hatte“, wie sie ihn „umbringen wollte“176, der Bericht des Ich-Erzählers verifiziert, während doch die ganze Geschichte, nicht zuletzt indem sie vom Regisseur Ford angezweifelt wird, den Anschein des Unglaubhaften und Unwahrscheinlichen behält. Zu fragen ist, ob Handkes Auseinandersetzung mit dem so genannten Wirklichen hier der „intellektuelle[n] Mode“ folgt, „die sich auf die Entwicklung der Erkenntnistheorie und die Herausbildung der modernen Wissenschaften beruft und derzufolge wir Realität als solche niemals wirklich sehen bzw. sehen können“177. Die Antwort, die der Kurze Brief hierauf gibt, ist unbefriedigend, da sie ein Dilemma kultiviert: Dass Wirklichkeit sichtund erkennbar ist, bestreitet der Autor nicht tatsächlich, dass sie eine durchgehende, intersubjektive Gültigkeit besitzt, hingegen schon. Die Verweigerung gegenüber jenem Bestreben, dem Wirklichen allein über das Faktische beikommen zu wollen, kommt hierbei deutlich zum Ausdruck.178

173 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86. 174 Ebd. 175 Handke: Der kurze Brief (1973), S.195. 176 Ebd. 177 Cavell: Welt durch die Kamera gesehen. In: Henrich, Iser (Hg.): Theorien der Kunst (1992), S. 447. 178 Nur angedeutet wird dabei eine Grundangst des Menschen, die sich auf die potenzielle Täuschung durch das nur scheinbar Faktische bezieht und in Literatur und Film immer wieder durchgespielt wird. Wenn Faktizität immer schon

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Wenn Handke mit seinem Text versucht, „eine größtmögliche Wahrheit über die Personen, ihr Bewußtsein, ihren Zustand zu erreichen“179 so sind hiermit subjektive Wahrheiten angesprochen, vor deren Hintergrund das, was für den Erzähler, seine Frau Judith wie John Ford als wirklich gelten mag, nicht in Widersprüche geraten muss. Die Wirklichkeit der Figuren kann sich, wie im Falle von Judiths Ereignisbericht, als Konsens über das Erlebte äußern, sie muss es aber nicht zwangsläufig. Das zum Teil bereits zitierte Interview mit Hellmuth Karasek wendet sich dem Aspekt des Wirklichen, der besonders im Abschluss des Werkes akzentuiert wird, zu. „K.: Am Schluß des Buches steht der Satz, daß das alles – das heißt das Abenteuer dieser Trennung – wirklich passiert sei. Was verstehen Sie unter ,wirklich passieren‘? Handke: Das ist schwer zu sagen. In dieser Schlußpassage handelt es sich ja auch darum, daß John Ford, den die beiden Eheleute am Schluß besuchen, immer davon spricht, daß seine Filme nie imaginäre Geschichten erzählen, sondern immer reale Geschichten aus der Historie von Amerika. K.: … hat dieser Besuch bei John Ford eigentlich stattgefunden? Handke: Nein. Aber wenn die Frau am Schluß sagt, das sei alles passiert, dann ist mit dieser Antwort auch die ganze Verquerheit und Eingegrabenheit aufgegeben, der naturalistische Ernst, mit dem Eheleute alles, was sie betrifft, erleben. Und meine Geschichte versucht, diesen ganzen Naturalismus ein bißchen in die Schwebe zu bringen.“180

Karasek und Handke befragen hier – offensichtlich als Ergebnis einer eher zufälligen Gesprächsdialektik – mit wenigen Sätzen unterschiedlichste Ebenen von Wirklichkeit, die sich anhand eines übersichtlichen, von Erika Fischer-Lichte entworfenen Viererschemas aufschlüsseln lassen. FischerLichte bedient sich, im Rahmen ihrer Bestimmung eines „Verhältnisses von

hintergehbar ist, wird die Konstruktion und Beglaubigung von Realität zur Sisyphusarbeit. Vgl. bspw. Peter Weirs Truman Show (1998). 179 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86. 180 Ebd.

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Kunst und Wirklichkeit“181, dieses Schemas, um bisherige Konzeptionen semiotischer Kunsttheorien darstellbar zu machen. Obschon Karasek und Handke hier nicht um wissenschaftliche Begriffsbestimmungen des Wirklichen bemüht sind, verläuft die zitierte Gesprächspassage doch entlang der Positionen dieses Viererschemas. So bezieht sich Karaseks Frage, ob die Reise wirklich stattgefunden habe, offenbar auf den realen Autor Peter Handke und entspricht daher dem ersten Modell, wonach „[i]m Kunstwerk die äußere, objektive Wirklichkeit zur Darstellung [kommt]“182. Jene Frage, was Handke denn unter „wirklich passieren“183 verstehe, referiert hingegen auf das zweite Modell, demzufolge sich im Kunstwerk „die innere, subjektive Wirklichkeit eines einzelnen“184 ausdrücke. Gemäß des dritten Modells „wird eine eigene Wirklichkeit sui generis hergestellt“185, die Handke mit seinen Figuren, John Ford und der Frau des Ich-Erzählers, selbst anspricht. Indem der Autor zuletzt auf die „Eheleute“186 anspielt, die idealerweise eine Entlastung von ihrem naturalistischen Wirklichkeitsbegriff erfahren könnten, berührt er auch das vierte Modell, demzufolge das Kunstwerk „Teil der Wirklichkeit des Rezipienten“187 werde oder werden könne. Was sich in diesem Gespräch ereignet, ist ein sowohl bewusstes als auch unbewusstes Kreisen um den Wirklichkeitsbegriff, das sich aus der Konzeption des Werkes selbst ergibt und auf Handkes frühere, kritisch-

181 Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung (2001), S. 27. Die Autorin entwickelt ihre eigene Position – wirklich ist das, was bedeutend ist –, indem sie den im Viererschema abgebildeten Konzeptionen „die grundsätzliche Opposition: ,bedeutend (signifikant)‘ – ,nicht bedeutend (insignifikant)‘ gegenüberstellt, wonach „Wirklichkeit […] folglich nur entweder als Bedeutendes oder als Nicht-Bedeutendes begriffen und bestimmt werden“ (47) kann. 182 Ebd., S. 28 183 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86. 184 Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung (2001), S. 28. 185 Ebd. 186 Karasek: Ohne zu verallgemeinern. In: Scharang (Hg.): Über Peter Handke (1972), S. 86. 187 Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung (2001), S. 28.

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vorsichtige Positionierung gegenüber dem Wirklichen188 rückverweist. Wenn für die Geschichte des Ich-Erzählers, der von seiner Ehefrau quer durch Amerika verfolgt wird, dasselbe gilt wie für John Fords Westernfilme – „Nichts davon ist erfunden“189 – dann ist die Richtung wieder offen: Die Deutungshoheit über Wirklichkeit und Fiktion, über Wendungen wie „wirklich“190, „lebenswahr“191 oder „erfunden“192, wird, in einer ironischen Geste, an den Leser abgegeben. Dass Handke diese Deutungshoheit von Beginn an spielerisch an das Publikum weitergibt, zeigt besonders eindrücklich die Publikumsbeschimpfung aus dem Jahr 1966.193 Die Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbegriff berührt allerdings, wie bereits angedeutet, nicht nur die Medien Film und Literatur; neben Western und Bildungsroman spielt im Kurzen Brief auch die Fotografie eine Rolle. Einen ersten Zugang zu ihrer poetologischen Funktion innerhalb der Erzählung bietet das der Fotografie inhärente Versprechen, erlebte Wirklichkeit abzubilden und auf diesem Wege Erinnerungen wiederholbar zu machen. Sowohl der Ich-Erzähler als auch seine Frau Judith fotografieren während ihrer Reise. Die von Judith im New Yorker Hotel Delmonico vergessene Polaroidkamera wird darüber hinaus zum ersten Beweis ihrer realen Anwesenheit. Da es sich um die Kamera ihres Mannes handelt, ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Dieser erkennt, als er den Apparat entgegennimmt, bereits „[a]n der Zahl auf dem weißen Papierstreifen an der Seite […], daß Judith schon ein paar Fotos gemacht hatte. Sie hatte also etwas gesehen und wollte auch Bilder davon haben!“194

188 wie in Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) formuliert. 189 Handke: Der kurze Brief (1973), S.193. Vgl. auch S. 195. 190 Ebd., S. 193. 191 Ebd. 192 Ebd. sowie S. 195. 193 Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung (2001), S. 324, die auf das beispielhaft Performative der Inszenierung eingeht. Anstelle einer „Repräsentation einer fiktiven Welt“ werde die Bedeutung des „Verhältnisses zwischen Akteuren und Zuschauern“ selbst verhandelt. Die Handlungen des Stückes seien „wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell“ und damit „als performativ im Sinne Austins zu begreifen.“ 194 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 35.

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Wie eingangs erwähnt, spielt der Aspekt der Bildlichkeit eine wesentliche Rolle in der Poetologie Handkes. Schon für die Texte Brinkmanns konnte das wiederkehrende Spiel mit der Referenzialität von Bildern und Fotografien nachgewiesen werden, sowohl in den Text-Bild-Collagen als auch in den reinen Text-Publikationen. Nicht weniger arbeitet sich Handke offenbar an dieser Thematik ab, wenn er Bild und Fotografie begrifflich und konzeptuell aufeinandertreffen lässt. Für die Fotografie im Kurzen Brief gilt, dass einerseits eine Referenzwirklichkeit angenommen wird, das heißt, die Fotografie im Sinne eines indexikalischen Zeichens als Beleg einer Erfahrung des Wirklichen figuriert und andererseits auch wieder Zweifel an einer solchen Referenzwirklichkeit aufkommen. Diese Zweifel sind nicht technischer Natur, auch wenn Handke den Kameratyp hier näher spezifiziert. Aufschlussreich ist dennoch, dass es sich in seinem Buch um die analoge, prädigitale Fotografie handelt, die noch weniger leicht manipulierbar ist als die digitale Fotografie, die mit Beginn der 1990er Jahre Verbreitung fand. Noch dazu ist die Kamera im Kurzen Brief eine Sofortbildkamera, weshalb die erstellten Bilder dem Ich-Erzähler immer unmittelbar, ohne zeitliche und örtliche Verlagerung des Entwicklungsprozess, zur Verfügung stehen. Die Interpretation von Fotografie als Wirklichkeitsbeleg erscheint hier, aus technischer Sicht, also alles andere als abwegig.195 Trotzdem entgeht der Fotografie offenbar ein Teil des Wirklichen, wie der Ich-

195 Vgl. Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik (2009), hier S. 24, der die Interpretation des Verhältnisses von Fotografie und Wirklichkeit als relativ unabhängig vom technischen Status quo einstuft. Er weist auf den überschätzten Einfluss der Digitalisierung hin, wenn es um die Frage geht, in welcher Weise wir den Wirklichkeitsgehalt der Fotografie interpretieren: „Photographien sind weiterhin visuelle Reflexionen über Realität, sind medial vermittelter und in Bildern konzentrierter Realismus – auch wenn die Realität eine radikal konstruierte ist“. Demgegenüber sieht Fulda: Am Ende des photographischen Zeitalters? In: Schmidt, Valk (Hg.): Literatur intermedial (2009), S. 401–433, hier S. 402, dezidiert die „prädigitale“ Fotografie in der Funktion des indexikalischen Zeichens, hingegen beobachtet er in ihrem Verhältnis zur Literatur hiervon unabhängige Konstanten, wie etwa, S. 409, dass die deutsche Literatur in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1968 nicht eigentlich mit der „traditionellen Inferiorisierung“ der Fotografie breche.

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Erzähler nicht ohne Selbstironie andeutet, wenn er von seinem Spleen berichtetet, das Kind seiner Reisegefährtin Claire tagtäglich zu fotografieren, um dann nachzusehen, „ob es sich schon verändert hätte.“196 Auch entgeht der Kamera ihr eigener Einfluss, der sich etwa darin zeigt, dass das Kind, „dadurch, daß es fotografiert wurde, tatsächlich mit jedem Tag auch andere Haltungen einnahm.“197 Handkes Erzähler hat, so berichtet er selbst, jenen Lernprozess durchlaufen, an dessen Ende der Verlust seines kindlich-naiven Glaubens an eine zwangsläufige Referenzwirklichkeit der Kunst steht. Diesen Verlust der Referenzialität, derer er sich zuvor sowohl beim Betrachten von Gemälden als auch beim Lesen von Literatur gewiss war, bezeichnet der Erzähler selbst als schockartiges Erlebnis. „Dabei erinnerte ich mich wieder, daß dagegen ich als Kind immer wissen wollte, wo die dargestellte Sache auch in Wirklichkeit lag. In unserem Haus hatte es zum Beispiel ein Ölbild mit einer Gletscherlandschaft gegeben, […] und [ich] konnte es nicht glauben, als man mir sagte, daß das Bild ein Phantasiebild war; bei dem Gedanken, daß das Bild allein war und daß ich mir nichts dazu vorstellen konnte, war mir lange Zeit noch, als ob ich ersticken müßte. Ähnlich war es, als ich dann lesen lernte: ich konnte mir nicht vorstellen, daß etwas beschrieben wurde, was es nicht gab. […]. Diese Wahrnehmungsformen wirkten insgesamt so sehr auf meine anderen Erlebnisse, daß es mir jetzt im nachhinein vorkam, mit dem Schock, mit dem mir ihre Ungültigkeit bewußt wurde, hätte auch jeweils ein neuer Abschnitt meines Lebens angefangen.“198

Indem der Ich-Erzähler fotografiert, bedient er sich eines Mediums, dessen Versprechen auf Wirklichkeit in der vermeintlichen „Repräsentation des

196 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 116. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 118. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Referenzialität im Kurzen Brief auch im Kontext des Religiösen eine Rolle spielt. Bei einem späteren Besuch einer Kirche in San Xavier del Bac bekundet der Erzähler seine seit langem bestehende Abneigung gegen das Religiöse, die ihn jedoch von der starken „Sehnsucht, [s]ich auf etwas beziehen zu können“ nicht zu befreien vermag. S. 165.

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Realen“199 liegt und das in dieser Eigenschaft für den Erwachsenen nach wie vor besteht. Auch diesbezüglich gerät also die Fotografie in eine medienspezifische Gegenposition zur Reiselektüre. Der Ich-Erzähler ringt noch um das verbliebene Wirklichkeitsversprechen der Fotografie und erliegt der Versuchung eines Abgleiches von geschossenem Polaroid und Realität mehr als einmal – etwa als er die soeben angefertigten Fotografien an der Windschutzscheibe aufreiht, um dann „manchmal hinaus, dann wieder auf sie zurück“200 zu schauen. Demgegenüber ist das Kind, Benedictine, noch resistent gegenüber Referenzansprüchen und -vorstellungen und sucht entsprechend hinter einem vermeintlichen Zeichen nicht notwendig das Bezeichnete. Handkes Erzähler interpretiert ihre kindliche Wahrnehmung nicht als Mangel, sondern vielmehr als Idealzustand. In seiner Darstellung hat Benedictine ihm fraglos etwas voraus. „Es war eigenartig, daß Benedictine die Natur fast nicht mehr wahrnahm, sondern die künstlichen Zeichen und Gegenstände der Zivilisation schon als Natur erlebte. […]. So nahm sie es als naturgegeben, daß es Buchstaben und Zahlen gab, und betrachtete sie als selbstverständliche Dinge, ohne sie erst als Zeichen entziffern zu müssen. […]. Wenn das Kind etwas der eigentlichen Natur Nachgemachtes sah, etwa ein Gemälde des Malers, war es ihm unwichtig, ob und wo es das Vorbild dafür gab, denn das Nachbild hatte es für immer ersetzt. […]. Daß das Kind hier sofort schon die Nachahmungen und Zeichen als etwas für sich anschaute, machte mich dann fast eifersüchtig.“201

Das sich hieraus ergebende Missverhältnis zwischen dem erwachsenen, von wiederkehrenden Brüchen geprägten Blickwinkel des Erzählers und den kindlichen Sehweisen Benedictines202, kulminiert wiederum in einem Eklat,

199 Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik (2009), S. 23. 200 Vgl. Handke: Der kurze Brief (1973), S. 74. An gleicher Stelle macht er Claire auf ihre Veränderung aufmerksam, indem er auf eines der Fotos zeigt. 201 Ebd., S. 117, 118. 202 Das Alter Benedictines wird nicht angegeben. Die Kommentare des IchErzählers zum Verhalten des Kindes, zu seiner ersten Begegnung mit Claire

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der seine Ursache in der scheinbar willkürlichen Aufreihung von Fotografien hinter der Windschutzscheibe hat: Die vom Ich-Erzähler aus einer Laune heraus angefertigten Bilder zeigen die Umgebung, Benedictine sowie ihre Mutter Claire.203 Das Kind verlangt die Umstellung der Fotografien, doch „[n]irgends schienen sie am Platz zu sein“. Als Reaktion auf einen hilflosen Versuch ihres Begleiters „brüllte das Kind panisch auf, fast mit der Stimme eines Erwachsenen.“204 Obschon er sich mit dem zusehends in Rage geratenden Kind überfordert sieht, ist der Erzähler offenbar fasziniert von dem ihm unbekannten „geheime[n] Muster“, das es zu verlangen scheint und das schließlich durch Zufall hergestellt ist, ohne dass er „jetzt eine eigene Ordnung entdeckte.“205 Während also der Ich-Erzähler lustlos einander ähnelnde Fotografien produziert, deren Gebrauchswert ihm selbst unklar bleibt, ist das Kind nahezu besessen von ihrer geheimen Ordnung, die dem Erwachsenen verborgen bleiben muss. Mit dessen denkbaren, chronologischen oder ästhetischen Ordnungsschemata, ist dieser Bildordnung jedenfalls nicht beizukommen. Erzähler und Leser werden hier gleichermaßen ihrer Spekulation überlassen. Aus der Beobachtung des Ich-Erzählers, dass Benedictine idealerweise „Nachahmungen und Zeichen als etwas für sich anschaute“206, ergibt sich allerdings die Vermutung, dass ihre Ordnungsansprüche auch in diesem Fall weit weniger mit einer Referenzwirklichkeit zu tun haben als es ihrem erwachsenen Begleiter vorstellbar ist. Was bleibt, ist eine Aporie des Wirklichkeitsbegriffes, die Handke nicht beseitigen will, sondern gleichsam kultiviert. Indem die von C. S. Peirce beschriebene indexikalische Zeichenfunktion207 bei der Fotografie immer

Madison vor drei Jahren und die anschließende Feststellung – „Das Kind, das sie hatte, war nicht von mir.“ – lassen allerdings darauf schließen, dass sie etwa zwei Jahre alt ist. 203 Vgl. Handke: Der kurze Brief (1973), S. 73, 74. 204 Ebd., S. 88. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 118. 207 Es soll an dieser Stelle auf die u. a. aus philosophischer und bildsemiotischer Richtung erhobenen Kritikpunkte an der Engführung von Indexikalität und Fotografie nur hingewiesen werden. Eine tiefergehende Problematisierung im Rahmen dieser Arbeit führt jedoch zu weit, insofern hier auch davon ausge-

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mit im Spiel ist, sind auch Realität und Referenzialität konstitutiv in ihrer Rezeption208. So kann der vom Erzähler erfahrene Verlust des Glaubens an eine obligatorische Referenz dennoch jenen anzunehmenden Initialzustand nicht erneut hervorbringen, in welchem eine potenzielle Referenz gar nicht erst gedacht werden muss. Handkes Erzähler kann diesen Zustand nicht erinnernd heraufbeschwören und kommt in der Folge zu einem schiefen Vergleich: Dass Benedictine jenen beschriebenen Zustand eines übermächtigen Referenzanspruches, den er für sich erinnert – Wo sind die abgebildeten oder beschriebenen Dinge, Menschen, Tiere in der Wirklichkeit? –, noch erst durchlaufen wird, zieht er nicht in Betracht. Für ihn ist sie „sofort schon“209 dort, wo er doch erst mit einem sekundären Erkenntnisschritt anzulangen vermochte. Die Tatsache, dass der Erzähler seine frühkindliche, vorreferenzielle Wahrnehmung nicht mehr rekonstruieren kann, unterstreicht einmal mehr den notwendig aporetischen Charakter seines Wirklichkeitsbegriffes. Das bereits angesprochene (Sprach-)Bildliche im Werk Handkes hängt mit dem Fotografischen nur bedingt zusammen. Deutlich ist zunächst, dass Handke den Begriff des Bildes auch im Zusammenhang mit Fotografien einsetzt: Fotografien sind in seinen Texten, nicht anders als im alltagssprachlichen Gebrauch, auch Bilder. Wenn der Erzähler die Absicht formu-

gangen wird, dass Fotografie im Sinne eines indexikalischen Zeichens rezipiert werden kann und eine starre Gleichsetzung hier ohnehin nicht zielführend wäre; Vgl. auch Steinseifer: Oberflächen im Diskurs. Wie die Analyse von Text-Bild-Zusammenstellungen dazu beitragen kann, den linguistischen Blick für die Oberfläche zu schärfen. In: Linke, Feilke (Hg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt (2009), S. 429– 458. 208 So weist auch Stiegler: Montagen des Realen (2009), S. 27, darauf hin, dass, obwohl wir „nicht länger an die Objektivität der Photographie [glauben]“, sie als „Medium des Realismus […] immer mit der Wirklichkeit verknüpft“ bleibt. Vgl. auch Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1989), S. 87, dem „weder die KUNST noch die KOMMUNIKATION, sondern die REFERENZ […] das Grundprinzip der PHOTOGRAPHIE darstellt.“ Hieraus folgt für Barthes auch die Ableitung des „Noemas“ der Fotografie: „Es-ist-so-gewesen“. [Hervorheb. i. Original]. 209 Handke: Der kurze Brief (1973), S.118.

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liert, mit den Fotografien zugleich „Bilder für die spätere Erinnerung“210 zu hinterlassen, wird damit allerdings eine fundamentale Differenz angesprochen. Diese Differenz ist nicht nur durch den indexikalischen Charakter, sondern wesentlich auch durch die spezifische Materialität der Fotografie bestimmt. Während das Foto sich als konkrete „Materialisierung von bestimmten Wirklichkeitsvorstellungen in Bildern“211 verstehen lässt, sind etwa das Denken, Wahrnehmen, Beschreiben und Erinnern von und in Bildern hierüber nicht zu definieren. Geistige Formen des Bildes erfahren zwar durchaus im Literarischen eine (sprachliche) Materialisierung212, bleiben aber zugleich auf die charakteristische, ikonisch-symbolische Funktion ihrer Zeichen festgelegt. Die hiermit zusammenhängende Variabilität der Deutung beim Schreibenden wie auch beim Lesenden macht einen breiten Konsens über das Was des Bildes kaum möglich. Auf die weitgehend objektive Materialität des Fotografischen kann diese Form der Bildlichkeit sich nicht berufen und sie birgt ebenso wenig deren Versprechen auf Wirklichkeit. Handke lässt im Kurzen Brief das fotografische Bild und das Vorstellungsbild nebeneinander existieren und macht damit auch deren Differenz in Bezug auf die Aneignung von Wirklichkeit fruchtbar. Indem die äußere Wirklichkeit, etwa während des Sightseeings im Greyhoundbus, zur Bestätigung bereits bekannter Bilder und Zeichen gerinnt, wird auch die Fotografie dem Reisenden zur sinnlosen Dopplung. Während zahlreiche Passagiere auf den Auslöser drücken, verweigert sich Handkes Erzähler den „Autowracks und Ruinen“213 von Harlem, über die er unaufgeregt hinweggeht, als sei ohnehin keine andere Szenerie denkbar gewesen. Das mit der Fotografie assoziierte Versprechen auf Wirklichkeit wird in diesem Fall zur Farce – nicht weniger übrigens das beiläufige, fast wahllose Versenden von An-

210 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 116. 211 Stiegler: Montagen des Realen (2009), S. 24. 212 wie etwa entsprechend die Anwendung des Intermedialitätsbegriffes nicht notwendig davon abhängt, ob ein Bild abgedruckt oder beschrieben, d. h. sprachlich realisiert wird. In der Auseinandersetzung mit Brinkmanns frühem Roman Keiner weiß mehr wurde dies bereits als ein zentraler Aspekt herausgearbeitet. 213 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 29.

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sichtskarten214. Die Lust zu fotografieren ergreift ihn eher dann, wenn es wenig zu sehen gibt, als sei die Verlockung hier besonders groß, dem noch nicht in Vorannahmen manifestierten Wirklichen nachzuspüren. Im Gegensatz zu den Fotografien sind Vorstellungsbilder im Kurzen Brief Indikatoren einer spezifischen Aneignung von Wirklichkeit. Sie geben Aufschluss über die In-Beziehung-Setzung von Subjekt und äußerer Wirklichkeit, wie verschiedene Beispiele zeigen. Ihr Potenzial liegt für Handke fraglos in der „begriffsauflösenden“215 Eigenschaft, die dem Sprachbildlichen, Poetischen zukommt und die der Autor als zentral für das eigene Schreiben darstellt. „Sowie beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftaucht, weiche ich – wenn ich noch kann – aus in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt.“216

Vorstellungsbilder geben zudem Aufschluss über die inneren Orientierungsprozesse des Subjektes. Handkes Erzähler sieht etwa nach einem irritierenden Telefongespräch unvermittelt „wieder ein Bild“217, das die Suche nach einer verlässlichen inneren Orientierung gleichsam plastisch werden lässt. Der Inhalt des geistigen Bildes, ein Wegkreuz und ein Hochsitz, lässt hier das Korrelat innerer und äußerer Wirklichkeit sichtbar werden, das heißt es geht innerlich wie äußerlich um die Verortung, Orientierung und Zielgebung des Subjektes. Dass Vorstellungsbild und Wirklichkeit darüber hinaus ihre je eigenen Konturen und Gesetzmäßigkeiten verlieren und ineinanderfließen können, verdeutlicht die Beobachtung einer Straßenszene in San Xavier del Bac bei Tucson. „Wieder sah ich das Bild, als ob ich ihm zugleich lauschte. Ich hatte es schon einmal gesehen. Die Straße zu meinen Füßen würde sich plötzlich neigen, das Bild würde auf einmal tief unter mir liegen, und ich würde kopfüber hineinstürzen. Jetzt lief ein

214 Ebd., S. 49. 215 Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: Ders.: Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), S. 71–80; hier S. 76. 216 Ebd. 217 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 32.

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Kind an der Lokomotive vorbei und verschwand zwischen den Häusern, wie jemand aus einem anderen Traum. Ich bog ab und ging auf einer Nebenstraße weiter.“218

Sprache und Bild gehen in dem Orientierungsanspruch des Subjektes eine Verbindung ein – „Wie sonst nach Worten suchte ich nach einem Bild, das mich zu mir selber bringen würde.“219 – und verdeutlichen so einmal mehr die spezifische Relevanz des Bildlichen in der Literatur Handkes. Handkes Kurzer Brief umkreist durchgehend die Frage nach dem Wirklichen. Dabei erschließt sich die Wirklichkeit dem Subjekt nie unmittelbar, sondern sie wird ihm auf verschiedene Weise vermittelt. Die Frage, was das Wirkliche ist, stellt sich angesichts der Existenz und Gültigkeit von sowohl inneren, subjektiven als auch äußeren, faktischen Wirklichkeiten, deren Zusammenhang unterschiedlich aufgefasst werden kann. Charakteristisch für Handkes Text ist jedoch weniger die Thematik selbst, die literarische Texte zweifellos in unterschiedlichster Weise ausgelotet haben, als deren poetologische Umsetzung. Der Text stellt die Frage nach dem Wirklichen, indem er sie umkreist und letztlich vermeidet, auf eigenwillige Weise. Die Verantwortung wird an den Leser abgetreten, indem dieser sich zu den vermeintlichen Fährten des Realen verhalten muss, die etwa mit dem Abdruck einer geografischen Reise-Karte und mit dem abschließenden Besuch bei John Ford ausgelegt werden. Dass diese Verantwortung auch angenommen worden ist, zeigen nicht zuletzt jene kritischen Äußerungen, die in Handkes Publikation eine Unterschlagung der zum damaligen Zeitpunkt brisanten real-politischen Situation der USA sahen oder gar ein blindes Einverständnis: Selbstfindung zur falschen Zeit am falschen Ort – so ließe sich die Kritik zusammenfassen. Als im Kurzen Brief relevante Medien wurden Film, Literatur und Fotografie angesprochen, sowie, fasst man den Begriff des Mediums weiter, auch das Bild beziehungsweise Bildlichkeit. Die inhaltliche und fraglich auch formale Adaption verschiedener literarischer Genres, vorrangig des Bildungs- und Kriminalromans, ist in der Forschungsliteratur häufig als zentrale Eigenschaft des Textes genannt worden. Die poetologische Bedeutung dieser Charakteristik bleibt allerdings eher unklar. Dabei ist deutlich, dass das Medium selbst im Kurzen Brief die zentrale Instanz der Vermitt-

218 Ebd., S. 167. 219 Ebd., S. 178.

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lung ist, wenn es um das Wirkliche geht. Im Medium kommen innere und äußere Wirklichkeit zur Sprache und treten in eine Beziehung. Handkes Erzähler vergleicht sich mit dem literarischen Vorbild, das er in den Protagonisten der Bildungsromane findet, während Der kurze Brief wiederum selbst als moderne Form des Bildungsromans aufgefasst worden ist. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich aber nicht um eine durch den Autor insinuierte Klassifikation220, sondern vielmehr um eine mediale Inszenierung, das heißt, um ein bewusstes Spiel mit Medialität und konkreten Medien und Genres. Die potenziellen Referenzwirklichkeiten des Literarischen, des Filmischen sowie der Fotografie und Bildenden Kunst kommen im Kurzen Brief zur Sprache. Sie werden mit der abschließenden Frage John Fords – „Und das ist alles wahr?“221 – noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Zugleich wird die Frage als wenig hilfreich entlarvt: Die zentralen Erfahrungen des Subjektes sind nicht wirklich im Sinne einer faktischen Realität, sondern vielmehr wirklich im Sinne einer subjektiven Relevanz und Reproduzierbarkeit, die etwa als eine „tätige Erinnerung“222 oder als ein Zurücktreten aus den eigenen Erfahrungen223 beschreibbar wird. Handke vermittelt die spezifische Konstitution eines Subjektes, das sich reflektierend oder mittels einer kontemplativen Lektüre von der eigenen Erfahrung zu distanzieren vermag, aber auch die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit erzählend nivelliert und in anderen Orten und Zeiten angesiedelte Idealzustände imaginiert.

220 Mayer: Annäherung an den Bildungsroman. Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied – Langsame Heimkehr – Die Wiederholung. In: Hofen (Hg.): Und immer ist es die Sprache. Festschrift für Oswald Beck zum 65. Geburtstag (1993). S. 94–106, hier S. 99, sieht offenbar eine dezidierte Absicht. Für ihn ist „das Bemühen um Annäherung an das Modell des Bildungsromans deutlich erkennbar“ in „Thematik“, „Gestaltung der Fabel“ und „Figurenkonstellation“. Er kommt aber zu dem Schluss, dass „die Erzählung wesentliche transepochale Konstanten des Strukturtypus des Bildungsromans nicht oder doch nur gebrochen aufweist.“ Vgl. auch S. 101, wo Mayer für die Langsame Heimkehr konstatiert, dass hier die Realisierung des Bildungsromans „noch immer nicht gelungen“ sei. 221 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 195. 222 Ebd., S. 77. 223 Vgl. ebd., S. 98.

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Handkes Bemerkung, die Wirklichkeit der Literatur habe ihn aufmerksamer für die wirkliche Wirklichkeit gemacht224, ist mithin ein entscheidender Lesehinweis für den Kurzen Brief, dessen Erzähler eben diesen Lernprozess zu durchlaufen scheint. In der Verweigerung gegenüber schematisierten Kommunikationszusammenhängen225 wird die drohende „Fiktion von Verständigung“226 greifbar, die Handke etwa im mediendiskursiv vorbestimmten Reden über politische Ereignisse ansiedelt. Die Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion zeigt sich, wenn reale Verständigung fiktiv wird, während etwa auf einer Theater-Bühne die Ernsthaftigkeit des Wirklichen denkbar ist. So beobachtet der Erzähler etwa bei Judith „Erleichterung über den Ernst, der ihr erst auf der Bühne möglich wurde. Wie sehr sie sich sonst auch aufführte und aufspielte, auf der Bühne beruhigte sie sich […]“227. Malte Herwigs Feststellung, Handkes Kurzer Brief sei eine „nicht eigentlich fiktionale“ Darbietung „genaue[r] Selbstbeobachtungen“228 treibt die Annahme einer Medialität des Wirklichen sowie einer Wirklichkeit des Medialen – den „Ernst […] auf der Bühne“229 – noch ein Stück weiter: nämlich auf die Ebene des Autorsubjektes und damit der Literaturproduktion selbst.

224 Vgl. Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturm (1972), S. 19. 225 Auf das besonders eingängige Beispiel des „in ein Zitieren“ übergehenden Streits wurde schon hingewiesen. Handke: Der kurze Brief (1973), S. 42. 226 Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: Ders.: Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), S. 73. Diese „Fiktion“ übersetzt Handke auch mit einer „Dialektik, die nichts anderes als weltvergessene Routine ist“ (74), womit gleichzeitig der Verlust einer kommunizierbaren Referenzwirklichkeit angesprochen ist. 227 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 45. 228 Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 175. 229 Handke: Der kurze Brief (1973), S. 45.

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4.2 D IE S TUNDE

DER WAHREN

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E MPFINDUNG (1975)

Handkes Die Stunde der wahren Empfindung erscheint 1975, drei Jahre nach dem Kurzen Brief. Als Entstehungszeitraum gibt Handke den Sommer und Herbst 1974 an.230 Mitte der 1970er Jahre publiziert Handke zahlreiche Arbeiten, zu denen Theaterstücke, Gedichte und Erzählungen gehören. Das Stück Die Unvernünftigen sterben aus wird 1974 in Zürich uraufgeführt. Die Publikationen Als das Wünschen noch geholfen hat (1974) und Der Rand der Wörter (1975) umfassen verschiedene Textformen, wie Erzählungen, Gedichte und Aufsätze. Handke schreibt das Drehbuch für den unter der Regie von Wim Wenders produzierten Film Falsche Bewegung, der, wie auch Die Stunde der wahren Empfindung, im Jahr 1975 erscheint. Die Erzählung Die linkshändige Frau (1976) wird ebenfalls später (1977) verfilmt, während Handke hierbei allerdings selbst Regie führte. Vier der bisher acht Filme Handkes sind den 1970er Jahren zuzurechnen.231 Das Werk des Autors zeigt sich insbesondere in diesem Jahrzehnt als ein intermediales, während in der späteren Schaffensperiode, etwa ab dem Ende der 1980er Jahre, der Schwerpunkt wieder im Schreiben prosaischer und dramatischer Texte liegt. Auch greift Handke den Aspekt des Medialen in den 1970er Jahren thematisch auf, was am Beispiel des Kurzen Briefes gezeigt werden konnte. Während man für den Kurzen Brief unter anderem eine Wende zur mehr konventionellen Form des Erzählens konstatiert, wird auch Die Stunde der wahren Empfindung betreffend in der Forschungsliteratur von Wenden und Brüchen gesprochen. So grenzt etwa Alexander Huber Die Stunde der wahren Empfindung von der „Neuen Innerlichkeit“232 ab. Während er für den Kurzen Brief einen „Übergang vom artifiziellen Sprachspiel der Sprechstücke zur neu entdeckten Subjektivität“ bemerkt, handele es sich hier nun um „die Kehre zu einer Poetik, die, weil Heidegger ihr Gewährsmann ist, ontologisch genannt werden kann.“233 Jürgen Wolf hatte hingegen

230 Vgl. Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 168 [unpaginiert]. 231 Der Film Drei amerikanische LPs (1969) wird dabei nicht zu den 1970er Jahren gezählt. 232 Huber: Versuch einer Ankunft (2005), S. 99. 233 Ebd.

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bemerkt, Handke gebe mit diesem Werk seinen „sprachkritischen Ansatz“234 auf, was sich jedoch auch schon für den Kurzen Brief diskutieren ließe. Evelyne Polt-Heinzl resümiert, ohne wissenschaftlichen Anspruch, allerdings mit profunder Textkenntnis, dass „Handkes Kampf um einen anderen Blick und Weltzugang in einem eigengesetzlichen Raum-Zeit-Gefüge 1975 mit Die Stunde der wahren Empfindung [begann]“235, womit sie ebenfalls einen Bruch oder Neubeginn markiert. Zwar lassen sich die unterschiedlichen Beobachtungen nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Insgesamt zeugen sie aber von dem Bestreben, ein poetologisches Novum greifbar zu machen, was für die frühen Kritiken nicht unbedingt gilt, an denen sich nicht nur eine allgemeine „Zurückhaltung“236, sondern auch eine Tendenz zur pathologisierenden Lesart erkennen lässt, die in einem interpretativen Kurzschluss „auf die empirische Wirklichkeit des Autors schließ[e]“237. Der Begriff des Eigengesetzlichen238 gibt bereits ein Stichwort für die besondere Konstitution des Subjektes in der Stunde der wahren Empfindung. An dieser Konstitution lässt sich meines Erachtens auch Entscheidendes zur Poetologie der Erzählung ablesen. Das Subjekt wird hier – gleichsam von einer Minute auf die andere – seiner Voraussetzungen beraubt. Mithin liegt ein zentrales Charakteristikum der Erzählung in der existenziellen Bedrohung, die sich in der Haltlosigkeit des Subjektes zeigt. Der Pressereferent Gregor Keuschnig, Handkes Hauptfigur, arbeitet an der österreichischen Botschaft in Paris, wo er gemeinsam mit der Frau und der vierjährigen Tochter lebt. In personaler Erzählperspektive wird sein „Herausfallen aus dem alltäglichen Lebensvollzug“239 als zentrale Thematik des Textes entwickelt. Aufgrund einer geträumten Tat, des Mordes an einer alten Frau, ändert sich das Leben Keuschnigs fundamental, indem er diese Tat für wirklich nimmt und fortan ein Versteckspiel betreibt: „Am meisten aber bedrückte ihn, daß er jemand andrer geworden war und doch weiter so

234 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 49. 235 Polt-Heinzl: Peter Handke (2011), S. 60. 236 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 221. 237 Ebd. Zeller selbst plädiert für eine mehr literarhistorische Situierung, worauf im folgenden Kapitel noch eingegangen wird. 238 Vgl. Polt-Heinzl (2011), S. 60. 239 Lex: Peter Handke und die Unschuld des Sehens (1985), S. 14.

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tun mußte, als ob er dazugehöre.“240 Die sich im Kurzen Brief artikulierende und dem historischen Bildungsroman entlehnte, positive Utopie des Subjektes, sich selbst tatsächlich ändern zu können beziehungsweise ein Anderer zu werden, wird hier in ihr Negativ überführt. Der Verlust des gewohnten Zusammenhanges eröffnet Keuschnig offenbar Freiheiten, die er zuvor nicht besaß, deren Sozialverträglichkeit aber mindestens fragwürdig ist: So birgt die vorläufige Entfremdung vom eigenen Ich auch das Potenzial, die vermeintliche Monstrosität des eigenen Charakters gelten lassen und damit zu Gedanken, Äußerungen und Handlungen gelangen zu können, die zuvor unterdrückt werden mussten. Dass Handke Kafkas Schriften und dessen spezifischen Umgang mit Sprache in besonderer Weise schätzt, ist weithin bekannt. In der Stunde der wahren Empfindung ist die thematische Verwandtschaft augenfällig: Das böse Erwachen Gregor Keuschnigs erinnert an Kafkas Figur Gregor Samsa. In der Forschungsliteratur sind die Parallelen zu Handkes literarischem Vorbild mehrfach aufgegriffen worden.241 Die physische Verwandlung Samsas tritt vergleichbar unmittelbar ein und ist von ähnlicher Tragweite. Auffallend ist zudem, dass auch Keuschnig die plötzliche Veränderung seiner Lebenssituation nicht zuletzt als physische Metamorphose erfährt, die ihn das immer wieder betrachtete, eigene Gesicht als fremd- und bösartig erscheinen lässt: „Mit dieser Larve war es sogar eine Anmaßung, Selbstgespräche zu führen. Undenkbar, noch einmal freundschaftlich zu sich selber ,Na du!‘ zu sagen.“242 Die Parallelen zu Kafka können an dieser Stelle nicht weitergehend erörtert werden; sie sind jedoch bezüglich der Subjektkonstitution aufschlussreich. Sowohl in Kafkas Verwandlung wie auch in der Stunde der wahren Empfindung geht es offenbar zentral um ein Subjekt, dessen Orientierungsverlust und Haltlosigkeit durch die jeweilige Wand-

240 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 8. 241 Zum Beispiel Fickert: The other Gregor. In: The legacy of Kafka in contemporary Austrian literature (1997), S. 91–116; Pilipp: Peter Handke’s coming to terms with Kafka. In: Dvorak (Hg.): Modern Austrian prose: Interpretations and Insights (2001), S. 107–128; Pilipp: The Quest for Authenticity, a Trilogy: The Goalie’s Anxiety at the Penalty Kick, A Moment of True Feeling, The Left-Handed Woman. In: Coury, Pilipp (Hg.): The Works of Peter Handke (2005), S. 80–130; hier S. 98f. 242 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 44, 45.

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lung der Lebensumstände offensichtlich und akut, nicht aber erst mit dieser evoziert werden. Auffallend ist, dass die Kategorie des Subjektes in der Stunde der wahren Empfindung eine starke Position einnimmt, die dabei zugleich unterbestimmt bleibt. Erlebt Keuschnig, als Mörder, Momente einer befreiten Wahrnehmung, gerät die auktoriale Konstruktion des Subjektes als NichtMörder, der lediglich dem eigenen Traum aufgesessen ist, ins Wanken. Handke provoziert auf diesem Wege die Frage, wer Keuschnig wirklich oder eigentlich sei. Inwieweit ist Keuschnig der, der er zu sein glaubt? Und worauf bezieht sich entsprechend das Versteckspiel? Die plötzlichen Ausbrüche und Übersprunghandlungen des Protagonisten deuten weniger darauf hin, dass dieser eine vermeintliche Tat verberge, als vielmehr schamhaft sich selbst in seiner Kreatürlichkeit – „mitten im Ausbrüten aus dem Zusammenhang geschwemmt und nun unabsehbar ein monströser, nicht zu Ende gebrüteter Hautsack, eine Verirrung der Natur“243. So etwa in der Konfrontation mit dem als Alter Ego zu diskutierenden Schriftsteller, der ihn in Paris aufsucht. Schon in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) hatte Handke seinen Protagonisten Josef Bloch einen Mord begehen lassen, dessen mögliche Aufdeckung jedoch ebensowenig für die Not des Subjektes verantwortlich gemacht. Vielmehr wird das Ausmaß der Bedrängnis des Subjektes erst im Vergleich mit der Tat, im Sinne eines Gradmessers, anschaulich. So steht Blochs Täterschaft „in ironischem Kontrast zu seiner sonstigen Verfassung als Opfer“, wobei „die Dominanz der Leiden, die ihm von ‚Widerfahrnissen‘ zugefügt werden“244 offensichtlich ist. Bloch leidet an dem gewaltsamen „Eindringen der Objektwelt“245, die sich vor allem daran zeigt, dass bereits „[a]lles Denkbare, alles Sichtbare […] besetzt“246 ist. Seine Bedrängnis ist primär sprachlich bedingt und sie bringt eine problematische Wahrnehmungssituation mit sich. Auch Keuschnigs Leiden ist zu elementar, um mit dem singulären, akuten Ereignis des vermeintlichen Mordes begründet zu werden. Die Bedeutung der Sprache, die Blochs Leiden mitbestimmt, wird in der Stunde der

243 Ebd., S. 100. 244 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 73. 245 Ebd., S. 74. 246 Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972), S. 109.

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wahren Empfindung allerdings subtiler verhandelt – gleichwohl ist sie zentral für das Verständnis der Werkorganisation. Auf die für Handke geltende, zentrale Positionierung der Sprache innerhalb des medialen Organisationsprozesses wurde eingangs bereits hingewiesen. Die poetologische Relevanz des Sprachlichen lässt sich auch in der Stunde der wahren Empfindung über die genauere Untersuchung der Produktionskategorien Material und Medium erfassen. Die Tatsache, dass die Sprache zugleich als Material und als Medium des Literarischen fungiert, vermittelt das Werk in spezifischer Weise. Was hierunter zu verstehen ist, soll in der folgenden, konkreten Textanalyse geklärt werden. Subjekt III: Abhängigkeiten – Ohne Sprache kein Material Im Verlauf der bisherigen Ausführungen dürfte bereits deutlich geworden sein: Bei Handke erweist sich ein Materialbegriff als sinnvoll, der weit über das Kennzeichen physischer Präsenz hinausgeht. Durchgehend vermitteln die Texte des Autors, dass die Sprache ebenso das Material der Literatur wie auch ihr zentrales Medium ist.247 Obschon dies in gewisser Weise für alle literarischen Texte geltend gemacht werden kann, lassen sich an den poetologischen Positionen der hier untersuchten Autoren dennoch entscheidende Differenzen aufzeigen. Auf Brinkmanns Plädoyer für den Alltagsgegenstand wurde schon vergleichend eingegangen: Spricht er selbst von Material, so ist in der Regel nicht weniger als die greifbare, physische Präsenz von Lippenstift und Strümpfen gemeint. An dem Widerspruch von Medialität und Unmittelbarkeit arbeitet Brinkmann sich lebenslang ab.248 Auch Handke reflektiert die Fallstricke des Sprachlichen, verlässt sich jedoch von Beginn an zugleich auf dessen Eigenpotenzial und Eigengesetzlichkeit. Der Gewinn, den der Autor im distanzierenden Moment der Spra-

247 Zur Engführung von „Materialität“ und „Medialität“ in der literaturwissenschaftlichen Diskussion vgl. etwa Wagner: Material. In: Barck, Fontius, Schlenstedt u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3 (2001); S. 866–882; hier S. 869f. 248 Den im Rahmen des Brinkmann-Kapitels bereits reflektierten Konflikt fasst auch Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 281, zusammen, wenn er das Ende der „Utopie des Unmittelbaren“ im „Verweis auf die Medialität des Authentischen“ ansiedelt.

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che sieht, wird in seinen Texten immer wieder erkennbar. Sie zeigen auf unterschiedliche Weise, dass „die Sprache an der ganz unmittelbaren Wahrnehmung [einerseits hindert], doch vermag sie das Subjekt auch vor den Dingen zu schützen, indem sie diese vom Sprachsystem des Subjekts abhängig macht.“249 Dies lässt sich schon am Kurzen Brief zum langen Abschied überprüfen: Auf die auch entlastende Erfahrung eines Zurücktretens aus dem situativen Erleben sowie auf die Wechselwirkungen innerer und äußerer Topografien, die Handke dort beschreibt, wurde zuvor eingegangen. Sie werden möglich erst durch die Formulierung, durch die sprachliche Abstraktion, die das erlebende Subjekt vollzieht. Der Erfahrungsraum der Erzählung und damit auch der Erfahrungsraum des Protagonisten Keuschnig sind primär sprachlich organisiert. Der Verlust von Orientierung und Zusammenhang in der Stunde der wahren Empfindung bezieht sich auf eine in und als Sprache manifestierte Welt. So ist auch der initiale Ordnungsverlust mehr sprachlich denn handlungsorientiert angelegt: Der Begriff des Mörders wird auf Keuschnig applizierbar, ohne dass die Tat konkret vollzogen worden wäre – es handelt sich lediglich um einen Traum, der durch seine Nacherzählung und Wiederholung präsent bleibt. In der personalen Perspektive wird die Frage nach einer konkreten Tat, nach Beweisen, nach realer Verdächtigung und Überführung durch andere geradezu unerheblich: Was zählt ist die abstrakte Verschiebung der Definition, wer und was Keuschnig ist. Die Bedrängnis und der Orientierungsverlust des Protagonisten sind absolut. „Ich brauche auch eine Reihenfolge, dachte Keuschnig. – Aber für eine Reihenfolge brauchte er voraus ein System. – Aber es gab für ihn kein System mehr. – Aber wozu brauchte er dann eigentlich eine Reihenfolge? – Um zu vertuschen, daß er kein System mehr hatte. – Mir fällt nur ein, was ich nicht gebrauchen kann, dachte er.“250

Christoph Zeller liest Handkes Text als „ironischen Kommentar zur Intensitäts-Rhetorik der Revolte“251 um 1968; Keuschnigs „Traum von der individuellen, sexuellen und politischen Befreiung durch Gewalt“252 entspreche

249 Lex: Peter Handke und die Unschuld des Sehens (1985), S. 62. 250 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 65. 251 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 232. 252 Ebd., S. 233.

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den Bestrebungen der damaligen Protestbewegung. Mit Verweis auf das Horkheimer-Zitat, das Handke seiner Erzählung als Motto voranstellt – „Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?“253 – deutet Zeller Handkes Publikation als einen „Metatext der literarischen Produktion, der die Poetisierung der Welt als Gegenprojekt zum neo-avantgardistischen Dogma des unmittelbaren Lebens betreibt.“254 Dass der Autor hier die „Notwendigkeit symbolischer Vermittlung“255 proklamiert, die zugleich einer mitunter gewaltaffinen Utopie des Unmittelbaren entgegenläuft, ist augenfällig. Gleichwohl problematisiert der Text das distanzierende Moment eines symbolisch vermittelten Weltzuganges. Beispielhaft offenbart die Figur des Schriftstellers in der Stunde der wahren Empfindung die Gewinn- und Verlustrechnung ihrer poetisierten Weltsicht. Im Vordergrund steht zunächst aber ihre Freiheit: Sprache als Material, im Sinne eines noch zu bearbeitenden Stoffes, steht dem Schriftsteller zur Verfügung, während der Pressereferent Keuschnig sich mit einer informationellen Programm-Sprache konfrontiert sieht, die es ihm lediglich ermöglicht, „mit den Formulierungen andrer über sich nachzudenken“256. Den hier anklingenden, kritischen Gestus vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung und einer mit ihr verbundenen Politisierung des Literarisch-Ästhetischen in den Blick zu nehmen, ist mehr als naheliegend.257

253 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 5 [unpaginiert]. 254 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 233. 255 Ebd. 256 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 72. Im Gespräch mit Arnold: Als Schriftsteller leben (1979), S. 21, äußert sich Handke zu der konträr angelegten Figurenkonstellation. Zu der Figur Keuschnigs habe er gedacht, „das muß ein Mann sein, der ganz gewöhnlich ist, der nicht wie ein Schriftsteller, also wie ich, davon lebt, daß er plötzlich das Gefühl hat, alles sei fremd, anders, widerlich, sondern der das wider Willen […] so erlebt. Ein Schriftsteller, der denkt ja: Ha, ich erlebe das anders, als ich es bisher erlebt habe […], ich kann Geld verdienen damit. Und mir war bewußt, dieser Mann muß ein möglichst gewöhnlicher, möglichst unauffälliger, aber nicht völlig vertrottelter Mann sein.“ 257 Und wird von Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010) zu Recht gefordert.

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Keuschnigs drängendes Bedürfnis nach einer „Reihenfolge“258 findet, so scheint es zumindest, in der beruflichen Anforderung – hier: dem Mitschreiben des neuen Regierungsprogrammes – seine Befriedigung. „[D]as Programm, das er mitschrieb, sagte ihm, wie er war, und was er brauchte, sogar in einer Reihenfolge! Und was von ihm das Programm nicht definierte, das konnte vernachlässigt werden – denn das waren aus Selbstverschulden unbewältigte Verhaltensformen aus dem Trotzalter. Ich bin definiert! dachte er – und das schmeichelte ihm. Definiert zu sein machte ihn endlich unauffällig, auch vor sich selber.“259

Doch das Unbehagen des Protagonisten bleibt bestehen – die Erkenntnis über dessen Ursache folgt auf dem Fuße. Sie erinnert an die von Rutschky beschriebenen, literarischen Reaktionen auf die „Utopie der Allgemeinbegriffe“260 in den späten 1960er Jahren: „Jetzt wußte Keuschnig, was ihn störte: daß das Programm für alle da war, und nicht für ihn allein.“261 Der Keuschnig in Paris aufsuchende Schriftsteller ist eine zentrale Figur in Handkes Text. Er kann als die andere Daseinsmöglichkeit, als das Alter Ego Keuschnigs262 aufgefasst werden. Keuschnig, der sich den Müßiggang und die beobachtende Haltung nach eigenem Bekunden nicht erlauben kann263, steht in Opposition zu dieser Figurenkonstruktion. Seine Maskierung erweist sich als ein absurdes Ringen um Selbst- und Fremdbeherrschung, dessen Fragilität mit der Anwesenheit des Schriftstellers virulent wird. Beständig auf der Suche nach dem „unauffällig Besondere[n]“264, den Notizblock im Anschlag, befeuert dieser das Martyrium seines Gastgebers, der dem unablässigen Klicken des Kugelschreibers schließlich nicht mehr standhalten kann.

258 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 65, 72. 259 Ebd., S. 72. 260 Rutschky: Erfahrungshunger: Ein Essay über die siebziger Jahre (1980), S. 68, 69. 261 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 73. 262 Auch Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 227, sieht in dem Schriftsteller das „Alter Ego“ der Hauptfigur. 263 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 93. 264 Ebd., S. 96.

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„Die Katastrophe ist da, dachte er. Es ist heraus, wer ich wirklich bin. Schnell stand er auf und zog den Vorhang vor das Fenster, damit wenigstens kein Außenstehender sah, was sich nun ereignen würde. Dabei erinnerte er sich an einen Satz von Stefanie, als einmal Agnes und ein andres Kind ratlos zwischen vielen Spielsachen gesessen hatten: ,Sie haben zu Ende gespielt!‘ Ich habe zu Ende gespielt, dachte er, und eine Ader unter seinem Auge zuckte fast wohltuend.“265

Die Überlegenheit des Schriftstellers korreliert mit der Alternativlosigkeit sprachlicher Vermittlung, wie sie für Handke Gültigkeit besitzt. Gleichwohl handelt es sich um eine situativ bedingte Überlegenheit, die bereits mit dem Erfahrungsbericht der Figur selbst teilweise gebrochen wird. Der Schriftsteller besetzt in Handkes Erzählkonstruktion eine zwar souveräne, wenig involvierte Position, die am ehesten mit einer unpolitischen, freiheitlichen Art des Denkens assoziiert werden kann. Zugleich bereitet seine poetische Weltsicht ihm aber Probleme: Nichts kann ausgeblendet, alles muss gesehen werden, ohne aber kategorisiert und in Allgemeinbegriffen zusammengefasst zu werden. Seine Differenziertheit resultiert in Reizüberflutung und Resignation. Konsequenzen sind die Abneigung gegenüber ihm aufgezwängten Geschichten und das schwindende Interesse an Menschen, die sich ihm bereitwillig „entlarven“266. Er resümiert den Negativbericht seiner schriftstellerischen Existenz entsprechend mit: „Ich will niemanden mehr beobachten“267. Nach eigenem Bekunden ratlos, ob und in welcher Weise die Kategorisierung und Zusammenfassung seiner Erfahrungen überhaupt möglich sei268, spekuliert er auf das Geständnis Keuschnigs, dass es ihm

265 Ebd., S. 97. 266 Ebd., S. 92. 267 Ebd. 268 Vgl. ebd., S. 93. „Mir gelingt es nicht, jeweils einzelne unter den Sternen als SternBILDER zusammenzunehmen. So habe ich auch keine Idee, wie ich all die einzelnen Erscheinungen zu ErscheinungsBILDERN zusammenfassen sollte. Ist euch aufgefallen, wie oft manche Philosophen die Wörter ,versöhnen‘, ,bergen‘ und ,retten‘ verwenden? VERSÖHNT werden bei ihnen die BEGRIFFE; GERETTET werden die ERSCHEINUNGEN, und zwar von den BEGRIFFEN; und GEBORGEN sind die von den Begriffen geretteten Erscheinungen dann in den IDEEN. Ich kenne wohl die Ideen, aber ich fühle mich nicht in ihnen geborgen.“ [Hervorheb. i. Original]. Die Hervorhebung

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ähnlich ergehe und er ebenso einen Verlust von Zusammenhang erlebt habe: „Ich bin richtig gekränkt, wenn es jemand anderm nicht genauso geht wie mir. Solidarisch fühle ich mich nur mit Leuten, die in ihren Tätigkeiten keinen rechten Sinn sehen.“269 Keuschnig zeigt sich allerdings misstrauisch gegenüber dem Schriftsteller, der auch während des Sprechens über sich selbst nicht mit der Beobachtung des Gegenübers aussetzen kann und fortwährend Notizen macht. Das vorgebliche Desinteresse an anderen kauft er ihm nicht ab. Mit dem ironischen Vorschlag Keuschnigs, probeweise mit dem Schriftsteller zu tauschen, wird dessen Funktion als Alter Ego noch einmal konkretisiert. Der literarhistorische Entstehungskontext von Die Stunde der wahren Empfindung gerät einmal mehr ins Blickfeld, wenn Handke die unsolidarische Haltung des Schriftstellers unmittelbar mit den Ansichten seiner Begleiterin Françoise konterkariert: Während dieser angibt, sein Solidaritätsempfinden schwinde zusehends mit der Erkenntnis zwischenmenschlicher Gemeinsamkeiten, eröffnet jene ihren Gastgebern, dass ihre Lust, das eigene Leben zu beschreiben, gerade mit dieser Erkenntnis steige. Der literarhistorische Diskurs, der die Pole eines politisch-idealistischen sowie eines subjektiven, Ich-zentrierten Schreibens ins Bewusstsein und in die Diskussion brachte, kulminiert hier in zwei Figuren, die eine Liebesbeziehung führen. Während Françoise Solidarität empfindet, die Konstituenten ihrer persönlichen Lebensgeschichte im Wesentlichen auf kollektive Erfahrungen zurückführt und ihre subjektive Erfahrung als ein individuelles Erleben des Allgemeinen deutet, ist die Prädisposition des Schriftstellers eine andere: Der Leitsatz des Solidarischen verursacht ihm Brechreiz, sein Ich erlebt er als Ergebnis je eigener, singulärer Erfahrungen und die subjektive Erfahrung nur in der Abgrenzung von anderen als möglich. Der Zuwendung zum Kollektiv erteilt er eine Absage – „Das unscheinbar Besondere, von dem

der Begriffe in Kapitalschrift entspricht ihrer Funktion als Hyperonym oder Ordnungsbegriff, durch die sie sich vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abheben. 269 Ebd., S. 93.

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ich lebe, hat sich nicht erschöpft“270 – und wendet sich stattdessen, mit wiedererstarkendem Selbstbewusstsein, der Individualität Keuschnigs zu.271 Nicht nur die allgemeine Notwendigkeit eines sprachlichen Symbolsystems, sondern auch die Abhängigkeit des Subjekts von ebendiesem wird in der Stunde der wahren Empfindung in eindringlicher Weise vermittelt. In dem Zusammentreffen des Pressereferenten Keuschnig mit seinem Gast, dem namenlosen Schriftsteller, wird die Macht des Sprachlichen greifbar: Hier geht es um Unter- oder Überlegenheit, um Aktivität oder Passivität, um Definieren und Definiert-Sein. Als Sinnbild dieser Macht lässt sich der Notizblock deuten, durch den sich Sprache auch physisch materialisiert und der zur konstanten Bedrohung Keuschnigs wird. Eine Unabhängigkeit vom Sprachsystem kann es, in einer solchen Konstruktion, nicht geben und das Subjekt hängt folglich entweder von der eigenen oder von der Sprache eines anderen ab. Das Subjekt ist damit entweder Autor oder Opfer der Notizen eines anderen, so ließe sich überspitzt formulieren. Die Freiheit, die in der Produktion literarischer Texte liegen kann, klingt dabei zugleich an. Die entspannte Unzuständigkeit, die für Keuschnig im Definiert-Werden durch andere erfahrbar wird272, hat eine denkbar kurze Halbwertszeit. Die Sprache steht für einen spezifischen Zugang zur ästhetischen Erfahrung, indem sie Reflexion und Wiederholung, Selbst- und Fremdbeschreibung erst möglich macht. Indem Keuschnig seiner Selbstentfremdung im wortwörtlichen Sinne sprachlos gegenübersteht, ist seine Opferrolle vorprogrammiert: Es wird über ihn geredet und auf ihn gezeigt. Nicht „barmherzig“, sondern „im sicheren Vorgefühl des Triumphes“273 begegnet der Schriftsteller seinem „Opfer“274 Keuschnig. Der dem zentralen Protagonisten zugewiesene Unterlegenheitstopos korreliert mit einer fehlenden Sprachmächtigkeit. Der Selbstbericht des Schriftstellers, so negativ er sich

270 Ebd., S. 96. 271 Vgl. auch die Dissertation von Bock: Österreichische Erzählung (1985), hier S. 378, der unter Bezugnahme auf Adornos Noten zur Literatur I (1958) sowie die Ästhetische Theorie (1970) darauf hinweist, dass die Rede des Schriftstellers „eine Definition des modernen Prosaautors“ vornehme und die Literatur als solche immer wieder „implizit“ (382) thematisiert werde. 272 Vgl. Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 72. 273 Ebd., S. 99. 274 Ebd.

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bisweilen ausnimmt, bleibt doch im Sprachlichen überlegen. Selbst noch in der beruflichen Resignation deutet sich Wahlfreiheit an. Eine Rückbindung des Individuums an politische und gesellschaftliche Ereignisse, wie sie von Françoise ins Feld geführt wird, wird zugunsten einer subjekt- und detailfokussierten Sondierung des „unauffällig Besondere[n]“275 abgewiesen. Dass die Wahrnehmung dieses unauffällig Besonderen erst dann zu einer ästhetischen Erfahrung werden kann, wenn das Verlangen nach dem Allgemeinen, dem großen Ganzen preisgegeben wird, verdeutlicht eine zentrale Passage des Textes: In dieser geht es um das epiphanische Erlebnis Keuschnigs, das nur durch die vorübergehende Ausschaltung eines größeren Kontextes möglich wird. Erst die Fokussierung scheinbar völlig unbedeutender Details – „ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange“276 – öffnet hier den Blick erneut in Richtung eines größeren Zusammenhanges, der „IDEE eines Geheimnisses, die für alle da ist!“277 Um noch einmal auf die historischen Bedingungen zurückzukommen: In Handkes Stunde der wahren Empfindung verbirgt sich durchaus ein „Kommentar“278 zur vorangehenden Revolte um 1968. Den Vertretern der Protestbewegung, die vorgeblich die Aktion der Abstraktion vorzogen, auf Unmittelbarkeit und persönliche Freiheit drängten, hätte Handkes Gregor Keuschnig, der mit ähnlichen Ansprüchen seinen Orientierungsverlust zu kompensieren sucht und auf diesem Wege nur umso schneller scheitert, letztlich keine Identifikationsmöglichkeiten bereitgestellt.279 Über die ästhetisch-reflektorische Distanz, die im sprachlichen Vermittlungs- oder Symbolsystem und damit vor allem auch in der Literatur möglich wird, lässt sich darüber hinaus eine Verbindungslinie zum Kurzen Brief ziehen. Die Mittelbarkeit des Sprachlichen führt das Subjekt erst in einer gelingen-

275 Ebd., S. 96. 276 Ebd., S. 81. 277 Ebd., S. 82 [Hervorheb. i. Original]. 278 Zeller: Ästhetik des Authentischen (2010), S. 232. 279 Auf Zellers differenzierte Betrachtung der mit den Ansprüchen der Protestbewegung konform gehenden Befreiungsaktionen Keuschnigs wurde schon hingewiesen.

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den Weise zu sich selbst – wenn auch zu dem Preis temporärer Entfremdungserfahrungen.280 „Es gab keinen Ort mehr“ 281: Präskriptionen in Raum und Sprache Während das in der Stunde der wahren Empfindung verhandelte Potenzial sprachlicher Vermittlung an die Thematik des Kurzen Briefes erinnert, weist vor allem die Beziehungs- und Figurenkonstellation Parallelen zur späteren Erzählung Die linkshändige Frau (1977) auf. Letztere soll daher auch als ein weiterer Vergleichstext herangezogen werden, wenn es um die spezifische Poetologie der Stunde der wahren Empfindung geht. Die zwischen Mann und Frau bestehende oder erst allmählich herbeigeführte Ferne ist hier wie dort augenfällig. In der Stunde der wahren Empfindung macht der männliche Hauptprotagonist Keuschnig eine epiphanische Erfahrung, wohingegen es in der Linkshändigen Frau die zentrale weibliche Figur ist, die eine Art „Erleuchtung“282 erfährt. Beide sind ihrer Partner überdrüssig geworden und werden nicht zuletzt durch ihre liminalen, das Alltägliche transzendierende Erfahrungen bestärkt, sich einer nicht mehr tragfähigen Beziehung zu entledigen. Sie versuchen jeweils, eine neue, lebbare Haltung innerhalb des sozialen Gefüges einzuüben. Auch die Figur des Schriftstellers wird in der Linkshändigen Frau noch einmal aufgegriffen und ist hier, wie schon in der Stunde der wahren Empfindung, eine Reflexionsinstanz zu den bestehenden, starr erscheinenden Sozialgefügen der Protagonisten. Während der österreichische Schriftsteller Keusch-

280 Vgl. auch DeMeritt: Peter Handke: From Alienation to Orientation. In: Modern Austrian Literature, Vol. 20, Nr. 1 (1987), S. 53–71. DeMeritt vertritt die These, dass die Orientierung des Subjektes in der Stunde der wahren Empfindung erst auf dem Wege der Entfremdung möglich wird. S. 58: „The ability to perceive oneself and others as individual entities, an ability which derives from the alienating and terrifying loss of context, functions for Handke as the key to attaining orientation. In these moments of fear-induced happiness the subject re-experiences self and the world as separate beings but senses the existential commonality between subject and object.” 281 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 134. 282 Handke: Die linkshändige Frau (1977), S. 22.

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nig auf den Zahn fühlt und ihn damit in die Selbstentblößung treibt, prophezeit der Schriftsteller in der Linkshändigen Frau, der hier der Vater der Hauptprotagonistin ist, seiner Tochter ein Ende in Einsamkeit. Doch welche besonderen Charakteristiken der medialen Vermittlung lassen sich für Die Stunde der wahren Empfindung herausstellen? Aufschlussreich ist hier, in Abgrenzung zur Linkshändigen Frau, vor allem die poetologische Vermittlung der Beziehungskonstellation. Diese ist durch eine räumliche Darstellung gekennzeichnet, die sich im Sinne einer vorgegebenen, systematischen Determiniertheit der räumlichen Beziehungsverhältnisse lesen lässt. Ähnlich starr wie das Raumgefüge selbst sind die zugehörigen Raumbezeichnungen. Räumliche und sprachliche Präskriptionen bestimmen das Verständnis der interpersonellen Beziehungen offenbar in vergleichbarer Weise. Durch den Einsatz gezielter Begriffe wird Sprache in die Funktion einer Vorgabe gesetzt, die zu erfüllen wäre beziehungsweise deren NichtErfüllung die mögliche Kluft zwischen Wirklichkeit und abstrakter Vorstellung aufzeigt. Als ein Beispiel kann hier die zu Beginn in Guillemets und später auch in Kapitalschrift hervorgehobene Bezeichnung „Elternschlafzimmer“283 genannt werden. Während die initiale Beschreibung der Wohnsituation noch durch das signum citationis Distanz zur Begriffsverwendung signalisiert – als sei der Begriff mangels Alternative unvermeidlich und im Übrigen „nur vor fremden Besuchern“284 anzuwenden – erhebt die spätere Schreibweise in Majuskeln den Begriff gleichsam zum Gesetz. Indem er den Charakter des Zitats verliert, wird er in die Erzählersprache integriert. Die personale Perspektive des Erzählers vermittelt die innere Position Keuschnigs, die an dieser Stelle einer Resignation vor den Begriffen gleichkommt: „Mit einem Buckel und schielenden Augen betrat er das ELTERNSCHLAFZIMMER.“285 Die zu Anfang der Erzählung vorgenommene, präzise Beschreibung der Wohnsituation gibt bereits Aufschluss über die Relationen, über Nähe oder Distanz der in ihr lebenden Personen. Sie erinnert an die Raumkonstruktion in Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr (1968), die, wie hier

283 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 10 (als: „,Elternschlafzimmer‘“) sowie S. 108 (als: „ELTERNSCHLAFZIMMER“). 284 Ebd., S. 10. 285 Ebd., S. 108 [Hervorheb. i. Original].

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dargelegt werden konnte, insbesondere über das Topos des Mittelzimmers nachzuvollziehen ist. Zugleich zeigt sich hier aber eine zentrale Differenz: Während es sich sowohl bei Brinkmanns als auch bei Handkes Text um sprachlich realisierte Topografien handelt, ist die darüber hinausgehende Reflexion der Raumbezeichnungen ein Spezifikum bei Handke. Das Eigenleben, das die Sprache auch in Bezug auf räumliche Ordnungskategorien führen kann, ist demnach eine Ebene des Textes, wohingegen für Brinkmann die Sprache an dieser Stelle mehr Medium denn Material darstellt. Die gefühlte Entfernung zwischen Mann und Frau, das heißt zwischen Keuschnig und seiner Ehefrau Stefanie, entspricht einer durchgehenden topologischen Distanz, die als reale Lagebeziehung ausgedrückt wird. Ganz ähnlich den Verhältnissen in Brinkmanns Keiner weiß mehr, wenn dort das mit dem Kind besetzte „Mittelzimmer“286 den Protagonisten von der im Hinterzimmer schlafenden Ehefrau abtrennt. Die verschachtelte Wohnung Keuschnigs macht es notwendig, lange Wege zu gehen. Ihr Aufbau signalisiert Unübersichtlichkeit und Distanz. Zusätzlich sind die kulturell oder gesellschaftlich bedingten Raumdefinitionen als Festlegung von sowohl Lebensraum als auch darin zu verrichtender Tätigkeit lesbar. Die „normative modes of perception“287 beziehungsweise die „normative power of words and objects“288, die Handke zur Sprache bringt, lassen sich hieran leicht nachvollziehen. „Keuschnigs Wohnung war groß und verzweigt. Man konnte darin auf verschiedenen Wegen gehen und einander plötzlich begegnen. Der sehr lange Flur schien vor einer Wand aufzuhören – und ging dann, nach einem Knick, noch länger weiter, so daß man sich fragte, ob man immer noch in derselben Wohnung sei, bis in das hintere Zimmer hinein, in dem seine Frau […] manchmal Französisch lernte und dort blieb, um zu schlafen, wenn ihr, wie sie sagte, in der Müdigkeit der Weg durch den Flur und um die Ecken herum zu unheimlich war. Die Wohnung war so verschachtelt, daß man das Kind, auch wenn es nicht verloren gehen konnte, häufig rief […]. Das Zimmer des Kindes war von drei Seiten zugleich zu betreten: vom Flur; vom hinteren Zimmer, das seine Frau ,Arbeitszimmer‘ nannte; und vom nur vor fremden

286 Brinkmann: Keiner weiß mehr (2005), S. 11. 287 Pilipp: The Quest for Authenticity, a Trilogy. In: Coury, Pilipp (Hg.): The Works of Peter Handke (2005), S. 80–130; hier S. 120. 288 Ebd., S. 121.

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Besuchern so genannten ,Elternschlafzimmer‘. Davor befanden sich noch das Eßzimmer, sowie die Küche, mit dem ,Dienstboteneingang‘ – sie hatten keinen Dienstboten – und einem eigenen Dienstbotenklosett nebenan […], und ganz vorn, an der Straße, die ,Salons‘, die seine Frau als ,Living‘ bezeichnete, während im Mietvertrag einer der Salons wegen einer Nische in der Wand als ,Bibliothek‘ erwähnt wurde. Der kleine Vorraum, der direkt auf die Straße hinaus führte, hieß im Vertrag ,Antichambre‘.“289

An anderer Stelle heißt es, dass die „Entfernungen in der Wohnung so groß [waren], daß er schon unterwegs aus der Rolle fiel.“290 Der Flur wird mehrmals im Text als lang und dunkel beschrieben; er ist weder rasch zu durchqueren noch einladend. Die Möglichkeiten, spontan, einem Reflex folgend, in Kontakt zu treten sind entsprechend gering; die Wohnung ein topografischer Gegenentwurf zur unmittelbaren Interaktion. Auf dem Wege zu seiner Frau, zu den Gästen oder zur schlafenden Tochter werden Keuschnig das Ziel und die einzunehmende Haltung schon wieder fragwürdig. Die topografisch vermittelten, räumlichen Distanzen in der Stunde der wahren Empfindung lassen sich als ein Spiegel des Sprachlichen deuten. Wenngleich die Sprache vermittelt, kann sie doch die zu überbrückende Distanz zwischen Subjekt und Objektwelt nicht verbergen. Unmittelbarkeit kann sie nur vortäuschen. Die Topografie der Erzählung gibt Aufschluss über die Kategorie des Materials: Das primäre Material der Erzählung ist die potenziell determinierte und determinierende Sprache, die es dem Subjekt unmöglich macht, aus den ihm zugedachten Rollen und Erfüllungsansprüchen auszubrechen. Sie steht im Gegensatz zu jener ästhetisch-reflexiven Sprachlichkeit, die zum Ich-Maßstab des Subjektes werden kann, indem sie Vorgegebenes hintergeht und die Objektwelt noch einmal freigibt. „Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?“291, entfährt es Keuschnig, als er im epiphanischen Erlebnis Zugang zu einer noch nicht sprachlich determinierten Welt erhält. Der Lebenszusammenhang Keuschnigs ist Ausdruck von Normativität und sprachlicher Präskription, die in der Erkenntnis „Ich bin definiert!“292

289 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 9, 10. 290 Ebd., S. 88. 291 Ebd., S. 81. 292 Ebd., S. 72.

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kulminieren. Abweichende Bedürfnisse werden als unseriös, ähnlich dem Trotzverhalten eines Kindes, abgewiesen. Keuschnig, der als Presseattaché der österreichischen Botschaft seinem Herkunftsland in besonderer Weise verpflichtet ist, täte nach eigenem Empfinden gut daran, wenn er „wie ein erwachsener Mensch, alles an seinem Platz sähe, für immer ein narrensicheres System“293 bereithielte. Keuschnigs Schreibaufträge führen ihn dabei aus diesem System schon wieder hinaus; der „Bericht für das Außenministerium mit dem Titel ,Das Österreichbild im französischen Fernsehen‘“294 misslingt ihm. Ein sprachliches Potenzial wird unerwartet greifbar, das in Keuschnigs Lebenswelt, ganz offensichtlich auch im Gegensatz zu derjenigen des Schriftstellers, keinen Platz hat: „Eigentlich könnte ich an diesen Filmen auch das Gegenteil zeigen, dachte er.“295 Handke macht Keuschnig damit auch zum Zeugen seiner eigenen Beobachtung, „wie viele Dinge mit der Sprache gedreht werden können.“296 Das Festhalten an vorgefertigten Bedeutungen, an der Sprache als Beweis, wird Keuschnig erst zusehends fragwürdig. Seine Vorliebe für Restaurantführer, die durch „Sterne, Kronen und Kochmützen“297 mit einer verlässlichen Symbolik aufwarten, repräsentiert zunächst jenen Glauben an die definitorische Funktion der Sprache, der ihm allmählich abhandenkommt. Die vermeintliche Sicherheit wird mit der Entfremdungserfahrung – mit dem Traum, ein Mörder zu sein – als Trugschluss entlarvt: „Wie hatte er sich eingebildet, sich gerade in einem Restaurant sicher zu fühlen? Es gab keinen Ort mehr, an dem er aus der Welt sein konnte; in seiner Lage galt nichts Bewährtes mehr.“298

Erst mit der Entfremdung wird der Zugang zu einer poetischen Sprache und damit auch zu einer anderen Wahrnehmung von Welt möglich.299 Indem

293 Ebd. 294 Ebd., S. 49. 295 Ebd., S. 51. 296 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA (1966). In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 30. 297 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 108. 298 Ebd., S. 134.

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Keuschnig diesen Zugang schließlich erhält, lässt er die bekannten Definitionen hinter sich und wird zum potenziellen Autor seiner eigenen Geschichte, deren Anfang den Abschluss der Erzählung bildet. „An einem lauen Sommerabend überquerte ein Mann die Place de l’Opéra in Paris. Er hatte beide Hände seitlich in die Hosentaschen seines sichtlich noch neuen Anzugs gesteckt und ging zielbewußt auf das Café de la Paix zu.“300

4.3 L ANGSAME H EIMKEHR (1979) Peter Handkes Langsame Heimkehr (1979) ist der erste Teil einer Tetralogie, zu der auch die Erzählungen Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Über die Dörfer (1981) und die Kindergeschichte (1981) gehören. Die Erzählung, die allgemein als ein zentraler Text in der Schreibbiographie des Autors wahrgenommen wird, sollte zunächst Ins tiefe Österreich heißen. Handkes Notizhefte verraten den vorläufigen Titel, der nebenbei auf zwei neue Schwerpunkte im Schreiben des Autors hindeutet: Landschaft und Topografie. Zahlreiche Notizbücher ab 1976 sind mit Ins tiefe Österreich tituliert.301 Sie befinden sich bereits seit 2008, als Vorlass, im Literaturarchiv Marbach sowie teilweise auch im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Nicht zuletzt für den langwierigen Entstehungsprozess der Langsamen Heimkehr sind somit die Notizbücher aufschlussreich.

299 DeMeritt: Peter Handke: From Alienation to Orientation. In: Modern Austrian Literature, Vol. 20, Nr. 1 (1987), S. 57, versteht Entfremdung bei Handke “as the literary means of realizing the intended poetic thought or state. It destroys the context which renders reality inaccessible to the subject”. 300 Handke: Die Stunde der wahren Empfindung (1975), S. 167. 301 Vgl. die Auflistung und Beschreibung der Notizbücher 1972–1990 durch die Österreichische Nationalbibliothek unter URL: http://handkeonline.onb.ac.at/ node/90 (Zugriff: 08.04.2013)

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Handke: Notizbuch, 88 Seiten, 09.08.1976– 15.09.1976, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA SPH/LW/W12.

Abbildung aus: Kastberger (Hg.): Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift (2009), S. 37.

Im unten abgebildeten Notizbuch aus dem Jahr 1978 streicht Handke den Titel Ins tiefe Österreich bereits durch.

Handke: Notizbuch Januar – April 1978 (08.01.1978– 24.04.1978), Deutsches Literaturarchiv Marbach, HS.2007.0010.00014.

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Nicht nur die Bedeutung des Topografischen, die sich bis zu den politisch umstrittenen Jugoslawien- und Reisetexten der 1990er Jahre verfolgen lässt, gerät mit der Langsamen Heimkehr ins Blickfeld – auch die mit diesem Werk vollzogene Hinwendung Handkes zum Klassischen, Epischen oder Mystischen wird diskutiert.302 Indem der Autor mit der Erzählung nach eigenem Bekunden eine Schreibkrise überwand303, sind die allgemeine Resonanz und der Drang, hier neue Themen und Strukturen ausfindig zu machen, in der Forschung entsprechend groß. „Die Forschung ist sich einig, mit Langsame Heimkehr die radikale Wende in Handkes Werk festzumachen. Diese Einschätzung kann sich auf Handkes vielfältig mitgeteilte und poetisierte Berichte stützen, die von der tiefen Schreibkrise erzählen, die die Niederschrift dieses Buches begleitete. Wohlwollende sprechen von einer ,Wende zum Klassischen‘ (Hans Höller: Peter Handke, 2007, S. 84), andere von der Wende zum lächerlichen Dichterkünder.“304

Handkes Text, der zum Ende der 1970er Jahre erscheint und auf den der Autor offenbar schon lange „hingelebt“305 hatte, ist im Rahmen dieser Arbeit von besonderem Interesse. In ihm verdichten sich Thematik und Poetologie der vorangehenden Arbeiten dieses Jahrzehntes, die mit dem Kurzen

302 Vgl. auch Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen: Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (2006), S. 70, der bemerkt, Handkes Wende werde „unter Berufung auf sehr unterschiedliche Aspekte konstatiert“ und selbst „die große Bedeutung, die ab Langsame Heimkehr Naturbeschreibungen zukommt“ besonders betont. Dieser Beobachtung ist sicherlich zuzustimmen. Bei Federmair: Formen der Konjunktion. Zum Verhältnis von Chronik und Epos bei Peter Handke. In: Handke: Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift. Hg. von K. Kastberger (2009), 306–324; hier S. 306, heißt es, die meist „als Wende zur Klassik“ bezeichnete Neuorientierung Handkes habe „in der Tetralogie der Langsamen Heimkehr ihr Denkmal“. Federmair konstatiert selbst, S. 307, Handke orientiere die Erzählung „nach seiner Wende mehr und mehr am Epos“. 303 Vgl. zum Beispiel Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 58ff. 304 Polt-Heinzl: Peter Handke (2011), S. 31. 305 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 66.

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Brief zum langen Abschied (1972) und mit der Stunde der wahren Empfindung (1975) exemplarisch untersucht wurden. Mit dem Schwerpunkt einer topografisch-geologischen Wahrnehmung von Welt erhalten die Topoi Raum und Ort den Rang einer Wissenschaft. In der Perspektive des erlebenden Subjektes – Valentin Sorger – wird eine Aneignung von Welt vermittelt, die „von der Suche nach Formen, ihrer Unterscheidung und Beschreibung, über die Landschaft hinaus“306 bestimmt ist. Zuvor hatte sich Handke auch mit der Geologie als Wissenschaft beschäftigt.307 Den persönlichen Hintergrund beschreibt unter anderen Malte Herwig. „1978 zieht Amina für ein Schuljahr in ihre Geburtsstadt Berlin und lebt bei der Mutter. Handke bricht zu einer großen Reise auf: Sein Ziel ist der Yukon in Alaska, der ein Jahr später den Schauplatz von Langsame Heimkehr abgeben wird. […]. Den Begriff der Vorzeitformen hat Handke aus Herbert Wilhelmys dreibändigem Werk über Geomorphologie entlehnt, mit dem er sich in Anchorage beschäftigt.“308

Die Poetologie Handkes erfährt mit der Langsamen Heimkehr allerdings eher eine stärkere Konturierung denn einen Bruch, auch wenn die Rede von einer Wende oder Neuorientierung Letzteres gelegentlich suggeriert. Das Potenzial einer poetischen Sprache, die das Material des schreibenden Subjektes darstellt, wird hier noch einmal neu durchgespielt und in Szene gesetzt. Dieses Potenzial ist immer schon in den Texten Handkes angelegt, hier nun aber wird die „Autorität des wahrnehmenden (wissenden) Subjekts

306 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 9. 307 Vgl. hierzu Kastberger: Bodensatz des Schreibens. Peter Handke und die Geologie (2012), URL: http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/kastberger2012a.pdf (Zugriff: 06.04.2013). Kastberger stützt sich hier vor allem auf die geologischen Fachbücher, die sich im Teilvorlass des Autors (im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek) befinden und die schon „auf Grund des hohen Grades an Anstreichungen erahnen lassen, wie intensiv sich Handke damals mit diesem Thema beschäftigt hat“ (S. 5). 308 Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 202. Auch drei Notizbücher aus dem Jahr 1978, die dem Erscheinen der Langsamen Heimkehr vorausgehen, tragen den Titel Die Vorzeitformen. Vgl. die Bibliografie und Werkbezüge der Notizbücher unter URL: http://handkeonline.onb.ac.at/node/90 (Zugriff: 08.04. 2013).

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über die Objekte seines Sehens […] explizit gemacht“309, nämlich als Wissenschaft. Das in früheren Arbeiten Handkes noch kommunizierte, auch Problematische einer poetischen Weltsicht weicht dem Anspruch, die „subjektive Wahrnehmung […] mit der objektiven Form in Gleichklang“ zu bringen, mit dem Ziel einer „Harmonie von Ich und Welt“310. Harmonie deutete sich als Möglichkeit schon mit der Stunde der wahren Empfindung an. Die Distanz zwischen einer subjektzentrierten, poetischen und einer informationellen, begriffsfixierten Sprache blieb dabei aber gerade erhalten. Die Kontaktstelle von Ich und Welt, Subjekt und Objekt ergab sich aus der „begriffsauflösenden […] Kraft des poetischen Denkens.“311 Wie lässt sich, vor diesem Hintergrund, der Objektivitätsanspruch Sorgers verstehen? Nimmt man noch einmal die Produktionskategorien des Literarischen in den Blick, wird die Position des Autors nachvollziehbar. Die (poetische) Sprache als Material des Literarischen erfüllt bei Handke die Funktion des Ich-Maßstabs, wobei die physisch-konkrete Materialität der Objektwelt dem Subjekt erst über das sprachliche Symbolsystem zugänglich wird. Gegenüber einer Sprache, die ihr poetisches Potenzial auszuschöpfen vermag, wird ein grundsätzliches Einverständnis vermittelt. Legt man die Kategorien Subjekt und Material als gegensätzliche Pole im literarischen Organisationsprozess zugrunde, dann lässt sich die Poetologie Handkes auf einer mittleren Position zwischen beiden ansiedeln, während bei Brinkmann die Orientierung zum Subjektpol deutlich überwiegt und Kluges Arbeiten eine spezifische Nähe zum Materialpol312 aufweisen. Trotz klarer Präferenz des sprachlichen Vermittlungssystems wird dessen Tragfähigkeit von Brinkmann immer wieder angezweifelt, die drohende Entfremdung von der eigenen Sprache stets mitgeliefert. Auch am Topografischen lässt sich der Unterschied ablesen: Obschon beide Autoren topografische Organisationsprinzipien anwenden, bei beiden sowohl innere als auch äußere, das heißt realweltliche Räume ästhetisch aufbereitet werden, macht doch wiederum die Haltung zur Sprache den Unterschied. Wenn etwa bei

309 Lex: Peter Handke und die Unschuld des Sehens (1985), S. 67. 310 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 57. 311 Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: Ders.: Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), S. 76. 312 Dass diese Einteilung nicht im Widerspruch zur Subjektpräsenz steht, wurde im vorangehenden Kapitel erläutert.

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Brinkmann, besonders in Rom, Blicke, die Fremdheit zum Ort als realweltlichem Kontext ästhetisch produktiv bleibt, so ist dies bei Handke nicht mehr der Fall: Der Ort wird hier zur Sprache und als Sprache zum Material der Literatur. In der von Jürgen Wolf vertretenen Position, dass Handkes Sorger – im Gegensatz zu Brinkmanns Wut-Protokoll und „tabula rasa“ Rom, Blicke – bereit sei, „den Blick zu öffnen für eine Integration“313, wird damit Wesentliches übersehen: nämlich einerseits Brinkmanns Formanspruch und andererseits Handkes Verweigerung gegenüber einem realweltlichen Ort – Topografie und Geologie sind in der Langsamen Heimkehr von Beginn an und ausschließlich auf Sprache bezogen. Der Objektivitätsanspruch Sorgers und seine ästhetische Wissenschaft stehen offenbar im Zusammenhang mit der angesprochenen MaßstabsFunktion des Sprachlichen. Eine poetische Sprache und Weltsicht stehen immer schon im Verdacht, sich im Subjektivistischen, Ephemeren und Kontingenten des Einzelbewusstseins zu verlieren. Dennoch hält Handke an der Validität und Alternativlosigkeit einer poetischen Sprache fest. Der Auftrag Sorgers ist der Auftrag des Schriftstellers. Wie aber geht Handke mit den Gegensätzen von Subjektivität und Objektivität um? Wie werden das möglicherweise nur subjektiv Objektive und die „Differenz von objektiver und subjektiver Topographie“314, die im Beruf Sorgers angelegt ist, poetologisch umgesetzt? Es stellt sich die Frage, ob mit Sorgers Wissenschaft poetisches Denken objektiviert oder die subjektive Komponente des vermeintlich Objektiven und Rationalistischen neu betont werden soll? Um diese Fragen angehen zu können, soll die Figur Valentin Sorger sowie deren Methoden und Möglichkeiten zunächst in den Blick genommen werden.

313 Wolf: Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa (1991), S. 58. 314 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (1984), S. 141.

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Ästhetische Erfahrung als Wissenschaft? Die Offenlegung des literarischen Ordnungsprozesses In der Beschreibung Sorgers, seiner Methoden und seines Vorgehens, wird eine enge Verschränkung von Subjektivität und Objektivität erkennbar, die sich durch die gesamte Erzählung zieht. Das Subjekt und das jeweilige Objekt der Betrachtung gehen dabei eine Verbindung ein. Ästhetische Erfahrung wird in der Langsamen Heimkehr als Ergebnis einer scheinbar präzisen Wissenschaft gehandelt. Dass Handke diese Konstruktion ernst nimmt, wird im Textverlauf deutlich: Tatsächlich wird eine Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs insinuiert, indem nachvollziehbare Methoden, Instrumente und Erkenntnisinteressen genannt werden. Wie für eine wissenschaftliche Herangehensweise erwartbar, ist Sorgers Methodik durch umfassende „Beobachtung“ und „Erfahrung“315 gekennzeichnet. Durch „Messen und Begrenzen“316, durch eine „Suche nach Formen“317, durch die „Unterscheidung und Beschreibung“318, die „Betrachtung und Aufzeichnung“319 wird ein tieferes Verständnis der Dinge und Zusammenhänge ermöglicht. Auch konkrete Instrumente, wie „Mikroskope und Ferngläser“320, werden genannt. Die Erfassung von Landschaft und Umwelt ist das zentrale Erkenntnisinteresse Sorgers, der sich sowohl „Material und Schichtung des Grunds“321 vornimmt, als auch die Ziele verfolgt, „Abstände gewärtig zu haben; sich der Neigungswinkel sicher zu sein“322 und „Begrenzungen, den Licht- und Windverhältnissen, den Längen- und Breitengraden, dem Stand der Himmelskörper“323 auf die Spur zu kommen. Sein Interesse betrifft „Umwelt in jeder geringsten Form – einer Rille im Stein, einer wechselnden Färbung im Schlamm, dem vor einer Pflanze angewehten Sand“324

315 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 11. 316 Ebd., S. 13. 317 Ebd., S. 9. 318 Ebd. 319 Ebd., S. 14. 320 Ebd., S. 9. 321 Ebd., S. 13. 322 Ebd. 323 Ebd., S. 14. 324 Ebd., S. 15.

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ebenso wie das große Ganze der „Erdgestalt“325. Dabei ist er auch um eine Hypothese nicht verlegen, die „die Möglichkeit eines ganz verschiedenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen“326 betrifft. Forschend bewegt er sich sowohl im freien Feld der „Natur“327 und der Großstadt328, als auch im „Labor“329. Inhaltlich, vor allem den Umgang mit Naturgesetzen betreffend, erinnert Handkes Text damit auch an Adalbert Stifters Nachsommer.330 Auffallend ist darüber hinaus die starke Identifikation mit dem Gegenstand, die zwar den Rahmen der Objektivität sprengt, zugleich aber auch für die exakten Wissenschaften charakteristisch ist. „Sorger war beflügelt von der Vorstellung, daß diese Wildnis vor ihm durch die Monate der Beobachtung, in der (annähernden) Erfahrung ihrer Formen und deren Entstehung, zu seinem höchstpersönlichen Raum geworden war […].“331

Die Langsame Heimkehr lässt sich als Offenlegung eines literarischen Ordnungsprozesses, das heißt der Werkorganisation, verstehen. Dabei geht es allerdings nicht um die Objektivierung der poetischen Darstellung selbst, sondern um den Versuch einer Objektivierung ihres Entstehungsprozesses, der dabei immer subjektgebunden bleibt. Hinsichtlich der Sichtbarkeit von Ordnungsprozessen lassen sich Parallelen zu Rolf Dieter Brinkmanns ebenfalls 1979 erschienenem Materialband Rom, Blicke aufzeigen, wenngleich der Band fundamentale inhaltliche und formale Unterschiede332 zur Langsamen Heimkehr aufweist. Beide Autoren verdichten in diesen Arbeiten der 1970er Jahre ihre poetologischen

325 Ebd. 326 Ebd., S. 18. 327 Ebd., S. 13. 328 Vgl. ebd. 329 Ebd., S. 9. 330 Vgl. hierzu auch Huber: Versuch einer Ankunft (2005), S. 334f; sowie Handke: Einige Bemerkungen zu Stifter. In: Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. Essays 1967–2007 (2007), S. 111–113. 331 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 11. 332 Noch dazu handelt es sich bei Rom, Blicke um eine nicht nachweislich autorisierte Publikation.

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Ansprüche und geben größtmöglichen Einblick in die – in Brinkmanns Fall fraglich unabgeschlossene – Organisation ihrer literarischen Arbeit. Die Offenlegung eines Ordnungsprozesses, innerhalb dessen Subjekt, Material und Medium des Literarischen spezifische Funktionen erfüllen, erfolgt auf denkbar unterschiedliche Weise und verweist doch in vergleichbarem Maße auf das Suchverhalten der Autoren. Der dichte, ästhetisch und stilistisch abgerundete Text der Langsamen Heimkehr ist nach eigenem Bekunden des Autors trotzdem „immer eine Suche“333, die Sätze seien „nie konstruiert“334. Trotz der immer wieder kritisierten, mythisch und metaphorisch überhöhten Sprache Handkes, verweist dieser selbst auf das Zittrige und Dünne335, das gerade zum Schluss der Erzählung in die Sprache einziehe. Das Suchverhalten macht Handke besonders im Gespräch mit Herbert Gamper deutlich. „Aber ich hab gar nicht gewußt mit diesem ersten Satz, wo mich das alles genau hinführen sollte, ich mußte mir den Weg, den ich ja auch nicht vor mir gesehen hab, erst mit dem Schreiben bahnen. […]. Und ich wollte immer mehr nicht weg von dieser Weite, die ich erst entdeckt habe durch das Schreiben. Also ich wollte nicht weg aus dem Norden. […]. Alle Konstruktionen, die ich hatte, sind eigentlich im Lauf des Erzählens vernichtet worden. Alle.“336

Als „Schreiben, Krakeln, Zittern, Ankleben“337 bezeichnete auch Ortheil die literarischen Suchbewegungen der 1970er Jahre, für die Brinkmanns Rom, Blicke beispielhaft sei, in deren Zusammenhang er aber auch Handke verortete. Der von Ortheil beschriebene Aspekt der suchenden Unabgeschlossenheit findet sich gespiegelt in der Wissenschaft Sorgers, die präzise in ihrem Beobachtungsanspruch und ihrer Methodik, nicht aber präzise in ihren Ergebnissen erscheint – wie auch poetische Sprache zwar Präzision, nicht aber wissenschaftliche Validität zum Ziel hat. Die von Malte Herwig angemerkten Schwierigkeiten Handkes, zum Ende der 1970er Jahre „aus den vielen Beobachtungen eine zusammenhängende Prosa zu schaffen“338,

333 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 39. 334 Ebd. 335 Ebd. 336 Ebd., S. 35. 337 Ortheil: Suchbewegungen (1985), S. 19. 338 Herwig: Meister der Dämmerung (2011), S. 196, 197.

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finden auch Eingang in die Tagebücher. Die Überfülle der Beobachtungen muss mit einem gleichzeitig verspürten „Organisationszwang“339 notwendig kollidieren. Reflexionen über „[a]ndere Räume“ und „unterirdisch sich verzweigen[de]“340 Wohnungen deuten auf die Relevanz des Topografischen und Geologischen im späteren literarischen Text schon hin. Der Anspruch, das (sprachliche) Material verfügbar zu machen, es einer „strengen Ordnung“341 zu unterziehen, wird in der Langsamen Heimkehr in besonderer Weise virulent. Ausgehend von diesen Beobachtungen, kann die Frage nach dem Objektivitätsanspruch der Langsamen Heimkehr präzisiert werden: Fraglos liegt in der Verwissenschaftlichung einer poetischen Weltsicht, wie sie sich in der Figur Sorgers realisiert, für Handke ein besonderes Potenzial. Er überträgt sie hier metaphorisch auf ein geologisches Interesse an Form und Gestalt der Landschaft. In einem Interview spricht der Autor vom „ungeheuer strenge[n] Gesetz“342, dem die Langsame Heimkehr unterliege. Handke fokussiert hier einzig die Sprache als Material und tut damit fraglos etwas anderes als Brinkmann, der etwa in Rom, Blicke Fotografien, Zeitungsausschnitte, Postkarten und anderes collagiert. Während diese Kombination verschiedener Medien und Artefakte per se schon Hypothesen über spezifische, literarische Ordnungsprinzipien provoziert, verlangen diese bei einer prosaisch gefassten, poetischen Sprache nach einer gezielten Decodierung. Indem Handke die poetische Sprache in der Wissenschaft Sorgers bündelt, gibt er das Handwerkszeug einer solchen Decodierung schon vor. Der Ordnungsprozess literarisch-ästhetischer Produktion wird damit direkt thematisiert und Sprache wird wiederum nicht nur als Medium, sondern zuallererst als Material markiert. In diesem Verständnis ließe sich Objektivität als ein Vorwand deuten, anhand dessen die Validität poetischer Sprache gleichsam bewiesen werden kann. Objektivität als ein Gegenstück zur Subjektivität und damit als

339 Handke: Notizbuch Januar – April 1978, (DLA Marbach HS.2007.0010. 00014.), S. 131. [Paginierung A.B.] 340 Ebd., S. 108. [Paginierung A.B.] 341 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 16. Das Zitat bezieht sich auf das von Sorger „in der Landschaft […] Gelesene“, lässt sich aber mit dem offenkundigen Anspruch Handkes gleichsetzen. 342 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 72.

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Grundlage von Allgemeingültigkeit kann hingegen nicht vermittelt werden. Auch über den immer wieder von Handke aufgegriffenen Aspekt des Religiösen erhält Sorgers Wissenschaft keine Allgemeingültigkeit. Eine im Sinne einer Religion343 betriebene Wissenschaft versteht sich vielmehr als Angelegenheit des persönlichen Glaubens.344 Aus einer wiederkehrenden Skepsis gegenüber den „Sprachformeln seiner Wissenschaft, bei allem Überzeugtsein“, gegenüber „ihre[n] Riten der Landschaftserfassung, ihre[n] Beschreibungs- und Benennungsübereinkünfte[n]“345 erwächst ein Zweifel, der Sorger auf sich selbst zurückwirft und ihn seine Wissenschaft als eine meditative „Weltvertrauens-Übung“346 betreiben lässt. Sorgers Wissenschaft bleibt letztlich eine subjektive, die aber doch den Zweck erfüllt, sein Material allererst anschaulich zu machen. Das mit dem Material verschmelzende Subjekt legt eine positiv erlebte Abhängigkeit offen, die sich als ein „Teilhaftigwerden an ,seinem Gegenstand‘“347 offenbart. Die Poetologie Handkes steht somit auch deshalb zwischen den Polen Subjekt und Material, weil das Material – in diesem Fall vorrangig die Sprache – für den Autor die Konstitution des Subjektes erst möglich macht und es zu sich selbst in eine lebbare Beziehung treten lässt.

343 Vgl. Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 15. 344 Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen (2006), S. 91, der diesbezüglich von einer „von jeder Metaphysik befreite[n] Verwendung religiösen Vokabulars“ spricht, ist sicherlich zuzustimmen. Es gehe, S. 92, um „keine religiösen Glaubensinhalte […], sondern Empfindungen, die traditionell dem Übersinnlichen zugeordnet sind“, hier aber „auf die ästhetische Wahrnehmung übertragen werden.“ Hoffmann verweist auch auf Huber: Versuch einer Ankunft (2005), in dessen Verständnis Religiöses bei Handke rein metaphorisch aufzufassen ist. Dass die Subjektivität Sorgers auch im Hinblick auf Religiöses im Vordergrund steht, geht aus dem Text hervor. Vgl. Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 16: „Er glaubte nicht etwa an seine Wissenschaft als eine Art Weltreligion, sondern die immer gemessene Ausübung seines Berufes (,Maßarbeit‘ war Sorgers Vorgangsweise […])“. 345 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 18. 346 Ebd., S. 16. 347 Ebd., S. 17.

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Organisation III: Form, Raum, Gestalt und Riss – die Erprobung einer geologischen Schreibweise Die Einordnung der Poetologie Handkes, in einer Mittelposition zwischen Subjekt und Material, kann allerdings nur mit Blick auf die konkreten Darstellungsverfahren nachvollziehbar werden. Was geschieht tatsächlich mit dem Material Sprache? Und geht das Konzept einer geologischen Poetologie, von der sich hier sprechen ließe, auf? Während bei Brinkmann der Vorrang des Subjektes durch bildliche und räumliche Ordnungsstrukturen nicht überblendet wird, eine Fremdheit sowohl gegenüber dem Material der Sprache als auch gegenüber einer lebensweltlichen, physisch-konkreten Materialität bestehen bleibt, lässt sich bei Handke Abweichendes beobachten: In der temporären Verschmelzung von Subjekt und Material, genauer: Sprachmaterial, wird eine Ästhetik erkennbar, die eine Harmonisierung dieser literarischen Kategorien anstrebt. Sprache wird, mit dem Ziel einer solchen Harmonisierung, zur „Friedensstifterin“, indem sie „als der ideale Humor, der den Betrachter mit den äußeren Dingen beseelte“348 verstanden wird. Ruft man hierzu wiederum die Position Kluges in Erinnerung, der in seinem antagonistischen Realismuskonzept nicht zuletzt eine distanzeinübende Nachahmung des Wirklichen proklamiert, dann wird bei Handke gerade die Einziehung einer solchen Distanz erkennbar: Das Subjekt verschmilzt gleichsam mit seinem Material. Die ästhetische Position Handkes zeigt sich in der Langsamen Heimkehr sehr deutlich: Die Kompetenz des sprachlichen Zeichensystems steht außer Frage. Das Verhältnis von Subjekt und Welt ist sprachlich bestimmt, wobei die Sprache immer zugleich Material-Status besitzt und selbst Form, Raum349 und Gestalt aufweist. Geologie ist, in diesem Verständnis, ebenso auf Sprache anwendbar. Weshalb es bei Handke so elementar ist, die Sprache nicht nur auf die Kategorie des Mediums, sondern primär auf die Kategorie des Materials zu beziehen, wird mit den ästhetischen Positionen des Autors leicht ersichtlich. Schon in dem Mitte der 1960er Jahre verfassten Aufsatz Die Literatur ist romantisch arbeitet Handke sich an dem vermeint-

348 Ebd., S. 100. 349 Vgl. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen (2006), S. 75, der betont: „Das Wort ,Form‘ stellt (zusammen mit ,Raum‘) einen der in Langsame Heimkehr am häufigsten verwendeten Begriffe dar.“

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lichen Gegensatz von Poesie und Prosa ab, der laut Sartre darin besteht, dass für den prosaschreibenden Schriftsteller „die Wörter nicht eine Wirklichkeit für sich oder sogar die Wirklichkeit an sich“ darstellen, „wie für den poesieschreibenden sogenannten ,Dichter‘, sondern nur Namen für die sprachlose Wirklichkeit.“350 Indem Handke diese Einteilung als „entscheidenden Fehler“351 bezeichnet, unterstreicht er zugleich seine eigene Ansicht, dass Sprache – auch und gerade in ihrer prosaischen Form – eine eigene Wirklichkeit darstelle und in dieser Funktion auch das zentrale Material des Schreibenden sei. Obschon Handke geäußert hat, seine Sprache müsse nicht „als poetische Sprache gleich erkennbar“352 sein, ist es doch ihre poetische, „begriffsauflösende“353 Funktion, die sie als Material des Literarischen auszeichnet. Einem möglichen Leiden an der Objektwelt, wie es in Brinkmanns Rom, Blicke (1979) wiederholt vermittelt wird, steht hier die „Autorität des wahrnehmenden […] Subjekts“354 entgegen, die sich in der Autorität des Geologen Sorger über den Gegenstand seiner Wissenschaft zeigt. Wird diesbezüglich jedoch nicht zwischen dem Material Sprache und dem physischen Material der gegebenen Objektwelt unterschieden, führt dies zu einem Missverständnis: Die Autorität Sorgers bezieht sich auf die „verfügbaren Methoden in der Landschaft zu lesen und das Gelesene in einer strengen Ordnung weiterzugeben“355 und damit primär auf die Sprache und den Begriffsapparat seiner Wissenschaft. Der Glaube an die subjekt- und wirklichkeitskonstitutive Macht des Sprachlichen, über die das Subjekt zugleich selbst verfügen kann, ermöglicht diese Form der Autorität. Die „Erhebung des Subjekts zum Schöpfer eines holistischen Weltbildes“356 lässt eine Harmonie auch mit den „äuße-

350 Handke: Die Literatur ist romantisch. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 40. 351 Ebd. 352 In einem Gespräch mit Arnold: Als Schriftsteller leben (1979), S. 30. 353 Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: Ders.: Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), S.76. 354 Lex: Peter Handke und die Unschuld des Sehens (1985), S. 67. Lex verweist an dieser Stelle auf den Ausspruch Sorgers in Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 69: ,Ich bin es der bestimmt.‘ 355 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 16. 356 Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen (2006), S. 72.

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ren Dingen“357 zu. Jene Konfrontation mit der Objektwelt, die mitunter Ekel, Sprachlosigkeit und Verstörung evoziert – und die in Brinkmanns Rom, Blicke fraglos Eingang gefunden hat – ist in der Langsamen Heimkehr offenbar gar nicht intendiert. Sie würde einen schonungslosen Fokus auf die physische, lebensweltliche Materialität verlangen, um den es Handke aber nachweislich nicht geht. Schon die kontemplative Haltung des Subjektes, das eigenmächtige Erschaffen von Formen und Räumen, die Situierung innerhalb eines unangetasteten Naturraumes deuten darauf hin und bergen immer auch die Möglichkeit der Abwendung von allem Äußerlichen. Die sich bereits im Kurzen Brief gelegentlich abzeichnende „zwanghafte Sympathie“358 des Protagonisten lässt sich als Verweigerungshaltung gegenüber externen Vorgängen lesen.359 In der „selbstlosen Zuneigung“360 Sorgers gegenüber seinem Beobachtungsgegenstand wird sie noch einmal aufgenommen. Die Harmonisierung von Subjekt und Material ist in Handkes Fall allererst zu verstehen als Harmonisierung von Subjekt und Sprache. Sprache als Material, das heißt als eigenständiger poetischer und veränderlicher Raum, befähigt das Subjekt erst als handelnde Autorität. Die handelnde Autorität Sorgers wird vor allem in der topografischen Organisation des Materials erkennbar: Höhen und Tiefen, Längen und Breiten geologischer Formationen sowie ihre Lagebeziehungen zueinander sind für den Wissenschaftler von Interesse. Dabei geht es kaum um die reine Dokumentation gegebener Fakten mit dem Ziel einer sorgfältigen Aufklä-

357 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 100. 358 Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied (1973), S. 41. 359 Auf die Verweigerungshaltung spielt auch Braungart: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt“: Max Frisch, Peter Handke und die Geologie. In: Dutt, Luckscheiter (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag (2007), S. 23–41; hier S. 27, an, wenn er darauf hinweist, dass man Handkes „Umweg über die unendlichen Zeiträume der Geologie“ auch „eine billige Flucht aus der geschichtlichen Verantwortung nennen“ könne. Wenn Braungart dies auch im Folgenden selbst nicht tut, ruft er damit doch eine Kritik in Erinnerung, die bereits am Kurzen Brief zum langen Abschied verschiedentlich geübt wurde. 360 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 17.

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rung der Nachwelt. Der mehr kontemplative361 denn streng wissenschaftliche Charakter von Sorgers „Weltvertrauens-Übung“362, sein „steter Versuch zur Meditation“363 widerspricht schon einem derart faktenorientierten Impetus. Die Erfahrung Sorgers ist auch eine ästhetische Erfahrung. Die sprachliche Erfassung von Wirklichkeit, gespiegelt in der geologisch-topografischen Erfassung der Landschaft, wird dabei als Grundantrieb des Schreibens und Zeichnens erkennbar. So wird das Abtasten der Gegebenheiten mit verfügbaren Mitteln in der Perspektive einer geologischen Wissenschaft vermittelt und ist doch immer zugleich sprachlich zu verstehen.364 Schreiben wird vor allem auch über das Topografische, Räumliche als Organisationsprozess erkennbar. Indem das Subjekt ordnet, sichert es sich zugleich gegen den Verlust von Form und Zusammenhang. Die mehrfach erwähnte Bedrohung durch eine „Große[.] Formlosigkeit“365 treibt Sorger an. Sie wird als Reversbild einer Utopie von Synthese und Harmonie installiert. Der hier vorgenommene Vergleich von Wissenschaft und Sprache, von Sorgers geologischer Auseinandersetzung mit der Landschaft und dem Umgang des Schreibenden mit der poetischen Sprache, ist fraglos im Text angelegt und in der Forschung auch so aufgenommen worden. Vor allem die zahlreichen biblisch-religiösen Begriffe und Anspielungen366 in der

361 Vgl. auch Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen (2006), S. 70, der von dem „handlungsarmen, über weite Strecken kontemplativen Text“ der Langsamen Heimkehr spricht. Vgl. auch den Ausspruch Sorgers in Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 111: „Nur versunken sehe ich, was die Welt ist.“ 362 Langsame Heimkehr (1979), S. 16. 363 Ebd. 364 Vgl. auch Braungart: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt“. In: Dutt, Luckscheiter (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne (2007), S. 40, der sich der bei verschiedenen Autoren der Gegenwartsliteratur auszumachenden „Inspiration bei den Naturwissenschaften“ widmet. Es gehe „den Autoren darum […], das poetisch-lautliche und -metapherngenerierende Potential wissenschaftlicher Terminologie auszubeuten.“ 365 Langsame Heimkehr (1979), S. 16. 366 Beispiele sind etwa, ebd., Sorgers „Bedürfnis nach Heil“ (S. 9); das Verständnis seiner „Räume“ als ein „auch den anderen sich öffnendes Heiligtum“ und die Erkenntnis, dass seine „Wissenschaft zugleich eine Religion“ sei (S. 15); die „Erfassung der Erdgestalt“ als Seelenrettung (S. 15, 16); Sorger, der „nicht

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Langsamen Heimkehr legen nahe, das metaphorische Erzählen Handkes auch im Sinne eines Gleichnisses zu verstehen. Nicht nur einzelne Aspekte, sondern der gesamte Text kann als Beispielerzählung für eine poetische Weltsicht gelesen werden. Doch nicht nur als Material, sondern auch als Medium erfährt Sprache in der Langsamen Heimkehr eine Aufwertung. Während die Fotografie, als das Referenzmedium par excellence, für Sorger nur eine untergeordnete Bedeutung besitzt, gewinnt die Sprache an Aussagekraft. Das Zeichnen Sorgers lässt sich dabei wiederum als Metapher des poetischen Sprachgebrauchs deuten: erst in der tastenden Vervollständigung, durch Schraffuren, Nuancen und Verwischungen – nicht mit einem einzelnen Strich – kommt eine adäquate Form zustande. Schon in der Linkshändigen Frau (1976) endet die Selbstfindung der Protagonistin Marianne mit dem Zeichnen eines Selbstportraits und auch der Zweifel an einer unhintergehbaren Referenzialität des Fotografischen ist, ruft man sich den Kurzen Brief zum langen Abschied (1972) in Erinnerung, nicht neu. Während für Barthes die Referenz als „Grundprinzip“ der Fotografie, ihr Noema des „Es-ist-so-gewesen“367 Gültigkeit besitzen, weist Handke offenbar dem Sprachgebrauch – dem (metaphorischen) Zeichnen – mit der Langsamen Heimkehr eine vergleichbar starke Referenzialität zu, die jedoch der Selbstvergewisserung des Subjektes vorbehalten bleibt und damit nie objektiver Beweis sein kann. „Er zog das Zeichnen, auch in der Arbeit, dem Fotografieren vor, weil ihm dabei erst die Landschaft in all ihren Formen begreiflich wurde; und er war jedesmal überrascht, wie viele Formen sich da zeigten, sogar in einer auf den ersten Blick ganz eintönigen Ödnis. Außerdem kam ihm jede Gegend erst näher, indem er sie – möglichst getreu und ohne die in seiner Wissenschaft üblich gewordenen Schematisierungen und Weglassungen – Linie für Linie nachzeichnete, und er konnte dann,

göttlich“ ist, wusste doch „verewigbar durch Formen, was schön und gut war.“ (S. 17); das Verlangen Sorgers „nach einem auf etwas gerichteten Glauben“ (S. 17); das „Reden in Zungen“ (S. 18). 367 Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1989), S. 87. Für Barthes ist dies auch an die Erkenntnis geknüpft: „Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewißheit geben.“ (96).

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wenn auch nur vor sich selber, mit gutem Gewissen behaupten, dagewesen zu sein.“368

Für Handke erfüllt die Sprache ihre Rolle als Medium und damit als Vermittler zwischen Subjekt- und Materialpol. Wie mit diesem Kapitel betont wurde, ist eine solche Einschätzung allerdings nur dann treffend, wenn berücksichtigt wird, dass der Materialpol hier weniger bestimmt ist durch einen realweltlichen Kontext als vielmehr durch den ästhetischen Raum der Sprachwirklichkeit.

368 Handke: Langsame Heimkehr (1979), S. 45, 46.

5 Resümee und Ausblick – Eine ästhetische Erfahrung im Raum

Subjekt, Material und Medium – diese Produktionskategorien bildeten den Rahmen der vorliegenden Arbeit, deren Ziel klar formuliert wurde: Literarische Organisationsprozesse an zentralen Texten der 1970er Jahre zu erschließen und damit zu einem besseren, tiefergehenden Verständnis dieses literarhistorischen Zeitabschnitts beizutragen. Dabei stellt die Arbeit sich einer fachbekannten Herausforderung, indem sie die Untersuchung literarischer Texte in einer engen Textorientierung vornimmt und sich zugleich gegenüber kulturwissenschaftlichen und interdisziplinären Wissenshorizonten öffnet. Sinnvoll ist ein solches Vorgehen vor allem im Zusammenhang mit dem Datum 1968, das nicht nur in politischer und (kultur)historischer Perspektive, sondern ebenso auch in den germanistischen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen eine wichtige Rolle spielt. Auch die Literatur der 1970er Jahre steht noch im Zeichen der Protestbewegung. Die verschiedenen wissenschaftlichen Problematiken, die sich hieraus ergeben, etwa die des Kontakts und der Abgrenzung von Literatur und Politik, wurden angesprochen. Nicht nur machen die hier behandelten Autoren die Protestbewegung zum Thema, auch sind ihre Texte in unterschiedlicher Weise geprägt von der Frage, was die Aufgabe und das Ziel der Literatur sei, wie eine Literatur aussehen müsse, die sich weder als Sprachrohr des Politischen versteht noch als ästhetische Schöngeisterei. Es geht also dabei um eine Suche, die mit den gesellschaftlichen, kulturellen Prozessen eng verwoben ist und historisch innerhalb einer charakteristischen „Verquickung von Kunst und Engagement“ sowie von „ästhetischer

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und politischer Demonstration“1 situiert ist. Von den vor allem durch Enzensberger vorgebrachten Engagement-Forderungen blieb das Selbstverständnis der Autoren nicht unberührt, was sich besonders in ihren theoretisch-programmatischen Essays und Stellungnahmen nachlesen lässt. Weder Brinkmann, noch Handke oder Kluge sind als „68er“2 zu bezeichnen. Verschiedene Werkaspekte sowie Aspekte der Autorinszenierung weisen aber Berührungspunkte mit den Ideen und Forderungen der Protestbewegung auf. So Brinkmanns Ruf nach einer „neuen Sensibilität“3, sein Anschluss an Leslie Fiedler und die von ihm geforderte Aufhebung der Grenze zwischen U- und E-Kultur4; Handkes Protestaktion bei der Gruppe 47, die sich wenig später im Gemengelage von SDS-Protesten und gruppeneigenen Spaltungen auch tatsächlich auflöste5; Kluges Bezug zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, sein Einsatz für den Neuen Deutschen Film, der mit einem gesellschaftskritischen Impetus den traditionellen, nachkriegsdeutschen Unterhaltungsfilm ablösen sollte. Den allgemeinen Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft kommunizieren die Werke der Autoren dabei auf unterschiedliche Weise. Jenseits der angesprochenen Kontaktpunkte zu den Forderungen der Protestbewegung ist hier festzuhalten: Kluge nähert sich den gesellschaftlichen, sozialen und historischen Bedingungen auch auf dem Wege der Theorie und Philosophie. In den literarischen und filmischen Arbeiten spielt er seine

1

Lommel: 68er. In: Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart (2000), S. 6–7; hier S. 7.

2 3

Ebd. Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147–155, im Anschluss an Sensibilitätsforderungen bei Susan Sontag und Herbert Marcuse. Vgl. Sontag: Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen (1968), S. 285–295; Marcuse: Versuch über die Befreiung (1969).

4

Formuliert im bekannten Aufsatz Cross the Border – Close the Gap (Erstveröffentlichung 1969 im Playboy).

5

Zu den verschiedenen Erklärungen für den Zerfall der Gruppe sowie zur Rolle Handkes vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 2 (2004), S. 207–232; Gilcher-Holtey: Die APO und der Zerfall der Gruppe 47. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25 (2007), S. 19–24.

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Erkenntnisse am konkreten Individuum durch. Bei Brinkmann ist, andersherum, das überwiegend subjektive, ich-zentrierte Durcharbeiten persönlicher Möglichkeiten primär. In einem zweiten Schritt wird deren historischgesellschaftliche Bedingtheit aber deutlich, indem unter anderem Moden, populäre Stile, weibliche Emanzipation, politische Ausrichtungen und frühkindliche Kriegserfahrungen in seinen Texten thematisiert werden. Ebenso tritt Handke für ein vom Subjekt ausgehendes, ich-geleitetes Schreiben ein. Die Bedingungen einer historischen und gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit werden hier primär auf der Ebene des Sprachwirklichen relevant. Sie sind nicht weniger wichtig; Handkes Rede von der „tückische[n] Sprache“6, sein medienkritischer Einwand gegen die Berichterstattung im Jugoslawienkonflikt spiegeln sich durchgehend in der Sprachsensibilität der literarischen Werke. In den einzelnen Kapiteln wurden diese Beobachtungen genauer herausgearbeitet. Um auf die konkrete Situation der 68er-Bewegung zurückzukommen: Befasst man sich eingehender mit den literarischen und theoretischen Werken der Autoren, wie im Rahmen dieser Arbeit geschehen, dann wird sehr deutlich: Die Autoren lassen sich von der Protestbewegung in keinem Punkt vereinnahmen, sondern werden im Zuge der Ereignisse vielmehr zu einer eigenen, ästhetischen „Suchbewegung“7 angeregt: Sie beziehen Stellung zur Kompetenz der in der Literatur verfügbaren Zeichensysteme, zum Verhältnis von Subjekt, Welt und Zeichensystem, zum implizit und explizit Politischen, zur Bedeutung der Subjektivität im Schreibprozess. Die drei Autoren eint dabei in den 1970er Jahren ein zentrales, literaturorganisatorisches Problem, mit dem sie sich gleichermaßen konfrontiert sehen – die adäquate Verbindung von Subjekt und Material des Schreibens. Die Autoren loten eine Verbindung aus, die neue Formen der ästhetischen Erfahrung ermöglicht: das räumliche Darstellungsverfahren. Brinkmann, Handke und Kluge sind somit Teilhaber einer spezifischen Suchbewegung, im Zuge derer sie insbesondere den Raum in ihre Poetologie aufnehmen.

6

Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA (1966). In: Ders.: Ich bin ein

7

Vgl. Rutschky: Erfahrungshunger: ein Essay über die siebziger Jahre (1980) und

Bewohner des Elfenbeinturms (1972), S. 30. Ortheil: Köder, Beute und Schatten: Suchbewegungen (1985). Während sie allgemeiner von Suchbewegungen des Jahrzehnts sprechen, geht es in dieser Arbeit um die Konturierung einer konkreten Suchbewegung.

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Dennoch lösen die Autoren das Problem einer literaturadäquaten Verbindung von Subjekt und Material je verschieden. Die im Rahmen der Analyse verwendeten Produktionskategorien Subjekt, Material und Medium8 ermöglichten es, eben diese Verschiedenartigkeit im literarischen Organisationsprozess herauszuarbeiten. Darüber hinaus wurden graduelle Einteilungen der Poetologie, im Sinne einer Annäherung an Subjekt- oder Materialpol, vorgenommen sowie Funktionen der Subjekt-Kategorie präzisiert: Selbsterkundung, Raumerkundung und Organisation. Herkömmliche, allgemeinere Ordnungsbegriffe, wie Neue Subjektivität, Neue Innerlichkeit (für Brinkmann, Handke), Kölner Realismus, Popliteratur (für Brinkmann), Dokumentarliteratur, Antagonistischer Realismus und Materialistische Ästhetik9 (für Kluge) wurden damit nicht revidiert, sondern erweitert. Gerade durch die Auswahl von Autoren, die nicht ein und denselben Subsumierungsbegriffen zuzuordnen sind, wird die Vielfalt der 1970er Jahre und zugleich eine verbindende Suchbewegung erkennbar. Diese eint die Autoren über die gängigen Verschlagwortungen und auch über die Generationengrenze10 hinaus. Die oben genannten Ordnungsbe-

8

Die sich in der Gliederung der Arbeit wiederfinden, über die Schwerpunktsetzung: Subjekt – Wahrnehmung; Material – Raum (Topografie, Topologie) sowie Medium – Organisation.

9

Im Sinne einer an Marx orientierten, materialistischen Kunst- und Geschichtsauffassung, die im Gegensatz zu Idealismus und Geniekonzepten steht; formuliert in Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Vgl. hierzu Leschke: Einführung in die Medientheorie (2007), S. 166ff; zu Kluges Theorie einer materialistischen Ästhetik Müller: Die authentische Methode. In: Ders.: Gegengifte (2009), S. 97–121.

10 So erlebte Alexander Kluge das Ende des Zweiten Weltkrieges bereits an der Schwelle zum Jugendalter, während Brinkmann und Handke im Vorschul- bzw. Kleinkindalter waren. Auf den Generationenbegriff wurde einleitend eingegangen. Vgl. zur Relevanz im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung, bspw. der möglichen Einteilung in eine „skeptische“ 45er-Generation (Kluge) und eigentliche 68er-Generation (nach 1938, Brinkmann und Handke) Ebbinghaus: Die Bewegungen der 68er. In: Internationale Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik, Jg. 33, Nr. 1 (2008), S. 38f; Siegfried: Trau keinem über 30. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 45 (2003). Online unter URL: http:// www.bpb.de/apuz/27305/trau-keinem-ueber-30#art1 (Zugriff am 18.02.2013);

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griffe beschreiben, auch in Forschungstexten, durchaus zutreffend Charakteristiken dieser Literatur, bergen aber auch das Problem einer deduktiven Schwerpunktsetzung. Die in der jüngeren Forschung zahlreichen Beiträge zu den Autoren Brinkmann, Kluge und Handke11 lösen sich von Schlagworten und wenden sich zunehmend dem Organisatorischen der Werke, der Komplexität der Darstellungsverfahren, der Intermedialität und den Entstehungsprozessen der Texte zu. Die vorliegende Arbeit reiht sich hier ein, indem sie zu einem mehrdimensionalen, offeneren Verständnis der Werke beiträgt und die ästhetische Erfahrung als Ergebnis eines Organisationsprozesses nachvollziehbar macht. Hiermit distanziert sie sich zugleich von einer tendenziell deduktiven Schwerpunktsetzung durch Begriffe wie Subjektivität oder Subjektivismus, Dokumentarismus, Realismus oder auch Pop. Diese Schwerpunkte erschweren meines Erachtens die notwendige Offenheit gegenüber Fragen nach der jeweiligen Gewichtung von Subjekt oder Material des Schreibens sowie nach der Relevanz des eingesetzten Mediums. Im Rahmen dieser Arbeit wurde daher von einem Subjekt- und einem Materialpol ausgegangen, denen die Texte der Autoren sich zwar graduell annähern, durch die sie aber noch nicht beschreibbar werden. Die Präsenz des Subjektes in einem vordergründig dokumentarischen oder theoriegeleiteten Text sowie die Rolle des Materials in einem subjektiv angelegten Text wurden nicht unterschlagen, sondern gerade in den Blick genommen und beschrieben. Erkennbar wurde dabei die Suche nach neuen Möglichkeiten der ästhetischen Erfahrung: Wie wirken Subjekt und Material des Schreibens zusammen, in welcher Form werden sie literarisch wirksam? Die Unterschiede im Zugang auf das Material wurden hier schon über die Variabilität des Materialbegriffs selbst erläutert. Als Folge einer Differenz von realweltlichem Materialangebot und Sprachmaterial gehen auch die Konzepte der Autoren auseinander: Während es Brinkmann in seinen

vgl. zur erst beginnenden „Konzeptualisierung des Begriffs“ auch Lauer (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationenforschung (2010); hier S. 8; sowie zum wissenschaftlichen Gebrauch Erhart: Generationen – zum Gebrauch eines alten Begriffs für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 30, H. 120 (2000), S. 81–107. 11 Von denen noch die Wenigsten vergleichend angelegt sind.

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Texten vorrangig um die physisch-konkrete Materialität der Objektwelt geht, zielt Kluge vielmehr auf die komplexeren Zusammenhänge des Wirklichen ab, die sowohl konkret sichtbar als auch abstrakt repräsentiert sein können. Handke wiederum bringt Sprache und Sprachwirklichkeit als Material des Schreibens in den Vordergrund. Hiermit verbunden sind divergierende Vorstellungen darüber, wann und wie Literatur Realität zeigen kann. Die Forderung, Literatur müsse „realer“12 werden, verbindet Brinkmann mit einer Sensibilität für den konkreten, subjektiv-individuellen Erfahrungsausschnitt, der sich jeder kulturellen Verpflichtung widersetzt; wohingegen real für Handke nur ein Wirklichkeitszugriff sein kann, der die auch sprachlich bedingte und erzeugte Realität, mithin die sprachliche Konstitution der Wirklichkeit erkennbar macht13. Entgegen der von Brinkmann geforderten Simplizität und ebenso abweichend von Handke, weist schließlich Kluge durchgehend auf die Komplexität des Realen und geht davon aus, dass die wirklichen Verhältnisse nur dann verstehbar sind, wenn man zu einem vereinfachten Realismusbegriff in kritische Distanz geht.14 Die Rede von den Antagonismen des Realistischen sowie die Betonung eines Motivs des Realismus15 beinhalten diese Erkenntnis. Entsprechend hohe und, wie deutlich wurde, gelegentlich auch zu hohe Anforderungen an die Rezeption seiner Arbeiten sind hiermit verbunden. Die Arbeiten der Autoren zeugen von der Suche nach neuen ästhetischen Konzepten. Eine zentrale Gemeinsamkeit liegt dabei in der Poetologie des Raumes. Diese nicht zu übersehende Übereinstimmung wurde bereits durch den Aufbau der Arbeit besonders betont. Mittels literarischer Raumerkundung und Raumdarstellung werden neue Wege erprobt, Subjekt und Material zusammenzuführen und, hieran anschließend, subjektive Erfahrungsgehalte und objektive Wirklichkeit in ein harmonisches Verhältnis

12 Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität (1969). In: Literaturmagazin, Nr. 36 (1995), S. 147. 13 Wie theoretisch dargelegt in Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972). 14 Vgl. vor allem Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 217. 15 Vgl. ebd.

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zu setzen. Inwieweit dies gelingt, ist für die Autoren je unterschiedlich zu beantworten. In Brinkmanns Bilder-Topologien (Keiner weiß mehr) wie auch in seinen Kartografien (Rom, Blicke) wird stets eine Entfremdung gegenüber dem Material kommuniziert. Auch gegenüber der Sprache – als zugleich Medium und Material des Schreibens – besteht eine durchgehende Fremdheit, die besonders mit den Tonbandaufnahmen Wörter Sex Schnitt ästhetisch in Szene gesetzt wird. Der Drang nach Unmittelbarkeit, die Sehnsucht nach dem, was konkret da ist und damit nach einer Überwindung von Wörtern und Begriffen ist Movens des Schreibens, notwendig also auch paradox. Brinkmann vergegenwärtigt, gerade auch durch die Entfremdung, in besonderer Weise die Gegensätzlichkeit von Subjekt und Material des Schreibens, deren Präsenz er gleichermaßen fordert. Ein zerrissenes, sich selbst erkundendes Subjekt „als Ausgangspunkt des Schreibens“16 bleibt aber in den Texten Brinkmanns bestimmend. Welche Lösungen ein möglicher zweiter Roman Brinkmanns geboten hätte – darüber kann nur gemutmaßt werden. Auch wenn das Werk des Autors bereits durch den frühen Tod Mitte der 1970er Jahre abbricht, sind die durch seine Arbeit gesetzten Impulse meines Erachtens zentral für das Verständnis der literarischen Ästhetik der 1970er Jahre. Diese Einschätzung war unter anderem grundlegend für die Konzeption dieser Arbeit. Kluges Raumerkundung, die hier an Der Luftangriff auf Halberstadt exemplifiziert wurde, zeigt besonders eingängig die Verbindung subjektiver Erfahrung und objektiver Wirklichkeit. Auf der subjektiven Seite die „Strategie von unten“17, die individualisiert und an einzelnen Figuren durchgespielt wird, sowie Halberstadt als Heimatort des Autors. Auf der objektiven Seite die „Strategie von oben“18, eine rationalistische Kriegsführung, die entmythisierende Schilderung der einzelnen Fakten eines Kriegsereignisses.

16 Brinkmann: Der Film in Worten (1969). In: Ders.: Der Film in Worten (1982), S. 235. 17 Kluge: Neue Geschichten (1978), S. 55ff; S. 62ff; sowie Kluge: Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle. Theodor Fontane. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner (2004), S. 18, 19. 18 Ebd.

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Die „Heterotopie“19 wurde zudem als ein weiteres Raumkonzept Kluges erläutert, das im Gegensatz zur Utopie eine konkrete, andere Möglichkeit im Hier und Jetzt greifbar macht. Die perspektivische Auffächerung der Erzählung, die auktoriale Übersicht, die Zuwendung zu den organisatorischen Aspekten der Ereignisse, die in zahlreichen Texten Kluges zu beobachten sind, weichen von Brinkmanns selbsterkundendem Duktus deutlich ab. Erkennbar wird ein organisierendes Subjekt. Dem Eindruck eines in den Hintergrund getretenen Autorsubjektes ist allerdings keineswegs zu trauen, wie hier umfassend dargelegt wurde. Räumliche Darstellungsverfahren bei Handke wurden sowohl an Der kurze Brief zum langen Abschied als auch an Langsame Heimkehr erläutert. Die Selbstbezeichnung des Autors als „Orts-Schriftsteller“20 wird an diesen Texten besonders nachvollziehbar. Mit der Bezeichnung des Subjekts bei Handke als ein den Raum erkundendes wurde die Selbsteinschätzung in dieser Hinsicht bestätigt. Die Sonderstellung Handkes gegenüber den anderen beiden Autoren besteht vor allem darin, dass dieser als sein Material weniger die konkrete, äußere Wirklichkeit ansieht als vielmehr die (poetische) Sprache selbst. Eine Harmonisierung von Subjekt und Material bedeutet hier also etwas anderes und zwar, dass das Subjekt auf dem Wege der Sprachmächtigkeit seinen Frieden mit den Dingen macht. Ein Ziel, das mit der Langsamen Heimkehr, einem stark räumlich-geografisch und geologisch metaphorisierten Text, besonders erkennbar wird. Hier spiegelt sich die Exploration der poetischen Sprache durch den Schriftsteller gleichsam in der Arbeit des Geologen. Raumerkundung ist vor allem Spracherkundung. Während in den Texten Brinkmanns und Kluges das Ideal eines unmittelbaren Zugriffs auf Wirklichkeit präsent ist, Überformung und Stilisierung abgelehnt werden21, weist Handkes Poetologie gerade auf den Gewinn hin, den das Subjekt aus der Mittelbarkeit des Sprachlichen zu ziehen vermag – wie dies auch für Die Stunde der wahren Empfindung nachgezeichnet wurde. Kluges Montagen und Brinkmanns Collagen etwa vermitteln in

19 Vgl. vor allem Kluges Erläuterung in „Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel“: Gespräch mit Peter Laudenbach, 2009. URL: http://www.klugealexander.de/zur-person/interviews-mit/details/artikel/traeume-sind-die-nahrung -auf-dem-weg-zum-ziel.html (Zugriff am 26.03.2013), Kapitel 3.3 dieser Arbeit. 20 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), S. 19. 21 Obschon Brinkmann vor allem Lyriker ist!

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Ansätzen das, was der Sprache entgeht, während Handkes Langsame Heimkehr ein Beispiel dafür zu geben versucht, was Sprache gelingt, insofern sie sich als poetische vom Alltags-, Medien- und Berichtsstil22 ausreichend distanziert. Als Mittel zum Zweck figuriert die Sprache bei diesem Autor nicht, sie konstituiert vielmehr einen eigenen Raum der Erfahrung und Selbstverortung. Ausgehend von diesen Beobachtungen und in Ergänzung einer differenzierten Textanalyse wurden die Poetologien der Autoren graduell eingestuft. Brinkmanns Schreibweisen wurde eine Nähe zum Subjektpol attestiert, während Handkes Texte in einer Mittelposition zwischen Subjekt- und Materialpol verortet wurden und in Kluges Verfahren eine besondere Nähe zum Materialpol aufzuzeigen war. Theoretische Texte und literarische Praxis ergeben die Begründung: Übereinstimmend setzen sich Brinkmann und Handke in ihren theoretischen Texten für das eigene Ich als Grundlage der literarischen Arbeit ein; ihre Literatur löst diese Forderung ein. Weder programmatische Verpflichtungen noch politisches Engagement durchkreuzen die Vorrangstellung des Subjektes. Doch während Handke die angesprochene Harmonie von Subjekt und Sprachmaterial anstrebt, bleibt bei Brinkmann gerade die Distanz zum Materialpol erhalten: Entfremdung, Hassliebe zur Objektwelt, Hadern mit dem „elende[n] Sprachverständigungsmittel“23 sind Stichworte, die diese Distanz beschreiben. Eine Verschmelzung mit den Dingen oder mit der Sprache hätte vermutlich Brinkmanns Schreibantrieb ebenso zum Erliegen gebracht wie das ästhetische Potenzial seiner Texte. Kluges Nähe zum Materialpol schließlich liegt begründet in der maximalen Hinwendung des Autors zu seinem Material, das heißt zur Realität – inklusive der mit ihr zusammenhängenden definitorischen Probleme.24 Dabei ist Sprache für Kluge weniger als Material des Schreibens von Belang als vielmehr in ihrer spezifischen, traditionellen

22 Problematiken dieser Sprachformen (mithin deren Auswirkungen) hat Handke, vor allem mit seinen Stellungnahmen zum Serbien-Konflikt, mehrfach öffentlich thematisiert. 23 Brinkmann: Rom, Blicke (2006), S. 85. 24 Die vor allem thematisiert werden in Kluge: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff. In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 187– 251.

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Vermittlungskompetenz, die sie dem Film voraus hat.25 In welcher Form Sprache zum Einsatz kommt – ob als literarisches oder historisches Zitat, als (fingierter) Augenzeugenbericht, innerhalb eines fiktiven Interviews oder auch als Einblendung im Film – hängt wesentlich davon ab, welche Funktion der Wirklichkeitserzeugung Kluge jeweils intendiert. Dass diese Form der Materialorganisation nicht mit einem Zurücktreten des Autorsubjektes oder einem Verschwinden der Subjektposition insgesamt einhergeht, wurde mehrfach angesprochen. Mit dem Vorschlag, Kluges Wirklichkeitsaneignung als Nachahmung mit Motiv zu bezeichnen, wurde auf diese Beobachtungen reagiert: Sowohl die theoretische Ausrichtung im Sinne der Kritischen Theorie als auch das private, offen kommunizierte „Motiv“26 bestimmen Kluges Zugriff auf Wirklichkeit. Insgesamt kann von einer neutralen Beobachterrolle hier ebensowenig die Rede sein wie bei Brinkmann und Handke, auch wenn Kluge sich mitunter deutlich von diesen Autoren abgegrenzt hat.27 Der vor allem in den theoretischen Überlegungen zum Realismus erkennbare, aufklärerische Habitus tritt gleichzeitig mit einer starken Leserlenkung auf, die sich bei Kluge medienübergreifend in Form von Verweistechniken, Erläuterungen und Kommentaren beobachten lässt. Diese Ambivalenz ist sicherlich kritikwürdig, da sie Kluges Selbstbeschreibung eines „nicht-überredenden Stand-punkt[es]“28 zumindest in Frage stellt. Es geht also keineswegs darum, mit der vorgenommenen, graduellen Einteilung eine Wertung zu verbinden oder etwa die Beschreibung als „organisierendes Subjekt“ (Kluge) mit einer stärkeren Kompetenz in der Werkgestaltung zu assoziieren. Im Gegenteil: Gerade durch die Betonung der Subjektposition im Werk Kluges sowie der Aspekte der Materialorgani-

25 Vgl. vor allem Reitz, Kluge, Reinke: Wort und Film. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 13 (1965), S. 1015–1030; sowie Kluge: Die Utopie Film. In: Merkur, Jg. 18, Nr. 12 (1964), S. 1135–1146. 26 Kluge: Mein wahres Motiv. In: Ders.: Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006), S. 594–597. 27 Wie etwa mit der Subjektivismus-Kritik an dem von Handke / Wenders produzierten Film Falsche Bewegung in Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), S. 206. 28 Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis. In: Ders.: Personen und Reden (2012), S. 25.

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sation in den Werken Brinkmanns und Handkes wird ein differenzierteres Verständnis der Poetologien ermöglicht. Die Frage nach der Organisation ist mithin bei allen drei Autoren entscheidend. Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Autoren anhand ihrer Werke als Teilhaber einer ästhetischen Suchbewegung der 1970er Jahre konturiert, die durch die Ereignisse um 1968 sowie deren Wirkungen auf die westdeutsche Literatur und ihre Autoren mitbedingt ist. Es geht ihnen darum, Subjekt und Material des Schreibens in eine tragfähige Beziehung zu setzen, die neue Formen der ästhetischen Erfahrung ermöglicht. Trotz starker Unterschiede in Programmatik und Darstellungspraxis, weisen ihre Werke dabei eine vergleichbare Poetologie des Raumes auf. Die Arbeit untersuchte ausgewählte Werke von drei wichtigen, vielbeachteten Autoren der 1970er Jahre und gibt damit Einblicke in die Literatur dieser Zeit. In Abgrenzung von einer literaturhistorischen Gesamteinschätzung, möchte sie Anregung sein für weitere Auseinandersetzungen mit einer vielseitigen und ereignisreichen Periode der deutschsprachigen Literaturproduktion. Weitere vergleichende Arbeiten zu den deutschsprachigen Autoren, sowohl innerhalb des westdeutschen Raumes als auch im Vergleich einer west- und ostdeutschen Literaturproduktion wären wünschenswert. Darüber hinaus war es die formulierte Absicht dieser Arbeit, sich einem kulturwissenschaftlichen Verständnis der literarischen, künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Phänomene und Prozesse zu öffnen. Dass dies auch dann notwendig sein kann, wenn es dezidiert um literarische, produktionsästhetische Aspekte und Kategorien geht, führt vor allem die spezifische Nähe von Politik und Literatur in den Jahren der Protestbewegung vor Augen, die auch in die 1970er Jahre hineinwirkt. So geht es mit einer Kategorie des Subjektes immer auch um die Stimme des Autors selbst, um ein potenzielles Engagement im Sinne einer politischen Überzeugung oder um dessen Verneinung. Für die Kategorie des Materials gilt Ähnliches: Worin sollen Material und Gegenstand des Schreibens bestehen, nachdem mit den Traditionen der Nachkriegsliteratur und ebenso einer Gruppe 47 abgeschlossen wurde, nachdem Sinn und Zweck des Ästhetischen aber auch nicht auf einen politisch-agitatorischen Auftrag festzulegen waren? Und nicht zuletzt, die Kategorie des Mediums betreffend: Welche Form der Organisation und Vermittlung wird den Ansprüchen einer solchen Literatur gerecht? Hierbei geht es um verschiedene Zeichen- und Symbolsysteme, um filmische, sprachliche, bildliche und au-

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ditive Kommunikation oder deren intermediales Zusammenspiel. Die Tradition einer großen, konsistenten Erzählung wird dabei nicht verfolgt, sondern allererst das Ziel, auf verschiedenen Wegen die Fragmentarizität, Komplexität und auch sprachliche Bedingtheit der Erfahrungswirklichkeit darzustellen. Abgrenzen lassen sich die Werke vom „Nacheinander traditioneller Literatur“29, sowie von einer dezidiert gattungs- oder genrespezifischen Literatur; es überwiegen Zwischenformen und feste Einteilungen werden, zumindest theoretisch, abgelehnt. Auch handelt es sich um eine Literatur, die ihre Produktionskategorien offensiv verhandelt, das heißt Sprache wird als Material thematisiert, mediale Zeichensysteme werden in ihrer Funktionalität reflektiert. Dies sind zugleich Beobachtungen, deren Zusammenhang mit dem Postulat einer Postmoderne diskutierbar ist.30 Erkennbar wird damit eine Suche nach neuen ästhetischen Konzepten, die sich nicht nur aus dem Entstehungsprozess der Literatur rekonstruieren lässt, sondern die sich an der Oberfläche der Texte selbst abspielt. Die in dieser Arbeit herausgestellten Darstellungspraktiken zeigen sowohl Vergleichbares, in der Poetologie des Raumes, als auch Differenzen, in der Annäherung an Subjekt- oder Materialpol – innerhalb einer Suche, die die Autoren eint: Neue ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten werden in einer tragfähigen Verbindung von Subjekt und Material des Schreibens gesehen und angestrebt.

29 von Steinaecker: Literarische Foto-Texte (2007), S. 187. 30 vgl. z. B. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung (2001); sowie Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. 1968 als literaturgeschichtlicher Katalysator. In: Klimke, Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung (2007), S. 151–159.

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358 | Ä STHETISCHE E RFAHRUNG IN DER LITERATUR DER 1970 ER J AHRE

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L ITERATURVERZEICHNIS | 359

Hage, Volker: „Die Kinder des Bombenkrieges“. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt am Main: 2003, S. 84–96. Hage, Volker: „Erzähltabu? Die Sebald-Debatte: ein Resümee“. In: Ders.: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt am Main: 2003. S. 113–131. Hage, Volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt am Main: 2003. Halsall, Robert: „Place, Autonomy and the Individual. Short letter, long farewell and A sorrow beyond dreams“. In: Coury, David N. und Frank Pilipp (Hg.): The Works of Peter Handke. International Perspectives. Riverside, California: Ariadne Press, 2005 (=Studies in Austrian Literature, Culture and Thought). S. 46–79. Harris, Stefanie (2010): „Kluge’s Auswege“. In: The Germanic Review Bd. 85, Nr. 4, S. 294–317. Heißenbüttel, Helmut: Über Literatur. Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1966. Stuttgart: 1995. Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: 1998. Henrich, Dieter und Wolfgang Iser (Hg.): Theorien der Kunst. 2. Auflage. Frankfurt am Main: 1984. Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München: 2011. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: 2003. Hinck, Walter: „Neue Wahrnehmung der Mitwelt. Faszination des Films. Peter Handke: ,Der kurze Brief zum langen Abschied‘ (1972)“. In: Ders.: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. Köln: 2006. S. 190–196. Hoffmann, Torsten: Konfigurationen des Erhabenen: Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Berlin: 2006 (=Spektrum Literaturwissenschaft; 5). Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 19. Auflage. Frankfurt am Main: 2010 (=Fischer Wissenschaft; 7404). Huber, Alexander: Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz. Würzburg: 2005 (=Würzburger Wissenschaftliche Schriften; Reihe Literaturwissenschaft. Band 531).

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L ITERATURVERZEICHNIS | 363

Luckscheiter, Roman: „Der postmoderne Impuls. ,1968‘ als literaturgeschichtlicher Katalysator“. In: Klimke, Martin und Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Stuttgart: 2007. S. 151–159. Malkmus, Bernhard (2009): „Intermediality and the Topography of Memory in Alexander Kluge“. In: New German Critique Nr. 107, S. 231–252. Marmulla, Henning: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin: 2011 (=Blaue Reihe Wissenschaft 16) Marquard, Odo: „Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten für eine Theorie der nicht mehr schönen Künste“. In: Jauß, Hans Robert (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste: Grenzphänomene des Ästhetischen. München: 1968 (=Poetik und Hermeneutik, Nr. 3). S. 375–392. Martens, Gunther (2011): „,Wann wird man so weit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?‘ Alexander Kluge und die enzyklopädische Literatur“. In: Text und Kritik H. 85/86, Neufassung, S. 128–136. Martinez, Matias und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Auflage. München: 2002. Matejovski, Dirk: „Operation Bildersturm“. In: Ders. (Hg.): Neue, schöne Welt? Lebensformen der Informationsgesellschaft. Frankfurt: 2000. S. 178–203. Matejovski, Dirk, Markus S. Kleiner und Enno Stahl (Hg.): Pop in R(h)einkultur: Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region. Tagungsdokumentation. Essen: 2008. Mayer, Gerhart: „Annäherung an den Bildungsroman. Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied – Langsame Heimkehr – Die Wiederholung“. In: Hofen, Nikolaus (Hg.): Und immer ist es die Sprache. Festschrift für Oswald Beck zum 65. Geburtstag. Baltmannsweiler: 1993. S. 94–106. Mayer, Sigrid: „Im ,Western‘ nichts Neues? Zu den Modellen in Der kurze Brief zum langen Abschied“. In: Jurgensen, Manfred (Hg.): Handke. Ansätze – Analysen – Anmerkungen. Bern: 1979. S. 145–164. McLuhan, Marshall und Quentin Fiore: The medium is the massage: An inventory of effects. San Francisco: Wired Books, 1996. Michel, Volker: Verlustgeschichten. Peter Handkes Poetik der Erinnerung. Würzburg: 1998 (=Epistemata Bd. 245).

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L ITERATURVERZEICHNIS | 365

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L ITERATURVERZEICHNIS | 367

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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

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Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, 240 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe Oktober 2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0

Martina Wernli Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895–1936) Dezember 2014, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2878-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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