Moderne als Weltbewusstsein: Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne [1. Aufl.] 9783839416969

Oliver Kozlarek arbeitet die Grundlagen einer innovativen Sozialtheorie der globalen Moderne heraus, die neue theoretisc

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German Pages 324 Year 2014

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Moderne als Weltbewusstsein: Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne [1. Aufl.]
 9783839416969

Table of contents :
Inhalt
Vorwort und Danksagung
Einleitung
1. Weltbewusstsein als sozialtheoretische Herausforderung
1.1 Die Dimensionen der Welt: Der Mensch in Raum und Zeit
1.2 Weltbewusstsein in sozialtheoretischer Hinsicht
1.3 Kolonialismus als Geburtshelfer der »neuen Welt«
2. Cosmopolis und Weltbewusstsein: Zwei kognitive Modelle für eine globale Moderne
2.1 Zwischen Cosmopolis und Weltbewusstsein
2.2 Eine andere Erzählung der Moderne
2.3 Weltbewusstsein: Das »unvollendete Projekt« einer anderen Moderne
2.4 Cosmopolitan turn oder Soziologie im Zeichen von Weltbewusstsein
3. Modernisierungstheorien und der Primat der zeitlichen Logik
3.1 Zwischen Einheit und Vielfalt des Modernitätsbegriffs
3.2 Moderne im Zeichen der Modernisierungstheorien
3.3 Modernisierungstheorien zwischen Ideologie und epistemologischer Falle
3.4 Eine kurze Geschichte der zeitlichen Logik
3.5 Zeitliche Logik, metatopische Gewalt und Kolonialismus als Referenzpunkte der Modernisierungstheorien
3.6 Epistemologische Überlegungen: Varianten im Umgang mit Differenz
4. Aktuelle Debatten
4.1 Postmodernismus als Ende der Interpretationsmonopole
4.2 Die Globalisierungsdebatte
4.3 Multiple modernities
4.4 Postkolonialismus
5. Die humanistische Wende
5.1 Niklas Luhmann über Engel, Teufel und Menschen
5.2 Die Negation des Menschen in der Sprache der Soziologie
5.3 Gründe gegen den Humanismus; die Notwendigkeit einer humanistischen Wende
5.4 Die humanistische Wende
5.5 Vom philologischen Anspruch einer humanistischen Methode
5.6 Humanistische Kultur als pädagogische Herausforderung in der Epoche der Globalisierung
6. Auf den Spuren einer Soziologie menschlicher Erfahrungen
6.1 Von der reflexiven Soziologie zu einer Soziologie der Erfahrungen
6.2 Anschlussstellen für eine Erfahrungssoziologie der Moderne
6.3 Walter Benjamin als Traditionsquelle einer möglichen Erfahrungssoziologie
6.4 Erfahrung und Erzählen
6.5 Benjamins Kritik an der zeitlichen Logik
6.6 Erzählen als soziologische Tätigkeit
6.7 Soziologie, Literatur und Poesie
6.8 Weltbewusstsein als Übersetzungskultur
7. Soziologie gegen die Verleugnung von Erfahrungen als Kritik
7.1 Die notwendige Kritik an der Kritischen Theorie
7.2 »Soziologie des Verleugneten« und des »Erscheinenden« und die Notwendigkeit der Übersetzung
7.3 Eine kritische Theorie der Globalisierung
7.4 Die Welt aus der Sicht des »Südens«
8. Zwei soziologische Traditionen in Lateinamerika
8.1 Sozialtheorie entprovinzialisieren
8.2 Die Grenzen der »akademischen Soziologie« in Mexiko und warum sie zu überschreiten sind
8.3 Die geografisch-epistemische Verschiebung in der Modernisierungstheorie Gino Germanis
8.4 Dependenztheorie: Die halbherzige Kritik an der Modernisierungstheorie
8.5 Positivismus als Ideologie
8.6 Aufbruch in eine neue Kultur im Zeichen des Humanismus
9. Octavio Paz: Kritik der Soziologie oder kritische Soziologie?
9.1 Annäherungsversuche an die Soziologie Octavio Paz’
9.2 Die mexikanische Revolution und die Erfahrung einer postkolonialen Moderne
9.3 Eine humanistisch-soziologische Kritik der Soziologie
9.4 Das Collège de Sociologie und die heterologische Sakralsoziologie
10. Von der poetischen Erfahrung zur poetischen Soziologie
10.1 Die epistemologische Dimension der poetischen Erfahrung
10.2 Poetische Erfahrung als Alteritätserfahrung und ihre normativen Konsequenzen
10.3 Poetische Soziologie der globalen Moderne
a) La condition moderne
b) Die conditio humana
c) La condición mexicana: Im Labyrinth (post-)kolonialer Erfahrungen
11. Weltbewusstsein, Humanismus und Kritik als Orientierungshilfen einer kommenden Weltsoziologie
11.1 Die drei Dimensionen der kommenden Weltsoziologie
11.2 Michael Burawoys weltsoziologische public sociology
11.3 Theorien des Südens als Laboratorien für neue Welten
Literatur
Personenregister

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Oliver Kozlarek Moderne als Weltbewusstsein

Band 14

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Surendra Munshi (Kalkutta), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Oliver Kozlarek (Dr. phil., Dr. en Humanidades) lehrt und forscht am »Instituto de Investigaciones Filosóficas« der Universidad Michoacana in Morelia, Mexiko. Als Gastwissenschaftler war er u.a. an der New School for Social Research (New York), der Universidad de Buenos Aires, der TU Chemnitz, der Stanford University und dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen tätig.

Oliver Kozlarek

Moderne als Weltbewusstsein Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne

In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute of Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Aslı Aymaz, Peter Storandt Lektorat & Satz: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1696-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Danksagung | 9 Einleitung | 11 1.

Weltbewusstsein als

sozialtheoretische Herausforderung | 23 1.1 Die Dimensionen der Welt: Der Mensch in Raum und Zeit | 23 1.2 Weltbewusstsein in sozialtheoretischer Hinsicht | 24 1.3 Kolonialismus als Geburtshelfer der »neuen Welt« | 27 2.

Cosmopolis und Weltbewusstsein: Zwei kognitive Modelle für eine

globale Moderne | 33 2.1 Zwischen Cosmopolis und Weltbewusstsein | 33 2.2 Eine andere Erzählung der Moderne | 34 2.3 Weltbewusstsein: Das »unvollendete Projekt« einer anderen Moderne | 40 2.4 Cosmopolitan turn oder Soziologie im Zeichen von Weltbewusstsein | 49 3.

Modernisierungstheorien und der Primat der

zeitlichen Logik | 53 3.1 Zwischen Einheit und Vielfalt des Modernitätsbegriffs | 53 3.2 Moderne im Zeichen der Modernisierungstheorien | 58

3.3 Modernisierungstheorien zwischen Ideologie und epistemologischer Falle | 63 3.4 Eine kurze Geschichte der zeitlichen Logik | 67 3.5 Zeitliche Logik, metatopische Gewalt und Kolonialismus als Referenzpunkte der Modernisierungstheorien | 71 3.6 Epistemologische Überlegungen: Varianten im Umgang mit Differenz | 78 4.

Aktuelle Debatten | 83

4.1 4.2 4.3 4.4

Postmodernismus als Ende der Interpretationsmonopole | 83 Die Globalisierungsdebatte | 87 Multiple modernities | 96 Postkolonialismus | 102

Die humanistische Wende | 113 5.1 Niklas Luhmann über Engel, Teufel und Menschen | 113 5.2 Die Negation des Menschen in der Sprache der Soziologie | 116 5.3 Gründe gegen den Humanismus; die Notwendigkeit einer humanistischen Wende | 118 5.4 Die humanistische Wende | 121 5.5 Vom philologischen Anspruch einer humanistischen Methode | 123 5.6 Humanistische Kultur als pädagogische Herausforderung in der Epoche der Globalisierung | 127

5.

6.

Auf den Spuren einer Soziologie

menschlicher Erfahrungen | 129 6.1 Von der reflexiven Soziologie zu einer Soziologie der Erfahrungen | 129 6.2 Anschlussstellen für eine Erfahrungssoziologie der Moderne | 133 6.3 Walter Benjamin als Traditionsquelle einer möglichen Erfahrungssoziologie | 135 6.4 Erfahrung und Erzählen | 139 6.5 Benjamins Kritik an der zeitlichen Logik | 145 6.6 Erzählen als soziologische Tätigkeit | 148 6.7 Soziologie, Literatur und Poesie | 152 6.8 Weltbewusstsein als Übersetzungskultur | 157

7.

Soziologie gegen die Verleugnung von

Erfahrungen als Kritik | 163 7.1 Die notwendige Kritik an der Kritischen Theorie | 164 7.2 »Soziologie des Verleugneten« und des »Erscheinenden« und die Notwendigkeit der Übersetzung | 167 7.3 Eine kritische Theorie der Globalisierung | 169 7.4 Die Welt aus der Sicht des »Südens« | 175 8.

Zwei soziologische Traditionen

in Lateinamerika | 179 8.1 Sozialtheorie entprovinzialisieren | 179 8.2 Die Grenzen der »akademischen Soziologie« in Mexiko und warum sie zu überschreiten sind | 182 8.3 Die geografisch-epistemische Verschiebung in der Modernisierungstheorie Gino Germanis | 190 8.4 Dependenztheorie: Die halbherzige Kritik an der Modernisierungstheorie | 193 8.5 Positivismus als Ideologie | 197 8.6 Aufbruch in eine neue Kultur im Zeichen des Humanismus | 200 9.

Octavio Paz: Kritik der Soziologie oder

kritische Soziologie? | 209 9.1 Annäherungsversuche an die Soziologie Octavio Pazʼ | 209 9.2 Die mexikanische Revolution und die Erfahrung einer postkolonialen Moderne | 219 9.3 Eine humanistisch-soziologische Kritik der Soziologie | 229 9.4 Das Collège de Sociologie und die heterologische Sakralsoziologie | 234 10. Von der poetischen Erfahrung zur poetischen Soziologie | 241

10.1 Die epistemologische Dimension der poetischen Erfahrung | 244 10.2 Poetische Erfahrung als Alteritätserfahrung und ihre normativen Konsequenzen | 254 10.3 Poetische Soziologie der globalen Moderne | 259 a) La condition moderne | 261

b) Die conditio humana | 269 c) La condición mexicana: Im Labyrinth (post-)kolonialer Erfahrungen | 272 11. Weltbewusstsein, Humanismus und Kritik als Orientierungshilfen einer kommenden Weltsoziologie | 285 11.1 Die drei Dimensionen der kommenden Weltsoziologie | 285 11.2 Michael Burawoys weltsoziologische public sociology | 286 11.3 Theorien des Südens als Laboratorien für neue Welten | 291 Literatur | 297 Personenregister | 319

Vorwort und Danksagung

In den Sozial- und Kulturwissenschaften droht sich in zunehmendem Maße eine neue Form des Provinzialismus durchzusetzen. Die Beschäftigung mit Kultur, Religion, Identität, aber auch mit Moderne, Vernunft, ja selbst mit Globalisierung bestimmter Gesellschaften oder sozialer Gruppen, die sich durch ihre jeweils eigenen Geschichten, durch ihre eigenen Traditionen und durch die Orte auf der Erde, an denen sie sich eingerichtet haben, von anderen unterscheiden, scheint dabei immer wichtiger zu werden. Gleichzeitig werden Fragen nach dem, was allen Menschen gemein ist, nach dem Allgemeinen oder dem Universalen nicht mehr ohne Vorbehalte diskutiert. Dabei ist die Kritik am »europäischen Universalismus« (Wallerstein) nicht unberechtigt. Anstatt wirklich nach dem zu forschen, was allen Menschen gemein ist, proklamierte er europäische Besonderheiten als universal. Auch ihm lässt sich daher der Vorwurf des Provinzialismus machen. Es wäre aber falsch, aus der Kritik am europäischen oder irgendeinem anderen partikularen Universalismus die Konsequenz zu ziehen, dass nur noch das Eigene gelten könne. In einer Welt, in der die Angelegenheiten aller Menschen in zuvor nicht gekannter Weise vernetzt und aufeinander bezogen sind, scheint mir ein solcher Relativismus außerdem politisch fatal. In diesem Buch gehe ich davon aus, dass heute alle Menschen eine Welt teilen. Diese Erfahrung der einen Welt wird durch die jeweils eigenen Erfahrungen, die Menschen unter besonderen Bedingungen mit und in ihr gemacht haben, ergänzt. Normative Orientierung könnte dabei ein neuer Humanismus geben, in dem die Vorstellung davon, was alle Menschen, trotz aller Unterschiede, von einem menschenwürdigen Leben erwarten, im Mittelpunkt steht.

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»Moderne als Weltbewusstsein« stellt einen begrifflichen Versuch dar, diese drei Erfahrungsdimensionen – der Erfahrung der globalen Moderne, der jeweils eigenen Erfahrung mit und in der globalen Moderne und der Erfahrung des Menschen als Mensch – zusammenzudenken. In ihm fließen Einsichten zusammen, die sich aus einer Vielzahl meist soziologischer Modernitätstheorien speisen. In besonderem Maße ist in diesem Buch aber das »Projekt« der Moderne, das der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz in seinem Werk entwickelt, zu einem wichtigen Maßstab geworden. In ihm artikuliert sich eine kritische Soziologie der Moderne, die normativ fest im Humanismus wurzelt. Dieses Buch erhielt ganz entscheidende Impulse aus meiner Mitarbeit am Projekt »Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte«. Für die Möglichkeit der Mitarbeit an diesem Projekt möchte ich vor allem Jörn Rüsen danken. Seine weitsichtigen Ideen haben meinem eigenen Suchen eine ganz entscheidende Orientierung gegeben. Für die finanzielle und institutionelle Unterstützung, ohne die das Projekt nicht möglich gewesen wäre, möchte ich der Mercator-Stiftung und dem KWI in Essen danken. Seit einem Jahr unterstützt der Consejo Nacional de Ciencias y Tecnología (CONACyT) hier in Mexiko mein Projekt »Modernidad, crítica y humanismo«. Dieses neue Projekt stellt einen weiteren Rahmen dar, dem dieses Buch viel verdankt. Zu viele Menschen haben ihre Spuren in den folgenden Seiten hinterlassen, als dass ich sie alle aufzählen könnte. Ich möchte mich deshalb auf einige wenige beschränken, ohne deren Hilfe dieses Buch nie entstanden wäre: In Mexiko sind vor allem Gabriela Barragán, Esperanza Fernández und Peter Storandt zu nennen, in Deutschland Angelika Wulff und Aslı Aymaz. Alfons Söllner möchte ich danken, weil er von Anfang an dieses Projekt geglaubt hat. Jörn Rüsen und Wolfgang Knöbl möchte ich für die genaue Lektüre des Manuskripts danken und mich gleichzeitig dafür entschuldigen, dass ich ihre wertvollen Kommentare nicht mehr in dieses Buch einarbeiten konnte. Meine Frau Esperanza ist der wahre Grund dafür, dass dieses Buch möglich wurde. Ihr möchte ich es widmen. Morelia, im Mai 2011

Einleitung

Dass Sozialforschung mit Menschen zu tun hat, kann heute schon schnell mal in Vergessenheit geraten. In den Sprachen der Sozial- und Kulturwissenschaften kommt das Wort »Mensch« jedenfalls kaum mehr vor. Worte wie »Akteure«, »Handeln«, »Gemeinschaften«, »Gesellschaft«, »Kultur«, »Modernisierung«, »Rationalität«, »Systeme«, »Zivilisationen«, »Netzwerke« usw. haben die Rede vom Menschen nicht immer unberechtigterweise ersetzt. Vor ein paar Jahrzehnten war das allerdings noch anders. Im Jahre 1931 schrieb Max Horkheimer in seiner berühmten Rede »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung« über die Sozialphilosophie: »Als ihr letztes Ziel gilt die philosophische Deutung des Schicksals des Menschen, insofern, als sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt« (Horkheimer 1988: 20; kursiv: O.K.).

Horkheimer ging es also in erster Linie um den Menschen. Erst danach interessiert er sich für »Individuen«, »Gemeinschaft«, »Staat«, »Recht«, »Wirtschaft« und »Religion«. Und – so macht er am Ende des Zitats noch einmal klar – all dies sei nur deshalb wichtig, weil es sich um Schöpfungen der »Menschheit« handelt. Um den Menschen zu begreifen, ist es durchaus notwendig, sich um die Vielzahl seiner Schöpfungen zu kümmern. Aber gleichzeitig gilt es, der Verselbstständigung unserer Interessen an dem, was Menschen erzeugen, dadurch

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entgegenzuwirken, dass man die Tatsache nicht vergisst, dass all dies erst im Menschen wieder einen Sinn findet. Die aktuelle Stimmungslage hat Michel Foucault sehr deutlich beschrieben: »In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken« (Foucault 1971: 412). Was mag Foucault dazu veranlasst haben, einen so radikalen Abgesang an den Menschen anzustimmen? Er erklärt: »Die Anthropologie bildet vielleicht die grundlegende Position, die das philosophische Denken von Kant bis zu uns bestimmt und geleitet hat. [...] Aber sie ist im Begriff, sich unter unseren Augen aufzulösen [...]. Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen – das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen.« (ebd.)

Was Foucault gestört haben muss, ist ein undifferenzierter Gebrauch des Menschheitsbegriffs. Kurz vor seinem Tod gestand er, wie sehr ihm die Aufklärung und vor allem ihr Ethos der Kritik am Herzen gelegen habe. Ganz im Sinne Kants wollte er sie begreifen: »Die Kritik ist gewissermaßen das Logbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und umgekehrt ist die Aufklärung das Zeitalter der Kritik« (Foucault 2005a: 694).

Aber genau von diesem Programm der Aufklärung als Kritik wollte er den Humanimus unterschieden wissen: »Der Humanismus ist etwas ganz anderes: Er ist ein Thema oder eher eine Gesamtheit von Themen, die mehrfach im Laufe der Zeit in den europäischen Gesellschaften wieder hervorgetreten sind; diese stets mit Werturteilen verbundenen Themen haben in ihrem Inhalt sowie in den Werten, an denen sie festgehalten haben, offensichtlich stets sehr variiert« (ebd. 700).

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Foucault hatte recht! Wie soll sich eine auf Kritik eingestellte Kultur mit Absolutheitsansprüchen wie dem, die Essenz des Menschen ein für alle mal festzulegen, abfinden? Aber hatte nicht Horkheimer ebenso recht, wenn er noch vermutete, dass Kritik immer nur dann überhaupt erst Sinn macht, wenn sie durch die Erfahrung angeregt wird, dass es um den Menschen geht? In diesem Buch gehe ich davon aus, dass Humanismus und Kritik zwei untrennbare Orientierungen im Denken der Moderne darstellen. Doch um den Widerspruch in dieser Verbindung zu entschärfen, möchte ich eine dritte, für die Moderne zentrale, wenn auch häufig verdrängte, Erkenntnis aufnehmen. Moderne zeichnet sich, so meine These, nicht nur durch ihren Humanismus und durch ihre Kritik aus, sondern auch durch ein einzigartiges »Weltbewusstsein«. Durch das Prisma dieses Begriffs erscheinen Humanismus und Kritik auch heute noch als komplementäre Aspekte der globalen Moderne. »Weltbewusstsein« ist ein Wort, das ich im Sinne Alexander von Humboldts benutze. Es ließe sich vielleicht mit unserem aktuellen Bewusstsein der Globalisierung vergleichen. Heute, mehr als 150 Jahre nach Humboldts Tod, verspricht es aber einen semantischen Neustart, jenseits aller (Vor-)Urteile, die sich in den letzten 20 Jahren in der Rede von der Globalisierung abgelagert haben. Humboldts Weltbewusstsein machte schon damals, vor der Zeit der Konsolidierung einer nationalstaatlichen Welt, deutlich, dass das Neue der Moderne vielleicht weniger in der Entfaltung eines Weltgeistes liege als darin, dass sich eine Welt ankündigt, die die Welt aller Menschen geworden ist. Aber Humboldt erkannte auch, welche enormen Aufgaben den Menschen daraus erwachsen: Weltbewusstsein, das heißt die Erkenntnis eines immer dichteren Netzes menschlicher Beziehungen, welches den gesamten Erdball umspannt, stellt neue Herausforderungen an die Art und Weise, wie sich Menschen sinnvoll in dieser neuen Welt aller Menschen einrichten. Für die Sozialforschung allgemein ergeben sich aus diesen Überlegungen wichtige Konsequenzen. Das Weltbewusstsein der Moderne, so ließe sich nun sagen, verlangt danach, die Moderne grundsätzlich als planetarischen Zustand menschlicher Beziehungen zu begreifen. Und noch emphatischer heißt das: Was wir »Moderne« nennen, findet seinen kleinsten gemeinsamen Nenner in der historisch einzigartigen Vernetzung menschlicher Beziehungen, die den gesamten Planeten

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umspannen und die durch den Kolonialismus einen ganz entscheidenen Anstoß erhielt. Wir können diesen Zustand nun unterschiedlich begreifen. Einerseits wäre zu fragen, welche historischen Prinzipien diese Situation hervorgebracht haben und immer noch in ihr wirken. Vor allem seit Hegel, später in den sogenannten Modernisierungstheorien und noch heute in einigen aktuellen Sozialtheorien steht diese Art zu fragen im Vordergrund. Abgesehen davon, dass all diese geschichtsphilosophischen Grundeinstellungen die Dynamik, welche das aktuelle »Weltsystem« hervorgebracht hat, nicht nur erklären, sondern auch rechtfertigen, erzählen sie uns kaum etwas darüber, wie es den Menschen in diesen historischen Prozessen ergangen ist. Andererseits ließe sich deshalb danach fragen, welche Erfahrungen die Menschen in diesen Prozessen gemacht haben. Diese Frage scheint mir vor allem dann zentral, wenn der Anspruch der kritischen Sozialforschung nicht aufgegeben werden soll. Paradigmatisch für eine solche, an menschlichen Erfahrungen sich orientierende kritische Sozialforschung ist meiner Meinung nach in Europa immer noch Adornos Minima Moralia. Fast zeitgleich zu der »negativen« Geschichtsphilosophie, die er gemeinsam mit Max Horkheimer unter dem Titel Die Dialektik der Aufklärung veröffentlichte, entwickelte Adorno dieses andere Projekt: eine Sammlung kleiner, aphoristischer Texte, die über scheinbar unbedeutende, alltägliche und subjektive Erfahrungen mit einer fremd gewordenen Welt Auskunft geben. Rahel Jaeggi fasst die Grundüberlegungen der Kritik Adornos, wie sie sich in diesem Buch darstellen, mit folgenden Worten zusammen: »Die Welt, wie Adorno sie sieht, ist also nicht nur ›falsch eingerichtet‹ und von Herrschaftsinteressen durchdrungen; sie ist in ihrer Falschheit theoretisch wie praktisch verstellt, undurchdringlich und undurchschaubar für den Einzelnen, der gleichzeitig in ihren Praktiken eingelassen ist und sie mit konstruiert. Die ethische Frage, wenn sie gestellt werden soll, muss folglich ›tiefer‹ ansetzen: bei den Bedingungen der Handlungsfähigkeit der Individuen selbst« (Jaeggi 2005: 124).

Gesellschaftskritik, die sich für die adversen »Bedingungen der Handlungsfähigkeit« bzw. für die pathologischen Formen menschlicher Interaktion interessiert, finden wir aber nicht nur bei Adorno. Wie ich in

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diesem Buch noch zeigen möchte, leitet ein ganz ähnliches Interesse auch die Kritik des mexikanischen Dichters und Essayisten Octavio Paz an der Moderne. Ginge es jedoch nach Adorno, wären wir gut beraten, genau das zu tun, was heute noch für die meisten ganz selbstverständlich zu sein scheint: nämlich, uns lieber mit europäischen Denkern beschäftigen und dies gerade dann, wenn es darum gehen soll, die europäische Moderne zu kritisieren. So schreibt Adorno ebenfalls in seinen Minima Moralia: »Manchmal ist zu befürchten, es werde die Einbeziehung der nichtokzidentalen Völker in die Auseinandersetzung der Industriegesellschaft, an sich längst an der Zeit, weniger der befreiten zugute kommen als der rationalen Steigerung von Produktion und Verkehr und der bescheidenen Hebung des Lebensstandards. Anstatt von den vorkapitalistischen Völkern sich Wunder zu erwarten, sollten die reifen vor deren Nüchternheit, ihrem faulen Sinn fürs Bewährte und für die Erfolge des Abendlandes auf der Hut sein« (Adorno 1997a: 59).

Adornos kritische Erfahrungssoziologie ist also ebenso paradigmatisch für seine Befangenheit in der europäischen Arroganz, die selbst in der Fähigkeit der Kritik der aktuellen Welt noch ein Privileg der europäischen Kultur vermutet. Genau diese Art der Borniertheit möchte dieses Buch angeklagen. Das bedeutet, dass auch die Kritische Theorie heute »provinzialisiert« werden muss (vgl. Kozlarek 2007; 2009a). Ihr müssen andere Erfahrungen mit der modernen Welt zur Seite gestellt werden, um ein vollständiges Bild vor allem auch der Schattenseiten der Moderne zu gewinnen. Diesem Anspruch kann aber auch in diesem Buch nur in sehr bescheidener Weise nachgekommen werden. Wie bereits angekündigt, möchte ich mich detaillierter mit der Kritik der Moderne beschäftigen, die der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz formuliert hat. Der internationale Ruhm, der Paz zuteil wurde, sowie die Tatsache, dass sein Werk in vielen Sprachen übersetzt leicht zugänglich ist, erlaubt es kaum, diesen Autor als exotische Entdeckung zu preisen. Doch gerade vor dem Hintergrund seines internationalen Ruhms ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit seinem Werk bisher in internationalen Debatten geschenkt wurde. Wenn sich die kritische Sozialforschung in Europa und in den Vereinigten Staaten erlaubt, so wichtige Beiträge für das Verständnis und

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die Kritik der globalen Moderne zu ignorieren, wie sie sich im Werk von Denkern der Statur eines Octvio Paz mitteilen, können wir erahnen, wie wenig wir von der globalen Moderne tatsächlich wissen, bzw. wie viele menschliche Erfahrungen bisher unterschlagen wurden. Der Anspruch des Weltbewusstseins fordert dazu auf, diese unterschlagenen Erfahrungen von Menschen überall auf der Erde in den Blick zu bekommen, um von ihnen zu lernen. Dazu ist es nötig, auch in Bereiche jenseits der akademischen Soziologie vorzudringen. Auch dies lässt sich an Paz zeigen. In den Essays des mexikanischen Schriftstellers entfaltet sich, so meine Überzeugung, ein genuin soziologisches Denken, das allerdings bisher als solches kaum wahrgenommen wurde. Im ersten Kapitel möchte ich versuchen zu erklären, warum »Weltbewusstsein« ein Leitbegriff für das Verständnis und die Kritik unserer globalen Moderne sein kann. Zuerst sollen mir einige semantische Überlegungen helfen einzusehen, dass »Welt« den Menschen immer schon impliziert. Sodann möchte ich zeigen, dass Welt nicht nur eine dem Menschen äußere Gegebenheit ist, an die er sich mehr oder weniger erfolgreich anpasst. Mit Hilfe von Günter Duxʼ »historischgenetischer Theorie der Kultur« lässt sich behaupten, dass Menschen Welten als Sinneinheiten konstituieren. Sie tun dies immer auch in sozialen Zusammenhängen. Dadurch werden Welten zu einem sozialund kulturtheoretischen Thema. Schließlich möchte ich noch auf einige historische Besonderheiten der Sinngebung moderner Welten hinweisen, die uns heute vor allem durch postkoloniale Diskurse bewusster geworden sind: Für die Moderne als planetarisches Netz menschlicher Beziehungen ist der Kolonialismus nicht nur konstitutiv gewesen, sondern bestimmte (post-)koloniale Prinzipien haben bis heute die Möglichkeit verhindert, eine für alle Menschen sinnvolle Welt zu schaffen, in der sich alle Menschen zuhause fühlen können. Im Einklang mit der kolonialen Logik der Moderne standen auch die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Weichenstellungen, die darüber entschieden, wie in der modernen Welt Wissen produziert werden sollte. Im zweiten Kapitel möchte ich anhand von Stephen Toulmins Buch Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity (1992) zeigen, dass sich der moderne Anspruch des abstrakten Universalismus, wie er von Descartes paradigmatisch postuliert wurde, mit einer Absicht der Weltbeherrschung deckt. Auf die Frage, ob eine

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andere Moderne vorstellbar sei, antwortet Toulmin, indem er an Montaigne erinnert. Ich möchte hingegen zeigen, dass eine bisher kaum beachtete Alternative in Alexander von Humboldts Wissenschaftsverständnis liegen könnte. Humboldt selbst fasste dieses Wissenschaftsverständnis im Begriff des Weltbewusstseins zusammen, der schon deshalb auch für die aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften aktuell ist, weil er konsequent einen transdisziplinären mit einem interkulturellen Anspruch kombiniert. Die ersten beiden Kapitel sollen dazu dienen, eine Art historischepistemologischen Orientierungsrahmen zu konstruieren, in dem der von Humboldt eingeführte Begriff des Weltbewusstseins aus einer semantischen, sozial- und kulturtheoretischen, historischen, epistemologischen und wissenschaftspraktischen Perspektive in Augenschein genommen werden soll. Im dritten Kapitel soll dann der Begriff der Moderne, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg sozialtheoretisch konstruiert wurde, vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Ein obligatorischer Einstieg in die sozialtheoretische Diskussion des Begriffs der Moderne sind, meiner Ansicht nach, immer noch die in den späten 40er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA entworfenen Modernisierungstheorien. Dies nicht so sehr, weil diese Theorien ein nach wie vor tragfähiges Gerüst für die Aktualisierung einer Modernitätstheorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts darstellten, sondern weil sich in ihnen Probleme offenbaren, die trotz aller Revisionsversuche noch nicht überall überwunden werden konnten. Ich möchte in diesem Buch vor allem auf die Tatsache hinweisen, dass Modernisierungstheorien auf einer »zeitlichen Logik« aufbauen, dass heißt, einen abstrakten Begriff der »homogenen und leeren Zeit« (Benjamin 1992: 150) zentral setzen. Dabei werde ich der Frage nachgehen, welche epistemologischen und politischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Kurz: Modernisierungstheorien stellen den Anspruch, für alle Gesellschaften der Welt gültig zu sein, sie tun dies aber, indem sie ganz besondere Erfahrungen der Modernisierung einiger europäischer Gesellschaften und vor allem der USA universalisieren. Zu diesen Erfahrungen gehört, wie ich am Beispiel Daniel Lerners Klassiker The Passing of a Traditional Society zeigen möchte, die Möglichkeit räumlicher Expansion, wie sie die Siedlergemeinschaften in den Vereinigten Staaten noch im 20. Jahrhundert machten, die aber historisch bis an den Anfang der europäischen Kolonialisierung Amerikas zurückreichen.

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Dass Modernisierungstheorien unter diesen Bedingungen heute kaum mehr rehabilitiert werden können, wird auch daran deutlich, dass es heute eine Reihe von Debatten gibt, die sich von diesen Theorien distanzieren. Mit den vier wohl wichtigsten Debatten möchte ich mich im vierten Kapitel beschäftigen. Es handelt sich um den Postmodernismus, die Globalisierungsdebatte, die Debatte um die multiple modernities sowie den Postkolonialismus. Obwohl nicht in allen diesen Debatten der sozialtheoretische Bezug auf Anhieb einleuchtet – dies gilt besonders für den Postkolonialismus sowie für den Postmodernismus –, ist doch kaum zu verkennen, dass in ihnen eine Epistemologie, die in erster Linie auf Zeit fixiert ist, durch ein an Raum orientiertes Denken ersetzt wird. Eine weitere Übereinstimmung in allen diesen Debatten besteht darin, dass sie kulturelle Unterschiede thematisieren und dass in ihnen davon ausgegangen wird, dass sich Moderne prinzipiell im Plural verstehen lassen müsste. Diese Punkte stellen heute nichthintergehbare Einsichten für eine sozialtheoretische Neuorientierung dar. In keiner dieser Debatten wird mehr der Anspruch gehegt, eine ultimative Theorie der Moderne zu artikulieren. Vielmehr werden in ihnen Fäden gesponnen, die uns durch die komplexe Landschaft der modernen Welt führen. Einen Mangel auch dieser aktuelleren Debatten sehe ich im Verlust eines Begriffs vom Menschen, der auch schon die Modernisierungstheorien kennzeichnete. Im fünften Kapitel möchte ich zunächst zeigen, dass einige der Argumente, die sich gegen eine humanistische Orientierung richten sollen, auch als Argumente dafür gelten können. Grundsätzlich soll in diesem Kapitel die Möglichkeit einer »humanistischen Wende« angedacht werden. Diese, so meine Überzeugung, lässt sich bei einigen Autoren bereits beobachten. Sie scheinen zu erkennen, dass die historisch einzigartige Chance in der aktuellen Phase der globalen Moderne darin liegt, von und mit allen anderen Menschen lernend unsere eigene Menschlichkeit durch die Errichtung einer gemeinsamen Welt zu vervollkommnen. Im sechsten Kapitel werde ich dann der Frage nachgehen, wie sich ein humanistisches Programm sozialtheoretisch und konkreter noch modernitätstheoretisch umsetzen lässt. Als Antwort auf diese Frage möchte ich eine Soziologie vorschlagen, die sich nicht auf die Analyse von Institutionen oder historisch-kulturellen Prozessen beschränkt, sondern in deren Mittelpunkt ein Interesse an menschlichen Erfahrungen mit und in der globalen Moderne stehen soll. Auf die methodolo-

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gische Frage danach, wie sich Erfahrungen erforschen lassen, möchte ich mit Walter Benjamin antworten. Nach ihm sind Erfahrungen eine Form sozialen Handelns; sie werden erst im und durch das Erzählen möglich. Eine erzähltheoretische Wende der Modernitätsforschung verlangt nach einem philologischen Umgang mit Texten. Einerseits bedeutet dies, dass die Grenze zwischen Literatur und Soziologie durchlässig werden muss, andererseits aber auch, dass sich Sozialwissenschaftler als soziale Akteure verstehen lassen müssen, die in ihren Texten erzählend Erfahrungen mit und in ihrer sozialen und kulturellen Welt reflektieren. Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass das hier angedachte Programm nur im Rahmen einer raffinierten Übersetzungskultur erfolgreich gedeihen kann. Eine solche Übersetzungskultur stellt einen der ganz entscheidenden Aspekte einer Moderne dar, die sich im Zeichen des Weltbewusstseins verstehen lassen will. Der Glaube an die Übersetzbarkeit dessen, was Menschen anderer Kulturen und Zivilisationen erzählen, ist gleichzeitig eine Grundvoraussetzung für einen interkulturellen Humanismus, von dem dieses Buch inspiriert ist. Im siebten Kapitel soll eine Art Zwischenbilanz gezogen werden. Am Beispiel einiger Ideen des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos soll eine Sozialtheorie vorgestellt werden, die einige der bisher diskutierten Punkte aufgreift und in sehr origineller Weise integriert. In meiner Lektüre Santosʼ steht der Aspekt der Kritik im Vordergrund. Es wird sich zeigen, dass eine kritische Theorie der aktuellen globalen Moderne einer Kritik der »Kritischen Theorie« bedarf. Diese Erkenntnis verbindet Santos mit der Forderung, all die »verleugneten Erfahrungen« mit und in der globalen Moderne in die Kritik einzubeziehen, sowie mit der Einsicht, dass dazu ein ungetrübter Übersetzungswille Voraussetzung sein müsse. Das Kapitel lässt sich auch als Ergänzung des elften Kapitels lesen. Santosʼ Ideen lassen sich als wichtiger Beitrag für eine Weltsoziologie lesen. Bis zu diesem Punkt ist die Forderung, die »verleugneten Erfahrungen« mit und in der globalen Moderne verfügbar zu machen, äußerst abstrakt geblieben. Mit Ausnahme von Boaventura de Sousa Santos, der sich als Portugiese selbst einer »semiperipheren« Welt zugehörig fühlt, sind fast ausschließlich Autoren aus dem geopolitischen Zentrum der Wissensproduktion zu Wort gekommen. In den Kapiteln acht und neun wird es darum gehen, Sozialtheorie zu entprovinzialisieren. Wir werden dazu den »globalen Norden« verlassen. Die Reise

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wird uns nach Mexiko führen. Warum ausgerechnet in dieses Land? Vor allem, weil ich es am besten kenne. Viele andere »Reisen« wären notwendig, um wirklich einen Eindruck davon zu bekommen, welche Erfahrungen mit und in der globalen Moderne möglich waren und sind. Diese Aufgabe lässt sich aber in einem einzelnen Buch nicht einmal ansatzweise lösen. Ich werde mich daher darauf beschränken, im achten Kapitel zunächst einige Besonderheiten der Soziologie in Mexiko zu beschreiben, und zu erklären versuchen, warum es gerade in diesem Land notwendig sein soll, die akademische Soziologie zu verlassen und außerakademische Reflexionsareale zu erforschen. Zu den Besonderheiten der Soziologie in Mexiko gehört die Erkenntnis, dass die historischen und geographischen Besonderheiten dieses Landes tatsächlich Erfahrungen mit und in der Moderne provoziert haben, die sich von denen, die andere moderne Gesellschaften gemacht haben – allen voran in Europa und den Vereinigten Staaten –, unterscheiden. Diese Einsicht wird schon in den lateinamerikanischen Modernisierungstheorien und später in der sogenannten Dependenztheorie artikuliert. Allerdings haben diese beiden Theoriestränge zu Recht an Vitalität verloren. Dies vor allem deshalb, weil beide am Paradigma der linearen Modernisierung festhalten wollten. Punktuelle Einsichten, die ein viel sensibleres Differenzbewusstsein hätten ausbilden können, sind nicht stark genug gewesen, um dieses Paradigma zu ersetzen. Ansatzpunkte für ein alternatives Verständnis der Moderne müssen in Mexiko deshalb außerhalb der akademischen Soziologie gesucht werden. Wir müssen den diskursiven Rahmen also etwas weiter öffnen. Dabei wäre es meiner Ansicht nach sinnvoll, den Blick auf jene Debatten zu richten, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage nach den kulturellen Besonderheiten Mexikos diskutiert wurde. Damals, und vor allem zeitgleich mit der 1910 begonnenen Revolution, entwickelte sich die Einsicht in die Notwendigkeit eines kulturellen Neuanfangs. Aus diesem Diskussionszusammenhang gingen nicht nur die ersten Soziologen des Landes hervor1, sondern rückblickend können wir in ihm die Öffnung von Räumen entdecken, in denen alternative »Projekte der Moderne« entstanden sind, deren Grundlage ein »neuer Humanismus« sein sollte (vgl. Miller 2008). Dennoch konnten sich diese Vorstellungen von einer anderen Moderne nicht zu einer sozio-

1

Besonders Antonio Caso muss hier erwähnt werden (vgl. Kapitel 8.6).

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logischen Modernitätstheorie verdichten. Einer der Gründe dafür mag darin liegen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die aus den USA kommenden Modernisierungstheorien die Debatten der akademischen Soziologie vor allem auch in Lateinamerika bestimmen sollten. Wenngleich die akademische Soziologie in Mexiko nicht an diese Debatten anschließt, lässt sich die Fortsetzung dieses Programms in der Essayistik beobachten. Ich möchte mich in den nächsten beiden Kapiteln mit dem wohl wichtigsten Vertreter dieser Kunst in Mexiko beschäftigen: mit Octavio Paz. Zunächst werde ich im neunten Kapitel den Versuch unternehmen, Pazʼ »Soziologe« zu kontextualisieren. Ich werde eine Reihe von Elementen präsentieren, die für das »soziologische Denken« Pazʼ ausschlaggebend sind. Die Erinnerung an die historische Erfahrung der mexikanischen Revolution sowie die Einsicht, dass sich in ihr der Wunsch einer postkolonialen Moderne manifestierte, stellen für Paz ständige Inspirationsquellen dar. Vor dem Hintergrund dieser besonderen Erfahrungen artikuliert Paz ein soziologisches Denken, das vor allem den US-amerikanischen Modernisierungstheorien gegenüber kritisch ist. Positive Ansatzpunkte für seine Soziologie fand der mexikanische Essayist hingegen in den Ideen des Collège de Sociologie. Im zehnten Kapitel werde ich mich mit den Inhalten der pazschen Soziologie auseinandersetzen. Ihre epistemologische Grundeinstellung stellt die »poetische Erfahrung« dar. Sie ermöglicht eine kritische Welterschließung, in der sich der Mensch in seiner anthropologischen Besonderheit als Wesen erfährt, das angetrieben durch ein nagendes Gefühl der Einsamkeit ständig die »Kommunion« mit anderen Menschen sucht. Schließlich möchte ich zeigen, wie eine Soziologie der Moderne aussehen könnte, die sich an Pazʼ poetischer Erfahrung schult. Eine solche »poetische Soziologie« der globalen Moderne verbindet drei konstitutive Erfahrungsdimensionen miteinander: die Erfahrung des Menschen in der globalen Moderne (die condition moderne), die Erfahrung des Menschen als Menschen (die conditio humana) und die Erfahrung des Menschen in und mit einer jeweils besonderen Moderne, die für Paz die mexikanische Moderne (die condición mexicana) war. Eine solche dreidimensionale Erfahrungswelt scheint auch die aktuellen Beiträge zu der Frage nach einer möglichen »Weltsoziologie« (global sociology) zu orientieren. Auf diese Debatte möchte ich im elften Kapitel kurz eingehen. Sie scheint mir einen Ansatz für eine Sozio-

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logie im Zeichen des hier angestrebten Weltbewusstseins darzustellen. Dies zeigen die beiden Autoren, mit denen ich mich in diesem Kapitel beschäftigen möchte. Sowohl für Michael Burawoy als auch für Raewyn Connell erfüllt die Soziologie eine Art Vermittlerrolle zwischen menschlichen Erfahrungen, die in dem Spannungsgefüge globaler Moderne und konkreter besonderer Bedingungen gemacht werden.

1. Weltbewusstsein als sozialtheoretische Herausforderung

1.1 D IE D IMENSIONEN DER W ELT : D ER M ENSCH IN R AUM UND Z EIT Der Titel dieses Buches versteht sich nicht von selbst. Was bedeutet »Moderne als Weltbewusstsein«? Ich möchte zunächst anhand einiger semantischer Überlegungen zeigen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von »Welt« reden. Danach werde ich der Frage nachgehen, was »Welt« und »Weltbewusstsein« in praktischer Hinsicht bedeuten und wie sich diese beiden Begriffe sozialtheoretisch definieren lassen. In einem dritten Schritt möchte ich dann noch erläutern, warum ich glaube, dass die Konstruktion einer Welt für alle Menschen eine der dringendsten Aufgaben unserer aktuellen Moderne darstellt. Die meisten Wörterbücher machen darauf aufmerksam, dass »Welt« drei Elemente miteinander verbindet. Zusammengefasst lässt sich sagen: Sie bezeichnet den Menschen (germanisch: wera) in seiner raum-zeitlichen Existenz. Dabei kann die Gewichtung zeitlicher und räumlicher Aspekte unterschiedlich ausfallen. Eine ursprünglich zeitliche Bedeutung steckt in älteren Formen des Wortes wie zum Beispiel in weralt, was sich als »Menschenzeitalter« übersetzen ließe. Andere Quellen betonen den räumlichen Aspekt. Welt ist in diesem Sinne vor allem die »Erde, Lebensraum des Menschen«, wie der große Duden (1999: 4479) erklärt. Das Oxford English Dictionary schreibt »world« folgende Bedeutung zu: »the earthly state of human existence; this present life« (1989: 554). Hier wird ein zeitliches, nämlich auf die Gegenwart gerichtetes Bewusstsein der Gleichzeitigkeit mit dem räumlichen Aspekt der terrestrischen Begrenzung des menschlichen Lebens-

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raums kombiniert. Die Dimensionen des »Weltbewusstseins« sind also vor allem drei: der Mensch (bzw. die Menschen), die Erde (der Lebensraum der Menschen) und das aktuelle Zeitalter, in dem sich die Menschen nicht nur ihrer selbst, sondern auch ihrer gemeinsamen Welt bewusst werden. »Weltbewusstsein« koinzidiert in diesem Sinne mit einem Bewusstsein der Menschen von sich selbst, und das bedeutet hier vor allem auch: die Beziehung aller Menschen in Raum und Zeit. Um dieses Bewusstsein soll es in diesem Buch gehen. Um diese Idee allerdings sozialtheoretisch anschlussfähig zu machen, sind einige zusätzliche Überlegungen notwendig.

1.2 W ELTBEWUSSTSEIN

IN SOZIALTHEORETISCHER

H INSICHT

Wir können davon ausgehen, dass Welt keine natürliche Gegebenheit ist, die der Mensch nur feststellt und an die er sich mehr oder weniger erfolgreich anpasst. Vielmehr handelt es sich auch um eine menschliche Konstruktion. Das bedeutet nicht, dass die jeweilige Konstruktion1 der Welt völlig willkürlich sei. Ich folge hier Günter Duxʼ »historischgenetischer Theorie der Kultur« (vgl. Dux 2005). Dux zeigt, dass die geistig-kulturelle Konstruktion von Welten zwar nicht auf biologischanthropologische Prinzipien reduziert werden kann, aber von diesen nicht unabhängig ist. Er nennt die geistig-kulturellen Welten, die Menschen konstruieren, »Anschlußorganisationen« der biologischen Evolution, die von dieser nicht entkoppelt auftreten, sich jedoch durch ein hohes Maß an »konstruktiver Autonomie« auszeichnen. Mit Hilfe von Duxʼ Theorie lässt sich sowohl gegen soziobiologische Verkürzungen sowie gegen radikal kulturrelativistische Vorstellungen argumentieren. Die geistig-kulturelle Konstruktion von Welt prädestiniert nicht inhaltlich in jeder Kultur dieselben Ausprägungen, noch scheint die »konstruktive Autonomie« die Möglichkeit darzustellen, sich über bestimmte anthropologische Prinzipien völlig hinwegsetzen zu können.2

1

Wenn hier von »Konstruktion« die Rede ist, ist die Konstruktion von »geistig-kulturellen« Sinnwelten gemeint.

2

Besonders relevant scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Dux darauf besteht, dass es unter den Bedingungen seiner historisch-genetischen The-

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Dennoch ist das Maß der Kontingenz groß genug, um zu wissen, dass andere Welten möglich sind. Der Frage nach den funktionalen Prinzipien von Welt folgend, lässt sich nach Dux festhalten, dass sie für die Erkenntnis- und Handlungskompetenz des Menschen ausschlaggebend sind. Ohne die selbstkonstruierte Welt wäre der Mensch nicht in der Lage, sinnvoll zu handeln. So schreibt Dux: »Die Organisation von Welt wird mit anderen Worten von einem ganz und gar pragmatischen Interesse bestimmt, eben dem, eine handlungsrelevante Welt aufzubauen« (Dux 76).

Nach dem bisher Gesagten steht aber ebenfalls fest, dass schon die Weltkonstruktion sozialtheoretisch, genauer noch: handlungstheoretisch interessant ist, weil sie sich als Prozess menschlichen Handelns verstehen lassen muss. Da seine Handlungskompetenz nicht genetisch vererbt wird, muss sie jedes Individuum in seiner ontogenetischen Entwicklung neu erlernen. Welten sedimentieren sich zwar im jeweiligen kulturellen Legat, das im Aneignungsprozess von Welt aktualisiert wird. Die Konstruktion von Welt ist also in der Regel auch als Re-konstruktionsprozess von Traditionen zu verstehen. Der »konstruktiven Autonomie« ist es dennoch zu verdanken, dass Traditionen die Inhalte der jeweiligen Welt nicht vollständig determinieren. Traditionen werden also nicht einfach kopiert, sondern der Umgang mit ihnen ist immer mehr oder weniger kontingent. Alle menschlichen Gesellschaften dürften sich vor diesem Hintergrund als »posttraditionale« Gesellschaften verstehen lassen. In ihnen werden Traditionen rekonstruiert, aber genauso neu organisiert und interpretiert, kritisiert und nicht zuletzt »erfunden« (Hobsbawm/ Ranger 1983). Dux schreibt: »Die Feststellung, daß der Erwerbsprozeß der geistigen, soziokulturellen Organisationsformen des Daseins immer und überall in der frühen Ontogenese der Gattungsmitglieder beginnt, trüge nichts ein, wenn richtig wäre, was bis vor kurzem gemeine Meinung war und zuweilen auch heute noch vertreten wird, daß nämlich alles Wissen von der älteren Generation an die nachwach-

orie der Kultur zwingend sei, an der Vorstellung eines verantwortlichen und in Grenzen autonomen Subjektes als Akteur festzuhalten.

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sende weitergegeben, gleichsam oktroyiert wird. [...] Immer beginnen die nachgeborenen Gattungsmitglieder den konstruktiven Prozeß von neuem und immer aus einer kulturellen Nullage ihrer anthropologischen Verfassung heraus« (62).

Welten werden also immer wieder neu geschaffen. Sie sind aber, darin liegt eine weitere Konsequenz von Duxʼ Theorie, empfindlich für historische Kontingenzen. Mehr noch: In ihnen lagern sich historische Erfahrungen ab. Das bedeutet auch, dass historische Erfahrungen, die sich in Welten sedimentieren, Handlungskompetenzen beeinflussen bzw. den Rahmen abstecken, innerhalb dessen Individuen handeln können. Wir können hier schon sehen, dass eine auf »Welt« eingestellte Sozialtheorie in der Lage zu sein verspricht, einige der konventionellen Annahmen, die die sozialtheoretischen Debatten plagen, auf die Probe zu stellen. Wenn menschliches Handeln von Welt beeinflusst wird und gleichzeitig weltkonstituierend ist, wird eine zu scharfe Trennung zwischen structure und agency unplausibel. »Welt« und »Handeln« brechen aus dieser Logik aus, weil Handeln weltkonstruierend ist, gleichzeitig aber auch auf die schon existierende Welt angewiesen ist. Ähnlich verhält es sich auch im Hinblick auf die konventionelle Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft (Gemeinschaft etc.). »Welt« ist ein Medium, in dem sich Gesellschaft und Individuum sowohl treffen als auch trennen. Für die Spannung zwischen Gesellschaft und Individuum sorgt nicht zuletzt die »konstruktive Autonomie«. Schließlich erlaubt eine Sozialtheorie, in der »Welt« zum zentralen Begriff erhoben wird, einen geschmeidigeren Übergang von der Mikro- zur Makrosoziologie. Welten werden sowohl in kleineren als auch in größeren Handlungszusammenhängen konstruiert und treten in unterschiedlichen Skalen auf. Menschen leben nie nur in einer Welt. Dabei können sich diese unterschiedlichen Welten ergänzen, überlappen oder auch gegenseitig infrage stellen. Diese Beziehungsmodalitäten zwischen unterschiedlichen Welten, in denen Akteure simultan partizipieren können, sowie Fragen danach, wie sie darin jeweils agieren, stellen neue methodologische Anforderungen, denen die Sozialwissenschaften nur gerecht werden können, wenn sie sich deutlicher als bisher mit kulturellen Aspekten beschäftigen. Auf jeden Fall ist der Kontakt zu den Kulturwissenschaften imperativ. Gleichzeitig müssen sie sich selbst als ein kulturelles Produkt begreifen, das dazu beiträgt,

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Weltkonstruktionen vorzuschlagen und zu implementieren. Sie stellen also ebenfalls Handlungsprozesse dar, die handlungsrelevante Welten schaffen, und sind nicht bloß Instrumente dafür, diese Welten vom Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters aus zu registrieren. In diesem Buch sollen die eher handlungstheoretischen Aspekte einer auf »Welt« geeichten Sozialtheorie nicht weiter vertieft werden. Es wird hier um die makrosoziologische Dimension und konkreter noch, wie schon der Titel zu verstehen geben will, um die modernitätstheoretischen Implikationen gehen.

1.3 K OLONIALISMUS ALS G EBURTSHELFER DER » NEUEN W ELT « Vor diesem Hintergrund scheint es mir unverzichtbar, als Ausgangspunkt festzuhalten, dass die historischen Prozesse aller Gesellschaften seit etwa 500 Jahren in einer zuvor nicht gekannten Weise zusammenlaufen. Sie begannen vom Moment der »Entdeckung der Neuen Welt«, vor allem aber der »europäischen Expansion« (und das bedeutet: des Kolonialismus) an, zusammenzulaufen und sich zu vernetzen. Die Rede von der »Entdeckung der Neuen Welt« kann in unserem Zusammenhang fast wörtlich genommen werden. Die Ereignisse und die Prozesse, auf die sich dieses Wort bezieht, machen tatsächlich die Konstruktion einer »neuen Welt« erforderlich. Die enorme und bis heute nicht eingelöste Herausforderung besteht nun darin, dass diese »neue Welt« zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Welt aller Menschen werden muss. Wenn wir die Geschichte der letzten 500 Jahre Revue passieren lassen, stellen wir fest, dass kaum eine andere Ereigniskette für die »Integration« der Welt aller Menschen so wichtig gewesen ist wie der Kolonialismus. Wolfgang Reinhard schreibt: »[Der Kolonialismus] kann in der Tat den Anspruch erheben, die vielen Welten der Menschen letztendlich zu einer Welt gemacht zu haben, in der wir heute leben« (Reinhard 2008: 375).

Er ist auch der Grund dafür, dass zwar alle Menschen der Erde eine Welt miteinander teilen, dass diese Welt aber bis heute eben noch nicht die Welt aller Menschen geworden ist. Er hat vielen Menschen

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die Mitgestaltung an dieser Welt versagt und ihnen auch dadurch ihre Menschlichkeit abgesprochen. Von der Schaffung der neuen Welt ausgeschlossen, waren die Kolonialisierten dazu »verdammt« (Fanon 1981), in einer Welt zu existieren, die andere schufen. Gayatri Chakravorty Spivak gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff »worlding«, was sie als Privileg der kolonisierenden Gesellschaften versteht (vgl. Spivak 1999: 212). Auch die Ereigniswelle der Dekolonisation – zuerst in Amerika Ende des 18. Anfang des 19. Jahrhunderts und schließlich, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Afrika und Asien – hat diesen Umstand nicht schlagartig ändern können. Heute leben wir nach wie vor in einer Welt, in der die Handlungspotenziale und Mitgestaltungsmöglichkeiten ungleich verteilt sind. Diagnosen, die lediglich ökonomische Unterschiede zwischen den Gesellschaften des Nordens und denen des Südens notieren, werden der Komplexität dieser Problematik nicht gerecht. Und Erklärungen, die die Unterschiede an evolutionären Rückständen »noch-nicht-moderner« Gesellschaften gegenüber »modernen« Gesellschaften festmachen wollen, greifen erst recht zu kurz. Ich gehe hier davon aus, dass wir alle in einer »postkolonialen« Welt leben; das bedeutet vor allem: in einer Welt, in der die meisten vormals kolonialen Gesellschaften zwar die formale Unabhängigkeit erreicht haben, in der die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in dieser Welt aber nach wie vor entlang der Trennlinien zwischen vormals kolonialen und ehemaligen Kolonisatorengesellschaften verlaufen. Deutlich wird diese ungleiche Verteilung von Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unter anderem in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Auch wenn sich Tendenzen des Wandels andeuten, lässt sich nach wie vor behaupten, dass die kulturelle und intellektuelle Aufbereitung der Erfahrungen mit und in der globalen Moderne immer noch ein Privileg Europas und Nordamerikas zu sein scheint. Stimmen aus vormals kolonialen Teilen der Welt werden noch kaum zur Kenntnis genommen. Auch darum wird es in diesem Buch gehen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang aber auch, darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht nur die kolonialisierten Gesellschaften sind, die unter dem Kolonialismus leiden. Tatsache ist zum Beispiel, dass beide Weltkriege des 20. Jahrhunderts auch Konsequenzen des Kolonialismus bzw. des Imperialismus gewesen sind. Hier gibt

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es sicherlich noch Forschungsbedarf, auch wenn wir uns in diesem Buch nicht weiter mit diesem Thema auseinandersetzen können.3 Betrachten wir unsere heutige Welt durch das begriffliche Prisma des Postkolonialismus, wird auch fraglich, ob die häufig so deklarierten »kulturellen« oder »religiösen« Konflikte, die die vermeintlich harmonische Einheit der »einen Welt« stören sollen, wirklich kulturelle oder religiöse Ursachen haben. Alternativ zu diesen Erklärungsmustern ließe sich behaupten, dass hier eher »Kämpfe um Anerkennung« ausgefochten werden. Kultur und Religion sind also nicht die Auslöser dieser Konflikte, sondern Mittel in Kämpfen derjenigen, die bisher von der Gestaltung der gemeinsamen Welt aller Menschen ausgeschlossen wurden. Dass diese Kämpfe nicht selten in Gewaltexzessen eskalieren, darf man nicht entschuldigen, es muss aber richtig verstanden werden. Auch hier könnte eine »postkoloniale« Erklärungsstrategie zu erkennen geben, was bisher durch den Nebel der falschen Begriffe unsichtbar blieb. Wer Frantz Fanon liest, wird einsehen, warum wir von ehemals kolonisierten Menschen nicht erwarten können, dass sie die »westlichen« Werte verwirklichen, denn in den historischen Erfahrungen dieser Menschen haben diese Werte nie eine Rolle gespielt. »Was er [der postkoloniale Mensch, O.K.] auf seinem Boden gesehen hat«, schrieb Fanon, »ist, daß man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann« (Fanon 1981: 37). Diese alltägliche Praxis der Gewalt ist mit der formalen Unabhängigkeit nicht zu Ende gegangen. Im Gegenteil, wie uns Octavio Paz noch zeigen wird (Kapitel 10), sind die aus der Kolonialzeit – die im

3

Längst gibt es Versuche, die Realität der Vereinigten Staaten aus der Perspektive des Postkolonialismus zu deuten (vgl. King 2000). Auch andere Gesellschaften, die bislang nicht als typisch postkoloniale Gesellschaften gesehen wurden, wie zum Beispiel Australien (vgl. Connell 2007a), werden mittlerweile aus postkolonialer Sicht interpretiert. Welche nachhaltigen Konsequenzen hat der Kolonialismus aber auf europäische Gesellschaften gehabt? Berühmt wurde die Stellungnahme Aimé Césaires, wonach Hitlers Verbrechen in Europa soviel Entsetzen hervorgerufen haben, weil sie koloniale Praktiken auf die weiße Bevölkerung Europas angewendet haben (vgl. Césaire 2008). Interessant an dieser Aussage ist vor allem die Frage, die ihr vorausgeht: Welche negativen Konsequenzen hat der Kolonialismus für die Europäer?

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Falle Mexikos immerhin schon 200 Jahre zurückliegt – stammenden sozialen Pathologien noch heute akut und werden in den meisten postkolonialen Gesellschaften durch Unabhängigkeitskriege und Revolutionen bloß kaschiert. Das bedeutet nicht, dass das ehemalige Kolonialgefüge ungebrochen fortgesetzt wird. Begriffe wie »Neokolonialismus« oder »Neoimperialismus« entbehren – wenngleich sie nicht völlig unberechtigt sein mögen – der nötigen Erklärungskompetenz. Das Problem liegt nicht darin, dass neue oder alte Kolonialmächte darüber wachen, dass die »Kolonialität der Macht« (coloniality of power) (vgl. Quijano 2000) fortgesetzt werde, sondern dass sich in vielen ehemals kolonisierten Gesellschaften eine Grammatik zwischenmenschlicher Beziehungen reproduziert, die sich zur Zeit des Kolonialismus dort etabliert hat. Ich halte Octavio Pazʼ Buch Das Labyrinth der Einsamkeit vor diesem Hintergrund als einen paradigmatischen Beitrag einer Kritik an der Moderne aus postkolonialer Sicht. Wie wir noch sehen werden, steht in ihm nicht die Fortsetzung kolonialer Machtstrukturen im Vordergrund, sondern die Kontinuität der Formen, die bestimmen, wie Menschen miteinander interagieren. Der Kolonialismus hat nicht nur gegen eine universelle Moral verstoßen, indem er die Rechte der kolonialisierten Menschen missachtet (vgl. Beuchot 1996), sondern er hat Formen der Sozialität geschaffen, in denen Gewalt und Ungerechtigkeit durch kulturelle und institutionell tief eingelagerte Verhaltensmuster reproduziert werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen Forderungen nach einer Moral, die sich auf universelle Werte beruft, sehr abstrakt. Denn das Problem liegt nicht darin, dass ehemals kolonisierte Gesellschaften, Kulturen und Religionen keinen Platz für diese Werte hätten, sondern darin, dass sich trotz allem soziale Praktiken fortsetzen können, die die Reproduktion von Gewalt und Ungerechtigkeit zur Folge haben. Dadurch, dass sich heute der Postkolonialismus diskursiv sehr schnell verbreitet und im mainstream der Sozial- und Kulturwissenschaften eine Art »postkoloniale Wende« zu beobachten ist (vgl. Bachmann-Medick 2006), beginnen wir uns an ein Verständnis der Moderne zu gewöhnen, aus dem koloniale und postkoloniale Erfahrungen nicht mehr wegzudenken sind. Die Frage ist aber, was wir aus dieser veränderten Sicht auf die Moderne lernen können. In diesem Buch gehe ich davon aus, dass der koloniale Ursprung der aktuellen Welt kein Grund dafür sein darf, gegen eine gemeinsame Welt aller Menschen zu argumentieren, wie es gerade einige der postkolonialen

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Stimmen im Konzert aktueller Sozialtheorien fordern. Im Gegenteil, angesichts der Vielzahl von Problemen und Konflikten, die unsere aktuelle Welt im planetarischen Sinne bedrohen, wäre eine Entscheidung gegen ein umfassendes Weltbewusstsein verantwortungslos. Die Frage ist, wie sich eine Welt konstruieren lässt, die von allen Menschen als die eigene Welt akzeptiert werden kann.

2. Cosmopolis und Weltbewusstsein: Zwei kognitive Modelle für eine globale Moderne

2.1 Z WISCHEN C OSMOPOLIS UND W ELTBEWUSSTSEIN In diesem Kapitel möchte ich zwei Einstellungen kontrastieren, sich kognitiv in der Welt der Moderne einzurichten. Jede für sich schlägt sich in einem jeweiligen Wissenschaftsverständnis nieder. Das eine hat der kürzlich verstorbene Stephen Toulmin unter dem Titel Cosmopolis als »hidden agenda of modernity« bezeichnet. Das andere begann sich unter der Chiffre des Weltbewusstseins im Denken Alexander von Humboldts zu entfalten. Es vermochte sich zu Humboldts Lebzeiten nicht durchzusetzen, stellt aber heute nach wie vor eine große Herausforderung für das Denken unserer aktuellen Moderne dar. Für unseren Zusammenhang sind diese beiden Modelle wissenschaftlichen Denkens aus zwei Gründen von Bedeutung: 1. Der erste Grund besteht darin, dass sich beide Modelle auf die »Entdeckung« der Welt im planetarischen Sinne zurückführen lassen. Sie sind also beide Resultat der Überschreitung geografischer Grenzen und des Zusammenwachsens der Welt, das wir heute in der Regel mit dem Begriff der Globalisierung zum Ausdruck bringen. Wie wir noch sehen werden, lassen sich auch die Unterschiede zwischen beiden Modellen an der Art und Weise festmachen, wie sie sich den Umgang mit der Welt vorstellen. 2. Der zweite Grund, sich mit diesen beiden Wissenschaftsmodellen auseinanderzusetzen, liegt darin, dass das erste mit der Forderung nach einem cosmopolitan turn in der Soziologie auch für diese Disziplin von Interesse geworden ist (vgl. Beck 2002; 2010; Fine 2006). Ich glaube allerdings, dass das zweite vor dem Hinter-

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grund unserer aktuellen Moderne angemessener wäre. Zunächst sollen die beiden Modelle vorgestellt werden. Abschließend möchte ich mich der Frage widmen, welche Konsequenzen sie jeweils für die Soziologie haben.

2.2 E INE

ANDERE

E RZÄHLUNG

DER

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Toulmin hat vor einigen Jahren den Vorschlag, »to outline a revised narrative [of modernity]«, gemacht (Toulmin 1992: 21). Was dieses Unternehmen für unseren Zusammenhang so interessant macht, ist, dass er dabei das konventionelle Verständnis der Moderne herausfordert, indem er versucht, die Schattenseiten des modernen wissenschaftlichen Denkens zu beleuchten, und dabei erklärt, welche Funktion letzteres für die europäische Weltbeherrschung hat. Wie lässt sich aber Toulmins Bewusstsein für die Notwendigkeit einer neuen Geschichte der modernen Wissenschaft erklären? Er betont die nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker werdende Gewissheit, dass das selbstsichere und siegesbewusste Bild, das die moderne Zivilisation von sich selbst zeichnete und für das sie ihre Legitimation aus Quellen des Denkens des 17. Jahrhunderts bezog, hinterfragt werden müsse. Das Unbehagen, welches die konventionelle Geschichte der Moderne bei ihm auslöste, beschreibt er als Resultat von Erfahrungen, die er mit vielen seiner Zeitgenossen geteilt hat: »The picture our teachers gave us of the 17th-century was a sunny one. For the first time, Humanity seemed to have set aside all doubts and ambiguities about the capacity to achieve its goals here on Earth, and in historical time, rather than deferring human fulfillment to an Afterlife in Eternity – that was what had made the project of Modernity ›rational‹ – and its optimism led to major advances not just in natural science but in moral, political, and social thought as well« (ebd. ix).

Dieses »sonnige«, optimistische, vor allem aber selbstzufriedene Bild war, so erkannte der junge Toulmin, nach dem Zweiten Weltkrieg gewiss nicht mehr glaubwürdig. Er erinnert sich, dass ihn damals Roland Mousier beeindruckte, der eine Revision der Geschichte des 17. Jahrhunderts vorschlug, in der die »dunklen Schatten« (dark shadows) der frühen Moderne nicht unterschlagen werden sollten. Zusätzlich inspi-

C OSMOPOLIS UND W ELTBEWUSSTSEIN | 35

rierten Toulmin die »kulturellen Transformationen«, die sich in vielen Ländern der Erde seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts manifestierten und die eine Revision der Tradition, eben auch der europäischen, deutlich machten. Toulmin grenzt also zwei Geschichten der Moderne voneinander ab. Die eine, die dominante, entschied sich dafür, ihren Ursprung auf das 17. Jahrhundert, genauer noch: auf den Rationalismus Descartesʼ zu datieren. Toulmin glaubt, dass diese Geschichte der Moderne nicht von der Vernunft diktiert wird, sondern dass es sich um eine von Menschen unter bestimmten Umständen erzählte Geschichte handelt, in der lediglich dem Begriff der Vernunft eine protagonistische Rolle zugewiesen wurde. Sein narrativer Umgang mit der Moderne macht Toulmin sensibel für die Willkür, die auch über die Geschichte der Moderne herrscht.1 Im Mittelpunkt seiner Kritik steht also nicht einmal der Vernunftbegriff selbst, sondern die Art und Weise, wie dieser narrativ benutzt wird. Immer wieder macht er auf Tendenzen aufmerksam, die sich auf die Entdeckung der Vernunft nicht reduzieren lassen. Zusammengefasst lassen sich diese Tendenzen als eine Art Abheben des Denkens in immer abstraktere Sphären beschreiben: »Seventeenth-century philosophers and scientists […] followed the example of Plato. They limited ›rationality‹ to theoretical arguments that achieve a quasigeometrical certainty or necessity: for them, theoretical physics was thus a field of rational study and debate, in a way that ethics and law were not [yet]. Instead of pursuing a concern with »reasonable« procedures of all kinds, Descartes and his successors hoped eventually to bring all subjects into the ambit of some formal theory […]« (ebd. 20).

»Abstraction« bedeutet für Toulmin vor allem »theory centered« und »independent of context«. Dies lasse sich besonders an vier Aspekten des modernen Denkens deutlich machen: 1. Der Herauslösung von Inhalten aus ihren jeweiligen Kontexten und folglich der Aufwertung

1

Toulmin weiß natürlich, dass er mit seiner Vermutung nicht alleine steht. Er zitiert Richard Rortys Idee, dass alle Vernunft von jeder Kultur ganz eigen thematisiert wird. Und er erwähnt auch Alasdair MacIntyres Vorschlag, dass, auch wenn es um Vernunft gehe, danach gefragt werden müsse, von »wessen Vernunft« die Rede sei (ebd. 12).

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formaler Prinzipien gegen konkrete Inhalte. Diese Tendenz sah Toulmin durch die zunehmende Verschriftlichung der europäischen Kultur bewiesen. 2. Gerade in der Philosophie vollzog sich zugleich ein Wandel vom Interesse am Partikularen und Konkreten hin zum Universellen. Toulmin verweist in diesem Zusammenhang auf die Moralphilosophie, die den Weg für jenen Formalismus geebnet habe, der sich in Kants Denken in zugespitzter Form ausdrückt. Moralische und ethische Angelegenheiten werden nicht mehr an konkreten »Fällen« diskutiert: »Only after the invention of ethical theory, when dogma acquired an imperative sense, were people finally convinced that moral questions have unique, simple and authoritative answers« (ebd. 136).

Für unseren Zusammenhang jedoch noch interessanter sind die beiden folgenden Transformationen: 3. Der Übergang von einem Interesse am »Lokalen« hin zum Interesse am Allgemeinen (ebd. 33). Dabei sah Toulmin das Gegenteil des Allgemeinen gerade im Lokalen und nicht im Partikularen. Er bevorzugt also eine räumliche Kategorie vor der logisch abstrakten. 4. Schließlich betont Toulmin noch einen Wandel im Zeitverständnis. Auch dabei geht es ihm wieder in erster Linie um einen Wandel vom Konkreten zum Abstrakten, von dem, was zu einer bestimmten Zeit gehört, zum »Zeitlosen«. Toulmin resümiert: »the permanent was in, the transitority was out« (ebd. 34). Wie wir noch sehen werden, sollte gerade dieser Aspekt für die Sozialtheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem für die Modernisierungstheorien, ganz wesentlich werden. Toulmins Denunziation dieser modernen Tendenzen der Abstraktion lässt schon erwarten, dass er selbst eine andere Methode verfolgt, in der Kontextualisierung zum Imperativ wird. Dabei bemüht er sich, deutlich zu machen, dass das Denken Descartesʼ keineswegs als Ausdruck einer prosperierenden und erfolgreichen Kultur misszuverstehen sei, und entkräftigt all jene Argumente, die davon ausgehen, dass die Gabe des abstrakten Denkens ein evolutionärer Vorteil der am weitesten fortgeschrittenen Zivilisationen sei. Im Gegenteil: Toulmin erinnert daran, dass sich die europäische Kultur im 17. Jahrhundert in einer tiefen Krise befand:

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»In early 17th-century Europe, life was so far from being comfortable that, over much of the continent from 1615 to 1650, people had a fair chance of having their throats cut and their houses burned down by strangers who merely disliked their religion. Far from this being a time of prosperity and reasonableness, it now looks like a scene from Lebanon in the 1980s. As many historians put it, from the 1620 on the state of Europe was one of general crisis« (17).

Wichtig ist dieses Argument für Toulmin, um dem Vorurteil vorzubeugen, die Vernunft habe sich zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte direkt im Denken freier Menschen niedergeschlagen (21). Es scheine eher so gewesen zu sein, dass jene Intellektuelle, die sich der Grundverfassung ihrer Zeit stellten, den unwiederbringlichen Verlust alter Sicherheiten verstanden und sich dafür einsetzten, zumindest eine neue kognitive Gewissheit festzulegen. Wenn dies, wie Toulmin unterstellt, auch die Aufgabe war, der sich Descartes gegenüber verpflichtet sah, dann stehe fest, dass sich durch dessen Ruf nach Vernunft das Projekt der Befreiung und Emanzipation des Menschen wieder auf die Bahn neuer Verbindlichkeiten zurückgeworfen sah. Aus dieser Sicht würde dann die politische Philosophie Hobbesʼ eher in der Nähe des Rationalismus Descartesʼ siedeln, denn auch ihr »Beweisprogramm steht im Schatten des konfessionellen Bürgerkriegs, reflektiert die Erfahrungen des Zerfalls der einen kohärenzstiftenden absoluten praktischen Wahrheit in eine Konkurrenz vieler wahrheitsbeanspruchender Ideologien« (Kersting 2002: 9).

Beiden philosophischen Programmen ließe sich dann nicht so sehr die Befreiung durch Vernunft unterstellen als vielmehr das Gerinnen von Vernunft in einheitsverpflichtenden, wenn auch abstrakten, Dogmen (Toulmin) einerseits, sowie der einheitsstiftenden Institution des Staates andererseits. Tatsächlich vermutet auch Toulmin einen engen Zusammenhang zwischen Epistemologie und politischer Philosophie. Er will zeigen, dass politische und kognitive Absichten Hand in Hand gingen. Wie bereits gesehen, sollten die verlorenen politischen und sozialen Sicherheiten durch rationale Gewissheiten kompensiert werden. Aber nicht nur das: In einem Folgeschritt sollte dann die rationale Gewissheit wieder auf die Ebene des Politischen zurückreflektiert werden. Die historischen Ereignisse beeinflussen nicht nur das Denken, selbst in

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seinen abstraktesten Formen, sondern Letzteres wird auch wieder für politische Interessen eingesetzt. Genau dieses Doppelspiel erklärt den Titel, den Toulmin seinem Buch gibt: Cosmopolis. In diesem Wort fließen die beiden Bedeutungsebenen ineinander, die Toulmin für das Projekt der modernen Ordnungsstiftung voraussetzte: die Ordnung der Natur, bzw. des Kosmos, und die der Polis: »[...] enciting new analogies entered social and political thought: if from now on ›stability‹ was the chief virture of social organization, was it not possible to organize political ideas about Society along the same lines as scientific ideas about Nature? Could not the idea of social order, as much as that of order in nature, be modeled on the ›systems‹ of mathematics and formal logic?« (Toulmin 1992: 107).

Selbstverständlich geht dieses Programm weit über die Epistemologie Descartesʼ hinaus, aber es findet in dieser eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste, Bestätigung und theoretische Rechtfertigung. Nun ließe sich Toulmin hier nachsagen, er habe mit seiner Kontextualisierung, in der er vor allem auf die europäischen Religionskriege verweist, das Denken Descartesʼwieder an rein innereuropäische Ursachen zurückgebunden. Damit hätte er wieder als Ursprung des modernen Denkens eindeutig den »alten Kontinent« definiert. Die Tatsache, dass der Kolonialismus für die Ausprägung der Moderne im Denken und in der Praxis eine wichtige Rolle gespielt hat, werde hier völlig ausgeblendet. Dieser Vorwurf ist nicht völlig unberechtigt. In der Tat beschränken sich Toulmins Reflexionen auf die Erfahrungen westlicher Gesellschaften. Ein Blick auf Lateinamerika und die Art und Weise, wie in vielen Ländern in diesem Teil der Welt der Positivismus zu einer politischen Doktrin wurde (vgl. Kapitel 8.5), macht aber deutlich, dass Toulmin tatsächlich einem Mechanismus auf der Spur war, der sich auch in den Erfahrungen anderer Gesellschaften auf ihrem Weg in die Moderne zu wiederholen schien. Außerdem war sich Toulmin aber durchaus im Klaren darüber, dass das Denken, dem er seine Kritik widmete, einen seiner Gründe nicht nur in den konfessionell motivierten Religionskriegen und dem Aufstieg eines »Europas der Nationen« findet, sondern dass die Krise, die Europa im 17. Jahrhundert erlebte, auch mit einem Prosperitätseinbruch zu tun hatte, den er damit erklärt, dass die Erträge aus den über-

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seeischen Kolonien geringer wurden (vgl. ebd. 17). Cosmopolis wäre demnach die europäische Antwort auf die Krise des Kolonialsystems und ihrer Konsequenzen. Bekanntlich bestand die Reaktion auf diese Krise keineswegs im Rückzug, sondern im Ausbau des kolonialen Weltsystems. Toulmin erkannte, wie nützlich die »kosmopolitische« Einstellung der Welt gegenüber für die Rechtfertigung der europäischen Weltbeherrschung war: »Meanwhile, Britain and the other European states consolidated their colonies overseas, in Ireland and America, Asia, Australia, and Africa. The horizontal mode of organization that covered the relations of classes and genders was extended to those of races. Patterns of discrimination invented at home were reapplied to conquered peoples: racism became an expression of God-given subordination of the colonized ›inferiors‹ to their colonizing ›betters‹. In themselves, of course, racial, sex, and class discrimination were not novel practices. Conquered populations had been enslaved, inheritance had been confined to the male line, populations had been trapped in the roles of hewers of wood and drawers of water often before. But the new cosmopolitical framework gave such discriminatory patterns a new respectability, implying that they were essential parts of God’s Plan for nature and humanity« (ebd. 134).

Toulmin stellt die Genese des modernen Rationalismus hier also in den Kontext des Kolonialismus. Er bemüht sich zu zeigen, dass der ideologische Hintergrund der Cosmopolis widerstandslos der Rechtfertigung des europäischen Kolonialsystems diente. Damit bringt er ein nahezu postkolonialistisches Argument zur Geltung. Seine eigentliche Aufgabe scheint Toulmin aber darin zu sehen, dem modernen, an Descartes orientierten Weltbild eine Alternative entgegenzustellen. Diese meint er im Denken Montaignes gefunden zu haben. Während Descartes für die Errichtung einer universellen Ordnung steht, die die menschlichen Angelegenheiten nach klar und eindeutig definierten, rationalen Gesetzen regeln soll – und zwar sowohl die politisch-sozialen als auch die kognitiv-intellektuellen –, steht Montaigne stellvertretend für die Begeisterung, die in Europa die aus der »Neuen Welt« kommenden Nachrichten und Berichte auslösten. »The reports of European explorers deepened the humanists‹ curiosity about human motives and actions. The 16th century saw a growing taste for the exot-

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ic, and a fascination with alternative ways of life, that was to be a counterpoint to much later philosophical arguments« (ebd. 28).

Fast scheint es, als greife Montaigne 100 Jahre zuvor der »Cartesianischen Wende« kritisch voraus. Aber in Wirklichkeit ist natürlich die Cartesianische Wende die spätere und richtet sich gegen das Weltbild, das Montaigne und seinesgleichen in einer Zeit vertraten, in der »[t]he multiplicity of people in the world, with ideosyncratic viewpoints and life-stories«, nicht unbedingt als »Bedrohung« (threat) empfunden worden war (ebd. 42). Ob Montaignes weltoffene Gesinnung, die ihn motivierte, von den Erfahrungen anderer Völker lernen zun wollen (vgl. Montaigne 2001: 88), der Renaissance zugeschrieben werden kann, soll uns hier nicht weiter interessieren. Fest steht aber, dass Montaigne von dem, was die Welt zu bieten hatte, so begeistert war, dass seiner Meinung nach dagegen alle (in Europa bekannten) kulturellen Errungenschaften – die »Malerei«, die »Dichtkunst«, die »Erfindungen« und »selbst die spekulativen Begriffe der Philosophie und ihre Wünsche« (ebd.) – verblassen mussten. Montaigne sah in der Welt einen Ort, bevölkert von Menschen, von denen die Europäer eine Menge lernen konnten, und nicht als etwas, was der totalen Kontrolle und Beherrschung unterworfen werden musste. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieser Anspruch, von der Welt, von ihrer Vielfalt und von ihrem Reichtum zu lernen, tatsächlich Tradition hatte, dass diese Traditionslinie sogar bis ins frühe 19. Jahrhundert reichte, dann aber hoffnungslos von jener anderen Moderne überrollt wurde, die sich für Toulmin mit dem Namen Descartesʼ verbindet, sodass sie heute in archäologischer Kleinstarbeit mühsam wieder freigelegt werden müsste, wenn wir an sie anschließen wollen.

2.3 W ELTBEWUSSTSEIN : D AS » UNVOLLENDETE P ROJEKT « EINER ANDEREN M ODERNE Der Begriff »Weltbewusstsein« ist ein durch und durch moderner Begriff. Er stammt von Alexander von Humboldt (1769-1859)2. Nach Ottmar Ette, der vor einigen Jahren in einer Reihe von Veröffentli-

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Hier ist vor allem Humboldts Kosmos zu erwähnen (vgl. Humboldt 2004).

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chungen deutlich gemacht hat, wie wichtig einige Gedanken des jüngeren der beiden Humboldt-Brüder auch heute noch sind, ist der Begriff des Weltbewusstseins eine humboldtsche Schöpfung (Ette 2004: 33-34)3. Das wäre bereits ein wichtiger Grund dafür, tatsächlich mit von Humboldt zu beginnen. Es gibt aber noch andere Gründe. Ganz wichtig zum Beispiel der, dass der humboldtsche Begriff des Weltbewusstseins sich aus modernen Erfahrungen speist, allen voran des Zusammenwachsens der Welt. Er ist, so könnten wir auch sagen, ein Resultat der Konstruktion des ersten »Weltsystems« (Wallerstein). Gleichzeitig wirkt in ihm aber auch eine Vorstellung von dieser modernen Welt, die sich zwar in seiner Zeit nicht durchsetzen konnte, die mir aber durchaus als Antwort auf einige der Fragen unserer aktuellen Epoche der Globalisierung interessant erscheint. Zwar dachte Humboldt, dass die vormoderne mediterrane Kultur die Fundamente für das moderne Weltbewusstsein legte. Er verstand aber gleichzeitig, wie Ottmar Ette schreibt, dass die erste »Phase beschleunigter Globalisierung der Neuzeit«, für die die Figur Christoph Columbus und ein »transatlantisches Kolonialsystem« emblematisch wurde, eine radikal neue Situation geschaffen hatte (ebd. 36). Erst von diesem Moment an ist es überhaupt möglich, von einem globalen Netz menschlicher Beziehungen zu reden. Schon hier wird deutlich, dass sich das Verständnis der Moderne aus Humboldts Sicht von demjenigen, das die Sozialtheorie nach 1945 geprägt hat, unterscheidet. Anstatt in ihr einen Prozess zu sehen, der sich unaufhaltsam auf ein abstraktes Telos hinbewegt, scheint, wenn wir Humboldts Verständnis zugrunde legen, die größere Herausforderung in der Herstellung eines planetarischen Netzwerkes von Beziehungen zu liegen. Hier deutet sich auch eine epistemologische Alternative an: An die Stelle der Orientierung an einer linearen Zeitachse, die den Modernisierungstheorien genauso dienlich war wie überhaupt dem politischen und gesellschaftlichen Denken der europäischen »Sattelzeit« (Koselleck), orientiert sich Humboldts Wissensproduktion in erster Linie an

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Ich werde mich hier nicht mit den Schriften Humboldts selbst beschäftigen, sondern im Wesentlichen mit der Rekonstruktion der Gedanken Humboldts, die Ottmar Ette und einige andere vorgenommen haben. Vor allem Ette ist es in beneidenswerte Schärfe gelungen, die Ideen des preußischen Gelehrten für unsere aktuellen Diskussionen gerade auch in den Sozialwissenschaften aufzuarbeiten.

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der Dimension des Raums. Betroffen wird von einer solchen epistemologischen Umprogrammierung vor allem das Differenzbewusstsein. Weist sich ein Denken, das sich in der Dimension der Zeit orientiert, durch die Tendenz hin zum einzig Wahren, zum Absoluten oder Apodiktischen aus, manifestiert ein Denken, das sich an einem Raumbewusstsein orientiert, durch eine größere Toleranz für Komplexität und Kontingenz aus. Zur selben Zeit können Unterschiede an unterschiedlichen Orten durchaus koexistieren. Ich werde auf dieses Thema an anderer Stelle noch zurückkommen (vgl. Kapitel 3.6). Ette erklärt, was das bedeuten könnte: »Alexander von Humboldt könnte zu einem der Meisterdenker für das 21. Jahrhundert werden«, (Ette 2002: 9) deklariert er in seinem Humboldt gewidmeten Buch. Dies ließe sich so verstehen, dass Humboldt nach Ettes Ansicht seiner Zeit voraus gewesen sein musste, dass sich erst vor dem Hintergrund unserer heutigen »Phase beschleunigter Globalisierung« die gesamte Reichweite des Humboldtschen Denkens ermessen ließe. Doch weiß Ette nur zu gut, dass sich dieses Bild des Frühreifen, dem die anderen noch nicht folgen konnten, mit Letzteren zu gnädig umgeht. Dass sich die »andere Moderne«, für die Humboldt stehen soll und die Ette im Untertitel seines bereits erwähnten Buches evoziert, nicht früher durchsetzen konnte, hat weniger mit kognitiver Naivität zu tun als mit politischem Unwillen. In seinem Porträt lässt Ette keinen Zweifel daran, dass auch Humboldts Moderne noch eine europäische Moderne war. Sicherlich lässt sich in diesem Zusammenhang auch dem Preußen noch ein »imperialistischer Blick« unterstellen (vgl. Pratt 1992). Aber Ette versteht auch, dass bei Humboldt in nahezu vorbildlicher Weise die Erkenntnis durchbricht, dass die europäische eben nicht die einzige Moderne ist, und dass sich diese Erkenntnis durchaus politisch ausbuchstabiert habe. Humboldts »neuer Kosmopolitismus« hat nach Ette ganz entschieden gegen den im 19. Jahrhundert immer potenter werdenden Nationalismus protestiert. Der Nationalismus erkennt die globale Ausdehnung menschlicher Angelegenheit, versucht sie aber in kleinere, vermeintlich nach außen hin kulturell und politisch abschließbare Einheiten zu kompartimentalisieren. Ette glaubt, dass Humboldt sehr scharf den fatalen Irrtum durchschaute, der sich im Nationalismus verschanzt. Er erkannte, dass die Begrenzung auf das Eigene immer nur als »Zeichen des Mangels« verstanden werden müsse. Genau diesen zu beheben, galt Humboldts Projekt der Moderne. Die »neue Zeit« kennzeichne

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sich dadurch, dass nun die Vorstellung von der Welt als ganzer mit konkreten Sinninhalten gefüllt werden konnte und werden musste. Für Humboldts Wissenschaftsverständnis wurde diese Intuition zum Imperativ, was sich nicht zuletzt in einigen ganz entscheidenden methodologischen Aspekten ausdrückt: allen voran dem internationalen Vergleich. So schreibt Ette: »Alexander von Humboldts Kosmopolitik ist in ihrem Kern eine Bewusstseinspolitik, die sich von weltweiten Vergleichen nährt« (88). Die politische Ausdeutung des Humboldtschen Lebenswerkes, das in seinem Kosmos den krönenden Abschluss finden sollte, lässt sich von epistemologischen Aspekten nicht trennen. Im Gegenteil, sie leitet sich aus einem Bewusstsein ab, das eben den kognitiven Reduktionismus des europäischen Denkens entblößt. Dadurch aber erweitert Humboldt das Projekt der Moderne, strebt jene Vollendung an, die ihm auch heute noch vorenthalten wird. »Wenn es eine Moderne gibt, die bislang ein unvollendetes Projekt geblieben ist, dann die Konzeption einer Moderne, die auf der Vision eines planetarischen Zusammenlebens und auf regionalen Fallstudien, auf der ästhetischen Behandlung komplexer Sachverhalte und auf geduldiger Feldforschung, auf der beständigen Ausweitung und Vertiefung des Weltbewusstseins und auf einer hoch spezialisierten empirischen Forschung aus komparatistischer Perspektive beruht, ohne Europa und die abendländische Welt ein für allemal als den Nabel der Welt und des Wissens zu begreifen« (120).

An einer Stelle seines Buches beschreibt Ette das humboldtsche Weltbewusstsein als Konsequenz der »Weltprozesse« (95), bzw. – wieder in unsere heutige Sprache übersetzt – als Resultat der »beschleunigenden Globalisierung«. Dass die Globalisierung schon gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als beschleunigt gelten musste, dafür gibt es zahlreiche Indizien. Was aber in diesem Zusammenhang mit »Beschleunigung« gemeint ist, ist mehr als lediglich eine Zunahme der Geschwindigkeit, mit der sich der Transport von Waren, Menschen und Information vollzieht. Hinter dieser rein quantitativen Definition der Globalisierung verbirgt sich eine Veränderung, die die Qualität der Austauschbeziehungen betrifft. Diese müssen wenigstens potenziell reziprok geworden sein. Während aus europäischer Sicht die Zeit, die noch im Zeichen Kolumbus und Cortes stand, blind für das war, was ihr an Wissen und Erfahrungen in anderen Teilen der Welt entgegen-

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schlug, erkannte Humboldt die Vielfalt, den Reichtum, aber gleichzeitig auch die Affinitäten, die die gesamte Natur und Kultur aller Menschen konvergieren lässt. In diesem Sinne verstand der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea Alexander von Humboldt als eine Ikone der »anderen Entdeckung« (Zea 2001). Diese »andere Entdeckung« redefiniert in radikalster Weise die »fiktiven Geografien« (Said), die der »ersten Entdeckung«, der auf sie folgenden Eroberung, der Kolonialisierung und dem Imperialismus zu verdanken waren. War noch für die durch Kolumbus geprägte Vorstellung der Atlantik das Meer der Eroberung, »hat [Humboldt] eine andere Auffassung von der Neuen Welt und vom Meer, das ermöglicht hat, sie zu finden: das Meer nicht als Mittel der Eroberung, sondern, wie das Mittelmeer, als Brücke zur Integration des notwendig Verschiedenen« (ebd. 158). »Integration« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht »Assimilation« – Ette macht zu Recht darauf aufmerksam. Hinter diesem neuen »Weltbewusstsein« steht mehr als eurozentristischer Paternalismus. Was die Einstellung Humboldts vielmehr motivierte, ist die bereits erwähnte Erkenntnis, wonach das Eigene im Zeichen des Mangels erscheint. Das »Entstehen weltumspannender Kommunikation« (54; vgl. auch Mattelart 1992) hat ein Bewusstsein geschaffen, nach dem es nicht mehr ausreicht, die Welt nur aus der Sicht des Eigenen zu verstehen. Das eigene Wissen bleibt mangelhaft, wenn es nicht durch das Wissen der anderen ergänzt wird. Aber nicht der Utilitarismus der Weltbeherrschung motiviert dieses Streben nach einem möglichst kompletten »Weltwissen«, sondern ein »ästhetisch« motivierter »Wille zum Ganzen«. Hartmut Böhme hat auf diese ästhetische Dimension des humboldtschen Wissenschaftsverständnisses bestanden. Er hat gezeigt, dass der humboldtsche Begriff des »Kosmos« eine »Doppelmatrix« darstellt, die noch ganz im Sinne des griechischen Ursprungs des Wortes die Bedeutungen von »Schmuck« und »Ordnung« vereint. Wie in der Antike verbindet Humboldt »die Objektivität der Vernunft im Kosmos, das philosophische Forschen und die sinnenhafte Ästhetik« (Böhme 2001: 18). Auch Ette sieht in Humboldts Wissenschaft vor allem eine »ästhetische Wissenschaft«. Er kommt zu dem Schluss: »Naturforschung im Sinne Humboldts ist eine genießende (Natur-)Wissenschaft in dem Sinne, daß sie aus ihrer Fundierung durch empirisch erhobenes

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Datenmaterial stets einen ästhetischen Überschuß erzeugt, der den Naturforscher und sein Publikum miteinander verbindet« (Ette 2002: 98).

Trotz aller Übereinstimmung in diesem Punkt scheinen Böhme und Ette doch zu unterschiedlichen Beurteilungen zu gelangen. Für Böhme ist das Verhältnis zwischen Humboldts (ästhetischem) Holismus und der Detailversessenheit der modernen (empirischen) Wissenschaften in seinem eigenen Werk zu einem kaum zu überwindenden Widerspruch geronnen. »Humboldts obsessioneller analytischer Sinn fürs Empirische ist ebenso bekannt wie sein unbeugsamer Idealismus, der noch im Heterogensten die Einheit der Natur als Idee zu buchstabieren unternimmt. Meine These ist, daß sich diese beiden leidenschaftlichen Kräfte nach dem Zusammenbruch des antikeorientierten Klassizismus, des deutschen Idealismus und der romantischen Naturphilosophie nicht mehr vereinigen lassen« (Böhme 2001: 19-20).

Dieses wissenschaftshistorische Urteil übernimmt Ette nicht. Für ihn ist Humboldt keineswegs ein Relikt aus einer anderen Zeit, sondern vor allem der Standartenträger einer anderen Moderne, die für uns auch heute noch (oder besser: heute gerade wieder) verpflichtend ist. Die Aktualität des humboldtschen Denkens macht Ette entschlossen am Wissenschaftsverständnis Humboldts fest, das um den Begriff des »Weltbewusstseins« kreist. Obwohl sich »Welt« im humboldtschen Sinne immer auf alle drei semantischen Dimensionen bezieht – die Welt im Sinne von »Weltraum«, die Welt im abstrakten philosophischen Sinne und die Welt im planetarischen Sinne – ist es vor allem diese letzte Bedeutung, die im Werk des preußischen Wissenschaftlers aufgerufen wird. Damit wird der »Wille zum Ganzen« vor allem zum Willen eines »Weltwissens« im planetarischen Sinne. Eindeutig treten hier geografisch-räumliche Aspekte auf den Plan, sodass auch Ette behauptet: »Alexander von Humboldt entfaltet hier nichts Geringeres als die Prolegomena einer Geschichte des Denkens im Raum« (Ette 2002: 97). Und tatsächlich ist es überhaupt erst der Bewegung Humboldts im geografischen Raum, seinen Reisen, zu verdanken, dass er ein an Details so umfangreiches Weltbild skizzieren konnte, das nicht nur eine »enorme Heterogenität der Materialien, [sondern auch eine ebenso] beeindruckende Diversität der Kulturen, das bisweilen provozierende

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und stets kontrastreiche Nebeneinander von Elementen und Aspekten« (217) widerspiegelt, ohne dabei den Blick für das Ganze zu verlieren. Humboldts Weltbewusstsein produziert ein Weltbild, dessen Darstellung Schrift und Text ständig mit Abbildungen, Skizzen, vor allem aber Karten ergänzt. Das Bild, das Humboldt von der Welt geben möchte, ist ein komplettes. Und doch wusste er auch, dass er dieses Unternehmen nie allein würde meistern können. Um sein Forschungsprogramm realisieren zu können, war ein weltumspannendes Netz des Informationsaustausches notwendig. Einmal mehr ist es eine Mangelerfahrung, aus der Humboldt seine Motivation schöpfte. Die kulturell-ästhetische Produktion des Weltbildes kann nur als polyloges Unternehmen verstanden werden, in dem sich die Beiträge möglichst vieler in einer weltweiten, interkulturellen Kommunikation vernetzen. »Mangelerfahrung« bezieht sich auf die Erfahrung, dass eine einzelne Person der Vielfalt der Welt nicht mehr »Herr« werden kann. Ette glaubt, die Aktualität Humboldts vor dem Hintergrund des aktuellen Bewusstseins der Postmoderne beschreiben zu können. Da das unglückliche Wörtchen »Postmoderne« immer wieder im Sinne von »Ende der Moderne«, »Jenseits der Moderne«, »Ausstieg aus der Moderne« usw. interpretiert wird, muss aber deutlich werden, dass Humboldts Projekt nicht in diesem Sinne als postmodern verstanden werden kann. Auch Ette zieht es deshalb vor, in Humboldts Unternehmen einen Vorschlag für eine »andere Moderne« zu sehen. Humboldts Moderne ist anders, weil in ihr nicht ein auf die Zukunft hin gerichtetes Zeitbewusstsein im Mittelpunkt steht. Für Humboldt ist Weltbewusstsein wichtiger als Zeitbewusstsein. Anders gesagt: Niemand hat zu seiner Zeit »das Projekt der Moderne in seiner weltumspannenden Bedeutung so verstanden« wie Alexander von Humboldt (Ette 2002: 31). Durch Humboldts Werk meldet sich also eine Moderne zu Wort, die wie nirgendwo sonst vor allem als Weltbewusstsein verstanden werden wollte. In diesem Begriff der Moderne verdichten sich nicht nur normative Erwartungen. Es handelt sich auch um einen Begriff, der unterschiedliche Erfahrungen mit und in der modernen Welt zum Ausdruck kommen lassen will. All diese Überlegungen laufen auf ein Wissenschaftsverständnis hinaus, in dem die folgenden beiden Imperative zusammenfließen: Transdisziplinarität und Interkulturalität, bzw. interkulturelle Kommunikation.

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1. Ottmar Ette besteht darauf: Die »Humboltian science« ist transdisziplinär und nicht interdisziplinär. »Humboldt«, so schreibt er, »wollte nicht vom Standpunkt der ›eigenen‹ Einzeldisziplin aus den Austausch mit anderen Disziplinen und deren Vertretern suchen, sondern sich aus der Kenntnis möglichst vieler Disziplinen ein eigenes Bild, eine eigene Anschauung von der belebten wie der unbelebten Welt machen« (Ette 2004: 30).

Verschiedene Erkenntnisse konstituieren die humboldtsche Idee einer transdisziplinären Wissenschaft. Selbstverständlich ist die Einsicht, dass nur Kultur- (oder Geistes-) und Naturwissenschaften zusammen und im Dialog miteinander den Anspruch erheben können, die Welt zu verstehen. »Weltwissen« kann also nur durch die Vermittlung dieser unterschiedlichen Wissensgebiete entstehen. Ganz entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass für Humboldt die Welt in all ihren Dimensionen (in der kosmologischen, der planetarischen und der philosophisch-theologischen) immer auch »menschenhaltig« (Ette) ist. In diesem Sinne ist Humboldts Wissenschaftsmodell ein zu tiefst humanistisches. Er ist aber auch in höchstem Maße erfahrungsabhängig. Wolf Lepenies schriebt: »Humboldt war immer eher an den subjektiven Empfindungen, die seine Experimente produzierten, interessiert, als daran, objektive Resultate festzustellen« (Lepenies 2001: 65). Demnach wäre, so suggeriert Lepenies, Schillers Urteil über Humboldt, wonach dieser »leere Worte und enge Begriffe« produziere und keine »Imagination« habe, falsch. Das im äußersten Sinne erfahrungsabhängige Weltwissen sei das Resultat eines »exzessiven Enthusiasmus zu Sammeln, zu Ordnen und zu Beschreiben« und entspreche eher dem Naturell eines Sammlers und keineswegs dem eines abstrahierenden Rationalisten (ebd.). Das Zusammentragen all dessen, was die Welt ausmacht, ist allerdings eine Aufgabe, die die Möglichkeiten einer Disziplin, und erst recht einer Person, schnell übersteigt. Transdisziplinarität geht also Hand in Hand mit der Intuition, dass Weltwissen nur kollektiv erzeugt werden kann. Es fordert relationale Strukturen, die sich wohl am ehesten mit solchen intersubjektiven Beziehungen vergleichen lassen, die es erlauben, Menschen unterschiedlichster Spezialisierungen sowie aus unterschiedlichsten Teilen der Welt in einen Zusammenhang intensiver Kommunikation zu stellen, und die nach Ottmar Ette mit dem

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WorldWideWeb unseres aktuellen Computerzeitalters vergleichbar sind (vgl. Ette 2004: 31). Humboldt schrieb in einem Brief an seinen Freund Varnhagen von Ense: »Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muss neben den Thatsachen hier verzeichnet sein« (zit. in: ebd. 35). 2. Diese Einsicht überschneidet sich mit einer anderen Charakteristik, die Ottmar Ette Humboldts Wissenschaftsmodell unterstellt: nämlich seiner Interkulturalität. Der feine semantische Unterschied – »trans« und »inter« – ist durchaus intendiert. Die kulturelle Identität lässt sich nicht so einfach überwinden wie die akademische, die man wählt. Wichtig für diese Unterscheidung ist nach Meinung vieler seiner Kommentatoren, dass von Humboldt trotz aller Weltoffenheit doch immer sehr bewusst seiner eigenen Kultur verbunden blieb. Diese war allerdings nicht in einem engen Sinne eine preußische Kultur, sondern eine europäische, die sich aus vielen Quellen gleichzeitig speiste. Allem voran ist der Einfluss der französischen Kultur auf Humboldt legendär. Zu der Hochschätzung der eigenen, europäischen, Kultur gehört für Humboldt vor allem die Hochschätzung der moralischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die einen gemeinsamen Katalysator in der Aufklärung fanden, welche Humboldt immer wieder und trotz aller Kritik verteidigte (vgl. Lepenies 2001: 69ff.). Diese positive Einstellung der Aufklärung gegenüber bedeutete nicht Hochmut gegenüber anderen Kulturen und Zivilisationen. Im Gegenteil, von Humboldt überraschte immer wieder dadurch, dass er für seine Zeit sehr unübliche Vergleiche zu fremden Kulturen zog, zum Beispiel denen, die er in Amerika kennenlernte. Dieses Vergleichen und Relativieren hat einen nicht zu übersehenden anti-eurozentrischen Aspekt. Interkulturalität heißt also vergleichen und das Eigene vor dem Hintergrund des Anderen zu bewerten, das heißt: Selbstkritik zu praktizieren. Diese Haltung unterscheidet sich aber deutlich von der, die andere wichtige Vertreter des europäischen Denkens der Zeit Humboldts zum Ausdruck brachten. Der Unterschied verdankt sich vermutlich der Tatsache des Reisens. So soll Humboldt selbst gesagt haben: »Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben« (zit. in: Osten 1999: 18). Humboldt hegte keinen geringeren Anspruch als den, sich die ganze Welt anzuschauen. Hinter der Einsicht in die Notwendigkeit des Reisens steckt aber vor allem auch eine epistemologische Entscheidung: die Entscheidung,

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»Weltwissen« vor allem in der Dimension des Raums und (noch nicht) der Zeit zu erzeugen. Lepenies schreibt: »Humboldt lebte in einer Epoche, in der der Raum das Wichtigste war für den Versuch, die Natur zu verstehen [...]. Jeder Naturforscher dieser Zeit war ein Reisender und wenn er, wie Linné, genug gereist war oder nicht mehr reisen wollte, schrieb er wenigstens einen Reiseführer, eine Instructio peregrinatoris« (Lepenies 2001: 62).

Was folgte, kennt die moderne Sozialtheorie und hier besonders die sogenannten Modernisierungstheorien (vgl. Kapitel 3) sehr gut: den Versuch, die Welt im Rahmen zeitlicher Koordinaten zu verorten. Dazu wieder Lepenies: »Als Alexander von Humboldt starb, wurde die Zeit wichtiger. Die Naturgeschichte, die den Versuch darstellt, alle Reiche der Natur durch komplizierte räumliche Darstellungen zu beschreiben und klassifizieren, wurde durch eine wirkliche Naturgeschichte ersetzt, deren Objekte einen Ursprung hatten, sich entwickelten und im Verlauf der Zeit beträchtlich veränderten« (62-63).

2.4 C OSMOPOLITAN TURN ODER S OZIOLOGIE Z EICHEN VON W ELTBEWUSSTSEIN

IM

»Kosmopolitismus« stellt in den aktuellen Debatten in nahezu allen Disziplinen der Kulturwissenschaften einen ganz wesentlichen Orientierungspunkt dar. Einige gehen bereits von einem cosmopolitan turn aus. Für die Soziologie fasste Robert Fine sehr prägnant in drei Punkten zusammen, worum es dabei gehen soll (vgl. Fine 2006). 1. Es gehe um die Überwindung des »methodologischen Nationalismus«, der Vorstellung also, dass sich die Welt des Sozialen angemessen beschreiben, erklären und kritisieren ließe, wenn sie als durch die Grenzen des Nationalstaates strukturiert betrachtet wird. 2. Es wird davon ausgegangen, dass die aktuelle Epoche des Kosmopolitismus einen Bruch zu vorherigen Epochen darstelle, in denen Menschen Identität aus nationaler, religiöser, kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit schöpften. 3. Schließlich wird der Kosmopolitismus als normativer Horizont verstanden, wonach sich Menschen immer deutlicher als »Weltbürger« betrachten. Fine verleugnet nicht die Probleme, die dem

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cosmopolitan turn inhärent sind. Er erkennt, dass er sich nicht in eine neue Doktrin verwandeln dürfe, die beansprucht, alle anderen Orientierungsmöglichkeiten des Menschen zu ersetzen, und warnt vor der Gewalt im Namen höherer, weil kosmopolitischer Werte. Dennoch lässt sich eine gewisse, zunächst epistemische Gewalt in der Tradition des Kosmopolitismus (seit Kant) sowie in seinen aktuellen Formen (wie im cosmopolitan turn innerhalb der Soziologie) nicht übersehen. Wie die drei oben erwähnten Punkte deutlich gemacht haben, präsentiert sich der cosmopolitan turn vor allem als Negation: Negation vorheriger Zugehörigkeitsformen, Negation vergangener Epochen und schließlich Negation nicht-kosmopolitischer Werte. Im aktuellen cosmopolitan turn scheint sich die Tendenz der Abstraktion und Dekontextualisierung, wie es Toulmin dem wissenschaftlichen Denken der Moderne allgemein nachgesagt hat, zu wiederholen. In einem Interview, das Toulmin Sheldon Hackney gab, gestand er: »Thereʼs one thing that I slightly regret. I repeatedly use words like ›conceptualized‹ and ›decontextualized‹ in that book when I would have preferred (and should have preferred) to use words about situations. Itʼs not a question of the relation between one text and another text. It's a relation between how intellectual thought has progressed and the situations to which it has been responsive« (Toulmin 1997).

Diese Präzision scheint mir wichtig: Es geht um konkrete Situationen und, so ließe sich noch hinzufügen, die konkreten Erfahrungen, die Menschen in diesen konkreten Situationen machen, welche der Kosmopolitismus zu eliminieren trachtet. Pheng Cheah erklärt, was dies bedeutet, mit folgenden Worten: »[…] since one cannot see the universe, the world, or humanity, the cosmopolitan optic is not one of perceptual experience but of the imagination« (Cheah 2008: 26). Nun soll die Notwendigkeit der Vorstellung von der Welt und der Menschheit in ihrer Gesamtheit nicht bestritten werden. Sie muss aber durch die Erfahrungen ergänzt werden. Genau darin liegt meiner Meinung nach die Aufgabe einer Soziologie im Zeichen von Weltbewusstsein. Der Begriff des Weltbewusstseins hat in den Sozialwissenschaften keine Tradition. Er spielt aber in einem von Roland Robertson und David Inglis gemeinsam veröffentlichten Artikel eine zentrale Rolle (Robertson/Inglis 2004). Die beiden Autoren verwenden den Begriff,

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um auf das planetarische Bewusstsein des politischen und sozialen Denkens aufmerksam zu machen, welches sich vor allem in der aktuellen Globalisierungsdebatte, für die Robertson ein wichtiger Stichwortgeber war, Ausdruck verschafft. Gleichzeitig wollen Robertson und Inglis aber auch zeigen, dass Globalisierung oder wenigstens das damit einhergehende world-consciousness nichts Neues darstellt. Genaugenommen entdecken sie die ersten Spuren »unseres« world-consciousness in den Anfängen des westlichen Denkens, die bekanntlich im antiken Griechenland liegen sollen. Ich halte diese Rückverlegung der Anfänge unserer aktuellen globalen Moderne in die Antike aber in diesem Fall für genauso problematisch wie die Suche nach Gründen für die unterschiedlichen Modernen in der jeweiligen Achsenzeit, wie sie sich in einigen Beiträgen zur »multiple-modernity«-Debatte finden lassen. In beiden Fällen wird von Erfahrungen ausgegangen, die mit den Erfahrungen der Moderne nicht viel zu tun haben. Die Besonderheiten dieser Erfahrungen auf Intuitionen zurückzuprojizieren, die vor mehr als 2000 Jahren in einem Teil Europas gemacht wurden, bündelt das Weltbewusstsein wieder in einem eindeutig europäischen Erzählstrang. Der Begriff des Weltbewusstseins, wie ich ihn hier mit Rückgriff auf Alexander von Humboldt versucht habe zu rekonstruieren, verweist aber auf ein Forschungsprogramm, das sich nur als Konsequenz moderner Erfahrungen mit und in der Welt aller Menschen verstehen lassen kann. Wie könnte der Begriff des Weltbewusstseins nun auf die sozialwissenschaftliche Forschung bezogen werden? Anstatt von der Welt im Abstrakten zu reden, sollte die um die Welt besorgte Sozialforschung die Bereitschaft zeigen, dem Beispiel Humboldts folgend zur Kenntnis zu nehmen, welche Erfahrungen mit der gemeinsamen modernen Welt außerhalb Europas und Nordamerikas gemacht wurden und wie dort über die gemeinsame, moderne Welt gedacht wird. In einem Kommentar zu Ulrich Becks Verteidigung des cosmopolitan turn in der Soziologie (vgl. Beck 2010) bestand Raewyn Connell darauf, dass das größte Defizit nach wie vor darin liege, die Sicht des Nordens auf die Welt grundsätzlich als Standard zu betrachten. Ihr Vorschlag klingt simpel: Es müsse endlich damit begonnen werden, für das Verständnis und die Beurteilung unserer gemeinsamen modernen Welt diejenigen anzuhören, die aufgrund ihrer geografischen Herkunft bisher nicht zur Kenntnis genommen wurden (vgl. Connell 2010a).

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Wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer Welt leben, die alle Menschen der Erde miteinander teilen, ist es an der Zeit, dass wir anfangen zu begreifen, dass diese Welt nur dann wirklich eine gemeinsame Welt sein kann, wenn wir uns alle in ihr heimisch fühlen. Pheng Cheah hat in dem oben bereits zitierten Aufsatz nicht nur deutlich gemacht, dass Kosmopolitismus nicht nur der Imagination bedarf, sondern auch, dass für den Entwurf eines gemeinsamen Bilds von der Welt die Literatur nach wie vor einen ganz wichtigen Beitrag leisten könnte und sollte: »World literature is an important aspect of cosmopolitanism because it is a type of world-making activity that enables us to imagine a world« (Cheah 2008: 26). Obwohl ich Cheah recht gebe, bin ich doch auch davon überzeugt, dass Literatur nicht der einzige Bereich ist, dem diese Aufgabe zukommt. Ihr sollten sich die Wissenschaften und allen voran die Sozialund Kulturwissenschaften anschließen. Besonders in ihnen müssen Räume entstehen, in denen die unterschiedlichen Erfahrungen mit und in der globalen Moderne in einen Dialog treten können. Aus diesem Dialog können kreative Energien frei werden, die die Imagination und Konstruktion einer tatsächlichen gemeinsamen Welt beleben. Die Zeichen für eine solche dialogische Umorientierung der Sozial- und Kulturwissenschaften stehen heute besser denn je. Dennoch gibt es einige Hindernisse, die vor allem auf Altlasten früherer Orientierungen zurückzuführen sind. Eine kritische Auseinandersetzung mit früheren Theoriemodellen ist entscheidend. Ein sinnvoller Ausgangspunkt scheint mir immer noch eine Kritik der Modernisierungstheorien zu sein.

3. Modernisierungstheorien und der Primat der zeitlichen Logik

3.1 Z WISCHEN E INHEIT UND V IELFALT DES M ODERNITÄTSBEGRIFFS Volker H. Schmidt hat noch einmal betont, dass der Begriff der Moderne zumindest in der Soziologie einen ganz zentralen Stellenwert einnimmt: »Modernity is a very important concept in sociology; it might, in fact, be seen as the disciplineʼs most important concept as it stands for the very societal formation to whose emergence academic sociology itself is often said to owe its existence« (Schmidt 2007: 205).

Dass andere Vertreter der Soziologie ganz ähnlich denken, beweist nicht zuletzt die Vielzahl von Texten, die in den letzten Jahren im Namen dieses Wortes verfasst wurden; und das trotz der nicht zu missachtenden Konkurrenz einer Reihe anderer Begriffe, von denen wahrscheinlich der der Globalisierung oder der der Postmoderne immer noch die schillerndsten sind. Wie lässt sich der Begriff der Moderne aber mit dem des Weltbewusstseins zusammendenken? Diese Frage soll uns durch die nächsten Kapitel führen. Die Antwort, die ich in diesem Kapitel geben möchte, soll deutlich machen, dass die Kritik an den Modernisierungstheorien immer noch ein sinnvoller Anfang ist. Dabei wäre zu fragen, ob der Begriff der Moderne überhaupt noch den Anspruch auf weltweite Geltung stellen darf. Handelt es sich nicht um eine europäische Erfindung und sollten wir nicht endlich einsehen, dass die europäische Welt eben nicht die Welt aller Menschen ist?

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Ähnliche Überlegungen haben auch den künstlerischen Leiter der Documenta 12, Roger M. Buergel geplagt. Gerade so, als wolle er aber allen durchaus berechtigten Zweifeln trotzen, antwortet er mit einer anderen Frage: Ist die Moderne nicht vielleicht unser aller Antike? Sehr treffend drückt er aus, wie wenig wir uns gerade heute über diesen Begriff hinwegsetzen können: »[...] es scheint, als stünden wir zugleich außerhalb und innerhalb der Moderne. Als seien wir einerseits von ihrer tödlichen Gewalt angewidert und andererseits von ihrem zutiefst unbescheidenen Anspruch auf Universalisierbarkeit angezogen. Gibt es, allen Widerständen zum Trotz, doch so etwas wie einen gemeinsamen Horizont für die Menschheit – ein Leben, das weder durch Differenz noch durch Identität bestimmt ist?« (Buergel 2005).

Die Moderne wäre demnach ein weltweit verbindlicher Referenzpunkt, weil sie in den letzten Jahrhunderten trotz aller Unterschiede eben auch eine gemeinsame Vorstellung von der Welt erzeugt hat, auf die wir uns alle in irgendeiner Art und Weise beziehen können, ja sollen und dies wohl auch tatsächlich tun. Wieder ist es die Kunst, die dies am besten versteht. Dazu noch einmal Buergel: »Nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts (den gleichen Katastrophen, die sie ins Werk setzte) scheint die Moderne in Trümmern zu liegen und vollkommen kompromittiert: sowohl durch die gnadenlos einseitige Umsetzung ihrer universalen Forderungen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als auch durch die simple Tatsache, dass Moderne und Kolonialismus historisch Hand in Hand gehen. Dennoch ist das Vorstellungsvermögen vieler Menschen von modernen Formen und Visionen tief durchdrungen und das bedeutet nicht nur Bauhaus, sondern auch Konzepte der Moderne wie ›Identität‹ oder ›Kultur‹, die aus der aktuellen Diskussion nicht wegzudenken sind« (ebd.).

So gesehen wäre Moderne also heute ein Sammelbegriff für eine Vorstellungswelt, die Menschen – ganz gleich, welchen Ort unserer Erde sie bewohnen – miteinander teilen. Charakteristisch ist dabei vor allem, wie Affinitäten und Unterschiede in dieser Vorstellungswelt zusammenlaufen. Differenzbewusstsein und Einheitsidee stehen sich nicht mehr ausschließend gegenüber, sondern werden im Begriff der Moderne zu einem spannungsgeladenen Ganzen. Tradition, Religion und Mythos gehören genauso in diese Vorstellungswelt der Moderne

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wie Universalismus, Rationalisierung, Differenzierung, Urbanisierung, soziale Mobilität usw. Droht der Begriff der Moderne dadurch aber nicht völlig aus den Fugen zu geraten? Vor einer möglichen Fragmentierung des Begriffs warnt seit einiger Zeit der schon zitierte Volker H. Schmidt. Er besteht auf einen einheitlichen Modernitätsbegriff. Dabei richtet sich sein Argument in erster Linie gegen jene Vorschläge, die sich unter dem Stichwort der multiple modernities (vgl. Kapitel 4.3) zu einer mehr oder minder kohärenten Debatte verdichtet haben, und die seiner Meinung nach die soziologische Forschung zu sehr über die Besonderheiten bestimmter Räume und Orte reflektieren lässt (vgl. auch Schmidt 2006). Diese Art der Modernitätsforschung »tends to be driven by a concern to capture and explain country-specific peculiarities and/or cross-national differences. The authors want to know what is unique to a given (mostly, their) country, or explore alternative (political) solutions to given social problems, and both requires comparison« (2007: 206).

Schmidt lehnt diese Art von Forschung nicht per se ab: »Much of the knowledge yielded by [comparative] research is informative and useful« (ebd.). Allerdings glaubt er nicht, dass dadurch die Grundprämissen der modernitätstheoretischen Sozialtheorie erschüttert würden. »It [comparative research] rarely has an immediate bearing on social theory though, especially on the theory of modernity. To be relevant for such a theory, one needs a different kind of knowledge, knowledge that spans longer time horizons and whose geographic scope is limited only by the globe itself« (ebd.).

»Moderne« wäre also der legitime Leitbegriff für eine weltumspannende Sozialtheorie. Ähnlich wie Schmidt argumentiert Edward A. Tiryakian. Auch er verortet sich ausdrücklich im Lager der Verteidiger der »Modernisierungstheorie«. Sein viel zitiertes »Manifest« (Tiryakian 1991) belegt aber, dass die Kritik an den Modernisierungstheorien nicht spurlos an ihm vorbei gegangen ist. Zwar orientiert sich auch seine Definition der »Moderne« an bestimmten »master processes of modernization« (174) – allen voran: »rationalisation, differentiation and secularization« (ebd.) –, aber sie scheint bewusst so allgemein gehalten zu sein, um all die konkreten Unterschiede, die exogenen wie endogenen Gründen zu

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verdanken sind, aus der soziologischen Analyse nicht herauskürzen zu müssen. Tiryakians Rückkehr zur Modernisierungstheorie ist zwar immer noch von »globaltheoretischen« Ansprüchen getragen, in ihr sollen aber die tatsächlichen Unterschiede, die sich in der Welt beobachten lassen, nicht verschwiegen werden. Und noch etwas ist erwähnenswert: während die klassische Modernisierungstheorie ihr Modell der Moderne, das sie an den Horizont jeder zivilisatorischen Entwicklung projizierte, in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten sah, glaubt Tiryakian: »Where the post-war modernization analysis erred was to formulate its notions of civil society on the historical development of the American case and to postulate tacitly its universal validity. World reality has greatly changed since the late 1950s and 1960s when ›Modernisation I‹ crested, because the United States in terms of economic, social, political and moral performance can no longer claim to set the world standards. It is even problematic that commitment to and participation in ›civil society‹ has remained a constant in the recent period of American history. In brief, to view American society, or Westernisation in general, as an enduring pinnacle of societal evolution may well be a delusion of modernity« (172-173).

Das Problem, das ich in solchen Rehabilitierungsversuchen der Modernisierungstheorie sehe, wie sie Schmidt und Tiryakian vorschlagen, ist, dass sie trotz aller Kritik einem nostalgischen Anspruch folgen. Sie wollen an einem starken normativ verpflichtenden Begriff der Moderne festhalten, den sie aber gleichzeitig auch relativieren. Sie wollen die begriffliche Hülse, die die Kritik an den Modernisierungstheorien vom Begriff der Moderne übrig gelassen hat, wieder als Kern ihrer neuen Modernisierungstheorien einpflanzen. Diese Saat kann nicht mehr aufgehen. Schmidts Motto »one world, one modernity« (Schmidt 2007) lässt sich als Korrektiv gegen eine willkürliche Multiplizierung von Modernitätsbegriffen noch rechtfertigen (vgl. Schmidt 2006). Aber daraus eine rituelle Wiedergeburt der Modernisierungstheorien zu postulieren, wie es Tiryakian im Titel seines Aufsatzes von 1991 andeutet – »Modernisation: Exhumetur in Pace« – scheint mir heute weder möglich noch wünschenswert. Dies schon deshalb nicht, weil die Erfahrungen, die Menschen mit und in der Moderne gemacht haben und machen, nicht überall auf der Erde dieselben gewesen sind. Das bedeutet nun nicht, dass der Begriff der Moderne ersatzlos gestrichen wer-

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den soll. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass er nach wie vor ein wichtiges begriffliches Instrument darstellt, das es den Menschen überall auf der Welt erlaubt, sich ihren jeweils eigenen Platz in ihr vorzustellen, ohne den Bezug zum Ganzen zu verlieren. Aber gleichzeitig glaube ich, dass die Rehabilitation des Modernitätsbegriffs differenzempfindlicher sein sollte, als es die Rückkehrversuche zu den Modernisierungstheorien erkennen lassen. Eine interessante Alternative, um Einheit und Vielfalt der Moderne in ein reziprokes Verhältnis zu bringen, bei dem weder der Absolutheitsanspruch einer einzigen Moderne, noch die beliebige Vielfalt von Modernen die Übermacht gewinnt, stellt die Vorstellung der entangled modernities dar. Sebastian Conrad und Shalini Randeria erklären: »Der Begriff oszilliert zwischen den Konnotationen, die im Englischen als shared und divided wiedergegeben werden, und bringt so die Ambivalenzen einer Geschichte des Austauschs und der Interaktion zum Ausdruck« (Conrad/ Randeria 2002: 17).

Randeria, die den Begriff geprägt hat (vgl. Therborn 2003: 303, Fußnote 1), macht deutlich, dass ein Verständnis der Moderne unter dem Siegel der entangled modernities vor allem als Kritik an und methodologische Alternative zu dem in die Zukunft gerichteten Zeitbewusstsein der Modernisierungstheorien zu verstehen ist. Wichtiger als ein in die Zukunft projiziertes Ideal ist die gemeinsame Gegenwart, die alle Menschen der Erde miteinander teilen. Von dieser gemeinsamen Gegenwart hängt schließlich auch ab, was wir von der Zukunft erwarten können: »Visionen für die gemeinsame Zukunft müssen von der Erkenntnis ausgehen, daß alle heutigen Gesellschaften und Kulturen eine gemeinsame Gegenwart miteinander teilen. Weder läßt sich die Gegenwart nichtwestlicher Gesellschaften als Vergangenheit westlicher Gesellschaften, noch die Gegenwart des Westens als Zukunft aller anderen verstehen, wie es die soziologische Auffassung einer charakteristischen binären Opposition zwischen ›traditionellen‹ und ›modernen‹ Gesellschaften weismachen will« (Randeria 1999: 87).

Wenn sich der Begriff der Moderne auf diese gemeinsame Zukunft bezieht, die in einer gemeinsamen, aber gleichzeitig pluralen Gegenwart denkbar wird, welche sich wiederum in unterschiedlichen und zu-

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gleich geteilten Erfahrungen inspiriert, dann handelt es sich um einen Begriff, in dem ein ausgesprochen raffiniertes Weltbewusstsein zum Ausdruck kommt. »Moderne« ist dann nicht mehr die eine begriffliche Form, in welche die Erwartungen aller Gesellschaften der Erde hineingegossen werden, sondern sie bezeichnet eher einen Katalog von gemeinsamen, grenzüberschreitenden Themen, die trotz aller Ähnlichkeiten ganz unterschiedliche Erfahrungen und Reaktionen hervorgerufen haben. Volker H. Schmidt hätte also nicht unrecht: »Moderne« ist nach wie vor ein zentraler Begriff vor allem der Soziologie. Er stellt ein entscheidendes Instrument der Vermessung sozialer, kultureller, politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse in allen Gesellschaften unserer Erde dar. Nur das, was Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaften dabei jeweils erfahren haben, lässt sich nicht in eine Einheitsformel pressen. In der aktuellen Modernitätsforschung scheint sich dieses Verständnis allmählich durchzusetzen. Dabei mag hier und dort noch der Verdacht entstehen, dass es unterschiedliche Modernen gebe. Besser, als von der Multiplizierung einer Einheit namens »Moderne« auszugehen, wäre es aber, das Problem in der Vielfalt von Erfahrungen mit den jeweiligen Modernisierungsprozessen zu sehen. Dieses Programm kontrastiert nicht nur in deutlicher Weise mit dem der Modernisierungstheorien, sondern hat sich in einigen wichtigen Debatten Ausdruck verschafft, die selbst aus der Kritik der Modernisierungstheorien hervorgegangen sind. Bevor ich mich diesen Debatten zuwende (Kapitel 4), möchte ich mich ausführlicher mit der Tradition der Modernisierungstheorien beschäftigen.

3.2 M ODERNE IM Z EICHEN DER M ODERNISIERUNGSTHEORIEN Modernisierungstheorien sind in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA entstanden. Sie definieren Modernisierung als universellen Prozess zivilisatorischer Entwicklung und gehen davon aus, dass grundsätzlich alle Gesellschaften modernisierbar sind. Diese Logik erlaubt es auch, Modernisierung für all jene Gesellschaften zum Imperativ zu machen, die noch nicht modern zu sein scheinen. Obwohl Modernisierungstheorien anfangs auch die vom Zweiten Weltkrieg zerstörten europäischen Gesellschaften zu ihren Adressaten

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zählten, und obwohl Modernisierungprozesse grundsätzlich auch in allen »westlichen« Gesellschaften vorausgesetzt werden, konzentrierte sich die durch die Modernisierungstheorien geleitete Forschung sehr bald in erster Linie auf die Länder der sogenannten »Dritten Welt«, dass heißt auf die ehemals kolonialisierten Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Historisch ausschlaggebend war dabei die formale Unabhängigkeit der letzten ehemals europäischen Kolonien. Klaus-Georg Riegel fasst die folgenden Kriterien zusammen, die die Modernisierungstheorien mit Bezug auf die »Dritte Welt« definieren: 1. Die bereits erreichte Moderne der westlichen Gesellschaften – allen voran der US-amerikanischen – wird zum paradigmatischen Vorbild und zum teleologischen Zielpunkt von Modernisierungsprozessen in allen anderen Ländern. 2. Die zu modernisierenden Gesellschaften werden als »traditionale« Gesellschaften verstanden. »Tradition« wird zum Synonym des Nicht-Modernen. »Moderne« und »Tradition«, so die Grundannahme der Modernisierungstheorien, schließen sich gegenseitig aus. Ein erfolgreicher Modernisierungsprozess besteht darin, traditionale Gesellschaften in moderne Gesellschaften zu verwandeln. 3. Um einen solchen Prozess überhaupt initiieren zu können, sind modernisierungswillige, an den Werten der westlichen Gesellschaften orientierte Eliten Voraussetzung. 4. Erfolgreich kann ein Modernisierungsprozess nur verlaufen, wenn er in allen denkbaren institutionellen Bereichen durchgesetzt wird. 5. Und schließlich gehen die Modernisierungstheorien davon aus, dass die »koloniale Durchdringung« der meisten Gesellschaften bereits als Beginn oder als Vorbereitung der Modernisierung verstanden werden kann (vgl. Riegel 1995: 349-350). Besonders die Vorstellung, dass Modernisierung ein alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche erfassender Prozess sei, hatte für die Modernitätsforschung, die sich an den Modernisierungstheorien orientierte, zur Folge, dass sie von Anfang an fächerübergreifend sein musste. Sie verband verschiedene Disziplinen der Sozialwissenschaften, allen voran die Politikwissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften und selbstverständlich die Soziologie. »Modernisierung« wird somit zu einem prägenden Begriff, der weit über die Grenzen einzelner Disziplinen hinausgeht. Wie sehr sich die unterschiedlichen Disziplinen mit diesem neuen Begriff identifizieren, beweisen die Einträge in den jeweiligen Hand- und Wörterbüchern, Lexika und Enzyklopädien. Besonders zwischen den jeweiligen Einträgen zu »Modernisierung«, »Moderne«, bzw. »Modernisierungstheorien« in politikwissenschaftli-

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chen und soziologischen Nachschlagewerken lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Sowohl Inhalte als auch Literaturkanon sind in den meisten Fällen nahezu identisch. Eine eigene Akzentsetzung lässt sich hingegen in wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen beobachten. Dort ist, wie zum Beispiel im Palgrave-Dictionary of Economics, von »development economics« und nicht von »modernization« oder »modernization theory« die Rede.1 Obwohl es durchaus auch Überschneidungen mit der politikwissenschaftlichen oder soziologischen Diskussion gibt, ist der wirtschaftswissenschaftliche Literaturkanon ein eigener.2 Die Transdisziplinarität, auf welche die Beschäftigung mit »Modernisierung« verpflichtet, resultiert daraus, dass der Begriff auf umfassende Prozesse sozialen und kulturellen Wandels, politischer Trans-

1

Begutachtet man die Literatur, so wird deutlich, dass auch unter NichtÖkonomen ein Unterschied zwischen Modernisierungs- und Entwicklungstheorien gemacht wird. Dabei heißen Modernisierungstheorien jene Theorien, die vor allem in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten konzipiert wurden und die Debatte über die Entwicklungsmöglichkeiten der so genannten »Dritten Welt« in Gang gebracht haben. Wichtige Autoren sind vor allem David E. Apter, Shmuel N. Eisenstadt, Daniel Lerner, Edward Shils u.a. Entwicklungstheorien gehen über diesen Kreis hinaus und beziehen sich auch auf solche Theorien, die die Grundannahmen der Modernisierungstheorien zwar kritisieren, jedoch ihr Ziel, eine Globaltheorie gesellschaftlicher Entwicklung zu artikulieren, teilen.

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Konsultiert wurden folgende Werke: 1. Soziologie: Encyclopedia of Sociology, Vol. 3 (Hg. Edgar Borgatta und Marie L. Borgatta, New York: Macmillan Publishing Company (1992); Soziologische Stichworte. Ein Handbuch (Raymond Boudon/François Bourricaud), Opladen: Westdeutscher Verlag (1992); Grundbegriffe der Soziologie (Hg. Bernhard Schäfers), Opladen: Leske + Budrich (2003). 2. Politikwissenschaften: Lexikon der Politik. Band I: Politische Theorien (Hg. Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze), München: C.H. Beck (1995); Handbuch der Dritten Welt. 1. Grundprobleme, Theorien, Strategien (Hg. Dieter Nohlen und Franz Nuschler), Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. (1992). Wirtschaftswissenschaften: Clive Bell, »Development Economics«, in: The New Palgrave A Dictionary of Economics (Hg. John Eatwell/Murray Millgate/Peter Newman, The MacMillan Press: London (1998): 818-26.

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formation und/oder wirtschaftlicher Entwicklung hinweist, die in der Regel als zusammengehöriges Paket verstanden werden. Der Anspruch der »Globaltheorie« (Menzel 1992) paart sich mit dem, ein Forschungsprogramm mit politisch-praktischen Ansprüchen auf den Weg zu bringen, welches die Koordination unterschiedlicher Prozesse wie Produktivitätssteigerung, Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, Urbanisierung, Alphabetisierung, soziale Mobilisierung und Demokratisierung (vgl. Menzel 1992: 17) in ehemals kolonialen Gesellschaften beabsichtigt3. Heute gibt es zwar Bestrebungen, die Modernisierungstheorien wieder zu aktualisieren (vgl. Tiryakian 1991; Schmidt 2006, 2007), weitestgehend werden sie aber als gescheitert angesehen. Die zerschlagende Kritik kam vor allem aus den Reihen der Modernisierungsund Entwicklungstheoretiker selbst und wurde dadurch verstärkt, dass das zentrale politische Ziel, nämlich die Angleichung der Gesellschaften der »Dritten Welt« an die Standards westlicher Gesellschaften, auch nach Jahrzehnten der Implementierung politischer Maßnahmen, die sich an den Modernisierungstheorien orientierten, nicht zu gelingen schien (vgl. Menzel 1992: 27; 131-132). Neben diesem primär »politischen« Problem stellte sich noch ein weiteres, eher »kognitives« Problem ein, das sich als Komplexitätszuwachs der »imaginierten Geografie« (Said), auf deren Grundlage die Modernisierungs- und Entwicklungstheorien operierten, verstehen lassen kann. Es wurde nämlich schon im Zuge der Debatten um die Modernisierungstheorien – vor allem in der Kritik der sogenannten Dependenztheorien (vgl. Kapitel 8.4) – eingesehen, dass die Zuordnungskategorie »Dritte Welt« zu grob ist und dass deutlicher auf die Unterschiede eingegangen werden müsste, die zwischen den einzelnen Gesellschaften, die dieser Kategorie zugeteilt wurden, bestehen.4 Zusätzlich verschärfte sich dieses Differenzbewusstsein mit dem Ende des

3

Bei anderen Autoren kommen teilweise andere Aspekte hinzu. Johannes Berger schreibt: »Forschungspraktisch werden unter Modernisierung eine Vielzahl von Prozessen, die mit der Entstehung und Ausbreitung moderner Gesellschaften einhergehen, verstanden: Industrialisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung, Urbanisierung, Bildungsexpansion, Säkularisierung etc.« (Berger 1996: 47).

4

In dieser Diskussion sind die Beiträge von Arturo Escobar besonders prominent (vgl. Escobar 2004).

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Kalten Krieges, denn dadurch wurde die Aufteilung aller Gesellschaften der Welt in grundsätzlich nur drei unterschiedliche Kategorien – »der Ersten«, »der Zweiten« und der »Dritten Welt« – hinfällig. Ulrich Menzel schrieb in diesem Zusammenhang: »Begriffe wie ›Dritte Welt‹ und ›Nord-Süd-Konflikt‹ hatten nur so lange eine solide Basis, solange das gemeinsame Interesse nach nationaler Unabhängigkeit der Kolonien auf der Tagesordnung stand. Seitdem machen sie aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen, der unterschiedlichen politischen Systeme und des fortschreitenden Differenzierungsprozesses keinen Sinn mehr, von der kulturellen und historischen Vielfalt der betroffenen Länder ganz zu schweigen. Existiert haben sie vor allem in der politischen Propaganda, in den Projektionen der westlichen Intellektuellen und in den großen Theorien über Entwicklung und Unterentwicklung« (41-42).

Nun liegen in diesem Zitat zwar Aussagen, die genauer diskutiert werden müssten – sind die kolonialen Bedingungen der sogenannten Dritten Welt wirklich überwunden? Ist es wirklich so, dass die genannten Begriffe keinen Sinn mehr ergeben?5 – aber grundsätzlich treffen Menzels Gedanken hier schon sehr genau ein gesteigertes Differenz-, Komplexitäts- und Kontingenzbewusstsein, das die politischen und soziologischen Theorien bereits seit einiger Zeit zwingt, ihre begrifflichen und epistemologischen Voraussetzungen zu hinterfragen. In einem etwas später veröffentlichten Buch (1998) bezieht sich Menzel auf diese Entwicklung, indem er Begriffe wie »Postmoderne« und Habermasʼ Diktum von der »neuen Unübersichtlichkeit« verwendet. Mit diesem Verweis auf Debatten, die bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts unabhängig von den Debatten über Modernisierungs- und Entwicklungstheorien entstanden sind, lässt sich sehr eindrucksvoll belegen, wie tief das Misstrauen gegen jede Form von Globaltheorien gegen Ende der 80er Jahre bereits gewesen sein muss. Die mit dem Verweis auf die Postmoderne einhergehende Anspielung auf die Vorstellung vom »Ende der Metanarrativen« (Lyotard) lässt bereits erahnen, dass der Glaube an die »Globaltheorie« der Modernisierung oder der Entwicklung schon aus theorieimmanenten Gründen aufgegeben werden müsse.

5

Zu dieser Frage auch Kapitel 7.4.

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Wie dem auch sei, die Wahrnehmung weltpolitischer Differenzierungsprozesse, denen so einfache Zuordnungsschemata widersprechen, die die Welt in drei Teile zu teilen beanspruchen, gepaart mit dem zunehmenden Verdacht gegen jede Art der Metanarrative, bewegt auch den Entwicklungstheoretiker Menzel zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dazu, »Theorien mittlerer Reichweite« den Vorzug zu geben (vgl. Menzel 1992: 38; 1993: 43). Vor dem Scherbenhaufen der »großen Theorien«, an dessen Anblick wir uns heute wohl gewöhnt haben, drängt sich aber die Frage auf, wodurch ein derart ambitioniertes Unternehmen, wie es die Modernisierungstheorien darstellten, überhaupt einmal zusammengehalten wurde? Ich möchte im Folgenden zwei Antwortversuche auf diese Frage entwickeln. Im Mittelpunkt des ersten steht die politische Absicht. Der zweite wird sich mit dem epistemologischen Mechanismus beschäftigen, der die Modernisierungstheorien mit dieser politischen Absicht kompatibel macht. Dieser epistemologische Mechanismus liegt in der Kombination einer »zeitlichen Logik« mit einem »atopischen Charakter«. Gerade diese epistemologischen Probleme sind bis heute nicht ausgiebig diskutiert worden und haben die Modernisierungstheorien deshalb in anderen Diskursen überlebt. Eine Kritik dieser Problemkombination versteht sich nicht nur als epistemologische Herausforderung, sondern zwangsweise als politische.

3.3 M ODERNISIERUNGSTHEORIEN ZWISCHEN I DEOLOGIE UND EPISTEMOLOGISCHER F ALLE »Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Entkolonialisierung, zunächst in Asien und seit Ende der 1950er Jahre auch in Afrika, sowie der Ausbruch des Ost-West-Konflikts machten es aus amerikanischer Sicht notwendig, der wachsenden Attraktivität des sowjetischen Modells, das seine Zuständigkeit auch für die ehemaligen Kolonien reklamierte, eine eigene Gesellschaftstheorie entgegenzusetzen, aus der wiederum entwicklungspolitische Konsequenzen abzuleiten waren« (Menzel 1993: 21; vgl. auch Berger 1996). Die Kritik an den Modernisierungstheorien wird durch den Ideologieverdacht, das heißt, von der Vorstellung, dass sie ihre Existenz politischen Absichten und Funktionen verdanken, beherrscht. Ich glaube aber, dass eine politische Funktionalisierung der Modernisierungstheorien nicht ihr einzi-

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ges Defizit war. Auch die politische Reichweite der Modernisierungstheorien wird nicht verstanden, wenn sich die Kritik an diesen Theorien zu eng auf die Kritik der US-amerikanischen Außenpolitik beschränkt. Das wiederum bedeutet nicht, dass die Modernisierungstheorien politisch naiv gewesen wären. Um aber die politische Reichweite dieser Theorien zu verstehen, müssen wir uns zunächst auf ihre epistemologischen und begrifflichen Probleme besinnen. Der politische Ge- und Missbrauch von Theorien geht immer nur so weit, wie es die Theorien erlauben. Einen Schritt gegen jede Art von Verschwörungstheorie zu denken, unternahm Pierre Bourdieu im Rahmen seiner Habitus-Theorie. Um seiner Idee Ausdruck zu verschaffen, bediente er sich eines Satzes des Philosophen Gilbert Ryle, wonach man nicht sagen könne, dass ein Glas zerbrochen sei, weil ein Stein es getroffen habe, sondern weil es zerbrechlich war (vgl. Bourdieu 2001: 190). Für die Modernisierungstheorie ist dies ein sehr passendes Bild. Es bedeutet, dass sie nicht politisch missbraucht wurde, weil sich ihre Entstehungsgeschichte mit dem politischen Ereignis der Einrichtung einer, heute würde man sagen: »neuen Weltordnung« deckte, sondern weil innere theoretische und begriffliche Anlagen in ihr diesen Missbrauch möglich gemacht haben. Richtig ist aber auch, dass die Modernisierungstheorien tatsächlich in den Vereinigten Staaten entstanden sind und dass sie durchaus politisch instrumentalisiert wurden. Dies sieht auch Wolfgang Knöbl so, der vor einigen Jahren für den deutschsprachigen Raum eine der vollständigsten Arbeiten zu diesem Thema vorgelegt hat (Knöbl 20016). Knöbl vertritt die Ansicht, »daß es die neue weltpolitische Rolle der USA gewesen ist, welche die amerikanischen Sozialwissenschaften und vor allem die Soziologie ›zwang‹, sich für makrosoziale Phänomene und Wandlungsprozesse zu öffnen« und dass nicht »eine fachinterne oder theorieimmanente Entwicklung [...] die Soziologie auf neue Gebiete vorstoßen« ließ, »sondern eher ein äußerer, nämlich politisch induzierter Impuls« (33). Gleichzeitig besteht Knöbl aber darauf, dass sich eine Kritik an den Modernisierungstheorien nicht auf diesen ideologischen Aspekt beschränken darf. Auch er ist davon überzeugt, dass es darum gehen müsse, die theoretisch-begrifflichen Schwierigkeiten in den Blick zu bekommen. Dazu tauscht er die ideologiekritische

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Ergänzend jetzt dazu Knöbl 2007.

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Herangehensweise gegen eine »wissenschaftshistorische« Methode aus (Knöbl 2001: 33-34). Die ideologiekritische Abstinenz bringt zunächst wieder das zum Vorschein, was die Modernisierungstheorie eben auch war, nämlich eine »Globaltheorie sozialen Wandels«, die den nicht gerade bescheidenden Anspruch hatte, dass ihre Aussagen auch in »anderen, zumeist ärmeren bzw. ›unterentwickelten‹ Ländern« (34) gültig sein sollten. Nun war es wahrscheinlich immer schon dieser Anspruch der Gültigkeit grundsätzlich überall auf der Erde, der den Modernisierungstheorien eine nicht unberechtigte Kritik bescherte. Aber neben der Frage, ob dabei bewusst politisch manipulierte Motive in diese Theorien eingegangen seien oder nicht, ließe sich auch fragen, wie kompetent die Modernisierungstheorien waren, etwas über diese »anderen Länder« auszusagen. Konkreter noch: Wie überzeugend waren die epistemologischen und methodologischen Werkzeuge der Modernisierungstheorien, um Wissen zu produzieren, das auch außerhalb der Vereinigten Staaten gültig sein sollte? Knöbls wissenschaftshistorischer Ansatz verfolgt den Ursprung der Modernisierungstheorien im Kontext der Geschichte der US-amerikanischen Soziologie bis um das Jahr 1915 zurück. Er kommt dabei zu dem ernüchternden Ergebnis, dass bis 1940 kein großes Interesse an sozialen Prozessen außerhalb der Vereinigten Staaten bestanden habe.7 Eine deutliche Wende beobachtet er erst in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts; jene Zeit, die er auch als »die kurze Blüte der Modernisierungstheorie« versteht. Begeistert schreibt Knöbl:

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Ähnliches unterstellt Knöbl auch der europäischen klassischen Soziologie. Die »kulturvergleichende Tradition der europäischen Soziologie«, für die vor allem Durkheim und Weber als Beweise zitiert werden, ließe sich allenfalls als Ausnahmen der Regel verstehen und sei keineswegs typisch (156). Hier kommt es aber, so denke ich, darauf an, wo man die Soziologie beginnen lässt. In einem auf Raimond Aron sich beziehenden Aufsatz nahm die mexikanische Soziologin Gina Zabludovsky kürzlich eine Revision von Montesquieu, Comte, Marx und Tocqueville vor, in der es ihr gelang nachzuweisen, dass sich ein Bewusstsein der geographisch verteilten kulturellen Vielfalt bei diesen Autoren zumindest sehr deutlich nachweisen lässt (Zabludovsky 2007).

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»Man mag im Rückblick das verwendete theoretische Gerüst, das als Leitfaden der Forschung diente, kritisieren; man kann auch fragen, ob die damals gewonnenen Materialien heutigen methodologischen Ansprüchen genügen würden. Es bleibt aber das große Verdienst der Modernisierungstheorie und -forschung, daß sie für die jeweilige Disziplin – für die Ökonomie, die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Psychologie usw. – völlig neue Welten empirisch erschlossen haben. Die fast ausschließliche Beschäftigung mit den je ›eigenen‹ nationalen Strukturen und Problemen hatte ein Ende« (155).

Eine ausschließlich ideologiekritische Lektüre der Modernisierungstheorie hätte also vermutlich die Tatsache übersehen, dass die Modernisierungstheorien tatsächlich einen wichtigen und notwendigen Beitrag zur Überwindung des Provinzialismus des soziologischen Denkens darstellten und sich in ihnen ein Weltbewusstsein im planetarischen Sinne auszubuchstabieren begann. Die Beschäftigung mit »Moderne« und »Modernisierung« hätte also einen deutlichen Akzent auf Globalität gesetzt. Aber es ist ja gerade auch dieser Anspruch auf Globalität, der nicht zuletzt für die vielen Kontroversen, die sich um die Modernisierungstheorien entzündeten, verantwortlich gewesen ist (Berger 1996: 49). Denn gerade als Globaltheorie waren die Modernisierungstheorien oft voreilig, indem sie Erkenntnisse, die sie in »westlichen« Gesellschaften gewonnen hatten, auf alle anderen Gesellschaften projizierten. Eines der entscheidenden begrifflich-theoretischen Defizite der Modernisierungstheorie liegt nach Wolfgang Knöbl denn auch in der beschränkten Fähigkeit, »unterschiedliche Logiken der Moderne« wahrzunehmen (Knöbl 2001: 217-218). Wie lässt sich dieses Defizit aber epistemologisch erklären? Die Modernisierungstheorien scheinen ihre mangelnde Differenzfähigkeit durch ihre »zeitliche Logik« auszugleichen. Was unter »zeitlicher Logik« zu verstehen ist, und wie diese mit Differenz umgeht, soll in den folgenden Absätzen erörtert werden. Dabei wird die »zeitliche Logik« in einem politischen Kontext erscheinen, der über die US-amerikanische Geopolitik nach dem zweiten Weltkrieg hinausführt.

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3.4 E INE

KURZE G ESCHICHTE DER ZEITLICHEN L OGIK

Die Frage, die bisher im Mittelpunkt stand, lautet: Inwieweit hat die Entdeckung, Eroberung und Kolonialisierung der Welt das Denken der Moderne bis in die aktuelleren Sozialtheorien hinein beeinflusst? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist nicht einfach. Wie gesehen, scheint es, als orientiere sich das moderne Denken vor allem an der Zeit. Die räumliche »Expansion« hingegen wurde, zumindest bis zum Aufkommen der Globalisierungsdebatte, von der Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts kaum explizit thematisiert. Gerade diese eigenartige Enthaltung impliziert aber bereits Aussagen über das moderne Verständnis des Raums. Wie wir am Beispiel der Modernisierungstheorien gesehen haben, zeichnet sich dieses dadurch aus, dass lokal-qualitative Unterschiede metatopischen Ansprüchen untergeordnet werden. Dies gilt besonders für die normativen Ansprüche; diese sollen auf keinen Fall mehr auf bestimmte Regionen oder Orte beschränkt bleiben, sondern grundsätzlich für alle Gesellschaften überall auf der Welt gelten. Dieser metatopische Anspruch des modernen Denkens steht also in direktem Zusammenhang mit seinem Universalitätsanspruch (vgl. Friedland/Boden 1994: 4), welcher bereits im christlichen Denken einen wichtigen Vorreiter hatte (vgl. Angenendt 2005), sich aber, wie bereits gesehen, in Form eines abstrakten »Kosmopolitismus« in die Geschichte der modernen Wissenschaft eingravierte (vgl. Kapitel 2.2). Aber genau dieser Universalitätsanspruch, im Sinne eines Gültigkeitsanspruchs, der keine geografischen Grenzen kennt, impliziert ein bestimmtes Zeitbewusstsein. So schreibt Charles Taylor: »People cannot conceive a metatopical agency having authority that is not grounded somehow in higher time, be it through the action of God or the Great Chain or some founding in illo tempore« (Taylor 2004: 187).

Taylor zeigt, dass dies auch für die Moderne gilt, in der sich das Zeitbewusstsein als durch und durch profanes beschreiben lässt (vgl. ebd. 194)8.

8

»Modernity is secular, not in the frequent, rather loose sense of the word, where it designates the absence of religion, but rather in the fact that reli-

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Ganz konkret richtet sich das neue Zeitbewusstsein der Moderne in Form einer »Fortschrittstheologie« ein (vgl. Koselleck 2000: 194; auch Habermas 1989), wobei das »neue Wissen« immer schon als »überlegene Wahrheit« begriffen wird (Koselleck 2000: 195). Ein frühes Beispiel für diese Tendenzen liefert Giambattista Vico (1668– 1744). Kaum ein Denker des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts hat so deutlich die spätere Geschichtsphilosophie angekündigt, wie sie im 19. Jahrhundert zur Reife kommen sollte. Vico verglich nicht nur die »Methoden« seiner »neuen« Zeit mit denen der »alten« (vgl. Vico 1990), sondern er nahm bereits die Vorstellung von der Kulmination der Geschichte, vom »Ende der Geschichte«, voraus, denn die neue Zeit und ihr metatopisches Denken verstand er im Vergleich zur alten Zeit auch als die überlegenere. Politische Motive finden sich in Vicos Denken nicht nur in der immer wichtiger werdenden Vorstellung einer »Welt der Nationen« (Vico), sondern auch in den Konsequenzen der europäischen Expansion der Welt.9 Adressat des neuen Wissens war für Vico »man in the whole society of the human race« (Vico 1984: 70).10

gion occupies a different place, compatible with the sense that all social action takes place in profane time« (Taylor 2004: 194). 9

Zwar setzt Koselleck den Verweis auf die »anwachsende Erfahrung von der Landnahme in Übersee« (Koselleck 2000: 190) strategisch zur Erklärung dafür ein, dass das Geschichtsdenken der Moderne eine höhere Sensibilität für standortbedingte Besonderheiten in der Geschichtsschreibung entwickeln konnte. Es ist aber genauso plausibel, das europäische Projekt der Weltbeherrschung und die auf dem Weg dazu »entdeckten« kulturellen Unterschiede als Ursache für die frenetische Suche nach neuen metatopischen Gewissheiten zu verstehen.

10 In diesem Punkt geht das erkenntnistheoretische Streben der Philosophie über das der Geschichtswissenschaften hinaus. Wie Koselleck ebenfalls gezeigt hat, begleitet die Ausprägung des modernen Geschichtsdenken auch ein Bewusstsein der Relativität des jeweiligen Standpunktes (vgl.: Koselleck 2000: 176-207). Das heisst, »die zeitliche Gliederung der Geschichte hängt seitdem ab von dem [räumlichen] Standort« (185). Gegen den dadurch möglichen Relativismus wehrte sich allerding das durch Descartes repräsentierte Denken ernergisch. Toulmin zitiert Descartes in diesem Zusammenhang: »History is like foreign travel. It broadens the mind, but it does not deepen it« (zit. in: Toulmin 1992: 53).

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Philosophen waren allerdings nicht die Erfinder des neuen Zeitbewusstseins. Sie reflektieren vielmehr Tendenzen, die den allgemeineren kulturellen und sozialen Veränderungen entsprachen, welche sich in der von Reinhart Koselleck so genannten »Sattelzeit« (1750-1850) durchsetzten. Zusammengefasst lassen sie sich als »Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung« verstehen (Koselleck 2000: 303). Hinter dieser Formel verbirgt sich der Versuch, den Übergang eines qualitativen Zeitbewusstseins zu einem quantitativen zu beschreiben, dessen wichtigster Garant die mechanische Zeitmessung werden sollte. Wolfgang Reinhard hat daran erinnert, dass die mechanische Uhr bereits in China bekannt war, lange bevor sie in Europa wiederentdeckt wurde (Reinhard 2006: 583). Er betont aber auch, dass sie in China wieder in Vergessenheit geriet, weil man sie vermutlich nicht »brauchte« (ebd.). Stellt sich die Frage, wozu man Uhren »brauchen« kann. Auch hierauf gibt Reinhard eine Antwort: Sie erlauben die Errichtung wirtschaftlicher (582) wie auch politischer (595) Ordnung in »komplexen Kulturen« (583), wie sie die moderne Weltkultur sein will, in der sich qualitative Zeitvorstellungen im Kampf der Kulturen gegenseitig aufreiben würden. Koselleck hat die Quantifizierung der Zeit, die »Verzeitlichung der Zeit«, in erster Linie am Beispiel des modernen Geschichtsdenkens plausibel gemacht. Damit will er die Grundaussage seiner Überlegungen aber gerade nicht auf den engeren Kreis der Geschichtswissenschaften beschränkt wissen. Es lässt sich schon vermuten, dass diese »zeitliche Logik« der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens allgemein entspricht, wie es Toulmin unter dem Begriff Cosmopolis zusammengefasst hat (vgl. Toulmin 1992; auch Kapitel 2.2). Aber Koselleck geht noch weiter. Ihm ist es wichtig zu zeigen, dass sich die »zeitliche Logik« auch in nicht wissenschaftlichen Bereichen durchsetzt: »Die bisherigen Belege zeigten bereits, wie schnell die zeitlichen Grundbegriffe in den Alltag und in die publizistische Öffentlichkeit hinübergewandert waren. Die ›Zeit‹ gehörte deshalb zu jenen Schlagworten, von denen Clausewitz sagte, daß sie die in der Welt am meisten mißbrauchten sind« (Koselleck 2000: 339).

Die Verbreitung der »Zeit« versteht Koselleck in erster Linie als ein semantisches Phänomen. Ihr Übergreifen auf andere Lebensbereiche

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erklärt sich aber nur, wenn neben der semantischen Proliferation der Zeitbegriffe (»Fortschritt«, »Entwicklung«, »Krise«, »Zeitgeist« etc.) pragmatische und über beiden logische Aspekte angenommen werden. In der »Verzeitlichung der Zeit«, so ließe sich mit Bezugnahme auf Koselleck behaupten, besteht das Grundverständnis der »Neuzeit«. Es besagt, dass die Zeit nicht mehr bloß als Chronologie, das heißt, als formales Fortschreiten von einem Zeitabschnitt zum nächsten gedacht wird, sondern dass eine »zeitliche Logik« im Verständnis von Zeit (und Geschichte) zu dominieren beginnt. Diese Zeit, die in der Zeit (bzw. der Geschichte) wirkt, wird als dynamische Kraft verstanden. Koselleck schreibt: »Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte« (321).

Damit verändert sich auch das Verständnis der Vergangenheit. Diese ist nun nicht mehr nur eine »vergangene Gegenwart«, sondern variiert gemäß der wachsenden Distanz des gegenwärtigen Beobachters. Auch diese Erkenntnis wird allerdings durch das für die »Neuzeit« charakteristische »dynamische« Zeitverständnis ergänzt, denn auch das neue Verständnis von der Vergangenheit wurde noch als Fortschritt ausgelegt (vgl. 327). Gerade in dieser Idee des Fortschritts liegt also das verborgen, was ich hier als »zeitliche Logik« begreifen möchte. Aus dieser »zeitlichen Logik« leiten sich nicht zuletzt die Kriterien ab, die für pragmatische Zwecke in den verschiedensten Lebensbereichen eingesetzt werden. Für die Politik bemerkte Koselleck: »Kaum jemand vermochte sich dem Zeitbegriff und dem, was er leisten sollte, zu entziehen. Die ‚Zeit‹ wirkte in den ganzen Sprachhaushalt und färbte seit der Französischen Revolution spätestens das gesamte politische und soziale Vokabular. Es gibt seitdem kaum einen zentralen Begriff der politischen Theorie oder der sozialen Programmatik, der nicht einen zeitlichen Veränderungskoeffizienten enthielte, ohne den nichts mehr erkannt, nichts mehr gedacht oder argumentiert werden konnte, ohne den die Zugkraft der Begriffe verloren gegangen wäre. Die Zeit selber wurde zu einem allseitig besetzbaren Legitima-

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tionsmittel. Spezielle Legitimationsbegriffe waren ohne zeitliche Perspektiven nicht mehr möglich« (339).

Die Kriterien, welche die »zeitliche Logik« vorgibt und die zu einem der wichtigsten Bewertungsmaßstäbe werden sollten, sind die des »Vorher« und »Nachher« bzw. die des »zu früh« und des »zu spät« (325). Die erfolgreiche Reduktion des modernen Denkens auf die »zeitliche Logik« und die Säkularisierung des metatopischen Charakters des modernen Denkens nahmen ihren Lauf und sollten in den Modernisierungstheorien aktualisiert werden.

3.5 Z EITLICHE L OGIK , METATOPISCHE G EWALT UND K OLONIALISMUS ALS R EFERENZPUNKTE DER M ODERNISIERUNGSTHEORIEN Die »zeitliche Logik« und ihre Bedeutung für modernes Denken und Tun blieben nicht unbemerkt. Walter Benjamin erkannte in ihr bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ideologisches Werkzeug des Kapitalismus, das selbst der Marxismus unbedarft reproduzierte (Benjanim 1992). Auch in anderen Teilen der Welt wurde Verdacht gegen die zeitliche Logik geäußert, wie wir am Beispiel Octavio Pazʼ noch sehen werden (Kapitel 9,10). Trotzdem sollte die zeitliche Logik zum epistemologischen Rückgrat der Modernisierungstheorien werden. Die meisten Kommentatoren sind sich darin einig, dass sich die Modernisierungstheorien direkt aus einigen Elementen der Sozialtheorie Talcott Parsonsʼspeisten (Knöbl 2001; Larrain 1989). Von ganz besonderer Bedeutung ist dabei das Theorem der »pattern variables«, mit dem es Parsons gelang, das Thema grundsätzlich unterschiedlicher Gesellschaftsformen, an dem sich fast alle klassischen Sozialtheoretiker vor ihm abarbeiteten11, neu zu formulieren. Der Vorteil, den Parsonsʼ Kategorien zum Beispiel gegenüber den Tönniesschen (»Gemeinschaft« und »Gesellschaft«) hatten, liegt darin, dass sie vor Ontologisierungen sicherer waren. Parsons bemühte sich zu zeigen, dass in Tönniesʼ Unterscheidung zwischen »Gesellschaft« und »Gemein-

11 Ganz deutlich Ferdinand Tönnies, indem er »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« gegenüberstellte. (vgl. Tönnies 1991)

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schaft« eine Reihe von Handlungsorientierungen unterschieden werden müssten. Während für Handeln in »Gemeinschaften« »affectivity«, »collectivity orientation«, »particularity«, »ascription« und »diffuseness« die entscheidenden Handlungparameter seien, gelten für »Gesellschaften« »affective neutrality«, »self-orientation«, »universalism«, »achievement« und »specificity« (Parsons 1951: 58-67). Die Kombinationsmöglichkeiten, die sich aus diesen unterschiedlichen Aspekten des Handelns ergeben, ermöglichen Handlungskategorisierungen, die wesentlich komplexer sind als es die einfacheren dualistischen Theorien vorsehen (vgl. Joas/Knöbl 2004: 114; Knöbl 2001: 169ff). Parsonsʼ »pattern variables« können also einerseits zwar als Anschluss an die dualistischen Formen, unterschiedliche Gesellschaftstypen zu unterscheiden, verstanden werden. Gleichzeitig bedeuten sie aber auch einen Schritt darüber hinaus, denn mit ihrer Hilfe wurde es möglich, auf ambivalentere Handlungssituationen zu reagieren. Gerade dieses Mehr an Komplexität wird aus den Modernisierungstheorien aber wieder herausgekürzt. In ihnen wird also hinter Parsons zurückgegangen. Verantwortlich für diese Regression ist vor allem der Begriff der Tradition, der in der Modernisierungstheorie eine zentrale Rolle spielte, aber auch eines der zentralen begrifflich-theoretischen Probleme darstellte (vgl.: Knöbl 2001: 217). Edward Shils erklärte: »›Traditional‹ is used to designate whole societies which change relatively slowly, or in which there is a widespread tendency to legitimate actions by reference to their having occurred in the past or in which the social structure is a function of the fact that legitimations of authority tend to be traditional. Practically all current macrosociological classifications of types of whole societies rest in various ways on the distinction between the ›traditional‹ and ›nontraditional‹ or ›modern‹« (Shils 1975: 183).

Ein nach wie vor klassisches Beispiel für diese Dichotomie, die für alle Modernisierungstheorien paradigmatisch werden sollte, ist Daniel Lerners The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East (Lerner 1958). Gerade der Vorwurf der dualistischen Reduktion ist es aber, den David Riesman, der die Einleitung zu diesem Buch schrieb, explizit zurückweist: »Most typologies in sociology are dualistic or dichotomous: folk-urban; Gemeinschaft-Gesellschaft; status-to-contract; cosmopolitan-local; sacred-secular;

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and so forth. Mr. Lernerʼs cast of characters puts the Moderns on the one side – they are cosmopolitan, urban, literate, usually well-off, and seldom devout – and the Traditionals on the other side – they are just opposite. But in between he puts several categories of Transitional: people who share some of the empathy and psychic mobility of the Moderns while lacking essential components of the Modern style, notably literacy« (Riesman in Lerner 1958: 13).

Riesman will hier offensichtlich unterstreichen, dass das »dynamische« Modell Lerners »statischeren« Modellen gegenüber im Vorteil sei. Was hier als Vorteil erscheint, könnte aber in heuristischer Hinsicht als Nachteil verstanden werden. Die »statischeren« Dualmodelle zeichnen sich häufig durch eine viel höhere analytische Sensibilität aus. Dass lässt sich schon von Tönniesʼ Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« sagen, aber auch von den handlungstheoretisch motivierten Parsonschen »pattern variables«.12 Eine der Konsequenzen der »Dynamisierung« der Modernisierungstheorien ist es schließlich, dass die Definitionen dessen, was »modern« oder »traditional« bedeutet, immer schematischer wurden. Im Vergleich zu so inhaltsreichen Definitionen, wie sie Tönnies von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« entwickelt hat, oder so widersprüchlichen Kombinationsmöglichkeiten, wie sie Parsons Instrument der »pattern variables« vorgesehen hatte, verliert die Gegenüberstellung des »Modernen« und des »Traditionalen« in den Modernisierungstheorien in spektakulärer Weise an Schärfe. Dies lässt sich am Beispiel von Lerners Theorie zeigen. Ihr zufolge geht es nur noch darum, Grade von Urbanisierung, Alphabetisierung sowie Medien- und politischer Partizipation festzustellen und – darin liegt das dynamische Moment – zu bestimmen, in welchem Grad sich Gesellschaften in urbanisierte, alphabetisierte Gesellschaften mit ei-

12 Knöbl schreibt im Zusammenhang seiner Diskussion eines anderen frühen Modernisierungstheoretikers, Marion J. Levy: »[W]ährend Parsons die ›pattern variables‹ als bloße analytische Instrumente begriff, die zur Umschreibung und Durchdringung höchst widersprüchlicher gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse hilfreich waren und es auch in Zukunft sein würden, machte Levy aus den ›pattern variables‹ ein von ihm linear verstandenes Erklärungsmodell für makrosoziale Wandlungsprozesse« (Knöbl 2001: 172).

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nem zunehmendem Potenzial an medialer und politischer Partizipation verwandeln (vgl. Lerner 1958: 69). Rainer Lepsius hatte bereits festgestellt, wie sehr der Begriff der Modernisierung dabei verwässert wird. Als »neutraler Sammelbegriff für nicht näher bezeichnete Prozesse hebt [er] ab von Traditionalität, und das meint empirisch den jeweils vorliegenden Ausgangsstand der zu beschreibenden Entwicklungsprozesse« (Lepsius 1977: 11).

Voraussetzung dafür, dass eine solche Kategorisierung von Gesellschaften überhaupt einigermaßen glaubwürdig erscheinen konnte, ist zweierlei: Zum einen muss es trotz der schematischen theoretischen Kategorien eine recht klare Vorstellung davon geben, wie moderne Gesellschaften tatsächlich konstituiert sein sollen. Für Lerner (wie wohl für die meisten Modernisierungstheoretiker) stand fest, dass das ultimative Modell der »modernen« Gesellschaft die Vereinigten Staaten waren (vgl. Lerner 1958: 45). Lerner gibt in gewisser Weise zu, dass der Begriff der Modernisierung bewusst unterdeterminiert bleiben soll, um eben den Verdacht der »Amerikanisierung« vorbeugend zu entkräften: »[...] Middle Easterners more than ever want the modern package, but reject the label ›made in the U.S.A.‹ (or for that matter, ›made in the USSRʼ). We speak, nowadays, of modernization« (45).

Zum anderen, und darauf muss hier noch eindringlicher bestanden werden, fügt sich die Argumentation der meisten Modernisierungstheorien einer ganz bestimmten Weltsicht: der Vorstellung nämlich, dass es ein nahezu natürliches Streben hin zur »Moderne« und weg von der »Tradition« gebe, das in allen Gesellschaften der Erde früher oder später zur Entfaltung kommen müsse. Dabei wird nicht unterschlagen, dass die Flamme der Moderne vom »Westen« in die Welt getragen wurde, und dass für das Verständnis dieser Expansion die Geschichte der Kolonialisierung wichtig ist. Entscheidend ist für Lerner aber, dass das Modell der Moderne heute eine globale Tatsache darstelle (46) und, wichtiger noch: dass es in allen nichtwestlichen Gesellschaften Akteure gebe, die die Bereitschaft in sich tragen, die Traditionen, in denen ihre Gesellschaften noch verankert sind, gegen die Moderne einzutauschen. Diese beiden Argumente – Moderne als globale histori-

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sche Tatsache und Akteure in fast allen Gesellschaften, die Traditionen gegen Moderne eintauschen wollen – sind für Lerner ausreichend, um davon auszugehen, dass die Menschheit einen historischen Prozess erlebt, der unaufhaltsam auf das Telos der modernen (sprich USamerikanischen) Gesellschaft zusteuert. In diesem Sinne implizieren Modernisierungstheorien Aussagen über grundsätzlich alle Gesellschaften der Erde. Lerners Buch ist aber direkter. Es präsentiert Resultate von Studien über die Türkei, den Libanon, Ägypten, Syrien, Jordanien und den Iran. Ausschlaggebend ist bei allen Modernisierungstheorien ein lineares Geschichtsverständnis, nach dem die »westlichen« Gesellschaften – allen voran die Vereinigten Staaten – die Kategorien zur Verfügung stellen, nach denen nicht nur alle anderen Gesellschaften überhaupt bemessen, sondern die »westlichen« Gesellschaften auch als der undiskutierbare Endpunkt menschlicher Zivilisation gesehen werden. Modernisierungstheorien setzen also in sehr platter und unkritischer Weise jene zeitliche Logik fort, die sich – wie wir weiter oben bereits gezeigt haben – im europäischen Denken seit dem 18. Jahrhundert durchzusetzen begann. Lerner knüpft ganz selbstverständlich an diese »westliche Tradition« an. Mehr noch, er stellt sich ganz entschieden in jene Tradition des Zeitalters der Entdeckungen, der Renaissance, der Reformation sowie der Gegenreformation und der Industriellen Revolution (vgl. 43). Aber nicht nur das: Lerner bekennt sich auch recht kritiklos zu einer anderen »westlichen Tradition«, der des Kolonialismus. Das koloniale Denken wird in Lerners Theorie vor allem durch zwei Gedanken reproduziert. Zum einen ist wieder die »zeitliche Logik« entscheidend. Sie erlaubt es, eine Hierarchie von Gesellschaften zu konstruieren, die sich an rein zeitlichen Kategorien orientiert. Danach sind die »modernen« Gesellschaften (allen voran die Vereinigten Staaten) die »fortgeschritteneren« Gesellschaften, während die »traditionalen Gesellschaften« noch in der Vergangenheit verweilen. Anders gesagt: Die Unterschiede, die zwischen den »westlichen« und den »nicht-westlichen«, der »Ersten« und der »Dritten Welt«, den »entwickelten« und den »Entwicklungsländern« bestehen, werden in zeitliche Kategorien übersetzt und dem normativen Fortschrittsdenken entsprechend ausgedeutet. In kaum zu übertreffender Deutlichkeit hat der Anthropologe Johannes Fabian in seinem Buch Time and the Other (Fabian 2002) gezeigt, dass das, was ich hier »zeitliche Logik« nenne, tatsächlich dazu

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geführt hat, Gesellschaften entsprechend ihrem vermeintlichen »Vorsprung«, bzw. »Fortschritt« zu hierarchisieren. Alle Unterschiede, die sich zwischen den Gesellschaften unserer Welt nennen lassen, werden dabei in zeitliche Unterschiede übersetzt: Unterschiedliche Gesellschaften gehören unterschiedlichen Zeiten an. Entscheidend für die hierarchisierende Beurteilung ist dabei, dass unterschiedliche Gesellschaften nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt simultan existieren können. Besonders die fortgeschrittenste Epoche, die Gegenwart, aber auch die Zukunft, ist für die modernen Gesellschaften reserviert. Fabian nennt dieses Ausschlussverfahren: »denial of coevalness«. Es bedarf keiner großen Fantasie, um zu verstehen, dass dieses Ausschlussverfahren, das anderen, »nicht modernen« Gesellschaften gleiche Partizipationsrechte in unserer aktuellen modernen Welt abspricht, eine koloniale Grammatik in den Modernisierungstheorien reproduziert. Doch zurück zu Lerner. In seinem Buch finden wir nicht nur die ausschließende zeitliche Logik wieder, sondern auch den mit dieser verknüpften metatopischen Charakter, der für das Verständnis der Moderne im Sinne der Modernisierungstheorien typisch ist. Wir haben bereits gesehen, dass die zeitliche Logik im Denken der europäischen und später US-amerikanischen Moderne Versprechen artikuliert, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind. Die zeitliche Codierung des Diskurses der Moderne erlaubt die Säkularisierung metatopischer Geltungsansprüche. Neben diesem metatopischen Prinzip lässt sich Lerners Modernisierungstheorie ein atopischer Charakter unterstellen. Dieser liegt im »Mobilitäts»-Prinzip, das Lerner als ganz wesentliche Charakteristik von Modernität versteht. Geografische wie auch soziale und »psychische« Mobilität erklärt Lerner zur Grundbedingung von Modernität. Ausschlaggebend ist dabei die Erfahrung der geografischen Mobilität: »People in the Western culture have become habituated to the sense of change and attuned to its various rhythms. Many generations ago, in the West, ordinary men found themselves unbound from their native soil and relatively free to move. Once they actually moved in large numbers, from farms to flats and from fields to factories, they became intimate with the idea of change by direct experience. This bore little resemblance to the migrant or crusading hordes of yore, driven by war or famine. This was movement by individuals, each having made a personal choice to seek elsewhere his own version of a better life« (4748).

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Etwas später macht Lerner deutlich, dass die eigentlich moderne Erfahrung geografischer Mobilität aufs Engste mit der der kolonialen Geschichte verwoben ist: »Historians conventially date the modern era from the Age of Exploration. Every Western schoolboy knows the names of Cabot, Columbus, Cortez and is dimly aware that they opened new worlds. […] Geographical mobility became, in this phase, the usual vehicle of social mobility« (52).

Diese zum Prinzip gewordene geografische Mobilität prägte schließlich auch die »Psychologie« moderner Individuen: »The mobile person is distinguished by a high capacity for identification with new aspects of his environment, he comes equipped with the mechanisms needed to incorporate new demands upon himself that arise outside of his habitual experience« (49).

Und: »Physical mobility so experienced naturally entrained social mobility, and gradually there grew institutions appropriate to the process« (48).

Folgen wir der Logik von Lerners Rekonstruktion des Mobilitätsprinzips in »modernen Gesellschaften«, kann der Zusammenhang zwischen der kolonialen Erfahrung, wie sie vor allem in den Vereinigten Staaten gemacht wurde, und dem, was hier als Moderne verstanden wird, nicht übersehen werden. Neben der »zeitlichen Logik« der Modernisierungstheorien steht die Kultivierung des Prinzips der »Mobilität«, so könnte man sagen, als Garant für eine Bereitschaft, jeden Ort geografisch, sozial oder kulturell unter Vorbehalte zu stellen, wie sie vor allem in der Mentalität von Kolonisatoren vorherrscht, die ihre eigenen Orte verlassen haben, um sich an Orten niederzulassen, die sie grundsätzlich als unbewohnt angesehen haben. Dieser atopische Charakter des kolonialen Denkens speist sich aus dem Bewusstsein, das Recht zu besitzen, sich an jedem beliebigen Ort niederlassen zu dürfen, ungeachtet der Menschen, die sich dort bereits aufhalten mögen. Raum wird grundsätzlich als offen verstanden, Land als unbesetzt oder besser noch, als darauf wartend, dass es vom ego conquiro (Dussel) besetzt, ausgebeutet und wieder verlassen wird.

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Modernisierungstheorien sind keine Rezepte aus den Küchen des State Department, mit denen ganz konkrete politische Strategien verfolgt wurden. In ihnen haben sich aber bestimmte historischgeografische Erfahrungen niedergeschlagen. Besonders hervorzuheben sind hier Erfahrungen des Kolonialismus, wie sie aufseiten der Kolonisierenden gemacht wurden. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, wie Moderne aus der Sicht der Kolonialisierten verstanden und beurteilt wird. Ich werde auf diese Frage noch zurückkommen. Zunächst möchte ich aber noch auf einige epistemologische Besonderheiten der zeitlichen Logik der Modernisierungstheorien eingehen.

3.6 E PISTEMOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN : V ARIANTEN IM U MGANG MIT D IFFERENZ Die Fixierung der Modernisierungstheorie auf eine zeitliche Logik mag auf politische Probleme hinweisen. In ihr kommen aber vor allem epistemologische Probleme zum Ausdruck. In der Kritik der reinen Vernunft hat bereits Immanuel Kant seinen Versuch einer grundlegenden Theorie des Wissens mit einem Kapitel eröffnet, dem er den Titel »Transzendentale Ästhetik« gab. Kant beabsichtigte darin, die beiden Grundbedingungen aller menschlichen Erkenntnis zu benennen: Zeit und Raum.13 Im 19. Jahrhundert ist es dann vor allem, wie weiter oben bereits gesehen, die Zeit, der im westlichen Denken der Vorzug gegeben werden sollte. Dies haben die sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierenden Sozialwissenschaften besonders deutlich zu spüren bekommen. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass Wissen immer etwas mit Differenz, bzw. Wissensproduktion mit dem Differenzieren zu tun hat. Ohne Differenz gibt es kein Wissen. Wie das Wort »Indifferenz« deutlich macht, wird Nichtwissen deshalb auch als ein Zustand beschrieben, in dem keine Differenzen wahrgenommen werden. Unterschiedliche Nuancen in der Wissensproduktion ließen sich demnach

13 Welche der beiden Dimensionen für den Königsberger Philosophen nun die wichtigste gewesen sein mag, soll hier nicht weiter untersucht werden. Stefan Günzel, der dieser Frage aber nachgegangen ist, ist zu dem Schluss gekommen, dass es nicht die Zeit, sondern der Raum gewesen sei (vgl. Günzel 2005).

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daran messen, wie mit Differenzen umgegangen wird. Ob sich eine Wissenschaft dabei eher an der Dimension der Zeit oder an der des Raums orientiert, macht in dieser Hinsicht einen wichtigen Unterschied. Um dies deutlich zu machen, möchte ich mich kurz auf Ernst Cassirer – der sich seinerseits bekanntlich an Kant orientierte – berufen. Cassirer betonte, dass in der »Form der Zeit« die einzelnen Elemente des Wissens als Sequenzen »eins nach dem anderen« (vgl. Cassirer 2001: 25-26) organisiert werden. Die Gleichzeitigkeit von Differenzen ist in dieser Logik nicht vorgesehen, weil etwas Anderes immer schon in einer anderen Zeit existiert. Besonders wenn Zeit als in die Zukunft gerichtete lineare Zeit verstanden wird, kann grundsätzlich in jedem Moment auf dieser imaginären Zeitlinie eine Art Kulmination der Zeit, das heißt, eine Art »Ende der Geschichte«, vermutet werden. Mit der Idee des Endes der Geschichte geht die Vorstellung von der »Aufhebung« aller Differenzen einher. Auch dies ist konsequent, denn wenn es auf einer Zeitstufe keine wesentlichen Unterschiede geben kann, wenn Differenz immer als Unterschied verschiedener Zeitstufen verstanden wird, ist mit dem Ende der Zeit auch das Ende der Differenz besiegelt. Sollten wider Erwarten auf einer Zeitstufe Differenzen auftreten, müssten sie nach dieser an der Zeit orientierten Logik der Wissensproduktion als Anomalien erscheinen. Besonders diese Vorstellung hat den Sozialwissenschaften, die sich an einer entsprechenden Geschichtsphilosophie ausrichteten, ihr nicht zu übersehendes Siegel aufgedrückt. Die Modernisierungstheorien sind, wie gesehen, eines der letzten Zeugnisse dafür. In der »Form des Raums« hingegen bildet die Ordnung der einzelnen Elemente des Wissens »Konstellationen« oder, wie Cassirer zu sagen bevorzugte: Juxtapositionen. Wissen in der Form der Zeit ist kumulativ: Jeder vergangene Moment verliert sich im gegenwärtigen. Wissen, das seine Form vor allem dem Raum verdankt, ist hingegen kontingent. Jeder einzelne Ort behält seine Singularität im Vergleich zu allen anderen Orten. Das bedeutet nicht, dass Wissen, welches in der Form des Raums produziert wird, hoffnungslos relativistisch wäre. Cassirer definiert die »Welt des Raums« als »eine Welt miteinander systematisch verknüpfter Perzeptionen« (33). Ein weiterer Unterschied muss hier erwähnt werden: Während Wissen, das in der Form der Zeit produziert wird, dazu tendiert, absolutistisch und konsensual zu sein, ist Wissen, das sich in der Form des

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Raums realisiert, widersprüchlich, ambivalent. Dies stellt vor allem dann einen Vorteil dar, wenn es darum gehen soll, eine so komplexe Aufgabe zu lösen wie die, sich dem Verständnis der globalen Moderne und den in ihr zum Ausdruck kommenden Ambivalenzen, Widersprüchen oder Kontingenzen zu nähern. Schließlich darf unser Vergleich den Unterschied der jeweiligen Wissenseinheiten nicht verschweigen. Während Wissen, das in der Form der Zeit produziert wird, Begriffe konstruiert, das heißt: in höchster Weise abstrakte Wissenseinheiten, die mit maximal universalistischen Geltungsansprüchen aufgeladen sind, produziert das Wissen, das in der Form des Raums entsteht, Vorstellungen (Imaginationen). Gilbert Durand hat dies folgendermaßen erklärt: »[D]er Raum scheint die Apriori-Form zu sein, in der alle Imagination erscheint« (Durand 2004: 421). Zwischen Raum und dem Imaginären existiert Durand zufolge eine unzerstörbare Beziehung (416). Imaginäres Wissen ersetzt aber begriffliches nicht. Die Beziehung zwischen beiden Wissensformen sollte vielmehr als komplementäre verstanden werden. Dies ist ebenfalls bereits von Durand so gesehen worden. Die Imagitation »erleuchtet mit ihrem Licht alle Entzückungen der Sinne genauso wie die Begriffe« (416). Anders gesagt: Begriffe hängen von Vorstellungen ab. Nur wenn Begriffe das »Licht der Vorstellung« verloren haben, erscheinen sie als stumpfe Abstraktionen. Ein Schicksal, welches dem Begriff der Moderne in den Modernisierungstheorien zuteil wurde. Die Unterscheidung zwischen den beiden Wissens- oder Erkenntnisformen soll hier keine Ausschließlichkeiten suggerieren; Wissen wird nicht wahlweise in der Form der Zeit oder in der Form des Raums produziert. Die Unterscheidung ist nur als analytische sinnvoll. Menschliches Wissen, davon ging bereits Kant aus, wird immer zugleich in der Zeit und im Raum gebildet. Wissen, das in den Sozialwissenschaften und verwandten Disziplinen konstruiert wird, tendiert aber dazu, die Zeit dem Raum vorzuziehen. Dieses theoretische Defizit haben Immanuel Wallerstein et al. in ihrem Zustandsbericht der Sozialwissenschaften thematisiert: »[…] treatment of space and place was relatively neglected in social sciences. The focus on progress and the politics of organizing social change made the temporal dimension of social existence crucial, but left the spatial dimension in limbo« (Wallerstein 1996: 26).

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Wir haben weiter oben bereits gesehen, dass die Modernisierungstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu paradigmatisch für die Bevorzugung der zeitlichen Logik in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung waren. Dennoch ist die Erkenntnis Wallersteins auch bereits das Resultat von Erkenntnisprozessen, die sich in Debatten verdichteten, welche Alternativen zu den Modernisierungstheorien suchten und die sich trotz aller Unterschiede, die sonst zwischen ihnen bestehen mögen, in ihrer Kritik an der zeitlichen Logik einig waren. Hier lassen sich vor allem vier der großen Debatten der letzten Jahrzehnte nennen, die auch für die Soziologie Bedeutung hatten oder dabei sind zu bekommen.

4. Aktuelle Debatten

4.1 P OSTMODERNISMUS ALS E NDE DER I NTERPRETATIONSMONOPOLE Der Anspruch, eine »Globaltheorie der Moderne« zu artikulieren, wurde den Modernisierungstheorien zum Verhängnis. Heute wird dieser Anspruch kaum mehr geäußert. Vielmehr scheint der Begriff der Moderne in und durch mehrere sich zum Teil überschneidende Debatten neu verhandelt zu werden. Ich möchte in diesem Kapitel vier dieser Debatten, die mir die wichtigsten scheinen, vorstellen. Die Debatte über die Postmoderne erlebte ihren Höhepunkt in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, und es ist möglich, dass sie bereits in der folgenden Dekade aus der Mode gekommen war (vgl. Lash 1990). Zwar wird der Begriff der Postmoderne auch heute noch benutzt. Seine Bedeutung ist dabei aber nicht eindeutig festgelegt. Mich interessiert die Postmoderne hier vor allem wegen der Kritik, die sie an jenes Paradigma der Moderne gerichtet hat, wie es in den Modernisierungstheorien zum Tragen kam. Hierin sehe ich Intuitionen, die noch heute in anderen Debatten nachklingen. Dabei war es nicht immer einfach, die Bedeutung des Postmodernismus für die Soziologie im Allgemeinen und die Sozialtheorie im Besonderen zu ermessen. Der Postmodernismus erschloss ein sehr weites und diffuses diskursives Feld und respektierte Fächergrenzen kaum. Es ist hier nicht der Ort, um eine detaillierte Rekonstruktion all dieser diskursiven Ereignisse zu versuchen1. Wohl aber erlaube ich mir, eine kurze Bilanz zu ziehen. Dabei soll vor allem auf das Legat hingewiesen werden, das der Postmoder1

Einen sehr guten Überblick bietet immer noch Perry Andersons The Origins of Postmodernity (1998).

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nismus aktuelleren Debatten in den Kultur- und Sozialwissenschaften hinterlassen hat. Einer der bedauernswertesten Irrtümer bestand darin anzunehmen, dass die Postmoderne eine radikal neue Epoche darstelle, welche die Moderne bereits hinter sich gelassen habe. Erklären lässt sich die Vorstellung vom »Ende der Moderne«, welche die Debatte über die Postmoderne begleitet hat, mit folgenden Gründen: 1. Schon der Begriff der Post-Moderne suggeriert die Existenz einer Epoche, die der Moderne folgt. Die semantische Wahl war ungünstig und provoziert von vornherein Missverständnisse. 2. Bestimmte soziale, politische und ökonomische Veränderungen, die sich allerdings hauptsächlich in den Gesellschaften des »globalen Nordens« beobachten ließen, wurden vorschnell verallgemeinert. Der Übergang von der Produktions- zur Konsumgesellschaft, das Erstarken eines konsumfreudigen Mittelstandes und die »Ästhetisierung von Lebenswelten«, »neue soziale Bewegungen«, die sich gegen Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts artikulierten, mögen zwar weitreichende Folgen für die Gesellschaften des »globalen Nordens« gehabt haben, es ist aber fraglich, ob sich die Situation in den Gesellschaften des »globalen Südens« in gleicher Weise änderte und ob deshalb die Rede von einer Epoche nach der Moderne für alle Gesellschaften der Erde gerechtfertigt war. 3. Schließlich müssen noch die epistemologischen Brüche genannt werden, die der Postmodernismus betont und die den Eindruck erwecken könnten, als habe die moderne, vor allem an Descartes orientierte Logik ein für alle Mal ausgedient. Besonders einflussreich ist in diesem Zusammenhang das berühmte Diktum von Jean-François Lyotard gewesen, der die Condition postmoderne vor allem als eine Absage an jede Art von »Meta-Erzählungen« sah. Doch auch wenn die Annahme, dass die Moderne bereits überwunden sei und wir heute in einer postmodernen Welt leben, voreilig gewesen sein mag, bedeutet dies nicht, dass die Debatte über die Postmoderne aus heutiger Sicht nur als großer Irrtum in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts bewertet werden sollte. Wenn man von der unglücklichen These des Epochenbruchs absieht, lassen sich Ideen und Einsichten in einigen Beiträgen zu dieser Debatte entdecken, die mir heute nach wie vor relevant erscheinen. Für die Sozialtheorie, so möchte ich behaupten, hat das Klima des Postmodernismus zumindest dazu beigetragen, dass Autoren, die zuvor kaum beachtet wurden, eine regelrechte Renaissance erfuhren.

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Dies zeigt vor allem die Aufmerksamkeit, welche das lange kaum beachtete Werk des deutschen Soziologen Georg Simmel seit den 80er Jahren erfuhr. Anstatt für eine geradlinige Entwicklungsgeschichte moderner Gesellschaften entschied sich Simmel dafür, ein Bild dieser Gesellschaften zu zeichnen, in dem Brüche und Widersprüche nicht unterschlagen werden sollten. Statt der Erzählung großer historischer Entwicklungen von einem vermeintlich unbeteiligten Beobachterposten aus optierte Simmel für die Ableitung seines Bildes von der Moderne aus den alltäglichen Erfahrungen, die Menschen wie er selbst in diesen Gesellschaften machten. Die Bedeutung, die die Rückbesinnung auf Simmel in den 80er und 90er Jahren für sozialtheoretische Debatten in Europa hatte, darf nicht unterschätzt werden. Sie lässt sich nicht nur bei jenen nachvollziehen, die sich explizit mit Simmels Werk beschäftigten – allen voran David Frisby und Mike Featherstone (vgl. Frisby 1988; 1992; 2002; Frisby/Feaherstone 1997; Featherstone 1991) –, sondern auch bei jenen, die sich in ihren Versuchen, eine »Soziologie der Postmoderne« zu entwickeln, an Simmel orientierten. Unter Letzteren ist vor allem Zygmunt Bauman zu nennen (vgl. Bauman 1992, 1993a, 1995). Nach Umwegen durch die in der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer spektakulärer werdende Landschaft der Postmoderne kommt Bauman aber schließlich auf eine Theorie der Moderne zurück. Das ist durchaus konsequent, denn gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre, als die Debatte über Moderne und Postmoderne ihren Höhepunkt erreichte, wurde es immer schwieriger, die Attribute der einen von denen der anderen zu unterscheiden. Waren nun Kontingenz- und Differenzbewusstsein typisch moderne Bewusstseinsmomente oder gehörten sie einer bereits postmodernen Epoche an? Solche Fragen wurden immer schwieriger zu entscheiden. Wie diffus die Grenzen zwischen dem Modernen und dem Postmodernen werden konnten, wenn man nur versuchte, konkrete Inhalte zu diskutieren, macht das Werk von Zygmunt Bauman in eindrucksvoller Weise deutlich. Baumans Rückkehr zur Moderne ist auch vor dem Hintergrund der beiden Hauptmerkmale postmodernen Denkens – nämlich der Absage an die Meta-Erzählungen (Lyotard) sowie die Rückbesinnung auf räumliche Koordinaten sozialer und kultureller Prozesse (Jameson,

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Harvey)2 – konsequent. Seine Theorie der Moderne lässt sich nicht nur als groß angelegter Versuch verstehen, eine neue Geschichte der Moderne zu erzählen, sondern diese wird sogar in altbewährter Weise auf eine fast geschichtsphilosophische Pointe gebracht. Baumans Theorie der Moderne ist eine Eloge des Ambivalenzbewusstseins, dass sich in der Moderne und durch sie hindurch in immer deutlicherer sowie normativ verbindlicher Weise durchsetzt (vgl.: Bauman 1993b, Kozlarek 2004: Kapitel 7). Baumans Ringen zeigt, wie in dramatischer Weise die Notwendigkeit einer Kritik der Moderne und die Unmöglichkeit, diese zu verlassen, nebeneinander her laufen. Vielleicht stellt sich die Moderne als Lebensform eine unmögliche Aufgabe (Bauman 2000a). Noch viel unmöglicher scheint die Aufgabe, die sich einige ihrer Gegner gestellt haben, wenn sie auf einen einfachen Ausstieg aus der Moderne spekulieren. Immer wieder bemüht sich Bauman, die historischen Prozesse der Modernisierung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen; sei dieser nun das bereits erwähnte Ambivalenzbewusstsein oder die Tendenz der »Verflüssigung« von vormals soliden Zuständen. Baumans Theorie von der »flüssigen Moderne« (vgl.: Bauman 2000a) ist vergleichbar mit anderen Zweiphasen-Modernitätstheorien, wie zum Beispiel der von Ulrich Beck, in der eine »erste« von einer »zweiten« Moderne unterschieden werden soll. Der »soliden« folgt bei Bauman nun die »flüssige« Moderne. Dem »postmodernen« Ruf nach mehr Kontingenz- und Differenzbewusstsein wird hier nachgegeben, indem permanente Veränderungen der gegebenen Zustände als Normalität gedeutet werden. Und selbstverständlich entspricht der Aggregatzustand der Flüssigkeit der Vorstellung von der Globalisierung, in der sich alles im Fluss befinden soll und von der sich nichts Solides mehr erwarten ließe (vgl. Bauman 1998; vgl. auch Kapitel 4.2). Baumans Streifzüge durch die Postmoderne verdeutlichen vor allem eins: Wir haben die condition moderne, die wir heute planetarisch mit allen anderen Menschen teilen, gerade erst angefangen zu verstehen. Dies ist auch die Lehre, die wir aus der Debatte über die Postmoderne allgemein ziehen können. Die Moderne ist keineswegs zu Ende, wohl aber die Zeit, in der Interpretationsmonopole darüber herrschten, wie wir die globale Moderne verstehen dürfen. Mit dem Aufbrechen

2

Siehe auch Featherstone/Lash/Robertson 1995.

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der Interpretationsmonopole öffnen sich auch neue Aneignungs- und Partizipationsmöglichkeiten. Diese sind vor allem auch im Lager postkolonialer Autoren wahrgenommen worden. Eduardo Mendieta besteht darauf, dass der postmodern turn so lange unvollendet bleibt, wie er nicht durch den postcolonial turn ergänzt wird (vgl. Mendieta 1998). Erst durch Letzteren werden auch jene Erfahrungen endlich als moderne Erfahrungen gedeutet, die die Modernisierungstheorien noch nicht als solche wahrnehmen konnten, weil ihr kategoriales System sie als Erfahrungen vormoderner oder »traditionaler« Gesellschaften aus der Moderne verbannte.

4.2 D IE G LOBALISIERUNGSDEBATTE In seinem Buch Die Transnationalisierung der sozialen Welt (Pries 2008) bezieht sich Ludger Pries auf Themen, die von anderen unter dem Stichwort der Globalisierung diskutiert werden. Pries distanziert sich allerdings bewusst von dieser konventionellen Terminologie. Dabei gibt er eine kurze und auf den ersten Blick tautologische Begründung: »die Globalisierungsdebatte [bleibe] sehr häufig allzu global«, erklärt er (ebd. 24). Wenn ich Pries recht verstehe, will er damit sagen, dass sich in der Debatte über die Globalisierung eine Reihe von Urteilen über unsere sozialen, aber auch wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeiten Ausdruck verschaffen, die nicht unbedingt falsch sind, die aber die notwendige Präzision vermissen lassen, um die entsprechenden Phänomene und Dynamiken, die damit gemeint sind, angemessen verstehen zu können. So erkläre sich auch, dass die Globalisierungsdebatte eine Reihe von Vorurteilen reproduziert. Pries fragt zum Beispiel, ob es richtig sei, dass Globalisierung tatsächlich etwas qualitativ Neues darstelle, wie das Wort suggeriere, das erst vor etwa 20 Jahren in Mode kam und seitdem auf eine sehr steile Karriere zurückblicken kann. Begann das, was heute »Globalisierung« genannt wird, wirklich erst vor etwa 20 Jahren, als das Wort »Globalisierung« die öffentlichen wie akademischen Diskurse zu besiedeln begann? Pries streitet dies energisch ab. Seiner Meinung nach fielen das Auftauchen dieses neuen Begriffs und der um ihn herum sich formierenden Debatten keineswegs mit der Entstehung einer radikal neuen Epoche zusammen. So akzeptiert er beispielsweise, dass der Austausch von Waren und Dienstleistungen auf globaler Ebene sicherlich in den

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letzten Jahren angestiegen sei, bestreitet aber gleichzeitig, dass dieser Zuwachs gemessen am weltweiten Volumen der produzierten Güter und Dienstleistungen im gesamten 20. Jahrhundert wesentlich ist (25). Außerdem sei viel von dem, was als globaler Austausch verstanden werde, in Wirklichkeit nicht global, weil dieser sich in der Regel auf drei Weltregionen beschränke: die Vereinigten Staaten, Europa und Japan (ebd.). Ein weiteres Argument, das oft eingesetzt wird, wenn es darum geht, davon zu überzeugen, dass Globalisierung eine radikal neue Phase menschlicher Zivilisation bedeute, ist, dass Migrationsphänomene heute eine viel größere Rolle spielten als je zuvor. Aber auch in diesem Zusammenhang überrascht Pries seine Leser mit einer ernüchternden Analyse: »Wie sich hier zeigt, ist allerdings das relative Ausmaß der internationalen Migration im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Welt in den vergangenen hundert Jahren nicht so dramatisch angestiegen, dass alleine hieraus eine qualitativ neue Phase der Globalisierung abgeleitet werden könnte« (ebd. 25).

Schließlich wendet sich Pries dem Thema des vermeintlichen Abbaus des Nationalstaats zu. Soll es etwa nicht richtig sein, dass dieses Phänomen eine gründlich neue Sicht auf die Art und Weise verlangt, in der sich unsere Welt politisch zu begreifen hat? Doch auch in diesem Punkt ist Pries mit den konventionellen Interpretationen der Globalisierungstheoretiker nicht einverstanden. Vielmehr bezieht er sich auf Autoren wie Saskia Sassen, die davon ausgehen, dass unsere gegenwärtige Globalisierung zum Teil sogar durch die Institution des Nationalstaates verwaltet wird (vgl. 26). Gehört Pries damit zu den von Anthony Giddens so genannten Globalisierungsskeptikern, die glauben, dass sich unter dem Stichwort der Globalisierung lediglich neoliberale Ideologien verbergen (vgl. Giddens 2001)? Ich glaube kaum, denn Pries beschäftigt sich ja selbst mit einigen der Themen, die das Stichwort »Globalisierung« mit Inhalten füllen. Er tut dies aber, indem er sich ganz bewusst von einigen der Grundannahmen vieler Globalisierungstheorien distanziert. Wenn er einigen Globalisierungstheoretikern vorwirft, dass ihre Rede von der Globalisierung selbst zu »global« sei, scheint er vor allem einer Tendenz zu widersprechen, die sich tatsächlich in der Mehrzahl der Globa-

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lisierungstheorien vernehmen lässt und dadurch gekennzeichnet ist, möglichst abstraktes Wissen zu bevorzugen (vgl. auch Kapitel 2). In einem wichtigen Sammelband, der heute als einer der ersten Versuche gesehen werden kann, Globalisierung sozialtheoretisch zu erschließen, identifizieren die Herausgeber das Problem sehr genau: »globalization«, so schreiben Mike Featherstone und Scott Lash, »[seems to be] the triumph of the universal [and therefore] introduce, on the face of it, substantial measures of abstraction, of ›disembedding‹, and the hollowing out of meaning in everyday life« (Featherstone/Lash/Robertson 1995: 2).

Diese Tendenzen der Abstraktion, so könnten wir wohl auch Priesʼ Intuition interpretieren, dominieren das Gros der Globalisierungstheorien. Wir können hier auch sagen: In den meisten Globalisierungstheorien wiederholt sich jene Logik, die Stephen Toulmin unter dem Begriff der Cosmopolis subsumiert hat. Gute Beispiele dafür sind die folgenden: George Ritzer hat vor ein paar Jahren die These publik gemacht, Globalisierung favorisiere und produziere »Nichts« (nothing) (Ritzer 2004). Der nicht unpolemische Titel seines Buches lautet: The Globalization of Nothing. Gemeint ist, dass mit »Globalisierung« vor allem Prozesse angesprochen werden, in denen Objekte, Orte, Dienstleistungen und Menschen ihre je spezifischen Inhalte verlieren. Dass sie aus ihren rein lokalen Bindungen herausgelöst werden müssen, um überhaupt globalisierungsfähig werden zu können, ist für Ritzer gleichbedeutend mit der Tatsache, dass sie ihre Identität verlieren und von »something« zu »nothing« degradieren. Die Konsquenzen sind »social forms which are […] devoid of distinctive substantive content« (Ritzer 2004: 3). Auf ähnlichen Ideen baut auch Anthony Giddens Globalisierungstheorie auf. Dies wird durch die zentrale Rolle des Begriffs »disembedding« deutlich: »By disembedding I mean the ›lifting out‹ of social relations from local contexts of interaction and their restructuring across indefinite spans of timespace« (Giddens 1990: 21).

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Auch wenn Giddens zugibt, dass diese Prozesse der Globalisierung in einigen Fällen dazu führen, dass »regionale Kulturen in vielen Teilen der Welt eine Art Renaissance erleben« (Giddens 2001: 25), stellen sie doch zumindest einen deutlichen Verlust an konventionellen Identitätsmustern dar. Vor allem aber teilt Giddens mit vielen anderen Globalisierungstheoretikern die Vorstellung, dass Globalisierung eine Art geisthafter Superakteur zu sein scheint, über den die Sozialwissenschaften nicht viel zu sagen vermögen. »Wir werden, ob wir wollen oder nicht, in eine globale Ordnung hineingezogen, die niemand vollständig überblickt, die aber spürbare Auswirkungen auf jeden von uns hat« (ebd. 17).

Die Überzeugung vom Mangel an kognitiven Mitteln, um Wissen über die jeweiligen Phänomene und Dynamiken der Globalisierung zu produzieren, vertritt auch Zygmunt Bauman. Für ihn steht fest, dass die »transnationalen« Prozesse der Globalisierung »eroding forces« gleichen, die er als »blurred in the mist of mystery« sieht und die deshalb nur »guesses« anstelle von »reliable analysis« zuließen (vgl. Bauman 1998: 57). Das alles lässt für Bauman nur noch eine Diagnose zu: »no one seems to be in control«, die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken und Prozesse bleiben den Verständnisbemühungen auch der Sozialwissenschaften verschlossen. Ein »postmodernes« Verständnis von Globalisierung, vor allem aber ihrer politischen Implikationen, haben Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem viel beachteten Buch Empire thematisiert. Der einzige Ort, den dieses Buch noch anerkennt, ist der größte Ort, mit dem sich Menschen überhaupt verantwortungsvoll beschäftigen können: die Erde. Das ist zwar nicht falsch, denn wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass unser Handeln nur noch lokal begrenzte Konsequenzen haben wird. Problematisch ist aber, dass für Negri und Hardt die Erde zu einem großen Container wird, in dessen Innerem alle geografischen Besonderheiten und topografischen Reibungspunkte unwesentlich sind. Negri und Hardt nennen die aktuelle Phase der Globalisierung postmodern und erklären, worin der Unterschied zur Moderne liegen soll:

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»The striated space of modernity constructed places that were continually engaged in and founded on a dialectical play with their outsides. The space of imperial sovereignty, in contrast, is smooth. It might appear to be free of binary divisions or striation of modern boundaries, but really it is crisscrossed by so many fault lines that only appear as continuous, uniform space. In this sense, the clearly defined crisis of modernity gives way to an omnicrisis in the imperial world. In this smooth space of Empire, there is no place of power – it is both, everywhere and nowhere. Empire is an ou-topia, or really a non-place« (Hardt/Negri 2000: 190).

Globalisierungstheorien unterschiedlicher Façon scheinen sich also in einem zu treffen: Sie verstehen die Prozesse der Globalsierung vor allem als Entdifferenzierungs- und Deterritorialisierungsprozesse, in denen nicht nur Unterschiede verschwinden und sich das, was bleibt, in einen undifferenzierten Raum ergießt, sondern die auch dafür sorgen, dass alles einer »postmodernen« Indifferenz anheimfällt. Letztere wird schließlich als Konsequenz einer anderen postmodernen Tendenz verstanden: des Verlustes eines verantwortungsvoll handelnden Akteurs oder Subjekts. Ich sehe in diesem Argument trotz aller berechtigten Kritik an subjektphilosophischen Voraussetzungen die Gefahr einer Enthumanisierung sozialer Prozesse und eine erstaunlich kritiklose Haltung ihnen gegenüber. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, noch einmal an Pries zu erinnern. Ihm scheint es entgegen den »kosmopolitischen« (Toulmin) Stimmen innerhalb der Globalisierungstheorien darum zu gehen, ein differenzierteres »Weltbewusstsein« (vgl. Kapitel 1.2) zu verteidigen. So besteht er zum Beispiel darauf, dass die lokalen Verankerungen sozialer Prozesse deutlich gemacht werden sollten, denn »es sind sehr konkrete Orte, an denen sich Gewalt und Krieg, Dürren und Überschwemmungen, Wohlstand und Armut bündeln« (Pries 2007: 29). Und um diese Geografie des Konkreten noch deutlicher einzufordern, schreibt er etwas später: »Vielmehr geht Globalisierung offensichtlich mit einer Konzentration bestimmter Dinge an bestimmten Plätzen einher« (ebd.). Aus diesem Grund hält es Pries auch nicht für sehr wahrscheinlich, dass sich in der Epoche der Globalisierung »automatisch der souveräne und tolerante Weltbürger« herausbildet. »Denn viele Menschen empfinden diese zunehmende Vielfalt und Komplexität der erlebten Welt auch als eine Überforderung oder gar als eine Bedrohung« (ebd.

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30). Interessant ist hier, dass Pries im Gegensatz zu vielen Globalisierungstheorien auf das eingeht, was Menschen »erleben« bzw. erfahren. Ich werde diese Spur etwas später wieder aufnehmen und nach der Möglichkeit einer Soziologie konkreter Erfahrungen fragen, die Menschen mit und in der globalen Moderne machen. An dieser Stelle sei zunächst aber festzuhalten, dass Björn Wittrock recht zu haben scheint, wenn er schreibt: »assumptions close to those of earlier forms of theorizing about convergence and modernization« werden nun auch in den Globalisierungstheorien kultiviert, weswegen viele der Beiträge zu dieser Debatte »in conceptual terms strangely reminiscent of modernizations theory« wirken (Wittrock 2001: 31). Ich glaube allerdings auch, dass dies nicht alles ist, was wir von der Globalisierungsdebatte, die uns nun schon seit fast zwei Jahrzehnten in Atem hält, lernen können. Dass viele der Aussagen, die sich in ihr vereinen, wenig »Konturenschärfe« im Vergleich zu den Modernisierungstheorien haben, hat auch Armin Nassehi festgestellt. Aber das bedeutet für ihn nicht, dass diese neue Debatte unseriös sei. Er vermutet: »Vielleicht steht die Chiffre Globalisierung auch nur für eine kognitive Verschiebung. Vielleicht bezeichnet sie lediglich eine neue Sicht der Dinge, die sich selbst womöglich gar nicht so sehr verändert haben« (Nassehi 2003: 191192).

Dieser Hinweis scheint mir sehr hilfreich, denn er löst zunächst einmal die Fixierung auf die Vorstellung, »Globalisierung« bezeichne eine neue Weltepoche. Anstatt nach Anzeichen und Ausdrücken historischer Brüche zu suchen, können wir uns nun auch wieder dem widmen, was bisher im Mittelpunkt des Interesses in den Sozial- und Kulturwissenschaften gestanden hat: der Moderne. Dass sich die Reflexion über Globalisierung und die über Moderne nicht ausschließen, davon zeugen einige interessante Arbeiten, die in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschienen sind. Es ist nicht nötig, die Globalisierung als Teil einer die Moderne hinter sich lassenden Postmoderne zu begreifen. Im Gegenteil: Wir leben immer noch in einer modernen Welt! Was der neue Begriff der Globalisierung aber zum Ausdruck bringt, ist, dass wir langsam beginnen, diese moderne Welt in ihrer planetarischen Existenz zu erfassen. Oder anders gesagt: wir fangen langsam an zu begreifen, dass sich die Moderne vor allem durch

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ein Zusammenwachsen der Welt als »global modernity« verstehen lassen muss (vgl.: Featherstone et al. 1995). Den bereits angedeuteten epistemologischen Unterschied macht eine simple semantische Überlegungen deutlich: Handelt es sich beim Wort »Moderne« um ein zeitlich codiertes Wort, tritt in der »Globalisierung« eine räumliche Bedeutung in den Vordergrund. Es ist häufig schon erwähnt worden, dass sich die Vision der Globalisierung vor allem in einem Bild wiederfindet: dem der Erdkugel, aus dem Weltraum betrachtet. Das ist keineswegs banal. Vielmehr wird hier ein Bewusstseinswandel vor allem im Bezug auf die Modernisierungstheorien deutlich. Im Mittelpunkt steht nun unser Planet, die Erde, die als der Ort, den alle Menschen miteinander teilen, verstanden wird. Diese Homogenität des einen Ortes wird allerdings durch eine äußerst heterogene und sehr komplexe geografische Topografie herausgefordert, die sich an kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Grenzen bricht. Nicht die Auflösung aller Grenzen wird durch den Begriff der Globalisierung bewusst gemacht, sondern eher noch die Multiplizierung sowie die Normalisierung von Grenzen. Das bedeutet auch: Die »kognitive Verschiebung«, die Nassehi erkannte, vollzieht eine Abkehr von der zeitlichen Logik, die die Modernisierungstheorien und deren Verständnis der Moderne dominierte. Dagegen hebt sich immer deutlicher sichtbar ein räumliches Verständnis ab. Wenn heute von einem spatial turn (Bachmann-Medick 2006) die Rede ist, so muss die Globalisierungsdebatte zweifelsohne als ein bedeutender Schritt in diese Richtung gesehen werden. Dieser Bedeutungswandel ist nicht unwesentlich für die Theorie der Moderne im Besonderen und die Sozialtheorie im Allgemeinen. Wie Mike Featherstone und Scott Lash bereits Mitte der 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts feststellten: »[…] the rise of the globalization problématique represents the spatialization of social theory« (Featherstone et al. 1995: 1). Wenn wir am Begriff der »Moderne« festhalten möchten, gilt es nun, diesen räumlich zu konnotieren. Bezeichnet wird mit diesem Wort also nicht mehr nur eine zeitliche Einheit, eine Epoche, die für einige bereits erreicht ist, für die meisten aber noch verheißungsvoll in der Zukunft wartet, sondern ein Zustand, den zweifelsohne alle Menschen der Erde in der ein oder anderen Weise teilen. Wenn »Moderne« aber alle auf der Erde lebenden Menschen betrifft, dann ist auch klar, dass es nicht nur eine moderne Erfahrung geben kann. Arif Dirlik hat in diesem Zusammenhang geschrieben:

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»Reconceptualizing modernity as global modernity may help overcome some […] problems in allowing recognition of the dialectics of modernity in its globalization. Global modernity bears upon it the mark of European origins in its formulation (as must any reference to modernity). On the other hand, it is also less bound to those origins than such concepts as postmodernity or globalization. It allows for recognizing both the unities and the divisions of a contemporary modernity« (Dirlik 2003: 289).

Auch wenn sich die Argumente, die sich gegen die konventionelle Vorstellung der einen homogenen Moderne aussprechen, für die Gleichzeitigkeit von Unterschieden und Affinitäten interessieren, bedeutet dies nicht, dass die Theorie der Moderne von nun an nur noch statische Seinsformen moderner Gesellschaften untersuchte und sich nicht mehr für den prozessualen Charakter sozialen Wandels interessierte. Auch die Theorie der »global modernity« ist noch eine Theorie sozialen Wandels, in der »Moderne« als etwas grundsätzlich Neues verstanden werden soll. Arjun Appadurai schreibt in diesem Zusammenhang: »[T]he world in which we now live – in which modernity is decisively at large, irregularly self-conscious, and unevenly experienced – surely does involve a general break with all sorts of pasts« (Appadurai 1996: 3).

Aber Appadurai weiß auch, dass wir den Bruch mit der Vergangenheit anders verstehen müssen, als es die Modernisierungstheorien tun. Er fragt daher: »What sort of break is this, if it is not one identified by modernization theory […]?« (ebd.). Ebenfalls mit Appadurai können wir behaupten, dass es sich in erster Linie um Brüche handelt, die sich in der Art und Weise, wie wir unsere heutige Welt, unseren Platz in ihr und unsere Möglichkeiten, in ihr zu handeln, wahrnehmen. Diese »Wahrnehmung« ist für Appadurai aber nicht mit einem passiven »zur Kenntnis nehmen« zu verwechseln. Indem er den Begriff der imagination verwendet, hebt er den kreativen Aspekt dieser Prozesse hervor: »The image, the imagined, the imaginary – these are all terms that direct us to something critical and new in global cultural processes: the imaginary as a social practice. […] The imagination is now central to all forms of agency, is it-

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self a social fact, and is the key component of the new global order (Appadurai 1996: 31).

Dieses Verständnis der Globalisierung als Imagination hat auch der aus Argentinien stammende und in Mexiko lebende Anthropologe Néstor García Canclini in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Globalisierung gestellt. In seinem 1999 veröffentlichten Buch La globalización imaginada geht García Canclini, wie schon Appadurai, davon aus, dass der »Vorstellung« (imaginación) von Globalisierung in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Globalisierung reduziert sich seiner Meinung nach nicht nur auf institutionelle Tatsachen und Prozesse, die von den Menschen, die sie betreffen, völlig unabhängig abliefen. Vielmehr handelt es sich auch um eine Herausforderung an die Art und Weise, wie sich Menschen die gemeinsame Welt der globalen Moderne, diese gemeinsame Welt aller Menschen vorstellen. Um dies verstehen zu können, müssten sich auch die Sozialwissenschaften mehr um Kultur kümmern, denn in ihr teilen sich die jeweiligen Vorstellungen der globalen Moderne mit. Aber der Kultur kommt für García Canclini noch ein anderer Stellenwert zu. Er geht davon aus, dass »der Wandel, den die Globalisierung hervorgerufen hat, die Art und Weise verändert hat, in der wir Kultur verstehen« (García Canclini: 1999: 61) bzw. verstehen sollten. Dieser Forderung geht die grundsätzliche Erkenntnis voraus, dass Kultur soziale Beziehungen zwischen Menschen überhaupt erst zustande kommen lässt (vgl. ebd. 61). Unter den Bedingungen der Globalisierung leitet sich daraus die Frage ab, unter welchen kulturellen Bedingungen sich soziale Beziehungen zu Menschen anderer Gesellschaften und Kulturen herstellen und pflegen lassen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass Globalisierung eine große kulturelle Herausforderung darstellt. Alle Kulturen seien heute gezwungen, enorme kreative Leistungen zu vollbringen, die es erlauben, Beziehungen zu Menschen anderer Kulturen zu denken bzw. sich vorzustellen. García Canclini benutzt den Begriff der Imagination vor allem in diesem Zusammenhang: als kreatives Potenzial über die eingefahrenen Weisen, mit dem Anderen umzugehen, hinauszublicken. Wie lässt sich aber dieses kreative Potenzial der Imagination praktisch nutzbar machen? Für García Canclini steht fest, dass in diesem Zusammenhang die Verbindung von Imagination und Erzählen aus-

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schlaggebend sei. Imagination ist überhaupt nur möglich im Akt des Erzählens. Oder anders gesagt: Erzählen ließe sich als die »Praxis« der Imagination verstehen. Für den Anthropologen folgt daraus: »[M]ich interessiert es, die Zonen der Missverständnisse zwischen Erzählungen und Praktiken zu identifizieren. Es handelt sich in gewisser Weise darum zu verstehen, wie diese Erzählungen Praktiken konditionieren, Allianzen ermöglichen oder vermeiden« (ebd. 77).

Globalisierung stellt für García Canclini ein noch »nicht identifiziertes« Objekt dar. Damit ist vor allem gemeint, dass wir uns mitten in Prozessen befinden, die all das ändern, was wir identifizieren können, die aus der Imagination heraus neue Bedeutungen und Identitäten entstehen lassen werden und die neue Formen, uns die Welt und unseren Platz in ihr vorzustellen, hervorbringen werden.3

4.3 M ULTIPLE

MODERNITIES

Die Debatte über die »Vielfalt der Moderne« (vgl. Eisenstadt 2000), die unter dem englischen Titel multiple modernities geführt wird, ist in unserem Zusammenhang schon deswegen interessant, weil auch sie das Resultat einer Kritik an den Modernisierungstheorien darstellt. Diese Kritik stammt außerdem aus den Reihen derjenigen, die in der Vergangenheit selbst zu den Vertretern der Modernisierungstheorie gehörten. Zumindest stimmt dies für den Stichwortgeber dieser Debatte, Shmuel N. Eisenstadt. »Multiple modernities« ist daher der Name einer sehr eindrucksvollen Selbstkritik der Modernisierungstheorien, die den Weg von einer teleologischen Theorie der Moderne zu einer komparativen Modernitätsforschung gegangen ist. Eisenstadt hat schon sehr früh eingesehen, dass eines der wesentlichen Probleme der Modernisierungstheorie die Dichotomie »Tradition/Moderne« darstellt, die, wie bereits gesehen, auch den kategorialen Rahmen der zeitlichen Logik dieser Theorien definiert. Schon in den 1970er Jahren schrieb Eisenstadt:

3

Wie wichtig kreative Imagination auch in der Soziologie ist, hat Jeffrey Alexander kürzlich brilliant deutlich gemacht (vgl. Alexander 2011).

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»Obwohl die verschiedenen Gesellschaften oder Zivilisationen in je spezifischer Weise auf die Entwicklung von Modernität reagieren, zumal diese sich, was die gestellten Probleme betrifft, von früheren historischen Situationen unterscheidet, besitzt die Reaktion auf die Modernität doch viele Ähnlichkeiten bzw. Parallelen mit Wandlungsprozessen in früheren historischen Zeiten. Diese Verschiebung des Standortes führt daher zur Erkenntnis, dass es zwischen dem historischen oder traditionellen und dem heutigen Wandel starke Ähnlichkeiten oder Kontinuitäten geben kann. Dieses Verständnis ist entscheidend für das Verständnis der verschiedenartigen modernen posttraditionellen Zivilisationen, die in der heutigen Welt im Entstehen begriffen sind« (Eisenstadt 1973: 32).

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Eisenstadt vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis ebenfalls bereits in den 1970ern mit der Idee experimentierte, die Moderne als Zivilisation zu verstehen. Diese Idee stellt heute eines der wesentlichen Elemente seiner Theorie dar und hat parallel zur multiple modernities-Debatte eine ganz eigene Diskussion entfacht.4 Aber zunächst noch zwei weitere Punkte, die für Eisenstadts Kritik an den Modernisierungstheorien wichtig waren: 1. Zum einen muss die empirische Evidenz genannt werden, dass diese Theorien dort, wo sie durch politische Programme zu verwirklichen versucht wurden, vor allem in der sogenannten Dritten Welt, nicht die erwarteten Resultate hervorbrachten. Eisenstadt kam zu der Überzeugung, dass die konkreten Prozesse sozialen Wandels komplexer sein müssten, als es die abstrakten Modernisierungstheorien annahmen. 2. Eisenstadt ging davon aus, dass die Diskrepanz zwischen den Vorgaben der Modernisierungstheorien und den politisch-praktischen Ergebnissen nicht als Beweis für eine Art mangelnder Reife oder Rationalität der jeweiligen modernisierungswilligen Gesellschaften stand. Vielmehr erkannte er, dass Prozesse sozialen Wandels immer bestimmten kulturellen Programmen folgten. Dadurch existiere ein relativ hohes Kontingenzpotenzial in den jeweiligen Modernisierungsprozessen, was es schwierig, wenn nicht unmöglich mache, Resultate genauestens zu prognostizieren. Gerade aber die Aufgabe der Prognostizierbarkeit der Resultate

4

Einen guten Überblick über die Diskussion der Zivilisationstheorien sowie über die unterschiedlichen Positionen, die sich in dieser Diskussion herauskristallisiert haben, bietet eine Sondernummer der Zeitschrift International Sociology, 16(3), 2001.

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von Modernisierungsprozessen entkräftet eines der wesentlichen Anliegen der Modernisierungstheorien. Ebenfalls bereits in den 1970ern schrieb Eisenstadt: »Es wäre [...] falsch, anzunehmen, dass diese Kräfte [der Modernisierung], wenn sie einmal in einer Gesellschaft wirksam geworden sind, diese in Richtung eines gegebenen Endziels lenken. Sie führen in verschiedenen Gesellschaften vielmehr zu verschiedenen Reaktionen, die von den internen Verhältnissen, vom internationalen System und von den internationalen Beziehungen der betreffenden Gesellschaft abhängen« (371).

Es zeichnete sich unmissverständlich ab, dass die Modernisierungstheorie einer Revision bedurfte. Auch Wolfgang Knöbl diagnostiziert in einem neueren Buch diesen Revisionsdruck und vergleicht die Reaktionen der Modernisierungstheoretiker darauf mit einem »Lernprozess« (vgl. Knöbl 2007: 23ff). Auch er erinnert daran, dass es dabei schon sehr früh aus den Reihen der Modernisierungstheoretiker selbst zu einer Kritik an dem kam, was wir hier »zeitliche Logik« genannt haben. Vor allem die kategoriale Gegenüberstellung von »Tradition« und »Moderne« geriet dabei immer wieder ins Zentrum der Kritik. Knöbl zitiert in diesem Zusammenhang Neil Smelsers Social Change in the Industrial Revolution von 1959: »When comparing a society with its past or with another society, we often employ a dichotomy such as ›advanced vs. backward‹, ›developed vs. underdeveloped‹, ›civilized vs. uncivilized‹, or ›complex vs. simple‹. Sometimes these words yield too little information, because they claim simply that one society is superior to another« (zit. in: ebd.: 25).

Wenn aber eingesehen wurde, dass »Tradition« und »Moderne« keine Attribute waren, die den Gesellschaften unserer Tage exklusiv zugeschrieben werden konnten, wenn also immer deutlicher wurde, dass Tradition und Moderne in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auftraten, dann war es nur noch ein relativ kleiner Schritt bis zu der Erkenntnis, dass es die eine Moderne nicht geben konnte und dass sich Moderne vielmehr in ganz unterschiedlichen Formen in den aktuellen Gesellschaften manifestiere. Diese zunächst lose Idee von der tatsächlichen »Vielfalt der Moderne« verdichtete sich in den 1990er Jahren zu einem eigenen For-

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schungsprogramm, in dem es darum gehen soll, durch den Vergleich von »Modernen«5 Unterschiede und Affinitäten aufzudecken. Das Programm ist heute unter dem Stichwort der »multiple modernities« bekannt. Eisenstadt selbst schrieb: »The notion of »multiple modernities« denotes a certain view of the contemporary world – indeed of the history and characteristics of the modern era – that goes against the views long prevalent in scholary and general discourse. It goes against the view of the ›classic‹ theories of modernization and of the convergence of industrial societies prevalent in the 1950s, and indeed against the classical sociological analyses of Marx, Durkheim, and (to a large extent) even of Weber, at least in one reading of his work. They all assumed, even if only implicitly, that the cultural program of modernity as it developed in modern Europe and the basic institutional constellations that emerged there would ultimately take over in all modernizing and modern societies; with the expansion of modernity they would prevail throughout the world« (Eisenstadt, 2000: 1).

Nun geht es Eisenstadt aber nicht nur darum, die Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Modernen aufzuzählen, sondern er vertritt außerdem den Anspruch, diese zu erklären. Zu diesem Zweck aktualisiert er eine Zivilisationstheorie, die sich an Karl Jaspersʼ Achsenzeit-Theorie anlehnt. Das Ergebnis lässt sich in folgendem Argument zusammenfassen: Verschiedene Modernen können als Resultate unterschiedlicher zivilisatorischer Pfade erklärt werden. Trotz aller Unterschiede wurzeln diese Pfade alle in irgendeiner Achsenzeit-Zivilisation, das heißt: in Zivilisationen, die die Fähigkeit besaßen, Moderne auszubilden. Ich möchte kurz einige Vor- und Nachteile dieser zivilisationstheoretischen Umcodierung der Modernitätstheorie nennen: 1. Auf der durchaus positiven Seite einer möglichen Bewertungsskala muss genannt werden, dass hier der Versuch unternommen wird, eine Theorie der Moderne zu artikulieren, die sich nicht auf ein Modell von Moderne reduziert wissen will. Eisenstadts Ansatz ist deshalb auch ein ernst zu nehmender Versuch zur Überwindung des Eurozentrismus. 2. Ein weiteres positives Element ist, dass die Erklärung der Unterschiede und der Vielfalt der Modernen nicht darauf beschränkt wird,

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Volker Schmidt hat die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll sein kann, von Modernen (im Plural) zu reden (vgl. Schmidt 2006).

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was in den letzten Jahren berechtigterweise als »methodologischer Nationalismus« (Beck 2002) kritisiert worden ist. Zivilisationen sind keinesfalls auf die Grenzen von Nationalstaaten festgelegt und mit letzteren nicht identisch. Sie stellen eine analytische Einheit dar, die nationale Grenzen unterwandert und damit alternative Topografien sichtbar werden lässt. 3. Schließlich erlaubt der zivilisationstheoretische Ansatz Eisenstadts, eine Sozialtheorie zu entwickeln, in der kulturelle und institutionelle Aspekte zusammen und in ihrer sich jeweils gegenseitig beeinflussenden Interaktion in den Blick kommen. Es gibt allerdings auch Probleme, die nicht unterschlagen werden dürfen: 1. Das erste Problem könnten wir mit dem Etikett »misplaced concreteness« versehen; es hat mit Eisenstadts Gebrauch der AchsenzeitHypothese zu tun. Eine Tagung, die vor einigen Jahren in Florenz zu diesem Thema abgehalten wurde, schloss mit folgendem statement der Organisatoren (Eisenstadt selbst, Johann P. Arnason und Björn Wittrock): »[…] a stronger emphasis should be placed on the diversity of developments in different regions during the Axial Age, and of the resultant traditions; more comparative analysis is needed, and the idea of a shared problematic of order, common to Greek, Jewish and Chinese traditions may have to be relativized or reformulated; the interpretation of Axial Age might have to move towards a model of ›multiple axialities‹ (analogous to the emerging paradigm of ›multiple modernities‹)« (Arnason/Eisenstadt/Wittrock 2005: 4).

Ich sehe in dieser Forderung die Gefahr, dass die soziologische Forschung, die sich an ihr orientiert, unsere gegenwärtigen modernen Gesellschaften aus dem Blick verlieren könnte, weil sie sich zu sehr mit den jeweiligen Achsenzeitzivilisationen beschäftigt. Im Vergleich zu Jaspers fällt außerdem auf, dass dadurch die eigentliche Pointe der Achsenzeithypothese verfehlt wird. Denn für Jaspers scheinen nicht wirklich die historischen Fakten der unterschiedlichen Achsenzeitzivilisationen entscheidend gewesen zu sein, sondern die Tatsache, dass die Achsenzeithypothese ein kulturphilosophisches Instrument bereitstellt, um an die Einheit des Menschen trotz aller Unterschiede glauben zu können. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, wann Jaspers das Buch Ursprung

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und Ziel der Geschichte, in dem er die Achsenzeithypothese vorstellt, veröffentlichte. Es war 1949, zu einer Zeit also, in der sich in Europa viele die Frage stellten, ob es noch ernsthafte Gründe dafür geben konnte, an das friedliche Zusammenleben aller Menschen trotz ihrer Unterschiede zu glauben. Jaspersʼ Theorie der Achsenzeit ist ohne diesen Hintergrund kaum zu verstehen. Sie ist eine klare Antwort auf die Zweifel, die zwei Weltkriege und die systematische Vernichtung von Millionen menschlicher Leben provozierten, indem sie daran erinnert, wie viele Gemeinsamkeiten selbst Zivilisationen, die nicht miteinander kommuniziert haben, teilen. Jaspers erinnert damit an das nichthintergehbare Gemeinsame im Menschen und bedient sich einer durch und durch humanistischen Geste. Aktuelle Achsenzeittheoretiker scheinen diesen humanistischen Zweck des Achsenzeittheorems aus den Augen verloren zu haben. 2. Ein weiteres Problem hat Gerard Delanty angesprochen (vgl. Delanty 2006). Der Fokus auf Zivilisationsbrüche der Achsenzeit führt dazu, dass Veränderungen, die später auftreten, oftmals nicht mehr in derselben Kategorie berücksichtigt werden. Moderne selbst wird als Resultat der Weichenstellungen erklärt, die vor etwa 2500 Jahren entstanden. Wenn aber alles darauf hinausläuft, was vor 2500 Jahren geschehen ist, drängt sich die Frage auf, warum wir uns überhaupt noch mit der Moderne beschäftigen sollten. 3. Delanty hat auch auf einen weiteren Punkt hingewiesen: »Aside from the difficulty that it is not at all clear how the various historical elaborations are connected or driven by the original impetus, the result of this exercise is that non-western modernities are ultimately failed modernities« (ebd. 27).

4. Schließlich: Auch Gurminder K. Bhambra stört die Idee der Pfadabhängigkeit von Achsenzeitzivilisationen, das heißt, die Ansicht, dass Achsenzeitzivilisationen sich zeitlich ausdehnende Einheiten darstellen, die sich gegenseitig kaum beeinflussen (vgl. Bhambra 2006: 21). Sie schreibt: »This methodology serves rather only to reinforce the differences between societies (and civilizations) and the seperateness of their trajectories, rather than facilitating an examination of their interconnections« (ebd.).

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Hier manifestiert sich eine gewisse Unfähigkeit dieser Theorien, zu erklären, wie gerade die Moderne unterschiedliche Zivilisationen miteinander verknüpft hat. Dazu müsste die Revision der Vorstellungen von der Moderne, die die Modernisierungstheorien, aber auch noch die Theorien der multiple modernities speisen, noch selbstkritischer werden. Vor allem müsste dazu der Kolonialismus stärker als bisher als eines der ganz wesentlichen Grundzüge der Moderne anerkannt werden. Genau dies ist in der Debatte geschehen, die ich nun diskutieren werde.

4.4 P OSTKOLONIALISMUS »Postkolonialismus« ist ein Kompositum, dass innerhalb der Soziologie noch keinen großen Popularitätsgrad erreicht hat, und das, obwohl es in vielen anderen Bereichen der Kulturwissenschaften einen regelrechten Boom zu erleben scheint (vgl. Reuter/Villa 2010), und manche bereits von einem »postcolonial turn« ausgehen (vgl. BachmannMedick 2006). Zweifelsohne wird »Postkolonialismus« in der Regel noch als etwas verstanden, was vor allem in die Literaturwissenschaften und Kulturwissenschaften in einem engeren Sinne, wie wir ihn im englischen Begriff der cultural studies finden, zu gehören scheint. Dies lässt schon vermuten, dass viele Fachvertreter der Soziologie aus Angst vor einer »kulturwissenschaftlichen Verwässerung« der eigenen Disziplin (Reuter/Villa 2010: 8) eher Distanz wahren. Im Folgenden sollen uns aber vor allem die Gründe interessieren, die entschieden für eine Integration postkolonialer Argumente in sozialtheoretische Debatten sprechen. Abgesehen von der Frage, ob sich Postkolonialismus und Sozialtheorie überhaupt sinnvoll miteinander verbinden lassen, möchte ich danach fragen, ob der Postkolonialismus helfen könnte, in den Reflexionen über Moderne ein Weltbewusstsein zu stärken, wie es in diesem Buch artikuliert werden soll. Im Gegensatz zur Achsenzeittheorie und den sich von ihr inspirierenden Theorien der multiple modernities setzt die postkoloniale Perspektive wieder darauf, die aktuelle Moderne als Resultat jener Ereignisse zu verstehen, die vor etwa 500 Jahren anfingen, der Welt, in der wir heute leben, ein neues Gesicht zu geben. Anders als die konventionellen Versuche, den Ursprung der modernen Welt festzulegen, kritisieren postkoloniale Ansätze die weitverbreitete Auffassung, dass Re-

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naissance bzw. Reformation oder die so genannte »Entdeckung der neuen Welt« den eigentlichen Ursprung der Moderne darstellen. Die genannten Ereignisse verweisen lediglich auf europäische Erfahrungen (vgl. Bhambra 2007; Mignolo 1995). Das Problem bestehe jedoch darin, dass diese Erfahrungen als Grunderfahrungen von Moderne allgemein deklariert werden, die alle Gesellschaften wiederholen müssten, und dass die »europäische Expansion« die Möglichkeiten, modern zu werden, in der gesamten Welt überhaupt erst verfügbar gemacht habe. James Blaut sieht in diesem Sendungsbewusstsein Europas ein sehr typisches Merkmal des Eurozentrismus, das er Diffusionismus nennt (vgl. Blaut 1993). Der postkolonialen Kritik geht es nun darum, die europäischen Erfahrungen als das zu demaskieren, was sie letztendlich sind: nämlich europäische Erfahrungen, die nicht deshalb schon universell sind. Europa soll »provinzialisiert« werden (Chakrabarty 2002). Die Kritik an den eurozentristischen Mechanismen der Festlegung dessen, was unter Modernität zu verstehen sein soll, wird begleitet von einer provokativen Umdeutung der Moderne: »[...] der Kolonialismus wird nicht als Nebenerscheinung der ›Moderne‹ oder des ›Kapitalismus‹ aufgefasst, sondern als ihr konstitutiver Bestandteil«, schreiben Reuter und Villa (2010: 18). Hierin sehe ich einen weiteren Kerngedanken des postkolonialen Verständnisses von Moderne (vgl. auch Bhambra 2007: 154). Dabei geht diese Erkenntnis in den interessanteren Fällen über ein rein moralisierendes Urteil der Moderne hinaus. Ganz entscheidend ist nämlich die Einsicht, dass auch die europäische Moderne erst durch den Kolonialismus und dessen Konsequenzen zu dem werden konnte, was wir heute darunter verstehen. Gefragt wird in diesem Zusammenhang, welche Pathologien die Kolonialisierung in Europa provoziert hat. Für viele Autoren steht fest, dass nicht nur die ehemals kolonialisierten Länder unter dem Kolonialismus leiden. Insbesondere frühe Exponenten postkolonialen Denkens haben diese Idee stark gemacht. In seinem berühmten Discours sur le colonialisme (1955) besteht Aimé Césaire darauf, dass die deshumanisierenden Praktiken des Kolonialismus auf Europa zurückschlagen. Ein deutliches Zeichen dafür sah Césaire in Hitler und dem Nationalsozialismus, wo kolonialistische Methoden und Praktiken auf die weiße Bevölkerung Europas angewandt wurden. An dieser Stelle ließe sich bereits Folgendes behaupten: Da sich der Postkolonialismus, und zwar nicht bloß in seinen bisher noch ge-

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ring vorhandenen genuin soziologischen Artikulationen, an durchaus soziologischen Themen abarbeitet, allen voran der Theorie der Moderne, steht er mit der Soziologie in einem engen Verhältnis. Couze Venn schreibt, ausgehend von einer ähnlichen Überlegung: »It is impossible today to pose any question about the postcolonial without presupposing the history, the discourse and process of modernity and modernization« (Venn 2006: 41).

Erstaunlich sind angesichts dieser thematischen Verwandtschaft eher die Berührungsängste, die auf beiden Seiten – sowohl seitens der Soziologie als auch seitens postkolonialer Kulturwissenschaftler – noch bestehen. Eine systematischere Verbindung zwischen Postkolonialismus und Soziologie stellt meiner Ansicht nach eine zentrale Herausforderung für alle aktuellen Theorien der Moderne dar. Wie ist es aber um das Weltbewusstsein des Postkolonialismus bestellt? Auch hier kann der Modernitätsbegriff Aufklärung bringen. In den Schriften des aus Argentinien stammenden und heute in Mexiko lebenden Philosophen Enrique Dussel wird die Ambivalenz deutlich, mit welcher der Begriff der Moderne von vielen Autoren, die dem Postkolonialismus nahestehen, diskutiert wird. Einerseits wird er als Kampfbegriff kolonialistischer Rhetorik verstanden, andererseits werden aus ihm aber auch Strategien der Befreiung abgeleitet. Dussel unternimmt immer wieder Versuche, den Begriff der Moderne hinter sich zu lassen, um die Aufmerksamkeit auf kulturelle Kräfte zu lenken, die von der »europäischen Moderne« – die für Dussel gleichbedeutend ist mit »Weltsystem«, »Kapitalismus« und »Kolonialismus« (Dussel 2010: 13) – zwar unterdrückt, aber nicht vernichtet werden konnten. Er meint damit alle Kulturen, die er aus der Sicht der europäischen Moderne als subalterne, aber dennoch universelle Kulturen verstehen will und die er vor allem in Indien, China, im islamischen Teil der Welt und in Amerika verortet (vgl. schon Dussel 2002). Dussel glaubt nun, dass diese Kulturen ihre Potenziale in einem in die Zukunft gerichteten Prozess, der bereits begonnen hat, gegen die dominante »westliche« Moderne entladen und ihre eigenen Lösungen von Problemen, die unsere aktuelle Welt bedrohen, zur Geltung bringen werden (vgl. 2010: 14). Diese in die Zukunft gerichtete Bewegung nennt Dussel »Transmoderne« und erklärt:

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»A future trans-modern culture […] assumes the positive moments of Modernity (as evaluated through criteria distinct from the perspective of the other ancient cultures)[,] will have a rich pluriversity and would be the fruit of an authentic intercultural dialogue, that would need to bear clearly in mind existing asymmetries […]« (ebd.).

Walter Mignolo fasst Dussels Vorschlag folgendermaßen zusammen: Unter »Transmoderne« versteht Dussel »that modernity is not a strictly European but a planetary phenomenon, to which the ›excluded barbarians‹ have contributed, although their contribution has not been acknowledged« (Mignolo 2002: 57).

So gesehen stellt Dussels Begriff der Transmoderne also einen Modernitätsbegriff dar, der sich von anderen – allen voran jenem, der in den Modernisierungstheorien zum Ausdruck kommt – gerade durch sein Weltbewusstsein unterscheiden würde. Hier geht es eindeutig nicht mehr darum, die Teleologie der Modernisierungstheorien zu wiederholen, nach der sich alle menschlichen Gesellschaften entsprechend dem Vorbild der europäischen oder, besser noch, US-amerikanischen Moderne zu modernisieren haben, sondern es geht darum, den Begriff der Moderne – im Sinne von Transmoderne – für die Konstruktion einer gemeinsamen Welt aller Menschen auf planetarischer Ebene einzusetzen. Der Vorstellung, es könne nur eine Moderne geben, widerspricht hierbei die Überzeugung, dass es eine Vielfalt moderner Projekte gibt, die sich allerdings nicht unabhängig voneinander, auf je eigenen »Pfaden« entwickeln, sondern die, wie Dussel sagen würde, durch eine »transversale« Logik miteinander verbunden sind bzw. ein weltweites »transversales« Netz bilden (vgl. Dussel 2010: 14). Diese »transversale« Logik ist es nun, die postkoloniale Autoren ganz dezidiert an die Stelle der zeitlichen Logik der Modernisierungstheorien stellen. Sie hat sich in den soziologischen Modernitätstheorien in Form von zwei Begriffen Ausdruck verschafft: Einerseits durch den bereits erwähnten Begriff der »entangled histories«, (Conrad/Randeria 2002: 17) bzw. »entangled modernities« (vgl. auch Therborn 2003: 303), andererseits durch die auf den indischen Historiker Sanjay Subrahmanyam zurückgehende Wendung der »connected histories«, die Gurminder Bhambra sozialteoretisch anschlussfähig gemacht hat (vgl. Bhambra 2007).

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Wir können auch sagen: Die zeitliche Logik der Modernisierungstheorien wird durch ein räumliches Denken ersetzt. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des Postkolonialismus allerdings problematisch. Zwar machen seine Vertreter darauf aufmerksam, dass das »Post« in »Postkolonialismus« eben nicht mit dem »Post« in »Postmodernismus« identisch ist. Das heißt: »Postkolonialismus« ist keine plakative Ankündigung einer neuen Epoche (vgl. Appiah 1996). Es stellt sich dann aber die Frage, ob eine eher räumliche Terminologie nicht deutlicher machen würde, worum es tatsächlich geht. Robert J. C. Young schlägt in diesem Sinne den Begriff »tricontinentalism« vor: »[P]ostcolonialism – which I would prefer to call tricontinentalism – names a theoretical and political position which embodies an active concept of intervention within [...] oppressive circumstances. It combines the epistemological cultural innovations of the postcolonial moment with a political critique of the conditions of postcoloniality. In that sense, the ›post‹ of postcolonialism, or postcolonial critique, marks the historical moment of the theorized introduction of new tricontinental forms and strategies of critical analysis and practice« (Young 2001: 57).

Diese Umcodierung auf ein räumliches Verständnis sozialer, politischer und kultureller Realitäten kommt auch in einem weiteren Aspekt des Postkolonialismus zum Tragen. Reuter und Villa schreiben: »Zu den irritierendsten Stärken postkolonialer Perspektiven gehört […] die Reflexion des eigenen Standpunkts in epistemologischer, zugleich normativer und politischer Hinsicht als zwingend privilegierter Standpunkt« (Reuter/Villa 2010: 12).

Dabei muss deutlich werden, dass der jeweilige Standpunkt nicht unbedingt ein physisch-geografischer ist. Dies wird an anderen Standpunkttheorien deutlich. So zum Beispiel am Marxismus, der sich als Kritik am Kapitalismus vom »Standpunkt« des Proletariats aus versteht. Da aber die postkoloniale Kritik die ungleiche Verteilung politischer, ökonomischer und vor allem kultureller Ressourcen in geopolitischer Hinsicht zum Gegenstand hat, fällt der Standpunkt der Kritik in der Regel mit einem bestimmten geografischen Raum zusammen. In diesem Sinne kann Sérgio Costas Definition durchaus wörtlich genommen werden: »Ausgangspunkt des postkolonialen Ansatzes ist die

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Feststellung, dass jede Aussage ihren Ursprungs- und Entstehungsort hat« (Costa 2007a: 92). Die vorherrschenden Kategorien, die diese geografischen Unterschiede deutlich machen, sind bekannt: globaler Norden/globaler Süden, Zentrum/Peripherie dürften hier die gängigsten sein. Der mögliche Kurzschluss zwischen geografischem und kritischem Standpunkt macht postkoloniale Kritik für »nativistische« Tendenzen anfällig (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 119). Danach hätten nur diejenigen das Recht, eine Kritik an der Kolonialität der Moderne zu äußern, die aus kolonialen oder postkolonialen Gesellschaften kommen und nach Möglichkeit die Unterdrückung am eigenen Leibe erfahren haben. Nun ist es zwar richtig, dass koloniale und postkoloniale Erfahrungen in der Moderne für eine postkoloniale Kritik der Moderne ausschlaggebend sind, das kann aber nicht bedeuten, dass nur diejenigen, die die Erfahrungen der kolonialen Unterdrückung selbst gemacht haben, die Einzigen sind, die berechtigt wären, darüber zu reden. Aber selbst wenn es Gründe gäbe, dem Nativismus zuzustimmen, ließe sich fragen, ob das neue Verständnis der Moderne aus dem Blickwinkel des Kolonialismus uns nicht dazu verpflichten würde, alle Erfahrungen mit und in der Moderne, ganz gleich wo in der Welt sie gemacht wurden und werden, neu zu interpretieren. Können wir wirklich davon ausgehen, dass alle europäischen Gesellschaften in gleicher Weise kolonialistisch waren? Was lässt sich über die aktuelle Situation von Ländern wie Portugal sagen, die – wenngleich sie vor 500 Jahren eine der wichtigsten Kolonialmächte waren – heute vielleicht eher als »Semiperipherie« (vgl. Kapitel 7) verstanden werden sollten? Was können wir über Länder wie Bulgarien oder Rumänien sagen? Was über Australien (vgl. Connell 2007a)? Ich glaube, dass die Fragen deutlich machen, dass die »fiktiven Geografien« des Postkolonialismus komplexer sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Notwendig wäre daher mehr Differenzbewusstsein, welches sich wohl am ehesten durch vergleichende postkoloniale Studien erzielen ließe. Ähnliche Überlegungen hat auch Gurminder Bhambra zu Papier gebracht. Ihrer Meinung nach tendieren postkoloniale Theorien dazu, »the representation of the point of view of the oppressed independently of the particularity of experiences« vorzuziehen. Sie fährt fort: »It claims an understanding of the mechanisms of subordination beyond that which is available to those who are subordinated, and thus it is not the position

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of those who are oppressed that is being priviledged, but the believe in the nature of oppression and its real causes as held by standpoint theorists« (Bhambra 2007: 29).

Bhambra beklagt also einen Mangel an begrifflichen Werkzeugen, die es erlauben würden, die Vielfalt von Erfahrungen mit und in der kolonialen/postkolonialen Moderne wirklich in den Blick zu bekommen. »In this form of analysis, then, the importance given to the subjective experience of oppression gives way to a recognition of the different mechanisms and structures of domination« (ebd. 30).

Ich glaube, dass sich dieses Problem ebenfalls durch einen rigorosen Vergleich kolonialer und postkolonialer Erfahrungen bewältigen ließe. Mit anderen Worten: Es wäre notwendig, sich der jeweiligen kolonialen und postkolonialen Erfahrungen tatsächlich zu vergewissern, bevor wir uns in das Abenteuer einer großen Theorie stürzen. Auch wenn wir diese Erfahrungen nicht selbst gemacht haben, können wir uns über die vorhandene Literatur einen Zugang dazu verschaffen. All dies bedeutet nicht, dass der Postkolonialismus gescheitert wäre. Im Gegenteil, ich bin der Überzeugung, dass der Postkolonialismus eine notwendige Korrektur in unserem Verständnis und vor allem für die Kritik der globalen Moderne darstellt. Um dieses kritische Potenzial aber besser ausschöpfen zu können, sind einige Präzisierungen und Ergänzungen notwendig. Ich möchte hier zwei Vorschläge machen. Der erste besteht darin, modernitätstheoretische Überlegungen zu stärken. Der zweite wird uns auf ein bisher noch wenig vermessenes Terrain führen, das man unter dem Begriff »rekonstruktive postkoloniale Kritik« subsumieren könnte. 1. Wie bereits gesagt, sind die Berührungsängste zwischen Postkolonialismus und Soziologie unverständlich. Selbst in den postkolonialen Beiträgen, die am wenigsten soziologisch sind, scheinen soziologische Themen eine ganz zentrale Rolle zu spielen. Mehr noch: es werden häufig sogar ganz explizit die Modernisierungstheorien genannt, gegen deren dualistische Logik sich das kritische Potenzial postkolonialer Argumentationen entlädt. Dies gilt zum Beispiel für Homi Bhabha (vgl. Bhabha 2000: 257-258; Costa 2007a: 93). Angesichts dieser zentralen Rolle modernitätstheoretischer Überlegungen müsste der Begriff der Moderne aber systematischer disku-

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tiert werden. Dass dies nicht geschieht, liegt vermutlich daran, dass nicht nur die Einrichtung bestimmter moderner Institutionen und Lebensformen als koloniale Bevormundung verstanden wird, sondern auch der Begriff der Moderne. Diese Reaktion ist vor dem Hintergrund der Modernisierungstheorien verständlich, die, wie gesehen, tatsächlich der Welt ein »westliches« Ideal der Moderne vorschreiben wollten (vgl. Kapitel 3). Wenn wir »Moderne« aber nicht nur im Sinne von »Modernisierung« definieren, sondern diesen Begriff weiter fassen und in ihn die Summe der Erfahrungen hineinlegen, die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten in den Prozessen globalen Zusammenwachsens gemacht haben, wird nicht nur deutlich, dass fast alle Menschen der Erde von modernen Erfahrungen berichten können, sondern auch, dass diese Erfahrungen sehr vielfältig, ambivalent, ja widersprüchlich sein können und doch gleichzeitig auch überraschende Überschneidungen offenbaren, die einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen doch noch rechtfertigen. Wenn wir uns mit diesen Geschichten moderner Erfahrungen auseinandersetzen, wird auffallen, dass in einigen von ihnen der Umgang mit der Moderne weitaus komplexer zu sein scheint, als gemeinhin angenommen wird. Sowohl die modernisierungstheoretische Annahme, dass all das, was dem Ideal der Moderne Europas und vor allem Nordamerikas nicht entspricht, als hoffnungslos unmodern, will sagen »traditional«, zu verstehen sei, als auch die Auffassung, die sich in langen Debatten zum Beispiel in Lateinamerika herauskristallisieren konnte und in der davon ausgegangen wird, dass es nur zwei mögliche Reaktionen auf die Moderne geben kann: die kritiklose Akzeptanz der technokratischen Moderne einerseits und die fundamentalistischreaktionäre Ablehnung von Moderne andererseits (Miller 2008), werden dann als hoffnungslose Vereinfachungen erscheinen. Es wird sich herausstellen, dass Akzeptanz und Ablehnung durch jeweils genau zu analysierende und entsprechend zu definierende Prozesse kreativer Aneignung, aber auch sehr gewagter »Reformulierungen« (ebd. 18) ergänzt werden müssten. Es wird sich zeigen, dass es ganz unterschiedliche »Projekte der Moderne« gibt, die sich von den europäischen und US-amerikanischen tendenziell unterscheiden, und dass der Begriff der Moderne auch in normativer Hinsicht unterschiedliche Ausrichtungen bekommen kann.

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Gerade im Fall Lateinamerikas scheint mir auffallend, dass sich in den intellektuellen und akademischen Debatten6 eine Vorstellung von Moderne herauskristallisieren konnte, die eines der entscheidenden Kriterien von Moderne in der planetarischen Vernetzung aller Menschen sieht. Dabei wurde die nicht hintergehbare kulturelle Vielfalt, die den lateinamerikanischen Denkern bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewusst war, durchaus positiv bewertet und unter dem Anspruch eines neuen Humanismus ausbuchstabiert (vgl. ebd. 110). Ich sehe in dieser humanistischen Orientierung eine ganz zentrale Entscheidung, auf die ich noch zurückkommen werde (vgl. Kapitel 8.6). An dieser Stelle nur soviel: Ein Blick auf die Artikulationen unterschiedlicher Erfahrungen mit Moderne wird sichtbar machen, dass das Thema nicht auf Akzeptanz oder Ablehnung reduziert werden kann, wie es das »postkoloniale Dilemma« (vgl. Miller 2008: 110) suggeriert. Postkolonialismus müsste sich also auf eine differenzierte Diskussion der Moderne einlassen.7 2. Dazu ist aber eine methodologische und epistemologische Öffnung der postkolonialen Kritik notwendig. Mein Vorschlag orientiert sich an einer Unterscheidung, die Sérgio Costa eingeführt hat. Costa unterscheidet zwischen »postkolonialer Dekonstruktion« und »postkolonialer Rekonstruktion« (vgl. Costa 2007b). Als ersten Ergänzungsvorschlag möchte ich mir erlauben, im Folgenden anstelle von »postkolonialer Rekonstruktion« von »rekonstruktiver postkolonialer Kritik« zu reden. Dabei ist es mir wichtig, den Aspekt der Kritik auch in der rekonstruktiven Tendenz zu betonen. Wenn ich Costa richtig verstehe, subsumiert er unter dem Begriff der »postkolonialen Dekonstruktion« jene Punkte, die wir weiter oben

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Die Vorstellungen von Moderne in den intellektuellen und akademischen Debatten wie auch in den institutionellen Projekten konstrastieren häufig stark. Grundsätzlich ließe sich behaupten, dass ein tragisches Moment lateinamerikanischer Moderne darin liegt, dass es nicht gelungen ist, die verschiedenen intellektuellen Projekte und die politisch, sozialen und ökonomischen Modelle in Einklang zu bringen. Moderne und Modernisierung klafften in diesem Teil der Welt immer ganz besonders stark auseinander (vgl. García Canclini 1990).

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In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Kritik José Mauricio Dominguesʼ an Walter Mignolos Modernitätsbegriff verweisen (Domingues 2009).

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bereits zusammengefasst haben: eine Kritik an der geopolitischen Machtverteilung und den Einflüssen, die diese auf die Wissensproduktion in den Sozial- und Kulturwissenschaften hat; die Kritik an der Idee, dass Moderne zuerst in Europa keimte und von dort, dank der »europäischen Expansion«, in den »Rest« der Welt getragen wurde; und schließlich die Kritik am Eurozentrismus sowie die gleichzeitige Einsicht, dass Europa, bzw. in Europa produziertes Wissen »provinzialisiert« werden müsse (vgl. ebd.). Unter »postkolonialer Rekonstruktion« versteht Costa eine eher epistemologische Debatte, in welcher der Frage nachgegangen werden soll, wie sich unterschiedliche Wissensformen von ihren kolonialen Zügen befreien lassen können. Er unterscheidet dabei zwischen einem »emphatischen«, einem »intermediären« und einem »milden Programm« (ebd. 5). Die Unterschiede beziehen sich auf Grade der Ablehnung bzw. Akzeptanz konventioneller wissenschaftlicher Methoden. Während das »emphatische Programm« die moderne Wissenschaft in radikaler Weise desavouiert, stellt das »milde Programm«, mit dem sich auch Costa identifiziert, die Möglichkeit in Aussicht, herkömmliche Wissenschaften für die Dekolonialisierung des Wissens verfügbar zu machen. Das »intermediäre Programm« verortet Costa zwischen diesen beiden Polen (vgl. 6). Ich teile Costas Ansicht. Auch ich würde mich für ein »mildes Programm« aussprechen. Dies schon deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass in vielen Teilen der Welt durchaus Wissen produziert wurde, das mit den akademischen Bemühungen im »Westen« kompatibel ist, aber bisher überhaupt nicht oder nur marginal zur Kenntnis genommen wurde. Gleichzeitig scheint es mir aber auch nötig, über das, was Costa »postkoloniale Rekonstruktion« nennt, noch hinauszugehen. Was ich konkret meine, möchte ich mit der Wendung der »rekonstruktiven postkolonialen Kritik« überschreiben. Während Costa auf eine rein epistemologische Grundlagendiskussion verweist, in der die Frage im Vordergrund zu stehen scheint, ob und unter welchen Umständen es überhaupt möglich sei, sich mit dem Wissen der »Anderen«, der »Marginalisierten«, der »Subalternen« zu beschäftigen, möchte ich behaupten, dass wir überhaupt keine andere Wahl haben, als dies zu tun. Anstatt sich darauf zu beschränken, eurozentrische Diskurse als solche zu entlarven oder epistemologische Entscheidungen für eine Auseinandersetzung mit alternativem Wissen zu diskutieren, geht es einer »rekonstruktiven postkolonialen Kritik« darum, in

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die dichten kulturellen Prozesse einzutauchen, welche koloniale und postkoloniale Modernen hervorgebracht haben. Dabei werden sicherlich epistemologische und methodologische Spannungen entstehen. Aber diese lassen sich vermutlich nicht im Vorfeld lösen. Gurminder Bhambra schrieb: »New historical understandings cannot be added to pre-existing ones without in some way calling into question the legitimacy and validity of the previously accepted parameters – both historical and ethical« (Bhambra 2007: 149).

Dies bedeutet aber auch, dass zuvor nicht zur Kenntnis genommene historische Erfahrungen helfen, Kriterien für die Kritik der vorher existierenden Annahmen zu entwickeln. Um möglichst viele solcher Kriterien zu entwickeln, ist es also notwendig, möglichst viele solcher Erfahrungen zu rekonstruieren. Bevor ich mich nun selbst daran machen werde, solche Erfahrungen zu rekonstruieren, möchte ich noch einige allgemeine Prinzipien herausarbeiten, an denen sich eine aktuelle Modernitätstheorie ausrichten kann. Im Mittelpunkt wird dabei eine humanistische Orientierung stehen, die sich in einer Erfahrungssoziologie der globalen Moderne konkretisiert.

5. Die humanistische Wende

5.1 N IKLAS L UHMANN ÜBER E NGEL , T EUFEL

UND

M ENSCHEN

Einer der Soziologen, die den Begriff des Menschen sowie jede Beziehung zum Humanismus nicht nur streng vermieden haben, sondern auch zu erklären vermochten, warum sie das tun, war Niklas Luhmann. Ein kurzer Text, der auf vorzügliche Weise Humor und didaktischen Anspruch miteinander verbindet, macht besonders deutlich, worum es Luhmann gegangen sein muss (vgl. Luhmann 2008). Er beginnt mit einer kleinen englischen Geschichte aus der Zeit der Französischen Revolution: Der Teufel trifft darin einen Engel, den er darüber belehren will, dass Gott eigentlich nur »als die Größe im Menschen« vorstellbar sei (vgl. 252). Wie zu erwarten, widerspricht der Engel energisch: »Du Götzenanbeter, weißt Du nicht, daß Gott Einheit ist, und er hat einen Sohn geschickt, der Sohn hat die zehn Gebote bestätigt, und die Menschen sind Sünder und Dummköpfe und Taugenichtse« (zit in: ebd.).

Nach Luhmann hält der Streit darüber, was der Mensch nun sei, bis in unsere Tage an. Dass es dabei aber immer wieder zu extrem unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Positionen und Definitionen kommt, macht Luhmann an der Komplexität des Gegenstandes fest (vgl. 254). Die modernen Wissenschaften hätten jedoch ein zuverlässiges Verfahren entwickelt, mit hoher Komplexität umzugehen. »Die Hypothese lautet, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems in der Gesellschaft und der Steigerung

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des Auflöse- und Rekombinationsvermögens in bezug auf vorgefundene Gegenstände« (ebd., kursiv im Original).

Das heißt: Je komplexer die Gesellschaft, desto ausdifferenzierter würden ihre kognitiven Instrumente und desto feingliedriger schließlich das Verständnis der Gegenstände, die es zu erkennen gibt. Ein Begriff wie der des Menschen passe in diese Logik nicht mehr hinein. Die Sozialwissenschaften täten also gut daran, ihn aufzulösen, denn er kaschiere Komplexität nur (vgl. 256). Nach dem heutigen Stand der Wissenschaften sei es Luhmann zufolge notwendig zu erkennen, dass »man von verschiedenen emergenten Ebenen des Ordnungsaufbaus der Realität ausgehen muss, die den Menschen sozusagen durchschneiden« (257). Wir redeten deshalb konsequenterweise in der Soziologie nicht mehr vom »Menschen« – was nach Luhmann »unvermeidlich dilettantisch« (260) wäre – sondern von »Rollen«, »Institutionen«, »Verhaltenserwartungen« oder »Kommunikation«. Dabei wird nach Luhmann auch klar, dass wir ein weiteres Vorurteil aufgeben müssen, nach dem wir den Menschen als unteilbares »Individuum«, oder »Subjekt« verstehen (vgl. Luhmann 1994). Luhmanns Argument gegen den Begriff des Menschen klingt plausibel. Tatsächlich sind die Gegenstände und Ereignisse, auf die sich dieser Begriff bezieht, weitreichend und vielschichtig, so dass es ratsam erscheint, sie zu sortieren und ihre Analyse und Erklärung den jeweils dafür zuständigen Fachsprachen zu überlassen. Aber genauso wie Luhmann den Begriff des Menschen – und mit ihm den des Subjekts und des Individuums – als komplexitätsreduzierende Abstraktion der Aufklärung versteht, könnte man seine Bedeutung für ein komplexitätsbewussteres Denken auch positiver einschätzen. Könnte der Begriff des Menschen nicht als eine Art Metabegriff die zersprengten Reflexionsareale, die sich auf immer mehr Einzeldisziplinen verteilen, wieder zusammenführen, ohne dabei Kontingenz zu reduzieren? Mehr noch: Könnte nicht ein solcher Begriff Platz schaffen für all das, was in die Fachsprachen der Einzelwissenschaften nicht hineinpasst, und damit unser Verständnis vom Menschen erweitern? Wie sollen wir zum Beispiel mit Begriffen wie »Rollen«, »Institutionen«, »Verhaltenserwartungen« oder »Kommunikation« so etwas wie »religiöse Erfahrungen« verstehen? Dies scheint kaum möglich, wofür die Soziologie sehr viele Beispiele liefert. Das Thema der Religion wird auf die Diskussion historischer Prozesse verlagert, in der die

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These der Säkularisierung moderner Gesellschaften behauptet oder abgestritten wird, oder es wird auf seine institutionelle Dimension reduziert. Ausnahmen finden wir lediglich bei Autoren, die sich in ihrer Soziologie von einer Vorstellung vom Menschen leiten lassen. Hans Joas ist ein gutes Beispiel. An seiner Anfang der 1980er Jahre zusammen mit Axel Honneth geäußerten Überzeugung der Notwendigkeit anthropologischer Orientierungen in der Sozialtheorie (vgl. Honneth/ Joas 1980) dürfte sich auch später, als er seine Handlungstheorie im Zeichen der Kreativität entwickelt, nicht viel geändert haben. Fest steht, dass Joas hier konsequent von »menschlichem Handeln« redet (vgl. Joas 1992), und noch als Epigraf seines 1997 veröffentlichten Buches Die Entstehung der Werte wählt Joas ein Zitat von Charles Renouvier: »Strenggenommen gibt es Gewißheit nicht; es gibt nur Menschen, die ihrer Sache gewiß sind«. Philologisch interessant ist, dass Renouvier für William James eine wichtige Quelle der Inspiration gewesen ist, und James wiederum hat durch seine Theorie der »religious experience« (vgl. James 1994) in Joasʼ Wertentstehungstheorie eindeutige Spuren hinterlassen (Joas 1997). Werte entstehen nämlich für Joas in Situationen »menschlichen Handelns«, in denen »Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« gemacht werden, die religiösen Erfahrungen ähneln (ebd. 10). Dass also »religiöse Erfahrungen« handlungstheoretisch erklärt werden, beweist nicht nur, dass sie als soziologisches Thema in dieser Disziplin diskutiert werden können, sondern auch, dass eine Sensibilität für typisch menschliche Dispositionen des Handelns nötig ist, um diese überhaupt in den Blick zu bekommen. Begriffe wie »Rollen«, »Institutionen«, »Verhaltenserwartungen« oder »Kommunikation« reichen dazu nicht aus. Anstatt in der Rede vom Menschen also eine komplexitätsreduzierende Funktion zu vermuten, ließe sich auch behaupten, dass sie die einzelnen Fachdisziplinen daran erinnert, sie täten gut daran, über ihre Grenzen hinauszublicken. In ihrem bereits erwähnten Buch nennen Axel Honneth und Hans Joas aber noch einen anderen Grund dafür, sich auch heute noch mit dem Menschen zu beschäftigen. »Wer sich heute im Rahmen der Sozial- und Kulturwissenschaften mit Anthropologie beschäftigt, bedarf dafür kaum umständlicher Begründungen. Zu deutlich drängen die Motive unterschiedlicher sozialer Bewegungen unserer Zeit in diese Richtung. Grüne Bewegung, Alternativbewegung, Frauenbewegung –

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ungeachtet aller Differenzen zwischen den verschiedenen Tönungen des bunten Spektrums oppositioneller Regungen – haben zumindest den Bezug zum Thema der Natur gemeinsam: der äußeren Natur und eines humanen Verhältnisses zu ihr ebenso wie der inneren Natur des Menschen und ihrer humanen Ausgestaltung« (Honneth/Joas 1980: 7).

Obwohl dieses Buch bereits vor etwa 30 Jahren veröffentlicht wurde, hat sich an der Dringlichkeit der in ihm artikulierten Forderungen kaum etwas geändert. Die rasante Veränderung der Lebensbedingungen in den aktuellen Gesellschaften ruft die Frage auf den Plan, wie viel dem Menschen zugemutet werden kann. Auch dass wir heute solche Fragen kaum mehr zu stellen wagen, erklärt eine konsequente Verdrängung des »Menschen« aus den Sprachen der Sozial- und Kulturwissenschaften, gegen die aber nicht zuletzt auch Soziologen protestiert haben.

5.2 D IE N EGATION DES M ENSCHEN S PRACHE DER S OZIOLOGIE

IN DER

Die »Enthumanisierung« moderner Gesellschaften ist als etwas erfahrbar, was sich im Denken, konkreter noch: in der Sprache der Wissenschaften, und vor allem auch der Soziologie fortsetzt. Das Resultat ist eine Vorstellungswelt des Sozialen, in welcher der Mensch den institutionellen Kräften hoffnungslos ausgeliefert erscheint. So schrieb schon Norman E. Nelson: »Vielleicht sind Soziologen nicht die Ungeheuer, die Humanisten aus ihnen machen, aber sie sind im Begriff, ein Ungeheuer zu schaffen, das noch die Wasserstoffbombe in den Schatten stellt. Sie schaffen eine unpersönliche Maschinerie zum Zwecke der Zerlegung des Menschen in normierte, auswechselbare Teile, um sie in Schubfächer zu sortieren und dann auf Bestellung wieder zusammensetzen zu können [...]« (zit. in: Löwenthal 1980: 353).

Auch dies ist eine Sicht auf die zunehmende Auflösbarkeit aller Wissenschaftsobjekte, auf die sich Luhmann, wie oben erwähnt, berief. Im Unterschied zu Luhmann schien Nelson aber zu wissen, dass, wenn wir vom Menschen reden, die Summe der einzelnen Teile immer weniger ist als das Ganze.

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Fest steht, dass die Verbannung des Menschen aus den Sprachen der Sozialwissenschaften kein neues Phänomen ist. Neu ist aber, dass dieser Tendenz heute kaum mehr widersprochen wird. Dies war vor einigen Jahrzehnten noch anders. Damals kultivierten viele noch eine Kritik am »Weltbild der Soziologie«, wonach »der Mensch, anstatt selbst zu handeln, nur gesellschaftliche Rollen ausführt« (Tenbruck 1984: 48). Der hier zitierte Friedrich Tenbruck ist auch einer derjenigen, die sich am energischsten für eine Erinnerung an den Menschen in der Soziologie ausgesprochen haben. Was wir seinem Bemühen entnehmen können, ist vor allem die Sorge darum, dass unser Verständnis gesellschaftlicher Phänomene und Prozesse nicht vollständig sein kann, solange es nur darum geht, quantitative Daten zu erheben: »Die für den Menschen so schwer faßliche, aber stets zentrale Lebensfrage, wie er sein will oder vielleicht sein soll, ist ersatzlos gestrichen zugunsten der einzigen Frage, wie er sich befindet. Alle kulturellen, geistigen, sittlichen und geistlichen Gehalte sinken zum Beiwerk der Gesellschaft herab; jede menschliche Gemeinschaft soll nichts mehr bedeuten als ihre äußere Einrichtung; alle geschichtlichen Daseinsformen – Reiche, Völker, Nationen, Kulturgemeinschaften – werden ihrer Eigenart beraubt, um auf das Normal-Null von Gesellschaftsstrukturen heruntergeschleust werden zu können; die Gesellschaft selbst wird zu einem Dauerprozeß der sozialen Differenzierung denaturiert, dessen geheimes Versprechen einer fortlaufenden Verbesserung der äußeren Daseinsumstände auf die Dauer nicht die sinnlose Leere dieses Vorgangs verbergen kann« (ebd. 50).

Hier wird die implizite Kritik an der zeitlichen Logik der Modernisierungstheorien und deren Voraussetzungen deutlich, allem voran die Idee von der fortschreitenden sozialen Differenzierung. Tenbruck streitet diese allerdings nicht ab, sondern fordert lediglich mehr Kontingenzbewusstsein. Sobald die Größe »Mensch« und »dessen vieldeutiges und unberechenbares Handeln« in die Gleichung miteinfließe, müsse die Vorstellung von der »Gesellschaft«, deren Prozesse und Dynamiken immer gleich verlaufen, aufgegeben werden (ebd. 185). Dennoch vollzieht sich nach Tenbruck gerade auf dem allgemeinen Prinzip der »Abschaffung des Menschen« eine erfolgreiche globale Expansion der Soziologie. Der anfängliche Erfolg basiert Tenbruck zufolge auf einem Paradox. Die »Abschaffung des Menschen« führt zu

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einer widersprüchlichen Verheißung in den Modernisierungstheorien. Denn obgleich der Mensch aus den Prozessen gesellschaftlicher Entwicklung herausgelöst wurde, soll er doch noch der Adressat ihrer Versprechen bleiben. Vor allem die Modernisierungstheorien »versprachen, den Menschen den Glauben an den Fortschritt zurückzugeben, indem sie dessen Folgeschäden durch Planung ausschalten würden« (ebd. 165). Tenbruck fasst dieses Ereignis in folgenden Worten zusammen: »Aus der Weltgeschichte der Aufklärung ist so die Weltgeschichte der Soziologie geworden« (ebd. 152). Diese Reduktion menschlicher Erwartungen auf eine abstrakte Idee von Fortschritt qua Modernisierung, die Tenbruck in den 1980er Jahren kritisierte, wäre tatsächlich schon problematisch genug. Hinzu kommt aber, dass durch den Mangel an Weltbewusstsein immer nur von einer Geschichte der Modernisierung ausgegangen wurde, die sich in allen Gesellschaften gleich vollziehen müsse. Eine am Menschen orientierte Soziologie sollte stattdessen danach fragen, welche Erfahrungen Menschen unterschiedlicher Teile der Welt in diesen Prozessen der Modernisierung gemacht haben.

5.3 G RÜNDE GEGEN DEN H UMANISMUS ; DIE N OTWENDIGKEIT EINER HUMANISTISCHEN W ENDE Zweifelsohne können wir heute von einer Krise des Humanismus ausgehen. Dafür lassen sich zahlreiche Argumente nennen. Einige haben sich bereits in einflussreichen Diskursen eingerichtet. So zum Beispiel im »Posthumanismus«. Dieser könnte sich als radikale Gefolgschaft von Arnold Gehlen und dessen These vom Menschen als »Mangelwesen« beschreiben lassen. Wenn der Mensch sich in erster Linie als mangelhaft versteht, dann soll er überwunden werden. Denker, die solchen Ideen nahe stehen, beziehen sich gerne auf Beispiele aus der Computertechnologie. Wie in Spielbergs Film A.I. aus dem Jahre 2001 träumen sie von einer Zukunft, in der rein virtuelle und kybernetische Wesen den Menschen überdauern, die die organischen Grenzen des Menschen schon überwunden haben sollen (vgl. Sibilia 2005). Das Gefühl eines gewissen déjà vu lässt sich beim besten Willen nicht vermeiden. Werden hier nicht genauso, wie das Beispiel des cartesia-

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nischen Denkens lehrt, wieder Geist und Körper auf recht künstliche Weise getrennt? Besorgniserregender als die Nähe zu dieser recht konventionellen Tradition des europäischen Denkens scheint mir aber, dass diese posthumanistischen Träume auf dem Weg sind, sich in eine Imago für die Massen zu entwickeln. Der große Zuspruch, dessen sich neueste Errungenschaften der Unterhaltungstechnologien erfreuen – erwähnt sei hier nur Nintendo Wii und second life, beides Entwicklungen, die in die Richtung einer Substitution organisch situierten Daseins durch Computer-Simulationen deuten – könnte als Indiz dafür betrachtet werden. Doch die Verwirklichung posthumanistischer Träume in solchen technologisch möglichen Szenarien wäre nur dann ein Grund dafür, dem Humanismus abzuschwören, wenn die Aufgabe des Menschen, wie wir ihn heute kennen, bereits abgemachte Sache wäre. Ist sie das aber nicht – gäbe es also auch heute noch Gründe, an die vermeintlich »mangelhafte« Existenz des Menschen festzuhalten –, so wäre es notwendig, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften an dieser Front ihren Verteidigungsfeldzug beginnen. Das geht nur, wenn sie sich auf ihre humanistischen Traditionen besinnen, ohne ihnen blind zu folgen. Dabei muss vor allem an eine Qualität des Humanismus erinnert werden: Er hat sich immer und überall schon für den Menschen entschieden, trotz oder gerade wegen seiner »Mängel«. Können wir uns nicht auch heute noch, bzw. heute wieder, auf diese Grundlage verständigen? Eine zweite Gruppe von Argumenten gegen den Humanismus wird im Zusammenhang des Postkolonialismus und der Kritik am Eurozentrismus artikuliert. Walter Mignolo hat kürzlich geschrieben: »[the idea of the] human […] had already been formed during the Renaissance and was one of the constitutive elements of the colonial matrix of power. Henceforth, there was a close link between the concept of Man (standing for Human Being) and the idea of the humanities as the major branch of higher learning both in European universities and in their branches in the colonies (the universities in Mexico and Peru were founded in the 1550s, Harvard in 1636)« (Mignolo 2006: 312).

Folgten wir dieser Argumentation, wäre der Humanismus immer die Kombination einer ganz bestimmten Definition des Menschen und einer institutionalisierten Form der Wissensproduktion, den sogenannten

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Geistes- oder Humanwissenschaften (humanidades, humanities etc.), die außerhalb des historischen Kontextes des europäischen Kolonialismus keinen Sinn ergeben würde. Mignolo rechtfertigt sein eigenes Projekt darin, aus einer postkolonialen – oder, wie er sagen würde: »dekolonialen« – Perspektive eine Kritik am Humanismus und den humanities zu artikulieren: »We are now in the middle of a decolonial epistemic shift; and it is from this shift that the role of the humanities could be not only imagined but also reoriented. […] The decolonial epistemic shift is both geopolitical and bodypolitical. The first aspect brings to the foreground the relationship between geohistorical location and epistemology […]« (327).

Was uns dieses Zitat aber offenbart, ist, dass es Mignolo nicht um eine Absage an die humanities und in einem weiteren Sinne an den Humanismus zu gehen scheint, sondern dass er seine Aufgabe vor allem darin sieht, diese zu überdenken und neu zu definieren. Der neue Humanismus in »dekolonialer« Absicht – so viel steht fest – muss einschließender werden. Er muss ausnahmslos alle Menschen als solche anerkennen, ohne die Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen, zu unterschlagen. Ein solches Projekt würde in gewisser Weise einer Radikalisierung des Humanismus entsprechen. Die aktuelle Krise des Humanismus provoziert also zwei konträr zueinander stehende Reaktionen: Einer deutlichen Ablehnung des Humanismus – die sich gleichzeitig als Absage an den Menschen, so wie wir ihn kennen, offenbart – steht eine Radikalisierung des Humanismus gegenüber, die den Begriff des Menschen neu fassen muss und aufgefordert ist, sich den Angriffen gegen ihn zur Wehr zu setzen. Meiner Meinung nach liegt hierin eine der Aufgaben, die nicht nur alarmierend brisant ist, sondern die den Sozial- und Kulturwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine wichtige Orientierungshilfe sein sollte. Häufig wird der Humanismus mit dem Hinweis auf die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts abgelehnt. Die entscheidende Frage lautet: Kann man dem Humanismus, der sich historisch mit den Kulturen der Vernichtung überschneidet, noch trauen? Oder anders gefragt: Ist der europäische oder »westliche« Humanismus nicht mitverantwortlich für das Versagen der Menschlichkeit im 20. Jahrhundert? Für Jörn Rüsen wäre eine Distanzierung vom Humanismus gerade vor dem Hinter-

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grund der Erfahrungen der Dehumanisierung des 20. Jahrhunderts falsch. Er erinnert daran: »All world civilizations have developed universalistic concepts of humankind, i.e. concepts that claim to be valid for all people« (Rüsen 2009: 13). Ein wesentlicher Anspruch seines »interkulturellen Humanismus« besteht darin, genau dies zu zeigen. Dem Humanismus abzuschwören wäre also vergleichbar damit, einen durchaus menschlichen Reflex aufzugeben – vielleicht den einzigen, oder einen der wenigen, den alle Menschen miteinander teilen – und dies in einer Zeit, in der die Menschheit gemeinsame Orientierungsmöglichkeiten so dringend benötigt wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Gründe für die Wiederanknüpfung an die Tradition(en) des Humanismus scheint es also genug zu geben. Mit Lorenzo Simpson könnten wir auch sagen, dass der Humanismus ein nach wie vor »unvollendetes Projekt« darstellt (vgl. Simpson 2001), an das sich auch heute noch anschließen lässt. Ich möchte dabei so weit gehen zu behaupten, dass wir eine »humanistische Wende« brauchen, sehe aber auch bereits erste Anzeichen dafür.

5.4 D IE

HUMANISTISCHE

W ENDE

Zugegebenermaßen ist »humanistische Wende« kein Ausdruck, der in einer Zeit, in der sich täglich neue »Wenden« einzustellen scheinen, besonders originell wäre. Es müsste schon genauer danach gefragt werden, welchen Stellenwert die humanistische Wende im Vergleich zu all den anderen Wenden einnimmt. Längst gibt es Versuche, die unterschiedlichen Wenden zu ordnen und zu systematisieren. Einen vor allem in Deutschland viel zitierten Vorschlag hat Doris Bachmann-Medick vorgelegt. In ihrem Buch Cultural Turns (2006) gibt sie eine Antwort darauf, was sich hinter der Rede von den »Wenden« eigentlich verbirgt: »Auch wenn die Richtungswechsel keineswegs vage in ihrer Genese, doch noch viel entschiedener in ihrer Wirkung sind, zeigen die ›Wenden‹ in der gegenwärtigen Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften jedenfalls keine Unumkehrbarkeit. Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Fachs, sondern eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdisziplinär anschlussfähig machen kann. Es

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kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt« (ebd. 17-18).

Trotz des Eklektizismus zeigt Bachmann-Medick aber auch, dass der gemeinsame Nenner aller Wenden unverkennbar in der Chiffre »Kultur« steckt. So unterschiedlich Wenden wie die »interpretative«, die »performative«, die »reflexive«, die »postkoloniale«, die »übersetzende«, die »räumliche« oder die »ikonische« Wende auch sein mögen, allen gemein ist, dass sie sich auch als Konsequenzen der Wiederentdeckung der Kultur verstehen lassen; sie sind allesamt »kulturelle Wenden«. Das Großschreiben von »Kultur« resultiert aus Notwendigkeiten, welche sich aus den Theorie-Debatten, aber auch aus politischen und sozialen Entwicklungen der späten 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ergaben. Für unseren Zusammenhang genügt es, an einige der entscheidenden Werte zu erinnern, die durch die »kulturelle Wende« propagiert werden; allen voran den der kulturellen Vielfalt und der Erkenntnis, dass es in unserer aktuellen Welt darum gehen müsse, unterschiedliche Kulturen in ihrer Koexistenz zu begreifen, und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, die Vielfalt der Kulturen reduzieren zu wollen. Vor diesem Hintergrund tritt auch das kritische Potenzial der »kulturellen Wende(n)« hervor. Es wird bestimmt durch eine konstante Kritik an der Vorstellung, dass sich menschliche Lebensformen nur in einer einzigen Art und Weise realisieren können oder sollen. In den Mittelpunkt tritt dabei die Kritik am »Eurozentrismus«, wie sie heute deutlich in der »postkolonialen Wende« zum Ausdruck kommt. Gerade in diesem Zusammenhang scheint die »kulturelle Wende« aber auch an ihre Grenzen zu stoßen. So wichtig die Betonung der nicht reduzierbaren Unterschiede von Kulturen auch nach wie vor sein mag und so wichtig gleichzeitig der Anspruch auf Anerkennung kultureller Unterschiede ist, der Blick auf das, was alle Menschen miteinander teilen, droht dann verloren zu gehen, wenn »Kultur« in diesem Verständnis absolut gesetzt wird. Im Vergleich zu den »kulturellen Wenden« lässt sich die »humanistische Wende« wie folgt verstehen: Zunächst gilt auch hier, dass »Wende« keine absolute »Kehrtwende« meint. So sehr die westlichen Traditionen des Humanismus auch wichtige Orientierungsmarken für

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eine aktuelle humanistische Wende darstellen können, so sehr muss gleichzeitig deutlich werden, dass es nicht ausreicht, diese Traditionen einfach wiederbeleben zu wollen. Viel wichtiger ist der Vergleich von und der Dialog zwischen unterschiedlichen – keinesfalls nur »westlichen« – humanistischen Traditionen. Die Überlegung, auf der dieser Vorschlag beruht, ist, dass sich in allen Kulturen Vorstellungen vom Menschen mit daraus resultierenden Werten artikulieren, die sich über alle existierenden Unterschiede hinweg in unterschiedlichen Humanismen tradieren (vgl. Antweiler 2010). Die »humanistische Wende« beabsichtigt nun keineswegs, hinter die »kulturelle Wende« zurückzugehen. Zwar sucht sie nach dem, was allen Menschen gemeinsam ist und durch den Stoff der kontingenten Kulturen hindurchschimmert. Dabei will sie aber nicht in abstrakter Weise bloß anthropologische Invarianten aufzählen. Im Gegenteil, die humanistische Wende will von den Erfahrungen, die Menschen überall auf der Welt gemacht haben, lernen. Humanistische und kulturelle Wenden ergänzen sich gegenseitig. Was das bedeuten kann, hat Edward W. Said gezeigt.

5.5 V OM

PHILOLOGISCHEN ANSPRUCH EINER HUMANISTISCHEN M ETHODE

In einem erst nach seinem Tode veröffentlichten Buch stellt sich Edward W. Said in das Licht eines bekennenden Humanisten. Dabei bietet er keineswegs – wie vielleicht von einem Philologen der Klasse Saids zu erwarten wäre – eine gelehrte Rekonstruktion der humanistischen Tradition(en). Weder Gelehrsamkeit noch theoretische Probleme allein haben Said dazu bewogen, über den Humanismus zu schreiben, sondern das politische Engagement, das in seinem Leben für einen ebenso konstanten Antrieb gesorgt hat wie seine akademischen Ambitionen. Das humanistische Resümee seines Leben, als das man das kleine Buch verstehen kann (Said 2004), entfaltet ganz zielstrebig vor allem einen Gedanken, den Said wohl als den Kerngedanken humanistischen Denkens identifiziert haben musste: den nämlich, dass man auch heute noch als Mensch Entscheidungen treffen muss und treffen kann. Damit wendet sich Said ganz deutlich gegen all jene Theorien, die den bewusst und verantwortungsvoll handelnden Menschen als Illusi-

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on ablehnen. Er bezieht sich dabei vor allem auf jene Theoretiker, die aus den Vorgaben von Marx, Freud und Nietzsche einerseits und Ferdinand de Saussure andererseits Ideen formulierten, die dem so verstandenen Humanismus völlig konträr liefen. »[T]he death of man-theauthor and [...] the preeminence of antihumanist systems« sind die beiden Hauptmerkmale dieser neuen Denkbewegungen, die in Foucault einen ihrer wichtigsten Vertreter finden und gegen die sich Said deutlich absetzen will. »Although I was one of the first critics to engage with and discuss French theory in the American university, […] I remained uneffected by that theoryʼs ideological antihumanism, mainly, I think, because I did not (and still do not) see in humanism only a kind of totalizing and essentializing trends« (Said 2004: 10).

Was ist Humanismus aber dann? Said versteht »humanism as an ongoing practice and not as a possession« (Said 2004: 6). Sein Manifest des Humanismus hat einen konkreten und aktuellen Anlass: die Veränderung der Welt nach dem 9. September 2001. Dieses Ereignis und seine Folgen machten es nötig, sich auch als Wissenschaftler mit den Dingen, die in der »Welt« geschehen, entschieden auseinanderzusetzen. Gerade dieses Bewusstsein für die Notwendigkeit innerweltlichen Handelns versteht Said als eines der großen Legate des Humanismus. Er erklärt: »The key word here is ›worldly,‹ a notion I have always used to denote the real historical world whose circumstances non of us can in fact ever be seperated from, not even in theory« (48).

»Worldly« oder besser noch »worldliness« ist mit der Idee des Humanismus, auf die sich Said bezieht, auf das Engste verbunden. Damit stellt er sich aber auch ganz unmissverständlich in eine Tradition der Moderne, nämlich jener, die sich vor allem mit dem der Welt zugewandten, mündigen Menschen identifizieren will. Moderne und Humanismus sind also unzertrennlich, sie sind mit dem gleichen Programm angetreten: der Konstruktion einer säkularen, menschenwürdigen Welt, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung des Menschen von jeder Art der Bevormundung. Gleichzeitig versteht Said den Humanismus als durch und durch praktisch:

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»Both of these notions [secular and worldiness] allow us to take account not of eternally stable or supernaturally informed values, but rather of the changing bases for humanistic praxis regarding values and human life that are now fully upon us in the new century« (61).

Der Bezug auf die praktische Bedeutung von Moderne und Humanismus kann nicht groß genug geschrieben werden. Er meint auch, dass der Mensch durch Moderne und Humanismus nicht nur zu einem selbstbeschaulichen, »autoreflexiven« Wesen geworden ist. Nicht die Vernunfterkenntnis steht also in Saids Verständnis der humanistischen Moderne im Mittelpunkt. Nicht Kant, sondern Vico ist für Said der Protagonist des modernen Humanismus bzw. der humanistischen Moderne. Denn erst in dessen »verum/factum-Formel«, in der Erkenntnis also, dass nur das, was der Mensch selbst macht, auch vom Menschen verstanden werden kann, liege die von jeder Bevormundung befreiende Einsicht, die dem Menschen den Platz in der Mitte der von ihm geschaffenen Welt gewährleistet. »Another way to putting this is to say that the subjective element in humanistic knowledge and practice has to be recognized and in some way reckoned with since there is no use in trying to make a neutral, mathematical science out of it« (12).

Obwohl Said diese epistemologischen Überlegungen nicht weiter ausführt, lässt sich schnell erahnen, wie entscheidend sie sind. Dass es eben nicht die »Vernunfterkenntnis« ist, die hier im Mittelpunkt stehen soll, öffnet nicht nur den Weg für ein von vornherein »praktisches« Verständnis des Menschen, sondern es schafft eben auch ein anderes Verhältnis zur »Welt«. Informiert wird dieses nämlich nicht durch eine Art Introspektion des »Geistes«, der sich dann als »Weltgeist« begreifen darf, wenn er glaubt, ein entsprechendes Maß an Allgemeinheit, aber eben auch an Abstraktion erreicht zu haben. Das Problem, das sich dabei immer wieder einstellt, ist, dass das Eigene zu schnell mit dem Allgemeinen verwechselt wird. Genau darin liegt das Problem des Eurozentrismus, mit dem der »Westen« in den letzten Jahrhunderten immer wieder versucht hat, sich über die kulturellen Errungenschaften anderer Kulturen und Zivilisationen zu erheben. Said, der auch der Autor von so einflussreichen Büchern wie Orientalisms (1978) und Culture and Imperialism (1993) ist, hat die Kritik am Eurozentrismus in

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ganz entscheidender Weise mitgeprägt. Aber wenn er diesen Eurozentrismus bisher vor allem beschrieben und kritisiert hat, scheint er in seinem Humanismus-Buch einen Vorschlag zu machen, wie sich grundsätzlich über ihn hinausgehen lässt. Es handelt sich dabei um ein kulturwissenschaftliches Programm, das von dem Anspruch geleitet wird, sich tatsächlich in der Welt umzuschauen, um die Vielzahl der menschlichen Lebensformen, die sich in ihr eingerichtet haben, zur Kenntnis zu nehmen. »Worldiness [means] at a more precise cultural level that all texts and all representations were in the world and subject to its numerous heterogeneous realities […]« (49).

Humanismus wäre demnach eine Art Besinnung auf die praktischen und weltschaffenden Anlagen des Menschen. Diese Besinnung besteht nicht aus gegenstandsloser Kontemplation, sondern aus der Beschauung der Werke, die Menschen überall in der Welt hervorgebracht haben. »Humanism, I strongly believe, must excavate the silences, the world of memory, of itinerant, barely surviving groups, the places of exclusion and invisibility, the kind of testimony that doesn't make it onto the reports but which more and more is about whether an overexploited environment, sustainable small economies and small nations, and marginalized peoples outside as well as inside the maw of the metropolitan center can survive the grinding down and flattening out and displacement that are such prominent features of globalization« (81-82).

Der Anthropologe Renato Rosaldo glaubt, dass seine Disziplin für einen solchen methodologischen Humanismus am besten gerüstet ist: »Anthropology«, schreibt er, »invites us to expand our sense of human possibilities through the study of other forms of life. Not unlike learning another language, such inquiry requires time and patience. There are no shortcuts« (Rosaldo 1993: 25).

Ich glaube, dass die Soziologie in der globalen Moderne vor einer ähnlichen Aufgabe steht. Sie muss sich diesem mühsamen Prozess des Lernens von und mit den Anderen stellen, wenn sie den Anspruch ei-

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nes auch heute noch gültigen selbstreflexiven Dispositivs der Moderne nicht aufgeben will. Besonders dringlich scheint mir dabei, und darin sehe ich den Unterschied zur Anthropologie, der Frage nachzugehen, welche Lebensformen sich unter den Bedingungen der Moderne tatsächlich herausgebildet haben.

5.6 H UMANISTISCHE K ULTUR ALS PÄDAGOGISCHE H ERAUSFORDERUNG IN DER E POCHE DER G LOBALISIERUNG Für die US-amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum steht seit Langem fest, dass Humanismus abstrakt bleibt, wenn er nicht in die Sprache der Schul- und Bildungspolitik übersetzt wird. Dies sei besonders heute dringlicher denn je, weil wir in einer Zeit beschleunigter Globalisierung lebten, in der es notwendig sei, dass alle Menschen »Weltbürger« werden (vgl. Nussbaum 1997). Um dieses anspruchsvolle Ziel aber in erreichbare Nähe zu bringen, sei es notwendig, Kindern und jungen Erwachsenen eine Ausbildung zu garantieren, die ihnen die Möglichkeit gibt, etwas über und von anderen Kulturen zu lernen. Nussbaums Anspruch ist mehr als bloße Philanthropie. Nur wer andere Kulturen kenne, werde verstehen, dass die Möglichkeit, mit anderen Kulturen in Kontakt zu treten, nicht notwendig im Clash of Civilizations enden muss. »If one comes to see oneʼs adversaries as not impossibly alien and other, but as sharing certain general human goals and purposes, if one understands that they are not monsters but people who share with us certain general goals and purposes, this understanding will lead toward a diminution of anger and the beginning of rational exchange« (Nussbaum, 1997: 61).

Wie lässt sich dieser Anspruch aber praktisch umsetzen? Ganz entscheidend ist für Nussbaum die Tatsache, dass alle Menschen in ihrer Kindheit narrative Fähigkeiten entwickeln, die für die jeweilige Welterschließung ausschlaggebend sind. Damit Kinder zu »Weltbürgern« werden, sei es notwendig, den Prozess der Aneignung dieser narrativen Kompetenzen nicht auf die jeweils eigenen Geschichten zu beschränken.

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»Education for world citizenship needs to begin early. As soon as children engage in storytelling, they can tell stories about other lands and other peoples. A curriculum for world citizenship would do well to begin with the first grade, where children can learn in an entertaining and painless way that religions other than Judaism and Christianity exist, that people have many traditions and ways of thinking. (One such curriculum has been developed by E. D. Hirsch Jr. and is being used in a number of elementary-school districts around the country: first-graders tell stories of Buddha under the boddhi tree; they think about Hindu myths of the gods, about African folktales, about the life of Confucius.) By the time students reach college or university, they should be well equipped to face demanding courses in areas of human diversity outside the dominant Western traditions« (65).

Die interkulturellen Fähigkeiten, wie sie Nussbaum vorschweben, gehen über die der Toleranz hinaus. Sie sollen nicht auf eine passive Einstellung dem Anderen gegenüber reduziert werden. Nussbaums Programm eines »humanistischen Kosmopolitismus« (Ramírez 2007) zielt darauf ab, dass sich Kinder die Geschichten, aber auch Philosophien und Religionen anderer Kulturen und Zivilisationen aneignen. Ähnlich wie im Sprachunterricht ginge es darum, sich mit anderen Weltanschauungen vertraut zu machen. Dieser praktisch-pädagogische Ansatz des Umgangs mit dem Fremden darf sich meiner Meinung nach nicht auf die Lehre (in Schulen oder Universitäten) beschränken, sondern muss deutlicher als bisher die Richtung der Forschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften bestimmen. Besonders der Umgang mit den narrativen Aspekten der Sozialforschung sollte stärker als bisher bewusst gemacht und trainiert werden, um so Verfahren einzuüben, sich mit den Erfahrungen nicht-westlicher Gesellschaften mit und in der globalen Moderne vertraut zu machen. Im folgenden Kapitel möchte ich zeigen, was dies für die Soziologie bedeuten könnte.

6. Auf den Spuren einer Soziologie menschlicher Erfahrungen

6.1 V ON DER REFLEXIVEN S OZIOLOGIE S OZIOLOGIE DER E RFAHRUNGEN

ZU EINER

Im vorhergehenden Kapitel sind immer wieder Aspekte angesprochen worden, welche die herkömmlichen Modernitätstheorien, vor allem dort, wo sie noch eindeutig unter dem Einfluss der Modernisierungstheorien stehen, herausfordern und den Weg in eine andere Theorie der Moderne weisen, die ich unter dem Stichwort »Moderne als Weltbewusstsein« zusammenfassen möchte. In diesem Kapitel möchte ich nun versuchen, einige dieser Aspekte zu systematisieren. Ganz zentral scheint mir dabei die methodologische Notwendigkeit, unterschiedliche Erfahrungen, die Menschen mit und in der Moderne gemacht haben, in die Modernitätsforschung mit aufzunehmen. Dadurch soll auch der humanistische Anspruch in der Modernitätsforschung stark gemacht werden. Ich werde der Frage nachgehen, wie es überhaupt gelingen kann, eine Theorie der Moderne auf der Grundlage menschlicher Erfahrungen zu artikulieren. Eine solche Theorie der Moderne muss die konventionellen Grenzen der Sozialwissenschaften allgemein und der Soziologie im Besonderen überschreiten. Begriffliche und methodologische Neuorientierungen werden zwingend. Diese Einsicht ist freilich nicht neu. Den Anspruch des Neustarts vertreten längst andere. Ich möchte hier kurz an einen besonders viel zitierten Versuch erinnern, um vor diesem Hintergrund meinen eigenen Vorschlag abzuheben. Ulrich Becks »reflexive Soziologie« ist das Ergebnis der Überzeugung, dass ein völlig neues Verständnis der Soziologie notwendig sei,

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weil die Moderne einen »Meta-Wandel« erlebe. Diese neue Soziologie soll sich durch ihre »Reflexivität« auszeichnen. Der Begriff der »Reflexivität«, den Beck meint, fällt aber nicht mit der Idee der »Selbstreflexion« zusammen. Letztere »gehört zum Begriff der Moderne wie die Farbe Weiß zum Schimmel« (Beck/Bonß 2001: 11). In der Tat: Selbstreflexion scheint eine typisch moderne Erfindung zu sein. Sie gilt gemeinhin als Rationalitätsvorsprung moderner Gesellschaften im Vergleich zu nicht-modernen bzw. traditionalen Gesellschaften. In der Soziologie wird die intellektuelle Disposition der Reflexion vorausgesetzt, ja Soziologie wird grundsätzlich als Reflexionsdispositiv der modernen Gesellschaft verstanden. Damit wird vorausgesetzt, dass sich soziale Akteure nicht mehr vorbehaltlos mit dem sozialen System, der Gesellschaft, der Gemeinschaft usw. identifizieren, sondern dass sie eine kritische Distanz zu diesen sozialen Einheiten einnehmen. Beck reagiert mit seinem Verständnis der Reflexivität in gewisser Weise auf Provokationen des Postmodernismus, wenngleich er nicht davon ausgeht, dass wir die Moderne bereits überwunden hätten. Im Gegenteil, die Zeichen der Zeit machten eher deutlich, dass sich die Moderne radikalisiert, bzw. sich selbst modernisiert habe. Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau erklären: »Die westliche Moderne wird sich selbst zum Thema und zum Problem; ihre Basisprinzipien, Grundunterscheidungen und Schlüsselinstitutionen lösen sich im Zuge radikalisierter Modernisierung von innen her auf; das Projekt der Moderne muss neu verhandelt, revidiert, rekonstruiert werden. Anders gesagt: Der gesellschaftliche Rahmen verändert sich und der Denkrahmen der Sozialwissenschaften muss umgebaut werden« (Beck/Bonß 2001: 11). Ist dieser Vorschlag aber wirklich so radikal anders? Wie autokritisch geht Becks reflexive Soziologie mit der westlichen Moderne wirklich um? Zunächst einmal muss deutlich gemacht werden, dass sich Beck et al. durchaus sensibel zeigen für Themen, welche die Globalisierungsdebatte, die Debatte über multiple modernities und der Postkolonialismus in modernitätstheoretische Diskussionen eingeführt haben. Sie akzeptieren, dass sie nicht mehr von der einen Moderne ausgehen, die in Europa ihren Ursprung hatte und unverändert in den »Rest« der Welt getragen werden konnte. »In einer Zeit, in der beispielsweise viele asiatische Länder weder im Kolonialismus noch im Postkolonialismus verharren, sondern selbstbewußt alternative

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Modernen konstruieren, wird die Rede von der ›westlichen Moderne‹ zum Anachronismus« (ebd. 16).

Dies bedeute, dass das »Projekt der Moderne« neu verhandelt werden müsse (vgl. ebd. 11). Und Beck und seine Koautoren signalisieren sogar, dass es notwendig wäre, vor allem vom Postkolonialismus zu lernen: »Dem gängigen Verständnis nach ist ›modern‹, wer anderen vorausgeht. In der Rede von der ›reflexiven Moderne‹ dreht sich – ironisch – dieses Verhältnis möglicherweise um. Man ist reflexiv-modern, weil man der postkolonialen Modernisierungskritik hinterherhinkt« (ebd. 18).

Trotzdem ist auch die »reflexive Soziologie« nicht frei von eurozentristischen Fallgruben. Dort zum Beispiel, wo der europäische Protagonismus, wenn auch diesmal in kritischer Absicht, durchbricht: »Wenn ein Unternehmen ein mangelhaftes Produkt auf den Weltmarkt wirft und diese Mängel dem Kunden Verdruß bereiten, dann muss das Unternehmen dieses Produkt zurückrufen und reparieren, und zwar auf eigene Kosten. Europa muss das Produkt und Projekt der westlichen Moderne sozusagen ›zurückrufen‹, also grundsätzlich kritisieren und reformieren. Normativ und politisch gewendet, schließt ›reflexive Modernisierung‹ also auch die Selbstkritik, Redefinition, ja Reformation der (ersten) Moderne ein« (ebd. 12).

Dieses Zitat zeigt eigentlich nur, wie wenig die Grundideen postkolonialer Kritik verstanden worden sind. Wie wir bereits gesehen haben, ist es ein ganz wesentlicher Punkt postkolonialer Kritik, die allgemein verbreitete Annahme, dass Moderne ein europäisches »Produkt« sei, infrage zu stellen. Viel interessanter als die Frage, wie Europa seine Moderne »reparieren« könne, wäre aus postkolonialer Sicht sicherlich zunächst einmal die Frage, welche Zweifel die nichtwestlichen Erfahrungen mit und in der kolonialen bzw. postkolonialen Moderne den westlichen Vorstellungen (und das bedeutet auch: der westlichen Kritik) entgegenstellen. Die Einsicht der Notwendigkeit, Moderne neu zu verhandeln, wird also letztendlich sehr halbherzig umgesetzt. Ein entscheidender Schritt in Richtung eines anderen Verständnisses von Moderne, das sich außerdem von der postkolonialen Modernisierungskritik belehren lassen

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möchte, ist meiner Ansicht nach nur Erfolg versprechend, wenn die konkreten Erfahrungen, die Menschen in nichtwestlichen Gesellschaften mit und in der kolonialen/postkolonialen Moderne gemacht haben, in diese Kritik mit einfließen. Um diese Erfahrungen verfügbar zu machen, brauchen wir aber eigentlich überhaupt keine groß angelegte neue Theorie, sondern nur den Willen, diese Erfahrungen tatsächlich zur Kenntnis nehmen zu wollen, und ein wenig hermeneutisches Talent. Wenn wir uns damit in der Welt umsehen, werden wir schnell erkennen, dass sich diese anderen Erfahrungen mit und in der globalen Moderne in sozialtheoretischen Überlegungen aus vielen Teilen der Welt mitteilen. Wir würden dann schnell einsehen, dass sozialtheoretische Reflexionen nicht nur in Europa und Nordamerika existieren. Von dieser Erkenntnis ist die australische Soziologin Raewyn Connell in ihrem Buch Southern Theory ausgegangen und dabei zu folgendem Ergebnis gekommen: »We […] have strong reasons to doubt the conventional picture of the creation of sociology. This is not just to question the influence of certain individuals. We must examine the history of sociology as a collective product – the shared concerns, assumptions and practices making up the discipline at various times, and the shape given that history by the changing social forces that constructed the new science« (Connell 2007a: 5).

Nun mögen sich im letzten Teil des Zitats Ansprüche wiederfinden, die sich von den Deklarationen der »reflexiven Soziologie« nicht zu sehr unterscheiden. Dennoch geht Connell über diese einen entscheidenden Schritt hinaus. Anstatt nach einem neuen begrifflich-theoretischen Rahmen für eine neue Theorie der Moderne zu suchen, studiert sie Theorien aus Australien, Indien, Lateinamerika und Afrika und öffnet der Reflexion über die Moderne damit eine Welt, die ihr bisher verschlossen war. Sie folgt damit einer ganz zentralen Einsicht: »In terms of geopolitical location sociological theory has been unreflexive. Most theoretical texts are written in the global North, and most proceed on the assumption that where they are written does not matter at all. But it can be shown, both for specific fields such as urban theory […] and for highly abstracted texts of general theory […], that ›where‹ does matter« (Connell 2007b: 368).

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Die Öffnung der Soziologie darf dabei aber nicht nur in räumlicher Hinsicht erfolgen. In vielen Teilen der Welt, zum Beispiel in Lateinamerika, sind die Prozesse der Institutionalisierung der Sozialwissenschaften anders verlaufen als im Westen. Das bedeutet, dass sich in vielen Fällen alternative Reflexionsareale außerhalb der akademischen Soziologie herausgebildet haben. Gerade für den Fall Lateinamerikas wäre es notwendig, solche Bereiche in der Literatur, vor allem in der Essayistik, zu erschließen. Ähnlich muss auch Wolfgang Knöbl gedacht haben, als er schrieb, dass »das Entwicklungspotential bestehender makrosoziologischer Großtheorien [...] begrenzt oder ausgeschöpft ist und in der makrosoziologischen Diskussion neue Wege zu gehen sind. Wege freilich, die die Disziplingrenzen überschreiten, die also gelegentlich das sichere Terrain der Soziologie verlassen werden!« (Knöbl 2007: 11).

Was das bedeuten könnte, möchte ich in den folgenden Abschnitten diskutieren.

6.2 ANSCHLUSSSTELLEN FÜR EINE E RFAHRUNGSSOZIOLOGIE DER M ODERNE Eine Soziologie, in der menschliche Erfahrungen zu Informationsquellen von Modernisierung und Modernität werden, müsste ein Verfahren entwickeln, das sich vor allem gegen einen auf Institutionsanalyse geeichten begrifflichen und methodologischen Rahmen durchzusetzen imstande wäre. Dieser Meinung ist auch Peter Wagner: »We cannot entirely do without the institutional and the critical approaches. But the potential to further develop the thinking about modernity and overcome its impasses lies today with the interpretive and experiential ones« (Wagner 2008: 12).

Wagner hat in seinem jüngsten Buch einen deutlichen Versuch unternommen, die sozial- und vor allem modernitätstheoretischen Diskussionen an die Notwendigkeit der Erforschung menschlicher Erfahrungen zu erinnern. Dabei verdichten sich Intuitionen, die er in früheren Schriften bereits zu Wort gebracht hat. Besonders wichtig war ihm

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schon vor Jahren die Tatsache, dass die Frage nach Erfahrungen eben auch die Frage nach dem Menschen wieder auf den Plan ruft. »Philosophy and social theory proceed predominantly by presupposition and show little interest in actual human beings who tend to be taken into account only as disturbances the more they enter the public scene« (Wagner 2001: 61).

In demselben Text bezieht er sich auf Marshall Bermans Versuch, moderne Erfahrungen ins Visier zu nehmen und kommt zu dem Schluss: »In literature and the arts, in constrast, the experience of modernity is in the centre and, as an experience, it concerns in the first place the singular human being« (ebd.).

Die Frage, die sich vor dieser Entscheidung auftut, Erfahrungen als Analyserahmen einer Soziologie der Moderne aufzustellen, wird von methodologischen Schwierigkeiten begleitet: Wie lassen sich Erfahrungen erforschen? Auch Wagner sieht ein: »experiences, namely, do not ›speak‹ on their own« (Wagner 2008: 4). Er schlägt daher vor, eine Soziologie der Erfahrungen mit einer hermeneutischen Methode zu verbinden: Erfahrungen müssen interpretiert werden. Oder anders ausgedrückt: Interpretationen erst bringen Erfahrungen »zum Sprechen« (vgl. ebd.). In Wagners Worten: »While the interpretative approach provides the ground for an understanding of the variety of possible forms of modernity, the experiential approach helps to understand why a particular interpretation may come about in any given setting« (ebd. 12).

Wenn ich Wagner richtig verstehe, geht es ihm darum, der akzeptierten Auffassung von der Vielfalt von Modernitätstheorien und der damit einhergehenden Vielfalt von Interpretationen der Moderne bzw. imaginaries of modernity (Taylor) mit dem Vorschlag einer Metahermeneutik zu begegnen, um so die jeweiligen Erfahrungen herauszudestillieren. Er reagiert damit auf die Multiplikation von Modernitätstheorien. Zwar will er diesen keine neue Einheitstheorie überstülpen, wohl aber ist ihm daran gelegen, einen ordnungsstiftenden Rahmen zu schaffen, in dem die Vielfalt von Erfahrungen wieder zu recht interpretiert werden kann. Dabei lässt Wagner keinen Zweifel daran, dass

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dieser interpretative Metarahmen der Moderne nicht frei ist von dem Anspruch, ein bestimmtes normatives Selbstverständnis vor allem der europäischen Moderne gegen ganz unterschiedliche Angriffe – von denen er einige im Lager des Postkolonialismus vermutet (vgl. ebd. 7) – zu verteidigen. Was sich unter dem Strich als »modern« auszeichnet, erklärt Wagner, indem er an Kant erinnert: »modernity as the experience with, and interpretation of, human beings giving themselves their own laws« (ebd. 4). Nun scheinen es aber gerade diese oder ähnliche Verkürzungen zu sein, gegen die schon eine andere europäische Tradition der Erfahrungssoziologie angetreten war, an die ich im Folgenden kurz erinnern möchte und als deren Gewährsmann ich Walter Benjamin sehe.

6.3 W ALTER B ENJAMIN ALS T RADITIONSQUELLE EINER MÖGLICHEN E RFAHRUNGSSOZIOLOGIE Trotz aller (oder gerade wegen der?) Euphorie, die dem Werk Walter Benjamins in den letzten Jahren zuteil wurde, geht Peter Sloterdijk mit dem Berliner Philosophen hart ins Gericht. »Benjamins Arbeiten über das In-der-Welt-Sein als Blendung von der kapitalistischen Maya waren durch die Wahl ihres Gegenstands zur Unplausibilität verurteilt, zumal sie von vorneherein das Risiko eingingen, das Aktuelle anhand eines anachronistischen Objekts zu erklären: Sie fixierten sich auf einen architektonisch, ökonomisch, urbanistisch und ästhetisch überholten Bautypus, um diesem die ganze Last einer Hermeneutik des Kapitals aufzubürden; die bekannte Wendung, er habe mit Blick auf die Passagen eine ›Urgeschichte des 19. Jahrhunderts‹ schreiben wollen, verrät Benjamins unklare Prätention, im Überholten das Überzeitliche zu suchen« (Sloterdijk 2006: 272-273).

Abgesehen von dem Anspruch, die »Urgeschichte des Kapitalismus« aus den Pariser Passagen herauszulesen, scheint Sloterdijk aber vor allem eine methodologische Schwäche zu stören, die Benjamin seiner Meinung nach »ideologisch« rechtfertigt. »Benjamin wollte in sämtlichen Ausdrucksgestalten des modernen Geldzusammenhangs die Chiffren der Entfremdung lesen, als ob nicht nur der liebe Gott im Detail stecke, wie Spinozisten und Warburgianer glauben, sondern

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auch der Widersacher. Die Ideologie des Details nährte sich von der Unterstellung, der Tauschwert, der ansonsten angeblich unsichtbare genius malignus der modernen Welt, nehme in den Ornamenten der Ware Gestalt an und offenbare sich in den Arabesken der Passagenarchitektur. Solchem Detailaberglauben folgend, fraßen sich Benjamins Untersuchungen in unterirdischen Bibliotheksarbeiten fest, von einer unfreien Genialität in eine ausweglose Richtung gezwungen« (ebd. 273).

Sloterdijks Kritik scheint sich aber nicht so sehr gegen Benjamin selbst zu richten, sondern gegen jene, die in seinem intellektuellen Nachlass einen verkannten Schlüssel zum Verständnis unserer aktuellen Welt vermuten. Was ließe sich aber zu ihrer Verteidigung vorbringen? Hat Sloterdijk recht mit seinem Urteil über Benjamin oder verkennt er ihn, wie zu dessen Lebzeiten schon so viele? Solche Fragen haben selbstverständlich keine absoluten Antworten. Zusatzfragen sind notwendig. Zum Beispiel: Warum ist Benjamin und mit ihm sein »Detailaberglaube« (Sloterdijk) eigentlich plötzlich wieder so interessant geworden? Die Frage möchte ich einem Soziologen stellen, denn ich glaube, dass in seiner Disziplin die akribische Detailversessenheit Benjamins eher gewürdigt werden kann als in der Philosophie. David Frisby wurde vor allem deswegen international bekannt, weil er Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Werk Georg Simmels wieder für sozialtheoretische Diskussionen aufbereitete. Er tat dies unter anderem in seinem Buch Fragments of Modernity (1988), in dem er das Werk Simmels mit dem Siegfried Kracauers und eben Walter Benjamins in einen Zusammenhang stellt. Frisby geht es nicht darum, einen Schulzusammenhang zu rekonstruieren, obwohl er institutionelle Berührungspunkte, die zwischen den drei Autoren bestanden haben, nicht leugnet. Wichtiger ist ihm jedoch die Tatsache, dass alle drei akademisch marginalisiert waren. Dadurch nehmen sie die Position von »Fremden« ein, die ihnen eine privilegierte Sicht auf die Moderne garantiert. Mit der von Simmel stammenden Metapher des »Fremden« will Frisby keineswegs suggerieren, dass die drei genannten Autoren nicht in der Moderne angekommen seien oder sich bewusst für eine Rückkehr prämoderner Bedingungen stark machten, wie es die konservative Kulturkritik im Deutschland der Weimarer Republik wollte. Das Fremdsein in der Moderne bedeutet lediglich,

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dass die moderne Wirklichkeit andere »Erfahrungen« in die Leben der drei Autoren eingraviert habe (vgl. Frisby 1988: 34). Diese Einsicht ist fundamental für das Verständnis der Moderne, von dem Frisby ausgeht. Moderne oder Modernität stellten keinen objektiven Zustand dar, der sich in empirischer Eindeutigkeit vermessen ließe und dessen »Gesetze« in entsprechenden Theorien allgemeingültig festgeschrieben werden können. Vielmehr lässt sich Moderne vor allem durch Erfahrungen, die Menschen in und mit ihr gemacht haben, erschließen. Die drei Autoren, die Frisby in seinem Buch diskutiert, sind ihm nicht deswegen wichtig, weil sie drei verschiedene theoretische Modelle der Moderne ausgearbeitet haben, sondern weil sie als Menschen Erfahrungen in und mit der modernen Welt gemacht haben, die sich in ihren Arbeiten widerspiegeln. Deutlicher als Frisby hat der bereits erwähnte Marshall Berman in einem nur wenige Jahre zuvor veröffentlichten Buch diesen Ansatz der Modernitätsforschung vertreten. Der Titel des Buches zitiert einen berühmten Satz aus dem Kommunistischen Manifest: »All that is solid melts into air«. Aufschlussreich ist aber auch der Untertitel, den Berman seinem 1982 veröffentlichten Buch gab: The Experience of Modernity (Berman 1982). Ebenso wie Frisby geht es Berman darum, die Moderne in ihrer Einheit, aber auch in ihrer Vielfalt zu porträtieren. Dazu scheint ihm vor allem die Rekonstruktion unterschiedlicher Erfahrungen in und mit der Moderne geeignet zu sein: »There is a mode of vital experience – experience of space and time, of the self and others, of lifeʼs possibilities and perils – that is shared by man and women all over the world today. I will call this body of experiencies ›modernity‹« (15).

Was Bermans Buch von dem Frisbys unterscheidet, ist der geografische Fokus. Während dieser moderne Erfahrungen im Deutschland der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sammelt, hat jener von vorneherein einen eher international vergleichenden Anspruch. Dieser ist aber mit dem Begriff der Moderne, den Berman annimmt, kompatibel, denn Moderne ist für ihn etwas, was sich heute nicht mehr nur auf bestimmte Orte beschränkt. Berman erklärt: »Modern environments and experiences cut across all bounderies of geography and ethnicity, of class and nationality, of religion and ideology: in this sense, modernity can be said to unite all mankind« (ebd.).

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Nur ist es nicht die erzwungene Vereinheitlichung, die die Entwicklungs- und Modernisierungssoziologie zum Imperativ erhob, als sie versuchte, den Begriff der Moderne festzulegen, sondern Berman sah vielmehr eine bereits hergestellte Einheit, die alles andere als kontrastlose, fade Gleichheit ist: »[…] it is a paradoxical unity, a unity of disunity: it pours us all into a maelstrom of perpetual disintegration and renewal, of struggle and contradiction, of ambiguity and anguish« (ebd.).

Das bedeutete auch: Es gibt nicht nur diese eine westliche Moderne, sondern es gibt viele, unterschiedliche, die aber trotz aller Unterschiede durch ähnliche Erfahrungen zusammengehalten werden. Darüber hinaus entwickelten die »Männer und Frauen«, die diese Erfahrungen machten und sie tradierten, jeweils ganz unterschiedliche Antworten darauf. Berman drückt dies folgendermaßen aus: »Although most of these people have probably experienced modernity as a radical thread to all their history and traditions, it has, in the course of five centuries developed a rich history of its own« (16).

Wahrscheinlich wäre es hier nicht falsch gewesen, anstatt »history« »histories« im Plural zu schreiben. Wie dem auch sei, der methodologische Imperativ, der sich aus dieser Erkenntnis ergibt, besteht darin, diese Geschichten der Moderne in die Forschung der Moderne einzubeziehen. Für die Soziologie, oder zumindest einen Teil davon, bedeutet das, dass sie philologische Methoden verstärkt zur Geltung bringen müsste. Die Erforschung der verschiedenen Geschichten der Moderne, die wir auf der Erde heute sammeln könnten, hilft nicht nur, unsere globale Moderne besser zu verstehen, sondern auch, mögliche Alternativen zu erkennen. Und wieder war es Berman, der die passenden Worte parat hatte: »I want to explore and chart these traditions, to understand the ways in which they can nourish and enrich our own modernity, and the ways in which they may obscure and impoverish our sense of what modernity is and what it can be« (ebd.).

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Dieses Bewusstsein für den Zusammenhang von Moderne, Erfahrung und Erzählung finden wir schon im Werk Walter Benjamins. Ein kurzer Rückblick soll deutlich machen, dass es gerade der Begriff der Erfahrung ist, der uns erlaubt, das, was wir unter »Moderne« verstehen, daran zu messen, wie Menschen leben, und nicht daran, welche Begriffe Philosophen dafür erfinden mögen. Wie lassen sich Erfahrungen aber erforschen?

6.4 E RFAHRUNG

UND

E RZÄHLEN

Benjamins Interesse an »Erfahrung« lässt sich bis in seine Jugend zurückverfolgen. Ein früher Artikel aus dem Jahre 1913, den Benjamin für die Zeitschrift Der Anfang schrieb, trägt den Titel »Erfahrung« (vgl. Benjamin 1999a). Jahre später (1929) bezieht sich Benjamin erneut auf diesen frühen Text. Er gesteht nun, dass dieser einen sehr kritischen Ton hatte, aber auch, dass der Begriff der Erfahrung seitdem einen zentralen Stellenwert in seinem Denken hatte: »In einem frühen Aufsatz habe ich alle rebellischen Kräfte der Jugend gegen das Wort ›Erfahrung‹ mobil gemacht. Und jetzt ist dieses Wort ein tragendes Element in vielen meiner Sachen geworden. Trotzdem bin ich mir treu geblieben. Denn mein Angriff durchstieß das Wort, ohne es zu vernichten. Er drang ins Zentrum der Sache vor« (zit. in: Tiedemann/ Schweppenhäuser 1999: 902).

Tatsächlich lassen sich im Aufsatz von 1913 zwei unterschiedliche Begriffe von Erfahrung unterscheiden. Einerseits bezieht sich Benjamin auf jenen Begriff von Erfahrung, auf den die Erwachsenen rekurrieren, wenn sie der Jugend gegenüber ihre Überlegenheit rechtfertigen wollen. Benjamin sieht in diesem Gebrauch eine »Maske«, hinter der die Erwachsenen ihre wahren Gründe verstecken, die sie dazu bewegen, den Enthusiasmus der Jugend zu bremsen. »Erfahrung« in diesem Sinne ist das Argument der »Philister« gegen jene, die bereit sind, mit dem status quo zu brechen. Das Problem ist demnach nicht so sehr die Erfahrung als solche, sondern die Art und Weise, in der dieses Wort für konservative Interessen funktionalisiert wird. Benjamin glaubt, dass ein alternatives Verständnis von Erfahrung nur dann möglich sei, wenn diese durch »Geist« angereichert werde (vgl. Benjamin 1999a: 55). Was mit »Geist« gemeint ist, ist in dieser

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frühen Schrift nicht ganz klar. Eindeutig ist allerdings, dass »Geist« etwas sein soll, was zur Jugend gehört und was auf das Engste mit der Bereitschaft zu Kritik und Veränderung verbunden ist. Für Benjamin bilden also »Erfahrung« und »Kritik« eine unzertrennliche Einheit. 20 Jahre später schrieb Benjamin einen Aufsatz mit dem Titel »Erfahrung und Armut« (Benjamin 1999b). Darin wird die zentrale Rolle deutlich, die dieser Begriff für Benjamin nun hat. Auch in diesem Text erinnert sein Autor an die Funktion, die Erwachsene dem Begriff zuschreiben, wenn sie ihn gegen den Erneuerungsdrang der Jugend benutzen. Gleichzeitig deutet Benjamin hier aber bereits an, dass ein Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erzählung bestehen muss. Der Text selbst beginnt nicht nur mit einer kurzen Geschichte, sondern in ihm beklagt Benjamin auch, dass es heute schwierig sei, noch Leute zu treffen, »die rechtschaffen etwas erzählen können« (ebd. 214). Worum es Benjamin aber vor allem geht, könnte man als Kritik der Moderne vor dem Hintergrund der beklagenswerten Tendenz des zunehmenden Verlusts der Erfahrung nennen. Die Welt des Konsums und der Waren ersetzt Erfahrungen durch »Erlebnisse«, das heißt, flüchtige Versprechen des Glücks, die sich von einem Augenblick zum anderen in Nichts auflösen. Die ganze Tragik dieses Verschwindens der Erfahrung zeigt sich für Benjamin nach dem Ersten Weltkrieg: »Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mittelbarer Erfahrung« (ebd. 214).

Dabei leugnet Benjamin kaum die wahrhaftige Flut von Schriften, die sich nach dem Krieg mit diesem schrecklichen Ereignis auseinandersetzten. Aber die Menge an Geschriebenem gleicht den durch sie vermittelten Verlust der Erfahrung nicht aus. Nicht Erfahrung, sondern Perplexität teilt sich in dieser Vielfalt der Schriften mit. Die Zerstörungswut des Kriegs scheint sich auf diesen nicht zu beschränken. »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper« (ebd.).

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Der Krieg ist somit eher ein Symbol dieser allgemeineren Zerstörung geworden. Einen wesentlichen Aspekt dieser allgemeinen Zerstörung vermutete Benjamin in der Zerstörung der Erfahrungen, die die Menschheit über Generationen hinweg ansammeln konnte. So erklärt sich auch der Titel des Aufsatzes. Mit »Armut« ist die Armut an Erfahrungen gemeint: »Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum« (ebd. 215).

»Barbarei« bedeutet hier vor allem Austerität. Die Menschheit sieht sich gezwungen, von vorne anzufangen, weil all das, was sie über Generationen hinweg gelernt hat, plötzlich nichts mehr wert sein soll. Die Zerstörungswut des Krieges ist für Benjamin im Denken der modernen Zivilisation angelegt. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Descartes (vgl. 215). Mit dem Verlust der Erfahrungen geht der Verlust aller nur denkbaren Inhalte einher. Alles fällt dem unaufhaltsamen Zerstörungswillen der Moderne zum Opfer, selbst die Vorstellung, die der Mensch von sich selbst hat: »die Menschenähnlichkeit – diesen Grundsatz des Humanismus – lehnen sie ab« (ebd. 216). Dass der Humanismus einst zu den wichtigsten Errungenschaften der europäischen Moderne zählte, und dass er nun so selbstverständlich geopfert werden soll, auch das findet Benjamin in einer allgemeinen Tendenz bestätigt: »Sie haben alles ›gefressen‹, die ›Kultur‹ und den ›Menschen‹ und sie sind übersatt daran geworden und müde« (218). Die Kritik, die Benjamin am Verlust der Erfahrung artikuliert, wird zum Kern seiner Kritik an der Moderne. Die Moderne ist eine Zivilisation der Zerstörung. Sie erinnert an ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinsaugt und aus dem es kein Entrinnen gibt. »Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingegeben [...]« (219). An dieser Stelle können wir schon erahnen, was es mit der »Ideologie des Details«, die Sloterdijk bei Benjamin beklagt, auf sich haben könnte. Statt ihren Grund allein in einem blinden Versprechen dem marxistischen Materialismus gegenüber zu vermuten, könnten wir annehmen, dass das benjaminsche »Projekt« von Anfang an von der Sorge einer sich selbst verzehrenden Menschheit gezeichnet war. Marxistischer Materialismus ist dabei eine unter

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vielen Methoden, die Benjamin alle zum Zweck der Rückeroberung menschlicher Erfahrung einsetzte. Wichtiger als marxistischer Materialismus war Benjamin aber die Erzählung bzw. das Erzählen. Folglich offenbart der Aufsatz »Erfahrung und Armut« nur seine ganze Tiefe, wenn er durch die Lektüre eines anderen Aufsatzes ergänzt wird: »Der Erzähler« (Benjamin 1999c). Benjamin hat diesen Text aus Notizen, die er zwischen 1928 und 1935 machte, entwickelt. Die Gedanken, die hier zum Ausdruck kommen, fallen also in die gleiche Zeit, in der auch der vorherige Aufsatz geschrieben wurde. Diese Gleichzeitigkeit erklärt auch, dass Benjamin in »Der Erzähler« fast wortgleich seine Diagnose des Verlustes der Erfahrung wiederholt, die wir schon aus »Erfahrung und Armut« herausgelesen haben (vgl. Benjamin 1999b: 439). Wie ebenfalls bereits gesehen, schlägt Benjamin schon 1913 gegen den Verlust der Erfahrung eine Stärkung der Erfahrung durch »Geist« vor. Während die Bedeutung von »Geist« in seinem frühen Aufsatz noch unklar ist, löst sich dieser Nebel in »Der Erzähler« aber auf. Hier erkennen wir, dass der Atem des »Geistes« eben jener sein muss, den ihm der Erzähler einhaucht. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Erzählung und ihre Funktion für die Erfahrung nicht auf den Begriff des »Geistes« reduziert werden kann, wenn damit eine nicht-materielle Ursache gemeint sein soll. Vielmehr handelt es sich um eine »Praxis«, und dies in mehrfacher Hinsicht. Die Erzählung, oder besser: das Erzählen, ist eine Tätigkeit, die Menschen mit Zeit und Raum verbindet. »Erzählen«, so können wir auch sagen, ist eine weltschöpfende Tätigkeit. Benjamin unterscheidet zwei Typen von Erzählern. Die einen reisen und erzählen von den Erfahrungen, die sie an fremden Orten gesammelt haben, die anderen bleiben zu Hause und erzählen von anderen Zeiten. Was beide Typen aber miteinander teilen, ist die Fähigkeit, Distanz zum Hier und Jetzt herzustellen. Diese Fähigkeit können wir auch als Voraussetzung für jede Art von Kritik verstehen (vgl. 441). Doch Benjamin benutzt das Wort »Kritik« in diesem Zusammenhang noch nicht. Vielmehr fragt er nach der Funktion des Erzählens und kommt zu dem Schluss, dass Erzählen Rat weiß (442). Rat oder Ratschläge manifestieren sich in der Erzählung durch eine Moral oder eine »Lebensregel«, die meist auf ganz praktische Anwendungen abzielen. Durch Moral, Rat oder Lebensregel bekommt das Erzählen einen praktischen Sinn.

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Der Unterschied zur Kritik in einem negativen Sinne, wie sie Theodor W. Adorno propagierte, ist so eklatant, dass Adorno dieser Unterschied auffiel. Ähnlich wie Sloterdijk missfiel ihm Benjamins »mikrologische und fragmentarische Methode«, der er den »Gedanken der universalen Vermittlung«, wie er sie vor allem in Hegel und Marx fand, entgegenstellte (zit. in: Kramer 2003: 125). Adorno vermisste die »theoretische Vermittlung«, auf die Benjamin seiner Meinung nach verzichte (vgl. ebd. 126). Benjamin reagiert auf die Vorwürfe Adornos, indem er zugibt, dass die Theorie in seinem Werk zu kurz komme. Er verteidigt sich aber mit dem Hinweis auf den philologischen Anspruch seines Werkes. Den Unterschied hat Sven Kramer wie folgt zusammengefasst: »Anders als Adorno mündet sein [Benjamins] Verfahren nicht in ein Resultat der Theorie, sondern in eine Lektüre. Theorie produziert ein Wissen, Lektüre eine Erfahrung. In letzter Instanz geht es Benjamin weniger darum, Erkenntnisse zu vermitteln, als durch Texte Erfahrungen anzuregen« (ebd. 127).

Benjamins Kritik der Moderne orientiert sich an der Positivität der Erfahrungen und nicht am Verfahren der »negativen Dialektik« (Adorno). Die Bedeutung, die Benjamin der Erfahrung zukommen lässt, verpflichtet ihn dazu, kulturelle Aspekte, die nicht mehr zeitgemäß erscheinen, zu verteidigen. Einer dieser Aspekte ist direkt mit der Tätigkeit des Erzählens und der dadurch aktualisierten Erfahrung verbunden. Es handelt sich um den Rat, den die Erzählung vermitteln kann. Benjamin fragt in diesem Zusammenhang, warum es heute so »altmodisch« klingt, zu sagen, dass jemand einen »Rat weiß« (vgl. Benjamin 1999c: 442). Solche Fragen nach dem vermeintlich Obsoleten finden wir auch an anderen Stellen in Benjamins Werk. Seinem Interesse an der »Religiosität« der Gegenwart (vgl. Benjamin 1999d) geht vermutlich eine ähnliche Frage voraus: Warum klingt es eigentlich heute so unzeitgemäß, von Religiosität zu reden? Oder: Warum ist es so unzeitgemäß, von Erfahrung und Erzählung zu reden? Benjamins Werk offenbart seinen Enthusiasmus für das vermeintlich Unzeitgemäße und Obsolete. Nicht zuletzt muss sein Passagen-Werk in diesem Zusammenhang zitiert werden, denn im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht hier, wie Sloterdijk richtig sieht, ein obsoleter architektonischer Typus.

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Benjamins philologischer Verstand warnt ihn allerdings davor, das Vergangene voreilig zu verabschieden. In diesem Sinne enthält sein Unternehmen eine praktische Kritik an der Moderne, indem es das, was die Moderne abstößt, zu retten versucht. Auch auf die Frage, warum »Rat wissen« so unzeitgemäß klingt, antwortet Benjamin, indem er auf zwei Probleme des modernen Denkens hinweist: 1. Den Verlust der Vermittlung der Erfahrung und 2. die Verkürzung des Begriffs der Wahrheit, die keine epische Dimension mehr zulässt (vgl.: Benjamin 1999c: 442). Einen konkreten Grund für die Verödung des Erzählens sieht Benjamin im Roman. Der Erfolg des Romans manifestiert einen Wandel in der sozialen Ontologie. Erzählen ist immer eine kollektive Tätigkeit der Übertragung und des Austausches von Erfahrungen. Der Roman hingegen resultiert aus der Einsamkeit der Individuen. Er manifestiert aber auch das Fehlen von Rat. Paradigmatisch ist für Benjamin der moderne Ur-Roman schlechthin: Cervantesʼ Don Quijote ist vor allem ein Zeugnis für die moderne Ratlosigkeit. Andere Veränderungen der Lebensformen, die für den Verlust des Erzählens verantwortlich sein können, findet Benjamin in der modernen Presse. Die Presse reduziert Sprache zu einem Mittel der reinen Übertragung von Informationen (vgl.: Benjamin 1999c: 444). Schließlich glaubt er, dass Veränderungen der Arbeitswelt und der Produktionsmittel erklären können, warum das Erzählen an Bedeutung verlieren konnte. Während ältere Arbeitsprozesse wie das Spinnen und Weben Kontemplation und Langeweile förderten und so formidable Räume für das Erzählen von Geschichten eröffneten, vereitelt die industrielle Produktionsweise die Schaffung solcher erzählfreudiger Räume (ebd. 446). Aber auch wenn hier der Eindruck entsteht, dass die für das Erzählen notwendige Kontemplation eine Distanz zwischen dem Erzähler und der Welt schafft, besteht Benjamin darauf, dass das Erzählen immer in die Welt eingebunden ist. Ein wichtiger Grund für Benjamins Hochschätzung des Erzählens geht gerade auf diese Weltverbundenheit des Erzählens zurück und wird ergänzt durch seine Aversion gegen abstrakte theoretische Systeme. Das Erzählen stellt also nicht nur Verbindungen zu anderen Menschen her, sondern auch zur Natur. Für Benjamin ist das Erzählen immer schon ein Teil der Naturgeschichte, denn es entnimmt – wie alles

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in der Natur – seine »zeitliche« Autorität der Vergänglichkeit und dem Tod (vgl. ebd. 450). Die »Praxis« des Erzählens stellt eine existenzielle Tätigkeit dar. Sie konstituiert ein Beziehungssystem, über das Menschen den entscheidenden Dimensionen der Welt (Raum, Zeit und andere Menschen) einen existenziellen Sinn geben. Der Verlust des Erzählens entspricht folglich dem Verlust oder Teilverlust der Welt. An ihrer Stelle öffnet sich ein Abgrund; einzig die Erfahrung der Einsamkeit und Entfremdung bleiben übrig.

6.5 B ENJAMINS K RITIK ZEITLICHEN L OGIK

AN DER

Ein wesentlicher Aspekt von Benjamins Kritik der Moderne bezieht sich also auf den Verlust der Erfahrungen und der konkreten Inhalte, an deren Stelle abstrakte Vorstellungen, Begriffe und Theorien treten. Erklärt werden könne dieser Verlust aus einer Konzeption der leeren Zeit, die das Denken der Moderne beherrsche. Was das bedeutet, möchte ich im Folgenden erörtern. In seinem »Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen«, den Jürgen Habermas seinem Der philosophische Diskurs der Moderne (Habermas 1989: 21-26) einfügte, finden wir Elemente einer auch für unseren Zusammenhang inspirierenden Interpretation. Das erste Kapitel in Habermasʼ Buch, dem dieser Exkurs nachgestellt wurde, hat bekanntlich die Aufgabe, das moderne Zeitbewusstsein zu rekonstruieren. Dazu bedient sich Habermas der von Koselleck vorgeschlagenen Definition, nach der das Besondere des modernen Zeitverständnisses darin liege, dass es streng zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« unterscheide. Nach Koselleck lasse sich außerdem beobachten, dass der in die Zukunft gerichteten Erwartung ein größerer Stellenwert zukommt als der auf die Vergangenheit zurückverweisenden Erfahrung. Diese grundsätzliche Umwertung der Zeitökonomie in der Moderne lasse sich in allen nur denkbaren Bereichen der modernen Kultur feststellen. Einen deutlichen Ausdruck dafür finden wir, wie bereits gesehen, in den soziologischen Modernisierungstheorien (vgl. Kapitel 3). Nach Habermas könnten wir behaupten, dass Benjamin ein Kritiker der Modernisierungstheorien avant la lettre war. Damit stellt Ben-

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jamin für Habermas einen Verbündeten dar, denn auch dieser lehnt die Modernisierungstheorien wegen ihres respektlosen Umgangs mit der Vergangenheit ab: »[Die Modernisierungstheorie] löst die Moderne von ihren neuzeitlicheuropäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen Rationalismus in der Weise, daß die Modernisierungsvorgänge nicht mehr als Rationalisierung, als eine geschichtliche Objektivation vernünftiger Strukturen begriffen werden können« (Habermas 1989: 10-11).

An dieser Stelle zeigt sich Habermasʼ Anspruch, an Benjamins Kritik der leeren Zeit anzuschließen. Die Kritik an der leeren Zeit ist aber, nach Habermas, nur dann konsequent, wenn sie durch strenge historische Kontextualisierung ergänzt wird. Diesem Anspruch folgte Habermas bekanntlich sehr konsequent.1 Es gibt noch eine andere Idee, die Benjamins Kritik der Moderne ausmacht und auf der auch Habermas zur Zeit des Höhepunkts der Debatte über den Postmodernismus besteht: Eine Kritik der Moderne kann sich nur als immanente Kritik verstehen lassen. Dies schon deshalb, weil ein Standpunkt außerhalb der Moderne heute auf globaler Ebene kaum denkbar ist. In den Worten von Michael Löwy können wir sagen, dass auch Benjamins Anspruch darin bestanden habe, eine »moderne Kritik der Moderne« zu artikulieren (Löwy 2002: 14). Und doch bestehen zwischen Habermas und Benjamin wichtige Unterschiede. Tatsächlich steht im Mittelpunkt von Habermasʼ Rekonstruktion der Moderne das Ziel: eine Theorie der Rationalität zu begründen. Die venezolanische Philosophin Luz Marina Barreto hat das Resultat dieser evolutionstheoretischen »Rekonstruktion« der Moderne wie folgt zusammengefasst: »In welchem Sinn ist das mythische Weltbild nicht rational? Nach Habermas geht es nicht darum, dass das primitive Denken prä-logisch sei, um das Urteil von Lévy-Bruhl zu benutzen, sondern dass wir nur in modernen Gesellschaften über Krite-

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In vorbildlicher Weise löst er diesen Anspruch immer noch in seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit ein (Habermas 1990a).

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rien verfügen, die uns in einem objektiven und transkulturellen Sinn erlauben, die Irrationalität der Interpretation, an der eine primitive Gesellschaft ihre Praktiken orientiert, zu beurteilen« (vgl. auch Barreto 1993: 21). Solche Intentionen finden wir in Benjamins Werk nicht. Die leere Zeit der Moderne wird hier mit all dem gefüllt, was sich philologisch erschließen lässt. Der Weg ist nicht vorgegeben. Er definiert sich entsprechend dem, was gefunden wird, immer wieder neu. Es gibt also nicht nur ein »Projekt der Moderne«, sondern unzählig viele, die sich in den Geschichten und den verschütteten Erfahrungen abgelagert haben. Anstatt also den Sinn der Moderne auf einen normativ aufgeladenen Begriff der Rationalität zu reduzieren, lässt sich Benjamin auf das Abenteuer der philologischen Exploration moderner Welten ein. Daraus leitet sich Benjamins Kritik der Moderne ab. Der kürzlich verstorbene Philosoph Bolívar Echeverría hat geschrieben: Diese Kritik »drückt eine militante aber ambivalente Affektivität einer globalen Wirklichkeit gegenüber aus, welche alle partikularen Realitäten, die den Erwartungshorizont bevölkern, synthetisieren« (Echeverría 2005: 12).

Frisby und Berman scheinen in den 80er Jahren dieses Programm Benjamins auf die aktuelle Modernitätsdebatte zu beziehen. Dabei ist es aber vor allem Berman, der auch Benjamins philologische Methode der Welterschließung konsequent auf die über Europa hinausgehende Welt bezieht. Benjamin fehlte noch die Intuition für die planetarische Ausdehnung der aktuellen Moderne. Trotzdem enthält seine Einsicht in die Notwendigkeit einer narrativ-erfahrungstheoretischen Auseinandersetzung mit der Moderne Ideen, die vor allem dort plausibel erscheinen, wo die Vorstellung einer einzigen Erfahrungswelt der Mo2 derne nicht mehr glaubwürdig ist. Im Weiteren möchte ich mich der Frage widmen, wie sich der narrativ-erfahrungstheoretische Anspruch einer Erschließung der globalen Moderne in der Soziologie verteidigen lässt.

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Ich habe mich bemüht zu zeigen, dass in dieser Hinsicht vor allem die Art und Weise, in der Benjamin in Lateinamerika gelesen wurde und wird, eine sehr deutliche Sprache spricht (vgl. Kozlarek 2009b).

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6.6 E RZÄHLEN

ALS SOZIOLOGISCHE

T ÄTIGKEIT

Der schwedische Soziologe Göran Therborn ist vor einigen Jahren der Frage nachgegangen, was eigentlich vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte mit der master narrative der Moderne geschehe (Therborn 1995). Er kam dabei zu der Überzeugung, dass trotz aller Kritik der Reflex der großen Erzählungen grundsätzlich ungebrochen sei. Dennoch bestünden einige deutliche Unterschiede im Vergleich vor allem zur master narrative der Modernisierungstheorien. Der zentrale Stellenwert der Kultur müsse hervorgehoben werden, aber auch der »world history character« (124), den die neuen Erzählungen ausdrückten. Nach Therborn könne es allerdings heute nicht mehr darum gehen, den alten Anspruch der einen großen Erzählung der Moderne zu verteidigen. Viel zu deutlich seien trotz aller Vereinigungstendenzen doch auch die Spannungen und Konflikte, die diese Einheit immer wieder infrage stellten. Anstatt also die Geschichte der Modernisierung »as one (set of) process(es)« (134), die auf ein gemeinsames Telos ausgerichtet sind, nachzuerzählen, müsse es nach Therborn heute vielmehr darum gehen, »to conceptualize trajectories through a terrain of modernity« (135). Er schreibt weiter: »In this sense a topology of modernity, of its structural as well as its cultural landscape, is called for, with regard to which routes and trajectories from the different passes of entry can be hypothesized and investigated« (ebd.).

Ausschlaggebend auch in dieser Argumentation ist zunächst wieder die Abkehr von den Modernisierungtheorien. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Neuorientierung scheint zugleich an eine epistemologische Entscheidung gekoppelt zu sein: Von der Vorstellung zeitlicher Prozesse wird abgesehen, um stattdessen räumliche Aspekte zu betonen, was die Semantik im oben zitierten Text bereits deutlich werden lässt. Dort ist die Rede von »topology«, »landscape«, »routes«, »map« usw. und eben nicht mehr »process(es)«. Dieses räumliche Bewusstsein könnte, ebenso wie die Abkehr von den master narratives der Moderne, als postmoderner Reflex verstanden werden (vgl. Kapitel 4.1). Doch so einfach will es Therborn sich nicht machen. Auch die Postmoderne verurteilt er, weil er in ihr ebenfalls noch den Wunsch einer master narrative vermutet. Um die aktuelle Herausforderung also präziser von den bereits existierenden theo-

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retischen Orientierungen absetzen zu können, muss Therborn deutlicher werden. Eine der wesentlichen Herausforderungen sieht er in »comparative studies«, die helfen sollen, »to grasp the diversity of the modern world« (137). Dies wiederum ist nur dann möglich, wenn die moderne »Welt« als solche, das heißt vor allem in ihrer planetarischen Existenz, tatsächlich zur Kenntnis genommen wird. Therborn schreib: »It is in that perspective, that this chapter has provided an outline of the four major gates of entry to modernity, a topology of the terrain it travels, the two main vehicles of modern social action and an inventory of modern travellers‹ heaviest pieces of cultural luggage« (137).

Und noch etwas scheint dem schwedischen Soziologen wichtig zu sein: Es geht nicht allein ums Reisen, sondern um die Erfahrungen, die diese »Reisen« ermöglichen. Diese müssten selbst zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Reflexion werden, und das bedeute, dass ihre Geschichten geschrieben und studiert werden müssen: »The travels themselves remain to be researched, and their stories to be written« (ebd.). Der Begriff der Moderne unterscheidet sich hier insofern von den Inhalten, die vor allem die Modernisierungstheorien in ihn hineingelegt haben, als dass die vornehmlich zeitliche Konnotation, die nicht zuletzt ganz wichtige epistemologische und politische Konsequenzen hatte, einem nun eher raumorientierten Denken weicht. Nicht mehr das vermeintlich gemeinsame Telos menschlicher Entwicklung gibt hier den Ausschlag, sondern die Besinnung auf das, was die Menschen, die unseren Planeten in der Gegenwart bewohnen, tatsächlich miteinander teilen und gleichzeitig: was sie unterscheidet. Hierin sehe ich tatsächlich eine der wichtigsten Aufgaben der aktuellen Kultur- und Sozialwissenschaften. Um diese Aufgabe annehmen zu können, müssen aber die unterschiedlichen Erzählungen (Erfahrungen!) der Moderne erst einmal wahrgenommen werden. Müssen diese Geschichten aber wirklich erst noch geschrieben werden, wie Therborn annimmt? Wenn von Geschichten und Erzählungen die Rede ist, stellt sich die Frage, ob soziologisches Schreiben und Denken überhaupt mit Geschichten und Erzählungen vergleichbar ist. Dies würden viele Vertreter sozialwissenschaftlicher Fächer bestreiten. Dort, wo es das Wort »Erzählung« überhaupt zu einem Eintrag in soziologischen Wörterbüchern geschafft hat, wird schnell klar, dass damit eher ein Gegenstand

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soziologischer Forschung benannt werden soll. So zum Beispiel, wenn es um die Erforschung von Erzählungen als »Teilgebiet der Volkskunde« geht (vgl. Hartfiel/Hillmann 1982: 182). Dies gilt übrigens auch für einen der prominentesten Autoren, die in den letzten Jahren versucht haben, eine »narrative Wende« in der Soziologie einzuleiten. Jeffrey Alexander spricht sich zwar emphatisch für die Rückkehr zur Kultur aus, indem er darauf besteht, dass die Soziologie Texte, Erzählungen und »Kon-Texte« zum Objekt ihrer Forschung machen soll (vgl. Alexander 2000). Dabei sieht er sich und seine Kultursoziologie selbst als Beispiel für eine neue Generation, die in den Spuren derer wandelt, die in den 1960er und 1970er Jahren gegen den Reduktionismus schrieben (vgl. ebd. 35). Dennoch ist auch das »starke Programm« Alexanders noch ausbaufähig. Wenn ich Alexander richtig verstehe, bedeutet seine Entscheidung für eine »Kultursoziologie«, die mehr sein möchte als eine »Soziologie der Kultur«, dass sie sich selbst zum Gegenstand ihrer Forschung macht. Das bedeutet dann aber auch – und vor allem in unserem Zusammenhang –, dass die narrativen Aspekte soziologischer Texte deutlich gemacht werden müßten. Dies würde einen nächsten Schritt in Richtung einer selbstreflexiven Kultursoziologie darstellen, den der US-amerikanische Soziologe Donald N. Levine gegangen ist. Levines Meinung nach wird die Verbindung zwischen der Ebene sozialwissenschaftlichen Schreibens und sozialen Handelns dann erst plausibel, wenn davon auszugehen ist, dass Sozialtheorien narrative Eigenschaften besitzen und dass sich die Unterschiede zwischen ihnen als narrative Unterschiede verstehen ließen. Diesem Argument widmete Levine sein Buch Visions of the Sociological Tradition (1995). Er schlägt darin eine Kategorisierung der Sozialtheorien nach narrativen Kriterien vor. Das Buch versteht die in Europa – und zwar in verschiedenen Ländern – und den USA existierenden Strömungen soziologischen Denkens als unterschiedliche Erzählungen. Damit folgt Levine einer Intuition, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt, nämlich, dass das Denken, welches Sozialwissenschaftler produzieren und schriftlich in Form von Texten festhalten, selbst zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung werden sollte: »They [social scientists] study human behaviour and they exhibit it. Changes in culture and human conduct show up in the ways social scientists act as well as in what they investigate. When observers comment on a new crisis in sociolo-

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gy, one wonders whether that could reflect something of the broader cultural situation« (Levine 1995: 1).

Auch Sozialwissenschaftler sind also soziale Akteure, und die Texte, die sie produzieren, geben Aufschluss über die jeweils kontingenten sozialen Wirklichkeiten, die in ihnen ihre Spuren hinterlassen haben. Die spezifische Art ihres Handelns wäre demnach narrativ. Sie verhalten sich, mit anderen Worten, wie alle Menschen, denn »[h]uman beings attempt to make sense of their experience by interpreting their actions as part of a coherent life story« (9). Das bedeutet auch, dass sie narrativ auf die unterschiedlichen Erfahrungen reagieren. »When unexpected or novel life events occur, they weave them into their narrative so that their story continues to make sense over time« (ebd.). Die »Geschichten« der Sozialwissenschaftler sind mit einer Vielzahl anderer Geschichten verbunden, auf die sie direkt oder indirekt verweisen. Ein weiterer Aspekt, den Levine in seinem Buch betont, ist, dass sich die Geschichten der Sozialwissenschaftler in einer jeweils spezifischen Weise auf Vergangenheit beziehen. Grundsätzlich folgten sie dabei einem weiteren Prinzip, dass sie mit allen anderen sozialen Akteuren teilen: Sie produzieren »identity and direction, important for functioning effectively in the present« (11). Aber Sozialwissenschaftler setzen sich in ihrer Beziehung zur Ver3 gangenheit von Historikern ab : »The latter proceed from an outside perspective, chronicling events in the framework of some externally supplied interpretative scheme. The former take the form of collective autobiographies. The selective process at work in these stories is geared more to commemorating and to forgetting than to mere chronicling« (11).

Diese Geschichten sind selbst in einem Prozess der permanenten Wandlungen begriffen.

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Diese Aussage müsste wahrscheinlich relativiert werden. So hat die »postmoderne« Geschichtstheorie Hayden Whites den Historikern ein viel kontingenteres Geschichtsbewusstsein unterstellt, als Levine anzunehmen scheint (vgl. White 1999).

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»Discovery of new facts, creation of new ideas or methods, ascendance of new research groups, and new relationships with external systems provide occasions to reinterpret the significance of prior developments« (ebd.).

Levine erkennt außerdem, dass die unterschiedlichen Narrativen mit nationalen Unterschieden koinzidieren. Es gibt also französische, deutsche, amerikanische, britische Erzählungen, die sich in Inhalt und Form voneinander unterscheiden. Diese von Levine gebildete Gruppe müsste selbstverständlich erweitert werden. Wie ich im Weiteren noch zeigen möchte, haben sich in sozialtheoretischen Debatten in Lateinamerika Erfahrungen mit und in der globalen Moderne niedergeschlagen, die sich in ganz eigenen »Erzählungen« Ausdruck verschaffen. Dabei wäre es auch notwendig, den Rahmen der zu lesenden Texte weiter zu spannen. In Lateinamerika finden sich sozialtheoretische Ambitionen in der Literatur, vor allem der Essayistik, die zugleich einem ausgesprochen poetischen Anspruch folgen. Ich werde darauf noch zurückkommen. Zunächst möchte ich aber danach fragen, welche Beziehungen zwischen Soziologie, Literatur und Poesie bestehen können.

6.7 S OZIOLOGIE , L ITERATUR

UND

P OESIE

Noch vor etwa 30 Jahren, im Vorwort der Neuauflage seines Sociology through literature, hatte Lewis A. Coser so geklungen, als wollte er sich nachträglich für sein knapp zehn Jahre zuvor veröffentlichtes Buch entschuldigen. Das Buch besteht aus einer Selektion literarischer Texte, die Aufschluss über bestimmte soziale Probleme moderner Gesellschaften geben sollen. »In the introduction to the first edition of this reader«, schreibt Coser, »I stated that this was an experimental venture and that only its use in the classroom would show whether the teaching of sociology through literature would prove to be a useful approach« (Coser 1972: xiii).

Warum, so fragt sich Coser, sollen wir eigentlich nicht die Literatur befragen, wenn wir die sozialen Wirklichkeiten verstehen wollen? Gegen die Skeptiker erklärt Coser:

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»Fiction is not a substitute for systematically accumulated, certified knowledge. But it provides the social scientist with a wealth of sociologically relevant material, with manifold clues and points of departure for sociological theory and reasearch« (ebd. xvi).

Besonders im Vergleich zu den von Soziologen für ihre empirischen Untersuchungen meist bevorzugten »Informanten« sieht Coser in der Befragung literarischer Texte einen Vorteil: »The creative imagination of the literary artist often has achieved insights into social processes which have remained unexplored in social science« (ebd.).

Ein weiteres Argument, das Coser gegen die Tendenz benutzt, Sozialwissenschaften in ein »highly sterilized, germ-proof system of knowledge, kept in a cool dry place« (ebd. xvi) zu verwandeln, ist das, an ihre humanistischen Aufgaben zu erinnern. Diese Verpflichtung dem Humanismus gegenüber erwächst der Soziologie schon aus ihrer Tradition heraus: »The great traditions of sociology are humanistic«, erinnert Coser (ebd.). Und etwas weiter heißt es: »Nothing human ought to be alien to the social scientist; if a novel, a play or a poem is a personal or direct impression of social life, the sociologist should respond to it with the same openess and willingness to learn that he displays when he interviews a respondent, observes a community, or classifies and analyzes survey data« (ebd.).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Coser in der Literatur eine notwendige Ergänzung anderer Quellen sieht, aus denen soziologisches Wissen schöpfen sollte. »We need to read Marx and Balzac, Max Weber and Proust. The understanding of one will be illuminated by the understanding of the other« (ebd. xvii; kursiv im Original).

Nun ist die Beschäftigung der Soziologie mit literarischen Quellen eine Forderung, der man noch relativ schnell einen wenn auch nur duldenden Zuspruch gönnen kann. Mich interessiert in diesem Kapitel aber noch etwas anderes. Es geht nicht nur darum, wie Soziologen literarische Texte für ihre Wissensproduktion benutzen können, sondern

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darum, welche grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen soziologischer Wissensproduktion und Literatur bestehen. Daher sind zwei unterschiedliche Antwortstrategien denkbar. Die eine wird nach der historischen Ausdifferenzierung zwischen beiden Bereichen fragen. Die andere hingegen wird sich fragen, ob trotz aller Unterschiede zwischen beiden Wissensbereichen nicht auch unaufgelöste Wesensübereinstimmungen fortbestehen. Der ersten Frage ist Wolf Lepenies nachgegangen. Gleich am Anfang seines 1985 in erster Auflage erschienenen Die drei Kulturen erinnert uns Lepenies daran, was viele Soziologen vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergessen haben müssen: nämlich, dass im Europa des 19. Jahrhunderts eine »Deutungskonkurrenz« zwischen Literatur und den im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften die Unternehmen der Zeitdiagnose prägten. Aus der Sicht der Soziologie bedeutet dies vor allem ein »Schwanken zwischen einer szientifischen Orientierung, die auf eine Nachahmung der Naturwissenschaften hinausläuft, und einer hermeneutischen Einstellung, die das Fach in die Nähe der Literatur rückt« (Lepenies 2006: II).

Dabei macht Lepenies deutlich, dass diese Deutungskonkurrenz nicht nur einen Konflikt unterschiedlicher Stile und Formen resümiert. Also weder Geschmacksfragen noch epistemologische Unterschiede allein waren für die Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften aus dem Spannungsfeld, das sich zwischen Literatur und Naturwissenschaften erstreckte, ausschlaggebend, sondern auch institutionelle Zwänge: »Denn seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts formieren sich die Sozialwissenschaften und sind bemüht, durch den Nachweis disziplinärer Eigenständigkeit ihren Platz in den Akademien und Universitäten zu gewinnen« (ebd. V).

Vor dem Hintergrund solcher institutionellen – und das bedeutet eben auch sozialen – Zwänge ist es zu verstehen, dass sich einige Literaten den frühen Soziologen gegenüber im Vorteil sahen: »Ohne Zweifel hielt Flaubert sein Werk für die bessere Gesellschaftswissenschaft – dem Soziologen gegenüber fühlte er sich auch moralisch überlegen,

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weil er glaubte, sich als Autor den gesellschaftlichen Zwängen entziehen zu können […]« (ebd. VIII).

Wie wir noch sehen werden, lässt sich eine ähnliche Haltung im 20. Jahrhundert in den Äußerungen des mexikanischen Schriftstellers Octavio Paz nachweisen (vgl. Kapitel 9.2). Im Vergleich zu den sachlich-institutionellen Zwängen der Sozialwissenschaften, die in einer zunehmenden Annäherung an die Naturwissenschaften und einer übertriebenen Szientifizierung gesellschaftlichen Wissens mündeten, fühlte er sich freier als seine akademischen Kollegen. Welcher Weg aber nun der richtige ist, kann wohl bis heute nicht abschließend gesagt werden. So erinnert auch Lepenies mit seinem Buch nicht zuletzt daran, dass die Entscheidung der Sozialwissenschaften, einem naturwissenschaftlichen Ideal zu folgen, ein bis heute nicht gelöstes Problem darstellt: »Das Problem der Soziologie liegt darin, dass sie die Naturwissenschaften zwar nachahmen, aber nicht wirklich zu einer Naturwissenschaft des Sozialen werden kann« (ebd. IX).

Und Lepenies scheint ebenfalls davon überzeugt zu sein, dass es auch gar nicht wünschenswert sein kann, die Soziologie in eine Naturwissenschaft zu verwandeln. Er hebt dabei vor allem zwei fundamentale Unterschiede hervor: Erstens, dass im Unterschied zu den Naturwissenschaften die Erkenntnisquelle der Sozialwissenschaften nicht das Experiment, sondern die Erfahrung darstelle. Zweitens, dass im Unterschied zur Mathematisierung der Naturwissenschaften für die Sozialwissenschaften nach wie vor die menschliche Sprache entscheidend sei. »Gerade ihre Exaktheit aber verbietet es, die Naturwissenschaften an die Spitze der wissenschaftlichen Fächer zu stellen. Gerade, daß sie, wie Pascal und Leibniz gezeigt haben, auch mit Maschinen betrieben werden können, macht sie zu Wissenschaften zweiten Ranges gegenüber der Theologie und der Moral, der Jurisprudenz, der Politik und der Geschichte, die der Sprache bedürfen und daher stets menschlich bleiben werden« (ebd. XII).

Die Kombination von Erfahrungen, menschlicher Sprache und Literatur stellt einen existenziellen Rahmen menschlichen Handelns dar, dessen Erforschung eine humanistische Einstellung fordert, durch die

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sich die Sozialwissenschaften deutlich von den Naturwissenschaften abheben sollen. »Exaktheit« könnte auch mit »Eindeutigkeit« übersetzt werden. Seit den 1980er Jahren hat aber vor allem ein Soziologe dafür gesorgt, den Glauben an die Eindeutigkeit sozialer Wirklichkeiten unter dem Diktat der Moderne zu zerstören. Die Rede ist von Zygmunt Bauman. Vor allem in seinem Buch Modernity and Ambivalence hat er deutlich gemacht, dass sich moderne Gesellschaften und ihr Verständnis immer durch ein außerordentlich hohes Niveau an hermeneutischer Flexibilität auszeichnen. Auch für Bauman ist Sprache das entscheidende Medium, das nicht nur Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch die Art und Weise, diese verstehen zu können, bestimmt. Mit diesem Bestehen auf Sprache scheint auch Bauman einem anthropologischen, ja humanistischen Verständnis der sozialen Existenz des Menschen Respekt zu zollen. Vor diesem Hintergrund hat Bauman einige Jahre später eine Reflexion über das Schreiben in der Soziologie nachgeliefert (vgl. Bauman 2000c), die für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist, weil er in ihr über die Wesensverwandtschaft zwischen Soziologie und Poesie Auskunft geben will. Dabei geht er in seinem kurzen Text »On Writing. On Sociological Writing« allerdings zuerst auf die Verbindung zwischen Geschichte und Dichtung ein. Beide stellen für ihn zwei parallele Bewegungen dar, denn in beiden wirke jenes Prinzip der conditio humana, das Niklas Luhmann »Autopoïesis« genannt hat und das sich für Luhmann vor allem dadurch auszeichne, dass es zwei Momente menschlichen Tuns unmissverständlich miteinander verknüpft: Schöpfung und Entdeckung (creation and discovery). In Baumans Worten: »Niklas Luhmannʼs most seminal and precious legacy to fellow sociologists has been the notion of autopoïesis – self-creation […] – meant to grasp and encapsulate the gist of the human condition. The choice of term was itself creation/dicovery of the link […] between history and poetry. Poetry and history are two parallel currents […] of that autopoïesis of human potentialities, in which creation is the sole form discovery can take while self-discovery is the principal act of creation« (Bauman 2000c: 80).

Mit dem Hinweis, dass der Soziologe Niklas Luhmann mit der Verwendung des Begriffs Autopoïesis beweist, dass er selbst einen Akt

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der Schöpfung und Entdeckung vollzogen habe, stellt Bauman zugleich den Bezug zur Soziologie her: »Sociology, one is tempted to say, is a third current, running in parallel with those two. Or at least this is what it should be if it is to stay inside that human condition which it tries to grasp and make intelligible – and what it has been repeatedly diverted from trying by mistaking the seemingly impenetrable and not-yet-decomposed walls for the ultimate limits of human potential and going out of its way to reassure the garrison commanders and the troops they comended that the line they have drawn will be never crossed« (ebd.).

Soziologie teilt also mit Geschichte und Dichtung die menschlichen Fähigkeiten der Schöpfung und der Entdeckung. Mit dieser Definition setzt sich Bauman ganz entschieden von all jenen ab, die Soziologie vor allem als Domäne des Expertentums verstehen (85). Wenn Soziologen Experten sind, dann nur solche, die das, was in der Gesellschaft unausgesprochen bleibt, auf immer wieder neue Weise aussprechen. Dies geht aber nur, indem sie – den Dichtern gleich – Distanz und Tuchfühlung, subjektive Erlebnisse und gesellschaftliche Erfahrungen miteinander kombinieren. Besonders die Distanz sei es, die es überhaupt erlaube, Gegebenes nicht einfach zu wiederholen, sondern wie ein Dichter Neues aus ihm zu schöpfen bzw. wie ein Soziologe das Gegebene so zu sagen, dass es wieder problematisiert werden kann. Man sieht hier gleich, welche Art der Soziologie Bauman im Sinn zu haben scheint: Es ist nicht jene, die sich auf den Anspruch beschränkt, das Gegebene nur zu vermessen. An ihrer Stelle stärkt Bauman die Idee einer kritischen Soziologie, die das abgestumpfte Bewusstsein durch die Art und Weise, wie sie die Realität darstellt, wieder kritisch auf diese aufmerksam machen will.

6.8 W ELTBEWUSSTSEIN ALS Ü BERSETZUNGSKULTUR Der US-amerikanische Anthropologe James Clifford hat einige Einblicke nicht nur seiner eigenen Disziplin in bewundernswerter Klarheit artikuliert. Seine entscheidende Einsicht besteht darin, Kulturen als dynamische und interagierende Prozesse zu begreifen. Kulturen sind

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also weder kristallisierte Essenzen, noch sind sie nach außen hin abgeschlossene, eindeutig definierbare Entitäten. Clifford schreibt: »If we rethink culture and its science, anthropology, in terms of travel, then the organic, naturalizing bias of the term »culture« – seen as a rooted body that grows, lives, dies, and so on – is questioned. Constructed and disputed historicities, sites of displacement, interference, and interaction, come more sharply into view« (Clifford 1997: 25).

»Reisen« kann sich in doppelter Weise als Schlüsselkategorie verstehen lassen. Zum einen ist Reisen natürlich eine Grundvoraussetzung für anthropologisches Arbeiten schlechthin. Zum anderen wird es bei Clifford aber auch zu etwas, was den Forschungsgegenstand definiert. Für Clifford steht fest, dass nicht nur Menschen reisen, sondern mit ihnen Kulturen, die sich durch das Reisen verändern. Auch die kulturelle Form der Theorie versteht Clifford vor diesem Hintergrund. Während gewöhnlich mit dem Verweis auf die griechische Wurzel des Wortes »Theorie« verdeutlicht werden soll, dass es sich in etymologischer Nähe zu »Theater« befindet, wodurch vor allem die Distanz zwischen dem Theoretiker und seinem Forschungsgegenstand hervorgehoben wird, nutzt Clifford den Verweis auf die griechische Abstammung dazu, deutlich zu machen, dass Theorie auch immer mit Reisen zu tun gehabt hat: »The greek term theorein: a practice of travel and observation, a man sent by the polis to another city to witness a religious ceremony. ›Theory‹ is a product of displacement, comparison, a certain distance. To theorize, one leaves home« (Clifford 2007: 1).

Dieses Ausfahren, um zu lernen, was die »Anderen« tun und denken, skizziert natürlich wieder vor allem die Ethnologie. In den aktuellen Kulturwissenschaften liegt der Akzent allerdings nicht mehr auf dem punktuellen Wissen über fremde Kulturen. Vielmehr geht es um ein verschärftes Differenzbewusstsein, nach dem die Koexistenz verschiedener Kulturen entscheidend ist. Dabei rückt das Problem des Übersetzens in den Mittelpunkt. Übersetzen stellt auch für Doris Bachmann-Medick einen ganz zentralen Aspekt des von ihr beschriebenen cultural turn dar (vgl. Bachmann-Medick 2006). Es handelt sich um eine Tätigkeit, die in der

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Globalisierung – wir könnten auch sagen: vor dem Hintergrund eines notwendigen und teilweise schon vorhandenen Weltbewusstseins – eine immer wichtigere Rolle spielen muss. Bachmann-Medick fordert deshalb, »Übersetzung zu einem neuen Grundbegriff der Kulturwissenschaften zu machen« (Bachmann-Medick 2004: 449). Übersetzen ist mehr als eine Technik, die es erlaubt, Inhalte einer bestimmten Sprache in eine andere zu übertragen. Die kulturwissenschaftliche Zentrierung des Begriffs löst ihn aus seinem primär sprach- und übersetzungswissenschaftlichen Verständnis heraus und macht ihn soziologisch kompatibel. Übersetzen wird zu einer »Praxis des Übergangs« (Renn/Straub/Shimanda 2002: 8) und ist deshalb, wie alle anderen Formen des gesellschaftlichen Handelns auch, nicht nur an lexikalische und semantische Regeln gebunden, sondern eher noch an politische und moralische (9). Im Zuge dieser Erweiterung des Übersetzungsbegriffs hat vor kurzem Joachim Renn eine komplette Sozialtheorie vorgestellt (vgl. Renn 2006), die auf folgender Überlegung basiert: »Die moderne Gesellschaft bestimmt und steuert sich dann nicht (mehr) auf der Basis einer adäquaten Selbstbeschreibung, sondern die Interdependenzen von Übersetzungspraktiken steuern ohne den Umweg über eine Kardinalbeschreibung des Ganzen, aus den Politiken und Programme abgeleitet werden müssten, die Austauschbeziehungen zwischen differenten Sprachspielen gegen die Richtung von Desintegrationstendenzen. Und auch die Gesellschaftstheorie stellt schließlich keine kardinale Repräsentation der Gesellschaft, sondern eine spezifische Form der Übersetzung solcher Übersetzungsverhältnisse in die Sprache der kontingenzbewussten Theoriebildung dar« (Renn 2002: 184).

Die Aufgabe der Sozialtheorie grundsätzlich im Übersetzen und damit als gesellschaftliche Integrationsleistung zu sehen, macht nicht nur in einleuchtender Weise klar, wie unauflöslich »Theorie« und »Praxis« miteinander verwoben sind, sondern auch, wie zentral die Übersetzungsaufgabe der Theorie in unseren hochkomplexen modernen Gesellschaften ist bzw. sein sollte. Die angesprochene gesellschaftliche, ja politische Funktion des Übersetzens wird vor allem vor dem Erfahrungshorizont multikultureller Gesellschaften plausibel. Sie kann nach Renn aber nur gelingen, wenn der Anspruch von »Repräsentation« bzw. lückenloser Repräsentierbarkeit aufgegeben wird.

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»[F]ür die Einheit der Differenz des Ganzen und für die Differenzen der Teile untereinander heißt dies, einen Modus der Grenzbeziehung zu rekonstruieren, der von der Konstruktion und der Repräsentation (von strikter Differenz und Identität) gleich weit entfernt ist« (Renn 2006: 17).

Als angemessene »Politik der Übersetzung« (Spivak 1997) könnte dann ein Verfahren gelten, in dem keine ungebrochene Übertragbarkeit der einen in die andere Kultur erwartet wird. Dies bedeutet keineswegs, dass Huntingtons These vom Clash of Civilizations recht behalte. Im Gegenteil: Ist die Unmöglichkeit der »Repräsentation« – und zwar auch der eigenen Kultur oder Sprache (vgl. Derrida 1997) – erst einmal akzeptiert, dann fiele es in den Bereich einer »realistischen Utopie«, die Ausbildung sogenannter »dritter Räume« (Bhabha 2000; vgl. Bachmann-Medick 2002: 276) zu erwarten. Bachmann-Medick erklärt: »Im translational turn wird sich Übersetzung also jenseits der (Äquivalenz-) Beziehung zwischen bereits bestehenden Positionen oder Sphären überhaupt erst herausbilden, wie dies beispielsweise an der spannungsreichen Entwicklung eines weltweiten umweltpolitischen Diskurses gezeigt worden ist« (Bachmann-Medick 2006: 253).

Solche problemorientierten neuen Räume des Politischen, die nicht nur innerhalb der traditionell vorgezeichneten Nationalstaaten entstehen, sondern auch dazu beitragen können, eine politische Öffentlichkeit auf internationaler, globaler Ebene zu konstituieren, sind allerdings nur dann zu erwarten, wenn mit dem Repräsentationsprimat kulturelle und damit einhergehende Übersetzungshegemonien überwunden werden (vgl. Lepenies 1997). Wie bereits gesehen, ist es vor allem die postkoloniale Perspektive, die sich einem solchen Programm gegenüber verpflichtet fühlt. Aus einer soziologischen Perspektive hat vor ein paar Jahren auch Gerard Delanty einen Vorschlag für eine Theorie der Moderne gemacht, in welcher der Begriff der Übersetzung im Mittelpunkt steht (Delanty 2005). Damit argumentiert er einerseits gegen solche dualistischen Vorstellungen, wonach Moderne entweder plural oder homogen, divergent oder konvergent, partikular oder universell sein soll, andererseits gegen die aktuellen Debatten über »multiple«, »entangled« oder »alternative modernities«. Ein Problem sieht Delanty darin, dass

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der Begriff der Moderne zu verwässern droht. Er ist der Meinung, dass sich diese Debatten zu sehr von der Idee einer grundsätzlichen Pluralität der Moderne beeindrucken lassen (vgl. auch: Schmidt 2006). Es ließe sich auch behaupten, dass die Vorstellung der Pluralität von Modernen genauso irreführend ist wie die, dass Moderne einen Zustand beschreibt, der den der Tradition ausschließen soll. Die Pluralität und Vielfalt menschlicher Lebensformen in der Gegenwart müsse einer Einheitstheorie der Moderne nicht widersprechen, wenn Moderne nur als kulturelle »Form« verstanden wird, in der es vor allem um das Übersetzen geht. »In this cultural form, translation is more than a medium of communication; it is itself a form of communication and expresses the condition of culture as communicability« (Delanty 2005: 450).

Dieses Verständnis macht es nach Delanty unnötig, von verwirrenden Multiplikationen von Modernen auszugehen. Umgekehrt fordere es aber auch nicht nach einer starken Generaltheorie der Moderne, wie sie die Modernisierungstheorien darstellten. Moderne grundsätzlich als Form der Übersetzung zu verstehen, erlaube vielmehr, die Vielfalt der Resultate in der Einheit der Form zu vermuten. Dadurch wäre es dann auch möglich, ein nicht konfliktfreies, aber »normaleres« Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Lokalen und dem Globalen zu denken. Delanty glaubt, dass es vor allem in Europa war, wo sich die kulturelle Form der Moderne als Übersetzung zuerst entwickelt habe. Zwar wird dabei wieder Europa zum Ursprung der Moderne erklärt – eine These, gegen die sich, wie wir gesehen haben, die postkoloniale Kritik wehrt –, aber Delantys Vorschlag lässt seine europäische Kultur nicht in der Antike Griechenland und Roms beginnen, sondern in dem Moment, in dem sich die Europäer mit »anderen« Kulturen zu beschäftigen begannen (vgl. 457). Die Aktualität der Moderne als Übersetzung will Delanty aber auch noch unabhängig von diesem Ursprung verstehen. Sie müsse sich vielmehr als Resultat der Globalisierung verstehen lassen. Globalisierung habe dazu geführt, dass sich die Menschen in der ganzen Welt zunehmend mit Bezug auf »das Globale«, die »globale Kultur« definieren.

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»The argument, then, is that modernity derives from the fact that social actors all over the world are increasingly defining themselves by reference to global culture. But by doing so, they are not all saying the same things; and – to make this more complicated – global culture is not constant but evolving, since translations are never static, for people continuously reinterpret their situation in light of their ongoing encounter with others« (452).

Moderne unter dem Primat der Übersetzung zu verstehen bedeutet, die Beziehungen zu anderen Menschen und ihren Kulturen in der gesamten Welt in den Mittelpunkt zu stellen. Dies impliziert ein Weltbewusstsein, das vielen Modernitätstheorien fehlt.

7. Soziologie gegen die Verleugnung von Erfahrungen als Kritik1

Ich möchte nun eine Art Zwischenbilanz ziehen, die sich zusammensetzen soll aus der Kritik an den Modernisierungstheorien – vor allem an deren zeitlicher Logik –, einigen Ideen, welche die aktuellen Debatten inspirieren – vor allem die Globalisierungsdebatte und der Postkolonialismus –, den Koordinaten für eine neue Konzeptualisierung der Moderne – insbesondere unter den Stichworten des spatial turn und des translational turn – und der Einsicht der Notwendigkeit einer Erfahrungssoziologie. Es soll deutlich werden, wie all diese Aspekte in einer Sozialtheorie zusammenfließen können; einer Theorie, die getragen ist von einem Verständnis der Moderne als Weltbewusstsein. Einen solchen Beitrag hat der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos geleistet, dessen Werk ich nun vorstellen möchte. Trotzdem ist dieses Kapitel nicht nur eine Zusammenfassung dessen, was bereits gesagt wurde. Es soll zu dem bisher Gesagten noch einen zusätzlichen Aspekt hinzufügen, der noch nicht explizit behandelt wurde: den der Kritik.

1

Eine frühere Version dieses Kapitels erschien unter dem Titel »Eine Geographie der Befreiung. Boaventura de Sousa Santosʼ Kritik an der Vergeudung von Erfahrungen«, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 13(24/25), 2007: 130-151.

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7.1 D IE

NOTWENDIGE K RITIK AN DER K RITISCHEN T HEORIE

Die Sozialtheorie Boaventura de Sousa Santosʼ wird nicht in erster Linie von dem Anspruch angetrieben, eine Theorie der Globalisierung auf den Weg zu bringen. Darin unterscheidet sie sich deutlich von all jenen Vorschlägen, die vor allem den Modewert der Globalisierung erkannten, aber nicht die Herausforderungen, die dieses Wort in epistemologischer und kritischer Hinsicht darstellt (vgl. Kapitel 4.2). Die Sozialtheorie des portugiesischen Soziologen ist vor allem daran interessiert, den seiner Meinung nach versandeten Weg der kritischen Theorie freizulegen und unter Berücksichtigung aktueller Wegzeichen fortzusetzen. Diese an sich schon schwierige Aufgabe wird zusätzlich dadurch erschwert, dass es nicht einmal klar ist, warum sie heute so schwierig ist. Die Frage, die zum Markenzeichen für Santosʼ Unternehmen geworden ist, lautet daher: »Warum ist es so schwierig, eine kritische Theorie zu konstruieren?« (Santos 2000). Dass es nichts mehr zu kritisieren gebe, kann jedenfalls nicht der Grund sein. Im Gegenteil: Boaventura de Sousa Santos ist sich der Tatsache bewusst, dass Gerechtigkeit und Freiheit auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch selten sind, während die Gewalt gegen Menschen und Umwelt zunimmt. All dies lasse nur eine äußerst düstere Diagnose der Moderne zu: Sie hat ihre wichtigsten Versprechen – Gleichheit, Freiheit, »Ewiger Friede« und einen für den Menschen erträglichen Umgang mit der Natur – nicht erfüllen können: »Dadurch, dass die Versprechen der Moderne nicht erfüllt wurden, sind sie zu Problemen geworden, für die es keine Lösung zu geben scheint. […] Daher die Komplexität unserer Situation im Übergang, die wie folgt zusammengefasst werden könnte: Wir befinden uns vor modernen Problemen, für die es keine moderne Lösung gibt« (ebd. 29).

Diese Erkenntnis schlägt deutlich in die Kerbe der Kritischen Theorie, jener Traditionslinie, die sich von Marx über Adorno und Horkheimer bis Habermas erstreckt und die ich hier Kritische Theorie mit großem »K« nennen möchte. Santos macht keinen Hehl daraus, dass er selbst dieser Tradition folgen möchte. Dennoch lässt er sich nicht auf lange, esoterische Diskussionen über seine Vorgänger ein. Das kann ihm nur zugutegehalten werden, denn es erlaubt ihm, statt Exegese zu betrei-

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ben, eine kritische Gegenwartsdiagnose zu artikulieren. Um sich also nicht lange mit einer Selbstverortung in dem mittlerweile sehr dichten Traditionsnetz der Kritischen Theorie zu verstricken, arbeitet Boaventura de Sousa Santos mit einer Minimaldefinition: »Unter kritischer Theorie verstehe ich eine Theorie, die die Realität nicht auf das reduziert, was existiert« (Santos 1995). Diese Unterdeterminiertheit des Begriffs erlaubt es, ihn zu öffnen. Das heißt zum Beispiel, ihn von heute nicht mehr haltbaren Vorstellungen der Tradition zu befreien. Ein großes Manko sieht Santos darin, dass frühere Versionen der Kritischen Theorie »Gesellschaft« immer als totalitäre Gesellschaft wahrgenommen haben (vgl. Santos 2000: 26). Besonders seit Marx, in dessen Theorie Santos den Ursprung der Kritischen Theorie vermutet, habe dies zu der festen Überzeugung geführt, dass eine Alternative ebenfalls total sein müsse, dass es einer totalen Umwälzung der Verhältnisse bedürfe, deren Möglichkeit wiederum aus drei verschiedenen Voraussetzungen abgeleitet werden könne: der Möglichkeit eines totalen Wissens über die Gesellschaft, der Möglichkeit, einem eindeutigen Prinzip sozialen Wandels folgen zu können, und schließlich einem selbstbewussten kollektiven Subjekt, das diesen Wandel vollziehen soll. Von diesen Voraussetzungen will sich Santos distanzieren. Entscheidend für diese notwendige Kritik an der Tradition der Kritischen Theorie ist seiner Ansicht nach das Bewusstsein, dass unsere aktuellen Gesellschaften multikulturelle Gesellschaften seien, »in denen eine konstante Hermeneutik des Verdachts gegen vermeintliche Universalismen und Totalitarismen« (Santos 2000: 27) gehegt wird. »Multikulturelle Gesellschaft« wird hier zur Chiffre der Aufgabe des Gedankens, dass es noch so etwas wie ein einziges kollektives Subjekt – zum Beispiel die »universale Klasse« – geben könne, das einzig dazu befugt sei, die Richtung des sozialen Wandels festzulegen. Und wenn es nicht nur ein kollektives Subjekt gibt, sondern ganz unterschiedliche, dann ist auch die These vom Universalprinzip des sozialen Wandels, bzw. der Emanzipation, nicht mehr haltbar. All diese Überlegungen provozieren ernst zu nehmende Vorbehalte gegenüber jeder Art von »Generaltheorie«. Eine der aktuellen Aufgaben, der sich eine kritische Theorie stellen müsse, bestünde vor allem darin, diese »Unmöglichkeit einer Generaltheorie« (Santos 2009a) deutlich zu machen. Was Santos positiv an die Stelle einer »Generaltheorie« stellt, ist eine »Theorie der Übersetzung«, der es obliegt,

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die unterschiedlichen Erfahrungen in und mit der globalen Moderne für die jeweils Anderen intelligibel zu machen (vgl. Santos 2000; 2009a). Damit geht er deutlich über die Tradition der Kritischen Theorie hinaus. Bei Habermas lässt sich noch am deutlichsten die Tendenz erkennen, eine neue Generaltheorie konstruieren zu wollen, die die Vielfalt der Erfahrungen mit der Moderne wieder bündeln und auf ein gemeinsames normatives Telos projizieren soll. Axel Honneth hat mit dem Begriff der »Anerkennung« zwar den Nerv des Multikulturalismus getroffen, der auch für die entscheidenden Reflexe im Denken des portugiesischen Soziologen auslösend ist. Doch auch Honneth ist noch vom Anspruch einer Generaltheorie geleitet (vgl. Kozlarek 2004). Bleibt zu fragen, ob es dann nicht vielleicht Adorno ist, dessen Denken vom Widerstand gegen jedwede große Theorie geleitet wurde, in dem sich Santos wiederfinden könnte. Aber auch Adorno kann hier nicht das letzte Wort haben, denn für ihn war die Moderne ein Produkt der europäischen Kultur, und die Kritik an der Moderne setzt seiner Meinung nach »Erfahrung, historisches Gedächtnis, Nervosität des Gedankens und vor allem ein gründliches Maß an Überdruß voraus«, die nur von jemandem zu erwarten seien, der selbst ein Produkt der europäischen Kultur ist (Adorno 1997a: 58). Kritik ist für Adorno also vor allem Selbstkritik. Der Vorsprung, den Adorno Europa noch unterstellt, liegt in der Fähigkeit, sich selbst kritisieren zu können. Eine solche Vorstellung ist es nun gerade, die Santos zu überwinden sucht. Er wirft dem Denken der europäischen Moderne einen permanenten Drang vor, die Vielfalt der Erfahrungen innerhalb der modernen Welt immer wieder, selbst in seinen kritischsten Artikulationen, auf die Erfahrungen einiger weniger reduziert zu haben. Daher hat selbst das, was sich in der Geschichte des Denkens der Moderne als »Kritische Theorie« eingeschrieben hat, noch Teil an der »Verleugnung der Erfahrungen«. Nur wenn die Erfahrungen aller an der Moderne Partizipierender oder von ihr Betroffener berücksichtigt werden, sind wir überhaupt in der Lage, eine wirkliche Kritik an der globalen Moderne zu artikulieren. Vor diesem Hintergrund skizziert Santos ein soziologisches Forschungsprogramm, das ich im Folgenden kurz darstellen möchte und in dem die Nutzbarmachung der bisher verleugneten Erfahrungen im Mittelpunkt stehen soll.

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7.2 »S OZIOLOGIE DES V ERLEUGNETEN « UND DES »E RSCHEINENDEN « UND DIE N OTWENDIGKEIT DER Ü BERSETZUNG Boaventura de Sousa Santos Vorschlag geht von zwei Voraussetzungen aus: 1. Ein an Erfahrungen orientiertes Verständnis der globalen Moderne müsse weit über das okzidentale Verständnis hinausgehen. Das heißt auch, dass die konventionellen, vor allem im »globalen Norden« konstruierten Theorien sich aus ganz bestimmten Erfahrungen speisen, diese aber als allgemeine voraussetzen und folglich alle anderen Erfahrungen diskreditieren oder einfach verleugnen. 2. Für Santos verbindet sich diese Erkenntnis mit einer Kritik an der konventionellen Zeitkonzeption. Erst eine Kombination dieser beiden Aspekte gibt den Blick auf die tatsächlichen Unterschiede frei. Ich möchte im Folgenden vor allem dieser zweiten Idee weiter nachgehen, denn ich sehe in ihr Parallelen zu jener epistemologischen Reorientierung, die sich in den oben bereits diskutierten Debatten abzeichnet (vgl. Kapitel 4). Die Ausgangsidee ist, dass sich das spezifische Zeitverständnis der okzidentalen Moderne in doppelter Weise definieren lässt: als Kontraktion der Gegenwart und als Expansion der Zukunft. Diese beiden Vorstellungen, die sich an ganz konkrete soziale Erfahrungen zurückbinden lassen, provozieren ein Gefühl der doppelten Entfremdung. Es handelt sich einerseits um das Gefühl des modernen Menschen, zwischen Vergangenheit und Zukunft eingesperrt zu sein (ebd. 11), andererseits aber zusätzlich darum, dass lediglich die Flucht in die leere und undefinierte Zukunft als Ausweg angenommen wird. Es ist nun die Aufgabe der »Soziologie des Verleugneten«2, den engen Raum der Gegenwart zu öffnen, indem sie versucht, all jene Erfahrungen ins Blickfeld zu rücken, die bisher ausgeblendet wurden. Die bisher verleugneten Erfahrungen verweisen auf bisher kaum wahrgenommene Alternativen moderner Lebensformen, welche die Soziologie des Verleugneten systematisch sichtbar machen möchte.

2

Die Terminologie, die Boaventura de Sousa Santos hier benutzt, ist etwas anders. Wörtlich spricht er von einer »sociologia das ausências«, was soviel bedeutet wie »Soziologie der Abwesenheiten«. Da Santos aber ebenfalls deutlich machen will, dass das Abwesende abwesend »gemacht« wird, habe ich in meiner Übersetzung »Soziologie des Verleugneten« benutzt. Professor Santos hat dieser Übersetzung selbst zugestimmt.

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»Das Ziel der Soziologie des Verleugneten besteht darin, das Unmögliche in Mögliches zu verwandeln und damit das Verleugnete in Gegenwärtiges. Das verlangt, sich auf die nicht-sozialisierten Fragmente der sozialen Erfahrung zu konzentrieren« (ebd. 11).

Entscheidend ist dabei, sich an dem zu orientieren, was sich im Gegebenen bereits abzeichnet. Dieses Verfahren der immanenten Kritik wird im Wesentlichen durch die aufklärende Arbeit der Sozialwissenschaften orientiert. Es gilt also Ausschau zu halten nach möglichen Alternativen: »Was gibt es im Süden, das der Dichotomie ›Nord/Süd‹ entwischt? Was gibt es in der traditionalen Medizin, das durch die Dichotomie ›moderne Medizin/traditionale Medizin‹ nicht greifbar wird? Was existiert in der Frau, was sich nicht allein aus ihrer Beziehung zum Mann definiert?« (ebd.).

Dieser Ausdehnung oder Erweiterung der Gegenwart spielt komplementär auch die »Soziologie des Erscheinenden« zu: »Die Soziologie des Erscheinenden besteht darin, die Leere der Zukunft, die als Resultat der linearen Zeit zu verstehen ist (eine Leere, die genauso Alles wie Nichts ist), durch eine Zukunft der verschiedensten und konkreten Möglichkeiten, realistischen Utopien, die sich in der Gegenwart durch politische Aktionen konstruieren, zu ersetzen« (ebd. 21).

In einem Satz: es geht darum, die gegenwärtige Moderne aus der Sicht ganz unterschiedlicher Erfahrungen – Erfahrungen, die als Kritik und Alternativen erscheinen können, – zu begreifen. Diese Verdichtung von Gleichzeitigkeiten, diese Erweiterung der Gegenwart stellt aber nicht nur einen Vorschlag für ein alternatives nicht-lineares Zeitkonzept dar, sondern entspricht einer Reorientierung von der zeitlichen Logik hin zu einem geografischen Bewusstsein. »Der Raum«, so schreibt Santos, »scheint also das privilegierte Medium des Denkens und des Handelns am Ende des Jahrhunderts und Anfang des dritten Jahrtausends zu werden« (Santos 2000: 194).

Boaventura de Sousa Santos vermutet, dass, während die Moderne seit 150 Jahren einer »neuen Zeit« hinterhergelaufen ist, heute eher davon

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ausgegangen werden kann, dass Alternativen nicht nur in anderen Zeiten, sondern an anderen Orten existieren. Damit sich diese Alternativen aber auch als solche erkennen lassen, ist es notwendig, dass sie in einem groß angelegten Programm der Übersetzung intelligibel gemacht werden: »Die Übersetzung ist das Vorgehen, das es erlaubt, ein reziprokes Verständnis der einzelnen Erfahrungen in der Welt, die sowohl disponibel als auch möglich sind, und die die Soziologie des Verleugneten sowie die Soziologie des Erscheinenden offenbaren« (Santos 2004: 31-32),

zu realisieren. Durch Übersetzung lassen sich die verschiedenen Erfahrungen, Kritiken und Alternativen in einem großen globalen Forschungsprogramm dialogisch aufeinander beziehen. Diese Idee bildet auch die Grundlage für Santosʼ Globalisierungstheorie.

7.3 E INE KRITISCHE T HEORIE DER G LOBALISIERUNG Auch die World-Systems-Theorie des US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein stellt den Versuch dar, eine Generaltheorie zu artikulieren, und dürfte damit dem Anspruch, den Santos an eine kritische Theorie der Globalisierung stellt, nicht gerecht werden. Tatsächlich aber akzeptiert der portugiesische Soziologe den World-SystemsAnsatz und verteidigt ihn sogar. Was hier auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen könnte, ließe sich aber auch als strategische Entscheidung verstehen. So sieht Santos die Gefahr des Globalisierungsdiskurses darin, zwei grobe Fehler zu patentieren. Der erste wäre der von ihm so genannte Determinismusfehler (vgl. Santos 2002a: 50). Dieser bestehe vor allem darin, anzunehmen, »dass die Globalisierung einen spontanen, automatischen, unvermeidbaren und irreversiblen Prozess darstelle, der sich verstärkt und der nach einer eigenen Logik und Dynamik fortschreitet, die stark genug ist, um sich über jede Art von Störungen hinwegzusetzen« (ebd.).

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Santos glaubt, dass das Problem dieser Ideen – er diskutiert in diesem Zusammenhang vor allem Manuel Castells – darin liege, dass die Ursachen der Globalisierung als deren Resultate missverstanden werden. So nehme zum Beispiel Castells an, dass die Globalisierung ein Resultat der Revolution neuerer Kommunikationstechnologien sei. Dagegen macht Santos geltend, dass der transnationale Erfolg der Kommunikationsindustrien nicht zuletzt mit politischen Entscheidungen zu tun hat, die immer noch auf der Ebene der Nationalstaaten getroffen werden. Damit will Santos verdeutlichen, dass die Institution des Nationalstaates längst nicht passé ist. Selbst den viel diskutierten Verlust der Souveränität des Nationalstaates sieht er noch als eine Entscheidung, die der Nationalstaat in gewisser Weise selbst trifft. Was damit aber vor allem deutlich werden soll, ist, dass er all jenen Globalisierungstheorien nicht traut, die Globalisierung vor allem als »globale Flüsse« von Informationen, Menschen und Waren verstehen und glauben machen wollen, dass dadurch die Autorität und die Bedeutung konkreter Orte und Menschen, die an ihnen ebenso konkrete Entscheidungen treffen, annulliert werden (vgl. Kapitel 4.2). Es scheint Santos also vor allem darum zu gehen, die besonderen politischen Handlungen, die wiederum an besonderen Orten stattfinden, gegen jene Diskurse zu verteidigen, die diese Verankerung sozialen Handelns an konkreten Orten verleugnen. Diese Paarung von Differenzbewusstsein und geografischem Bewusstsein, die sich auch als Kritik am atopischen Denken der Moderne verstehen lässt, wird an einem zweiten Kritikpunkt deutlich. Ganz im Zeichen der WorldSystems-Theorien unterstellt Santos nämlich einigen der Globalisierungsdiskursen als zweiten großen Fehler, dass sie davon ausgingen, »der Süden«, bzw. die »Dritte Welt« seien verschwunden. »Die Idee besteht darin, dass die Globalisierung einen vereinheitlichenden Einfluss auf alle Weltregionen und auf alle Sektoren haben wird und dass ihre Architekten, die multinationalen Unternehmen, so unendlich innovativ sind und ausreichende organisatorische Fähigkeiten haben, um die neue globale Ökonomie in vorher unvorstellbare Möglichkeiten zu verwandeln« (Santos 2002a: 51).

Santos misstraut diesen Ideen zutiefst:

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»Das ›Ende des Südens‹ oder das ›Verschwinden der Dritten Welt‹ sind vor allem Produkte von Verschiebungen ›soziologischer Sensibilität‹, die selber [soziologisch, O.K.] untersucht werden sollten« (ebd. 52).

Was mit dieser »verschobenen soziologischen Sensibilität« gemeint ist, ist nichts anderes als der Verlust eines Bewusstseins für die geografische Verteilung der Unterschiede, die nach Santos in unserer heutigen Welt zweifelsohne fortbestehen. In diesem Punkt vermutet Santos die ungebrochene Aktualität solcher Theorien wie der WorldSystems-Theorie. Das bedeutet aber nicht, dass er diese Theorie nicht auch kritisieren würde. Im Gegenteil, sein Rückgriff auf dieses Modell will sich als kritischer verstanden wissen. Einer solchen kritischen Aneignung müsse es vor allem darum gehen, genauer zu sein, das heißt, Unterschiede, wo sie bestehen, auch wahrzunehmen. »Die Theorie, die es zu konstruieren gilt, muss also die Vielfalt und die Widersprüche der Globalisierung in Rechnung stellen anstatt zu versuchen, diese reduktiven Abstraktionen unterzuordnen« (ebd. 56).

Dabei weiß Santos, dass die zunehmende Komplexität der globalen Moderne die Kritik des aktuellen Weltsystems ebenfalls komplizierter macht. In einer Zeit der »labyrinthischen Hierarchien«, so schreibt er, sei es durchaus verständlich, dass »einer der schärfsten Konflikte ein Metakonflikt über die Terminologie des Konfliktes und über die Kriterien, die diese Hierarchien definieren dürfen« (ebd. 61) sein wird. Sein eigener Vorschlag für eine genauere Definition der aktuellen Konflikte stellt die folgenden Kategoriengruppen in Rechnung: »die Hierarchie zwischen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie sowie die hierarchische Verteilung zwischen Globalem und Lokalem«. Ich möchte mich vor allem mit diesem zweiten Kategorienpaar beschäftigen, denn an ihm wird besonders deutlich, wie Boaventura de Sousa Santos den dualistischen Reduktionen zu entkommen versucht. Die Wechselwirkung zwischen Prozessen und Dynamiken globaler Reichweite und solchen, die lokal beschränkt bleiben, ist vor Santos bereits anderen Autoren aufgefallen. Besonders in kultureller Hinsicht hat Roland Robertson bereits zu Beginn der 90er Jahre mit dem Wort »glocalization« versucht, deutlich zu machen, dass das Bewusstsein einer Globalisierungstheorie nicht nur die globalen Prozesse berück-

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sichtigen muss, sondern auch die lokalen Konkretisierungen, die häufig ganz unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen können (vgl. Robertson 1992). Manuel Castells hingegen ist den Verschränkungen von Globalem und Lokalem in den »globalen Städten« gefolgt (vgl. Borja/Castells 1998). Santos nimmt nun die Kriterien des Globalen und des Lokalen aber nicht nur im Bereich der Beschreibung auf, sondern setzt sie ganz entschieden zum Zweck der Kritik ein. Kritisiert werden sollen dabei nicht nur die Dynamiken und Phänomene der Globalisierung, sondern auch all jene Theorien, die weiter oben angesprochen wurden und deren Vorstellung nach Globalisierung lediglich soziale Prozesse meint, die immer wieder über konkrete Orte hinweg fegten (vgl. Kapitel 4.2). Santosʼ Leitspruch lautet: »[...] es gibt keine globale Kondition, für die es uns nicht gelingen würde, eine lokale Wurzel [...] zu finden« (Santos 2002a: 63). Daraus ergibt sich konsequenterweise, den Prozess der Globalisierung als doppelten zu begreifen: Er darf nicht nur als entterritorialisierender Prozess verstanden werden, der menschliches Handeln aus den jeweiligen räumlichen Handlungskontexten herausreißt, sondern er muss auch als gleichzeitiger Prozess der Reterritorialisierung wahrgenommen werden. Gerade an dieser Stelle setzt sich Santos von der Weltsystem-Theorie Wallersteins ab. Der Unterschied lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Während Wallerstein immer in erster Linie das gesamte Weltsystem im Auge hat und nur durch unscharfe Seitenblicke das Lokale, Besondere wahrnimmt, geht es Santos darum, die konkreten, lokalen Bedingungen und Konsequenzen der Globalisierung bewusst zu machen. Dadurch wird deutlich, dass es gerade diese lokalen Besonderheiten der Globalisierung sind – allgemeiner gesagt: das jeweils unterschiedliche Zusammenspiel von »Lokalem« und »Globalem« –, wodurch die jeweilige Bedeutung, die Globalisierung für das menschliche Handeln an konkreten Orten haben kann, definiert wird. Unterscheiden ließen sich insgesamt vier solcher Formen des Zusammenspiels: 1. Zur Bezeichnung der ersten Form wählt Santos den Begriff »globalisierter Lokalismus« (ebd. 65). Gemeint ist damit vor allem das Resultat von Prozessen, in denen sich bestimmte lokale Phänomene erfolgreich auf globaler Ebene durchsetzen konnten. Als Beispiele nennt er multinationale Unternehmen, aber auch kulturelle Phänomene, mit denen heute fast alle Menschen der Erde, ob sie wollen oder nicht, in Kontakt treten: Englisch als lingua franca, fast food, US-amerikani-

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sche Popmusik, usw. Besonders im Hinblick auf letztere (sowie andere Produkte der Kulturindustrie) ist interessant, dass simultan zu diesen ein rechtlicher Rahmen des Urheberschutzes globalisiert wird. Das heißt aber vor allem, dass das, was es zu »schützen« gilt, ganz eindeutig als etwas Eigenes, das heißt: Lokales und Besonderes, verstanden wird. Anders wäre der neidvolle Schutz kaum zu verstehen. Gleichzeitig wird aber auch auf die universale Gültigkeit des Besonderen und des Eigenen gepocht, die sich zumeist allein aus der Tatsache der weltweiten Verbreitung und des Konsums ableitet. Die weltweit verbreiteten Besonderheiten machen den Anspruch auf Universalität geltend, weil sie als Sieger aus dem Kampf um internationale Anerkennung hervorgegangen sind (vgl. ebd. 65-66). 2. Für die zweite Form der Beziehung zwischen Lokalem und Globalem benutzt Santos das Wort »lokalisierter Globalismus«. Damit gemeint sind alle Negativfolgen, die die Globalisierung für bestimmte Orte, Regionen, Länder etc. hat. Genannt werden »die Aufhebung des direkten Handels, die Schaffung von Freihandelszonen, Kahlschlag und massive Zerstörung der natürlichen Ressourcen zur Tilgung der Auslandsschulden […]« (ebd. 66) usw.

3. Vor allem aus der Sicht der Betroffenen lassen sich aber noch zwei weitere Formen der Globalisierung beschreiben, die Santos besonders für das aktuelle »Weltsystem in der Transformation« als typisch betrachtet. »Kosmopolitismus« nennt er den transnational organisierten Widerstand gegen die ersten beiden Formen der Globalisierung (vgl. ebd. 67). Unter diese Kategorie fallen grundsätzlich alle staatlichen und nicht-staatlichen Widerstandsformen. Der Begriff Kosmopolitismus bedarf einer Erklärung, soll nicht der Eindruck entstehen, dass hier wieder an jenen abstrakten, entwurzelten, normativen Anspruch angeknüpft werden soll, der sich in diesem Wort zumindest seit Kant artikuliert, und den wir weiter oben schon diskutiert haben (vgl. Kapitel 2). Santosʼ Vorschlag ist bodenständiger: »Kosmopolitismus ist nichts Weiteres als die Kreuzung der lokalen Fortschrittskämpfe mit dem Ziel, ihr emanzipatorisches Potenzial, das immer auf konkrete Orte verweist, mit translokalen/lokalen Verbindungen zu stärken« (ebd. 69).

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In diesen Bereich gehören auch intellektuelle und akademische Bemühungen, die Santos zum Beispiel im Diskurs des Postkolonialismus findet, dem er sich – wenn auch nicht unkritisch – anschließt (vgl. Santos 2007). 4. Mit diesen Kämpfen verbunden ist schließlich auch die vierte Form der Globalisierung, die Santos unter dem Stichwort »Welterbe der Menschheit« (património comum da humanidade) diskutiert (vgl. ebd. 70). Darunter fallen alle Bemühungen, die für den Schutz all dessen eintreten, was dem »lokalisierten Globalismus« ausgesetzt ist. »Es handelt sich um transnationale Kämpfe für den Schutz und die Entmarktung von Ressourcen, Gemeinschaften, Gegenständen, Umwelten, die als wesentlich für das würdevolle Überleben der Menschheit angesehen werden können und deren Erhaltung nur auf planetarischer Ebene garantiert werden kann« (ebd.).

Mit diesen vier Formen der Globalisierung, in denen die komplexen Wechselwirkungen zwischen konkreten Orten und globalisierenden Dynamiken und Prozessen zum Ausdruck gebracht werden sollen, widerspricht Santos solchen Theorien, die Globalisierung als etwas verstehen, bei dem konkrete Orte und an ihnen handelnde Menschen ihre Bedeutung verlieren (vgl. Kapitel 4.2). Für die Analyse und Kritik sozialer Prozesse bedeutet dies, dass sie immer noch, das heißt auch im »Zeitalter der Globalisierung«, an Orten stattfinden, auch wenn sie globale Konsequenzen nach sich ziehen oder auf solche reagieren. Dieses Bewusstsein für die Bedeutung der konkreten Orte zeigt sich auch daran, dass Santos immer wieder darauf aufmerksam macht, dass sein Blick auf die Welt ebenfalls von einem bestimmten Ort aus erfolgt, nämlich aus der Sicht seines Heimatlandes Portugal. Entsprechend der oben beschriebenen gleichzeitigen Differenzierung und Interaktion von Globalem und Lokalem betont Santos auch in diesem Zusammenhang die Verschränkung zweier Dimensionen: Portugal ist ein Land, das sich von allen anderen Ländern unterscheidet, und gleichzeitig ein Teil des Weltsystems, dem es wie alle anderen besonderen Länder angehört. Die Möglichkeit dieser doppelten Bestimmung erklärt Santos folgendermaßen: Portugal ist ein Land, das sich von allen anderen »unterscheidet«, ohne aber »originell« zu sein (vgl. Santos 1995: 56).

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Wie wir bereits gesehen haben, ist die postkoloniale Kritik anfällig für nativistische Tendenzen (vgl. Kapitel 4.4). Die Formel, dass alles Denken seinen Ort hat, hat zwar einen nicht zu unterschätzenden kritischen Anspruch, denn es macht wirklich einen Unterschied, ob eine Theorie der Moderne in Lateinamerika gedacht wird oder in den Vereinigten Staaten (vgl. Kapitel 8; 8.3). Der Nativismus zwingt dieses Denken aber noch einen Schritt weiter: Nach ihm ließe sich behaupten, dass die Art und Weise zu denken so eng an einen Ort und an die historischen Erfahrungen, die nur an diesem Ort gemacht werden können, gebunden ist, dass jemand, dem dieser Ort fremd ist, unmöglich die gleichen Gedanken entfalten könne. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Ideen, die aus einem bestimmten Teil der Welt kommen, grundsätzlich ungeeignet sind, die Wirklichkeiten in einem anderen Teil der Welt verstehen zu können. In diesem Sinne wiederholen einige Vertreter des postkolonialen Denkens aber dieselben Fehler, die sie dem Eurozentrismus vorwerfen, nur dass sie dabei die Beurteilungsskala umkehren: Gut und richtig sei nun ausschließlich, was aus dem »globalen Süden«, der »Peripherie«, den ehemaligen Kolonien komme (vgl. McLennan 2003: 72, vgl. auch Kapitel 4.4). Santosʼ Denken ist auch vor diesem Hintergrund interessant. Trotz seines geografischen Bewusstseins ist er sich der Gefahr der nativistischen Fehlschlüsse bewusst, zu denen das räumliche Denken führen kann. Dabei versteht sich aber auch Santosʼ kritische Theorie als Standpunkttheorie. Dies wird an seinem Diktum deutlich, dass die Grundfrage einer jeden kritischen Theorie sein müsse: »Auf welcher Seite stehen wir?« (Santos 2000: 25). Wer die Beherrschung der Welt durch den »Norden« anprangert, tut dies nicht vom Nirgendwo her, sondern positioniert sich selbst im »Süden«. »Süden« ist hier aber gerade nicht nur als physisch-geografischer Raum gemeint; es handelt sich in erster Linie um eine epistemologische Kategorie. Ein neueres Buch Santosʼ trägt den Titel Una epistemología del sur (Eine Epistemologie des Südens). Darin erklärt er: »Ich verstehe unter Epistemologie des Südens die Suche nach einem Wissen und nach Geltungskriterien des Wissens, welche die kognitiven Praktiken jener Klassen, Völker und sozialen Gruppen sichtbar machen, die durch den Koloni-

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alismus und den globalen Kapitalismus ausgebeutet und unterdrückt wurden« (Santos 2009b: 12).

Dabei legt Santos Wert darauf festzuhalten, dass der tatsächlich physisch-geografische Aspekt der Dichotomie »Norden-Süden« dem epistemologischen untergeordnet ist. Als »Metapher für das Leiden des Menschen« gebe es den Süden auch im Norden (Santos 2007: 87). Fest steht auf jeden Fall, so behauptet Santos immer wieder, dass der »Süden« der privilegierte Ort der Kritik sei. Auch hier gilt: Die Sicht des »Südens« ist nicht denen vorbehalten, die den geografischen Süden bewohnen. Sie ist vielmehr die Sicht aus einer »epistemologischen Zone«, die in einer notwendigen »Geopolitik des Wissens« die »epistemologische Zone« des »Nordens« ergänzt. Santosʼ »räumliche Wende« will sich also vor allem als epistemologische verstanden wissen. Es sollen dabei dem Wissen über unsere globale Moderne jene Räume eröffnet werden, die ihm bisher – zumindest in seinen konventionellen Formen – verschlossen geblieben sind. Dabei, so glaubt Santos, werden wir aber nicht nur die Schattenseiten der Moderne kennenlernen, sondern auch Möglichkeiten entdecken, die uns helfen könnten, einige Probleme der Moderne zu lösen. Paul Gilroy hat vor kurzem geschrieben: »It is my hope that, not Europe and the North Atlantic, but the postcolonial world in general […] will in due course generate an alternative sense of what our networked world might be and become, a new cosmopolitanism centered in the global south« (Gilroy 2005: 287).

Auch für Boaventura de Sousa Santos scheint die Metapher des »Südens« den Schlüssel zu einer Welt der Alternativen darzustellen. Das heißt zwar nicht, dass er naiv vom »Süden« erwartet, er solle die Fehler des »Nordens« kompensieren. Trotzdem entsteht der Eindruck, dass es im »Süden« eher ein Potenzial für eine »gegenhegemonische Globalisierung« gebe (vgl. Santos 2002a: 72; Santos 2002b). Solche oder ähnliche Hoffnungen sind in der aktuellen Literatur nicht selten. Allerdings bleibt dabei häufig unklar, worauf sie sich stützen. Sie speisen sich vor allem aus dem Verdruss über den Westen, aber nicht unbedingt aus einer systematischen Analyse der tatsächlichen Möglichkeiten nichtwestlicher Kulturen. Eine Gefahr könnte darin liegen, dass ein solcher Exotismus nur die Umkehrung all jener

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Abwertungen der außereuropäischen Kulturen wäre, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte angesammelt haben. Doch Santosʼ Hoffnungen bauen nicht auf einen solchen Exotismus. Vielmehr folgt er selbst einer der wesentlichen Forderungen seiner kritischen Theorie der Globalisierung und forscht nach den bislang »vergeudeten Erfahrungen«, welche ganz besondere Formen der Kritik an der globalen Moderne, des politischen Widerstandes und theoretische sowie praktische Alternativen hervorgebracht haben. Den nächsten Schritt in Richtung einer Erneuerung der kritischen Theorie, der darin bestehen müsse, sich nach diesen bislang verleugneten und vergeudeten Erfahrungen und Alternativen tatsächlich umzuschauen, geht Santos also ganz bewusst. Er folgt dabei der Frage, wie genau im Süden bestimmte Probleme der globalen Moderne erfahren werden und wie darauf theoretisch und politisch reagiert wurde und wird. Und schließlich macht er sich daran, diese unterschiedlichen Erfahrungen und Reaktionen, die an ganz unterschiedlichen Orten der Erde gemacht werden und sich in unterschiedlichen Sprachen artikulieren, zu übersetzen. Wenn dabei aber versucht werden sollte, die Vielfalt der geplanten und sporadischen, theoretischen und praktisch-politischen Formen von Reaktionen gegen die hegemoniale Moderne aufzuarbeiten, muss klar werden, dass es um eine sehr umfangreiche Erfassungs- und Übersetzungsarbeit geht. Klar wird dann auch, dass sie von einer einzelnen Person nicht zu bewältigen sein wird. Es müssten sich vielmehr weltweite Netzwerke bilden, die in koordinierter Weise all die diversen Formen, sich von der hegemonialen globalen Moderne zu befreien, untersuchen. Genau diese Arbeit, die von ihrem Wissenschaftsmodell her an Humboldt erinnert (vgl. Kapitel 2.3), hat Santos bereits in die Wege geleitet. Die Resultate schlagen sich in einer Buchreihe nieder, die den vielversprechenden Titel Wiedererfindung der sozialen Befreiung trägt.3 Die Bände dieser Reihe sind das Ergebnis eines Forschungsprojekts, an dem 69 Forscher aus sechs verschiedenen Ländern (Südafrika, Brasilien, Kolumbien, Indien, Moçambique und Portugal) teilgenommen haben und in denen Themen wie partizipative Demokratie, alternative Produktionssysteme, emanzipatorischer Multikulturalismus, kulturelle Rechte, Biodiversität und rivalisierende Wissensfor-

3

Vgl. Santos 2002b; 2002c; 2003; 2005a, 2005b; 2005c.

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men sowie neue Formen des Internationalismus in der Arbeitswelt im Vordergrund standen. Doch so imposant dieses Werk auch sein mag, es stellt erst einen Anfang dar. Es ist erst ein kleiner Schritt in eine neue Forschungslandschaft, die sich heute unter dem Stichwort der Weltsoziologie vor unseren Augen auszubreiten scheint (vgl. Kapitel 11).

8. Zwei soziologische Traditionen in Lateinamerika

8.1 S OZIALTHEORIE

ENTPROVINZIALISIEREN

Hans Joasʼ Arbeiten über den US-amerikanischen Pragmatismus dokumentieren nicht zuletzt den Parochialismus einiger bedeutender Vertreter der deutschen Sozialphilosophie und -theorie. Ganz besonders den Mitgliedern der heute unter dem Namen der Frankfurter Schule bekannten Gruppe von Sozialwissenschaftlern wirft Joas vor, während ihres Aufenthalts in den Vereinigten Staaten, wohin sie vor dem Nationalsozialismus flüchteten, die Chance verpasst zu haben, den USamerikanischen Pragmatismus als theoretische Alternative wahrgenommen zu haben (vgl. Joas 1999: 96ff). Dabei hätten die Vertreter der Frankfurter Schule von dieser eigenwilligen Strömung, die sich auf der anderen Seite des Atlantiks entwickeln konnte, durchaus lernen können. Nicht zuletzt, um sich der Defizite ihrer eigenen Diagnose der Moderne bewusst zu werden. »Während sich die Frankfurter in der Kritik der instrumentellen Vernunft also hilflos nach einer objektiven Vernunft zurücksehnten oder sich in der Vieldeutigkeit des Vernunftbegriffs einer angeblichen Dialektik der Aufklärung verstrickten, war der amerikanische Pragmatismus über jede vernunftmetaphysische Geschichtsphilosophie hinausgewachsen zu einer Theorie der intersubjektiven Konstitution als sinnhaft und bindend erfahrender Werte« (ebd. 103).

Die Probleme, auf die Joas aufmerksam machen will, sind aber nicht nur theoretischer Art. Vielmehr haben sie auch mit der Einstellung, die die Frankfurter Wissenschaftler ihren Kollegen in den Vereinigten

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Staaten entgegenbrachten, zu tun. Viel stärker noch als andere Exilanten isolierten sich die Frankfurter von ihren amerikanischen Kollegen und kultivierten in der Isolation ein doppeltes Vorurteil, das sie bereits aus Europa mitbrachten1: Erstens glaubten sie, dass der Pragmatismus nichts weiter sei als eine Art unkritischer Positivismus, und zweitens, dass ihr eigenes Denken und die gesamte europäische Tradition, auf der es aufbaut, den einzigen Weg zu einer wirklichen Kritik der globalen Moderne darstelle. Die Mitglieder der Frankfurter Schule sind aber nicht die Einzigen, die das US-amerikanische Denken unterschätzten. Vielmehr ließen sich ähnliche »Missverständnisse« auch bei einer ganzen Reihe anderer deutscher Sozial- und Kulturwissenschaftler nachweisen (vgl. Joas 1999). Lange wurde die Arroganz der Europäer in den Vereinigten Staaten nicht etwa getadelt, sondern im Gegenteil: »In den USA behindert die Überhöhung der Kritischen Theorie die Anknüpfung an eigene Traditionen und bestärkt das Gefühl europäischer Theorieüberlegenheit« (Joas 1999: 97).

Joas erklärt, dass er seine Aufgabe darin sieht, gegen den Mythos der Inferiorität des US-amerikanischen Pragmatismus zu schreiben (vgl. ebd.). Dabei ist er sich der Tatsache bewusst, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Klima zu verändern begann und er deshalb mit wichtigen Weggefährten rechnen kann (vgl. Joas 1999: 137ff). Trotz aller theoretischen Differenzen, die er zu ihnen im Einzelnen haben mag, nennt Joas in diesem Zusammenhang immer wieder Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas, die sich seiner Meinung nach besonders dafür stark gemacht hätten, den Pragmatismus in Deutschland ernst zu nehmen. Auch in den USA begann sich die Einstellung der eigenen Tradition gegenüber nach dem Zweiten Weltkrieg zu ändern. Der demütige Blick nach Europa wurde gegen ein neues theoretisches Selbstbewusstsein eingetauscht, das sich allerdings nicht unbedingt auf den Pragmatismus berief, sondern auf die Soziologie, deren wichtigste Visitenkarte die Modernisierungstheorien darstellten.

1

Ausnahmen, die auch Joas als solche erkennt, sind Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Erich Fromm.

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Ich erinnere deshalb an dieses Kapitel der Entwicklung der Nachkriegstheorie, weil oft vergessen wird, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Präsenz und Partizipation der US-amerikanischen Stimme in fast allen wichtigen Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften heute wahrgenommen wird, bis vor relativ kurzer Zeit noch nicht vorausgesetzt werden konnte. Joas besteht zu Recht darauf, dass es sich hier um einen außerordentlich wichtigen Schritt handelt, der das Denken in Europa nicht nur entprovinzialisiert, sondern auch dazu beiträgt, unsere aktuelle globale Moderne besser zu verstehen. Gerade wenn wir Moderne aber als globale Moderne begreifen, dann muss auch deutlich werden, dass die Einbeziehung der nordamerikanischen Sicht auf diese uns alle verbindende Situation noch nicht ausreicht. Vielmehr gilt es zu fragen, wie Moderne und Globalisierung auch in anderen Teilen der Welt gedacht werden. Dabei dürfen vor allem die Meinungen und Beurteilungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika nicht fehlen, weil gerade in diesen Teilen der Welt die globale Modernisierung Erfahrungen provoziert hat, die in der europäischen und der US-amerikanischen Sozialtheorie so nicht zum Ausdruck kommen konnten. Vor diesem Hintergrund ist auch der US-amerikanische Pragmatismus kritisiert worden: Er habe sich zwar berechtigterweise in einigen wichtigen Punkten vom europäischen Denken abzugrenzen versucht, dabei aber sich selbst als einzige Stimme amerikanischen Denkens im kontinentalen Sinne verstanden und damit übersehen, dass es in anderen Teilen des amerikanischen Kontinents ebenfalls sehr eindrucksvolle Theorien gebe, die wiederum von anderen Erfahrungen inspiriert wurden (vgl. Maldonado-Torres 2007: 153). Wie unbefriedigend die Kenntnisnahme lateinamerikanischer Erfahrungen vonseiten der großen Modernitätstheorien ist, die in Europa und den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten artikuliert wurden, muss kaum für alle einzelnen Fälle nachgewiesen werden. Es reicht aus, die seltenen und äußerst rudimentären Bemerkungen hervorzuheben, die sich in die Werke einiger Autoren verirrt zu haben scheinen. So zum Beispiel Jürgen Habermasʼ Feststellung, dass der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz ein »Parteigänger der Moderne« sei (vgl. Habermas 1990a). Sicherlich ist diese Feststellung nicht falsch. Sie ist aber angesichts der Komplexität, die Pazʼ Kritik der Moderne auszeichnet, nichtssagend und verleugnet eigentlich Pazʼ Originalität in der Beurteilung der Moderne. Wie lässt sich aber Habermasʼ oberflächliche Behandlung erklären? Schließlich ging es dem

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deutschen Sozialphilosophen doch immer darum, die unterschiedlichsten Stimmen der Moderne zu Wort kommen zu lassen. Seine rekonstruktive Methode ist in gewisser Weise zu einem Markenzeichen für eine solche polyloge Öffnung geworden. Ein Grund könnte darin liegen, dass Paz kein ausgewiesener Sozialwissenschaftler oder Philosoph gewesen ist. Aber aus Gründen, die noch genauer definiert werden müssen, wird unsere Beurteilung des soziologischen Denkens in Lateinamerika immer mangelhaft ausfallen, wenn wir dieses nur in den dafür vorgesehenen institutionell markierten Räumen innerhalb der Universitäten suchen. Bleibt unser Blick auf die universitär institutionalisierte Soziologie oder Philosophie in Lateinamerika fixiert, wird sich im Vergleich zu anderen Ländern schnell das Vorurteil der Minderwertigkeit bestätigt finden. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Prozesse der institutionellen Konsolidierung der Universitäten anders verlaufen sind als in Europa oder auch in Nordamerika. Diese Besonderheiten haben aber dazu geführt, dass sich außeruniversitäre Räume ausbilden konnten, in denen sich sozialtheoretische oder sozialphilosophisch interessante Ideen artikulieren konnten. Die Literatur und vor allem die Essayistik wären hier besonders hervorzuheben. Im Folgenden werde ich mich auf Mexiko beschränken. Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass die Situation in Mexiko vergleichbar ist mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Im Rahmen dieser Untersuchung kann diese Vermutung aber nicht bestätigt werden.

8.2 D IE G RENZEN DER » AKADEMISCHEN S OZIOLOGIE « IN M EXIKO UND WARUM SIE ZU ÜBERSCHREITEN SIND Der mexikanische Soziologe Fernando Castañeda Sabido hat vor ein paar Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er die Situation der »akademischen Soziologie« in seinem Land untersucht. Schon der Titel offenbart das Ergebnis, zu dem er dabei gekommen ist. Er lautet: Die Krise der akademischen Soziologie in Mexiko (La crisis de la sociología académica en México). Dabei behauptet Castañeda keineswegs, dass die Krise der Soziologie ein ausschließlich mexikanisches Problem darstelle. In den ersten beiden Kapiteln seines Buches macht er vielmehr darauf aufmerksam, dass auch in anderen Ländern eine ähn-

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liche Situation zu beobachten sei, denn grundsätzlich gelte, dass das Fach seine »Identität« verliere. Es lasse sich überall eine »destructuración« der Soziologie diagnostizieren, die dazu führe, dass sie nicht mehr als eindeutig identifizierbarer Diskurs auszumachen sei. Zwar sei die Soziologie noch nie der einzige Diskurs gewesen, in dem sich das Thema der Gesellschaft artikulierte. Daraus dürfe aber nicht der Schluss zugezogen werden, dass alles, was über Gesellschaft gesagt und geschrieben werde, gleich schon Soziologie sei (Castañeda 2004: 6). Doch auch wenn der Identitätsverlust der Soziologie ein weltweites Problem darstelle, will Castañeda seine Warnung doch in erster Linie an die mexikanische Soziologie adressieren, denn hier sei auffällig, dass die sozialtheoretische Debatte »Schriftsteller, Essayisten, soziale Denker einbezieht, die nicht zwischen Soziologie und anderen Diskursen unterscheiden können« (7). Diese Situation verlange, »zu präzisieren, was wir unter Soziologie verstehen« (9). Castañeda besteht darauf, dass die Disziplin ihre Identität nur zurückgewinnen kann, wenn sie sich als »Sprache einer Gemeinschaft« auszeichnet, wobei das sprechende »Subjekt« sich verpflichtet, sich so zu artikulieren, dass die »Geltungsbedingungen« des Diskurses jederzeit rekonstruiert werden können (ebd. 84). Voraussetzung dafür ist natürlich zunächst einmal, die »Sprache«, bzw. den »Diskurs« der Soziologie »zu demarkieren und zu begrenzen«, um ihn als einen »spezialisierten« und »professionalisierten« Diskurs überhaupt als Einheit zu konstituieren. Darüber hinaus müsse dieser Diskurs in »einen komplexen institutionellen Rahmen« verpflanzt und darin kultiviert werden (vgl. ebd. 10-11). Dies ist aber alles andere als selbstverständlich. Zwar gebe es in Mexiko Universitäten und in diesen soziologische Fakultäten und Institute, Castañeda behauptet aber, dass es ebenfalls eine mehr oder weniger kaschierte Tatsache sei, dass »viele Soziologen, die [...] Traditionen der soziologischen Theorie nicht kennen« (9). Das führe schließlich dazu, dass sie sich nicht-soziologischer Sprachen bedienten.

Neben dem Identitätsverlust vor allem der mexikanischen Soziologie beklagt Castañeda noch ein zweites großes Problem, das sich als politisches verstehen lässt. Castañeda verfährt hier historisch. Als Aus-

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gangspunkt wählt er die mexikanische Revolution (1910-17). Das ist sicherlich nicht falsch, denn dieses historische Ereignis stellt auch in kultureller Hinsicht einen wichtigen Scheidepunkt dar. Auch wenn sie nicht von Intellektuellen vorbereitet wurde, sondern eher ein spontanes Aufbegehren unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen darstellte (vgl. Knight 1991), ist doch auch richtig, dass die politischen Umwälzungen von einer kulturellen Bewegung begleitet wurden, die es sich zur Aufgabe machte, eine neue Kultur zu schaffen, und in der die wichtigsten Intellektuellen der Zeit mitwirkten. Ich werde in den nächsten Kapiteln noch genauer auf diese Entwicklungen eingehen. Castañeda sieht das herausragende Merkmal dieser kulturellen Wende aber im Nationalismus und in der Festigung der zentralen Stellung des Staates. Der postrevolutionäre Staat avancierte zum Protagonisten auch der kulturellen Veränderungen. Hierin sieht Castañeda das Problem einer »unterbrochenen Revolution«2: »Die mexikanische Kultur«, so schreibt er, »emanzipierte sich von der Kirche, nicht aber vom König«. Das bedeutet: »Der postrevolutionäre Staat in Mexiko organisierte nicht nur die Arbeiter und die Unternehmen, die Bauern und die Sektoren des gemeinen Volkes, er organisierte auch die Kultur und die Intellektuellen« (ebd. 112).

Dies gilt in besonderem Maße für die akademischen Sozialwissenschaften. Auch José Luis Reyna erklärt: »It is […] hard to understand the birth of the Mexican institutions dealing with the social sciences without the presence of political power, [and] overt support from the government« (Reyna 2005: 411)3.

Nach Castañeda sind die Universitäten in Mexiko bis heute so stark politisiert, dass man in der Regel davon ausgehen müsse, dass sie eher politische als akademische Werte kultivierten. Ein Großteil seiner historischen Rekonstruktion der mexikanischen Soziologie verwendet Castañeda darauf, Stationen verpasster Chancen für eine »Professiona-

2

Der Begriff stammt von Adolfo Gilly (Gilly 1978).

3

Wie groß der Einfluss des Staates auf das intellektuelle Milieu in Lateinamerika insgesamt war, hat vor einigen Jahren auch Nicola Miller gezeigt (vgl. Miller 1999).

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lisierung«, das heißt: »Akademisierung«, Revue passieren zu lassen. Besonders viel Raum schenkt er der berühmten Polemik zwischen Antonio Caso und Vicente Lombardo Toledano in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (vgl. 127ff). Castañeda kommt zu dem Schluss, dass in dieser Debatte, in der es vorrangig um die »Autonomie« der Universität ging, zwei grundsätzlich unterschiedliche Werte verwechselt wurden: der Wert der Freiheit der Lehre und der Wert der allgemeinen Redefreiheit. Die Debatte endete schließlich damit, die allgemeine Redefreiheit für die Universität einzuklagen. Castañeda erklärt dies damit, dass aufgrund des Mangels an zivilen Rechten und der damit verbundenen schwachen Stellung der politischen Öffentlichkeit in Mexiko Werte, die eigentlich in die Sphäre der gesellschaftlichpolitischen Wirklichkeit gehören, von den Universitäten adoptiert wurden. »Die Universität hat sich in den einzigen Ort mit einer wirklichen Redefreiheit verwandelt. Sie wurde gleichzeitig zur Arena der Opposition und der Dissidenz und zum Alter-Staat. Sie wurde nicht zu einem Ort akademischer Freiheit, sondern zu einem Ort der Redefreiheit. Die Universität wurde somit zu einem Ort, in dem eher die öffentliche Meinung kultiviert wurde und nicht die akademische, und deshalb wurden die Unterschiede, wie in der Polemik zwischen Caso und Lombardo, politisch und nicht akademisch entschieden« (145).

Die Vormacht politischer Werte und Tugenden im Inneren der mexikanischen Universitäten wird seitdem immer wieder die Agenda der Sozialwissenschaften und ihrer Inhalte bestimmen. Castañeda erinnert in diesem Zusammenhang auch an die Dependenztheorie. Obwohl Mexiko nicht zu den Zentren der Dependenztheorie gehörte, fand sie auch in diesem Land ihre Vertreter. Als einer der wichtigsten ist Rodolfo Stavenhagen zu nennen, der in den 1970er Jahren im Zeichen der Dependenztheorie auch über die Situation akademischer Institutionen in Lateinamerika schrieb. Ihre Mängel erklärte er mit einem »inneren Kolonialismus« (Stavenhagen 1984a: 21). Daraus resultiere die Priorität, die Universitäten Lateinamerikas und das in ihnen erzeugte Wissens »zu dekolonialisieren« (vgl. Stavenhagen 1984b). Castañeda sieht in dieser Art der Argumentation aber vor allem selbst eine Ideologie am Werk; eine Ideologie, der er »postkoloniale« Wurzeln unterstellt (vgl. Castañeda 2004: 279; 296). Er benutzt den Ausdruck »postkoloniale Kondition«, um auf die Suche nach der eige-

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nen nationalen Identität hinzuweisen, die vor allem in seinem Land immer wieder in einen tiefen Provinzialismus führe, der all das, was nicht eindeutig als Eigenes identifiziert wird, als bedrohlich Fremdes stigmatisiere. Andererseits ist die allzu einfache dependenztheoretische Formel »Zentrum/Peripherie = schlecht/gut« für die Politiker der »abhängigen« Länder sehr bequem: Sie erlaube es, allen internen Problemen externe Gründe zu unterstellen. Castañeda erinnert daran, dass dieses dependenztheoretisch gerechtfertigte Denkmuster tatsächlich dem politischen Diskurs des mexikanischen Präsidenten Luis Echeverría gedient habe: »Echeverría übernahm die nationalistischsten Richtungen des soziologischen Diskurses und machte aus ihnen einen Diskurs, der es vermochte, Außenpolitik in eine interne Angelegenheit nationalen Charakters zu verwandeln, und Innenpolitik in ein Problem internationaler Verantwortung« (ebd. 187).

Nach Castañeda müsse Soziologie über diesen Parochialismus hinaus. Die Aneignung der Traditionen dieser Disziplin fordert geradezu dazu auf, über die Grenzen – hier im geografisch-politischen Sinn – hinauszuschauen, denn die soziologische Tradition entspringt »anderen Kulturen«, die es sich anzueignen gelte, auch wenn es sich dabei teilweise um die Kulturen der früheren Kolonialmächte handeln sollte. Tatsächlich lässt sich aber in den 1980er Jahren in der mexikanischen Soziologie eine solche neue Öffnung beobachten. Die beiden Soziologinnen Lidia Girola und Gina Zabludovsky beschreiben diese Zeit deshalb auch als »ein Jahrzehnt der Suche, was einerseits eine Revision der vorher akzeptierten Schemata und andererseits eine gierige Lektüre von Autoren impliziert, die aus dem einen oder anderen Grunde nicht nach Mexiko gelangten« (Zabludovsky/Girola 1995: 173).

Auch Castañeda erkennt diese Öffnung und sieht in ihr einen Trotz gegen den Nationalismus und Regionalismus der Dependenztheorien, bedauert aber, dass sich dieser in »metatheoretischen, epistemologischen und philosophischen« (Castañeda 2004: 188-189) Debatten verloren habe.

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»Es wurde eine intellektuelle Einstellung mit theoretischen und philosophischen Ambitionen gefördert, [die] sich in eine intellektuelle Diskussion verwandelte, in der Foucault und Habermas interpretiert wurden, in der aber wenige die Aufgabe wahrnahmen, diese Diskurse für den nationalen Kontext zu übersetzen« (189).

Selbstverständlich fordert Castañeda hier nicht durch die Hintertür jenen Nationalismus, den er eigentlich verurteilt. Vielmehr macht er auf die Notwendigkeit aufmerksam, dass Ideen aus anderen Teilen der Welt eben nur dann sinnvoll sein können, wenn sie übersetzt werden. Wie lässt sich aus dieser Situation aber eine zukunftsorientierte Forschungsperspektive entwickeln? Nach Castañeda scheint die »Krise der akademischen Soziologie« in Mexiko vor allem durch zwei Probleme bestimmt zu werden: dem des Identitätsverlustes und dem der Politisierung/Ideologisierung. Sein Buch endet defätistisch. Alternativen lassen sich nur ex negativo ableiten. 1. Gegen die Sorge des Identitätsverlusts der Soziologie ließe sich selbstverständlich einwenden, dass es sich um ein bekanntes Problem handelt. Ob sich die Soziologie als Einheitssprache definieren lassen kann oder soll, ist heute vielleicht noch umstrittener als vor etwa 100 Jahren, als sich diese Disziplin zu institutionalisieren begann. Gerade wenn wir die Soziologie als Reflexionsdispositiv verstehen, mit dem sich moderne Gesellschaften über sich selbst aufklären wollen, ist die Vorstellung von einer homogenen Einheitssprache, wie sie Castañeda vorschwebt, vor dem heutigen Differenz- und Kontingenzbewusstsein erklärungsbedürftiger denn je. Anstatt also von der Soziologie zu verlangen, sich der Form einer relativ homogenen Einheitssprache zu unterwerfen, würde ich vorschlagen, sie eher als eine Art Metasprache zu begreifen, die zwischen unterschiedlichen Fachsprachen vermittelt. Übersetzungsleistungen stünden dabei wieder im Vordergrund. Tatsächlich scheint sich heute in einigen Bereichen der Soziologie ein solches Verständnis durchzusetzen. Ich denke dabei vor allem an die sogenannte Weltsoziologie oder global sociology (vgl. Kapitel 11). 2. Castañedas Kritik eines in Mexiko vor allem nach der Revolution von 1910-17 erstarkenden Nationalismus, der alle nur denkbaren kulturellen Bereiche in seinen Bann geschlagen habe, ist berechtigt. In diesem Zusammenhang ist auch die Vereinnahmung der akademischen Soziologie durch den Staat als durchaus ernst zu nehmendes Problem zu betrachten. Nur müsste gerade die Einsicht in die Begrenztheit der

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akademischen Soziologie in Mexiko eine systematische Suche nach Alternativen vorantreiben. Diese kann meiner Meinung nach nicht an den Essayisten, von denen sich Castañeda zu scharf abgrenzen will, vorbeigehen, denn an ihren Werken, in denen sich ein »soziologisches Denken« Ausdruck verschafft, ist dessen Relevanz für aktuelle soziologische Fragestellungen vor allem modernitätstheoretischer Art noch kaum gewürdigt worden (vgl. Miller 2008). Diese Alternativen gilt es schon deshalb ernst zu nehmen, weil es möglich ist, dass gerade ihr »anti-akademischer« Charakter, den Castañeda beklagt, Teil einer vor allem gegen US-amerikanische Tendenzen der Institutionalisierung soziologischer Fragestellungen gerichteten Strategie sein könnte (vgl. auch Portes 2004). Das bedeutet vor allem, dass akademische »Defizite« nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst heraufbeschworen werden. Ich möchte im Folgenden dieser Spur nachgehen. Dabei werde ich mich vor allem auf das Werk von Octavio Paz konzentrieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. 1. Zum einen bin ich davon überzeugt, dass sich in Pazʼ Essays eine Soziologie mitteilt, die sich als Alternative zur akademischen Soziologie US-amerikanischen Beispiels verstehen lässt und lassen will, und die sich trotz aller Verpflichtungen auf ein Projekt der Modernisierung als Kritik der Modernisierungstheorien präsentiert. 2. Pazʼ »Projekt der Moderne« lässt sich als humanistische Moderne im Sinne eines deutlich ausgeprägten Weltbewusstseins verstehen. Das heißt: Paz schließt seine Vorstellung von Moderne an die humanistische Tradition des mexikanischen (vielleicht lateinamerikanischen?) Denkens an. 3. Pazʼ Werk lässt sich in diesem Zusammenhang als einer der komplettesten Vorschläge für eine andere Moderne aus mexikanischer Sicht lesen. Ähnlich wie Castañeda hatte auch Octavio Paz argumentiert. Seiner Überzeugung nach sei Mexiko eine Modernisierung aus eigener Kraft nicht gelungen, weil das Land es nicht schaffte, politische Transformationen in die Wege zu leiten, die mit »modernen« Ideen und Diskursen in Einklang gestanden hätten. Nach der Unabhängigkeit von Spanien (1810) folgten ganz unterschiedliche Modernisierungsprojekte, die von Intellektuellen und Politikern zumindest dem Wortlaut nach übernommen wurden. Die wichtigsten waren der Liberalismus, der Positivismus und schließlich, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Modernisierungstheorien. All diese Ideen und Diskurse wurden in Mexiko zwar reproduziert, aber nicht in eine für diese Gesellschaft funktionie-

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rende Realität verwandelt. Mexikos Tragödie lässt sich Paz zufolge so verstehen: »[W]ir Mexikaner [haben] uns seit dem großen hispanischen Bruch – der Krise Ende des 18. Jahrhunderts und seiner Folge: der Unabhängigkeit – verschiedene Modernisierungsprojekte zu eigen gemacht […] Sie alle haben sich nicht nur als unbrauchbar erwiesen, sondern sie haben uns darüber hinaus entstellt« (Paz 1979: 86).

So gelang es aber auch, »die Überreste des Kolonialsystems modern zu verkleiden« (Paz 1998: 123), welche sich schließlich hinter den »Masken« der Modernisierung perpetuieren konnten. Der Preis, den das Land für diese halbherzige Modernisierung zu zahlen hatte, war sehr hoch: Es »installierte sich die politische Lüge« (ebd.) fest in die politische Kultur und das Einzige, was von den verschiedenen Modernisierungsprojekten übrig blieb, waren »lauter schöne nutzlose Worte« (ebd. 133). Wie Castañeda sah auch Paz den Grund für diese Situation nicht darin, dass die Ideen und Diskurse samt ihrer Modernisierungsofferten aus dem Ausland kamen, sondern darin, dass sie im Humus der mexikanischen politischen und sozialen Wirklichkeit nicht keimten. Doch trotz der Übereinstimmungen in der Diagnose sind die Strategien, die sich für Paz einerseits und Castañeda andererseits daraus ergeben, unterschiedlich. Während Castañeda auf die Akademisierung der Soziologie setzt, optierte Paz für eine Kulturkritik, die grundsätzlich die Grenzen der akademischen Soziologie sprengt. Ich möchte nun den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich auch in Lateinamerika die Debatten um Moderne und Modernisierung in der »akademischen Soziologie« entfalteten, um dann zu zeigen, dass Paz einen völlig anderen Weg wählte, der ihn zu einer anderen Soziologie führte. Dies zwingt mich zunächst, kurz an die lateinamerikanischen Modernisierungstheorien sowie an die Dependenztheorie zu erinnern.

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8.3 D IE GEOGRAFISCH - EPISTEMISCHE V ERSCHIEBUNG IN DER M ODERNISIERUNGSTHEORIE G INO G ERMANIS Walter D. Mignolo hat vor einigen Jahren dem Werk von Immanuel Wallerstein das Lob ausgesprochen, in kaum spürbarer, aber doch sehr wichtiger Hinsicht eine »epistemische Verschiebung« vollzogen zu haben (vgl. Mignolo 2004: 117). Gemeint hat er damit eine »Umorientierung der intellektuellen Debatte aus einer Perspektive der Dritten Welt« (ebd.). Dabei unterschlägt Mignolo nicht, dass Wallerstein diesen Perspektivenwechsel nicht zuletzt seiner Kenntnis der vor allem in Lateinamerika beheimateten Dependenztheorie verdankt. Ich möchte noch einen Schritt weiter zurückgehen und behaupten, dass dieser Perspektivenwechsel bereits in der lateinamerikanischen Modernisierungstheorie zum Ausdruck kam. Eines der wichtigsten Beispiele dafür liefert das Werk des italo-argentinischen Soziologen Gino Germani. Zunächst muss betont werden, dass natürlich der Einfluss der Modernisierungstheorien in Lateinamerika erheblich war: »They put forward the idea that Latin America was in transition from traditional society to modern society and that the very advanced (North American or European) industrial societies were the ideal model which backward countries would inevitably reach« (Larrain 2000: 118).

Der von Italien nach Argentinien emigrierte Soziologe Gino Germani4 war einer der einflussreichsten Modernisierungstheoretiker Lateinamerikas. Germani stand der Modernisierungstheorie noch recht vorbehaltlos gegenüber. Das zeigt sich vor allem daran, wie ungehemmt er noch den später zu Recht stark kritisierten kategorialen Rahmen der Modernisierungstheorien – vor allem die Dichotomie »Tradition/Moderne« (vgl. Kapitel 3) – in seine eigene Soziologie aufnahm. Für Germani stellen die lateinamerikanischen Gesellschaften Beispiele für die transición von der Tradition hin zur Moderne dar (vgl. 1968: 195ff). Im Prozess dieses »Übergangs« lassen sich, so Germani, verschiedene

4

Biographisches zu einer der schillernsten Persönlichkeiten in der lateinamerikanischen Soziologie hat Germanis Tochter Ana Alejandra (2004) veröffentlicht.

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Etappen unterscheiden. Ebenso wie bei allen anderen Modernisierungstheorien ist auch für Germani das Ziel des Prozesses allgemeingültig für alle Gesellschaften auf globaler Ebene vorgezeichnet. Grundsätzlich kann ein »höherer Grad an Einheit und Interdependenz« als Resultat der Modernisierung erwartet werden (Germani 1969: 26). Außerdem tritt Germani durchaus als Verfechter der normativen Ansprüche der Modernisierung in Erscheinung: »he does not lose faith in the inevitability of the process of transition and argues that despite many problems it is taking place at a quicker pace then in the past« (Larrain 1989: 93).

Dieser knappe Blick auf Germanis Modernisierungstheorie lässt also schon den Schluss zu, dass sie genauso wie in allen anderen Modernisierungstheorien eine zeitliche Logik patentiert, die grundsätzlich globale Prozesse in Gang setzen soll, welche letztendlich auf eine zunehmende Konvergenz im »internationalen System« ausgerichtet sind (Germani 1969: 26). Das heißt auch, dass es sich dabei um Prozesse handelt, denen sich keine Gesellschaft entziehen kann und auch nicht sollte. Modernisierung wäre demnach also als Prozess der Konstruktion einer tatsächlichen Weltgesellschaft zu verstehen. Dennoch finden wir in Germanis Modernisierungstheorie aber bereits Einsichten, die später in den Dependenztheorien noch deutlicher zum Ausdruck kommen sollten. Trotz aller Einheitsverheißungen und -tendenzen, die in den Modernisierungstheorien ausgesprochen werden, sind die jeweiligen Voraussetzungen doch sehr unterschiedlich. So trivial diese Erkenntnis auf den ersten Blick erscheinen mag, so wichtig ist sie doch in ihren Konsequenzen für die epistemologischen Grundlagen, denn hier zeichnet sich bereits jene »epistemische Verschiebung« ab, die auch Mignolo bei Wallerstein und den Dependenztheoretikern findet. Um nun die unterschiedlichen Modernisierungsprozesse sichtbar zu machen, zerlegt Germani den »globalen Prozess« der Modernisierung analytisch in verschiedene Unterprozesse. Dabei orientiert er sich nicht an abstrakten Modellen, sondern an konkreten Problembereichen, die er in einigen lateinamerikanischen Gesellschaften, allen voran der argentinischen, zu erkennen glaubt. Als Ergebnis ermittelt Germani auf diesem Wege ein sehr komplexes System von Prozessen, die aufgrund bestimmter Bremsmechanismen ganz unterschiedliche

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»Geschwindigkeiten« entfalten: 1. Bevölkerungswachstum, 2. Urbanisierung, 3. Fortbestehen archaischer Muster, 4. Spannungen, die sich aus den Unterschieden zwischen modernisierten und »zurückgebliebenen« (atrasadas) Bereichen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft ergeben, 5. Fortbestehen der ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen »Marginalität« vor allem auf dem Lande, 6. Wachstum des tertiären Sektors, 7. Streben nach »modernen« Konsumformen, 8. »Rückständigkeit« in der Entwicklung »moderner Einstellungen« auch bei den intellektuellen Eliten, 9. Gleichzeitigkeit von Prozessen, die in »westlichen« Ländern sukzessive stattfanden (»zum Beispiel: Erscheinen der Massengesellschaften in den Großstädten, begleitet vom Fortbestehen der ›traditionalen‹ Marginalität in den zurückgeblieben und ländlichen Gebieten innerhalb einer jeden Nation [...]«), 10. politische und soziale Mobilität, und besonders für die südamerikanische Erfahrung wichtig: 11. Fortbestehen von Mustern militärischer Interventionen in die politischen Prozesse (vgl. 10-11). Das von Germani beobachtete Ineinanderwirken dieser unterschiedlichen Entwicklungsprozesse und Bremsmechanismen erlaubt es ihm, ihnen einen »asynchronen« Charakter zu unterstellen. Damit zeichnet sich seine Theorie im Vergleich zu anderen Entwicklungstheorien aber bereits durch ein höheres Differenzbewusstsein aus. »Eines der wesentlichen Merkmale des Wandels ist sein asynchroner Charakter« (Germani 1968: 21). Die Entdeckung des asynchronen Charakters sozialen Wandels in den sogenannten Entwicklungsländern widerspricht der Gewohnheit, diese Gesellschaften eindeutig als »unterentwickelt« oder »traditional« zu klassifizieren. Im Gegenteil, »Traditionalität« und »Modernität« stellen Tendenzen dar, die sich in allen Gesellschaften gegenseitig zu beeinflussen scheinen. Worauf es in der Soziologie ankomme, sei demnach, die jeweils unterschiedlichen Konstellationen festzustellen, die verschiedene, sich teilweise gegenseitig aufhebende Prozesse in unterschiedlichen Gesellschaften hervorbringen. Diese Vorstellung widerspricht nun aber der zeitlichen Logik in einem strikten Sinne, das heißt, der Übersetzung von gesellschaftlichen Unterschieden in zeitliche Unterschiede, und bereitet einem weiteren, einschließenderen Begriff von Moderne den Weg. Das universale Modell der Moderne wird hier also nicht einfach auf jeden konkreten Fall angewendet (Larrain 2000: 121), sondern die Ergebnisse, die sich aus den Widersprüchen der untersuchten Fälle mit dem universellen Modell artikulieren lassen, modifizieren dieses Modell dahin ge-

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hend, dass sie es öffnen und andere »Modernen« denkbar machen. »Moderne« ist damit etwas, was es in vielen Gesellschaften, die für konventionellere Modernisierungstheorien einfach »traditional« sind, eben schon gibt. Dies habe aber gerade nicht dazu geführt, dass die verschiedenen, sich modernisierenden Gesellschaften konvergierten. Im Gegenteil, neue Unterschiede, die sich aus den Spannungsverhältnissen zwischen Modernisierungsprozessen und Bremsmechanismen ergeben, werden produziert und sorgen dafür, dass sich auf der Erde geografisch verteilte unterschiedliche Modernen bilden. Wenngleich diese Interpretation auf der Grundlage der Lektüre Germanis möglich ist, geht sie auch über Germani hinaus. Bei Germani herrscht noch die normative Vorstellung von Modernisierung vor, die auf ein Einheitstelos ausgerichtet ist. Gerade die lateinamerikanische Erfahrung hat aber noch andere Theoriemodelle in der Auseinandersetzung mit den Modernisierungstheorien produziert, die sich als deutlichere Kritik dazu begreifen lassen. Zu nennen ist hier vor allem die sogenannte Dependenztheorie.

8.4 D EPENDENZTHEORIE : D IE HALBHERZIGE K RITIK AN DER M ODERNISIERUNGSTHEORIE Die Kritik an den Modernisierungstheorien aus lateinamerikanischer Perspektive kann nicht auf eine soziologische Debatte reduziert werden, wie wir noch sehen werden. Sie fand aber innerhalb der akademischen Soziologie einen wichtigen Ausgangspunkt: in der sogenannten Dependenztheorie (Teoría de la dependencia), die weit über die Grenzen Lateinamerikas hinaus rezipiert wurde. »Modernization theories«, schreibt Jorge Larrain, »reduce the study of sociohistorical processes to the construction of abstract models of universal applicability« (Larrain 2000: 121, vgl. Kapitel 3). Eine Kritik, welche die Dependenztheorien an die Modernisierungstheorien adressierten, wandte sich ganz ausdrücklich gegen deren hohen Abstraktionsgrad bzw., wie der brasilianische Dependenztheoretiker Theotonio dos Santos schrieb, gegen den Anspruch einer makrosoziologischen »Generaltheorie« zivilisatorischer Entwicklungstendenzen. Stattdessen verlangt Dos Santos, die theoretischen »Verfahren sollten an konkrete Situationen angepasst oder in ihnen erzeugt werden« (dos Santos 1970: 20). Um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen,

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dass Entwicklungsprozesse in unterschiedlichen Gesellschaften ganz unterschiedliche Eigenschaften besitzen können, fordert dos Santos in einer interessanten Metapher, Entwicklung müsse als »Abenteuer der Völker« verstanden werden. Das bedeutet auf jeden Fall, dass sie nicht als ein institutionell vorgezeichnetes Programm verstanden werden dürfe, das in allen Ländern dieselben Resultate hervorbringt. Auch gegen die ökonomistische Ausrichtung der Modernisierungstheorien argumentierte schon die Dependenztheorie. Kulturelle Prozesse müssten stärker berücksichtigt werden. Gerade die Erschließung der kulturellen Dimension ermöglicht es Dos Santos, an den ebenso traditionsreichen wie komplexen Diskussionszusammenhang anzuknüpfen, der in Lateinamerika während des 20. Jahrhunderts den großen Teil der intellektuellen Kraft in Anspruch genommen hat: die Diskussion darüber, ob die lateinamerikanische Kultur in allen ihren Ausdrucksformen – den künstlerischen genauso wie den akademischen und schließlich den institutionellen – nur eine »reine Kopie der dominierenden Kultur der kolonialen Zentren« darstelle (25). Wenn diese Vermutung richtig sei, so ergebe sich vor allem für die Sozialwissenschaften, die versuchten, die Wirklichkeiten in Lateinamerika zu verstehen, ein epistemologisches Problem. Es würde nämlich bedeuten, dass die jeweiligen Wissenschaftler »auf ihre Länder aus der Perspektive der Metropolen [und im Sinne ihrer] Interessen, Muster und Werte [schauten]« (ebd.). Für das Problem der Unterentwicklung bedeute dies, dass die wissenschaftlichen Theorien, die dazu benutzt werden, dieses Problem zu analysieren und Lösungsvorschläge zu machen, unbrauchbar wären, da sie – wie das Beispiel der Modernisierungstheorien eindeutig zeige – überhaupt nicht in der Lage seien, die lateinamerikanischen Besonderheiten zu begreifen. Hier lässt sich bereits ein Differenzbewusstsein attestieren, das in den Modernisierungstheorien, die nur einen Unterschied kennen – nämlich den zwischen »modernen« und »traditionalen« Gesellschaften – nicht ausgebildet werden kann. Aber die Dependenztheoretiker wurden noch deutlicher in ihrer Kritik an der zeitlichen Logik der Modernisierungstheorien: »Unterentwicklung ist kein zurückgebliebenes Stadium vor dem Kapitalismus, sondern eine Konsequenz desselben und eine besondere Form seiner Entwicklung [...]« (41). Streng genommen bedeutet dies, dass es den einen, idealen Kapitalismus, die eine ideale Moderne nicht gibt und dass Moderne und Kapitalismus in ganz unterschiedlichen Formen auftreten, die sich jedoch gegenseitig bedingen

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und ermöglichen. Für Länder der sogenannten »Dritten Welt« gilt also nicht, dass sie in der Moderne noch nicht angekommen seien, sondern dass die Moderne dort andere Erfahrungen provoziert habe. Unterschiede markieren also nicht nur die Grenze zwischen innen und außen. Auch im Inneren der Moderne existieren sie. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die Dependenztheorien wesentliche theoretische Instrumentarien dem Marxismus verdankten (vgl. Larrain 2000: 123). Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, dass es sich um Bollwerke marxistischer Demagogie gehandelt hätte. Dies zeigt sich schon daran, dass die Dependenztheorie sich durchaus kritisch zu Marx geäußert hat. So zum Beispiel Celso Furtado, ein weiterer Protagonist in den Reihen der Dependenztheoretiker: »Eine hartnäckige Interpretation von Marx bis Hicks besteht darauf, dass die Erklärung der ökonomischen Prozesse in den an Industrialisierung fortgeschrittensten Ländern ausreichte, um zu verstehen, was in den Ökonomien der zurückgebliebenen Entwicklung geschieht. Wenn dem so wäre, bliebe den zurückgebliebenen Ländern nichts übrig, als die schon bekannten Wege einzuschlagen, um sich der Erfahrung derer zu bedienen, die sich bereits in fortgeschritteneren Etappen finden« (Furtado 1999: 4).

Diese Kritik der zeitlichen Logik, die hier gegen Marx als Verdachtsmoment erhoben wird, basiert auf einem Bewusstsein geografisch verteilter und koexistierender Unterschiede. Doch genauso wie die Modernisierungstheorien sind auch die Dependenztheorien gescheitert. Einer der wesentlichen Gründe dafür liegt in den schon erwähnten Rückständen einer Sprache, die noch zu sehr auf rein ökonomische Prozesse eingestellt war und daher trotz aller richtigen Intuitionen nicht in der Lage war, die Komplexität der kulturellen Prozesse zu begreifen, die von den ökonomischen nicht zu trennen waren. Ramón Grosfoguel schreibt: »Dependentistas developed a neo-Marxist political-economy approach. Most dependentista analysis privileged the economic and political aspects of social processes at the expense of cultural and ideological determinations. Culture was perceived as instrumental to capitalist accumulation processes. In many respects dependentistas reproduced some of the economic reductionism that had been criticized in orthodox Marxist approaches. This led to two problems: first, an underestimation of the Latin American colonial/racial hierarchies; and

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second, an analytical impoverishment of the complexities of political-economic processes« (Grosfoguel 2000: 366).

Ein weiterer Grund für das Scheitern der Dependenztheorie liegt darin, dass sie trotz wichtiger Ansätze, die ein differenzierteres Weltbild in Aussicht stellten, den Dualismus »Zentrum/Peripherie« nicht zu überwinden vermochten. Diese zu grobe Differenzierung machte die Dependenztheorien für regionalistische und nationalistische Demagogie anfällig. Wir haben bereits gesehen, dass sich an diesem Punkt auch die Kritik des mexikanischen Soziologen Fernando Castañeda entzündet (vgl. Kapitel 8.2). Schließlich gehört auf die Liste der Gründe des Scheiterns der Dependenztheorie die Tatsache, dass sie selbst noch eine Modernisierungstheorie war (vgl. Grosfoguel 2000: 361). Zwar artikulierte sie eine Kritik an der zeitlichen Logik und forderte ein stärkeres geografisches Differenzierungsvermögen ein, dennoch blieb sie in ihrer Möglichkeit der Kritik in der Semantik der Modernisierungstheorien gefangen. Um diese Abhängigkeit von den Modernisierungstheorien zu überwinden, wäre es notwendig, eine andere Sprache zu entwickeln, die für die unterschiedlichen Erfahrungen in und mit den jeweiligen Modernisierungsprozessen sensibler ist. Dies gelang den Dependenztheorien aber vielleicht gerade deshalb nicht, weil sie ihre eigene Tradition in den westlichen Sozialwissenschaften sahen, deren Sprache sie – wenn auch nicht kritiklos – übernahmen, statt sich auf die eigenen, auch literarischen Traditionen in Lateinamerika zu besinnen. Ein besonders ergiebiger Fundus für die Erfahrungen, die lateinamerikanische Gesellschaften im Prozess der Modernisierung gemacht haben, findet sich in der reichen und aus soziologischer Sicht kaum erforschten Essayistik (vgl. Larrain 2000). Wer sich auf diese Tradition besinnt, wird Diskussionen und Themen entdecken, die den soziologischen Modernisierungs- und Dependenztheorien genauso verschlossen blieben wie ihren Kritikern. Anstelle der Orientierung am Einheitstelos der Moderne, wie es die Modernisierungs- und Dependenztheorien voraussetzten, offenbaren Modernitätskritiken, die sich vor allem in der Form von Essays artikulierten, sehr eigenwillige und komplexe »Projekte der Moderne«, die auch die Sozialwissenschaften bereichern können (vgl. Miller 2008). Dabei entzünden sich diese Debatten aber nicht nur an den abstrakten Diskursen, die aus Europa oder den Vereinigten Staaten nach La-

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teinamerika gelangt sind, sondern werden durch die anderen Erfahrungen, die die Modernisierung in diesem Teil der Welt schon im 19. Jahrhundert provoziert hat, ausgelöst. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Kritik am Positivismus.

8.5 P OSITIVISMUS

ALS I DEOLOGIE

Wenn die Befreiung von der Vormundschaft der Religion ein Wesensmerkmal der Moderne sein soll, dann macht ein Blick auf die Geschichte Mexikos deutlich, dass sich dieses Land seit dem 19. Jahrhundert auf einem eindeutigen Pfad der Modernisierung befindet. Der Liberalismus, der sich in diesem Jahrhundert als politisch-soziale Kraft durchsetzen konnte, hat der Religion und ihrer wichtigsten Institution, der katholischen Kirche, den Kampf angesagt. Dabei gelang es den liberalen Kräften des Landes, den Einfluss der Kirche zu beschneiden. Aber viele wussten auch, dass die Kirche, wenngleich sie an institutionellem Einfluss verlor, »in den Köpfen der Mexikaner« nach wie vor sehr stark war (vgl. Villegas 1992: 12). Eine Bildungsreform sollte vor diesem Hintergrund zu einer der wichtigsten Waffen im Kampf gegen die Kirche eingesetzt werden. Der mexikanische Präsident Benito Juárez (1806-1872) dekretierte diese, und der Medizin- und Philosophieprofessor Gabino Barreda (1820-1881) organisierte sie und versorgte sie mit den entsprechenden Ideen. Wie in anderen Teilen Lateinamerikas5, sollte auch in Mexiko der Positivismus die entsprechende Orientierung geben. Mit dem Positivismus setzte sich ein an strikter Wissenschaftlichkeit ausgerichtetes Denken durch, das sich aus verschiedenen Quellen speiste, von denen der Biologismus Haeckels, der Evolutionismus Spencers, vor allem aber die Lehre Comtes die wichtigsten waren (vgl. ebd. 15). Gerade die Einsicht, dass eben auch politische und soziale Prozesse mit wissenschaftlichen Methoden analysiert und kontrolliert werden können, erklärt die Schlüsselstellung der Soziologie Comtes. Die Hinwendung zum Positivismus steht nicht nur für eine Abkehr von der katholischen Kirche, sondern auch für die Betonung eines starken Humanismus. So schrieb Gabino Barreda:

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Zu nennen sind hier vor allem Länder wie Argentinien, Brasilien und Chile.

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»Die Natur hört auf, eine Ansammlung von Begriffen zu sein, um sich in ein breit angelegtes Laboratorium zu verwandeln, dessen Akteur der Mensch ist […]« (zit. in: ebd. 13).

Doch paradoxerweise wurde gerade der Humanismus vom Positivismus auch unterwandert. Justo Sierra (1848-1912) war einer der ersten, denen auffiel, dass der Positivismus mit seiner Glorifizierung der wissenschaftlichen Vernunft selbst wieder eine Art »Mythos« erzeugte. Für Sierra war es nicht mehr so klar, dass die an den Naturwissenschaften orientierte Wissensproduktion die einzig gültige sein könne, denn sie reduziere das Verständnis des Menschen auf seine rationalen Fähigkeiten. Neben diesen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen, die in eine Kritik am Positivismus mündeten, gab es aber auch politische Gründe. Vor allem unter dem Präsidenten Porfirio Díaz (1830-1915) wurde der Positivismus zu einer staatstragenden Ideologie. Mit dem Leitspruch Orden y progreso (Ordnung und Fortschritt) rechtfertigte Díaz eine Diktatur, die schließlich die Revolution von 1910 provozierte. Der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea hat bereits in den 40er Jahren in einem wichtigen Buch über den Positivismus in seinem Land erklärt, dass dieser zu einem »ideologischen Instrumentarium« der neuen herrschenden Klassen wurde, durch welches die außerordentlich heterogene Gesellschaft Mexikos zusammengeschweißt werden sollte. Die tatsächlichen Resultate waren aber andere. Zwischen einer europäisierten, urbanen Elite einerseits und der verarmten, zum größten Teil indigenen Landbevölkerung andererseits entstand eine sozial wie kulturell ungemein große Kluft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so die Diagnose Zeas, hatten der Positivismus und der mit ihm verbundene Anspruch nach »Ordnung« eindeutig gegenüber dem Liberalismus die Oberhand. Auch in den Institutionen höherer Bildung spiegelte sich diese Tendenz wieder. Zea schrieb: »Der Liberalismus hatte seine Mission beendet, die mexikanische Jugend, die im Zeichen der Ideen des Positivismus ausgebildet worden war, wollte nichts anderes mehr als Ordnung« (Zea 1968: 179).

Für unseren Zusammenhang besonders interessant ist auch, dass durch das Prisma des evolutionstheoretisch orientierten Positivismus und seiner radikalen Fortschrittsteleologie eine Logik das politische Den-

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ken zu bestimmen begann, nach der die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und -schichten, ähnlich wie in der späteren Modernisierungstheorie, in eine zeitliche Logik gepresst wurden. So hat zum Beispiel Andrés Molina Enríquez (1865-1940) geglaubt, dass die unterschiedlichen Ethnien Mexikos in verschiedenen Etappen der mexikanischen Evolution lebten. Und trotz seiner Kritik am Regime des Porfirio Díaz glaubte er, dass es einer Diktatur bedürfe, um die Unterschiede einzuebnen (vgl. Molina Enríquez 1999; Villegas 1992: 16 f). Gegen diese und andere Ideen, die der Positivismus in Mexiko anregte, sollten sich noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleich mehrere Salven der Kritik entladen. So schrieb der mexikanische Philosoph Luis Villoro 1953, der ebenso wie der bereits erwähnte Leopoldo Zea zur sogenannten Gruppe Hiperion6 gehörte, in einer deutlichen Kritik gegen die zeitliche Logik, die Molina dem Positivismus abschaute: »Das historische Geschehen hat nichts mit einem natürlichen Ablauf zu tun; es basiert auf der zeitlichen Entfaltung der Existenz und nicht im Maß der Weltzeit« (Villoro 1977: 9).

Aus der Kritik am Positivismus, so ließe sich an dieser Stelle festhalten, entwickelten sich Ideen, die sich tief ins mexikanische Denken einbrannten und eine Kritik an vielen Aspekten der späteren Modernisierungstheorien schon vorwegnahmen. Der Positivismus und vor allem die Kritik, die er hervorrief, haben das mexikanische Denken auf eine Bahn gelenkt, die eine ganz eigenförmige Gestalt annehmen sollte. Das Gemenge von Ideen, das dabei entstand, ist für die Soziologie bzw. das »soziologische Denken« in Mexiko von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In ihnen verbindet sich der Antipositivismus mit einem »neuen« Humanismus und der Vision einer Moderne als Weltbewusstsein.

6

Es handelt sich um eine Gruppe junger Philosophen, die sich Ende der 1940er Jahren in Mexiko formierte.

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8.6 A UFBRUCH IN EINE NEUE K ULTUR Z EICHEN DES H UMANISMUS

IM

Wie bereits erwähnt, ging der mexikanischen Revolution kein kulturelles Programm voran. Ihr Ausbruch fällt zeitlich aber mit der Gründung der ebenfalls bereits erwähnten Gruppe von Intellektuellen und Professoren zusammen, die sich den Namen Ateneo de la Juventud gaben. Auf den ersten Blick ist das Verhältnis dieser Gruppe, zu denen Schriftsteller und Philosophen gehörten, und der tatsächlichen politischen Agenda der Revolution ein distanziertes. Obwohl einige ihrer Mitglieder zeitweise politische Ambitionen zum Ausdruck brachten und teilweise wichtige Positionen in der Verwaltung des postrevolutionären Staates bekleiden sollten, scheinen ihre Interessen doch von den alltäglichen Belangen der Politik und der Bürokratie weit entfernt gewesen zu sein und eher in den Bereich der Theorie und der Reflexion, kurz: der Kultur zu gehören (vgl. Quintanilla 2008). Zwar ging es auch den Athenisten um gesellschaftliche und politische Veränderungen. Diese konnten ihrer Meinung nach aber nur gelingen, wenn sie mit entsprechenden kulturellen Veränderungen Hand in Hand gingen. Abelardo Villegas schrieb, die sozialen Anstrengungen der Athenisten »bestimmte ein eigenartiger Fokus: der der Moral und der Kultur, mehr noch, der der Kultur als Instrument der Moral« (Villegas 1992: 36). Die Athenisten wollten also eine neue Kultur und diese sollte sich zunächst vom Positivismus absetzen. Die Koordinaten, die dieses Programm für den kulturellen Neuanfang steuerten, fanden sie vor allem in einem expliziten Humanismus sowie in einem Weltbewusstsein, das sich zu gleichen Teilen in einem multikulturellen »Kosmopolitismus« sowie in der Überzeugung wiederfand, dass menschliches Handeln und Denken mit Welt einen unauflöslichen Zusammenhang bilden. Ich möchte hier einige Ideen der Mitglieder des Ateneo vorstellen, die sich auch im Denken Octavio Pazʼ nachweisen lassen. Antonio Caso (1883-1946) war Philosoph – in einem Land, in dem es zu seiner Zeit die Philosophie noch nicht gab, wie Susana Quintanilla kürzlich in Erinnerung gerufen hat (Quintanilla 2008) – und gleichzeitig einer der ersten Soziologen Mexikos. Gleich zweimal bekleidete er das Amt des Rektors der größten Universität Mexikos (1920 und 1921-1923), der Universidad Nacional Autónoma de México, und die Gesamtausgabe seines Werkes füllt stolze elf Bände. Ganz gleich aber,

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ob wir in Caso den Philosophen, den Soziologen oder den Beamten sehen wollen, er ist in all diesen Funktionen immer auch ein Humanist gewesen. An einigen Stellen seines Werkes finden wir direkte Hinweise. So zum Beispiel in einem programmatischen Text mit dem Titel El nuevo humanismo (Der neue Humanismus). Caso sieht eine Aufgabe des Humanismus darin, sich vom »Intellektualismus« zu distanzieren, der seiner Meinung nach in der Philosophie Descartesʼ seinen Ausgang nahm und in der »philosophischen Tradition der Neuzeit« im Positivismus kulminierte (Caso 1973: 66). Was Caso an dieser Tradition störte, war, dass sie sich als unfähig erwies, den Menschen in seiner Gesamtheit zu verstehen. Der Trennung von Geist und Körper oder Subjekt und Objekt, die für die Philosophie Descartesʼ ganz zentral gewesen ist, gehe immer wieder auf eine Vorstellung von der Trennung zwischen Mensch und Welt zurück. Caso glaubte jedoch, dass der Mensch sich nicht getrennt von der Welt verstehen lässt. Außerdem warf Caso den Philosophien, die zu dieser Tradition gehörten, vor, die Wahrheit außerhalb des Menschen zu vermuten. Ein extremes Beispiel dafür war für ihn der Positivismus. Gegen dessen Exzesse behauptete Caso, dass sich Wahrheit unabhängig vom Menschen überhaupt nicht erfassen ließe. Sie offenbare sich vielmehr immer schon durch den Menschen und für ihn. In diesem Sinne sei »die grundsätzlichste Wahrheit aller Philosophie eine anthropologische Wahrheit« (66). Dies bedeute aber auch, dass »jedes philosophische System streng genommen [ein] Humanismus« sein müsse (67). Caso setzte sich also für eine Philosophie ein, in welcher der Mensch wieder ganz entschieden in den Mittelpunkt gestellt werden sollte, ohne ihn aber losgelöst von der Welt zu begreifen. Ausschlaggebend für den Glauben Casos an die unauflösliche Verbindung von Mensch und Welt ist die Einsicht, dass der Mensch immer ein in der Welt Handelnder ist. Den Menschen und die Welt voneinander getrennt zu denken, offenbare sich unter dem Primat einer solchen handlungszentrierten Anthropologie, wie Caso sie in der Philosophie des US-amerikanischen Pragmatismus fand (vgl. auch Joas 1999), als widersinnig. Caso verstand seinen Humanismus als eine doppelte Entdeckung: eine »Entdeckung des Menschen und der Welt« (68). In einem anderen Aufsatz mit dem Titel Nuestra misión humana (Unsere menschliche Aufgabe) (Caso 1976) finden sich zwei komple-

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mentäre Sätze, die den Zusammenhang Mensch/Welt nicht nur aussprechen, sondern aus ihm moralische Konsequenzen ableiten. Der erste Satz lautet: »Die Welt ist noch nicht fertig« (55), der zweite: »Der Mensch ist noch nicht fertig« (60). Welt und Mensch sind also noch unvollendet, oder: sie befinden sich noch auf dem Weg der Vollendung. Gerade die Überzeugung davon, dass der Mensch seiner eigenen Vervollkommnung entgegenstrebt und entgegenstreben sollte, gehört zu den Grundideen des Humanismus (vgl. auch Fromm 1981). Bemerkenswert ist an Casos Humanismus aber, dass er das Streben nach der Vervollkommnung des Menschen an die Vervollkommnung der Welt koppelt. Orientierung für diese beiden verzahnten Prozesse liefert die Moral. Moral wäre in einer perfekten Welt mit einem ebenfalls perfekten Menschen überflüssig. Da wir aber in einer noch unfertigen Welt leben und noch unvollendet unserer Menschlichkeit entgegenstreben, bedürfen wir der Moral, die uns auf Kurs hält. Die Frage, die an jede Moralphilosophie gerichtet wird, lautet: Woran wollen sich ihre normativen Ansprüche orientieren? In einem kleinen Aufsatz, den Caso am 22. Oktober 1943 in der Tageszeitung El Universal veröffentlichte, gibt er eine klare Antwort. Indem er sich auf Herder beruft, gesteht Caso ein, dass sich seine humanistische Moralphilosophie an einem historischen Beispiel schult: an Jesus Christus. Wenn er über Herder schreibt: »Sein Humanismus verwandelt sich in Christentum!« (vgl. Caso 1985a: 243), kann man ohne den geringsten Schatten eines Zweifels davon ausgehen, dass der mexikanische Philosoph hier seinem deutschen Vorbild nacheifern möchte. Religion und Humanismus verbinden sich seiner Vorstellung nach auf eine ganz eigene Weise: Weder wird der Humanismus durch das Dogma der Kirche gebrochen, noch postuliert jener eine radikal antireligöse Einstellung. Vielmehr wird das Leben Christi zum historischen Exempel, nach dem sich alle Menschen richten können, wenn ihnen daran gelegen ist, die in ihnen angelegte Menschlichkeit zu verwirklichen. Die Biografie Christi zum Leitbild des Humanismus zu nehmen, habe gegenüber der universalistischen Geschichtsphilosophie den Vorteil, dass sie das »Universelle im Singulären« (vgl. Caso 1985b: 248) darzustellen vermag. Trotz Casos Wahl, dem Beispiel Christi nachzueifern, war ihm klar, dass auch andere Menschen Vorbilder auf dem Weg zur Vervollkommnung des Menschen sein können. Außerdem ist es wichtig, in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass der Weg

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mit dem Ziel zusammenfällt. Caso glaubte nicht, dass der Humanismus so etwas wie ein klar definierbares universelles Telos vorgeben könne oder solle. Vielmehr ginge es darum, den Weg des Humanismus nicht zu verlassen. Wie Antonio Caso gehörte auch der Schriftsteller und Essayist Alfonso Reyes (1889-1959) zur Generation der Kulturerneuerer Mexikos, deren Antipositivismus und Antiintellektualismus sich in einem Humanismus sui generis verdichteten. Auch Reyes erkannte die Notwendigkeit, den Humanismus mit der Einsicht des menschlichen Handelns zu verbinden. So betonte er, dass die Idee des »Humanismus« nicht zu bestimmten Inhalten gerinnen dürfe. »Eher noch als ein bestimmter Inhalt versteht er sich als eine Orientierung. Die Orientierung besteht darin, all unser Wissen und all unser Handeln in den Dienst dessen zu stellen, was gut für den Menschen ist« (Reyes 2000: 403).

Humanismus ist nicht nur eine theoretische, geistige Einstellung, er ist vor allem Handeln. Humanismus ist also immer vor allem praktisch. Zu der Einsicht der praktischen Qualität des Humanismus gehört auch für Reyes die Einsicht, dass der Mensch nicht unabhängig von der Welt gedacht werden darf. »Der Mensch ist nicht allein, frei schwebend im Nichts, sondern er ist in die Welt eingelassen« (406). Reyes verschweigt nicht die Vieldeutigkeit des Begriffs »Welt«. Gerade darin aber liege auch seine Tugend, denn in all den verschiedenen Welten, die in ihm angesprochen werden, manifestieren sich die unzähligen Facetten der Menschlichkeit. Das Verständnis des Menschen ist also an die unterschiedlichen Weltbegriffe gebunden. Würde es nur eine Welt bzw. einen Weltbegriff geben, wäre auch der Spielraum für die Definition des Menschen entsprechend eingeschränkt. »Welt« ist, so schreibt Reyes, für den Menschen »eine zweite Person« (414). Die Welt ist alles das, was der Mensch nicht ist. Das bedeutet aber auch: der Mensch ist all das, was die Welt nicht mehr ist. Welt und Mensch stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander und bedingen sich gegenseitig. »Welt« ist aber noch in einem anderen Sinne wichtig für Reyesʼ Humanismus. Wie viele andere Intellektuelle Lateinamerikas war auch Reyes ein Weltbürger. Reisen und das Studium fremder Kulturen waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich in der Welt auszukennen, steht mit dem kulturellen

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Selbstverständnis der Mestizen in engem Zusammenhang. Dieses wird durch die Idee geprägt, Mexiko sei eine Art Schmelztiegel zweier Kulturen: der jeweils »autochthonen«, prähispanischen Kultur einerseits und der europäischen andererseits. Wenn sich also in der Neuen Welt die Kulturen Europas und Amerikas vermengten, dann entsteht aus dieser kulturellen Mischung (mestizaje) bereits eine neue raumübergreifende, transatlantische Kultur. Das Thema der mestizaje gehört zu den wichtigsten Konstanten des kulturellen Selbstverständnisses lateinamerikanischer Intellektueller. Die Welt erscheint aus dieser Sicht bereits in einem anderen Licht. Sie ist nun nicht mehr der Raum, in den sich jeder in seiner eigenen Parzelle, in seinem eigenen Land, in seiner eigenen Kultur zurückziehen kann. Vielmehr wird sie zu einer übersprudelnden Quelle von Ideen und kulturellem Reichtum, an dessen Produktion potenziell alle Menschen beteiligt sind und die gleichzeitig allen Menschen zur Verfügung stehen soll. Die Aneignung von Elementen »fremder« Kulturen wird dabei zur Tugend, die Erkenntnis des Mangels der jeweils eigene Kultur zu einer Art Grunderfahrung (vgl. Ette 2001: 317ff; Miller 2008: 109ff). Alfonso Reyes zeichnete sich besonders durch seine Kenntnis der Kultur des antiken Griechenlands aus. Nun ließe sich zwar behaupten, dass dieses Interesse nicht unbedingt einem Interesse an »fremden« Kulturen entspricht, sondern eher der Tatsache, dass die europäische Kultur als Hegemonialkultur in Lateinamerika galt und der Hellenozentrismus zur Reproduktion des Eurozentrismus in der Neuen Welt gehört. Die Art und Weise, wie Reyes mit dem Legat der antiken Kultur umging, entkräftet diesen Verdacht aber. Er wollte die Originale nicht nur ehrfürchtig rezipieren, vielmehr benutzte er sie, um durch sie seine eigene mexikanische Realität zu reflektieren.7

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Der aus der Dominikanischen Republik stammende Essayist und Literaturkritiker Pedro Henríquez Ureña (1884-1946) hatte einige Gründe dafür zusammengetragen, sich in Mexiko mit den Klassikern des europäischen Denkens zu beschäftigen. Zum einen ist für ihn das Studium der Klassiker ein wichtiges Gegengewicht zum bereits erwähnten Positivismus. In einer Rede mit dem Titel La cultura de las humanidades (Die Kultur der Geisteswissenschaften) von 1914 betont Henríquez Ureña aber zusätzlich, dass die Lehre der Antike vor allem darin bestünde, vor der »Enge« des eigenen Denkens zu warnen (Henríquez Ureña 2001: 598). Das bedeutete für die Gegenwart Lateinamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch, dass

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Ein Beispiel für eine solche kreative Aneignung stellt sein Drama Ifigenia cruel (Grausame Iphigenie) dar. In ihr greift Reyes nicht nur auf das griechische Material zurück, sondern auch auf Goethes Aneignung desselben, von welcher der deutsche Dichter bereits glaubte, etwas »ganz verteufelt [H]uman[es]« geschaffen zu haben. In Analogie zu Goethe benutzt Reyes die antike Vorgabe, um über seine eigene historische Erfahrung zu reflektieren. Wie der Romanist Ottmar Ette festgestellt hat (vgl. Ette 2001: 317ff), ist das Ergebnis eine kulturelle Schöpfungsleistung, die bewusst an universale Themen anknüpft und diese fortzusetzen versucht, indem sie sie durch aktuelle Themen revitalisiert. Was einst in der Alten Welt begann, wird nun in der Neuen weitergeführt. Ette schreibt: »Denn auch die mexikanische Geschichte mündet schließlich in eine geschichtliche Progression, in eine FortBewegung, die Alfonso Reyes zufolge mit der Humanisierung des Menschen im östlichen Mittelmeerraum begonnen hatte« (342). In dieser Fortsetzung der Weltkultur sahen Reyes und andere lateinamerikanische Humanisten ihre Mission. Nicola Miller sieht vor allem in Reyes das Bewusstsein für die Möglichkeit, dass die lateinamerikanische als »Kultur der Synthese« verstanden werden könne (vgl. Miller 2008: 125ff). Das bedeutete schon für Reyes vor allem, dass jede Form des kulturellen Essenzialismus grundsätzlich falsch, ja »absurd« sei, »in the current situation of expanding communications networks and geographical levelling« (zit. in. ebd. 125). Besonders interessant für unseren Zusammenhang ist auch Reyesʼ Kritik an dem, was ich in diesem Buch »zeitliche Logik« genannt habe. Ganz im Sinne aktueller postkolonialer Argumente kritisierte Reyes Hegels »geografischen Fatalismus« (Miller), wonach Gesell-

das Studium der antiken Kulturen Griechlands und Roms konsequenterweise durch das Studium »spanischer, französischer, italienischer, englischer und deutscher Literaturen« sowie durch die Vergegenwärtigung der »arischen, semitischen, indischen und chinesischen« Weisheiten ergänzt werden müsse (598-599). Die Aufgabe bestünde darin, »ohne Unterlass zu urteilen, zu vergleichen, zu suchen und zu experimentieren« (599), um so der »Perfektion des Menschen« näher zu kommen. Die »Perfektion« sah Henríquez Ureña in der Einheit des Menschen. Diese ließe sich nur in einer wahrhaften Weltkultur erreichen, welche die Besonderheiten und Differenzen nicht aufhebt, sondern durch sie hindurch das Universale in Augenschein nimmt.

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schaften und Kulturen Amerikas im Vergleich zu denen Europas auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe im Prozess der Zivilisierung der Menschheit vermutet wurden. Ebenfalls dem aktuellen Postkolonialismus vorausgreifend war Reyes davon überzeugt, dass die Moderne mit der Eroberung und Kolonialisierung Amerikas begann (vgl. ebd. 118-119). Von diesen beiden Grundüberzeugungen aus betrachtet, erschienen schon Reyes die meisten europäischen Geschichtsphilosophien durchweg imperialistisch, weil sie vor allem Argumente lieferten, um den kontingenten Ausgang der Geschichte, der zur europäischen Weltherrschaft führte, zu rechtfertigen (vgl. ebd. 120). Diese Überlegungen haben Reyes nicht dazu verleitet, den Begriff des Fortschritts ad acta zu legen. Wohl war er aber davon überzeugt, Geschichte als einen durch und durch kontingenten Prozess zu begreifen, der keineswegs eine Garantie des Fortschritts beinhaltet. Miller resümiert diese Ideen Reyes folgendermaßen: »History was not entirely arbitrary, then, in his view, but it was capricious« (ebd. 121). Vor allem aber führten ihn diese Überlegungen noch in einem anderen Sinne in die Nähe aktueller postkolonialer Argumente: Reyes glaubte, dass schon das Denken seiner Zeit den fatalen Fehler machte, vor allem noch in zeitlichen Kategorien zu denken. Dagegen setzte er ganz entschieden auf die Notwendigkeit, Raum und Zeit wieder zusammendenken zu müssen. Besonders in Lateinamerika gebe es eine Anzahl von Orten – Mexiko-Stadt war schon für Reyes einer davon – die sich nur verstehen ließen, wenn man erkenne, dass sich an ihnen Identitäten bilden, die eine ganz eigene Simultaneität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft provozierten (vgl. ebd. 124-125). Der Philosoph Samuel Ramos (1897-1959) schrieb 1940: »In keiner anderen Epoche als in unserer ist es angebrachter, die Einheit des Menschen zu betonen, weil diese heute, mehr denn je, verloren scheint« (Ramos 1990: 73).

Dieser Satz steht in einem Buch mit dem anspruchsvollen Titel Hacia un nuevo humanismo (Zu einem neuen Humanismus), in dem Ramos seine Leser davon überzeugen möchte, dass der zunehmenden Fragmentierung der Menschheit eben nur mit einem »neuen Humanismus« begegnet werden könne, in dem die »zentrale Stellung des Menschen« wieder zurückerobert werde (72).

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Ramos sieht aber auch ein, dass es sich dabei um keine einfache Aufgabe handelt. Seiner Meinung nach lebten wir in einer betrügerischen »Zivilisation«, die vorgibt, gut für den Menschen zu sein, die sich aber schon längst in »ein Monster verwandelt hat, das seine Ketten abschütteln konnte und seinen Herrn und Schöpfer nun bedroht. […] Die Menschheit«, beendet Ramos seine Kritik, »befindet sich in einer paradoxen Situation, weil sie sich gegen ihre eigene Zivilisation verteidigen muss« (69). Schon dieser kurze Ausschnitt aus seinem Werk lässt erkennen, dass Ramos stark von der europäischen Kulturkritik beeinflusst wurde. Nietzsche, vor allem aber Simmel werden hier und anderswo als Quellen genannt. Bemerkenswert ist aber, dass Ramos nicht in die Fallgrube des Nihilismus hineintaumelt. Grund dafür ist einerseits sein fester Glaube an den Menschen, sein Humanismus. Um diese Eigenart verstehen zu können, ist es aber auch notwendig, noch einmal den historischen und geografischen Hintergrund zu berücksichtigen: Obwohl Ramos sein Manifest für einen neuen Humanismus im Jahre 1940 veröffentlichte, das heißt: zu einer Zeit, in der in Europa ein neuer Weltkrieg begann, schrieb er in Mexiko, einem Land, das sich zu jener Zeit als eine Art Rettungsinsel, aber auch als kreatives Labor für die Weltkultur, die einst in Europa begonnen hatte, verstand. So glaubte auch Ramos, dass Europa seine Autorität in Sachen Humanismus verloren habe und dass die Stafette nun in der »Neuen Welt« aufgenommen werde. Diesen Beispielen ließen sich noch viele andere hinzufügen. Der mexikanische Philosoph Alberto Saladino García hat vor ein paar Jahren eine mächtige zweibändige Anthologie veröffentlicht, in welcher der Humanismus fast aller wichtigen Denker seines Landes des 20. Jahrhunderts rekonstruiert wird (vgl. Saladino García 2004; 2005). Mir ging es mit diesem Verweis auf den mexikanischen Humanismus vor allem darum zu zeigen, dass er fest in der Ideengeschichte dieses Landes verankert ist, ja dass Mexikos Start ins 20. Jahrhundert, der mit der ersten großen Revolution des Jahrhunderts begann, von der Entscheidung für eine kulturelle Neuschöpfung auf der Grundlage des Humanismus getragen wurde. Dieser humanistische Neustart klingt vor allem im Werk Octavio Paz nach, in dem sich außerdem die Linien einer interessanten Soziologie der Moderne abzeichnen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden soll.

9. Octavio Paz: Kritik der Soziologie oder kritische Soziologie?

9.1 ANNÄHERUNGSVERSUCHE AN S OZIOLOGIE O CTAVIO P AZ ʼ

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Es ist kaum zu übersehen, dass sich die meisten Arbeiten, die über das Werk von Octavio Paz bisher geschrieben wurden, auf Poesie und Ästhetik beziehen. Dies, obwohl der weitaus größere Teil des Pazʼschen Werkes Essays und Abhandlungen enthält, die sich mit ganz unterschiedlichen Themen befassen, von denen viele für eine kulturwissenschaftliche Lektüre interessant sind.1 Eine mögliche Erklärung mag sein, dass vor allem die politischen Aufsätze, in denen Paz häufig eine polemische Position im Vergleich zu den konventionellen Stellungnahmen linker wie konservativer Intellektueller und Politiker einnahm, sein Denken allgemein diskreditierten (vgl. Rodríguez 1996: 14ff). Ein anderer Grund liegt vielleicht darin, dass Paz sich selbst immer wieder vor allem als Dichter verstanden wissen wollte. Ich werde allerdings noch zu zeigen versuchen, dass seine Entscheidung für die Poetik nicht rein ästhetischen Ansprüchen gehorchen wollte, sondern dass damit eine besondere Art der Welterschließung gemeint ist, die mit der Soziologie keineswegs inkompatibel ist (vgl. Kapitel 10.2). Wie dem auch sei, in den letzten Jahren scheint diese merkwürdige Enthaltung hier und dort überwunden. Auch den Essays und damit der sozialen, politi-

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Von den 15 Bänden der monumentalen Werksausgabe des mexikanischen Verlags Fondo de Cultura Económica, deren Beginn der 1998 verstorbene Paz noch selbst mitbetreut hat, füllen die Gedichte interessanterweise lediglich zwei Bände.

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schen und im weitesten Sinne kulturellen Diagnose der Moderne, die Paz in ihnen entwickelt, wird endlich jene Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdienen. Dabei lässt sich auch beobachten, dass das Werk Pazʼ plötzlich nicht mehr nur für Literaturwissenschaftler von Interesse ist. Vielmehr wird es nun gerade aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen gelesen: der Philosophie (Astorga 2004) und besonders der politischen Philosophie (Arriola 2008), den Politikwissenschaften (Grenier 2001; Söllner 2009), der Kulturanthropologie (Weinberg 2009), aber auch der Soziologie (Rodríguez 1996; Capetillo 2005; 2009; Kozlarek 2009b). Die Pionierleistung in dieser jüngsten Aufbereitung der pazschen Essays aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen der Sozialund Kulturwissenschaften ist bemerkenswert, denn sie erschließt ein intellektuelles Terrain, das nicht nur in Europa und den USA bislang weitestgehend unbekannt geblieben war, wenn man von einigen frühen, aber folgenlosen Ansätzen absieht.2 Was mich an dieser Stelle aber vor allem interessiert, ist die Aneignung der pazschen Essays durch die Soziologie. Dabei lassen sich bisher im Wesentlichen drei Ansätze unterscheiden, die ich kurz beschreiben möchte. 1. Der bereits erwähnte Xavier Rodríguez Ledesma hat in seiner 1996 veröffentlichten Magisterarbeit, trotz des Titels El pensamiento político de Octavio Paz (Das politische Denken Octavio Pazʼ) (vgl. Rodríguez 1996), auf mehr als 500 Seiten bis heute einen der umfangreichsten Versuche unternommen, das Werk des mexikanischen Dichters im Licht der Soziologie zu lesen. In seiner Arbeit bekundet Rodriguez noch deutlich die Sorge, erklären zu müssen, warum er 1996 an der Facultad de Ciencias Políticas y Sociales der Nationalen Universität Mexikos (UNAM) einen Magister-Titel (maestría) in Soziologie mit einer Arbeit über Octavio Paz zu verdienen glaubte. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Begründungsstrategien unterscheiden. Eine weist Ähnlichkeiten zu Cosers Bestimmung der Beziehung zwischen Literatur und Soziologie auf, die ich weiter oben beschrieben habe (vgl. Kapitel 6.6; 6.7). Auch Rodriguez meint, dass eine Rechtfertigung, sich als Soziologe mit dem Werk eines Literaten zu beschäfti-

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Eine der bekanntesten dürfte vielleicht Habermasʼ Feststellung gewesen sein, nach der Octavio Paz ein »Parteigänger der Moderne« sei (vgl. Kapitel 8.1).

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gen, darin bestehen könnte, dass es Aufschluss über Themen gebe, die eben auch für die Soziologie von Interesse sind. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die drei Hauptkapitel des werkanalytischen Teils in Rodriguezʼ Schrift als thematisch an drei soziologischen Themen ausgerichtet. Das erste beschäftigt sich mit Pazʼ Verhältnis zum Marxismus und zum Sozialismus, das zweite, das ebenfalls in den Bereich der politischen Soziologie gehören dürfte, mit der Kritik, die Paz dem politischen System Mexikos gegenüber artikulierte, und das dritte schließlich mit dem Begriff der Moderne. Es fällt Rodriguez nicht immer leicht, seine Leser davon zu überzeugen, warum seine Arbeit nun ausgerechnet eine soziologische sein soll. Politikwissenschaftliche Fragen und Themen drängen sich immer wieder in den Vordergrund. Daran ändert auch die zweite von Rodriguez verfolgte Strategie nicht viel. Sie wird in den ersten Kapiteln dargelegt. Dort will Rodriguez deutlich machen, dass sein soziologisches Interesse an Paz in erster Linie durch dessen soziale Funktion als Intellektueller gerechtfertigt sei. Einerseits bietet der soziologische Blick auf Intellektuelle die Möglichkeit der Erforschung des »kulturellen Lebens« (vida cultural) einer Gesellschaft (vgl. 9), andererseits betont Rodriguez aber auch die institutionelle Verzahnung von Intellektuellen und »politischer Macht«, die gerade für das Verständnis der mexikanischen Gesellschaft wichtig sei. »In unserem Land irgendein Thema der Welt der Intellektuellen zu berühren, bedeutet notwendigerweise, die Beziehungen, die sich zwischen der Welt der Intellektuellen und der Macht herausgebildet haben, gegenwärtig zu machen« (ebd. 10).

Auch hier scheint Rodriguez wieder politikwissenschaftlich zu werden. Fällt die Beziehung zwischen Intellektuellen und der »Macht« nicht eher in dieses Fach? Alternativ dazu zeigen andere Arbeiten, die einer ähnlichen Aufgabenstellung gefolgt sind, wie sich der sozial-praktische Aspekt von Intellektuellen – wir könnten auch sagen: ihre spezifische Art des sozialen Handelns – thematisieren ließe und wie so die Reflexion über Intellektuelle zum soziologischen Thema werden könnte. Alex Demirovićʼ Versuch, die »Praxis von Intellektuellen« am Beispiel der Mitglieder der Frankfurter Schule zu beschreiben, stellt hierfür ein gutes

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Beispiel dar (Demirović 1999). Obwohl auch Demirović ein soziologisches Argument entwickeln möchte, betont er die Schwierigkeit, zwischen beiden Fächern, der Soziologie einerseits und der Politikwissenschaft andererseits, zu unterscheiden (vgl. ebd. 18). Dies gelingt ihm aber vor allem, indem er den Ort des Handelns des Intellektuellen genauer festlegt. Er schreibt dazu: »Mit Recht hat Habermas darauf hingewiesen, daß die Sphäre des Intellektuellen, die Öffentlichkeit, nicht unmittelbar mit dem Staat zusammenfällt, sondern diesen ergänzt« (ebd. 18-19).

Der Ort des Handelns des Intellektuellen ist für Demirović genau diese Öffentlichkeit oder »Zivilgesellschaft«, wie er sie unter Anspielung auf Gramsci auch nennt. Die Fixierung auf das Handeln von Intellektuellen in der Öffentlichkeit erlaubt es also, das Soziale vom Politischen und somit auch den Bereich der Soziologie von dem der Politikwissenschaften, bzw. der politischen Theorie zu trennen. Hätte auch Rodriguezʼ Buch an soziologischer Schärfe gewonnen, wenn er sich auf das soziale Handeln von Intellektuellen in der Öffentlichkeit konzentriert hätte, statt die Verbindungen zwischen Intellektuellen und der politischen Macht in den Vordergrund zu stellen? Zwar diskutiert Rodriguez dieses Thema nicht ausdrücklich, aber er gibt doch einige Hinweise, die die Vermutung nahelegen, dass die Realität der Öffentlichkeit in Mexiko eine andere sein muss als sie es in Deutschland ist. So zum Beispiel, wenn er betont, dass Paz trotz aller Einflüsse, die er auf die »öffentliche Meinung« gehabt haben mag, nie auch nur annähernd an den Einfluss herangekommen sei, den vor allem die mächtigen Fernsehanstalten in Mexiko haben (vgl. ebd. 35). So ließe sich also die unscharfe Trennung zwischen Soziologie und Politikwissenschaften als ein Problem verstehen, das mit der Schwierigkeit in Mexiko zu tun haben könnte, Politik von einer klar definierbaren Sphäre des Sozialen zu unterscheiden. Diese Vermutung ist, ich habe darauf bereits hingewiesen, auch von Fernando Castañeda als Grund dafür angegeben worden, dass sich die »akademische Soziologie« in Mexiko ganz selbstverständlich als politischen Raum verstanden habe und so das Fehlen einer tatsächlichen politischen Öffentlichkeit kompensiere (vgl. Castañeda 2004; in diesem Buch Kapitel 8.2).

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Dadurch wird der soziologische Anspruch, den Rodriguez an seine Arbeit über Octavio Paz stellt, aber nicht geschmälert. Das Werk des Dichters erlaubt grundsätzlich, so können wir zusammenfassend sagen, einen soziologischen Zugang. Wir können Rodriguez recht geben, wenn er schreibt: »Wir Soziologen haben über alles, was Octavio Paz denkt und schreibt, etwas zu sagen, obwohl er kein Soziologe, Politologe oder Philosoph ist« (ebd. 60). In seinem Werk lassen sich durchaus Themen identifizieren, die auch oder vor allem aus einer soziologischen Sicht interessant sind, und wir können Octavio Paz in seiner Rolle als Intellektueller verstehen und soziologisch beschreiben, wie er diese Rolle spielt. Damit sind die Möglichkeiten einer soziologischen Beschäftigung mit dem Werk Pazʼ aber nicht erschöpft. Das Wirken des Intellektuellen in der Öffentlichkeit ließe sich im Falle Pazʼ auch noch anders untersuchen: nämlich anhand der Instrumente, die er entwickelte und deren er sich dabei bediente, um öffentlich wirksam zu werden. In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, dass Paz Herausgeber zweier wichtiger Zeitschriften gewesen ist: Plural (1971 bis 1976) und Vuelta (1976 bis 1998). Im Vorwort der ersten Nummer der Zeitschrift Vuelta macht Paz nicht nur deutlich, dass es sich in erster Linie um eine literarische Zeitschrift handeln soll, sondern auch, dass der literarische Anspruch von dem der Kritik untrennbar sei und dass sich Letztere nicht nur auf Literatur beschränke, sondern sich immer auch als politische verstehen lassen müsse. Paz fasst dieses kompensatorische Zusammenspiel von Literatur und Politik folgendermaßen zusammen: »Sicher, die Literatur rettet die Welt nicht; sie macht sie aber wenigstens sichtbar: Sie repräsentiert sie oder besser noch, sie präsentiert sie. Manchmal verändert sie sie, ein anderes Mal transzendiert sie sie. Die Darstellung der Wirklichkeit impliziert fast immer ihre Kritik« (Paz 1976: 5).

Die akademische Aufarbeitung dieser Zeitschriften, die Paz herausgab, deren Einflüsse auf Öffentlichkeit und Politik sowie die kulturellen und politischen Polemiken und Debatten, die diese Schriften zum Teil provozierten und in die sie eingreifen wollten, stellt ein noch sehr junges Forschungsfeld dar. 2. Vor einigen Jahren hat der kanadische Politikwissenschaftler Yvon Grenier eine »kultursoziologische« Analyse der politischen Essays Pazʼ vorgelegt, an die in diesem Zusammenhang ebenfalls erin-

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nert werden muss (Grenier 2001). Greniers Ansatz lässt sich als handlungstheoretischer verstehen und ist von der Idee geprägt, dass soziale Akteure immer durch das Medium der Kultur hindurch handeln, durch das sie zwar beeinflusst werden, ohne dass ihre Handlungsmöglichkeiten dadurch aber absolut vorherbestimmt würden. Grund dafür sei die dem menschlichen Handeln inhärente Kreativität. Wir werden noch sehen, dass diese Idee durchaus konsistent ist mit den Überlegungen, die sich Paz zu diesem Thema gemacht hat. Das heißt auch: Paz hat nicht nur kreativ gehandelt, sondern er ist sich dessen auch bewusst gewesen. Auch Grenier betont, dass gerade Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler von der Ressource der Kreativität bewusst Gebrauch machen. Er schreibt: »[…] it is tempting to postulate that the indeterminacy of human beings – their capacity to change their environment and change themselves – is particularly pronounced in their most creative activities: arts and science« (ebd. 4).

Unter Bezugnahme auf die Kulturtheorie Margaret Archers zeigt Grenier dann, dass sein eigenes Verständnis von Handeln durch Kultur eindeutig antifunktionalistisch orientiert ist. Damit will er aber nicht nur sein handlungstheoretisches Argument stark machen, sondern auch ein politisches, denn in der funktionalistischen Vorstellung von der Beziehung zwischen Kultur und Handeln sieht er vor allem auch eine Konsequenz der politischen Notwendigkeiten des Nationalstaates: »The very concept of ›culture‹ emerged to designate a largely topdown construction of a public space by the nation-state elite« (Grenier 2001: 7). Der Hinweis auf die Kreativität des menschlichen Handelns in und durch Kultur fordere diese »nationale« Reproduktionskultur heraus, weil dadurch immer schon deutlich werde, dass Kulturen sich nicht einfach reproduzieren lassen. Aber auch in diesem politischen Zusammenhang versteht Grenier die Kreativität des Handelns von Künstlern und Intellektuellen wieder als besonders ausgeprägt. Sie bedingt, dass jede Art von Dogmatik, sei es die des politischen status quo oder die bestimmter oppositioneller Kulturen, untergraben wird. Es ist also zu erwarten, dass die Positionen von Künstlern und Intellektuellen immer im höchsten Maße »nonkonformistisch« oder »kritisch« sind. Indem Grenier nun Paz dieses grundsätzliche Verständnis des nonkonformistischen Handelns unterstellt, versucht er auch zu erklären,

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warum sich der mexikanische Intellektuelle sowohl bei der offiziellen Politik als auch bei der linken Opposition immer wieder unbeliebt gemacht hat. Grundsätzlich glaubt er, dass auch die politischen Stellungnahmen Pazʼ »incredibly slippery« (ebd. xi) seien und sich deshalb nicht in einfache dualistische Schemata einordnen ließen. Bedeutet das aber, dass Paz ein Opportunist und ein normativ orientierungsloser Relativist war? Solchen Verdachtsmomenten kommt Grenier zuvor. Seiner Meinung nach sei die komplexe, oft ambivalente Haltung Pazʼ nicht nur Resultat seiner Kreativität, sondern ebenfalls der Tatsache, dass die grundsätzlichen kulturellen Koordinaten, denen der mexikanische Schriftsteller in seinem Leben gefolgt sei, in einem ambivalenten Verhältnis zueinander stehen. Es handele sich dabei um die Aufklärung einerseits und die Romantik andererseits. »[…] Paz draws inspiration from both the ideas of the Enlightenment (especially its liberal incarnation) and from those of the romatic age, two rival intellectual movements. This inspires interesting speculations on the flexibility and adaptability of liberal (and romantic) thought« (ebd. X).

Was aber der handlungs- und kultursoziologische Ansatz, dem Grenier folgt, vor allem in den Blick rückt, ist letztendlich ein anthropologischhumanistischer Horizont, an dem sich sowohl Greniers Kulturbegriff als auch das Denken Pazʼ schulen. Allen Vorurteilen zum Trotz soll gerade diese anthropologisch-humanistische Orientierung den nichtdeterministischen Charakter menschlichen Handelns in den Vordergrund stellen. Danach gilt dann sowohl für Greniers kultursoziologisches Verständnis als auch für Pazʼ Werk allgemein, was Axel Honneth und Hans Joas bei ihrem Versuch einer Neudefinition der anthropologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften folgendermaßen ausgedrückt haben: »Anthropologie darf […] nicht mißverstanden werden als die Lehre von sich durch die Geschichte hindurch erhaltenden Konstanten der menschlichen Kulturen oder von einer unveräußerlichen Substanz der menschlichen Natur, wohl aber im Sinne der Frage nach den unveräußerlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit« (Honneth/Joas 1980: 13).

Greniers Vorschlag einer kultur- und handlungssoziologischen Erschließung der pazschen Essayistik ist also nicht nur ein methodologi-

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sches Instrument, welches das pazsche Werk gleichsam von außen öffnen soll. Vielmehr handelt es sich um ein Vehikel, das dem Interpreten erlaubt, in das Innerste des pazschen Werk vorzudringen. Aber auch dort herrscht die zweifellose Einsicht in die Kreativität und die unerschöpfliche Freiheit menschlichen Handelns, die sich zu einer anthropologisch-humanistischen Einsicht verdichtet: »Such an approach«, schreibt Grenier über seinen eigenen, »ultimately rests on a philosophical conception of the human experience that is also central in Pazʼs thought: human beings are condemned to be free« (Grenier 2001: 11). 3. Greniers Vorschlag geht über eine soziologische Analyse des pazschen Werks hinaus. Er identifiziert sozialtheoretische Aspekte – vor allem die der Kreativität menschlichen Handelns in und durch Kultur –, die Octavio Paz nicht nur passiv, sondern auch explizit in seinem Werk zu bestätigen scheint. Diese Wesensgleichheit zwischen Soziologie und literarischem Werk erinnert an Baumans Ideen, die wir weiter oben kennengelernt haben (vgl. Kapitel 6.6). Ihr muss aber die Frage folgen, ob wir so weit gehen können, Pazʼ Werk so etwas wie eine eigene Soziologie zu unterstellen. Auch auf diese Frage gibt es bereits ein paar Antwortversuche. Für viele besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass Pazʼ Werk kulturanthropologischen, psychologischen und eben auch soziologischen Inspirationen folgt. Dies bedeutet allerdings noch nicht, dass sich in seinen Schriften tatsächlich eine ausbuchstabierte Anthropologie, eine Sozialpsychologie oder eine Soziologie entfalten. Einige Autoren – zu denen ich mich hinzuzählen möchte – bestehen aber genau darauf. Ihrer Meinung nach gibt es in Pazʼ Werk eine Soziologie. Einer der Ersten, die diese Einsicht explizit gemacht haben, ist der kubanische Literaturwissenschaftler und Hispanist Enrico Mario Santí. In seinem Buch El Acto de las palabras (Die Tätigkeit der Worte) finden wir im Kapitel IV unter dem Titel »Introducción al ›Laberinto de la Soledad‹« eine der bis heute noch besten Einführungen in Pazʼ Das Labyrinth der Einsamkeit (vgl. Santí 1997a: 123-231). Besonders interessant ist Santís »Einleitung«, weil sie nicht nur die unterschiedlichen Themen, die dieses Buch diskutiert, in einen systematischen Zusammenhang bringt, sondern auch deshalb, weil sie darüber hinaus die vielfältigen methodologischen und theoretischen Ansprüche rekonstruiert, die sich in diesem Buch immer wieder überkreuzen und ergänzen.

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Ein Unterkapitel seiner Einleitung widmet Santí der Soziologie Pazʼ, die er als »Soziologie des Heiligen« (vgl. ebd. 196ff) versteht. Der Titel mag auf den ersten Blick überraschen. Warum soll Pazʼ Soziologie gerade als »Soziologie des Heiligen« verstanden werden, wo doch so viele andere soziologische Themen schon in seinem 1950 veröffentlichten Labyrinth ins Auge springen? Santí geht es aber weniger um das Herausarbeiten soziologischer Themen und Analysen, sondern vor allem darum, zu zeigen, auf welche Einflüsse die Soziologie Pazʼ zurückgeht. Und tatsächlich ist es die auf die Durkheimschule sich beziehende Sakralsoziologie des sogenannten Collège de Sociologie, die für Paz besonders fruchtbar gewesen sein soll. Santí erinnert zu Recht daran, dass es vor allem ein Mitglied des Collège gewesen sei, durch das sich Paz nachhaltig hat inspirieren lassen: der Franzose Roger Caillois (1913-1978). Selbst wenn sich Paz nicht so gut in der französischen Kultur ausgekannt hätte (vgl. Ruy Sánchez 1991: 14), hätte er auf Caillois aufmerksam werden müssen. Das schon deshalb, weil dieser während des Zweiten Weltkriegs in Argentinien exiliert war und dort in der Zeitschrift Sur schrieb, die Paz leidenschaftlich las und für die er ebenfalls schrieb (vgl. ebd. 196; Moebius 2006: 361). Später, von 1945 bis 1951, lebte Paz in Paris, wo er ebenfalls Kontakt zu den Mitgliedern des Collège hatte (vgl. Santí 1997a: 198). Abgesehen von diesen biografischen Überschneidungen lässt sich auf inhaltliche Übereinstimmungen verweisen. Ebenso wie die Mitglieder des Collège de Sociologie artikuliert Paz ein Interesse daran, die »heiligen« Motive sozialen Handelns in modernen Gesellschaften herauszustellen. Hinzu kommt schließlich, dass Octavio Paz seine Bewunderung der Art von Sozialforschung, für die das Werk Cailloisʼ im Besonderen und das des Collège im Allgemeinen gestanden haben, explizit gemacht hat. Santí warnt zwar: »Es wäre natürlich übertrieben, das gesamte analytische Unternehmen des Labyrinths der Einsamkeit (zumindest des ersten Teils) als reine Aktualisierung der Agenda des Collège de Sociologie zu verstehen« (ebd. 196). Aber es wäre naiv zu glauben, dass das Collège de Sociologie keinen Einfluss auf Paz gehabt hätte. Ich werde noch genauer auf die Übereinstimmungen, aber auch auf die Unterschiede eingehen. An dieser Stelle möchte ich nur festhalten, dass wir tatsächlich einen Anspruch soziologischer Forschung zumindest in einigen der pazschen Essays vermuten können, die sich an ei-

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nem existierenden soziologischen Forschungsprogramm orientierte (vgl. Kapitel 9.4). Santí macht außerdem in seinem Kapitel, wenn auch nur in einer Fußnote, darauf aufmerksam, dass vielleicht die gesamte Themenstellung des Labyrinths, die sich in der Idee der Einsamkeit konzentriert, mit anderen soziologischen Unternehmen seiner Zeit koinzidiert. Er erinnert in diesem Zusammenhang an David Riesmans The Lonely Crowd von 1950. Andere Autoren mögen andere soziologische Einflüsse auf Paz betonen – so zum Beispiel Jorge Capetillo-Ponces Versuch, im Labyrinth der Einsamkeit vor allem eine Anwendung von Georg Simmels »Formaler Soziologie« zu sehen (vgl. Capetillo-Ponce 2005; 2009). Die Beweislage für dieses Argument ist unsicherer als Santís Vorschlag, Pazʼ Soziologie vor dem Hintergrund des Collège de Sociologie zu lesen. Aber hier sollte es weniger darum gehen, den einen soziologischen Einfluss auszumachen, der sich in einem ansonsten literarischen Werk zu manifestieren verstand, sondern vielmehr darum, dass Pazʼ Essays, ganz gleich, aus welchen Quellen sie sich speisen mögen, einen genuin soziologischen Impuls, ein genuin soziologisches Interesse und mit Einschränkung genuin soziologische Methoden offenbaren. Paz war kein Soziologe, aber, so meine These, sein Werk enthält eine eigene Soziologie. Bevor ich diese in einigen Punkten zu rekonstruieren versuche, möchte ich der Frage nachgehen, wie meine Aussage zu der Tatsache passt, dass Paz die akademische »Soziologie« immer wieder heftig kritisiert hat. Mein eigener Vorschlag baut auf den bereits zitierten auf, obwohl er zugleich auch über sie hinausgehen will. Wenngleich es nicht falsch ist, dass sich Paz an europäischen Soziologen orientiert zu haben scheint, die heute eher eine periphere Position in der Ahnengalerie dieser Disziplin einnehmen, muss doch genauso deutlich werden, dass Pazʼ Soziologie ohne die Einflüsse, die aus seinen lateinamerikanischen und, genauer noch, mexikanischen Kontexten auf ihn gewirkt haben, kaum zu verstehen ist. Ganz entscheidend ist in diesem Zusammenhang, wie sich Paz vor dem Hintergrund der im vorangehenden Kapitel skizzierten »Traditionen« des »soziologischen Denkens« positioniert. Dabei wird deutlich, dass Paz vielen konventionellen Soziologien kritisch gegenüberstand – allen voran den Modernisierungstheorien, aber auch den für Lateinamerika so wichtigen Dependenztheorien –, während seine Kritik der Moderne eher als kritische Kul-

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tursoziologie zu verstehen ist, die sich nicht nur am Antipositivismus des nachrevolutionären Denkens in Mexiko orientierte, sondern diesen durch eine Erfahrungssoziologie zu ersetzen versuchte, die bisher weder in Mexiko noch andernorts als ein eigenwertiger soziologischer Beitrag wahrgenommen wurde. Eine ganz zentrale Rolle spielen dabei nicht nur theoretische und intellektuelle Kontexte, sondern auch konkrete historische Erfahrungen. Hier muss vor allem die mexikanische Revolution genannt werden.

9.2 D IE

MEXIKANISCHE R EVOLUTION UND DIE E RFAHRUNG EINER POSTKOLONIALEN M ODERNE

Soziologie ist der selbstreflexive Diskurs moderner Gesellschaften. Dieser Prozess der Selbstreflexion steht aber immer schon unter dem Eindruck konkreter historischer Erfahrungen. Revolutionen spielen für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften eine ganz entscheidende Rolle. Hannah Arendt erklärte: »Für die Modernität der Revolution ist vermutlich nichts so charakteristisch, als daß sie von vornherein beanspruchte, die Sache der Menschheit zu vertreten, und zwar gerade weil die Menschheit im achtzehnten Jahrhundert nicht mehr als eine ›Idee‹ war. Es handelte sich nicht nur um die Freiheit, sondern um Freiheit für alle, und dies mag der Grund sein, warum die Revolution selbst, im Unterschied zu den revolutionären Ideologien, um so moderner und zeitgemäßer geworden ist, je mehr die ›Idee‹ der Menschheit sich durch die moderne Technik zu einer handgreiflichen Realität entwickelt hat.« (Arendt 1994: 10).

Auch das Verständnis der Moderne, das wir in Octavio Pazʼ Schriften finden, wurde ganz wesentlich durch die historische Erfahrung einer Revolution geprägt: die mexikanische Revolution von 1910. Durch diese historische Erfahrung mit der mexikanischen Revolution offenbarte sich Paz aber eine andere Moderne. Ich möchte diese andere Moderne eine »postkoloniale Moderne« nennen. Gleichzeitig wußte Paz aber auch, dass besondere historische Erfahrungen durch Erfahrungen, die alle Menschen machen, ergänzt

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werden. »Obwohl jedes Individuum einzigartig und jedes Volk besonders ist, machen alle auch dieselben Erfahrungen« (Paz 1993: 30). Was Paz hier meint, sind nicht mehr die kontingenten historischen Erfahrungen, sondern solche, die in der conditio humana wurzeln. Wir werden weiter unten noch ausführlicher auf diese »anthropologischen Erfahrungen« eingehen, die Paz als eine Art Interpretationsschablone für die historisch-kontingenten Erfahrungen sah. Hier sei nur so viel vorausgeschickt: Paz dachte, dass alle Menschen der Erfahrung der Einsamkeit ausgesetzt seien und dass es gerade diese Erfahrung sei, die sie dazu treibt, sich mit anderen Menschen zu vereinen. Diese Dialektik von »Einsamkeit« und »Kommunion« verstand er als Triebwerk der Geschichte allgemein. Deshalb schrieb er: Historische Erfahrungen sind »intim und kollektiv«, es sind die »eigenen«, aber gleichzeitig die »Aller« (vgl. Paz 1993: 22). Das bedeutet, dass persönliche Erfahrungen in historischen Situationen eine legitime Quelle des Zugangs zu den sozialen und kulturellen Wirklichkeiten unterschiedlicher historischer Momente darstellen. Dies gilt auch dann, wenn die historischen Erfahrungen nicht die eigenen sind. Pazʼ Buch Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la fe (Sor Juana Inés de la Cruz oder die Fallstricke des Glaubens) ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Biografie der Nonne und Dichterin NeuSpaniens und damit um ein Thema, das im strikten Sinne vor allem literaturwissenschaftliche Bedeutung hat. Darin erschöpft sich aber keineswegs der Anspruch, den Paz an sein Buch stellte. Vielmehr will er es auch als ein Buch über die Kolonialgeschichte Mexikos verstanden wissen (vgl. ebd. 29). Paz nannte seine Methode restitución. Enrico Mario Santí hat in dieser »Restitution« zu Recht einen methodologischen Anspruch entdeckt, der einen besonderen Zugang zur Vergangenheit sucht, indem er bislang ausgeblendete Stimmen zu Wort kommen lassen will (vgl. Santí 1997b: 132ff). Ich würde behaupten, dass es darum geht, die Erfahrungen, die konkrete Menschen mit und in historischen Situationen gemacht haben, zu rekonstruieren, um so die Geschichte durch ihre Erfahrungen lebendig werden zu lassen. Aber auch seine eigenen Erfahrungen galten Paz als Zugang zur Geschichte nicht nur seines Landes. Pazʼ Bewusstsein für die große Bedeutung der mexikanischen Revolution lässt sich von seiner Biografie kaum trennen. Im Jahre 1914 geboren, erblickte er das Licht der Welt, während die Revolution in seinem Land in vollem Gang war.

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Sein Vater, Octavio Paz Solórzano, arbeitete für die Revolution, was zur Konsequenz hatte, dass Octavio Paz seine Kindheit vor allem mit seiner Mutter im Landhaus seines Großvaters in Mixcoac – heute ein Stadtteil von Mexiko-Stadt, damals ein Dorf am Rande der Stadt – verbrachte. Paz identifizierte sich aber nicht nur wegen der Tätigkeit seines Vaters mit der Revolution. Vielmehr sah er in ihr die Möglichkeit der Konstruktion einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur, der er in gewisser Weise sein Lebenswerk widmete. Noch in einer Huldigung jener Gruppe von Intellektuellen, die sich von 1938 bis 1941 in der Zeitschrift Taller zusammenfanden und zu der er selbst gehörte, schrieb Paz: »Für uns vermischten sich die poetische und die revolutionäre Tätigkeit und wurden zu ein und demselben. Um den Menschen zu ändern, bedarf es zuerst der Veränderung der Gesellschaft. [Es geht] um die dringende poetische und moralische Aufgabe, die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, um den ganzen Menschen, den poetischen Menschen – endlich Herr seiner selbst – erscheinen zu lassen. [F]ür die Mehrzahl der Gruppe waren Liebe, Poesie und Revolution drei lodernde Synonyme« (zit. in: Monsiváis 2000: 35-36).

Worin bestehen nun aber die Erkenntnisse, die Paz aus den Erfahrungen mit der ersten postkolonialen Revolution des 20. Jahrhunderts zog, und wie beeinflussen diese Erfahrungen seine Soziologie? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, den schon erwähnten postkolonialen Charakter dieses Ereignisses deutlich zu machen. Im Mittelpunkt der mexikanischen Revolution steht nicht die Befreiung des Proletariats, wie bei der späteren Oktoberrevolution, sondern die Bewältigung von Problemen, die in der Kolonialgeschichte des Landes wurzeln. Nun ist Mexiko zwar bereits seit 200 Jahren unabhängig, Paz glaubte aber, dass die Unabhängigkeit (Independencia) ein »großer Misserfolg« gewesen sei (vgl. Paz 1999: 623). Er beklagt, dass die ungleichen Gesellschaftsstrukturen das Ende der Kolonialzeit schadlos überdauerten. Aber der tiefere Grund für die Kontinuität kolonialer Strukturen liegt seiner Meinung nach weniger in einem Willen, Ungerechtigkeit und Ungleichheit fortzusetzen, als in dem mangelnden Willen, tatsächlich etwas Neues aus dem Bestand der eigenen Traditionen zu schaffen. Das Ende der Kolonialzeit verstand Paz nicht so sehr als Konsequenz neuer Kräfte, die sich ihr gegenüberstellten, sondern als Folge der Ermüdung ihrer kulturellen Kräfte. Im Labyrinth der Ein-

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samkeit erklärt Paz, dass die Unabhängigkeit eigentlich viel mehr noch zur Conquista gehört als zu einer Ordnung, die sich eindeutig vom kolonialen Erbe befreit hätte: »Conquista und Independencia gleichen so den Momenten von Ebbe und Flut einer großen, geschichtlichen Strömung, die im 15. Jahrhundert aufkam, bis nach Amerika spülte, im 16. und 17. Jahrhundert einen Moment wunderbaren Gleichgewichts erreichte und schließlich wieder zurückströmte – nicht ohne vorher in tausend kleinste Wellen zu brechen« (Paz 1998: 119).

Wenn das Ende der Kolonialzeit, wie es Paz in seinem Buch über Sor Juana so einfühlsam schildert, nur als Todeskampf beschrieben werden kann (vgl. Paz 1991; 1998: 119), in dem jede kulturelle, soziale und politische Vitalität bereits erloschen war, so war die Zeit der offiziellen Unabhängigkeit bis zum Ausbruch der Revolution, die fast exakt 100 Jahre dauern sollte, die einer postkolonialen Starre. Ausdruck dieser war die Tatsache, dass nichts Neues mehr entstand. Zwar sei dies nicht immer so einfach zu verstehen gewesen, denn die Sprachen der neuen Eliten seien immer auch »modern« gewesen; ein »Widerhall der Französischen Revolution und vor allem der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung« (ebd. 121), später dann des »Liberalismus« (128) und schließlich des »Positivismus« (130ff; vgl. auch Kapitel 8.5). Aber all diese Sprachen stellten für Paz eher »Masken« dar, die die Wirklichkeit verdecken statt sie zu enthüllen oder tief greifende soziale und politische Veränderungen in die Wege zu leiten. Paz schrieb 1950: »Der politische Schaden ist unermeßlich und reicht in tiefe Schichten unseres Wesens hinab. Mit aller Natürlichkeit bewegen wir uns daher in der Lüge. Seit mehr als hundert Jahren haben wir Gewaltregime ertragen, die im Dienste feudaler Oligarchien standen, aber die Sprache der Freiheit sprachen« (ebd. 123).

Das Kennzeichen der postkolonialen Situation Mexikos bestand also darin, dass die Saat »moderner« Diskurse auf einen dafür unfruchtbaren Boden fiel. Die Kluft, welche die politische und soziale Wirklichkeit von diesen Diskursen trennte, wurde immer größer. Erst die Revolution habe dies schlagartig geändert. »Die mexikanische Revolution ist eine Tatsache«, schrieb Paz, »die als wahrhafte Offenbarung unseres Wesens in unsere Geschichte einbrach« (ebd. 135). Die Revolution

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ist der Nadelstich, der die postkoloniale Luftblase zum Zerplatzen bringt und die politische und soziale Imagination wieder auf den Boden der Realität zurückbrachte. Vor allem dieser »Realismus« ist es, den Paz immer wieder evoziert. Er sieht in der Revolution eine Tat, in der die postkoloniale Lethargie schon dadurch überwunden wird, dass sich die Menschen, wie auf einer Fiesta, gegenseitig in die Arme fallen, sich also mit anderen Menschen vereinen. In dieser »Kommunion« sieht Paz den erlösenden Aspekt der Revolution. »Die Revolution ist ohne eigene Gedanken. Sie ist Ausbruch der Wirklichkeit, Revolte und Kommunion, ein Aufrütteln alter, verschlafener Substanzen, ein Aufspringen vieler wilder, aber auch zärtlicher, edler Gefühle, die die Angst vor dem Sein verborgen hielt. Mit wem aber kommuniziert Mexiko in dieser blutigen Fiesta? Mit sich selbst, mit seinem eigenen Wesen. Mexiko wagt endlich, es selber zu sein. Die revolutionäre Explosion ist eine wunderträchtige Fiesta, in der der Mexikaner, trunken von sich selbst, schließlich in tödlicher Umarmung, seinen mexikanischen Bruder erkennt« (ebd. 147).

Hier spricht keine nationalistische Leidenschaft. Im Gegenteil, der normative Horizont, dem sich Paz verbunden fühlte, ist immer derjenige der gesamten Menschheit gewesen. Aber er wusste auch, dass es zu diesem Universal keinen Königsweg gab. Der Weg zum Menschen allgemein führt durch ganz konkrete Erfahrungen, die Menschen unter ihren jeweils eigenen historischen Umständen machen. Die mexikanische Revolution ist eine solche Erfahrung. Sie ist die Erfahrung in der sich Mexikaner als Mexikaner entdecken, aber gleichzeitig auch als Menschen. »Mexikaner sein ist weder ein besonderes Privileg noch eine besondere Strafe. Das Privileg und die Strafe bestehen darin, Menschen zu sein«, erklärte er 1967 in einem Interview dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Monsiváis (Paz/Monsiváis 2000: 109). Die Revolution stellt die Wiederentdeckung des Menschseins dar, die sich durch kein abstraktes Wissen ersetzen lässt, sondern nur durch die »Kommunion« mit anderen Menschen hervorgebracht werden kann. Die mexikanische Revolution vollzieht somit eine doppelte Bewegung. Einerseits zurück zum Eigenen, andererseits hin zum »Anderen«, zum »anderen« Menschen. In seinem autobiografischen Essay (Itinerario) schrieb Paz rückblickend auf die Ideen, die ihn schon im Labyrinth beschäftigten:

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»Die revolutionäre Bewegung entfaltete sich in zwei Richtungen: es war das Treffen Mexikos mit sich selbst, und darin liegt die historische Originalität und Fruchtbarkeit; außerdem war und ist sie die Fortsetzung unterschiedlicher Versuche, das Land zu modernisieren« (Paz 1993: 100-101).

»Modernisieren« hat für Paz unterschiedliche Bedeutungen. Hier aber bildet es vor allem ein dialektisches Paar mit dem Eigenen. Modernisierung ist also eine Bewegung in Richtung einer »Kommunion« mit der ganzen Welt und den Menschen in ihr. Entscheidend ist dabei allerdings, dass diese Bewegung nicht von der Bewusstwerdung der eigenen Traditionen getrennt werden kann, wie es die Modernisierungstheorien haben wollten (vgl. Kapitel 3). Die Aufgabe der Intellektuellen in sich modernisierenden Gesellschaften sah Paz darin, diese verschütteten Traditionen freizulegen, denn nur so öffne sich der jeweils eigene Weg in die Moderne: »War unsere Tradition wirklich lebendig und keine erstarrte Form, so musste sie universale Werte offenbaren, durch die sie Aufnahme, Vertiefung und Rechtfertigung fand«, schrieb Paz schon im Labyrinth (1998: 150). Festhalten lässt sich an dieser Stelle aber vor allem eins: Die Erfahrung mit den postkolonialen Zuständen Mexikos und die Art, in der die mexikanische Revolution darauf antwortete, hat in Paz und vielen anderen mexikanischen Denkern eine Vorstellung von Modernisierung reifen lassen, die sich von derjenigen der aus den Vereinigten Staaten stammenden Modernisierungstheorien, aber auch den aus dem Marxismus sich speisenden Revolutionsideen ganz entschieden absetzte. Interessant in unserem Zusammenhang ist vor allem, dass sich diese Kritik ganz explizit als Kritik an der zeitlichen Logik der Modernisierungs- und Revolutionstheorien verstand, welche Paz gegen Ende der 1960er Jahre in einem eindeutig soziologischen Argument entfaltete. Der Text, auf den ich mich hier beziehe, entstand 1967, während sich Paz als mexikanischer Botschafter in Indien befand. Dieser Entstehungsort ist nicht unwichtig. Paz lebte 1952 fast ein Jahr in Indien und dann wieder von 1962 bis 1968. Trotz aller Unterschiede, die er in seinen Vergleichen zwischen Mexiko und Indien entdeckt und zugibt, fallen ihm aber selbstverständlich auch die Affinitäten auf, die sich aus der kolonialen Geschichte beider Länder ergeben. Eine der wesentlichen Übereinstimmungen sieht Paz in der Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um postkoloniale Gesellschaften handelt, die ihren eigenen Weg in die Moderne suchen. Eine weitere darin, dass sie dabei an

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die jeweils eigenen Traditionen anschließen wollten. »Weder die Inder noch die Mexikaner verleugnen ihre Vergangenheit: Sie bessern sie aus und überstreichen sie« (Paz 1995a: 148). In dem Text von 1967 geht es Paz um die Idee der Revolution und vor allem um die Bedeutung, die diese Idee für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften zu haben scheint. »Der Revolutionär ist ein Philosoph oder wenigstens ein Intellektueller: ein Mann der Ideen«, stellt Paz fest (1996: 590). Dieses Verständnis von Revolution unterscheidet sich dann aber bereits von der mexikanischen »Revolution«, denn sie stellte eher eine spontane »Revolte« (revuelta) dar, mit der die Ideen erst später, in einer zweiten Phase, in Kontakt traten. Aber Paz geht es in dem hier zitierten Text nicht so sehr um historische Differenzen, sondern, wie bereits gesagt, um die Idee der Revolution und ihre Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Die Anspielung auf den Philosophen enthält bereits einen Hinweis auf eine ganz entscheidende Besonderheit des Begriffs der Revolution: Die Revolution, »[u]niversell wie die Vernunft, erlaubt keine Ausnahmen und ignoriert gleichsam die Willkür und das Mitleid. Revolution: Wort der Gerechten und der Gerechtigkeitsliebenden« (ebd).

Aber das wirkliche Problem dieses Revolutionsbegriffs sieht Paz nicht so sehr im Moralismus der Gerechtigkeitsfanatiker und wohl auch nicht im Universalismus der Philosophen, der keine Ausnahmen zu kennen scheint, sondern in der Zeitkonzeption, die diesem Begriff erst seine Legitimation gibt. Um diese deutlich zu machen, vergleicht Paz die Zeitkonzeption, die diesen Begriff heute prägt, mit der ursprünglichen. Er kommt dabei zu dem Schluss: »Revolution« bedeutete zunächst eine in die Vergangenheit gerichtete Bewegung. Diese etymologische Besonderheit habe der aktuelle Gebrauch dieses Wortes aber vergessen. Die zeitliche Logik, die heute diesen Begriff bestimmt, ist die der geradlinig sich in die Zukunft bewegenden Zeit. »Die neue Bedeutung zerstört die alte: Die Vergangenheit kehrt nicht zurück und der Archetypus des Geschehens ist nicht länger das, was war, sondern das, was sein wird. In seinem originalen Sinn ist Revolution ein Wort, welches den Primat der Vergangenheit bestätigt […] Die zweite Bedeutung postuliert den Primat der Zukunft. […] Präeminenz der Zukunft, Glaube an den unaufhaltsa-

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men Fortschritt und an die Perfektionierung der Spezies, Rationalismus, Verruf der Tradition und der Autorität, Humanismus. Alle diese Ideen verschmelzen in der geradlinigen Zeit: Die Geschichte wird als Marsch aufgefasst. Es handelt sich um das Hereinbrechen der profanen Zeit« (ebd. 591).

Genau auf diese Idee von »Revolution« konzentriert Paz seine Kritik. Er versucht aber deutlich zu machen, dass sich diese Idee nicht auf jene Ereignisse, die sich im engeren Sinne »Revolutionen« nennen lassen, beschränkt, sondern das Selbstverständnis moderner Gesellschaften allgemein bestimmt. Daraus ergeben sich folgende Probleme: Als erstes nennt Paz das Verschwinden des Individuums. Gemäß der Geschichtsphilosophien, die die moderne Idee der Revolution bestimmen, ist die bewegende Kraft der »Fortschritt« der gesamten menschlichen Spezies. Das bedeutet: »[D]er einzelne Mensch verliert die Möglichkeit der Perfektion, da nicht er, sondern die gesamte Menschheit das Subjekt des Fortschritts ohne Ende ist. Die Spezies schreitet voran, obwohl das Individuum verloren geht« (ebd. 592593).

Ein weiteres Problem, das gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat und sich in der Idee der Revolution manifestiert, entdeckte Paz in der Konzeption der sozialen Beschleunigung. »Dem Wandel in der Orientierung im Handeln und im Denken der Menschen entspricht ein Wandel des Rhythmus; die geradlinige Zeit ist die beschleunigte Zeit« (ebd. 593).

Paz greift bereits gegen Ende der 60er Jahre ein Thema auf, das in einem der originellsten Vorschläge für eine Kritik der Moderne heute vor allem von Hartmut Rosa diskutiert wird und den Rosa selbst wie folgt zusammenfasst: »Als leitende Hypothese dient […] die Vermutung, dass Modernisierung nicht nur ein vielschichtiger Prozess in der Zeit ist, sondern zuerst und vor allem auch eine strukturell und kulturell höchst bedeutsame Transformation der Temporalstrukturen und -horizonte selbst bezeichnet und dass die Veränderungsrichtung dabei am angemessensten mit dem Begriff der sozialen Beschleunigung zu erfassen ist« (Rosa 2005: 24).

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Wer in der »sozialen Beschleunigung« einen zentralen und kritikwürdigen Aspekt der modernen Gesellschaft sieht, signalisiert ebenfalls eine Bereitschaft, andere Phänomene diesem sozialen Sachverhalt unterzuordnen. So lässt Paz keinen Zweifel daran, dass für ihn die vermeintliche »technologische Revolution« zuerst als Folge der sozialen Beschleunigung verstanden werden müsse. »Nicht die Technik ist die Erfinderin der Geschwindigkeit: die Einrichtung der modernen Zeit hat die technische Geschwindigkeit möglich werden lassen. Das ist die Bedeutung des allgemein üblichen Satzes: Heute lebt man schneller. Die Beschleunigung ergibt sich daraus, dass wir heute der Zukunft entgegen leben, in einer horizontalen Zeit, in einer geraden Linie« (Paz 1996: 593).

Auch in diesem Zusammenhang formuliert Paz – wir werden im folgenden Kapitel noch weitere Beispiele kennenlernen – eine heftige Kritik an der Soziologie seiner Zeit. Wenn die Beschleunigung eines der wesentlichen Kennzeichen unserer Zeit ist, dann bräuchten wir nach Paz ein »dynamisches Bild der Gesellschaft und der Totalität ihrer Widersprüche« (ebd. 596). Was die Soziologie stattdessen aber anbiete, sei etwas anderes. Sie scheine sich dazu entschieden zu haben, das Soziale immer mehr als Kommunikation verstehen zu wollen. Auch diese Entwicklung in der Sozialtheorie sieht Paz nicht unabhängig von einer technischen »Revolution«: die der elektronischen Kommunikationsmedien (vgl. ebd. 604). Er diskutiert in diesen Zusammenhang sehr ausgiebig einige Ideen des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan. Sein berühmter Satz »the medium is the message« sei nicht nur deshalb problematisch, weil er die Aufmerksamkeit vom Sinn und von der Bedeutung, die Menschen miteinander austauschen, auf die Medien lenkt, die sie dazu benutzen, sondern auch deshalb, weil er die Inhaltsleere des Mediums kategorisch auf den Inhalt der Mitteilungen bezieht. »Indem er sagt, dass die Medien die Mitteilungen sind, bestätigt McLuhan, dass die Mitteilung nicht das ist, was wir sagen, sondern das, was die Medien unabhängig von uns, ohne dass wir es wüssten, sagen« (ebd. 602).

Paz kommt dabei zu dem Schluss: »Die Medien werden zu Bedeutungen und produzieren automatisch und schicksalhaft ihren Sinn« (ebd.). Diese Annahme von der Autonomie der Technik – in diesem Fall der

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Kommunikationstechnologien – ist nicht nur etwas, wogegen Paz energisch protestiert, sondern sie ist seiner Meinung nach vor allem falsch. Auch die Technik, deren sich der Mensch bedient, muss seiner Meinung nach als »Produkt einer Gesellschaft und konkreter Menschen« verstanden werden (ebd.). Der Mensch könne sich überhaupt nicht der vermeintlich unabhängigen Entfaltung der Zeit unterwerfen. Vielmehr müsse er immer, ganz gleich in welchem Stadium technischer Entwicklung er sich befinde, Entscheidungen treffen. Ich möchte meine Rekonstruktion der pazschen »Kritik« der Revolution in der modernen Gesellschaft hier beenden. Es ließen sich noch einige Punkte hinzufügen: die »Revolution« des Konsums und vor allem die Bedeutung der Revolution in der Vorstellungswelt der marxistischen Linken. Beide Themen werden von Paz kurz angesprochen. Aber schon an dieser Stelle dürfte deutlich geworden sein, dass Paz mit seiner Kritik der Idee der Revolution im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft vor allem auf ein bestimmtes Zeitverständnis aufmerksam machen wollte, nach welchem Zeit als geradliniger, in die Zukunft gerichteter Prozess verstanden wird, der permanente Brüche mit der Vergangenheit produziert. Dieses Bild der Moderne ist für Paz aber nicht das einzig mögliche. Seine Kritik daran entwickelt er auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit einer anderen Moderne, die wir als postkoloniale Moderne begreifen wollen. Besonders wichtig ist für Paz dabei die Erfahrung mit der ersten postkolonialen Revolution, der mexikanischen Revolution von 1910. Paz sah in diesem Ereignis eine wahrhafte Antithese zu jener Moderne, die durch den Begriff und die Idee der Revolution geprägt wurde. Um die mexikanische »Revolution« zu benennen, wäre der Begriff der Revolution nach Paz eigentlich irreführend und müsste durch den der Revolte (revuelta) ersetzt werden. Revolte ist ursprünglicher als Revolution. Paz erklärt: »Das Wort revuelta wurde durch revolución ersetzt; heute, getreu seiner Etymologie, kehrt es zu seiner alten Bedeutung zurück, zu seinem Ursprung: wir leben die Revolte« (Paz 1996a: 636). Die mexikanische »Revolution« versteht Paz dabei als Paradebeispiel einer Revolte. Und noch in den 1960er Jahren glaubte er, dass sich dieses Modell in der postkolonialen Welt fortsetzen oder besser: wiederholen würde (vgl.: 1993: 100). Auch wenn sich diese Hoffnung als falsch herausstellen sollte, hörte Paz nie auf, an die Richtigkeit dieses Modells zu glauben. Er sah in ihm die Möglichkeit einer Versöh-

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nung der Moderne mit der Tradition: die Möglichkeit der Bestimmung des Schicksals der Moderne durch eigene Mittel, was auch soviel bedeutet wie die Vereinigung mit der Welt, ohne sich selbst aufgeben zu müssen. Paz vermutete, dass dieser Weg in die Moderne, der an die jeweils eigenen Traditionen anschloss, ohne diese absolut zu setzen, der postkolonialen Welt durch ihre Revolten erschlossen werde. Er erkannte aber auch, dass die meisten Versuche, einschließlich der in der Bürokratie erstarrten mexikanischen Revolution, diese Möglichkeit verpassten. Was von der Erfahrung der mexikanischen Revolution geblieben ist, sind letztendlich Elemente für eine Kritik der Moderne mit einem enormen sozialtheoretischen Potenzial, deren Horizont eine Kritik an der geradlinigen Zeitkonzeption der Modernisierungstheorien und eine normative Verpflichtung auf einen Humanismus bildet, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen die höchste Erfüllung eines menschenwürdigen Lebens sieht.

9.3 E INE HUMANISTISCH - SOZIOLOGISCHE K RITIK DER S OZIOLOGIE Die soziologische oder, allgemeiner gesagt, sozialwissenschaftliche Verpflichtung aus Pazʼ Arbeiten herauszulesen, bedarf zugegebenerweise Geduld und guten Willens. Immer wieder stoßen wir in seinem Werk auf Sätze wie den folgenden, in denen sich auf den ersten Blick eine soziologiefeindliche Haltung Ausdruck zu verschaffen scheint: »Allgemein sehen Ökonomen und Soziologen den Unterschied zwischen der traditionalen und der modernen Gesellschaft als den Gegensatz zwischen Entwicklung und Unterentwicklung: Die Disparitäten zwischen den beiden Mexikos sind quantitativ und das Problem wird darauf reduziert, zu bestimmen, ob die entwickelte Hälfte die unterentwickelte Hälfte absorbieren kann. Wenn es auch normal ist, dass Statistik die qualitativen Beschreibungen von Phänomenen unterschlägt, so ist es nicht normal, dass Soziologen nicht davor warnen, dass hinter den Zahlen psychologische, historische und kulturelle Realitäten stecken, die nicht auf die groben Maße, die der Zensus notwendigerweise benutzen muss, zu reduzieren sind« (Paz 1998: 303).

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Tatsächlich meldet sich hier aber eine bemerkenswert tiefsinnige Kritik vor allem der Nachkriegssoziologie zu Wort. Die Hauptlinien dieser Kritik richten sich gegen bestimmte Aspekte der Modernisierungstheorien: Auch hier ist wieder ihre zeitliche Logik gemeint, die sich durch ein lineares Zeitverständnis auszeichnet, sowie die Vorstellung, dass sich soziale und kulturelle Prozesse anhand von quantitativen und empirisch messbaren Daten beschreiben und verstehen ließen. Paz bestreitet hier nicht einmal, dass quantitative Sozialforschung »notwendig« sei, noch dass Modernisierung auch für Gesellschaften wie die mexikanische ein sinnvolles Ziel darstelle. Er bezweifelt aber, dass die Modernisierungstheorien Prozesse sozialen Wandels angemessen zu begreifen in der Lage sind, wenn sie sich ausschließlich an quantitativen Daten orientieren. Ein ganz zentrales Problem sieht Paz in der Annahme, dass alle Gesellschaften den exakt gleichen zivilisatorischen Entwicklungsprozess durchschreiten. Dadurch werde fälschlicherweise vorausgesetzt, dass es nur eine menschliche Zivilisation gebe und dass die »westlichen« Gesellschaften dafür das ideale Modell darstellten (vgl. Paz 1985: 43). Diese Überlegungen artikuliert Paz bereits in den Charles Eliot Norton Lectures, die er 1972 in Harvard hielt. In der aktuellen soziologischen Modernitätsdebatte sind interessanterweise ganz ähnliche Ideen wie die, die Paz vor knapp 40 Jahren bereits aussprach, richtungsweisend. So hatte zum Beispiel, wie weiter oben (Kapitel 4.3) bereits ausgeführt wurde, Shmuel Eisenstadt in der Soziologie ebenfalls in den 1970er Jahren ganz deutliche Zweifel an den Modernisierungstheorien zum Ausdruck gebracht, die sich mit der Diagnose von Paz in einigen wichtigen Punkten decken (vgl. Eisenstadt 1973). Eisenstadts Einfluss hat sich vor allem in der multiple modernities-Debatte sowie in den aktuellen zivilisationstheoretischen Diskussionen innerhalb der Soziologie niedergeschlagen (vgl. Eisenstadt 2000). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ließe sich behaupten, dass auch Pazʼ Kritik an der Soziologie der 1960er Jahre keineswegs anti-soziologisch war, sondern im Gegenteil in eine Richtung wies, welche die Soziologie schließlich selbst einschlug. Paz als verkannter Vorreiter soziologischen Denkens? Diese Annahme scheint mir alles andere als abwegig. Auch in einem anderen Feld, das die Soziologie erst allmählich betritt, lassen sich Pazʼ Spuren bereits entdecken. Ebenfalls in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verband er seine Kritik an der

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Soziologie mit Argumenten, die erst heute unter dem Stichwort des Postkolonialismus an sie herangetragen werden. Selbstverständlich ist hier der geografische Ort ausschlaggebend, von dem aus Paz die moderne Welt beurteilt. Aus der Sicht Mexikos, das nach den Modernisierungstheorien als »unterentwickelte« Gesellschaft galt, konnte die Annahme, dass es nur zwei Typen von Gesellschaften – nämlich »entwickelte« und »unterentwickelte«, »moderne« und »traditionale« – geben könne, nur als grobe Simplifizierung gelten. Paz schreibt: »Das Adjektiv ›unterentwickelt‹ gehört zur blutarmen und kastrierten Sprache der Vereinten Nationen. […] Das Wort besitzt keine genaue Bedeutung in den Bereichen der Anthropologie und der Geschichte: Es handelt sich nicht um wissenschaftliche Terminologie, sondern um eine bürokratische« (Paz 1985: 43).

Das Problem, auf das Paz hier aufmerksam machen wollte, besteht also darin, dass ein verwaltungstechnischer Jargon komplexitätssensiblere Sprachen aus den Sozialwissenschaften herausdrängt. Unterschiede zu den »westlichen« Gesellschaften – den Paradigmen für Modernisierung und Fortschritt – werden nun einfach als »unterentwickelt« oder »zurückgeblieben« deklariert (vgl. Paz 1985: 41-42). Anfang der 1980er Jahre hat der Anthropologe Johannes Fabian in seinem Buch Time and the Other (hier: Fabian 2002) einen sehr ähnlichen Vorwurf zum Ausdruck gebracht, indem er versucht zu zeigen, dass die Übersetzung von Unterschieden zwischen Gesellschaften in die zeitliche Terminologie von »fortgeschritten« und »zurückgeblieben« vor allem einem Zweck diene: dem der Rechtfertigung des Herrschaftsanspruchs westlicher über nichtwestliche Gesellschaften. Fabians Argument spielt für einige Autoren, die dem Postkolonialismus nahestehen, eine sehr wichtige Rolle. Die Arbeiten von Walter Mignolo wären hier schon deshalb zu nennen, weil sein Anspruch der ist, aktuellere postkoloniale Ideen auf spezifisch lateinamerikanische Bedingungen anzuwenden (vgl. Mignolo 1995; 2005).3

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Erstaunlich ist allerdings, dass so wichtige Beiträge zum Verständnis der Moderne aus lateinamerikanischer Sicht, wie sie Octavio Paz ausgearbeitet hat, von Mignolo überhaupt nicht erwähnt werden. Dies trifft zumindest für die drei bisher wichtigsten Bücher Mignolos zu (Mignolo 1995; 2000; 2005).

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Interessant ist Paz in diesem Zusammenhang aber auch deshalb, weil er nicht nur versucht, den Konflikt zwischen »westlichen« und »nicht-westlichen«, »entwickelten« und »unterentwickelten« Gesellschaften zu erklären, sondern vor allem auch, weil er darauf besteht, deutlich zu machen, wie falsch jene Argumente sind, die aus diesen Begriffspaaren entwickelt werden. So erinnert er daran, dass ein wichtiger Aspekt für »Entwicklung« oder »Unterentwicklung« die Art und Qualität der Ernährung bestimmter Gesellschaften war. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Verzehr von ausreichenden Mengen an Roggen und Weizen ein Zeichen für einen relativ hohen Entwicklungsstand war, während der Verzehr anderer Getreidesorten – zum Beispiel von Mais und Reis – als ein deutliches Zeichen für Unterentwicklung verstanden wurde (vgl.: Paz 1999: 287). Wie unseriös solche Vorstellungen waren, zeigt Paz, indem er das Argument humorvoll auf die Spitze treibt: »Das Kriterium verurteilt Japan zu ewiger Unterentwicklung, weil Reis viel weniger nahrhaft ist als Weizen und traditionaler als Mais« (ebd. 288). Er kommt dabei zu folgendem Schluss: »Entwicklung war eine wirkliche Zwangsjacke. Eine falsche Befreiung. Obwohl sie viele alte und viele anfechtbare Verbote abgeschafft hat, oktroyiert sie uns viele nicht minder lästige Forderungen auf« (ebd.).

Soziologische Analysen und politische Strategien, die von ihnen abgeleitet werden, sind nicht grundsätzlich unbrauchbar, sie müssen aber präziser werden. Modernisierung muss in jeweils konkreten sozialen und kulturellen Kontexten als außerordentlich komplexer Prozess verstanden werden. Höheres Komplexitätsbewusstsein bedarf nach Paz mehr Sensibilität für kulturelle Unterschiede. Diese fehle den Soziologen der Modernisierungstheorien. »Es gibt Sprünge und Zusammenstöße, Wandel und Restaurationen, die nur in dem, was wirklich zählt, bewältigt werden: in Werken. Alles andere gehört in den Bereich der Geschichte und der Soziologie. Jene, das Reich des Besonderen, diese ideologischer Nebel« (Paz 1994a: 19).

Einmal mehr scheint Paz ein unversöhnliches Urteil über die Soziologie zu fällen. Gemeint ist in diesem Zitat aber vor allem eine Soziolo-

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gie, die gegenüber den von einer Gesellschaft geschaffenen »Werken«, ihrer Kultur also, blind ist. Paz lehnt auch hier Soziologie nicht grundsätzlich ab, sondern versucht die kulturellen Aspekte zu erinnern, die die konventionelle Soziologie seiner Zeit nicht berücksichtigte. Auch um moderne Gesellschaften zu verstehen, bedarf es eines kulturellen Einfühlungsvermögens. Simmels Kultursoziologie mag ihm näher gestanden haben als die Soziologie der Modernisierungstheorien (vgl. Capetillo-Ponce 2005; 2009) und wahrscheinlich noch näher die Kultursoziologie des Collège de Sociologie, wie wir im folgenden Kapitel noch sehen werden. Fest steht aber, dass eine Soziologie ohne kulturelle Sensibilität für Paz etwas sehr Wichtiges übersieht: das eigentlich Menschliche. Auch die Beschäftigung mit der Kultur ist also für Paz kein Selbstzweck, sondern Zugang zum Menschen, welchen die soziologischen Modernisierungs- und Entwicklungstheorien längst aufgeben zu haben scheinen (vgl. Kapitel 5.2). Deshalb fordert Paz: »Wir brauchen Entwicklungsmodelle, die realistischer, menschlicher, rentabler und sinnvoller als die jetzigen sind. Das ist die große Aufgabe unserer Zeit. Und nicht zu vergessen: Der höchste Wert kommt nicht der Zukunft, sondern der Gegenwart zu. Die Zukunft ist trügerisch. Sie sagt uns immer: ›Es ist noch Zeit!‹ Aber nicht die Zukunft ist die Zeit der Liebe. Was der Mensch wirklich will, will er jetzt. Wer ein Haus des Glücks für die Zukunft baut, baut ein Gefängnis für die Gegenwart« (Paz 1998: 212; kursiv O.K.).

Nicht dem dionysischen Hedonismus möchte Paz hier den Rücken stärken, sondern dem Gedanken, das Hier und vor allem das Jetzt menschlicher Notwendigkeiten, Wünsche und Leidenschaften wieder in den Mittelpunkt des Interesses auch der Sozialforschung zu rücken. Der mexikanische Philosoph Luis Villoro hat in einer Reflexion über Pazʼ Das Labyrinth der Einsamkeit geschrieben: »Das Labyrinth der Einsamkeit beansprucht nicht, das Werk wissenschaftlicher Forschung zu sein, das nach den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen historischer Prozesse forschen würde« (Villoro 1995: 31-32).

Villoro hat aber nur Recht, wenn er mit wissenschaftlicher Forschung jene meint, die Paz, wie in diesem Kapitel gezeigt, kritisiert hat: nämlich quantitative, empirische Sozialforschung, die den normativen

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Rahmen der Modernisierungstheorien rechtfertigt. Er behält nicht Recht, wenn er auch ein qualitatives, kultursoziologisches Programm meint, dessen methodische Besonderheit in der Ausdeutung kultureller Bedingungen moderner Lebensformen liegt.

9.4 D AS C OLLÈGE

DE S OCIOLOGIE UND DIE HETEROLOGISCHE S AKRALSOZIOLOGIE

Trotz der Kritik an der Soziologie seiner Zeit und vor allem an den Modernisierungstheorien lassen sich in Pazʼ Werk auch Spuren von Soziologien finden, von denen er sich hat inspirieren lassen. Da sein Schreibstil nicht die akademischen Gepflogenheiten, Quellen anzugeben, respektiert, müssen diese Spuren mit philologischer und hermeneutischer Akribie herausgelesen werden. Wie weiter oben schon erwähnt wurde, hat Jorge Capetillo-Ponce diese Mühen nicht gescheut, um zu zeigen, dass das Werk von Georg Simmel auf Paz einen wichtigen Einfluss gehabt haben muss, welcher sich besonders im Labyrinth nachweisen lässt (vgl. Capetillo-Ponce 2005; 2009). In seiner bedeutenden Studie über das Labyrinth verweist Enrico Mario Santí aber auf einen anderen wichtigen soziologischen Einfluss: den des sogenannten Collège de Sociologie, einer kleinen Gruppe französischer Denker, die eine Kritik der modernen Gesellschaft vorschlugen, in der sie surrealistische Formen des Ausdrucks und der Repräsentation mit soziologischen und kulturanthropologischen Ideen und Methoden verknüpften (vgl. Santí 1997a). Da sich Paz im Labyrinth auf diese Gruppe bezieht (vgl. Paz 1998: 50; 55), scheint es mir notwendig, dieser Spur nachzugehen. In den soziologischen Lehrbüchern sucht man allerdings vergeblich nach Einträgen über dieses kreative und experimentelle Unternehmen. Bis heute wird das Collège de Sociologie nicht dafür angesehen, einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Geschichte der Soziologie geleistet zu haben. Vor ein paar Jahren hat jedoch Stephan Moebius in einer sehr gründlichen Studie die Geschichte des Collège sowie die Einflüsse, die diese unkonventionellen Denker weitergeben konnten, recherchiert (vgl. Moebius 2006). Wer Moebiusʼ Buch gelesen hat und Pazʼ Labyrinth kennt, wird über die deutlichen Affinitäten kaum hinwegsehen können.

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Den personellen Kern des Collège, das nur drei Jahre existierte – von 1937 bis 1939, dem Jahr, in dem in Europa der Zweite Weltkrieg ausbrach – bildeten George Bataille (1897-1962), Michel Leiris (19011990) und, für unseren Zusammenhang besonders von Interesse, Roger Caillois (1913-1978). Die soziologischen Einflüsse, die von dieser Gruppe reaktiviert wurden, stammen in erster Linie aus der »Durkheim-Schule«, zu der Marcel Mauss, Henri Hubert, Robert Hertz und George Dumézil gehörten. Stichwort gebend war Durkheims Religionssoziologie, zu der die Mitglieder des Collège aber auch in einigen wichtigen Punkten auf Distanz gingen. Ähnlich wie Octavio Paz hegten auch sie ein Interesse an den »vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten und unter Kontrolle gebrachten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden sakralisierenden Energien kollektiver Erregung« (Moebius 2006: 14),

die sie auch in modernen Gesellschaften noch vermuteten. Diese sakralen Reste sind zum Teil von den faschistischen Bewegungen klug mobilisiert worden. Dies war allerdings überhaupt nur deshalb möglich, weil sie in den meisten Kulturen moderner Gesellschaften bereits als eliminiert galten. Die Tatsache, dass die moderne Kultur für die sakralen Reste, die auch in Menschen moderner Gesellschaften noch wirkten, so unsensibel war, hatte mit einem falschen oder besser unvollständigen Menschenbild zu tun. Genau dieses wollte das Collège korrigieren: »Im Mittelpunkt stand […] das ›Totalphänomen Mensch‹, das weder auf einen homo oeconomicus noch auf ein animal rationale reduziert werden kann und das mit Blick auf fremde Kulturen zu erforschen ist« (ebd. 359).

Ein solches, das Sakrale und Irrationale ernst nehmendes Menschenbild stellt die Grundlage der »Sakralsoziologie« dar, für die sich das Collège stark machte. Das Programm der Sakralsoziologie verstand sich also als ein Schlüssel zur Erforschung moderner Gesellschaften, der die Kammern der aus der konventionellen modernen Sozialforschung ausgeschlossenen Phänomene menschlicher Existenz aufschließen sollte. Moebius definiert den Begriff der Sakralsoziologie folgendermaßen:

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»Diese war darauf ausgerichtet, die vitalen Elemente gemeinschaftlicher Bindungen wie kollektiver Erfahrungen und Efferveszenzen – initiiert durch Rituale, Feste oder Spiele – in der modernen Gesellschaft zu erforschen und zu neuem Leben zu erwecken« (Moebius 2006: 13).

Dabei orientierte sich das Collège keineswegs an einer reaktionären Antimoderne, die wie das Beispiel der konservativen »Kulturkritik« in Deutschland (vgl. Breuer 1995) hinter die Moderne zurückgehen wollte. Moebius betont, dass sich die Mitglieder des Collège trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Marxismus eher zur Linken zählten. Gleichzeitig macht er aber deutlich, dass solche dualistischen Ordnungsschemata (links/rechts) zu ungenau seien, um die politische Position des Collège zu bestimmen (vgl. Moebius 2006: 15). Sicher ist hingegen, dass im Mittelpunkt ihrer politischen Bestrebungen der Kampf gegen den Faschismus stand. Dieser verband sich mit der Einsicht in die Notwendigkeit, die Gesellschaft radikal verändern zu müssen. Die Bildung neuer Gemeinschaften und neuer Mythen wurde vor diesem Hintergrund als besonders wichtig empfunden (vgl. ebd. 13). Dies allerdings nicht, um die Moderne in Richtung einer Vormoderne zu verlassen, sondern als Erinnerung daran, dass die Moderne das Archaische im Menschen nicht eliminiert oder ersetzt habe, sondern im besten Fall reflexiv gemacht, im schlimmsten als überwunden missverstanden habe. Was all das konkret bedeuten kann, macht ein Blick auf die Sozialontologie des Collège deutlich. Diese ist vor dem Hintergrund der »Kommunitarismus-Debatte« der 1990er Jahre interessant, weil sie sich weder auf die Position des Liberalismus noch auf die des Kommunitarismus reduzieren lässt. Gegen den »Liberalismus« argumentierte das Collège schon deshalb, weil es weder den Kontraktualismus, nach dem soziale Solidarität mit rein rationalen Mitteln konstruiert wird, noch mit dem Individualismus, den es als Grund für die soziale Fragmentierung sah, einverstanden war. Gegen den »Kommunitarismus« ließe sich aus der Sicht der Mitglieder des Collège geltend machen, dass sich eine bestimmte Gemeinschaft nicht allein deshalb rechtfertigt, weil sie als Fortsetzung eines tradierten kulturellen Bestands betrachtet werden kann. Gegen solche »de-facto-Gemeinschaften« setzt das Collège auf die Möglichkeit, neue Gemeinschaften zu bilden. Moebius erklärt: »Für das Collège sind aber die ›Entscheidungen zu Gemeinschaft‹ von Bedeutung […]« (ebd. 151; kursiv im Ori-

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ginal). Gemeinschaft wird letztendlich als sozialer Prozess verstanden: »Gemeinschaft ist ständig in wiederholender Praxis; sie ist keine Substanz oder ein Subjekt, sondern ist Mit-Teilung in Praxis« (ebd.). Bis hierher lassen sich bereits einige wichtige Ideenstränge ausmachen, die wir auch im sozialen Denken Octavio Pazʼ wiederentdecken können. Gegen die moderne Obsession der tabula rasa der Vernunft, gegen das lineare, in die Zukunft stürzende Zeitverständnis mobilisiert auch Paz eine Vorstellungswelt der Moderne, die durch die jeweiligen Traditionen nicht infrage gestellt, sondern bereichert, wenn nicht ermöglicht wird. In beiden Fällen wird also versucht, einen voreiligen Modernisierungseifer durch das Erinnern an das »Totalphänomen Mensch« zu ergänzen. Die Sakralsoziologie des Collège lässt sich auch unter dem Begriff der Heterologie zusammenfassen. Im theoretischen Sinne subsumiert dieser Begriff all das, was in der sozialen Wirklichkeit den Prozessen sozialer Homogenisierung zuwiderläuft, zum Beispiel: das Sakrale, Emotionen, Sexualität usw. (vgl. ebd. 14). In einem eher methodologischen Sinn versteht sich Heterologie als eine »Wissenschaft des Unassimilierbaren, des geheimen Rests und des Marginalisierten der Vernunft und homogener Ordnung« (ebd. 16). Paz fühlte sich vor allem mit einem der Mitglieder des Collège zu tiefst verbunden: Roger Caillois. In einigen autobiografischen Überlegungen erinnerte er sich daran, wie er zum ersten Mal auf Caillois aufmerksam wurde: »1940 fiel mir ein Buch eines jungen französischen Autors in die Hände. Sein Name war Roger Caillois, und das Buch trug den Titel Le Mythe et l'homme« (Paz 2001: 23). Paz fühlte gleich eine »spontane Affinität«. Die Lektüre weiterer Arbeiten Cailloisʼ stärkten seine Überzeugung, dass sie »den Beginn einer Methode« enthielten, die dazu geeignet schien, Strukturen von »Begriffsbildern« (conceptos-imágenes) zu errichten (vgl. ebd. 24). Was Paz besonders an Caillois und seiner Methode schätzte, war, dass sie zwar von der Idee der »Einheit der Welt« getragen war, gleichzeitig aber vor dem Fehler gefeit blieb, diese Einheit in eine begriffliche oder bildliche Form drängen zu wollen. »Caillois versuchte die Einheit der Welt durch eine Vielzahl von Themen zu entdecken. Er versuchte nicht, diese Einheit darzustellen, weil sie für ihn unverkennbar evident war und nicht bewiesen werden musste, sondern zu entdecken galt« (ebd. 25).

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Aber es gab noch einen anderen Aspekt in Cailloisʼ Denken, der Paz fast noch mehr begeisterte. Caillois beschied sich in seinen Untersuchungen keineswegs mit der Feststellung dieser oder jener Tatsache vor dem Hintergrund der allgemeinen Präsupposition der Einheit des Ganzen, sondern er war darum bemüht, »das Netz der unsichtbaren Beziehungen und der geheimen Korrespondenzen zwischen den Welten, die diese Welt konstituieren« zu offenbaren (ebd.). Diese Methode Cailloisʼ zeigt nicht nur Übereinstimmungen mit Alexander von Humboldts »Weltwissenschaft«, sondern ihr scheint auch ein ganz ähnliches »Weltbewusstsein« zugrunde zu liegen (vgl. Kapitel 2.3). Danach steht alles in der Welt mit allem in Verbindung. Diese Vorstellung findet ihren Ausdruck darin, dass sie selbst für die Beziehung zwischen Steinen und der Welt der menschlichen Vorstellungen gilt. Paz, der von dieser Idee besonders angetan war, schreibt: »Der Stein und das Werk der Vorstellung sind die beiden Extreme des Universums« (Paz 2001: 23). Er bezieht sich hier auf Ideen von Caillois, die dieser in seinem Buch Pierres réfléchies (1975) artikulierte. Aus ihnen zieht Paz mehrere Konsequenzen. Eine der wichtigsten ist vermutlich die, dass die Sprache, die diese universellen Beziehungen am besten zum Ausdruck zu bringen vermag, die Poesie sei. Auch hier findet sich Paz durch Caillois bestätigt: »Nach Caillois ist die Poesie kein partikulares Phänomen der menschlichen Sprache, sondern eine Eigenschaft der gesamten Natur. Es gibt eine Art von Einheit und Kontinuität zwischen der physischen, der intellektuellen und der Vorstellungswelt; diese Einheit ist formal und konstituiert sich wie ein Gedicht, nicht wie eine deduktive Folge von Bedeutungen, sondern wie ein System von Echos, Korrespondenzen und Analogien« (Paz 1994b: 469-470).

Der Primat der dichterischen Sprache bedeutet für Paz zwar keineswegs, dass sich Wissen nur in Gedichten mitteile, wohl aber, dass sich Erkenntnis in allen möglichen Bereichen, zum Beispiel in der Soziologie, wie Caillois ebenfalls gezeigt habe (vgl. 1994c: 468), durch eine »poetische Erfahrung« anleiten lassen sollte. So schrieb Paz in einem Brief an Caillois: »Meiner Meinung nach ist die Erfahrung, an die Sie sich annähern, eine ›poetische Erfahrung‹ und besteht darin, die Welt als ein System von Korrespondenzen zu sehen, ein Netz von Übereinstimmungen […]« (Paz 1994d: 468).

O CTAVIO P AZ : K RITIK

DER

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Paz hielt es für möglich, dass Menschen diese universelle Verbundenheit erfahren, denn er war davon überzeugt, dass alles Streben des Menschen in der Gewissheit wurzelt, dass die Ureinheit wieder herstellbar sei. Die deutlichsten Zeichen dafür sah Paz in der Liebe, ein Gefühl, das auch als Sehnsucht nach der Ureinheit verstanden werden kann. Fassen wir kurz zusammen: Es sind im Wesentlichen zwei Punkte, in denen Paz im Collège de Sociologie eine Seelenverwandtschaft entdeckt haben muss: 1. Die Heterologie als »Wissenschaft des Unassimilierbaren, des geheimen Rests und des Marginalisierten der Vernunft und homogener Ordnung« (Moebius 2006: 16) entspricht seinen Erfahrungen als Poet: Der Dichter ist immer auf innigster Tuchfühlung mit all dem, was die Menschen bewegt und nicht bloß mit dem, was nur einen Teil der Menschheit zulassen möchte. So schreibt er in Der Bogen und die Leier von 1956: »Das Gedicht begründet das Volk, weil sich der Dichter auf den Fluß der Sprache zurückbesinnt und aus seiner Quelle trinkt« (Paz 2003: 41). Dabei handelt es sich nicht bloß um eine ausschließlich ästhetische Erfahrung. Vielmehr weiß Paz diese Erfahrung als soziale Erfahrung zu deuten: »Im Gedicht begegnet eine Gesellschaft den Fundamenten ihres Seins, mit ihrem ersten Wort. […] Das Gedicht ist das Bindeglied zwischen der Gesellschaft und dem, was sie begründet« (ebd.).

Diese soziale Funktion der Poesie sieht er dadurch gefährdet, dass der Dichter zum »Propagandisten« und für politische Zwecke instrumentalisiert wird (vgl. ebd.). Sie wäre aber auch genauso gefährdet, wenn sich der Dichter aus bloß ästhetischen Gründen der Poesie widmen würde. Paz hat diese »reine Poesie« immer aufs Heftigste zurückgewiesen. 2. Die zweite Affinität zum Collège und vor allem zu Roger Caillois entdeckt Paz in der Idee der universalen Verbundenheit. Die Arbeiten Caillois offenbaren eine durch und durch poetische Erfahrung als epistemologische Grundorientierung, die auch Paz für eine sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose nutzen will (vgl. Paz 1994d: 468; auch Kapitel 10.1). Im nächsten Kapitel möchte ich zeigen, wie Paz auf der Grundlage der poetischen Erfahrung eine poetische Soziologie der Moderne entwickelt.

10. Von der poetischen Erfahrung zur poetischen Soziologie

Ist es im vorherigen Kapitel darum gegangen zu zeigen, dass Paz von genuin soziologischen Ideen und Ansprüchen motiviert wurde, möchte ich nun zeigen, dass seine Soziologie nicht losgelöst von seiner Poetik und von der poetischen Erfahrung verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang sind seine bereits zitierten Charles Eliot Norton Lectures (vgl. Paz 1985) aufschlussreich. Sie beginnen mit einer Diskussion des Begriffs der Moderne aus einer durchaus sozialwissenschaftlichen Perspektive. Im Mittelpunkt steht dabei wieder in den ersten beiden Kapiteln die Kritik der zeitlichen Logik, die das Denken und Handeln in modernen Gesellschaften prägt und sich vor allem durch eine geradlinige, in die Zukunft strebende Zeitkonzeption charakterisiert. Mit einer eindrucksvollen kulturvergleichenden Geste zeigt Paz nicht nur überzeugend, dass die moderne Zeitkonzeption genauso kontingent ist wie die anderer Kulturen und Zivilisationen, sondern auch, worin ihre Probleme liegen. Einmal mehr sieht Paz diese in der Tendenz der scheinbar unbremsbaren Beschleunigung sozialer und historischer Prozesse (vgl. ebd. 23). Dadurch entstehe ein nicht mehr zu stillendes Verlangen nach geschichtlichen Transformationen – »Revolutionen« im klassisch-modernen Sinn, wie weiter oben bereits ausgeführt wurde (vgl. Kapitel 9.2) –, die einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und der jeweiligen Tradition heraufbeschwören. Gerade in diesen zur Gewohnheit gewordenen historischen Brüchen vermutet Paz aber selbst schon eine Tradition: die »Tradition des Bruchs« (la tradición de la ruptura). So unterscheidet sich auch die Moderne nicht grundsätzlich von anderen Zivilisationen: Hinter ihrer

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expliziten Negation der Tradition steht in Wirklichkeit bloß die Konstruktion einer anderen Tradition. Im zweiten Kapitel diskutiert Paz die bereits erwähnten Konsequenzen, welche die moderne Zeitkonzeption für die Modernisierungsund Entwicklungstheorien hatte. Dabei besteht er darauf, dass auch die Moderne nicht die eine universale Zivilisation darstelle, sondern dass sie »exklusiv okzidental« sei (ebd. 46). Diese Relativierung der Moderne darf jedoch nicht als ein Argument für einen radikalen Kulturrelativismus verstanden werden. Vielmehr zeigt sich hier Pazʼ Anspruch, die »westliche« Kultur zu »provinzialisieren«. Das heißt, er folgt einer Motivation, die auch in aktuellen postkolonialen Argumentationszusammenhängen zum Ausdruck kommt und darin besteht zu zeigen, dass die »westliche« Moderne nicht universaler oder partikularer ist als andere Kulturen (vgl. Chakrabarty 2002). Paz geht dann aber noch einen entscheidenden Schritt über dieses Argument hinaus. Anstatt es auf der »Dekonstruktion« des »europäischen Universalismus« (Wallerstein 2006) beruhen zu lassen, wusste er, dass Alternativen notwendig waren. Er sah ganz genau, dass keine Kultur und keine Gesellschaft mehr unabhängig von den anderen existierten. Zwei historische Erfahrungen nennt er in diesem Zusammenhang immer wieder: Die »Entdeckung Amerikas startete die Vereinigung des Planeten« (Paz 1994e: 21). Und schließlich war es wieder die mexikanische Revolution, die vor allem die Frage nach »unserer Situation in der modernen Welt« stellte (ebd. 25). Die de facto-Einheit der modernen Welt wollte Paz ins Bewusstsein rufen, denn »zum erstenmal in unserer Geschichte sind wir Zeitgenossen aller Menschen« (Paz 1998: 188). Gleichzeitig war er sich aber ebenfalls darüber im Klaren, dass die Einsicht der Einheit der modernen Welt nur vor dem Hintergrund des Bewusstseins der eigenen historischen Erfahrungen Mexikos sinnvoll sein kann. Das Scheitern der Illusion, dass die westliche Moderne die eine Zivilisation aller Menschen werden könne, beunruhigt Paz allerdings. Für ihn ergibt sich daraus eine der gewaltigsten Herausforderungen unserer Zeit: »Wir leben – wie der ganze Planet – in einer entscheidenden, lebensgefährlichen Konjunktur: Durch die Vergangenheit sind wir verwaist, und die Zukunft bleibt uns noch zu schaffen. Die Weltgeschichte ist bereits eine gemeinsame Aufgabe und unser Labyrinth das aller Menschen« (ebd.: 169).

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POETISCHEN

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Als »lebensgefährlich« muss Paz hier die Tendenz verstanden haben, die sich seit den 60er und 70er Jahren abzuzeichnen begann. Anstatt der großen Revolution, die eine neue universale Gesellschaft zu errichten beabsichtigte, beobachtet Paz, dass soziale Bewegungen überall in der Welt sich von ideologischen Ansprüchen distanzierten und sich mehr und mehr als Ausdruck von Konflikten kultureller Unterschiede verstanden. Es sei daran erinnert, dass Samuel P. Huntington in seiner berühmten These vom Clash of Civilizations etwa 20 Jahre später eine ganz ähnliche These verbreiten würde. Im Gegensatz zu Huntington ging es Paz allerdings nicht darum, die kulturellen Unterschiede absolut zu setzen, sondern zu erklären, dass die kulturellen Konflikte in erster Linie als »Kämpfe um Anerkennung« (luchas por el reconocimiento) verstanden werden müssten (Paz 1985: 218). Mit dieser Idee machte sich Paz zum Vordenker einer anderen These, die ebenfalls 20 Jahre später unter anderem in Axel Honneths Versuch einer Neuformulierung der Kritischen Theorie prominent werden sollte (vgl.: Honneth 1992). Und schließlich war Paz in seinem Erklärungsversuch dieser Anerkennungskämpfe dem aktuellen Postkolonialismus voraus, indem er darauf aufmerksam machte, dass der Auslöser dieser Konflikte in der Tatsache der kulturellen Demütigung zu finden sei, die viele Gesellschaften seit ihrer Kolonialisierung erfahren hätten. Letztendlich ginge es also nicht so sehr um die Schaffung einer neuen Gesellschaft als vielmehr darum, den Raum in der bereits globalen Gesellschaft gerechter zu verteilen und gleichzeitig Raum für kulturelle Unterschiede zu schaffen (vgl. Paz 1985: 216-218). Die große Aufgabe der Gegenwart bestehe also darin, die Welt in ein kreatives Experiment einer Neuschöpfung zu verwandeln, in der alle Menschen Sinn für ihre jeweils eigenen Lebenswelten in dieser gemeinsamen Welt definierten (vgl. Kapitel 1). Nur glaubte Paz, dass die moderne wissenschaftliche Rationalität allein nicht in der Lage sei, ein solches Projekt erfolgreich zu lenken. Ihr Universalismus sei zu abstrakt und verliere die wahren Bedürfnisse der Menschen aus den Augen (vgl. Kapitel 2). Um Letztere wieder bewusst zu machen, rekurriert Paz auf die poetische Erfahrung. »Im Streit mit dem modernen Rationalismus entdecken die Dichter eine Tradition wieder, die so alt ist wie der Mensch selbst […]. Ich meine die Analogie, die Vision unseres Universums als eines Systems von Entsprechungen (corres-

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pondencias) und die Wahrnehmung der Sprache als das Spiegelbild des Universums« (ebd.).

In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, dass die poetische Erfahrung epistemologische, ontologische, anthropologische und nicht zuletzt normative Funktionen erfüllt, die sich in einer poetischen Soziologie der globalen Moderne verdichten, wie sie Paz in seinem Das Labyrinth der Einsamkeit zum Ausdruck gebracht hat.

10.1 D IE

EPISTEMOLOGISCHE D IMENSION DER POETISCHEN E RFAHRUNG

In einer neueren Anthologie, die ausgewählte Prosatexte und Gedichte von Octavio Paz enthält, bemerkt der Herausgeber, Ricardo Cayuela Gally, dass die Reflexionen über Poesie eine der großen »Konstanten« im Denken Pazʼ darstellen (vgl. Cayuela 2008: 15). Tatsächlich muss auch Paz selbst sie für so wichtig gehalten haben, dass er die Texte, in denen er diese Überlegungen zum Ausdruck bringt, in den 15 eindruckvollen Bänden seiner Obras Completas im ersten Band versammelt, während seine Gedichte erst in den Bänden 11 und 12 erscheinen. Dass sich Paz bis an sein Lebensende immer vor allem als Dichter verstanden sehen wollte, bedarf vor diesem Hintergrund sicherlich einer Erklärung. Die blieb Paz seinen Lesern aber nicht schuldig. So konstatiert er in der Einleitung des ersten Bandes: »Sehr bald begann mich der Umstand, Gedichte zu schreiben – eine gleichzeitig mysteriöse wie alltägliche Aktivität –, neugierig zu machen: warum und wozu? Fast gleichzeitig verwandelte sich diese Frage, ohne ihre Intimität zu verlieren, in eine allgemeinere Frage: Warum dichten Menschen? Wann fingen sie an, zu dichten? Die Reflexion über Poesie und über die verschiedenen Arten, in denen sich die poetischen Anlagen im Menschen manifestieren, hat sich in eine zweite Natur verwandelt. Die beiden Aktivitäten waren seitdem nicht voneinander zu trennen« (Paz 1995b: 16).

Paz war kein Dichter, dem es nur ums Dichten ging. Zu seiner Leidenschaft für diese Tätigkeit gesellte sich sehr bald in seinem Leben die Begeisterung dafür, das Geheimnis des Dichtens zu begreifen. Dabei glaubte Paz aber fest daran, dass die Reflexion über das Vermögen zu

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POETISCHEN

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dichten letztendlich Einsichten in die Natur des Menschen zulässt, die der Moderne zwar abhanden gekommen sind, die sie aber wieder erinnern müsse. Pazʼ Poetik beschränkt sich also nicht darauf, das Phänomen des Dichtens im engen Sinn zu erläutern. Vielmehr verfestigt sie sich zu einer äußerst soliden theoretischen Grundlage, von der aus Paz die Fragen nach Mensch und Welt zu beantworten versucht. Seine in diesem Sinne theoretischen Ambitionen werden dabei von einer Kritik der Moderne geleitet, die von der Aufklärung und vom Romantizismus inspiriert ist und in der zwei unterschiedliche Erkenntnisformen – kreative Imagination und Verstehen (entendimiento) – zusammenfließen sollen. Im Mittelpunkt des kognitiven Selbstverständnisses, von dem sich Paz auch in seinen soziologischen Ambitionen leiten lässt, steht die »poetische Erfahrung«. In einem frühen, aber – wie Paz selbst an mehreren Stellen zugibt – bahnbrechenden Aufsatz mit dem Titel Poesía de soledad y poesía de comunión (»Poesie der Einsamkeit und Poesie der Kommunion») (Paz 2008 [1943]) entwickelt er einen ersten Versuch, diese zu beschreiben. Dabei macht Paz gleich am Anfang deutlich, was er unter »Wirklichkeit« versteht: nämlich alles, »was wir sind, alles was uns umgibt, uns aufrecht hält und uns gleichzeitig auffrisst und nährt, reicher und veränderbarer, lebendiger [ist] als alle Ideen und Systeme, die sie festzuhalten versuchen« (ebd. 93).

Hier schon zeigt Paz, dass es ihm nicht um einen undifferenzierten Holismus geht, in dem Welt und Mensch in konfliktloser Eintracht existierten. Diese Idee ist Paz immer fremd gewesen. Zum Teil wegen seiner Verpflichtung der Moderne gegenüber, die sich ja gerade als Befreiung des Menschen aus der Vormundschaft der Welt verstehen will. Zum Teil aber auch, weil er der Vorstellung, dass Welt und Mensch irgendwann tatsächlich eins gewesen seien, mit Skepsis betrachtet. Vor allem seine kulturelle Sensibilität warnt ihn davor, die Idee der holistischen Eintracht ernst zu nehmen: »In der menschlichen Gesellschaft erscheint etwas, was nicht in der Natur existiert: die Kultur« (Paz 1994f: 477). Diese »kulturphilosophische« Öffnung der Erkenntnistheorie erinnert an Cassirers kulturphilosophische Wende der Kantschen Kritik (vgl. Cassirer 2002). Auch Cassirer ist, nachdem er in der Warburg-Bibliothek kulturanthropologische Arbeiten über den Mythos

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studierte, zu der Überzeugung gekommen, dass in jeder menschlichen Kultur die Beziehung zwischen Mensch und Welt, Subjekt und Objekt etc. bereits problematisch gewesen sein musste und dass folglich die Vorstellung, dass erst in der okzidentalen Moderne diese Spannung latent werde, falsch sei. Die Frage ist also nicht, ob der Unterschied zwischen »Welt« und »Mensch« grundsätzlich als solcher erfahren wird, sondern wie unterschiedliche Kulturen mit dieser Erkenntnis umgehen. Die modernen Wissenschaften stellen für Paz nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Die Figur des Physikers sei für sie paradigmatisch. Paz beobachtet in diesem Paradigma vor allem den Wunsch danach, die »Wirklichkeit« dem Menschen zu unterwerfen (vgl. auch Kapitel 2.1). Das Interesse »des Physikers« bzw. der modernen Wissenschaft allgemein an der Materialität kultiviere die Vorstellung, dass sich Wirklichkeit in materielle Gegenstände zerlegen lässt; Welt erscheine so in einer »künstlichen Reinheit«, die sich besser manipulieren ließe. Diese Haltung der Welt gegenüber sei zwar schon in vormodernen Zeiten in der Magie zum Ausdruck gekommen, aber erst in der Moderne konkurrenzlos geworden. Die Philososphie spielt dabei eine kaum zu unterschätzende Rolle, denn in ihr kulminieren die Anstrengungen, eine Welt aus Begriffen zu konstruieren. Paz erkennt zwar, dass Begriffe in die Materialität der Sprache eingelassen sind, er kritisiert aber an der Sprache der Moderne, dass sie sich auf die Funktion reduziere, Begriffe zu produzieren. Somit ist Sprache mit einem Baukasten manipulierbarer Blöcke vergleichbar, die sich je nach Bedarf umorganisieren lassen. Paz kommt zu dem Schluss: »Es ist nicht übertrieben, diese menschliche Haltung eine Haltung der Herrschaft zu nennen« (Paz 2008: 94; vgl. Kapitel 2.1). Dagegen grenzt er eine zweite Form der Beziehung des Menschen zur Welt ab, in der der Herrschaftswunsch durch »Desinteresse« ersetzt werde. Diesmal geht es nicht darum, die Wirklichkeit zu manipulieren und zu beherrschen, sondern darum, Formen für eine harmonische Koexistenz von Menschen und Welt zu finden. Schon an dieser Stelle drängt Paz darauf, dass sich sein Ziel nur erreichen ließe, wenn die lineare, in die Zukunft rasende moderne Zeitkonzeption entmachtet würde. Er schlägt vor, der Vektor der alternativen Zeitkonzeption solle in die Vergangenheit gerichtet sein. Ihr Ziel ist es, an die »ursprüngliche« Einheit von Mensch und Welt zu erinnern. Auch wenn es diese in Wirklichkeit nie gegeben habe, gingen doch viele Kulturen zumindest

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davon aus, dass es einen solchen »paradiesischen« Zustand einmal gegeben haben müsse. Pazʼ Ziel besteht also nicht darin, zu einer historischen Zeit der Eintracht zurückzukehren, sondern die in den Kulturen deponierten Anspielungen auf eine solche Zeit zu erinnern, um aus dem so ermöglichten Bewusstsein der Einheit jene Kräfte zu extrahieren, die eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Welt zumindest vorstellbar machen. Die wichtigste dieser Kräfte ist für Paz die Liebe. Während die erste – die »magisch-wissenschaftliche« Einstellung zur Welt – den Menschen also aus der Welt herausreißt, stellt die zweite – die an Liebe sich orientiert – die Möglichkeit dar, sich Mensch und Welt in harmonischer Ausgeglichenheit vorzustellen. Während die erste Einstellung »Einsamkeit« produziert, strebt die zweite hin zur »Kommunion«. Paz wollte diese beiden Einstellungen nicht weiter polarisieren. Im Gegenteil, so wie er seine eigene Tätigkeit in der ergänzenden Dialektik von Reflexion und Imagination verortete, plädierte er schon in seinem Aufsatz von 1943 dafür, die wissenschaftliche und poetische Welteinstellung miteinander zu kombinieren. Dazu sei es aber notwendig, die moderne Radikalisierung des entzweienden und vereinsamenden Denkens einzudämmen. Schon in diesem frühen Artikel wollte Paz Poetik und Epistemologie nicht losgelöst vom Bewusstsein für die soziale Wirklichkeit sehen. Diese verstand Paz, wie viele seiner Zeitgenossen1, in einer Tendenz zunehmender Vereinsamung. Nun stellt zwar die Erfahrung der Einsamkeit für Paz eine anthropologische Invariable dar, Unterschiede ließen sich aber bezüglich der Art und Weise festmachen, wie die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen mit dem Gefühl der Einsamkeit umgingen. Vor dem Hintergrund des so möglichen Vergleichs stellte Paz den modernen Gesellschaften ein sehr unbefriedigendes Attest aus. »Es ist nicht verwunderlich, dass für einige sensible Seelen die einzige Berufung in unserer Zeit die Einsamkeit oder der Selbstmord sind« (Paz 2008: 100). Diesen Tendenzen galt Pazʼ Feldzug, denn für ihn stellt Poesie zweierlei dar: Kritik und Utopie. Die »bürgerliche« Gesellschaft könne sich mit der Poesie allerdings nicht mehr identifizieren. Ihr ginge es in

1

Hier ließe sich zum Beispiel an Erich Fromm (2001), aber auch an David Riesman (1967) erinnern.

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erster Linie darum, das Erreichte zu bewahren und unverändert fortzusetzen (vgl. 99). Dagegen sei Poesie aber immer subversiv und evoziere, was sich dem Erreichten widersetzt. Poesie als Kritik verstanden, bestätigt die Einsamkeit des Poeten. Poesie ist deshalb aber nicht antisozial. Im Gegenteil, in ihr wirkt eine Dialektik, die die Erfahrung der Einsamkeit mit dem Reflex der Suche nach einer neuen Vereinigung mit der Welt, das heißt der mitmenschlichen wie der »natürlichen«, kompensiert. Poesie ist die Suche nach »Kommunion«. Paz benutzt hier den religiösen Begriff, ohne damit aber irgendeine religiöse Autorität aufzurufen. Dennoch scheint ihm die Vereinigung mit anderen Menschen und mit der Welt etwas Heiliges zu sein. Den meisten Religionen wirft er vor, gefangen in Prozessen der »Bürokratisierung« den Sinn für das tatsächlich »Heilige«, nämlich das, was in der Verbindung mit »dem Anderen« wurzelt, aus den Augen verloren zu haben (vgl. 98). Somit ist es also der Dichter, dem es zukommt, an die Möglichkeit der Überwindung der Einsamkeit durch Kommunion zu erinnern. Genau darin sieht Paz die utopische Potenz der Poesie. In diesem frühen Aufsatz folgt Paz nicht nur den Spuren der Poesie bzw. der poetischen Erfahrung, hin zu einer Synthese von Moderne und dem »Urmenschlichen«, sondern setzt diese für eine äußerst originelle Kritik der modernen Gesellschaft ein. Einen wichtigen Schritt weiter in diese Richtung stellt sein Buch El arco y la lira (Der Bogen und die Leier) von 1956 dar. Paz schließt in diesem Buch an seinen frühen Artikel von 1943 an. Wieder geht er zunächst der Frage nach, was »Wirklichkeit« bedeutet. Er versucht nun zu zeigen, dass sich das Cartesianische Modell irrt, wenn in ihm davon ausgegangen wird, dass »Wirklichkeit« als etwas »Äußeres« zu begreifen sei, was sich nur durch das »Bewusstsein« erfassen ließe (vgl. Paz 2003: 161). Diese Trennung zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt ist für Paz eine künstliche. Das werde deutlich, wenn eingesehen würde, dass die Welt des Menschen immer auf Sprache angewiesen ist. Hier lässt sich an Heidegger erinnern, der die Sprache als das »Haus des Seins« definierte (vgl. Heidegger 1976: 312; vgl. auch Kapitel 5.3) und den Paz in seinem Buch von 1956 als einen wichtigen Stichwortgeber anführt.2 Entsprechend der Idee Hei-

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Paz hat immer wieder beteuert, dass Heidegger einen bedeutenden Einfluss auf ihn hatte (vgl. schon Paz 2003). Am bekanntesten in dieser Hinsicht ist

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deggers erklärt Paz die Sprache als die Welt des Menschen, der »wir nicht entkommen können« (Paz 2003: 31). Hier kommen Pazʼ anthropologische Absichten sehr deutlich zum Vorschein. Er erklärt: Wenn die Sprache als Welt des Menschen verstanden werden muss, dann stelle auch das »Erforschen der Sprache […] einen Teil einer kompletten Wissenschaft vom Menschen dar« (ebd.). »Wirklichkeit« ist also nicht unabhängig von Sprache, und das heißt, nicht unabhängig vom Menschen zu begreifen. Mit dieser Feststellung einher geht aber die Frage nach der Art der Sprache, die der Wirklichkeit, die sich dem Menschen in und durch Sprache vermittelt, am ehesten gerecht wird. Für Paz besteht kein Zweifel daran, dass es jene Form der Sprache sein muss, der sich der Mensch schon immer bedient hat. Gemeint ist damit die poetische Sprache. In ihr spricht die Wirklichkeit selbst: »Der Dichter wählt seine Worte nicht aus. Wenn man sagt: der Dichter sucht seine Sprache, bedeutet das nicht, dass man durch Bibliotheken und über Märkte streift, um alte und neue Wendungen aufzugreifen, sondern ein unentschlossenes Zögern zwischen den Worten, die ihm tatsächlich gehören und denen, die er in Büchern oder auf der Straße gelernt hat. Wenn der Dichter sein Wort gefunden hat, erkennt er es: Es war schon in ihm. Und er war schon in ihm. Das Wort des Dichters verwechselt man mit ihm selbst. Er ist sein Wort« (ebd. 45).

Der Dichter bedient sich nicht der Worte, sondern, im Gegenteil, er dient den Worten: Er ist ihr »Diener« (ebd. 47). Die Wirklichkeit spricht in und durch den Dichter. Dies ist aber nur möglich, wenn der Dichter auch gleichzeitig ein Teil der Wirklichkeit ist.

vermutlich ein Interview, das er 1987 César Salgado gegeben hat und in dem es heißt: »In meinem Buch Der Bogen und die Leier (1957) sind die Spuren Heideggers sichtbar. […] Mich interessierte die Ontologie Heideggers als ein Fundament – oder exakter: als ein Ausgangspunkt für die Ausarbeitung einer Poetik« (Paz/Salgado 2003: 532). Pazʼ Aufsatz von 1943 ist allerdings ein Zeugnis dafür, dass er diese Poetik bereits entworfen hatte, bevor er Heidegger selbst las, denn wie er im selben Interview mit César Salgado selbst erinnert, war es José Gaosʼ Übersetzung von Sein und Zeit aus dem Jahre 1951, die ihn mit Heidegger bekannt gemacht hat (vgl. ebd. 531).

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Später wird Paz betonen, dass dies besonders für die historische und soziale Wirklichkeit des Menschen gilt. Gegen die marxistische Geschichtsphilosophie argumentiert er dann, dass der Mensch nicht durch Geschichte determiniert wird. Geschichte ist nicht »eine einheitliche und totale Wirklichkeit, die alles einschließt« (ebd. 188). Das bedeutet aber nicht, dass der Dichter über den geschichtlichen und sozialen Wirklichkeiten stehe. Was ihn mit diesen Wirklichkeiten vielmehr verbindet, ist die Sprache, denn Dichter erfinden keine völlig neue Sprache, sondern dichten in einer schon gegebenen Sprache. Auch wenn Dichten über diese Sprache und die Wirklichkeit, die sich durch sie konstitutiert, hinausweist und »andere Welten« eröffnet, geht es doch immer wieder von dem Gegebenen aus. »Der Dichter spricht von den Dingen, die seine sind und die seiner Welt, auch wenn er uns von anderen Welten erzählt« (ebd. 189). Und etwas später heißt es: »Der Dichter entkommt der Geschichte nicht, selbst wenn er sie verneint und ignoriert. Seine geheimsten und persönlichsten Erfahrungen verändern sich in sozialen und historischen Worten« (ebd.). Diese Überlegungen stellen den Schlüssel für Pazʼ soziologische Relevanz dar, auf die noch zurückzukommen sein wird. Die dichterische Welterschließung in und durch die poetische Erfahrung der Wirklichkeit ermöglicht also eine Art »immanenter Kritik«, eine Kritik der Wirklichkeit von innen, die sich an den Widersprüchen dieser Wirklichkeit selbst entzündet. Das Labyrinth der Einsamkeit stellt, wie wir noch sehen werden, eine Kritik der Moderne dar, die auf dieser Einsicht aufbaut. Diese Vorstellung von der poetischen Sprache und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit und zum Menschen vergleicht Paz mit der nichtpoetischen Sprache, der Prosa. Während die poetische Sprache jene Sprache ist, die Menschen immer schon gesprochen haben, ist Prosa eine neuere Errungenschaft, deren Ursprung Paz im Römischen Reich vermutet. Das Römische Reich charakterisiert sich in diesem Zusammenhang auch durch einen »Imperialismus des Diskurses«, der in der Moderne wieder konsequent fortgesetzt werden sollte (vgl. ebd. 73). Unter dem Regime des Diskurses trennt sich die Wirklichkeit von der Sprache und dem Menschen. Wirklichkeit zerfällt nun in begriffliche Häppchen, die, wie Paz bereits in seinem Aufsatz von 1943 zeigen wollte, beliebig manipulierbar zu sein scheinen. Diese Operation diene keineswegs der Entfaltung von Rationalität. Im Gegenteil, der Mensch werde nicht von der Vernunft an seine eige-

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nen Grenzen erinnert, sondern wolle über diese hinaus. Von »übermenschlichen« Ambitionen getrieben wolle er der Wirklichkeit Herr werden, indem er sich der Sprache bemächtige (vgl. ebd. 77). Der Tod Gottes werde durch die Vergöttlichung des Menschen kompensiert. Der Weg in einen falschen Humanismus, in dem sich der Mensch nicht seiner selbst bewusst wird, sondern sich selbst vergöttert, sei dadurch geebnet. Gegen diese Tendenz setzt Paz auf die poetische Erfahrung, die, wie er selbst schreibt, »sich nicht grundsätzlich von der Erfahrung der Indentifikation mit der ›Wirklichkeit der Wirklichkeit‹ unterscheiden lassen will« (ebd. 112). Anders als der durch abstrakte Begriffe sich konstituierende moderne Diskurs erlaubt die poetische Erfahrung, die Wirklichkeit in Bildern (imágenes) zu fassen. »Diese Erfahrung, die den Ruf des Unsagbaren genießt, findet ihren Ausdruck und kommuniziert sich in und durch Bilder« (ebd.). Der Unterschied zum modernen Diskurs, der wissenschaftlichen Abhandlung usw. besteht für Paz darin, dass das »Bild nicht erklärt«, sondern »einlädt, zu rekonstruieren und buchstäblich zu erleben« (ebd. 113). Und einmal mehr äußert Paz mit allem Nachdruck, wie ernst es ihm mit der Kritik am modernen Zeitverständnis ist. Die poetische Erfahrung widerspricht diesem ernergisch. Wenn die poetische Sprache die Ursprache des Menschen ist, wenn Poesie ursprünglicher ist als diskursive Prosa, wenn das poetische Sprechen in Bildern ursprünglicher ist als die begriffliche Architektur moderner Diskurse, dann erinnert die poetische Erfahrung an eine Zeit, die der Moderne vorausging. Aber schon diese Vorstellung des »Voraus« und »Zurück« ist strenggenommen Resultat des modernen, linearen Zeitbegriffs, von dem sich Paz ja distanzieren möchte. Sie setzt voraus, dass die Moderne tatsächlich eine Epoche darstellt, die vorhergehende Epochen und ihre Besonderheiten bereits überwunden habe. Indem sich Paz aber in seinem Denken immer zuerst auf den Menschen besinnt, stellt er fest, dass der Ehrgeiz der Epochen – allen voran der Moderne – letztendlich blind dafür macht, dass das Archaische im Menschen weiterexistiert. Die poetische Erfahrung aktualisiert immer wieder aufs Neue den urspünglichen Umgang des Menschen mit Sprache sowie das in ihr zum Ausdruck gebrachte Weltverständnis. »Die poetische Erfahrung ist eine Offenbarung unseres ursprünglichen Zustands« (ebd. 154). »Poetische Erfahrung« ist also eine Vergegenwärtigung des Ursprünglichen im Menschen und damit des Menschen, wie er wirklich ist.

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Die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Vergegenwärtigung deutet bereits an, welche Zeitdimension für Paz die wichtigere zu sein scheint. Es ist nicht die Zukunft, welcher der Eifer der lineraren Zeitkonzeption der Moderne gilt, aber auch nicht die Vergangenheit, was nur ein vektorieller Umkehrschluss desselben Zeitverständnisses wäre, sondern die Gegenwart. Die »poetische Praxis« stelle immer eine Vergegenwärtigung dar. Paz erklärt: »Das Gedicht stellt eine Vermittlung zwischen der Urerfahrung und dem Ganzen der nachfolgenden Handlungen und Erfahrungen dar, die nur Kohärenz und Sinn mit Bezug auf diese erste Erfahrung bekommen, die das Gedicht weiht. [D]ie chronologische Zeit – das gemeine Wort, die sozialen oder individuellen Bedingungen – sind einer entscheidenden Transformation ausgesetzt: Sie hören auf zu fließen, Folge zu sein, Augenblick, der danach und vor anderen identischen kommt und sich in den Anfang von etwas anderem verwandelt. In diesem Hier und Jetzt beginnt etwas: eine Liebe, eine heroische Handlung, eine göttliche Vision, ein Moment des Erstaunens […]« (ebd. 186-187).

Pazʼ Anliegen besteht nicht darin, in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern mit der Möglichkeit eines Anfangs die Gegenwart zu zelebrieren. Es ist der Einbruch des »Anderen«, den die poetische Erfahrung möglich macht. In einem Interview mit Juan Cruz aus dem Jahre 1992 fasst Paz seine Reflexionen über die Zeit noch einmal zusammen: »[...] ich ziehe es vor zu unterstreichen, dass es einen Wesenszug gibt, der unsere Epoche von anderen unterscheidet, besser gesagt, die Epoche, die gerade beginnt: ihre Kritik an der Moderne und an der linearen Zeit. Wir erleben den Untergang des Kultes der Zukunft. Meine Überzeugung, ich habe es oft gesagt, ist, dass die zentrale Figur der neuen Zeitvorstellung das Jetzt, die Gegenwart ist. Nicht in einem vulgaren, hedonistischen Sinn; ich sehe die Gegenwart, das Heute, als Konvergenzpunkt der drei Zeiten und der Fluchtpunkte der Existenz: die Schattenwelt und das Licht, das Leben und der Tod. Alles passiert und dieses Heute ist ein Immer« (Paz/Cruz 1995: 495).

Aber die Offenbarung der Gegenwart durch die poetische Erfahrung, und die Möglichkeit des Anfangs, die sie repräsentiert, ist doch auch zutiefst modern. Dies macht Paz in seinen Charles Eliot Norten Lec-

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tures deutlich. Indem er sich wieder dem Thema der sozialen Beschleunigung widmet, erklärt er: »Ich meine natürlich nicht, dass heute die Jahre und die Tage schneller verstreichen, sondern dass in ihnen mehr Dinge passieren. Es passieren mehr Dinge und alles passiert fast zur gleichen Zeit, nicht eines nach dem anderen, sondern gleichzeitig« (Paz 1985: 23).

Dieser durch und durch modernen Erfahrung schreibt Paz einen synthetischen Wert zu: »Beschleunigung ist Fusion: Alle Zeiten und alle Räume fließen zusammen in ein Hier und Jetzt« (Paz 1985: 23). Schließlich hat die moderne Implosion der Zeit in der Gegenwart auch Konsequenzen für die Vorstellung des Raums. Die alles in sich hineinziehende Gegenwart ist die Gegenwart, die alle Menschen miteinander teilen, ganz gleich, an welchem Ort der Erde sie sich befinden. Die Moderne war für Paz also vor allem durch diese Situation gekennzeichnet: Sie stellte den unwiderruflichen Zusammenschluss aller Orte der Erde dar. Und obwohl er so deutlich wie kaum jemand die kulturellen und zivilisatorischen Unterschiede sah, war er doch auch davon überzeugt, dass sich diese in der Einheit des Menschen aufheben: »[…] vielleicht überdecken die Widersprüche zwischen den Zivilisationen eine geheime Einheit: die des Menschen« (Paz 1985: 25). Die Moderne stellt für Paz also in ganz entscheidendem Maße das Zusammenwachsen der Welt dar, auf das wir uns heute mit dem Stichwort der Globalisierung beziehen. Hierin stellt er eine weltgeschichtliche Zäsur fest, deren größte Herausforderung darin liegt, die Menschheit nicht mehr bloß als einen »abstrakten Begriff der Humanisten« zu verstehen, sondern als eine »real existierende Einheit« (Hannah Arendt). Die Erfahrung des Menschen als Menschen sowie die Erfahrung der zusammenwachsenden Menschheit in der globalen Moderne stellen für Paz komplementäre Erfahrungen dar, die aber beide durch die poetische Erfahrung hindurch führen. Normativ entscheidend ist dabei für Paz die Erfahrung des Anderen, die sich ebenfalls in der poetischen Erfahrung manifestiert.

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10.2 P OETISCHE E RFAHRUNG ALS A LTERITÄTSERFAHRUNG UND IHRE NORMATIVEN K ONSEQUENZEN Xavier Rodríguez Ledesma schreibt: »For Latin Americans, it is not only that otherness configures our everyday horizon, but also that we, in turn, constitute otherness as this is perceived from the vantage point of modernity« (Rodriguez 2009: 236).

Moderne aus dem Blickwinkel der »Peripherie« betrachtet stelle das »unzähmbare« Andere immer wieder in den Mittelpunkt. Diese thematische Zentralität scheint auch Paz empfunden zu haben. So erklärt er Braulio Peralta gegenüber in einem Interview, das zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht wurde: »[...] Alle meine Schriften beziehen sich auf das, ja sie koexistieren sogar mit dem, was manchmal das Andere genannt wird. In meinen intimsten Gedichten, in denen ich mit mir selbst rede, rede ich mit dem Anderen, der ich bin; in meinen erotischen Gedichten mit dem Anderen; in meinen Schriften, die sich mit dem Thema der Religion, der Metaphysik oder der Philosophie beschäftigen, befrage ich das Andere. Wir Frauen und Männer leben immer mit anderen und gegenüber dem Anderen« (Paz/Peralta 2003: 393).

Das Zitat benennt die unterschiedlichen Dimensionen des menschlichen Lebens, in denen sich das »Andere« manifestiert. Es handelt sich dabei um die Erfahrungen des Selbst, des Menschen als Menschen und schließlich der Erfahrung, dass der Mensch ein soziales und kulturelles Wesen ist. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass das Andere etwas offenbart, was dem einzelnen Menschen nicht äußerlich ist. Die Erfahrung des Anderen tragen alle Menschen in sich. Sie ist konstitutiv für die Erfahrung des Selbst. Wenn Paz schreibt: »Ich bin nicht du und du bist mein Ich« (Paz 2003: 282), erkennt er den nicht aufgehbaren Rest der anderen Person an, macht aber gleichzeitig deutlich, dass die IchErfahrung nur durch die Erfahrung des »Anderen« überhaupt erst möglich wird. Oder anders gesagt: dass jeder Mensch das Andere in sich selbst erfährt. Hier teilen sich Einsichten mit, die an Kant erinnern und doch über ihn hinausgehen. Für Paz ist es nicht nur das Vermögen

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der Vernunft, die alle Menschen in sich selbst erfahren und die deshalb auch die Beziehungen zwischen den Menschen ethisch orientieren soll, sondern es ist die Erfahrung, dass es immer etwas gibt, was im »Ich« nicht vollends aufgeht und was wir doch in uns selbst erfahren. Hier wird Pazʼ Kritik am Identitätsdenken deutlich, die, wie wir noch sehen werden, schon im Labyrinth der Einsamkeit zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig stellt die Erfahrung des »Anderen« für den Menschen als Menschen eine konstitutive Erfahrung dar. Diese Erfahrung des Anderen war für Paz so zentral, dass er sogar glaubte, mit ihr die Erfahrung des Heiligen erklären zu können. Und wieder war es die Poesie, die dies offenbarte. Schon in seinem frühen Aufsatz Poesía de soledad y poesía de comunión tritt diese Idee deutlich hervor. Auf die Frage, was der Dichter mit seinen Gedichten tatsächlich bezwecken will, antwortet Paz: »Er versucht nicht [das Leben] zu verschönern, wie die Ästhetiker und die Literaten denken; auch versucht er nicht, sie gerechter oder besser zu machen, wie in den Träumen der Moralisten. Mittels des Wortes, mittels des Ausdrucks seiner Erfahrung sucht er die Welt heilig zu machen; mit dem Wort sakralisiert er die Erfahrung der Menschen und die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen Mann und Frau, zwischen den Menschen und ihrem eigenen Bewusstsein« (Paz 2008: 97).

Diese Selbstsakralisierung des Menschen wird von den meisten Religionen nicht mehr nachvollzogen. Sie suchen das Heilige nicht im Menschen, sondern in der Transzendenz oder der Mystik. Indem sich Paz aber auf die poetische Erfahrung besinnt, gräbt er den Zugang zum Ursprung der Erfahrung des Heiligen frei und macht deutlich, dass der Mensch nicht nur der Empfänger des Heiligen ist, sondern auch seine Ursache: »Der Mensch ist dank der Sprache Mensch, dank der Urmetapher, die ihn einen anderen sein ließ, der sich von der natürlichen Welt trennte. Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst schuf, indem der die Sprache schuf« (Paz 2003: 34).

Schließlich ist die Sehnsucht nach dem Anderen konstitutiv für die kulturellen und sozialen Welten, die sich Menschen schaffen. Alle Kulturen, Zivilisationen und Gesellschaften lassen sich als Resultate

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der menschlichen Erfahrung des Anderen verstehen. Sie erinnert den Menschen an seine Unvollkommenheit und gleichzeitig weckt sie in ihm eine existenzielle Sehnsucht nach dem Anderen. Paz diskutiert dieses Thema immer wieder aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, wenn er von der dialektischen Beziehung zwischen »Einsamkeit« und »Kommunion« redet (vgl. 1998: Kapitel IX). Der Mensch erlebt sich einsam und wird dadurch bewogen, die Union (»Kommunion») mit anderen Menschen zu suchen. Diese anthropologische Grundbestimmung erzeugt all jene Konstellationen menschlicher Sozialität und Kultur, die ihre Zeugnisse in der Geschichte der Menschheit hinterlassen haben. So unterschiedlich die konkreten Ausformungen dieser Formen auch sein mögen, sie alle teilen miteinander, dass sie die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Beziehungen der Menschen zur außerhumanen Welt regulieren. Ein solcher Erklärungsversuch menschlicher Sozialität und Kultur setzt sich in interessanter Weise von anderen Erklärungsversuchen ab. So zum Beispiel von der Idee, die Jan Assmann und andere vertreten, wonach Kultur als Resultat des menschlichen Bewusstseins des Todes verstanden werden solle (vgl. Assmann 2000). Zwar vertritt Paz eine ganz ähnliche Idee. So zum Beispiel in seinem Buch über Claude Lévi-Strauss, in dem er erklärt, dass das Bewsstsein des Todes für die Kultur konstitutiv sein muss (vgl. Paz 1996b: 515). Aber ich glaube, dass sich die Konsequenzen seines Denkens auch anders interpretieren lassen. Danach wäre nicht das Bewusstsein für den Verlust des Lebens konstituiv für Kultur, sondern das Gefühl der Einsamkeit und die daraus resultierende Sehnsucht nach dem Anderen. Schließlich macht es dieses Streben hin zum Anderen notwendig, die Beziehungen zu anderen Menschen sowie zur Welt als dem Anderen zu regulieren. Und genau darin liegt eine der wesentlichen Funktionen der Kultur. Aber die poetische Erfahrung ist für Paz keine »Erklärung unserer Kondition, sondern eine Erfahrung, in der sich unsere Kondition selbst offenbart oder manifestiert« (Paz 2003: 192). Es handele sich dabei um eine dynamisierende Erfahrung, die Paz als dialektische versteht. Sie verdanke sich einerseits der Mangelerfahrung der Unvollständigkeit des einzelnen Menschen und anderseits der Sehnsucht, sich mit den anderen Menschen und mit der Welt zu vereinen. Die Erinnerung an diese beiden Urerfahrungen nutzt Paz nicht, um für eine Rückkehr zu vormodernen Lebensformen zu plädieren. Im Gegenteil, für Paz erklären sie auch den Ursprung durch und durch moderner Werte:

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»Die poetische Erfahrung ist nichts anderes als die Offenbarung der conditio humana, das heisst, dieses unaufhaltsame Sich-Selbst-Transzendieren, in dem gerade ihre wesentliche Freiheit liegt« (Paz 2003: 191).

Sich-Selbst-Transzendieren als Resultat der poetischen Erfahrung und vor allem der Erfahrung des Anderen ist für Paz schon deshalb modern, weil es sich um konstitutive Erfahrungen für die Möglichkeit der Kritik handelt. Selbstverständlich bindet Paz diese, ähnlich wie Adorno, an die Sprache. Auch Adorno wusste, dass Kritik in einer »abgestandenen Sprache« nicht möglich sei. Kritik bedeutete für Adorno deshalb auch eine permanente Kritik der Sprache (vgl: Adorno 1997c). Er inspirierte sich bekanntlich an der modernen Kunst. Hauke Brunkhorst schreibt in diesem Zusammenhang: »Entscheidend ist, daß die Kritik der Kunst und nicht der Theorie folgt. [Die Kritik] läßt sich auf die Erfahrung von Widersprüchen und Antinomien, auf komplexe und unkontrollierte Situationen und Impulse ein und setzt sich ihnen aus, sie verliert sich in den Sachen, verfranst sich selbst in ihnen und verhält sich in solchem Vollzug der Kritik asketisch zu den vorgefertigten Lösungen der Theorie, die sie schließlich als Schein und falsche Verabsolutierung durchschaubar macht« (Brunkhorst 1995: 127).

»Kritik« bedeutet für Adorno auch ein Bewusstsein für das »Nichtidentische«, das Martin Seel als das »Heterogene«, das »Fremde«, das »Verschiedene«, das »Einmalige« und das »Besondere« erklärt (Seel 2004: 23). Dabei besteht Seel aber darauf, dass sich in all dem eine »individuelle Gegenwart von Dingen und Personen« (24) offenbare. Kritik wäre demnach auch für Adorno unzertrennlich an die Erfahrung des »Anderen« gebunden. Paz leitet nun seinen Begriff der Kritik aus der poetischen Erfahrung ab. Er entdeckt in der Poesie eine Sensibilität dafür, das »NichtIdentische«, das »Andere« zu kultivieren und vor allem der Versuchung zu widerstehen, sich mit dem Gegebenen abzufinden. »Kritik stellt für mich eine freie Form der Verpflichtung dar. Der Schriftsteller ist ein Scharfschütze, er muss die Einsamkeit aushalten, die es bedeutet, am Rand zu stehen. Dass wir Schriftsteller Randfiguren sind, ist eine Verurteilung, die gleichzeitig ein Segen ist. Am Rand zu stehen, gibt unserem Schreiben seinen Wert« (Paz/Fell 1994: 258).

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Der Dichter stellt das Organ der Alterität dar. Oder: »Schließlich präsentiert sich die Alterität und spricht durch den Mund des Einen« (Paz 1996c: 35). Wie bereits erwähnt, ist ein ganz entscheidender Begriff für Paz der Begriff der Kommunion. Wir haben ebenfalls schon gesehen, dass es sich um einen Begriff handelt, mit dem Paz das Streben des Menschen bezeichnet, sich mit anderen Menschen und mit der Welt zu vereinen. Es ließe sich annehmen, dass aus sozialtheoretischer Sicht der Begriff der Kommunion einer Art Kommunitarismus den Weg bereite. Dafür würde ein Text des mexikanischen Philosophen Luis Villoro sprechen, der 1949 erschien, also in jenem Jahr, in dem auch die ersten Entwürfe des Labyrinths veröffentlicht wurden. Der Titel des Textes weist eine nicht zu verkennende Nähe zu Pazʼ Gedanken auf: Soledad y comunión (Einsamkeit und Kommunion) (Villoro 2008 [1949]). Villoro schlägt in diesem Text eine Kritik der Moderne vor, die auf die zunehmende Individualisierung und »Vereinsamung« der Menschen abzielt. »Kommunion« ist für Villoro ein Gegenmittel, das sich aus den starken gemeinschaftlichen Bindungskräften extrahieren lässt. Doch Pazʼ Ideen könnten kaum weiter von einer solchen Art des Kommunitarismus entfernt sein. Der Begriff der Kommunion hat für Paz, wie bereits erwähnt, trotz seiner religiösen Tradition vor allem eine soziale Funktion. Er bezeichnet das Telos der Sehnsucht, des sich einsam fühlenden Menschen. Kommunion ist die Vereinigung mit dem »Anderen«. Paz weiß aber, dass diese Vereinigung immer nur provisorisch sein kann. Gemeint ist also kein Endzustand, sondern ein Prozess. Die Liebe offenbart die deutlichste Ahnung davon, was diese ewige Sehnsucht im Menschen bedeutet: Es ist das Verlangen, mit dem Anderen zu »verschmelzen«, »im Anderen zu sein« (Paz 2008: 94). Dabei gibt es nach Paz aber kaum eine Möglichkeit, diese Erfahrung zu institutionalisieren. Keine Gemeinschaft kann die Befriedigung der Sehnsucht nach Kommunion garantieren. Religiöse Gemeinschaften oder die Institution der Ehe sind von diesem Urteil nicht ausgeschlossen. Paz schrieb, sich auf die religiöse Gemeinschaft beziehend: »In der Kommunion, die der Dichter sucht, entdeckt er die geheimen Kräfte der Welt, die Kräfte, welche die Religion zu kanalisieren und zu benutzen versucht, wenn sie sie durch die kirchliche Bürokratie nicht auslöscht« (ebd. 98).

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Der Wille zur Kommunion ist also der Antrieb aller sozialen und kulturellen Prozesse. Diese Prozesse mögen sich nun in Gemeinschaften, Gesellschaften, Institutionen, dann aber auch Kulturen und Zivilisationen kristallisieren, entscheidend sind für Paz aber nicht diese Gebilde, sondern die kulturellen und sozialen Prozesse selbst, die unablässig weiterlaufen, angetrieben immer wieder von der Sehnsucht nach Kommunion, der Sehnsucht nach dem »Anderen«, die ihren Horizont in der Liebe findet. Liebe, Kritik und Freiheit stellen also die normativen Richtwerte dar, die Paz der poetischen Erfahrung entnimmt. Wie lassen sich die aus der poetischen Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse nun aber in einer Kritik der globalen Moderne miteinander verbinden?

10.3 P OETISCHE S OZIOLOGIE GLOBALEN M ODERNE

DER

Auch im Labyrinth der Einsamkeit geht Paz von der Zentralität der Erfahrung des »Anderen« aus. Schon im Epigraph offenbart sich dies in aller Deutlichkeit: »Das ›Andere‹ gibt es nicht: so lehrt der ›vernunftgemäße Glaube‹, die unheilbare Überzeugung menschlicher Vernunft. Identität = Realität, als ob am Ende mit absoluter Notwendigkeit alles ›ein und dasselbe‹ sein müßte. Aber das ›Andere‹ läßt sich nicht aus der Welt schaffen: es besteht beharrlich fort, es ist der harte Knochen, an dem die Vernunft sich die Zähne ausbeißt. – Abel Martin glaubte, kraft seines ›dichterischen Glaubens‹, der nicht weniger menschlich als der ›vernunftgemäße‹ ist, an das ›Andere‹, an die wesentliche Heterogeneität des Seins, mit anderen Worten, an die unheilbare ›Andersheit‹, der das ›Eine‹ unterworfen ist« (zit. in: Paz 1998: 5).

Dieses Zitat des spanischen Dichters Antonio Machado ersetzt gewissermaßen die Einleitung des Buches. In ihm scheint Paz das Substrat seines Themas gefunden zu haben, das er selbst in den folgenden Kapiteln aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln diskutieren wollte und das sich wiederum in drei große Themenbereiche auffächern wird: 1. die Frage nach Moderne und Modernisierung, nach der condition moderne, 2. die Frage nach der »Dialektik der Einsamkeit«, die Paz einen Einblick in die conditio humana ermöglichen soll, und 3. die Frage

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nach der condición mexicana, das heißt die Erfahrungen, die Mexikaner mit der Moderne gemacht haben. Diese drei Themenbereiche untersucht Paz mit der Sensibilität der poetischen Erfahrung, ohne dabei aber seinen soziologischen Anspruch aufzugeben. In einem seiner letzten Interviews, das Octavio Paz Enrico Mario Santí gegeben hat, bestand er noch einmal darauf: »[Das Labyrinth der Einsamkeit] ist ein Buch über eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist nicht, was die Menschen allein denken, sondern was sie untereinander sprechen und denken. Das Wort untereinander ist fundamental, denn die Gesellschaft ist vor allem eine Beziehung und das Wort ›untereinander‹ ist vor allem dies: eine Beziehung« (Paz/Santí 2005: 18).

Die poetische Erfahrung, so muss Paz geglaubt haben, erlaubt einen privilegierten Zugang zu dieser Beziehungswelt des Sozialen, weil Menschen vor allem in einer Welt aus Sprache leben: »Wir können der Sprache nicht entkommen. […] die Worte leben nicht außerhalb von uns. Wir sind ihre Welt und sie die unsere« (Paz 2003: 31). Dabei liegt es Paz ganz fern, sich mit der formalen Logik dieser sprachlichsozialen Beziehungsstrukturen abzugeben. Dies ist an seiner oben bereits erwähnten Kritik an Marshall McLuhan deutlich geworden. Es sei noch einmal kurz daran erinnert, dass Paz McLuhans Apologie der elektronischen Kommunikationsmedien ablehnte und ihm vorwarf, nicht eingesehen zu haben, dass trotz ihrer Bedeutung für die gegenwärtigen Gesellschaften auch die Massenmedien »Produkt einer Gesellschaft und konkreter Menschen« seien (Paz 1996a: 602). Pazʼ Programm einer Kritik moderner Gesellschaften wird motiviert durch die unbedingte Achtung des »konkreten Menschen«. Umgesetzt wird es aber durch die Aufmerksamkeit auf das, was Menschen konkret sagen, wenn sie sich aufeinander beziehen und gemeinsam Sinn produzieren, mit dem sie die Welt, in der sie leben, ausstatten. Dabei verstand sich Paz nicht als neutraler Beobachter. Das Labyrinth der Einsamkeit stellt vor diesem Hintergrund ein sehr anspruchsvolles Unternehmen dar. In ihm setzte sich Paz zum Ziel, an den Sinngebungsprozessen in der aktuellen Welt in allen drei Erfahrungsdimensionen einzugreifen: die Erfahrung mit der globalen Moderne, die Erfahrung des Menschen als Mensch und die Erfahrung der mexikanischen Moderne.

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La condition moderne

Vor ein paar Jahren beschrieb der britische Historiker David Brading das Labyrinth mit folgenden Worten: »Das zentrale Postulat dieser Studie war die Existenz des mexikanischen ›Seins‹, verkörpert in der Nation, mit der er [Octavio Paz] sich in aller Innigkeit identifizierte, ständig das ›kollektive Wir‹ evozierend, dessen geistige Reise er durch die Zeiten kartografieren wollte« (Brading 2002: 37-38).

Brading stellt seine Interpretation des Buches damit eindeutig in die Tradition derer, die das Labyrinth als einen Beitrag zu der großen Anzahl von Schriften sehen, welche versuchten, das »Wesen«, die »Ontologie«, die »Psychologie«, den »Charakter«, die »Kondition«, ja sogar die »Sexualität« der Mexikaner zu beschreiben3. Der Zweck all dieser Anstrengungen wäre aber verkannt, wenn er ausschließlich in der Feststellung der nationalen oder kulturellen Identität Mexikos durch den Blick auf sich selbst gesucht würde. Zumindest implizit hat in all diesen Versuchen der Selbstfindung die Frage danach, wo Mexiko im Vergleich zu anderen Nationen, Völkern oder Kulturen in der globalen Moderne steht, eine wichtige Rolle gespielt. Es geht also immer auch um den Vergleich verschiedener Modernisierungsoptionen (vgl. Miller 2008). Fordert die Frage nach Moderne und Modernisierung nicht immer den Vergleich aller Gesellschaften und Völker, die in der globalen Moderne unwiderruflich in ein komplexes Beziehungs- und Abhängigkeitsverhältnis verwickelt sind? Oder anders gefragt: Ist nicht der Vergleich verschiedener Formen, sich in der modernen Welt einzurichten, die eigentliche Frage nach der Moderne, vor deren Hintergrund alle anderen Fragen – wie die nach dem Grad der erzielten Rationalität, der Demokratie, der Urbanität usw. – in den Hintergrund treten? »Moderne« würde sich demnach nicht auf die Charakteristiken der »westlichen« Moderne beschränken, sondern es wären grundsätzlich auch andere Beziehungsmodalitäten zwischen Menschen, Gesellschaften, Völkern, Kulturen und Zivilisationen vorstellbar. Antworten auf die Frage nach solchen alternativen Modernen jenseits des Modells

3

Diese Stichworte stammen aus einer Anthologie zu diesem Thema, die Roger Bartra vor einigen Jahren veröffentlicht hat (Bartra 2002).

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der Cosmopolis (Toulmin 1992; vgl. Kapitel 2.1) lassen sich in den mexikanischen Identitätsdebatten durchaus finden. Paz hatte ein ganz besonders ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Frage nach der nationalen Identität von der Frage nach den Beziehungen zu den jeweils »Anderen« nicht getrennt werden kann. Er sah schon viele Jahrzehnte, bevor Ulrich Beck und andere ihren Feldzug gegen den »methodologischen Nationalismus« begannen, dass sich moderne Gesellschaften nicht angemessen verstehen lassen, wenn sie durch den kategorialen Rahmen des Nationalstaates betrachtet werden. Drei Strategien setzt Paz ein, um diesen Rahmen zu sprengen: 1. den Vergleich mit anderen Gesellschaften. Im Labyrinth der Einsamkeit ist der Vergleich zu den Vereinigten Staaten besonders wichtig (vgl. auch Monsiváis 2001); 2. eine Wertschätzung transnationaler Dynamiken, wie wir sie heute vor allem aus der Migrationsforschung kennen; 3. und schließlich ein Verständnis von Moderne als unwiderruflich globalem Beziehungsgeflecht aller Menschen. Der Einfluss, den Pazʼ Versuch des Verständisses der Vereinigten Staaten auf Das Labyrinth der Einsamkeit hatte, ist kaum zu unterschätzen. Es darf nicht übersehen werden, dass Paz gleich zu Beginn des Buches erklärt, dass ihm viele der Gedanken, die sich in ihm niedergeschlagen haben, während eines zweijährigen Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten kamen (vgl. 1998: 22). Der Aufenthalt – 1943 bis 1945 – fiel in eine Zeit, in der die Weltmachtstellung der nordamerikanischen Nation besiegelt wurde. Diese Situation sollte linke Intellektuelle in der Nachkriegszeit immer wieder beschäftigen. In vielen lateinamerikanischen Ländern, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg die Suche nach gerechteren Gesellschaftsmodellen anhielt und die viele Intellektuelle und Aktivisten in dieser Zeit ideologisch in die Nähe der Sowjetunion und der durch sie vertretenen Option des Sozialismus brachte, wurden die Vereinigten Staaten zum Inbegriff all dessen, was sie ablehnten: neoimperialistsche Expansion, die im Namen eines auf Konsum geeichten Kapitalismus korrupte Diktaturen und Militärregimes in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt« unterstützte und dazu beitrug, Befreiungsbewegungen, wie sie sich in Chile, Guatemala, Nicaragua oder El Salvador bemühten, neue Gesellschaften nach sozialistischem Vorbild zu konstruieren, niederzuschlagen. Paz stand dieser Seite der US-amerikansichen Außenpolitik nie unkritisch gegenüber, aber er wehrte sich doch dagegen, eine hochkomplexe Gesellschaft allein auf der Grundlage außenpolitischer Ent-

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scheidungen ihrer Regierungen zu beurteilen. Sein zweijähriger Aufenthalt gab ihm Gelegenheit, die US-amerikanische Gesellschaft und ihre Kultur genauer kennenzulernen. In seinem autobiographischen Essay (Itinerario) sollte er sich an die dabei gesammelten Eindrücke erinnern: »In Spanien habe ich die Brüderlichkeit dem Tod gegenüber kennengelernt, in den Vereinigten Staaten die Höflichkeit gegenüber dem Leben« (Paz 1993: 26). Nach Erklärungen suchend, bemüht sich Paz, weitverbreitete Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Die kulturellen Besonderheiten der Vereinigten Staaten lassen sich nicht, wie häufig angenommen wird, auf den Puritanismus zurückführen. Es handelt sich vielmehr um eine »[u]niverselle Sympathie, die ihre Wurzeln nicht im Puritanismus, der maniatischen Reinheit, die eine Ethik der Trennung ist, sondern im pantheistischen Romantizismus Emersons und der kosmischen Herzlichkeit Whitmans hat« (ebd.).

Hier gibt sich Pazʼ Methode zu erkennen. Statt den Blick an den institutionellen Strukturen und pragmatischen Entscheidungen von Politikern zu vereisen, sucht er in der »Dichte« der Kultur nach abgelagerten Erfahrungen, nach Aufschluss über die soziale Wirklichkeit der Gesellschaft. Diese findet er in der Philosophie und – wie könnte es anders sein – in der Dichtung. Doch nicht die Modernität der Vereinigten Staaten wollte Paz mit diesen kultursoziologischen Spitzfindigkeiten infrage stellen, sondern die herkömmlichen, vor allem sozialwissenschaftlichen Kriterien, mit denen Modernität empirisch nachgewiesen werden sollte. Volkswirtschaftlicher »Reichtum«, »Demokratie«, »Kapitalismus«, »industrielle Revolution« – all jene Kriterien, die gemeinhin als Indiktoren von Modernität angenommen werden – sind für Paz nicht unwesentlich, aber gerade mit dem Anspruch des Vergleiches von Gesellschaften unzureichend. »Wie tief und entscheidend der Einfluß des Produktionssystems im Aufbau einer Kultur auch sein mag, so kann ich doch nicht glauben, daß allein der Besitz einer Schwerindustrie und die Unabhängigkeit von jedem wirtschaftlichen Imperialismus diese Unterschiede verschwinden ließe; [...]« (Paz 1998: 30).

»Modernisierung« war für Paz ein notwendiges Übel, das er seiner eigenen Gesellschaft nicht vorenthalten wollte, dessen negative Implika-

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tionen er aber ebenso deutlich erkannte wie ihre Vorteile. 1993 schreib er rückblickend: »Modernisierung, ein Wort, dass noch nicht in Mode war, war gleichzeitig unser Unheil und unsere Rettung. Unheil, weil die moderne Gesellschaft weit entfernt davon ist, ein Beispiel zu sein [...]. Rettung, weil nur eine radikale Transformation der Gesellschaft, die einhergeht mit einer wirklichen Demokratie und der Abschaffung des Patrimonialismus [...] uns Vertrauen und Stärke geben kann, um uns einer chaotischen und unbarmherzigen Welt entgegenzustellen« (Paz 1993: 40).

Die Erkenntnis der Ambivalenz der Modernisierung verband Paz mit der Erkenntnis der Tatsache, dass es die eine Modernisierung bzw. die eine Moderne nicht geben konnte. Der Vergleich verschaffte Paz eine klare Vorstellung davon, dass Moderne viele unterschiedliche Formen annehmen kann, ja annehmen muss. In diesem Sinne könne Moderne nur als »leerer Name« (Paz 1994a: 19), das heißt: als Herausforderung verstanden werden, die jede Gesellschaft auf ihre Weise annimmt und zu lösen versucht. »Was ist Moderne? Zunächst einmal ist es ein falscher Terminus: es gibt soviele Modernen, wie es Gesellschaften gibt«, schrieb Paz unmissverständlich (Paz 1994g: 35). Hier zeigt sich aber gleichzeitig, dass er davon ausgegangen sein muss, dass Moderne das gemeinsame Schicksal aller Gesellschaften darstelle. Oder anders gesagt: dass die Tatsache, dass alle Gesellschaften, alle Menschen heute ein gemeinsames Schicksal teilen, im Wort »Moderne« zum Ausdruck kommt. Nicht Moderne wäre dann im strikten Sinne das Ziel, sondern das Sich-Einrichten in dieser gemeinsamen Welt, die alle Menschen miteinander teilen. Warum sollten wir diesen Umstand nicht »modern« nennen? Anstatt also der Frage nachzugehen, worin die Besonderheiten einer modernen Gesellschaft liegen, und bei der Beantwortung dieser Frage kritiklos die von den Modernisierungstheorien verbreitete Vorstellung nachzubeten, fragt Paz nach kulturellen Besonderheiten der US-amerikanischen Gesellschaft und erklärt, warum diese Besonderheiten den vermeintlich universellen Charakterzügen der Moderne entsprechen. Heute würden wir sagen, Paz unternahm damit einen Versuch, das US-amerikanische Selbstverständnis ihrer Moderne zu »provinzialisieren«.

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Eine dieser Besonderheiten, die Paz in dem nordamerikanischen Land sehr beeindruckt haben musste, war die »Sicherheit und das Selbstvertrauen ihrer Bewohner«. Paz erkannte hierin vor allem eine »offensichtliche […] Übereinstimmung mit ihrer Umwelt« (Paz 1998: 30). Er glaubte, dies könne nur bedeuten, dass es zwischen den Idealen der Gesellschaft und ihrer Realität keine großen Diskrepanzen geben könne: »die USA bildeten eine Gesellschaft, die ihre Ideale verwirklicht« (ebd. 31). Dies muss Paz schon deshalb interessiert haben, weil er davon überzeugt war, dass das postkoloniale Mexiko seit der Unabhängigkeit das genaue Gegenteil erlebe. In seinem eigenen Land seien die abstrakten Diskurse der Freiheit, des Liberalismus, des Positivismus oder des Sozialismus immer abstrakt geblieben. Das heißt, sie hätten nie den Weg in die politische und soziale Wirklichkeit des Landes gefunden. In den Vereinigten Staaten aber erkannte Paz Sinn und Talent dafür, die modernen Werte und Ideale real werden zu lassen. Der vermeintliche »Realismus«, der den Vereinigten Staaten unterstellt werden könne, sei in Wirklichkeit ein Idealismus, der so stark ist, dass er die Wirklichkeit tatsächlich zu beeinflussen versteht. Nicht darum, die »Wirklichkeit kennenzulernen« ginge es, sondern darum, »sie sich zunutze zu machen« (ebd. 31). Gerade dieser starke Glaube an die eigenen Werte und die Überzeugung, dass diese Werte die Wirklichkeit tatsächlich beherrschen können, provoziere aber auch die »positive«, will sagen »unkritische« Einstellung, die US-Amerikaner der Wirklichkeit gegenüber einnehmen: »Von Kindheit an unterwirft es Männer wie Frauen einem unerbittlichen Anpassungsprozeß« (ebd. 33). Dieser Anpassungprozess orientiere sich an »kurzen Formeln«, die unaufhörlich wiederholt würden. Nun ließe sich behaupten, dass dieses Modell vor dem Hintergrund des offensichtlichen Erfolgs zu rechtfertigen sei. Dabei stellt sich aber die Frage nach den Kriterien, die diesen »Erfolg« messen sollen. Für Paz steht fest, dass das Kritierium, das über Erfolg und Misserfolg gesellschaftlicher Modelle entscheidet, nur der Mensch selbst sein kann. Vor diesem Hintergrund fällt sein Urteil über das nordamerikanische Modell nicht so versöhnlich aus. Er sieht im Anpassungszwang, der die US-amerikanische Gesellschaft so stark zu prägen scheint, eine »Verschwörung« gegen das menschliche Leben: »Die wohlwollende, höflich-leere Maske, die anstelle der dramatischen Beweglichkeit des menschlichen Antlitzes tritt, und das Lächeln, das diese

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schmerzlich erstarren läßt, zeigen deutlich, wie weit unser Innerstes durch den rücksichtslosen Triumph der Prinzipien über die Instinkte gestört werden kann. Der verborgene Sadismus, wie er fast in allen zwischenmenschlichen Formen der modernen nordamerikanischen Gesellschaft zutage tritt, ist vielleicht nur eine Flucht vor der Versteinerung, die die Moral der keimfreien Reinheit ihr aufzwingt […]« (ebd. 34).

Paz sieht im US-amerikanischen Modell, genau wie im mexikanischen, vor allem aber den Versuch der Bewältigung der existenziellen Aufgabe, eine Beziehungsmodalität zwischen Mensch und Welt festzulegen. Die Entscheidung für die Anpassung des Menschen an die idealen Bedingungen der Welt stellt für Paz keine gelungene Lösung dar. Sie gaukelt dem Menschen vor, in einer Welt zu leben, die seinem Vorbild entspricht; einer Welt von »Spiegeln« (ebd. 35). Wer aber nur sich selbst im Spiegel suche, verschließe sich dem Anderen gegenüber und vergehe sich an der conditio humana. Wer könnte bestreiten, dass sich diese Unfähigkeit, das Andere wahrzunehmen, in den soziologischen Theorien – allen voran den Modernisierungstheorien – fortsetzen sollte? Es ist bereits erwähnt worden, dass sich Pazʼ Interesse nicht mit dem derjenigen deckt, die Antworten auf die Frage nach der nationalen oder kulturellen Identität suchen. So erklärt er, indem er auf den mexikanischen Philosophen Emilio Uranga und dessen Versuch, eine »Ontologie des Mexikanischen« zu artikulieren, anspielt: »Was mich betrifft: ich wollte weder Ontologie noch Philosophie des Mexikanischen machen« (Paz/Fell 1994: 243-244). Im Labyrinth gibt Paz zu, dass er sich von den Ideen Samuel Ramosʼ hat inspirieren lassen, der für die Identitätsdebatte in Mexiko wichtige Stichworte lieferte, indem er den Mexikanern ein »verschlossenes Wesen« unterstellte (vgl. Ramos 1990), was ja auch Paz in gewisser Weise diagnostiziert. Er macht aber genauso deutlich, dass sich seine eigene »Methode« von der Ramosʼ unterscheiden wollte (Paz 1998: 156-157). Dabei erklärt er sich eher Jorge Cuesta verbunden, der weniger über die »Psychologie« der Mexikaner spekulierte, als sich vielmehr die Frage nach dem »Sinn unserer Tradition« stellte (vgl. ebd. 157). Hier deutet sich ein kulturkritisches Programm an, dem Paz in der Tat zutiefst verpflichtet war. Dieses Programm unterschied sich aber nicht nur durch seine Methode, sondern auch durch seine Ergebnisse von der Identitätsdebatte. Im Gegensatz zu all jenen Versuchen, zum »Wesen« des Mexikaners vor-

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zudringen, um sein Sosein zu erklären, interessiert sich Paz vielmehr für die Möglichkeiten der Transformation von Identitäten vor dem Hintergrund der globalen Moderne. Dieses besondere Interesse erklärt, warum er sich im ersten Kapitel des Labyrinths mit einer eher marginalen Gruppe von Mexikanern beschäftigt. Es handelt sich um jene Subkultur mexikanischer Immigranten in den USA, die vor allem in Los Angeles in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihr Zentrum fand: die sogenannten Pachucos. Wie jede Art urbaner Subkultur fielen auch die Pachucos zunächst durch ihre Kleidung auf. Elementar war der sogenannte zoot suit, ein Anzug, der aus einem knielangen Sakko mit extrem weiten Schultern und weiten, am Fußgelenk zugebundenen Hosen bestand. Dazu gehörten in der Regel ein großer Hut (pancake tando) und eine lange Goldkette, die bis ans Knie herunterhing. Paz fand in dieser Art sich zu kleiden nicht so sehr eine Antwort auf die Suche nach irgendeiner Identität im positiven Sinne, sondern vielmehr den Versuch, die auf Bequemlichkeit ausgerichtete Kleidung der US-Amerikaner lächerlich zu machen und damit eine Art der Abgrenzung zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht nur von der US-amerikanischen Kultur wollte sich der Pachuco unterscheiden, sondern auch von dem, was gemeinhin als »das Mexikanische« verstanden wird. Paz schreibt: »Vor allem sind sie Rebellen aus Instinkt, gegen die der nordamerikanische Rassismus sich mehr als einmal erhoben hat.4 Doch dem Pachuco liegt nichts an seiner Rasse noch an der Nationalität seiner Vorfahren. Und obwohl seine Haltung einen hartnäckigen und fast fanatischen Lebenswillen bekundet, äußert sich dieser Wille nicht konkret, sondern in dem widerspüchlichen Entschluß – was später einleuchtet –, nicht wie die übrige menschliche Umwelt zu sein. Der Pachuco will gar nicht zu seinem mexikanischen Ursprung zurückkehren, aber

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Paz spielt hier wahrscheinlich auf den zoot-suit-Aufstand an, der 1943 in Los Angeles eskallierte. Gemeit ist damit nicht ein Aufstand der Pachucos, sondern Angriffe US-amerikanischer Soldaten gegen die zoot-suit-Träger. Der Anlass war die bereits beschriebene Art der Keidung, durch die sich die Pachucos hervortaten. Die textilverschwendenden Anzüge wurden zu Kriegszeiten, in denen Textilien rationiert wurden, als Provokation verstanden. Tieferliegende Gründe wurzeln aber im Rassismus und in der Xenophobie.

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ebensowenig – so sieht es bis heute jedenfalls aus – mit dem nordamerikanischen Leben verschmelzen« (ebd. 24).

Der Pachuco demonstriert für Paz also einen unbeugbaren Willen, anders zu sein (ebd. 25). Und genau darin scheint Paz das Prinzip einer Kultur am Werk zu sehen, das ihm sympathischer ist als die Vorstellung, kulturelle Identität sei an ein vermeintlich unveränderliches Wesen gebunden. Letztere stellt für Paz nichts anderes dar als eine »geschickte Ausflucht für unsere Unfähigkeit, etwas Neues zu schaffen« (ebd. 21). Aus aktueller Sicht lässt sich Pazʼ Interesse an den Pachucos aber auch als ein frühes Beispiel dafür verstehen, was in der aktuellen Sozialforschung Ludger Pries folgend »Soziologie transnationaler Sozialräume« genannt werden könnte (vgl. Pries 2008). Die mexikanische Migration in die Vereinigten Staaten repräsentiert in der aktuellen Migrationsforschung ein bereits klassisches Thema, und Pazʼ Überlegungen dazu könnten durchaus als eine frühe Grundlage dieser Forschungstradition betrachtet werden. Es handelt sich gleichzeitig um ein Thema, das wesentlich dazu beiträgt, das Verständnis der Moderne zu revidieren. Es macht deutlich, dass der moderne Sozialraum nicht auf die Grenzen nationalstaatlicher Territorien reduziert werden kann. Habermas hat Paz an einer berühmten Stelle einen »Parteigänger der Moderne« genannt (vgl. Habermas 1990a: 37). Er muss eine Art Seelenverwandtschaft wahrgenommen haben, als er dies schrieb. Dabei sind die Unterscheide zwischen Habermasʼ Moderne und der Pazʼ kaum zu übersehen und hoffentlich schon deutlich geworden: Habermas zeichnet das Bild einer Moderne, in der es für das »Andere« keinen Platz gibt. Für Paz hingegen ist es gerade dieser Grenzbereich hin zum »Anderen«, der den Ort der Moderne in seinem Denken definiert. Es wäre schon deshalb nicht falsch, Paz eher einen »Grenzgänger« der Moderne zu nennen. Er überschreitet ständig Grenzen – die zwischen Ländern, Kulturen, Epochen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden oder solche, die die Wissenschaften von anderen Wissensbereichen trennen sollen. Grenzen überschreiten, besonders solche, die Länder, Kulturen und Sprachen voneinander trennen, ist etwas, was immer mehr Menschen in der Moderne tun. Das Labyrinth der Einsamkeit stellt vor diesem Hintergrund eine der ersten Diagnosen der Moderne aus der Sicht eines Grenzgängers dar. Es wagt sich in die

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schwierige und komplexe Welt der Moderne hinein, indem es diese vom Standpunkt der Grenze aus zu begreifen versucht. Die Dringlichkeit einer solchen Epistemologie der Grenze ergibt sich aus der Veränderung der modernen Welt. Die Welt sei dabei, ihre Zentren zu verlieren. »Heute hat sich der Mittelpunkt der Welt verschoben: so daß wir alle, einschließlich Europäer und Nordamerikaner, periphere Wesen geworden sind. Wenn es überhaupt kein Zentrum mehr gibt, stehen wir alle am Rand« (ebd. 166).

Das bedeutet auch, dass wir uns alle im Niemandsland der Grenze befinden. Die Moderne ist eine Lebensform der Grenze. Paz, der Grenzgänger, ist deshalb so durch und durch modern. b)

Die conditio humana

Liliana Weinberg hat in einem Beitrag, den sie für eine Anthologie über den mexikanischen Humanismus im 20. Jahrundert verfasst hat, darauf aufmerksam gemacht, dass Paz die Kritik der Moderne mit einem »kritischen Humanismus« verbindet. »Im Falle Pazʼ […] ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass aus seinem Werk heraus sich die Präsenz eines fundamentalen, existenziellen Elements bemerkbar macht, das sich bis in die von ihm selbst erinnerten Evokationen der Kindheit zurückverfolgen lässt: und zwar die ursprüngliche Intuition eines Auseinanderreißens von Mensch und Welt, eine Trennung von Individuum und Urgemeinschaft, in der er später die gesamte conditio humana sieht und in der Dialektik Einsamkeit-Kommunion neu formuliert und zur tatsächlichen Matrix seines Denkens macht« (Weinberg 2004: 373).

Pazʼ Anthropologie unterscheidet sich aber von unzähligen anderen Versuchen, das »Wesen« oder die »Natur« des Menschen zu bestimmen. Für Paz stand fest, dass alle Menschen die conditio humana in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren. So wie der Dichter seine Worte nicht selbst wählt, sondern die Worte den Dichter suchen, müsste unsere Erfahrung unserer selbst als Menschen dadurch zustande kommen, dass der Andere sich in uns offenbart. Vielleicht ist die Problematisierung der conditio humana bereits ein Alarmsignal. Sie

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könnte anzeigen, dass die Erfahrung unserer selbst als Menschen selten geworden ist. Philosophische Anthropologie wäre dann eher das Symptom einer Krise, in der die Menschen ihre Menschlichkeit zu verlieren scheinen. Die philosophische Anthropologie wäre demnach ein Versuch, diesem Prozess der Deshumanisierung entgegenzuwirken. In seinem Buch über Claude Lévi-Strauss macht Paz aber deutlich, dass er dieser Strategie philosophischer Theorien, die sich darum bemühen, das »Wesen« oder die »Natur« des Menschen zu bestimmen, nicht traut: »[D]ie philosophische Sicht ist ein Ganzes, in dem viele Dinge fehlen« (Paz 1996b: 527). Paz setzt gegen diese Strategie der Vernunft darauf, die Erfahrung des Menschen als Menschen durch poetische Erfahrung zu rehabilitieren. Wahrscheinlich vor dem Hintergrund des Auseinanderbrechens der Welt, das sich in den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts auf ganz dramatische Weise ankündigte und durch den Kalten Krieg und den »Nord-Süd-Konflikt« fortgesetzt wurde, bestand Paz darauf, nach Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits politischer und kultureller Unterschiede zu suchen. Wenn es gelinge, diese zu finden, sei die Menschheit der Verwirklichung ihrer Menschlichkeit durch alle Krisen hindurch einen gewaltigen Schritt näher gekommen. Enthusiastisch meinte Paz im Labyrinth: »Heute hat die Geschichte ihre Einheit wiedergefunden. Sie ist zu dem geworden, was sie anfänglich war: eine Mediation über den Menschen« (Paz 1998: 168).Auch wenn sich dieses Programm kaum so deutlich entfalten konnte, wie es Paz sich gewünscht hätte, lässt sich die Gültigkeit des in ihm enthaltenen normativen Anspruchs auch für die aktuelle Phase der globalen Moderne behaupten. Die Konflikte, denen wir uns überall auf der Welt gegenübersehen, lassen sich nur lösen, wenn wir in der Lage sind, einen universellen Maßstab anzulegen, der sich an der von uns allen geteilten Menschlichkeit orientiert. Das muss Paz gemeint haben, als er schrieb: »Das Schicksal jedes Einzelmenschen unterscheidet sich nicht mehr von dem des Menschen überhaupt« (ebd. 168). Die moderne Welt war für Paz eine Welt, die den gesamten Planeten umspannt. Das bedeutete für den mexikanischen Dichter aber vor allem, dass es sich um eine Welt handelt, deren Chance und Aufgabe darin bestehe, sich aus dem Bewusstsein unserer gemeinsamen Menschlichkeit heraus neu zu erfinden. Weltbewusstsein und Humanismus fließen im Denken dieses Schriftstellers unweigerlich ineinander.

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Diese Einsichten sind für Paz keineswegs abstrakt und theoretisch. Er leitet sie vielmehr aus seinen kulturkritischen Beobachtungen ab, denen er sich im Labyrinth widmete. Immer wieder stößt er dabei auf Menschen, denen es letztendlich darum ging, Menschen zu sein. So zum Beipiel der Pachuco, dessen Wunsch, »anders« zu sein, den Wunsch, Mensch zu werden, in sich trägt: »In jedem Menschen schlummert die Möglichkeit, ein anderer Mensch zu werden oder, genauer gesagt, wieder zu sein« (ebd. 36). Es ist schon gesagt worden, dass Paz weniger an der Feststellung der mexikanischen Identität interessiert war als daran, was sich über Mexikaner als Menschen sagen lässt. Die verbissene Suche nach der eigenen Identität sieht er dabei eher als Hindernis; sie kann dazu führen, Verhalten anzunehmen, die das, was alle Menschen miteinander teilen, ignorieren (vgl. 49). Deshalb besteht Paz darauf: »Der Mexikaner will weder Indio noch Spanier sein; ebensowenig will er von ihnen abstammen. Er verleugnet sie, und er behauptet weniger, ein Mestize zu sein, als dessen Abstraktion: ein Mensch« (ebd. 90).

Nun ist die Besinnung auf die eigene Tradtion zwar nicht unwesentlich. Paz wusste aber auch, dass bereits die Problematisierung der Tradition ein durchweg modernes Merkmal darstellt. Der von den Modernisierungstheorien proklamierte Konflikt zwischen »Tradition« und »Moderne« existiere deshalb nicht. Alle Menschen bedürften einer Tradition. Den sogenannten »traditionalen Gesellschaften« unterstellt Paz: »mehr, als ein Bewusstsein von Traditionen zu haben, leben sie mit und in ihnen« (Paz 1985: 26). Andererseits zeichneten sich moderne Gesellschaften nicht dadurch aus, Traditionen abzuschaffen, sondern sie zu problematisieren. Auch moderne Gesellschaften könnten nicht ohne Traditionen existieren, sie müssten ihre Tradition aber selbst »erfinden« (Hobsbawm/Ranger 1983). Vor dem Hintergrund der Vielfalt von Optionen, die sich in modernen Gesellschaften trotz der ernergischen Versuche, die kulturelle Vielfalt gegen eine homogene nationale Kultur auszutauschen, nicht dezimiert haben, glaubt Paz, dass bei der Wahl der jeweils eigenen Tradition Entscheidungen getroffen werden müssen. Nun mag in Mexiko dieser Prozess der »Erfindung« einer eigenen Tradition ein schwieriger und bis heute nicht abgeschlossener sein, für Paz stand aber fest, dass in ihm immer auch »die Idee des Menschen, die wir selbst unter Aufopferung unserer na-

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tionalen Besonderheiten zu verwirklichen suchten«, eine leitende Funktion hatte (Paz 1998: 157). Die Aufgabe, die Paz aus seinen Beobachtungen ableitete, besteht vor allem in der Versöhnung des Universalen mit dem Besonderen. Es ginge nicht darum, eine nationale Identität zu erfinden, sondern darum, einen eigenen Weg zur Menschlichkeit zu finden. Die entscheidende Frage laute also: »Wie sollen wir eine Gesellschaft, eine Kultur schaffen, die unsere eigene Humanität nicht verleugnet, sie aber auch nicht in eine leere Abstraktion verwandelt« (ebd. 187-188). Paz wußte, dass diese Frage nicht nur den Mexikanern gestellt ist, sondern allen Menschen, die in der globalen Moderne miteinander verbunden sind. Die Frage nach der conditio humana ist aber nicht nur untrennbar an die Frage nach der condition moderne gekoppelt, sondern auch an die Frage nach der condición mexicana. Sie bildet das Scharnier, das die unterschiedlichen Dimensionen der Erfahrung in der globalen Moderne aus mexikanischer Sicht zusammenhält und Orientierung im »Labyrinth der Einsamkeit« geben soll. c) La condición mexicana: Im Labyrinth (post-)kolonialer Erfahrungen Das Labyrinth der Einsamkeit erinnert mich an ein anderes Buch, das heute als eines der frühen Dokumente postkolonialen Denkens verstanden wird. Ich spiele hier auf Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde an. Das Buch erschien gute zehn Jahre nach der Publikation des Labyrinths. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Fanon Pazʼ Labyrinth gelesen hatte. Die Affinitäten, die, wie noch deutlich werden soll, zwischen beiden Büchern existieren, erklären sich also nicht aus gegenseitiger Beeinflussung, sondern gehen wohl eher auf ähnliche Erfahrungen beider Autoren mit und in der kolonialen und postkolonialen Moderne zurück. Fanons Buch inspiriert sich vor allem an den Dekolonisierungskriegen in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg. Es versucht, die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontinuitäten und Brüche kolonialer bzw. postkolonialer Bedingungen in diesen Ländern zu beschreiben. Wie andere Arbeiten Fanons sucht es nach einer Sprache, mit der diese Bedingungen bewusst gemacht werden sollen. Eine solche Sprache müsse über die kritischen Diskurse des globalen Nordens hinausgehen. So erkärt Fanon zum Beipiel, warum sich Befreiungsbe-

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wegungen in den »unterentwickelten Ländern« eher an den Notwendigkeiten der Landbevölkerung orientieren sollten und nicht an der in diesen Ländern privilegierten Schicht des urbanen Proletariats (vgl. Fanon 1981: 93). Die Rolle und die Funktion des Proletariats sei in postkolonialen Gesellschaften eine andere als in den frühindustrialisierten Ländern: »Es stellt nämlich den Teil des kolonisierten Volkes dar, der für das Funktionieren der Kolonialmaschine notwendig und unentbehrlich ist [...]« (ebd.). Auch Paz erkannte im Labyrinth, dass die Sprache des kritischen Denkens, das sich an Marx und vor allem an den Auslegungen seiner Gedanken durch den offiziellen Marxismus orientierte, die Situation in Mexiko nicht gebührend zu artikulieren vermochte. Es bedürfe daher einer »sprachlichen« Anstrengung, um die Besonderheiten der Probleme in Mexiko überhaupt deutlich werden lassen zu können. Diese Probleme ließen sich nicht adäquat denken, wenn lediglich versucht würde, die mexikanische Gesellschaft auf den Pfad der »WeltArbeiter-Bewegung« zu bringen, wie es marxistisch orientierte Bewegungen auch in Mexiko versuchten5 (vgl. Paz 1998: 156). Wenn die Befreiung des Proletariats keine befriedigende Antwort auf die bohrenden Fragen postkolonialer Gesellschaften bereitstelle, dann gelte es, sich auf die Grundbedingungen der Befreiung zu besinnen. In diesem Zusammenhang zitiert Paz Marx zwar: »Jeder Radikalismus ist – nach Marx – ein Humanismus, denn der Mensch ist die Wurzel der Vernunft und der Gesellschaft« (ebd. 142). Er macht aber gleichzeitig deutlich, dass es eben die Frage des Humanismus sein soll, das heißt, die Frage danach, was ein menschenwürdiges Leben beinhaltet, an der sich Befreigungsbewegungen orientieren sollten. Pazʼ kritisierte am »realexistierenden« Sozialismus im Wesentlichen, dass er die humanistische Orientierung längst aufgegeben habe. Und noch einmal: Diese humanistische Orientierung war für Paz wichtiger als kulturelle oder nationale Identitäten. Ähnlich dachte auch Fanon: »Im Grunde muss man eine Konzeption vom Menschen haben« (Fanon 1981: 172). Oder:

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Interessante Untersuchungen über das frühe sozialistische Denken in Mexiko hat vor kurzem der Historiker Carlos Illades präsentiert (vgl. Illades 2008).

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»Wenn der Nationalismus nicht erklärt, bereichert und vertieft wird, wenn er sich nicht sehr rasch in politisches und soziales Bewußtsein, in Humanismus verwandelt, dann führt er in eine Sackgasse« (ebd. 174).

»Politisches und soziales Bewusstsein« bedeutet auch für Fanon nicht »Klassenbewusstsein«, sondern Besinnung auf die grundsätzliche Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Paz würde dem noch hinzugefügt haben, dass aus diesem Bewusstsein nur ein postnationales Ziel resultieren kann, welches in dem Versuch mündet, auch noch die »nationale Einsamkeit« zu überwinden und die »Kommunion« aller Menschen anzustreben. Fanon war diesbezüglich zurückhaltender. Zumindest seine mittelfristige Utopie war noch nicht die Welt aller Menschen. Erklären lässt sich diese Zurückhaltung durch die historischen Umstände, die Fanons Denken begleiteten. Wie bereits erwähnt, handelte es sich dabei vor allem um die Dekolonialisierung Afrikas, die Fanon in Algerien unmittelbar miterlebte. Dabei stand für ihn fest, dass das allerdringlichste Problem, das es zu lösen gab, der Rassismus war. Dieser fragmentiere die koloniale/postkoloniale Welt nach wie vor: »Wenn man den kolonialen Kontext in seiner Unmittelbarkeit wahrnimmt, so wird offenbar, daß das, was diese Welt zerstückelt, zuerst die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art, einer bestimmten Rasse ist« (ebd. 33).

Die »Vereinigung« der Gesellschaft, wie sie Fanon erträumte, bezog sich zunächst darauf, die »Heterogenität« der »Nation«, bzw. der »Rasse« aufzuheben (vgl. ebd. 38). Auch wenn dieses Ziel nur ein vorübergehendes war, muss doch deutlich werden, dass es aus der Sicht der historischen Brisanz der sich im Gange befindenden Dekolonialisierung in Afrika und Asien Prioriät haben musste. Der Hinweis auf die konkreten historischen Bedingungen der dekolonialen Befreiungskämpfe erklärt auch die immer wieder kritisierte »theoretische Verherrlichung der Gewalt«, zu der sich Fanon im ersten Kapitel seines Buches nach Ansicht einiger Autoren hat hinreißen lassen (vgl. Arendt 1998: 23). Ich sehe hier allerdings weniger eine Rechtfertigung der Gewalt per se als vielmehr Reflexionen, die unter dem Eindruck der gewaltsamen Dekolonialisierungskämpfe entstanden. Dabei machte die Gewalt, die auf beiden Seiten der sich in diesen

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Kämpfen gegenüberstehenden Lager praktiziert wurde, einen sehr starken Eindruck auf Fanon und bewegte ihn zu Erklärungen wie: »Der einzige Kampf des Kolonisierten mit dem Kolonialherrn ist, wie gesagt, ein offener, bewaffneter Kampf. [...] Dieser bewaffnete Kampf beweist, daß das Volk entschlossen ist, sich nur noch auf gewaltsame Mittel zu verlassen. Dieses Volk, dem man immer gesagt hat, daß es nur die Sprache der Gewalt verstehe, beschließt, sich durch die Gewalt auszudrücken. Im Grunde hat der Kolonialherr ihm seit jeher den Weg gezeigt, den es wählen muss, wenn es sich befreien will« (Fanon 1981: 70-71).

Das Kapitel Von der Gewalt stellt also kein Plädoyer für die Gewalt dar. Genauso wenig meldet sich in ihm ein simpler Revanchismus zu Wort. Vielmehr glaubte Fanon, wie Paz (vgl. Kapitel 9.2), dass er Zeuge einer Epoche der Revolutionen sei, die ihren Charakter vor allem in den dekolonialen Befreiungskämpfen finde. Und die Befreiung gebe es nicht umsonst; vielmehr zeigten alle Beispiele, allen voran der Befreiungskrieg in Algerien – den Fanon als Exempel wählte, so wie Paz die mexikanische Revolution –, dass sie erkämpft werden müsse. So schreibt er in seiner 1959 veröffentlichten Sociologie dʼune révolution6: »This revolution is changing humanity. In the revolutionary struggle, the inmense, the oppressed masses of the colonies and semi-colonies feel that they are a part of life for the first time. Life aquires a sense, a transcendence, an object: to end exploitation, to govern themselves and for themselves to construct a way of life. The armed struggle breaks up the old routine life of the countryside and villages, excites, exalts and opens wide the doors of the future. Liberation does not come as a gift from anybody; it is seized by the masses with their own hands« (Fanon 1967: 1-2).

Dieses Zitat ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. So zum Beispiel vor dem Hintergrund der Modernisierungstheorien. Gegen die Behauptung, Modernisierung sei in erster Linie gebunden an einen bestimmten Rationalitätsgrad, den die Völker des globlen Südens noch nicht erreicht hätten, scheint Fanon darauf zu bestehen, dass aus der Sicht der kolonialisierten und selbst noch der postkolonialen Völker die Be-

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Ich zitiere hier aus der englischen Übersetzung (Fanon 1967).

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freiung ein viel wichtigeres Kriterium für »Modernisierung« darstelle. Sie trägt den Keim für den notwendigen Wandel selbst in die »rückständigsten« Gebiete (Land und Dörfer) und öffnet das Tor der Zukunft. Genauso wichtig ist aber das Argument, dass diese »Revolution« der Moderne nicht ohne Gewalt möglich sei, bzw. dass »Modernisierung« »Kampf« bedeute. Auch Paz gesteht zu, dass die koloniale und postkoloniale Geschichte Mexikos durch Gewaltexzesse geprägt worden ist. Das Thema der Gewalt ist im Labyrinth allgegenwärtig: Wenn sich Paz mit den Pachucos beschäftigt, erinnert er an die zoot-suit-riots der 40er Jahre in Los Angeles, in denen die Pachucos Opfer der rassisitischen Gewalt wurden (vgl. Paz 1998: 24). Gleichzeitig versucht er zu zeigen, dass die Einstellung der Pachucos sich selbst gegenüber durch eine gewisse Art der Gewalt geprägt wurde, die eine »selbstdemütigende« war. Auch die Fiesta ist für Paz ein Inbegriff von Gewaltausbrüchen: »Alle sind in dieser Nacht von der Violencia und dem Wahnsinn gepackt«, schrieb Paz (ebd. 55). »Tod« und »Töten« stellen Kontinuitäten in der mexikanischen Vorstellungswelt dar, die Paz mit ihrem Hermetismus in Verbindung bringt (vgl. 63-64). Und schließlich sieht Paz die Präsenz der Gewalt in allen möglichen Schattierungen als ein dominierendes Motiv der kolonialen und postkolonialen Kultur und Gesellschaft Mexikos. Im Mittelpunkt steht dabei die im kulturellen Selbstverständnis eingbrannte Vorstellung, Mexiko sei das Resultat der kolonialen Vergewaltigung; eine Vorstellung, die durch entsprechende sprachliche Mittel tagtäglich reproduziert wird (vgl. 79ff). Eine ganz entscheidende Funktion hat in diesem Zusammenhang das Verb chingar. Es leitet sich von chingada ab, die »mit Gewalt geöffnete, geschändete Mutter« (ebd. 83). Paz erklärt: »Während es für den Spanier eine Schande bedeutet, von einem Weib geboren worden zu sein, das sich freiwillig hingegeben hat, einer Prostituierten also, besteht diese für den Mexikaner darin, die Frucht einer Vergewaltigung zu sein« (ebd.). Und schließlich stand für Paz fest, dass die mexikanische Revolution bzw. die »Revolte« (vgl. Kapitel 9.2) eine »blutige Fiesta« gewesen sei (vgl. Paz 1998: 147). Paz verhält sich zu all diesen Formen der Gewalt zwar nicht billigend, aber auch nicht moralisierend. Vielmehr registriert er sie durch seine »dichte Beschreibung« (Geertz) der mexikanischen Kultur als einen wesentlichen Teil der Wirklichkeit einer kolonialen und postkolonialen Gesellschaft, der nicht verschwiegen werden darf. Kultur und

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Gesellschaft des postkolonialen Mexikos sind gezeichnet von der alltäglichen Gewalt, mit der die Kolonie einst errichtet und verteidigt wurde. Die Gewalt ist eine der hartnäckigsten Konstanten in dieser Wirklichkeit. Darin waren sich Paz und Fanon einig. Die Übereinstimmungen in der Beobachtung der postkolonialen Moderne, die sich zwischen beiden Autoren beobachten lassen, sind nicht zuletzt deshalb so verblüffend, weil es nie Pazʼ Anliegen gewesen ist, seine Darstellungen der mexikanischen Realität durch eine monokausale Erklärung, wie sie sich in Worten wie »Kolonialismus« oder »Postkolonialismus« vermitteln, zu ergänzen. Zu einer Zeit, in der linke Intellektuelle alle Probleme der damals sogenannten »Dritten Welt« auf »neo-imperialistische« und »neo-koloniale« Strategien vor allem der USA und der transnationalen Unternehmen reduzieren wollten, machte Paz in seinem 1980 veröffentlichten Buch über Sor Juana, das zugleich sein wichtigster Beitrag zum Verständnis Neuspaniens ist, klar, dass der aktuelle Gebrauch von Worten wie »Kolonialismus« und »Kolonie« eher zu Missverständnissen führe. Warnend schrieb er: »Heute nennt man ›Kolonie‹ jedes abhängige, halbabhängige oder sogar unter dem Einfluss einer großen Macht stehende Territorium. Der Terminus hat sich in ein Projektil verwandelt. Mit Projektilen kann man Gegner auseinandernehmen, aber keine historischen Situationen verstehen« (Paz 1991: 35).

Die Reduktion hochkomplexer Wirklichkeiten auf einzelne Begriffe droht auch dem aktuellen Postkolonialismus (vgl. Kapitel 4.4), weswegen Gurminder Bhambra als Gegenstrategie vorschlägt, »subjective experiences« (vgl. Bhambra 2007: 30) zu rekonstruieren. Genau das hat Paz in seinem Labyrinth und ergänzend in seinem Buch über Sor Juana auch schon versucht. Mehr als eine Biographie der mexikanischen Dichterin gibt Letzteres einen eindruckvollen Einblick in die Welt Neuspaniens, indem die Erfahrungen Sor Juanas mit und in dieser kolonialen Welt rekonstruiert werden. Paz gibt seiner Methode einen Namen: Er nennt sie restitución und erklärt: »[…] Mein Buch stellt einen Versuch der restitución dar; ich hoffe ihrer Welt [der Welt Sor Juanas], Neuspanien des 17 Jahrunderts, Sor Juanas Leben und Werk zurückzugeben. […] Umgekehrt können Sor Juanas Leben und Schriften uns, ihren Lesern des 20. Jahrhunderts, ihre entfernte Welt wiederbringen« (Paz 1991: 23).

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Restituir bedeutet hier soviel wie »zurückbringen«. Es handelt sich um ein Hinabtauchen in die Tiefen der Vergangenheit, wenn auch nur, um in der Gegenwart jene Probleme zu erinnern, die nach wie vor auf der mexikanischen Gesellschaft lasten. Den Kontakt zur Vergangenheit stellt Paz durch einen Dialog mit ausgewählten historischen Akteuren her, deren subjektive Erfahrungen mit und in der Zeit, in der sie lebten, einen Einblick in diese Zeit verschaffen soll. Diese Methode lässt die koloniale Wirklichkeit lebendig werden und ermöglicht ein empathisches Verständnis der Lebensbedingungen konkreter Menschen. Paz versteht dieses Verfahren als Alternative zum abstrakten Verständnis der Geschichte, das sich an ebenso abstrakten und leeren Begriffen orientiert. Wer Pazʼ Buch über Sor Juana liest, fühlt die lethargische Atmosphäre, die Neuspanien erlebte, sowie die Trägheit der kolonialen Kultur, die ihre Vitalität bereits verloren hatte und nicht die Kraft besaß, etwas Neues hervorzubringen. Aber schon im Labyrinth erzählt Paz die Geschichte Neuspaniens als die einer versteinerten Kultur, einer Kultur, die sich zwar räumlich ausdehnte, aber nicht mehr kreativ war. Für Paz ist es gerade diese kulturelle Paralyse, die die Unabhängigkeit von 1810 überstand und auch das postkoloniale Mexiko noch prägen soll. Was bedeutet dies aber konkret? Wie macht sich diese Kontinuität im sozialen Leben Mexikos bemerkbar? Viele Autoren setzen bei der Beschreibung der sozialen Bedingungen in postkolonialen Gesellschaften auf die Kontinuität dualer Bezugssysteme, allen voran dem des Rassismus. So schreibt auch der Soziologe Ramón Grosfoguel: »White Creole elites maintained after independence a racial hierarchy where Indians, blacks, mestizos, mulattoes and other racially oppressed groups were located at the bottom. This is what Aníbal Quijano […] calls ›coloniality of power‹« (Grosfoguel 2000: 349).

Ist diese rassische Gliederung aber alles, was wir über die postkoloniale Situation Mexikos sagen können? Ich glaube, dass wir in Pazʼ Labyrinth eine Alternative nicht nur zu diesem dualen Bezugssystem finden. Paz streitet die Kontinuität sozialer Stratifikation nicht ab, ergänzt diese aber durch die Beschreibung sozialer Pathologien im Alltagsleben. Dabei verfährt er ähnlich wie bei seiner Kritik der postkolonialen Gewalt. Auch die sozialen Pathologien finden ihren Ausdruck in sozia-

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len Erfahrungen, wurzeln aber in hochkomplexen kulturellen Vorstellungswelten, deren Kritik sich Paz in seiner Funktion als kritischer Intellektueller ganz entschieden stellte. Ausschlaggebend für jede Art der Kritik sind die entsprechenden Kriterien. Pazʼ Kritik der sozialen Pathologien im postkolonialen Mexiko orientiert sich an seiner Anthropologie der Einsamkeit. Danach wird, wie bereits gesehen (vgl. Kapitel 10.2), die Erfahrung des anderen Menschen nicht nur als Mangel der eigenen Person erlebt, sondern auch als Verlangen, sich mit dem anderen Menschen zu vereinen. Die postkolonialen Sozialpathologien beschreibt Paz als Obstruktionen beim Zustandekommen »normaler« sozialer Beziehungen. Die Beziehungen zum Anderen werden im Alltagsleben als gestört erfahren. Auch in dieser Hinsicht treffen sich Paz und Fanon. Beide beschreiben die koloniale und postkoloniale Situation als eine, welche die Befriedigung des menschlichsten aller Bedürfnisse boykottiert: die Erfahrung des Anderen als Menschen, welche zugleich die Erfahrung der eigenen Menschlichkeit ermöglicht. Nelson Maldonado-Torres fasst diesen durch und durch humanistischen Aspekt in Fanons Werk in folgenden Worten zusammen: »Für Fanon wird das Subjekt menschlich, indem es aus sich selbst herausgeht und in ein Verhältnis zu anderen tritt. Das Fatale des Rassismus besteht darin, dass er versucht, auf Seiten jener Subjekte, deren Haut oder Gebräuche als minderwertig verstanden werden, diese Praktik zu beschränken oder unmöglich zu machen« (Maldonado-Torres 2007: 161; vgl. auch Gilroy 2010).

Am Schluss des Buches Die Verdammten dieser Erde präsentiert Fanon Fälle »psychischer Störungen«. Es handelt sich dabei um Geschichten von Menschen, die in der einen oder anderen Weise Opfer der Gewalt des Krieges in Algerien wurden. Diese Fälle machen einmal mehr deutlich, wie direkt Fanons Gedanken unter dem Eindruck der Gewalt standen. Hierin liegt aber auch ein wichtiger Unterschied zwischen Fanon und Paz. Zwar waren, wie bereits gesehen, auch für Paz die dekolonialen »Revolten« allgemein und die mexikanische Revolution im Besonderen historische Ereignisse, mit denen er sich identifiziert hat. Dass sein Denken aber nicht im gleichen Maße von der Gewalt dieser Ereignisse beeindruckt wurde, liegt wohl daran, dass Mexiko bereits auf mehr als anderthalb Jahrhunderte postkolonialer Erfahrungen zurückblicken konnte. Claudio Lomnitz schreibt sogar:

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»[…] Mexico, compared with other countries, has the deepest and earliest world-historical experience of itself as a postcolonial and postimperial nation« (Lomnitz 2005: 30).

Diese relativ lange Erfahrung mit der postkolonialen Situation macht Paz sensibel für die hartnäckigen Bestandteile des Alltagslebens, die in den kolonialen Lebensformen ihren Ursprung haben, auch wenn sie nicht mehr die Brisanz direkter Gewalt besitzen. Im Labyrinth unterscheidet er vier Formen sozialer Interaktion, für die dies zutrifft. 1. Die erste nennt er disimulo (Verstellung). »Verstellung ist eine Tätigkeit, die der des Schauspielers nahekommt […]« (Paz 1998: 4849). Es gibt aber auch einen bedeutenden Unterschied zwischen dem professionellen Schauspieler und der Verstellung, die Paz im postkolonialen Mexiko beobachtete. Der Schauspieler gibt sich ganz der Rolle hin, in die er schlüpft, während derjenige, der sich nur verstellt, sein wahres Ich nie aufgibt. Anders gesagt: Schauspielerei bedarf der Fähigkeit, vorübergehend eine andere Wirklichkeit zu schaffen; Verstellung hingegen ist eher eine Art der Lüge. Für die deutsche Übersetzung des Labyrinths wählte Carl Heupel hier das Verb »verhehlen«: »[…] wer verhehlt, spielt nicht vor, sondern will sich unsichtbar machen, will unerkannt bleiben – doch ohne sein Wesen aufzugeben! Der Mexikaner verhehlt im Übermaß seine Leidenschaften – und sich selbst! Aus Furcht vor dem Blick des Fremden zieht er sich zusammen, duckt sich, wird Schatten, Gespenst, Echo. Er geht nicht, sondern schleicht; er schlägt nicht vor, sondern flüstert ein; er antwortet nicht frei, sondern murrt vor sich hin; er beklagt sich nicht, sondern lächelt nur« (ebd. 49).

Vielleicht kann die gleichzeitige Lektüre von James C. Scotts Domination and the Arts of Resistance verständlich machen, dass die »Kunst des Verstellens« tatsächlich einen typischen Mechnismus zwischenmenschlicher Beziehungen in postkolonialen Gesellschaften darstellt (vgl: Scott 1990). Scott hat in recht überzeugender Weise gezeigt, dass in solchen Gesellschaften eine tiefverwurzelte Doppelmoral existiert. Anstatt sich Konflikten direkt und unzweideutig zu stellen, versucht man sie zu neutralisieren. Dies geschehe vor allem dadurch, dass man die eigenen Interessen verheimlicht. Diese Strategie, die sich hauptsächlich auf Seiten der »Unterdrückten« beobachten ließe, habe zur Folge, dass ein vermeintlicher Konsens in einem von diesem abwei-

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chenden Handeln resultiert. Zwischen den »öffentlichen« Absichtserklärungen und dem, was wirklich getan wird, öffnet sich ein Abgrund. Pazʼ Beobachtung der Verstellung ähnelt der Diagnose Scotts. Doch für Paz ist das Verstellen nicht nur eine Reaktion auf soziale Ungleichheit, sondern gleichzeitig eine Situation, die ihrerseits existenzielle Probleme provoziert, weil sie so weit getrieben werden kann und wird, dass die wirklichen Absichten immer undeutlicher werden. Paz glaubte, dass dies in seinem Land dazu geführt habe, dass Mexikaner dazu tendieren, sich selbst zu verleugnen (Paz 1998: 51). 2. La máscara (die Maske) ist eine zentrale Metapher im Labyrinth (vgl. Astorga 2004). Natürlich verweist auch sie auf den Mechanismus der Verstellung. Gleichzeitig macht sie aber auch den hermetischen Charakter, den Paz den Mexikanern unterstellt, bewusst. »Unser Hermetismus ist ein Ausweg für unseren Argwohn und unser Mißtrauen. Er zeigt, wie wir die Umwelt instinktiv als gefährlich ansehen. Eine verständliche Haltung für den, der die Eigenart unserer Geschichte und den Charakter der Gesellschaft kennt, die wir geschaffen haben. Eine harte, feindliche Umwelt, Drohungen, die verborgen und unfaßbar in der Luft liegen, haben uns dazu gezwungen, uns nach außen abzuschließen, gleich den Pflanzen der Meseta, die hinter dorniger Rinde ihre Säfte speichern« (Paz 1998: 38).

Die »Säfte«, die Paz hier meint, sind all jene, die die Natur in ihrer Symbiose mit der Umwelt an diese abgibt. Im übertragenen Sinne können damit Zuneigung, Vertrauen und Liebe gemeint sein, die die Mexikaner, wie alle anderen Menschen auch, mit ihren Mitmenschen und der Welt im Allgemeinen teilen möchten. Für Paz stand fest, dass sich die Probleme des postkolonialen Mexikos nicht auf die Fortsetzung ungerechter Macht- und Besitzstrukturen reduzieren lässt. Obwohl er diesen gegenüber nicht blind war, schien ihm doch ein noch viel dringlicheres Problem zu sein, dass sich in der Gesellschaft soziale Mechanismen einrichten konnten, unter denen alle Menschen leiden und die ganz eindeutig das offizielle Ende der Kolonialzeit überlebt haben: »Die Kolonialzeit ist zwar vorbei, doch geblieben sind Angst, Mißtrauen und Argwohn« (ebd. 49-50). Die Permanenz der vermeintlichen Feindseligkeit der Welt provoziert den Reflex, sich verstecken zu wollen. In diesem Sinne offenbart die »Maske« ihre soziokulturelle Funktion im postkolonialen Mexiko.

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3. Ninguneo ist ein schwierig zu übersetzendes Wort. Aber auch hinter ihm verbirgt sich eine Art der Verstellung. Diesmal ist nicht gemeint, dass das Ich simuliert, ein Anderer zu sein, sondern dass es den »Anderen« wegsimuliert, so tut, als habe er sich in einen Niemand verwandelt. Damit ist mehr gemeint als bloß, den Anderen zu ignorieren. Wenn wir uns daran erinnern, wie hoch Paz die Erfahrung des Anderen für die Erfahrung der eigenen Menschlichkeit einschätzte, können wir erahnen, dass für ihn die Negation des »Anderen« einer existenziellen und menschlichen Katastrophe gleich kommen musste. Auch hier verschwimmt die Trennlinie zwischen Täter und Opfer. Der negierte »Andere« leidet genauso wie derjenige, der ihn nicht mehr wahrzunehmen vermag, denn er verliert damit eine für Paz zentrale humane Fähigkeit: nämlich die Erfahrung des Anderen (vgl. Kapitel 10.2). 4. Schließlich muss in diesem Zusammenhang noch die Fiesta genannt werden. Auch sie repräsentiert für Paz eine soziale Form, die das postkoloniale Mexiko charakterisiert. Nach aller Verstellung und Maskierung, nach aller unbefriedigten Sehnsucht nach dem Anderen, die so weit geht, diesen zu negieren, stellt die Fiesta ein Ventil dar, durch das sich die aufgestaute Entsagung hin und wieder entladen kann. Paz gibt der Fiesta eine durchaus positive Bedeutung; er endeckt in ihr die Möglichkeit der »Kommunion«, und wie bereits gesehen, verstand er auch die mexikanische Revolution als eine Art der Fiesta. »In der Fiesta öffnet sich der Mexikaner der Welt, vermischt sich mit seinesgleichen und den Werten, die seiner religiösen und politischen Existenz Sinn geben« (ebd. 58).

Getrübt wird diese grundsätzlich positive Beurteilung durch folgende Überlegung: »Ist es aber nicht merkwürdig, daß ein so trauriges Land wie das unsere so viele und so ausgelassene Fiestas kennt? Der große Zuspruch, der besondere Glanz, die Begeisterung ihrer Teilnehmer scheinen zu sagen, daß wir ohne sie zerspringen würden. Sie machen uns – und sei es nur für einen Augenblick – frei von allen ausweglosen Impulsen, all dem entzündbaren Stoff, der sich in unserem Inneren anhäuft« (ebd.).

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Schließlich ist diese plötzliche, impulsive Entladung ein Zeichen für die Gewalttätigkeit der Fiesta. In jedem Fall ist auch die Fiesta für Paz eher Symptom einer sozialen Pathologie. Doch Paz beschränkt die Kritik dieser sozialen Pathologien im postkolonialen Mexiko nicht auf eine Kritik der Gewalt. Gewalt ist vielmehr eine Konsequenz, die ihren Ursprung in den genannten sozialen Störungen hat. Sie ist der verzweifelte Ausbruch des aufgestauten und unbefriedigten Verlangens, sich mit dem anderen Menschen zu vereinen. Möglich wird diese Kritik dadurch, dass sie sich an einer Vorstellung vom Menschen orientiert, nach welcher der Mensch als Wesen verstanden wird, welches sich vor allem durch seine Erfahrung des Anderen sowie sein Verlangen nach ihm definiert. Das Übel, mit dem koloniale und postkoloniale Gesellschaften existieren, ließe sich demnach nicht auf ungleiche Macht- bzw. Verteilungsstrukturen reduzieren. Es wirkt tiefer, bis hinab in die Grundlagen der sozialen Existenz des Menschen. Paz war davon überzeugt, dass sich die Probleme des postkolonialen Mexikos nicht auf politische oder ökonomische Aspekte beschränken. Er machte deutlich, wie wichtig es war, die kulturelle Dimension in den Blick zu nehmen, in der sich die Formen menschlichen Handelns, der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der Beziehungen zwischen Mensch und Welt eingravieren. Das Anerkennen der kulturellen Natur dieser sozialen Formen füllte Paz aber auch mit Hoffnung. Kultur war sein Metier. Als Intellektueller wollte er diese kulturelle Dimension der sozialen Probleme nicht nur sichtbar machen, sondern auch in sie »eingreifen« (Adorno) und sie verändern. Um einen Ausweg aus diesem (post-)kolonialen Labyrinth zu finden, war es notwendig, so dachte Paz, sich einer zentralen Frage bewusst zu werden. Diese war nicht die Frage nach der nationalen oder kulturellen Identität, sondern nach dem, wonach sich Menschen in Mexiko genauso sehnten wie Menschen in anderen Teilen der Welt. Paz wußte, dass sich heute alle Menschen der Erde dieselbe Frage stellen und spürte in dieser Tatsache die Notwendigkeit, aber auch die Chance einer neuen Welt, die die Welt aller Menschen werden könnte: »Der Gegenstand unserer Überlegungen ist derselbe, der auch andere Menschen und Völker beunruhigt: Wie sollen wir eine Gesellschaft, eine Kultur schaffen, die unsere eigene Humanität nicht verleugnet, sie aber auch nicht in

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eine leere Abstraktion verwandelt? Diese Frage ist allen Menschen heute gestellt – also auch den Mexikanern« (ebd. 187-188).

11. Weltbewusstsein, Humanismus und Kritik als Orientierungshilfen einer kommenden Weltsoziologie

11.1 D IE

DREI D IMENSIONEN DER KOMMENDEN W ELTSOZIOLOGIE

Seit einiger Zeit wird die Rede von der gobal sociology oder »Weltsoziologie« immer lauter. Allerdings produzieren die Stimmen, die sich unter diesem neuen Namen versammeln, kaum zu überhörende Dissonanzen. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, ob es überhaupt möglich oder sinnvoll sein kann, so etwas wie eine Weltsoziologie zu entwickeln. Sollte Soziologie (oder irgendeine andere Einzeldisziplin), die sich mit der gesamten Welt beschäftigt, nicht auf methodologischen und theoretischen Pluralismus setzen? Worin soll dann aber der einheitsstiftende Wert einer Weltsoziologie kommen? Mein Vorschlag wird darin bestehen, diesen allgemeinen Orientierungsrahmen an jenen Pfeilern festzumachen, die auch das argumentative Gerüst in diesem Buch tragen sollten. Weltbewusstsein, Humanismus und Kritik sollen hier abschließend auf den Prüfstand ihrer Anschlussfähigkeit an diese aktuelle Debatte gestellt werden. Besonders interessant scheint mir dabei die Lehre, die wir aus der pazschen Soziologie ziehen können und wonach sich unsere soziokulturellen Welten aus drei sich überschneidenden und ergänzenden Dimensionen menschlicher Erfahrungen konstituieren: der Erfahrung der globalen Moderne, der Erfahrungen des Menschen als Mensch und der Erfahrungen von Menschen im Kontext lokaler und regionaler Bedingungen. Eine Weltsoziologie im Zeichen des Weltbewusstseins (vgl. Kapitel 2) müsste also sensibel sein für alle drei Dimensionen mensch-

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licher Erfahrungen. Ob das Ergebnis noch »Soziologie« im strikten Sinne genannt werden kann, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Sicher ist aber, dass die beiden Beispiele, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte, aus dieser Disziplin stammen.

11.2 M ICHAEL B URAWOYS WELTSOZIOLOGISCHE PUBLIC SOCIOLOGY Michael Burawoy hat einige der wesentlichen Themen in der aktuellen Debatte darüber, wodurch sich eine global sociology auszeichnet und worin ihre Herausforderungen liegen, zusammengefasst und diskutiert. Er geht davon aus, dass wir in einer besonderen Zeit leben, in der sich eine besondere Art des Kapitalismus manifestiere, welche er in Anlehnung an Samuel Huntington »third-wave marketization« nennt (vgl. Burawoy 2008). Gemeint ist damit eine Situation, die sich als Siegesphase eines marktorientierten Kapitalismus feiern lässt, welcher staatliche Regulationen ebenso konsequent ablehnt wie nationale Grenzen. »Third-wave marketization« konsolidiert ein globales Netz von Märkten, in dem auch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen konventionelle Grenzen überschreiten. Anstatt nun diese Situation in allen Einzelheiten zu analysieren, interessiert sich Burawoy vor allem für die Frage, welchen Platz Soziologen in einer solchen vom Markt dominierten planetarischen Gesellschaft einnehmen. Dies ist für Überlegungen, wie sie im Rahmen einer Weltsoziologie angestellt werden, typisch. Im Vordergrund steht dabei eine reflexive Einstellung gegenüber der Wissensproduktion der eigenen Disziplin. Burawoy versucht zunächst, die Stellung der Soziologen von denen der Politikwissenschaftler und der Wirtschaftswissenschaftler abzugrenzen, indem er daran erinnert, dass sie sich in unterschiedlichen Räumen innerhalb der Gesellschaft bewegen. Während sich Politikwissenschaftler eher mit dem politischen System identifizieren und Wirtschaftswissenschaftler den Markt zu ihrer Domäne erklären, fühlten sich Soziologen in erster Linie in der Sphäre des Sozialen beheimatet. »They explore and defend the strength of the social«, schreibt Burawoy (ebd. 354). Das bedeutet ebenfalls, dass sich Soziologen am ehesten in der civil society verorten. Von dort aus nehmen sie ihren Feldzug auf:

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»From the history of fascism and communism, we know that sociology lives and dies with civil society, and so sociologists become the guardians of humanity, defending society against the tyranny of markets and the terrorism of states« (ebd.).

Viele Soziologen sind mit dieser gesellschaftlichen Selbstverortung sicherlich nicht einverstanden. Für sie ist der gesellschaftliche Ort, den Soziologen besetzen, vor allem die Universität. Sie verteidigen in einem strikten Sinne ein ausschließlich akademisches Verständnis von Soziologie. Burawoy delegitimiert diese Position keineswegs, erkennt in ihr aber eine Möglichkeit, die zu anderen in Konkurrenz steht. Soziologen, die sich für eine rein akademische Soziologie entscheiden, nennt er professional sociologists. Den Rückzug in den Elfenbeinturm versteht Burawoy allerdings nicht als autonome Entscheidung. Vielmehr deutet er ihn als eine Art Resignation gegenüber den herrschenden politischen und wirtschaftlichen Mächten: »Professional sociologists fear that any intervention beyond the academy against the prevailing powers will only bring us disrepute and threaten our fragile legitimacy« (ebd. 354). Eine fast konträre Einstellung zu den professional sociologists lässt sich bei jenen feststellen, die Burawoy policy sociologists nennt. Sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben, »to reign in markets through the intervention of the state« (ebd.). Burawoy sieht aber gerade in dieser Hoffnung, die policy sociologists in die politischen Institutionen investieren, eine gefährliche Täuschung, denn sie verkennen, dass sich die Politik längst an den Markt entäußert habe. Eine dritte Klasse von Soziologen nennt Burawoy critical sociologists. Sie wehren sich in erster Linie gegen die resignative Haltung ihrer Kollegen, die sich als professional sociologists in die Belange der Gesellschaft am liebsten überhaupt nicht mehr einmischen möchten. Ihr Hauptanliegen besteht darin, gesellschaftliche Werte einzuklagen, welche sie in Gefahr sehen oder bereits für verloren halten. Obwohl Burawoy diese Richtung durchaus sympathisch zu sein scheint, moniert er an ihr, dass sich ihre Vertreter Sprachen bedienten, die für ein breiteres Publikum unverständlich sind, und dass sich ihr Aktionsradius deshalb kaum über die Grenzen der akademischen Welt hinaus erstreckt. Um der third-wave marketization effizienter entgegentreten zu können, fordert Burawoy schließlich den public sociologist. Er verlässt die akademische Abgeschiedenheit, allerdings nicht, um sich in den

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Dienst der politischen und wirtschaftlichen Macht zu stellen, sondern um als Vermittler zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeiten zu fungieren. Ganz besonders wichtig ist für Burawoy, dass public sociologists den unterschiedlichen nichtakademischen Öffentlichkeiten zuhören, um von ihnen zu lernen. Im Gegensatz zu traditionellen public intellectuals, die sich in der Regel als intellektuelle Avantgarde verstanden wissen wollen, müssten Burawoys public sociologists einsehen, dass die unterschiedlichen nichtakademischen Öffentlichkeiten durchaus ein Bewusstsein für ihre jeweilige Situation manifestieren. Burawoys public sociologists wollen den sozialen Akteuren also nicht den Weg weisen. Um die Aufgaben der public sociologists definieren zu können, ist es aber notwendig, zu begreifen, worin Burawoy nun eigentlich die Probleme des sogenannten third-wave marketization-Kapitalismus sieht. Aus der marxistischen Tradition heraus entwickelt er eine Antwort auf diese Frage, indem er zunächst erklärt, welche Hauptprobleme frühere Phasen des Marxismus ausmachten. Während in der ersten Phase des Marxismus, die Burawoy als Reaktion auf die first-wave marketization versteht, die Verwandlung der Arbeit in Ware das wichtigste Problem dargestellt habe, habe eine zweite Phase entsprechend auf eine second-wave marketization geantwortet, welche den Spekulationskapitalismus, in dem Geld eine Warenform annahm, zum Gegenstand ihrer Kritik machte. Dieser Logik folgend sieht Burawoy das Hauptproblem der aktuellen Phase des Kapitalismus darin, dass »Natur« zur Ware werde. »Third-wave marketization involves expropriations or accumulation through dispossession, commodifying nature – land, natural resources, environment and body – and makes itself transparent to its victims. We see this in the indigenous peoplesʼ movements in Bolivia and Mexico, in the Brazilian land occupations by the Landless Workersʼ Movement (MST), in the struggles over dams and urban real estate dispossession in China, in the movements against water and electricity privatization in South Africa and the spread of the green movement across the planet« (ebd. 356).

Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist nun vor allem diese »planetarische« Dimension der hier angesprochenen Bedrohungen einerseits und der darauf reagierenden Bewegungen andererseits.

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»A third wave has arrived that threatens to destroy the planet with the commodification of nature. The commodification of land and the environment is not new but third-wave marketization brings it to a head, affecting not just local communities or national societies but increasingly threatening the world« (ebd. 357).

Und auf Seiten der Gegenbewegungen: »The responses to third-wave marketization cannot be confined to local or national arenas but have to assume a global scale. While third-wave marketization is experienced locally and gives rise to local reactions, its origins are global« (ebd.).

Welche Aufgabe kommt nun dem public sociologist in einem solchen Szenarium zu? In welcher Arena agiert er? »Here organic public sociologists find their niche as interpreters, communicators and intermediaries«, erklärt Burawoy: »tying together local movements across national boundaries. Their task is a war of position in which local movements find common cause in such venues as the World Social Forum or in confrontations with such multilateral organizations as the World Trade Organization« (ebd.).

Schließlich sind für unseren Zusammenhang noch die normativen Koordinaten Burawoys erwähnenswert. Sie leiten sich aus seiner Zeitdiagnose ab. Während in früheren Phasen des Kapitalismus labor rights und social rights wichtige Orientierungshilfen darstellten, glaubt Burawoy, dass in der aktuellen Phase human rights entscheidend sein sollten. Dabei erkennt er durchaus, wie leicht die Forderung der Menschenrechte manipuliert werden kann. Dennoch besteht er darauf, dass es ein »nichthegemonisches« Verständnis der Menschenrechte gebe, dessen Kern er in einem von Kant bereits formulierten Gedanken wiederzufinden glaubt. »Human rights demand that humans treat each other as ends rather than means, that they potentially form a community of self-realization through symmetrical reciprocity and mutual recognition« (ebd. 358).

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Diese Grundidee geht über die juristisch-rechtliche Debatte über Menschenrechte hinaus, und es wäre wohl nicht übertrieben, hierin eine Grundidee des modernen Humanismus zu vermuten (vgl. Rüsen 2010). Burawoys Vorschlag, Soziologie an ihre Verpflichtung auf Menschenrechte, Kritik und Probleme, die alle Menschen dieser Erde betreffen, zu erinnern, ist mit dem hier ansatzweise entwickelten Vorschlag einer Soziologie im Zeichen von Weltbewusstsein kompatibel. Burawoy scheint den drei Erfahrungsdimensionen – der globalen Moderne, der anthropologischen Bedürfnisse des Menschen und der jeweils lokalen Verankerung ihrer konkreten Lebenswelten – Rechnung zu tragen. Gerade in der Vermittlung zwischen diesen Welten scheint er die Aufgabe des public sociologist zu sehen. Seine Diagnose, die sich vor allem am Begriff der third-wave marketization orientiert, enthält allerdings einige Probleme, die hier nicht unterschlagen werden dürfen. An die erste Stelle einer möglichen Problemliste würde ich das monokausale Erklärungsmuster setzen. Ist wirklich die Kommodifizierung der Natur das dringlichste Problem, das es heute zu lösen gilt? Auch aktuelle Versionen kritischer Theorie müssten heute vor allem selbstkritischer werden (vgl. Kozlarek 2001; 2007; 2009; auch Kapitel 7). Anstatt also die Kritische Theorie1 zu »aktualisieren«, dass heisst: das aktuelle Problem zu identifizieren, das für das Übel überall auf der Welt verantwortlich gemacht werden soll, halte ich es für sinnvoller, nach möglichen anderen kritischen Theorien in der Welt Ausschau zu halten und sie zu befragen, welche Probleme sie für wichtig halten. Von der einen Kritischen Theorie gelangten wir so zu der Erkenntnis, dass es sehr viele unterschiedliche kritische Theorien gibt. Diese mögen trotz aller Unterschiede zwar in einigen Punkten konvergieren, doch auch die Erkenntnis dieser Affinitäten setzt zunächst einmal voraus, dass die unterschiedlichen kritischen Theorien überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Das ist bisher kaum geschehen. Im Folgenden möchte ich mich mit einigen Arbeiten der australischen Soziologin Raewyn Connell beschäftigen, die in dieser Hinsicht einen weitblickenden Vorschlag gemacht hat.

1

Mit der Großschreibung beziehe ich mich hier auf die europäische Tradition der ›Kritischen Theorie‹, die durch Max Horkheimer zum Markenzeichen der von ihm angestrebten Gesellschaftskritik wurde.

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11.3 T HEORIEN DES S ÜDENS ALS L ABORATORIEN FÜR NEUE W ELTEN Connells Buch Southern Theory: The Global Dynamics of Knowledge in the Social Science (2007) kann in dieser Hinsicht als ihr Hauptwerk betrachtet werden. Der erste Teil des Titels mag den Eindruck erwecken, dass sich Connells Interesse darauf beschränke, Theorien des Südens zu präsentieren. Dies wäre angesichts der bisherigen Literaturlage eine durchaus sinnvolle Aufgabe. Sie wäre aber auch unvollständig, wenn sie sich bloß darauf beschränken würde, diese Theorien als Befriedigung der Lust am exotisch Anderen zu verstehen. Gerade dies will Connell verhindern. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht der Untertitel ihres Buches; es geht tatsächlich um die »globalen Dynamiken« der Wissensproduktion in den Sozialwissenschaften und vor allem der Soziologie. Die erste wichtige Feststellung, die Connells Buch vermittelt, ist also die, dass die Theorien des Südens zu den Theorien des Nordens in einem Verhältnis stehen. Die selbstgestellte Aufgabe, an der sich Connell in ihrem Buch sowie in einer Reihe von Artikeln, die sie bisher zu diesem Thema veröffentlicht hat, abarbeitet, besteht nun darin, dieses Verhältnis zu beschreiben und zu erklären, ohne dabei bloß die bekannten Dualismen des Dependenzdenkens zu wiederholen. Dem Dependenzgedanken folgend dürfte es nur zwei Beziehungsmodalitäten zwischen dem sozialen Denken des Nordens und dem des Südens gehen: Entweder reagiere der Süden mit hartnäckiger und trotziger Ablehnung auf die im Norden artikulierten Vorschläge oder mit kritikloser Akzeptanz (vgl. Miller 2008). Connell erkennt aber, indem sie sich in die Literatur des sozialen Denkens ehemaliger kolonialer und aktuell »peripherer« Gesellschaften einarbeitet, dass das, was in diesen Gesellschaften tatsächlich gedacht wird, nicht auf diese beiden Reaktionen zu reduzieren, sondern weitaus komplexer sei (vgl. Boatcă 2010). Den gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt sieht Connell dabei in der gemeinsamen Moderne: »The claim made by this book is rather that colonised and peripheral societies produce social thought about the modern world which has as much intellectual power as metropolitan social thought, and more political relevance« (Connell 2007a: xii).

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Wichtig dabei ist aber nicht nur, zu zeigen, dass auch im Süden über Moderne nachgedacht wird, sondern dass sich in diesem Teil der Welt Vorstellungen von der Moderne artikulieren, die sich als Alternativen zu unseren konventionellen Vorstellungen verstehen lassen. Raewyn Connell meint dazu: »Plainly, recognizing differences in historical experience is important in moving beyond the single-container account of modernity. Hearing multiple voices, not just a global-metropole voice, is crucial to the future of sociology« (Connell 2010a: 2).

Die Moderne verbindet den Süden mit dem Norden; es handelt sich um einen globalen Referenzpunkt. Das heißt nicht, dass dabei die Unterschiede zwischen den Gesellschaften und Kulturen verschwinden würden. Moderne ist für Connell keine homogenisierende Einheitskultur. Sie provoziert vielmehr unterschiedliche »historische« Erfahrungen, die Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt, an unterschiedlichen Orten gemacht haben. Dass wir überhaupt so lange davon ausgegangen sind, dass es nur die eine Moderne und die eine Möglichkeit, diese zu beurteilen, geben kann, liegt nach Connell einzig daran, dass die Sozialwissenschaften in der Regel »European and North American experience as their starting point« angenommen hätten (vgl. Connell 2010a: 2). Ich sehe hier die zweite entscheidende Erkenntnis Connells, die darin besteht, die Vielfalt der Moderne an die unterschiedlichen Erfahrungen, die Menschen in und mit der Moderne gemacht haben, rückzubinden. Eine Soziologie, die die Vielfalt der Erfahrungen mit und in der globalen Moderne in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, geht über die Möglichkeiten des multiple modernities-Ansatzes hinaus. »Multiplying different voices, however necessary, is not enough. We also have to ask why they are different; that is, we have to think of the social relations between them, on a world scale, and think in a sociology-of-knowledge way about how different perspectives on the social are generated« (ebd.).

Die Einsicht in die Verbindungen und Relationen zwischen den unterschiedlichen, aber modernen Erfahrungen bzw. den Menschen, die diese Erfahrungen machen, koppelt Connell an die Einsicht, dass sich dieses Beziehungsnetz der Moderne über den gesamten Planeten aus-

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gebreitet hat. Die Globalität der Moderne steht für sie also trotz – oder vielleicht besser: gerade wegen – der unterschiedlichen Erfahrungen, die sie provoziert, längst nicht mehr infrage. Sie schreibt: »think of modernity as always having been global, always having been a connected and differentiated whole« (ebd.). Nach Connell lassen sich die Unterschiede in der modernen Welt als interne Unterschiede verstehen; es handelt sich um Differenzen oder Widersprüche in der Moderne selbst. Anstatt diese Grunddifferenz in der Moderne mit der aus den Modernisierungstheorien stammenden Idee der Differenz zwischen modernen und »traditionalen« Gesellschaften und Kulturen zu erklären, optiert Connell für die aus der Kritik an den Modernisierungstheorien resultierenden Erklärung, die von einer »strukturellen« Ungleichheit zwischen dem »Norden« und dem »Süden«, dem »Zentrum« und der »Peripherie« usw. ausgeht. Connell will mit der Übernahme dieser Kategorien zwar nicht die Dependenztheorie wieder heraufbeschwören, wohl aber – ähnlich wie Boaventura de Sousa Santos (vgl. Kapitel 7.4) – daran erinnern, dass in ihr ein klares Bewusstsein für geopolitische Differenzen artikuliert wurde, welches auch heute noch aktuell ist. »To recognise this pattern [›North/South‹, ›Center/Periphery‹ etc. O.K.], to be able to name the metropole and register the different situations of metropole and periphery, is an absolute requirement for social sciences to work on a world scale. Theories that do not recognise this pattern (they range from market fundamentalism to global cultural hybridisation) fail at the first test of realism« (Connell 2007a: 212).

Die Erkenntnis Connells ist folgende: So problematisch Dependenztheorien aus heutiger Sicht auch sein mögen, ihre Einsicht, dass die moderne Welt grob in zwei Teile zerfällt und dass sich der Unterschied zwischen beiden Teilen in »long-lasting pattern of inequality in power, wealth and cultural influence that grew historically out of European and North American imperialism« (ebd.) ausdrücke, stellt auch heute noch eine kaum zu übersehende Tatsache dar. Welche Konsequenzen zieht Connell aus dem bisher Gesagten? Diese Frage lässt sich meiner Ansicht nach am besten beantworten, wenn wir versuchen, Connells Verständnis der Moderne zu präzisieren. Wie bereits gesagt: Moderne ist nicht das, was die »fortgeschrittenen« Gesellschaften von den »rückständigen« unterscheidet. Genauso

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wenig handelt es sich aber bloß um einen Sammelbegriff, der all das enthält, was koloniale, neokoloniale oder postkoloniale Abhängigkeitsstrukturen bezeichnen soll. Wenngleich Connell die Existenz Letzterer nicht abstreitet, legt sie Wert darauf, die Bedeutung von Moderne nicht darauf zu reduzieren. Im Gegenteil, der Begriff der Moderne erfährt in Connells Arbeiten vielmehr eine Öffnung. Moderne wird zu einer Herausforderung für alle Gesellschaften; ihre tatsächlichen Möglichkeiten sind in den Theorien der Moderne, die im Norden entstanden sind, nicht ausgeschöpft. Die Kenntnis der Theorien des Südens offenbare eine Vielfalt von Projekten der Moderne, die sich trotz aller Unterschiede auch mit anderen überschnitten. Während die Theorien des Nordens eifersüchtig auf ihren Alleingültigkeitsansprüch bestanden hätten und zum Teil auch heute noch bestünden2, zeichneten sich die Theorien des Südens durch ihre Bereitsschaft des Lernens von anderen aus. »Existing Southern theory points to a more engaged relationship between knowledge systems, and foreshadow a mutual learning process on a planetary scale« (ebd. 222).Was aber lässt sich von diesem Verständnis der Moderne als gemeinsamem, globalem Lernprozess erwarten? Zunächst ein breiteres und realistischeres Ermessen unserer globalen Moderne. Dabei wird deutlich, dass die Erfahrungen der postkolonialen und peripheren Gesellschaften auch die Problemanalyse, die aus der Sicht des Nordens reduziert bleibt, erweitern. Das bedeutet für die kritischen Sozialwissenschaften, dass auch sie ihre Agenda erweitern müssen. Einige der Problematiken, die Connell im sozialen Denken postkolonialer und peripherer Gesellschaften besonders aufgefallen sind, sind die folgenden: 1. Der erste Punkt ist auch von Burawoy genannt worden. Es handelt sich darum, dass in postkolonialen Gesellschaften der Verlust des Landes ein konstantes Thema zu sein scheint. Für Connell müssen diesem aber noch weitere Probleme hinzu addiert werden. 2. So zum Beispiel der Verlust der Religion. In postkolonialen Gesellschaften, die nicht die Zeit hatten, »säkulare Religionen« zu erfinden, hinterlässt der Verlust ihrer Religionen vielleicht tiefere Wunden als in den Gesellschaften des Nordens, die die Funktion der Religion effizienter kompensieren konnten. 3. Ein weiterer Themenkomplex bildet sich um die sogenannten Megastädte,

2

Connell setzt sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Ulrich Becks Vorschlägen für eine kosmopolitische Wende in der Soziologie auseinander (vgl. Connell 2010b).

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die für die negativen Auswirkungen der Modernisierung des Südens besonders charakteristisch sind. 4. Und schließlich nennt Connell noch die Notwendigkeit, sich nicht nur mit dem Thema der Konstruktion sozialer Beziehungen zu beschäftigen, sondern auch mit der »destruction of social relations«, die in postkolonialen und peripheren Ländern – wir haben dies bei Paz gesehen – ein ganz zentrales Problem darzustellen scheint (vgl. 214-215). Es gibt noch einige weitere Punkte, die Connell ins Programm einer möglichen Weltsoziologie aufgenommen wissen will. Einer der wichtigsten, dem sie sich selbst in ihrem Buch ausführlich widmet, besteht darin, »non-metropolitan bases of cultural authority« festzulegen (vgl. 228). Wie wir bereits gesehen haben, ist der Einfluss kultureller Größen wie Octavio Paz im Vergleich zu Autoren und Denkern des Nordens unverhältnismäßig gering. Das Problem liegt aber nicht nur darin, dass sie im Norden nicht die verdiente Anerkennung finden, sondern dass sie auch in ihren eigenen Gesellschaften darum ringen müssen. Wenn es aber darum gehen soll, eine sinnvolle Welt für alle Menschen zu konstruieren, ist es notwendig zu entscheiden, welchen Vertretern die jeweiligen Gesellschaften eine so wichtige Aufgabe anvertrauen wollen. All dies dürfe nicht dazu führen, nur noch die Wirklichkeiten der Moderne des Südens zu studieren. Auch in einer möglichen Weltsoziologie, wie sie Connell anvisiert, sollen die Gesellschaften des Nordens Objekt der Forschung bleiben. Wohl aber empfiehlt Connell dabei, das Forschungsinteresse in eine andere Richtung zu lenken: Es müsse viel mehr als bisher darum gehen zu verstehen, wie sich die Gesellschaften des Nordens als globale Metropolen konstituieren, und welche Rolle die Sozialwissenschaften bisher dabei gespielt haben (vgl. 229). Connells Vorschlag für eine Weltsoziologie wird von drei Kriterien getragen, die auch in diesem Buch im Vordergrund stehen sollten: 1. Das Interesse an menschlichen Erfahrungen, die bisher nicht in den Sozialwissenschaften reflektiert werden, entspricht einem tiefen Humanimus, der sich den Problemen aller Menschen stellen will. 2. Ihr Grundverständnis geht davon aus, dass die Probleme aller Menschen durch die globale Moderne in einem unauflöslichen Verhältnis zueinander stehen, auch wenn es sich dabei noch um ein sehr ungleiches Verhältnis handelt. Diese Ungleichheit rufe vor allem eine kritische Sozialforschung auf den Plan. 3. Die Ungleichheiten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die globale Moderne nicht nur ebenso real

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ist, sondern auch, dass es kaum eine Alternative zu geben scheint. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften liegt nicht nur darin, diese globale Realtität der Moderne zu registrieren, sondern auch Projekte zu entwickeln, die helfen können, die globale Realität zu denken und normativ zu orientieren. Dies wäre nur im Rahmen eines globalen Diskussionszusammenhangs möglich, in dem sich Sozialwissenschaftler der ganzen Welt der Aufgabe stellten, eine gemeinsame Welt, eine Welt aller Menschen zu denken. Die mexikanische Schriftstellerin María Luisa Puga schrieb: »Es scheint so, als hätten die kulturellen Projekte, die bis heute existieren, das Ziel, uns die Kultur zu zeigen, die andere Völker produzieren, damit wir lernen, nicht damit wir wissen. Nicht damit wir uns bereichern, sondern damit wir uns beugen« (Puga 2010).

Puga wollte damit aus der Sicht postkolonialer Gesellschaften die Logik der kulturellen Beziehungen zwischen Nord und Süd beschreiben. Wenn wir diese Formel aber aus der Sicht der mainstreamSozialwissenschaften lesen würden, die ihr Zentrum noch im globalen Norden haben, könnten wir daraus einen Leitspruch entwickeln, dem eine Weltsoziologie folgen könnte: »Es scheint so, als hätten die kulturellen Projekte, die sich heute ankündigen, das Ziel, uns die Kulturen zu zeigen, die andere Völker produzieren, damit wir von ihnen lernen und damit wir uns mit ihnen bereichern, um so gemeinsam den Herausforderungen unserer gemeinsamen Welt zu begegnen«.

Literatur

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 143, 160, 166, 257 Alexander, Jeffrey C. 96 Fn. 3, 150 Appadurai, Arjun 94f. Arendt, Hannah 291, 293 Arnason, Johann P. 100 Assmann, Jan 256 Bachmann-Medick, Doris 121f., 158f., 160 Barreto, Luz Marina 146 Bauman, Zygmunt 85f., 90, 156f. Beck, Ulrich 86, 130f., 262 Benjamin, Walter 19, 71, 135148 Berger, Johannes 61 Fn. 3 Berman, Marshall 137f., 147 Bhabha, Homi 108 Bhambra, Gurminder 101, 105, 107f., 112, 277 Blaut, James M. 103 Böhme, Hartmut 44f. Bourdieu, Pierre 64 Brading, David A. 261 Brunkhorst, Hauke 257 Buergel, Roger M. 54

Burawoy, Michael 22, 286290, 295 Caillois, Roger 217, 235, 237240 Capetillo-Ponce, Jorge 234 Caso, Antonio 185, 200-203 Cassirer, Ernst 79, 245 Castañeda Sabido, Fernando 182 Castells, Manuel 170, 172 Cayuela Gally, Ricardo 244 Césaire, Aimé 29 Fn. 3, 103 Cheah, Pheng 50, 52 Clifford, James 157f. Connell, Raewyn 22, 51, 132, 291-296 Conrad, Sebastian 57 Coser, Lewis A. 152f., 210 Costa, Sérgio 106, 110f. Delanty, Gerard 101, 160f. Demirović, Alex 212 Dirlik, Arif 93f. Dos Santos, Theotonio 193f. Durand, Gilbert 80 Dussel, Enrique 104f. Dux, Günter 16, 24-26 Echeverría, Bolívar 147, 186

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Eisenstadt, Shmuel N. 96-100, 230 Escobar, Arturo 61 Fn. 4 Ette, Ottmar 40-48, 205 Fabian, Johannes 75, 231 Fanon, Frantz 29, 272-276, 279 Featherstone, Mike 85, 93 Fine, Robert 49, 50 Foucault, Michel 12f., 124, 187 Frisby, David 85, 136f., 147 Furtado, Celso 195 García Canclini, Néstor 95f. Germani, Gino 190-193 Giddens, Anthony 88-90 Gilroy, Paul 176 Girola, Lidia 186 Grenier, Yvon 213-216 Grosfoguel, Ramón 195, 278 Günzel, Stephan 78 Fn. 13 Habermas, Jürgen 62, 68, 145f., 164, 166, 180, 181, 187, 210 Fn. 2, 212, 268 Hardt, Michael 90f. Heidegger, Martin 248 Henriquez Ureña, Pedro 204 Fn. 7 Honneth, Axel 115, 166, 215f. Horkheimer, Max 11, 13, 164, 290 Fn. 1 Humboldt, Alexander 13, 17, 40, 41-49, 51, 177 Inglis, David 51 Jaeggi, Rahel 14 James, William 115 Joas, Hans 115, 179-181, 215 Kersting, Wolfgang 37

Knöbl, Wolfgang 64-66, 73 Fn. 12, 98, 133 Koselleck, Reinhart 69, 70, 145 Kramer, Sven 143 Larrain, Jorge 190, 191, 193 Lash, Scott 89, 93 Lepenies, Wolf 47, 49, 154, 155 Lepsius, Rainer 73 Lerner, Daniel 74ff. Levine, Donald N. 150ff. Lomnitz, Claudio 280 Löwy, Michael 146 Luhmann, Niklas 113-116, 156 Maldonado-Torres, Nelson 279 Mendieta, Eduardo 87 Menzel, Ulrich 62, 63 Mignolo, Walter D. 105, 119, 120, 190, 191, 231, 232 Fn. 3 Miller, Nicola 205, 206 Moebius, Stephan 235f. Montaigne, Michel de 39, 40 Nassehi, Armin 92, 93 Negri, Antonio 90 Nussbaum, Martha C. 127f. Parsons, Talcott 71-73 Paz, Octavio 10, 15, 16, 21, 29, 30, 71, 155, 181f., 188f., 200, 207, 209-240, 241-283, 295 Pries, Ludger 87f., 91f., 268 Puga, María Luisa 296 Ramos, Samuel 206f., 266 Randeria, Shalini 57 Reinhard, Wolfgang 27, 69 Renn, Joachim 159f.

P ERSONENREGISTER | 321

Reuter, Julia 103, 106 Reyes, Alfonso 203-206 Reyna, José Luis 184 Riegel, Klaus-Georg 59 Riesman, David 72f. Ritzer, George 89 Robertson, Roland 51, 89, 172 Rodríguez Ledesma, Xavier 210-213, 254 Rosa, Hartmut 226 Rosaldo, Renato 126 Rüsen, Jörn 120 Said, Edward W. 123ff. Saladino García, Alberto 207 Santí, Enrico Mario 216ff., 220, 234, 260 Santos, Boaventura de Sousa 19, 163-177 Schmidt, Volker H. 53, 55f., 58, 99 Fn. 5 Scott, James C. 93, 280 Seel, Martin 257 Shils, Edward 72 Simpson, Lorenzo 121

Sloterdijk, Peter 135f., 141, 143 Spivak, Gayatri Chakravorty 28 Stavenhagen, Rodolfo 185 Taylor, Charles 67 Tenbruck, Friedrich H. 117f. Therborn, Göran 148f. Tiryakian, Edward A. 55f. Tönnies, Ferdinand 71, 73 Toulmin, Stephen 17, 33, 3440, 50, 68 Fn. 10, 69, 89 Venn, Couze 104 Villa, Paula-Irene 103, 106 Villoro, Luis 199, 233f., 258 Wagner, Peter 133ff. Wallerstein, Immanuel 80, 169, 172, 190f. Weinberg, Liliana 269 Wittrock, Björn 92, 100 Young, Robert J. C. 106 Zabludovsky, Gina 65 Fn. 7, 186 Zea, Leopoldo 44, 198f

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-7

Jörn Rüsen (Hg.) Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen 2010, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1414-5

Chun-chieh Huang Humanism in East Asian Confucian Contexts 2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5

Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique 2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9

Helmut Johach Von Freud zur Humanistischen Psychologie Therapeutisch-biographische Profile 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1294-3

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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1172-4

Carmen Meinert (ed.) Traces of Humanism in China Tradition and Modernity 2010, 210 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1351-3

Carmen Meinert, Hans-Bernd Zöllner (eds.) Buddhist Approaches to Human Rights Dissonances and Resonances 2010, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1263-9

0liver Kozlarek Moderne als Weltbewusstsein Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne Oktober 2011, 324 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1696-5

Anna Sieben, Katja SabischFechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme Dezember 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-9

Jürgen Straub (Hg.) Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie Dezember 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1699-6

Ernst Wolff Political Responsibility for a Globalised World After Levinas’ Humanism Mai 2011, 286 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1694-1

Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten (hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier) Oktober 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-6

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