Mediale Markierungen: Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken [1. Aufl.] 9783839404829

Die theoretische Beschäftigung mit den medialen Bedingungen von Kultur hat eine ausdifferenzierte Geschichte, die nicht

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Mediale Markierungen: Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken [1. Aufl.]
 9783839404829

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis von Theoriebildung und Institutionalisierung
Medienkulturanalyse – Skizzen eines interdisziplinären Faches
Geist, Kultur, Medien – Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff
Blinde Flecken der Medientheorie
Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung. Genealogische Spuren der Mediennutzung
Der Alltagssinn des Fern-Sehvergnügens
Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel. Formen der Bildbearbeitung zwischen Information und Verschleierung
Weltverlust und Medienwirklichkeit
Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer kritischen Medienästhetik
Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit
Tinte, Blut und religiöse Praxis
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen

m e d i e n · k u l t u r · a n a l y s e | herausgegeben von Reinhold Görling | Band 4

2007-02-20 13-53-09 --- Projekt: T482.kumedi.dietz.skrandies.medien / Dokument: FAX ID 0298139957328968|(S.

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Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-482-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Simone Dietz und Timo Skrandies Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis von Theoriebildung und Institutionalisierung 7 Reinhold Görling Medienkulturanalyse – Skizzen eines interdisziplinären Faches 13 Matthias Vogel Geist, Kultur, Medien – Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff 45 Elena Esposito Blinde Flecken der Medientheorie 83 Irmela Schneider Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung. Genealogische Spuren der Mediennutzung 101 Ralph Weiss Der Alltagssinn des Fern-Sehvergnügens 131 Christian Schicha Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel. Formen der Bildbearbeitung zwischen Information und Verschleierung 155

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Simone Dietz Weltverlust und Medienwirklichkeit 183 Burkhardt Lindner Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer kritischen Medienästhetik 195 Timo Skrandies Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit 215 Christina von Braun Tinte, Blut und religiöse Praxis 253 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 273

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Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis

Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis von Theoriebildung und Institutionalisierung Simone Dietz und Timo Skrandies

In seinem Vortrag über »Die unbedingte Universität«1 skizziert Jacques Derrida die idealen Bedingungen universitären Lehrens und Lernens: »unbedingte Freiheit der Frage« und das Recht, »öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt« (Derrida 2001: 10). In Anknüpfung an Kants Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs fordert er für die Universität »eine Art absoluter Immunität« (ebd. 45), die es erlaubt, nicht nur innerhalb der Universität, sondern in einem nicht weiter einzugrenzenden öffentlichen Raum »alles zu sagen« (ebd. 14), ohne sich den einschränkenden Bedingungen bestimmter, z.B. ökonomischer oder politischer Zwecke und Interessen unterzuordnen. Derridas »Unbedingtheitsprinzip« bezeichnet mit dem hohen Anspruch eines der Aufklärung verpflichteten Denkens zugleich auch das mögliche Scheitern universitärer Wissenschaft: Sie bleibt eine Gratwanderung zwischen den Abgründen mangelnder praktischer Relevanz einerseits und der praktischen Vereinnahmung durch jeweilige Interessen und Mächte andererseits. Derridas Überlegungen bleiben nicht auf den möglichen Konflikt mit außeruniversitären Mächten beschränkt, sie verweisen 1. Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M. 2001. Der Vortrag wurde zuerst 1998 an der Universität Stanford, im Jahr 2001 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. gehalten.

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auch auf inneruniversitäre Auseinandersetzungen. Der unbedingte Anspruch der Universität, der Ort zu sein, »an dem nichts außer Frage steht«, eröffnet auch den schon von Kant erörterten »Streit der Fakultäten«. Ähnlich wie Kant damals der Philosophischen Fakultät weist Derrida heute den »Humanités« eine zentrale Rolle für die universitäre Debatte zu. Nicht zuletzt von der Erneuerung der »Humanités« hänge es ab, ob die moderne Universität im Prozess der Globalisierung die Erfordernisse der Humanisierung überzeugend vertreten kann. Die Reflexion auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen, wie z.B. die Transformation des öffentlichen Raums und der gesellschaftlichen Arbeit durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikations-Technologien, erfordert Derrida zufolge ein Überschreiten der »überlieferten Grenzen der Fachbereiche«, ohne dass damit die Besonderheit der Einzeldisziplinen aufgelöst und dem unspezifischen Rahmen der Interdisziplinarität oder der ›cultural studies‹ preisgegeben werden sollten (ebd. 65). Schon die Verlegenheit, die beim Versuch einer Übersetzung des französischen bzw. angelsächsischen Begriffs der ›Humanités‹ bzw. ›Humanities‹ ins Deutsche aufkommt, ist symptomatisch für den gegenwärtigen Streit um die Philosophischen Fakultäten in Deutschland. Kann das Fächerspektrum der Philosophischen Fakultät noch unter dem Dach der ›Geisteswissenschaften‹ zusammengefasst werden, oder ist die Bezeichnung ›Kulturwissenschaften‹ dafür angemessener?2 An dieser nur scheinbar unbedeutenden Frage des gemeinsamen Namens entzündet sich alter und neuer Streit um das wissenschaftliche Selbstverständnis, angefangen bei den Debatten um »die zwei Kulturen«3 oder die so genannte »Kompensationsfunktion« der Geisteswissenschaften4, bis 2. Wolfgang Frühwald u.a.: Geisteswissenschaften heute, Frankfurt a.M. 1991. 3. Die unter dem Titel »Die zwei Kulturen« von C. P. Snow bereits 1959 eröffnete Diskussion über das Verhältnis von »literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz« (so der Untertitel des 1967 von Helmut Kreuzer herausgegebenen Diskussionsbandes), ist bis heute Teil wissenschaftlicher Selbstverständigungsdebatten. Vgl. u.a. Karen Gloy (Hg.): Im Spannungsfeld zweier Kulturen. Eine Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, Kunst und Technik. Würzburg 2002. 4. Odo Marquard: »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften«. In: ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986.

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hin zur Forderung nach Etablierung der Kulturwissenschaft als neuer Disziplin.5 Die universitäre wissenschaftliche Beschäftigung mit Medien kann diesen Debatten schon deshalb nicht entgehen, weil Medien als Theoriegegenstand keiner traditionellen Disziplin per se zuzuordnen und auf keine Einzeldisziplin zu beschränken sind. Mediale Praktiken sind Gegenstand sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlicher Reflexionen, ›Medien‹ fungieren als Grundbegriff für Ansätze der Philosophie des Geistes wie für literaturwissenschaftliche Analysen, für empirische politikwissenschaftliche Untersuchungen wie für kulturhistorische Betrachtungen. Die Disziplinen überschreitende Thematisierung führt nicht selten zu allergischen Reaktionen und Vorbehalten klassischer Fächer. So steht die Medientheorie gerade wegen der Bandbreite der Disziplinen, die an ihr beteiligt sind, unter dem Verdacht, unspezifisches Gerede ohne identifizierbaren Gegenstand zu sein, bloße Modeerscheinung ohne wissenschaftliche und praktische Relevanz. Disziplinär begrenzte und anwendungsorientierte Untersuchungen, wie beispielsweise sozialwissenschaftliche Erhebungen zum Umgang mit Massenkommunikationsmedien, sehen sich andererseits dem Vorwurf ausgesetzt, aus einer verengten Perspektive dem komplexen Gegenstand nicht gerecht zu werden oder in den Abgrund ökonomischer und politischer Vereinnahmung zu stürzen. Zwischen den verschiedenen medientheoretischen Ansätzen herrscht nicht selten Sprach- und Verständnislosigkeit, die durch den Rückzug auf traditionelle disziplinäre Grenzen nicht zu überwinden sein wird. Die Aufgabe der Medientheorie in dieser Situation kann es nun nicht sein, eine kontextbereinigte, allgemein gültige Definition des Reflexionsgegenstands ›Medien‹ bzw. ›medialer Praktiken‹ zu liefern. Eine solche kontextblinde Abstraktion könnte in der Tat nur noch unspezifisches Gerede sein, dem der Gegenstand abhanden gekommen ist. Aus dem gleichen Grund kann es auch nicht darum gehen, an der Universität eine neue Disziplin »Medienwissen5. Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 19ff., 104ff. Vgl. auch die Stellungnahmen zur »Kulturwissenschaftlichen Wende in den Geisteswissenschaften« von Thomas Göller, Birgit Recki, Ralf Konersmann und Oswald Schwemmer in: Information Philosophie, 3/2005, S. 20-32.

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Simone Dietz und Timo Skrandies

schaft« zu etablieren, die die alleinige oder auch nur primäre Zuständigkeit für den Theoriegegenstand ›Medien‹ beanspruchen könnte. Den jeweiligen disziplinären und interdisziplinären Thematisierungen medialer Praktiken kann es nicht abgenommen werden, im Kontext ihrer Fragestellung und ihres Anwendungsfeldes auch die Bedeutung des Medienbegriffs zu bestimmen und Anschlussmöglichkeiten aufzuweisen, die sich damit für andere Theoriekonzepte und Herangehensweisen eröffnen. Medientheoretische Bestimmungen sind nur als Markierungen eines jeweiligen Theoriefeldes möglich, nicht als Monopol für die Marke ›Medien‹. Die ›Mark‹, von der sich die ›Markierung‹ und das Verb ›markieren‹ ableiten, stammt von den althochdeutschen Worten ›marka‹ – für Grenze, Ende, Grenzland, Zeichen – und ›marc‹ – für Abgrenzung, Bestimmung.6 Mit der Markierung wird etwas kenntlich gemacht, tritt hervor, gelangt überhaupt erst zur Wahrnehmbarkeit. Prozesse der Markierung sind solche der Produktion und Sichtbarmachtung kulturellen Sinns, durch sie und in ihnen werden kulturelle Topographien produziert und ausgestaltet. Durch sie, da es zur Markierung spezifischer Technologien bedarf, die selbst als mediale Praktiken aufgefasst werden können; in ihnen, da die Performanz der Markierung nicht von dem durch diese Technologien gebundenen bzw. geformten Sinn gelöst werden kann. Die in diesem Band versammelten Texte sind in diesem Sinn ›Mediale Markierungen‹: Ausdruck der Vielfalt medientheoretischer Ansätze und des Bemühens, sich im Kontext dieser Pluralität medientheoretischer Reflexionen zu positionieren. Der äußere Anlass für die Entstehung der hier publizierten Beiträge war eine Ringvorlesung an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die unter dem Titel »Medientheorie und mediale Praktiken« im Wintersemester 2004/05 durchgeführt wurde. Motiv dieses Projekts war das Interesse, medienwissenschaftlich arbeitende Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen und disziplinübergreifenden Studiengängen unserer Fakultät und aus Einrichtungen außerhalb Düsseldorfs einzuladen, um anhand ihrer exemplarischen und je spezifischen Zugänge und Analysen Auskünfte über die thematische und methodische Band-

6. »Mark«, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: dtv 1999, S. 839.

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Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis

breite und die Anschlussfähigkeit medientheoretischer Konzepte zu erhalten. Die Beiträge wurden für die Publikation grundlegend überarbeitet und teils thematisch erheblich ausgebaut oder modifiziert. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die intensive Beteiligung an diesem Projekt. Zu danken ist auch der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes. Der Gesellschaft von Freunden und Förderern und dem Dekanat der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf danken wir außerdem für die Förderung der Ringvorlesung. Und schließlich geht unser herzlicher Dank an Frau Myung Hee Theuer M.A. und Frau Maike Vollmer für die aufmerksame und zuverlässige Mitarbeit bei der Redaktion des Manuskriptes.

Düsseldorf im Dezember 2006

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Medienkulturanalyse – Skizzen eines Faches

Medienkulturanalyse – Skizzen eines interdisziplinären Faches 1 Reinhold Görling

In einer mündlichen Prüfung hat Yasemin, eine Studentin des Düsseldorfer Masterprogramms »Medienkulturanalyse«, vom Hochzeitsfernsehen erzählt. Weil die Visabestimmungen so restriktiv geworden sind und auch die Reisekosten so hoch, hat sich eine neue Sparte der Fernsehunterhaltung etabliert. Über Satelliten wird türkisches Hochzeitsfernsehen gesendet. So können Hochzeitspaare ihre in der Türkei lebenden Familienangehörigen und Freunde an ihrem Fest teilnehmen lassen. Aber auch Unbekannte, denn die Übertragungen sind offen. Yasemin erzählte, dass sie bisweilen dieses Programm einschalte und zu Tränen gerührt davor sitzen bliebe. Das ginge ihr ebenso nahe wie das deutsche Weihnachtsfest, sagte die 1982 in Deutschland geborene und hier aufgewachsene Tochter von der Türkei nach Deutschland migrierter Eltern. Yasemin illustrierte mit dieser kleinen Erzählung das Thema ihrer Prüfung: die Übertragung des psychoanalytischen Konzepts des Übergangsraumes auf das Leben in und zwischen zwei Kulturen. Es sei ein Reichtum, beide Kulturen in sich zu haben: die Feste und Rituale, die Bilder, die Landschaften und die Sprachen, in denen Gefühle geschaffen werden und gebunden sind. 1. Ein Teil dieser Ausführungen geht auf Vorträge zurück, die ich im April 2006 in der vom AStA der Heinrich-Heine-Universität veranstalteten Vorlesungsreihe »Kulturkonstruktionen« und in erweiterter Fassung im Rahmen der Tagung »The Negative Influence of Media on Public Opinion« am 11. Mai 2006 im German Innovation Center im IDC Herzliya, Israel, gehalten ha-

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Die Konjunktur politischer Themen in der Öffentlichkeit folgt untergründigen Tendenzen, die längst nicht mehr aus nationalen Entwicklungen alleine zu erklären sind. Eine anhaltende Gewalt im internationalen Rahmen, bei der zudem politische Verbündete aktiv beteiligt sind, wie die USA im Krieg im Irak und ihrer arroganten Aufrechterhaltung von Folterpraktiken und des völkerrechtswidrigen Gefangenenlagers bei Guantánamo auf Kuba, treibt auch in einem innenpolitischen Zusammenhang zu einer Konfrontation von Einstellungen. So war das Frühjahr 2006 in Deutschland sehr stark geprägt von Diskussionen über Konflikte, die, glaubt man der Mehrzahl der Berichte und veröffentlichten Meinungen, ihre Gründe in der kulturellen Differenz der Einwohner dieses Landes haben sollen. Einige der Beispiele: Ende März schrieben Lehrer einer Berliner Hauptschule einen Brief, in dem sie ihr Scheitern erklärten, mit der Gewalt, die unter den Schülern herrsche, die aber auch gegenüber den Lehrern angedroht würde, zurecht zu kommen. Über zwei Drittel der Schüler dieser Schule sind Kinder von Migranten. Kurz danach fand der Prozess gegen die drei Brüder einer im vorangegangenen Jahr ermordeten Frau türkischer Abstammung statt. Der jüngste Bruder war geständig, sie wegen Verletzung der Familienehre durch einen Kopfschuss getötet zu haben. Den zwei anderen Brüdern konnte keine Beteiligung nachgewiesen werden. Sie wurden frei gesprochen. Fast alle Journalisten, die das auf den Titelseiten kommentierten, kritisierten das Urteil als fragwürdig. Man wisse doch, wie so etwas geschehe. Eine Woche später wurde ein Mann mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma in ein Krankenhaus eingeliefert, der von zwei jungen Männern auf offener Straße schwer misshandelt worden war. Das Opfer hat deutsche Staatsbürgerschaft, lebt seit über zehn Jahren in Deutschland und ist äthiopischer Herkunft. Die Täter beschimpften ihn unter anderem als »dreckiger Nigger«. Und nur wenige Tage darauf machten angesehene Tageszeitungen ihre Titelseiten auf mit der Meldung, dass an einer Bonner Schule zwei junge Frauen nach den Osterferien eine Burka tragend zur Schule gekommen seien. Der Rektor hat die beiden, nachdem sie sich weigerten, das Bekleidungsstück im Unterricht abzunehbe. Ein anderer Teil ist erstmals im Jahrbuch 2004 der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erschienen.

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men, vom Unterricht suspendiert. Auch hier gab es durchweg zustimmende Kommentare. Betrachtet man diese Meldungen etwas länger, wird es doch schnell fragwürdig, ob die mit ihnen verbundenen Konflikte tatsächlich als kulturelle Konflikte zu bezeichnen sind. Im Fall der gewalttätigen Hauptschüler haben wir es mit einer deklassierten sozialen Schicht zu tun, deren Mitglieder kaum Chancen auf soziale Anerkennung oder gar Aufstieg haben. Insbesondere männliche Jugendliche suchen sich in Banden und gewaltsamen Akten einen Ersatz. Ob dabei die Gruppierung der Banden nach ethnischen Merkmalen etwas mit kulturellen Bestimmungen zu tun hat, scheint mir eher zweifelhaft zu sein. Die Berichte auch von anderen Schulen deuten darauf hin, dass eine Spaltung zwischen den Schülern längs einer konstruierten Differenz Deutsche/ Ausländer auftritt. Das ist eine politische, nicht aber eine kulturelle Unterscheidung. Dass der Brief der Lehrer eigentlich auf die Kritik der Schulform Hauptschule abzielte, die solche Ghettos von sozial deklassierten Jugendlichen schaffe, wurde im übrigen in vielen Berichten gar nicht weiter beachtet. Im zweiten Fall haben wir es mit einer Tradition agrarischer Gesellschaften zu tun und einer besonders drastischen Form, die soziale Hierarchie zwischen den Geschlechtern und die etablierten Formen der sexuellen Identitäten durchzusetzen. Der Konflikt, der sich hier äußert, könnte sich auch in Istanbul abspielen, also zwischen einer modernen Türkei und den agrarischen Regionen, in denen die Regulation des Verhaltens über das Konzept der Ehre erfolgt. Der Fall der Körperverletzung des Deutschen äthiopischer Herkunft scheint das zu sein, was man Rassismus nennt. Rassismus hat mit kultureller Differenz zumindest zunächst sehr wenig zu tun, sondern ist eher als eine Krise in der Konstruktion einer Kohärenz des eigenen und der Bindung von Aggression zu verstehen. Das galt auch hier: Allen Informationen zufolge ist das Opfer ein sozial und kulturell vollständig in die deutsche Gesellschaft integrierter Familienvater. Bleibt das Problem mit der Burka: Es gibt keine Hinweise darauf, dass es die Eltern oder nahe Verwandte der Schülerinnen waren, welche die beiden jungen Frauen zu diesem Verhalten angeleitet oder gar gezwungen hätten. Sie hätten das wahrscheinlich freiwillig gemacht, äußerten sich Mitschülerinnen. Geht es um einen 15

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kulturellen Konflikt? Es lässt sich von außen gar nicht beantworten, in welcher subjektiven Situation die beiden Schülerinnen sind, was ihre Motive sind, die Burka zu tragen. Suche nach Geschlechtsidentität, nach sozialer Anerkennung, nach Partizipation an einer religiösen Gemeinschaft? Wir wissen es nicht, doch gleichwohl brachte zum Beispiel die Rheinische Post auf der Titelseite das großformatige Farbfoto eines mit einer hellblauen Burka behängten Kopfes (29.04.06). Da als Herkunft des Bildes nur eine Agentur angegeben war, nicht aber Ort und Zeit, wurde suggeriert, dass es sich sogar um ein Foto einer der beiden Frauen handeln könnte. Und die Politik greift in erschreckender Hilflosigkeit auf nationalstaatliche Praktiken des 19. Jahrhunderts zurück. So reagierte das darauf folgende Wochenende die Bundesjustizministerin Zypries damit, die Einführung von Schuluniformen zu fordern. Was zeigen diese Konflikte und wie stehen sie zu der positiven Erzählung Yasemins? Zunächst ist offensichtlich, dass viele Konflikte, die in den Medien und in der öffentlichen Diskussion als kulturelle bezeichnet werden, ganz andere Gründe haben, dass es aber zugleich gerade in der Mehrheitsgesellschaft ein erschreckendes Bedürfnis gibt, Konflikte zu kulturalisieren und zu Fragen der nationalen Identität zu stilisieren, ja, vielleicht sogar Konflikte ganz anderen Ursprungs in diesen kulturellen Bereich zu verlagern. Zum anderen aber zeigen viele Beispiele kultureller Integration und Vielfalt – sowohl auf der Ebene der Individuen wie auf einer gesellschaftlichen –, dass ganz verschiedene kulturelle Erfahrungen im Individuum in engstem Kontakt koexistieren können. Nur ist dies selten Gegenstand öffentlicher Diskussion. Wir stehen also vor einer merkwürdigen und irritierenden Beobachtung eines Zugleich von Kreativität, Reichtum und Phantasie kultureller Vermischung einerseits, von Abgrenzung, Ausschluss und Zurückweisung oder gar Verfolgung des anderen andererseits. Wie können diese sich widersprechenden Bewegungen in ein und derselben Gesellschaft und manchmal sogar im einzelnen Subjekt gleichzeitig wirksam sein? Bedingen und verstärken sie sich sogar, oder entstammen sie verschiedenen Registern des Verhaltens, die nebeneinander koexistieren können, ohne dass es überhaupt als ein Widerspruch erfahren wird? Weniger als je zuvor lassen sich in heutigen Gesellschaften kulturelle, soziale, politische und die Subjektivität des einzelnen betreffende Prozesse getrennt analysieren. Gerade deshalb aber setzt 16

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Medienkulturanalyse – Skizzen eines Faches

ihre Analyse ein hohes Differenzierungsvermögen voraus. Im Folgenden möchte ich zunächst einige spezifische Problem- und Gegenstandszusammenhänge der Medienkulturwissenschaften umreißen, und zwar unter den Stichworten Medien und Kultur, Kulturelle Energie, Medialität, Interkulturalität. Unter dem Stichwort Kulturalisierung und soziale Differenz möchte ich dann am Ende auf die Frage der Kulturalisierung von Konflikten und der veränderten Bedeutung von Kultur zurückkommen.

Medien und Kultur Gehen wir aus kulturanthropologischer Perspektive davon aus, dass es eine Ansprechbarkeit des Menschen durch den anderen gibt, dass es also so etwas wie eine menschliche Fähigkeit (und Notwendigkeit) zur Kommunikation gibt, so ist doch keine dieser Kommunikationen ohne ein Medium denkbar: Die Haut des Babys, über die es Wärme und Kontakt, An- und Abwesenheit eines anderen spürt, ist ein Medium. Die Stimme, die ein Kind schon nach wenigen Tagen wieder erkennt, ist es ebenso wie das Gesicht. Sprache, Rhythmus von Bewegungen, Musik und Lieder, bald aber auch schon die Bilder oder die Reproduktionen der eigenen oder fremden Gesichter auf Fotos und Videos, die Figuren des Fernsehens und immer weiter: die Kommunikation ist medial und durch diese Medien mindestens ebenso kulturell bestimmt wie durch das, was mitgeteilt wird. Wenn es zutrifft, dass zum Beispiel der Spiegel ein wichtiges Medium in der Entwicklung des Selbstgefühls eines Menschen ist, dann kann es nicht unbedeutend sein, ob diese Funktion allein von den Reaktionen der anderen auf die eigene Anwesenheit ausgefüllt wird, oder ob es ein visuelles Spiegelbild gibt. Und hier kann es wiederum nicht unbedeutend sein, ob das Spiegelbild im Wasser oder im Silber des beschichteten und transportierbaren Glases erscheint, und ob das gemalte Porträt, die Fotografie auf Papier oder das unmittelbar nach der Aufnahme sichtbare Bild auf dem Display einer Digitalkamera diese Rolle übernimmt. Die Zeit- und Raumverhältnisse variieren deutlich in Abhängigkeit von der Materialität. Medien ermöglichen, prägen und verändern das Verhältnis des einzelnen zu sich selbst und zum anderen. Die Entwicklung des Netzwerkes des menschlichen Hirns geschieht beim Wahrnehmen, 17

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Reinhold Görling

Fühlen und Denken (und während der zeitlich ganz anders strukturierten Verarbeitung dieser Wahrnehmungen und Erfahrungen): Die Verbindungen zwischen den Neuronen werden stabilisiert oder geschwächt, je nachdem, wie und was man denkt. Diese neuronale Plastizität lässt sich zunehmend durch die Bildgebungsverfahren nachweisen, die in den Neurowissenschaften entwickelt worden sind. Wie sich dabei der Einfluss der verschiedenen Medien im Einzelnen vollzieht, ist noch ein offenes Forschungsfeld. Es ist aber sicher, dass er stattfindet. Schon die Modelle der kulturellen Selbstbeschreibung sind medial und für die Organisation des Denkens maßgeblich. Ob unser Gedächtnis etwas ist, in dem Spuren hinterlassen werden wie im Sand oder im Waldboden oder in das etwas eingraviert wird wie in Stein oder Holz, ob wir etwas ›notiert‹ oder ›auf dem Schirm‹ haben, ob wir unser Denken als System oder als Netzwerk verstehen: diese und andere Modelle und Metaphern, in denen wir unser Denken beschreiben, haben eine ›harte‹ Dimension, das heißt, sie sind den Denkprozessen nicht äußerlich. Es ist vor allem der Film, für den schon früh über eine Wirkung des Mediums auf das Denken nachgedacht wurde. Mittels der Montagetechnik ist es dem Film möglich, selbst völlig neuartige Verknüpfungen herzustellen, Verknüpfungen zwischen weit voneinander entfernt liegenden Dingen und Geschehnissen, zwischen abstrakten und konkreten Bildern, zwischen langsamen und schnellen Bewegungen. Perzeption, Kognition, Erinnerung und Affekt, also der gesamte Zusammenhang der Wahrnehmung ist zutiefst medial bestimmt, weshalb die Medien bei der Herausbildung von Subjektivität eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind selbstverständlich auch konstitutiv an der Entstehung und Entwicklung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Institutionen einer Kultur beteiligt. Von der Herausbildung des Parlamentarismus in England weiß man, wie eng seine Verknüpfung mit dem Theater war. Doch dürfte das Rollenspiel, folgt man den Untersuchungen des amerikanischen Kulturwissenschaftlers Stephen Greenblatt, auch nachhaltige Folgen für das politische, soziale und auch militärische Denken selbst gehabt haben (Greenblatt 1980). Immer dann, wenn es um die Darstellung des eigenen und das Verständnis des anderen geht, ist in den europäischen Gesellschaften das Theaterspielen und ist die Erfahrung in der Rezeption von Theater wichtig. Andere Kulturen kennen andere theatrale Praktiken und religiöse Rituale, die 18

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Medienkulturanalyse – Skizzen eines Faches

zwischen dem eigenen und dem fremden oder auch zwischen der geordneten Welt und der chaotischen Vielfalt des Lebens eine Relation herstellen. Letzteres war der zentrale Untersuchungsgegenstand des New Yorker Theaterwissenschaftlers und Ethnologen Victor Turner (Turner 1989). Jede soziale oder politische Institution braucht eine Öffentlichkeit, und die ist ohne Medium nicht zu haben. Ob es das Parlament ist, die Kirche oder die Tageszeitung. Man denke nur an die Unterschiede der Gotteshäuser allein der drei monotheistischen Religionen, um zu ahnen, welch enge Beziehung zwischen der Architektur und dem Selbstverständnis der Gebete und Gottesdienste besteht. Die Tageszeitung spielt eine konstitutive Rolle im klassischen Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten: die Gruppe von Menschen, die sich mit einer Nation identifizieren, muss ebenso erst geschaffen werden wie die Symbole und Institutionen dieser imagined communities, wie der Historiker Benedict Anderson analysiert hat (Anderson 1988). Nationsbildungsprozesse laufen anders, wenn sie sich weniger auf die Zeitung und stärker auf das Radio oder gar auf den Fernseher stützen. Und längst bilden sich transnationale Gruppen heraus, die es ohne Fernsehen und Film schwerlich gäbe. Satellitenfernsehen und Kino tragen, jedes auf seine Weise, gegenwärtig zum Beispiel dazu bei, dass in Europa so etwas wie ein transnationales Bewusstsein der türkischen Migration entsteht. Doch wäre es selbst für die Analyse dieser sozialen und politischen Kommunikationsprozesse fatal, wollte man den Begriff des Mediums auf so genannte Massenmedien wie Zeitung, Radio und Fernsehen beschränken. Der Begriff ›Massenmedien‹ ist sogar in gewisser Weise irreführend und reflektiert in erster Linie das gleichzeitige Auftreten einer urbanen Ansammlung von Menschen und neuer Reproduktionstechniken. So kann zum einen die Masse ja durch Medien wie Aufmärsche und Paraden inszeniert werden. Und so treffen zum anderen die so genannten Massenmedien auf eine von ihnen nicht mehr kontrollierte Rezeptionssituation. Die Macht der Massenmedien wird oft grob überschätzt, werden nicht zugleich die kleineren sozialen Öffentlichkeiten in Betracht gezogen, in denen Botschaften weitgehend selbständig rezipiert und rekontextualisiert werden, wie vor allem die britische Tradition der cultural studies um Stuart Hall überzeugend nachgewiesen hat (Hall 2004). Mit anderen Worten: Was wir unter dem Kürzel Medien beschreiben, ist ein komplexes In- und Gegeneinander von Formen 19

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und Institutionen der Kommunikation, die intime, private, soziale und politische Öffentlichkeiten herstellen. Zusammen mit den Weisen zu denken bilden diese komplexen Zusammenhänge etwas, das man, in Anlehnung an Michel Foucault, »Episteme« nennen kann. Eines der deutlichsten historischen Beispiele ist die Entwicklung der Zentralperspektive in der italienischen Renaissance. Von der Geografie aufgegriffen und teilweise schon vorgedacht, hat sie sehr direkt in die literarischen Verfahren der Erzählung und in die philosophischen Konzepte gewirkt. Mit der langen Reihe von Verfahren, die entwickelt wurden, um die Zeichnung von zentralperspektivischen Bildern zu vereinfachen, sind auch optische Apparate entstanden. Von der camera obscura über den Fotoapparat mit analoger Aufnahmetechnik bis hin zum Pixelbild stellt die Zentralperspektive auch ein Medium für technische Erfindungen dar. Das Beispiel der Zentralperspektive ist deshalb auch geeignet, nach dem Einfluss der Medien bei der Herausbildung von Subjektivität und bei der Herstellung von sozialen und politischen Institutionen noch einen dritten Aspekt dieser Performativität anzusprechen: Medien generieren Wissen. Ein Teil unserer Kartografie und unserer Vermessungstechnik beruht auf dem Prinzip der Zentralperspektive. Im Verein mit den damit verbundenen optischen Geräten, den Teleskopen, den Mikroskopen und anderen war sie (in der so genannten Kopernikanischen Wende) an der Veränderung von Weltbildern beteiligt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt die Bedeutung der Zentralperspektive bei der Generierung neuen Wissens ab, da chemische und physikalische Prozesse zunehmend nicht-linear und nicht-zentralisiert beschrieben werden. Andere mediale Metaphern, namentlich die des Textes und der sprachlichen Codierung, sind seitdem an ihre Stelle getreten. Wenn Medien die Generierung unseres Wissens und damit auch unsere Zukunft maßgeblich beeinflussen, so bilden sie doch zugleich auch unsere Brücke zur Vergangenheit. Jede Erinnerung ist abhängig von einem Medium. Jedes Archiv ist eine Mediathek, bewahrt es nun Schriftrollen, Flugblätter, Akten, Bücher, Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Fotografien, Filme, Schallträger, digitale Datenspeicher oder auch Gegenstände des Alltagslebens historischer und aktueller Kulturen auf. Aber das größte und wichtigste Archiv sind wahrscheinlich unsere Sprachen, unsere Bilder und Musik selbst. Sie verknüpfen unseren Alltag und unsere Gegenwart 20

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unaufhörlich mit der Geschichte, mit unserer individuellen, aber auch mit der unserer Kultur und vielleicht auch darüber hinaus. Diese Verknüpfungen sind nicht chronologisch linear. So geht der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin davon aus, dass sich in jedem Wort eine Spur seines früheren Gebrauchs abgelagert hat und dass diese Spur auch aktualisiert werden kann (Bachtin 1979). Der Bildwissenschaftler Aby Warburg hat verfolgt, wie bestimmte visuelle Intensitäten, er hat sie Pathosformeln genannt, die Bilder unserer Gegenwart mit den Bildern der Antike und den Bildern anderer Kulturen verbinden (Warburg 2000). Und Walter Benjamin, um einen dritten derer zu nennen, die in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die wissenschaftlichen Grundlagen für eine Medienkulturwissenschaft entworfen haben, sah die Medien als ein Archiv unseres mimetischen Vermögens, also der Ansprechbarkeit des Menschen durch Konstellationen, Bilder oder Zeichen. Er verfolgt dies hypothetisch bis zur Empfänglichkeit für Sternenbilder zurück, die wohl einmal viel intensiver gewesen sei und für die unsere heutige Astrologie nur noch einen schwachen Begriff liefere (Benjamin 1977). So eng der Zusammenhang zwischen Medium und Kultur in allen diesen Gebieten ist, weder auf der Ebene des kulturellen und sozialen Gedächtnisses, noch auf der unseres Wissens oder gar der unserer Subjektivität und unserer vielfältigen Institutionen sind Medien und Kultur monokausal verbunden. Es gibt keinen historischen Fatalismus, nach dem bestimmte Medien auch bestimmte kulturelle Veränderungen verursachten. Der Zusammenhang ist komplexer und erlaubt keine monokausalen Entwicklungen. Wie lange es gebraucht hat, bis sich das kopernikanische Weltbild durchsetzte, mag auch hier nochmals als Beispiel dienen. Wie wenig Massenmedien wie das Radio und das Fernsehen ihren politischen Gebrauch vorgeben, wie sie als Medien der modernen Demokratie ebenso wie des politischen Totalitarismus benutzt werden können, hat die europäische Geschichte der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts deutlich gezeigt. Ein drittes Beispiel: In einer immer noch modellhaften empirischen Untersuchung über die sozialen Gebrauchsweisen eines einzelnen Mediums, nämlich der Fotografie, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu zeigen können, wie die sozialen Werte einer Gruppe den Umgang mit einem Medium bestimmen (Bourdieu 1981). Der Begriff der Medienkultur zielt auf dieses Schnittfeld von 21

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Kultur, Gesellschaft und Medien im Allgemeinen, im Besonderen hat er aber dieses Schnittfeld gerade dort zum Gegenstand, wo von einer Autonomisierung medialer Entwicklungen gesprochen werden kann. Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte erlauben es solange, dieses Schnittfeld zwischen Kultur, Gesellschaft und Medien angemessen zu untersuchen, wie die kulturellen Objekte sich weitgehend in charakteristischen und begrenzbaren Produktions- und Rezeptionszusammenhängen halten. Massenmediale Distribution von technischen und ästhetischen Produkten löst diese Begrenzbarkeit aber zunehmend auf. Dabei ist aus kulturwissenschaftlicher Sicht die Technik der Reproduktion der grundlegende Faktor, die massenmediale Distribution bestimmter Inhalte davon eher abgeleitet. Walter Benjamin hatte schon in seinem berühmten Aufsatz von 1936 über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« den Aspekt der Vervielfältigung betont (Benjamin 1974). Er führt zu einer tiefgreifenden Veränderung der Raum-Zeit-Wahrnehmung, etwas, das dann 1959, also gut zwei Jahrzehnte später, von Marshall McLuhan erneut als der bedeutsamste der »Revolutionary Effects of New Media« bestimmt wurde (McLuhan 2003). Medienkulturen sind mithin solche Kulturen, in denen die Reproduktionstechniken Produktion und Konsumtion kultureller Produkte prägen und vor allem eine praktisch unbegrenzte Dynamik der De- und Rekontextualisierung erlauben. Dies war mit dem Buchdruck sicher schon für den Bereich der Literatur seit dem 16. Jahrhundert gegeben, mit den visuellen, auditiven und mit den digitalen Reproduktionstechniken (Zeitschrift, Radio, Fotoapparat, Fernsehen, Videokamera, Computer, Mobiltelefon usw.) ist dies jedoch für praktisch alle kulturellen Produkte Wirklichkeit geworden. Damit ist aus der Buchkultur eine Medienkultur geworden.

Kulturelle Energie Die Raum-Zeit-Veränderungen in der Produktion und der Konsumtion kultureller Produkte und die mit der Reproduktion möglich gewordene Zirkulation haben noch weitere Konsequenzen. Eine ist die zunehmende Bedeutung der Konsumtion kultureller Produkte im Kontext ökonomischer Produktionszusammenhänge. So

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werden nur wenige Waren, die in den Fabriken unserer Industriegesellschaft hergestellt und auf dem Markt verkauft werden, heute noch konzipiert, ohne dass ein Spezialist in Gestaltung oder Design beteiligt ist. Erfolg und Misserfolg großer multinationaler Unternehmen hängen mehr als von jedem anderen mittlerweile davon ab, wie das Image der Produkte entworfen wird und wie es gelingt, den Konsumenten dafür zu interessieren. Dabei ist der Erfolg selbst mit großem finanziellem Aufwand betriebener Kampagnen nicht vorhersehbar und nur sehr begrenzt steuerbar. Designer müssen ihre Entwürfe, Werbebüros müssen ihre Konzepte, selbst Filmproduzenten müssen ihre fertigen Produkte erst in kleinen Märkten testen, um einigermaßen sicher über den Erfolg sein zu können. Es ist bekannt, dass viele in Hollywood produzierte Filme, selbst wenn ihre Herstellung Millionen gekostet hat, praktisch unpubliziert in den Archiven der Filmgesellschaften verschwinden, weil sie den Probelauf in den Kinos von Los Angeles nicht bestanden haben. Kultur scheint nicht berechenbar zu sein. Aber das schützt sie nicht davor, wie ein Rohstoff in die Produktion von Waren und Gütern eingeführt zu werden. Designer, Werbeagenturen und Filmproduzenten beuten die überlieferten Bilder, Zeichen und Erzählungen aus, sie nehmen sie in ihre Zwecke auf, bauen sie um, verändern sie. Daran ist wahrscheinlich gar nichts Verwerfliches, niemand dürfte im Ernst für sich das Recht beanspruchen können, ein Monopol auf das Erbe des kulturellen Gedächtnisses zu haben. Und jedes Aufgreifen ist ein Stück Tradierung, das immer auch eine Aktualisierung und Veränderung der Überlieferung, ein ›Umschreiben‹ bedeutet. Vielleicht werden dabei sogar neue Bilder entworfen, neue Zeichen kreiert, neue Geschichten erzählt. Nur hat sich durch diese Entwicklungen das Verhältnis von Kunst, Kultur und Ökonomie grundsätzlich verändert. Die alten Grenzen gelten nicht mehr, was hohe und was Massenkultur ist, ist entweder kein Qualitätskriterium mehr, oder es lässt sich nicht mehr über eine Verortung im kulturellen Feld der Gesellschaft bestimmen. Die Medienkultur ist ein Ort der kontinuierlichen Transposition kultureller Zeichen, vertikal, horizontal, historisch und geografisch. Die Transposition ist immer mit einer Umschrift verbunden, sei es dadurch, dass die Zeichen in einem neuen Kontext andere Verbindungen eingehen, sei es, dass die medialen Träger der Zei-

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chen diese selbst verändern. Was aber bringt dieses Tausch- und Austauschverhältnis in Gang, was ist die kulturelle Energie, die dies Band antreibt? Eine erste, soziologisch argumentierende Antwort würde davon ausgehen, dass die Subjekte daran interessiert sind, eine soziale Identität zu entwickeln. Identität ist nicht möglich ohne Differenz, so entwickelt jede Gesellschaft eine Vielzahl an Stilen – Stile des Verhaltens, des Kleidens, des Sprechens, der Haltung des Körpers, des Denkens. Wurden solche Habiten früher vor allem in sozialen Schichten und religiösen Gemeinschaften ausgebildet, so sind sie heute mindestens genauso Produkt der Partizipation an den Identifikationsangeboten, die Warenwelt und Massenmedien anbieten. Sie greifen dieses Bedürfnis auf und bieten Produkte an, um differente Identitätsentwürfe auszudrücken. Eine gewisse soziale Mobilität scheint Voraussetzung für eine solche Dynamik zu sein. Neue, aufsteigende Mittelschichten drücken ihre kleine Differenz, wie der Soziologie Pierre Bourdieu formuliert, mit wohl charakteristischen, dennoch auch immer wieder neu zu erfindenden Weisen der Wahrnehmung, der Erfahrung und des Urteils aus (Bourdieu 1982). Alle diese Identitätsentwürfe brauchen Medien, um sich selbst zu entwerfen und um zu wirken. Medien bieten Bühnen für dieses Theater: die Straße, das Lokal, die Zeitung, das Radio, das Kino, das Fernsehen, das Internet. Und jedes dieser Medien bietet für sich selbst wieder eine Vielzahl an unterschiedlichen Bühnen, in denen Aspekte dieser Identitätsentwürfe artikuliert werden können. Jede Stadt hat Straßen ganz unterschiedlicher Funktion, die auch bestimmt, wie sich die Passanten verhalten. Jedes Lokal, jedes Restaurant, jede Bar, jedes Geschäft versucht, selbst eine ›Identität‹ zu gewinnen, die von den Besuchern und Konsumenten gekauft wird. Jede Zeitung hat unterschiedliche Sparten, Radio und Fernsehen haben unterschiedliche Formate und das Kino kennt unterschiedliche Genres, in denen Aspekte der Identität präsentiert und ausgehandelt werden. Auch hierbei ist das Kriterium der Reproduktion kultureller Produkte aus kulturwissenschaftlicher Sicht entscheidender als das der massenhaften Verbreitung. Der aus den angelsächsischen cultural studies kommende Begriff des Aushandelns (negociation) betont, dass Identität in einem Prozess der Differenz zum anderen aber auch der Anerkennung durch den anderen entsteht, dass sie also nicht ›geschenkt‹ wird, dass die Subjekte sie sich in Konflikten erwerben. Doch ist mit die24

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sem Begriff auch verbunden, dass heute dieses Aushandeln der Identität schon für den einzelnen oder in ihm einen konflikthaften Prozess bedeutet. Gesellschaften sind vielleicht schon immer viel heterogener gewesen als es den Anschein hatte, aber lange Zeit hat für bestimmte soziale Schichten doch gegolten, dass sich zwei relativ stabile Identitäten entwerfen konnten: die der sozialen Klasse, der man angehört, und die des Geschlechts, der eine männlich dominierte Hierarchie zugrunde lag. Heute differenzieren sich beide Orientierungen zunehmend aus und gestalten sich immer weniger zweiwertig. Wahrscheinlich ist es die Frauenbewegung, die in den vergangenen hundert Jahren die intensivste Dynamik in diese Prozesse des Aushandelns von Identität gebracht hat. Beschreibt man Kultur als einen Raum der Zirkulation, wäre in einem nächsten Schritt wohl zu fragen, welchen ökonomischen Gesetzen dies unterliegt. Es gibt keine Sphäre des Tausches, die vollständig isoliert gegen ein Außen denkbar ist. In der klassischen Ökonomie wurde das der Gebrauchswert einer Ware im Gegensatz zu seinem Tauschwert genannt. Andere Grenzbegriffe sind zum Beispiel der des Mangels und der des Überflusses. Etwas Nichtidentisches, etwas, das sich der Vergleichbarkeit entzieht, muss die Zirkulation in Bewegung halten. Lässt sich der Mangel noch weitgehend mit dem Begriff des Gebrauchswertes fassen, ist das beim Überfluss nicht mehr möglich. Darauf sind Kulturanthropologen wie Bronislaw Malinowski und Marcel Mauss in den 1920er Jahren gestoßen und haben neben einer Ökonomie des Mangels auch eine des Überflusses entworfen. Dabei ist die Idee der Gabe, die Idee von etwas, das ein sozialer Akt des Gebens ist, der aber nicht oder nicht vollkommen in eine reversible Austauschbeziehung eingeht, als konstitutiv für Gesellschaften und Kulturen gesehen worden. Identität, Sinn, Intensität, kulturelle Energie sind einige Bezeichnungen für diesen Wert, der sowohl als Mangel als auch als Überfluss in Erscheinung treten kann, aber doch als etwas verstanden werden muss, dass sich der Logik des Tausches entzieht. Nicht alles ist beliebig reproduzierbar, vieles ist gar nicht käuflich. Die Kulturindustrie und die Produktwerbung aller Sparten würde heute in den reichen Industrienationen die Aufmerksamkeit des Menschen als einen solchen unbestimmbaren Wert und dynamischen Faktor der kulturellen Zirkulation definieren. Aufmerksamkeit ist wohl historisch und kulturell in einem hohem Maße wandelbar und konditioniert (Crary 2002), aber wie die Arbeitskraft im Be25

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reich der wirtschaftlichen Produktion ist die Aufmerksamkeit eine begrenzte, eine biologische und nicht restlos quantifizierbare Ressource. Was ist die kulturelle Energie, die Produkten einen Wert gibt, für den die Konsumenten mit ihrer Aufmerksamkeit bezahlen? Was ist die kulturelle Energie zum Beispiel eines Bildes? Besteht es wirklich in dem, was wir als Zeichen bestimmen können, was wir lesen, erkennen, identifizieren können? Oder spielt nicht etwas anderes eine mindestens ebenso wichtige Rolle? Etwas, das intensiv ist, aber ›nichts‹ bedeutet, wie die Musik, die Farben, oder abstrakte Formen? Spätestens der Impressionismus hat damit begonnen zu erforschen, dass unser Blick gar nicht nur darauf aus ist, Gegenständliches zu identifizieren, sondern dass Farben und ihr Zusammenspiel, oder die Zwischenräume und Beziehung zwischen den Dingen unsere Aufmerksamkeit viel intensiver beschäftigen. Das gilt allerdings nicht erst für die Moderne. Der Philosoph George Didi-Huberman beschreibt zum Beispiel in einem schönen kleinen Text, dass es ganz sicher nicht nur das Lächeln ist, das uns an Leonardo da Vincis »Mona Lisa« so fasziniert. Das marienähnliche Schweben der Figur vor der Landschaft trägt seiner Meinung nach mindestens ebenso dazu bei (Didi-Huberman 2001). Geht es unter soziologischer Perspektive also eher um das Bestimmbare, die Identität oder den Wert, der sich aus Tauschverhältnissen ergibt, die letztlich rational abzulaufen scheinen, so ist mit der Idee der Gabe eine Dimension angesprochen, die intersubjektiv aber nicht reziprok und darüber hinaus nicht messbar ist, die eine Gabe oder einen Rest darstellt, der bei keiner Äquivalenzrechnung erfasst wird. Die Sozialisationsforschung weiß schon seit mehreren Jahrzehnten, dass die Entwicklung des Kindes in den ersten Monaten und Jahren einer solchen Gabe bedarf: einer Gabe, die für das Kind einen sozialen und kulturellen Raum bedeutet, in dem es angesprochen und akzeptiert wird, ohne doch etwas anderes als seine Gegenwart dafür zu geben. Unter psychologischem Gesichtspunkt ist diese Bereitstellung eines Raumes zum Leben basal und der Produktion von Identität notwendig vorausgehend und ihr zugleich auch immer parallel bleibend. Sie ist immer mit im Spiel, wenn es um kulturelle Energie geht, vielleicht kann man sie sogar als ihre Quelle bezeichnen. In den vergangenen Jahren hat sich, angeregt vor allem durch die Arbeiten von Giorgio Agamben, eine Diskussion über die 26

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Grenzen der Verwertbarkeit des Lebens entwickelt. Der von Agamben bei Walter Benjamin aufgefundene Begriff des bloßen Lebens (oder des zoe im Unterschied zu bios) bezeichnet eine solche Grenze (Agamben 2002). Er bezeichnet zum einen in einer Rechtstradition, die Agamben bis in die römische Antike verfolgt, das aller sozialen und kulturellen Eigenschaften entkleidete Leben, zuerst also das Leben des vogelfrei erklärten, des homo sacer. Er bezeichnet aber zum anderen auch eine Grenze, deren Überschreitung die Möglichkeit des Lebens zerstören würde und die man vielleicht als Widerstand verstehen kann. Nicht nur in einem passiven Sinne: Dieser basale kulturelle Raum des Lebens ist ein Zwischenraum zwischen jedem Befehl und seiner Befolgung, zwischen jedem Wort und seiner Bedeutung. Das Subjekt hat seinen Ort in diesem Zwischenraum, oder genauer: Nur weil es diesen Zwischenraum gibt, gibt es auch das Subjekt. Wie aktuell die Diskussion über das bloße Leben ist, zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass Walter M. Buergel, der Kurator der documenta 12, diesen Begriff sogar zu einer der Leitideen der Ausstellung im Jahr 2007 gemacht hat. Ganz sicher dürfte ein Grund dieser Aktualität darin zu suchen sein, dass wir immer mehr damit konfrontiert sind, dass Zonen einer Unbestimmtheit zwischen Kultur und Natur entstehen. Wie behandelt man Menschen, die auf der Flucht sind und nicht die Rechte einfordern können, die einem Bürger eines Landes zugesprochen sind. Gewährt man ihnen wirkliches Asyl, oder schließt man sie davon aus, bringt sie in Lager unter, schickt sie mit dem Flugzeug zurück? Was für Folgen hat es für die Menschenrechte, dass die USA seit 2002 rund 500 Menschen im Lager Guantánamo ohne Anklage und lange Zeit ohne jeden Rechtsbeistand gefangen halten? Unbestimmtheitszonen entstehen aber auch in Bereichen ganz anderer Überschreitungen ehedem einigermaßen klarer Grenzen zwischen Natur und Kultur, so zum Beispiel in der Biogenetik und der Stammzellenforschung. Woher können wir die Kriterien nehmen, die uns diese Produktion von Leben beurteilen und gegebenenfalls ihre Grenzen bestimmen lassen? Eine ähnliche Unbestimmtheit hat die Medizin mit ihren lebenserhaltenden Apparaten hergestellt. Sie hat eine früher relativ sichere Grenze zwischen Leben und Tod unbestimmt gemacht.

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Medialität Was bleibt? Was ist der Rest, der unbestimmbar bleibt, was auch immer die Biogenetik, Neurowissenschaften und andere Wissenschaften an Methoden zum Eingriff entwickeln? Können wir uns auf der Einsicht ausruhen, dass es noch viele Jahre brauchen wird, bis wir die Komplexität natürlicher Vorgänge modellhaft so weit erfassen, dass unsere Eingriffe einem Plan und nicht dem Zufall folgen? Wenn es keine äußeren Regeln mehr gibt, keinen Gott und, was mindestens genau so wichtig ist, keinen legitimen weltlichen Souverän, der die Grenzen setzen und bestimmen könnte, die zwischen Kultur und Natur oder zwischen Leben und Tod liegen, wenn also das Denken des Menschen autonom ist, dann kann eine solche Begrenzung nur durch die Rationalität selbst erfolgen, als ihre Selbstbegrenzung. Dieses die Philosophie seit Kant beschäftigende Problem, das Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem berühmten Buch dieses Titels die Dialektik der Aufklärung genannt haben, kann vielleicht nur dadurch einer praktischen Lösung zugeführt werden, dass das Denken seine eigene Vermittlung, seine eigene Abhängigkeit einbekennt. Und zwar unter zumindest zwei Aspekten. Zum einen darin, dass das Denken sich nur in der sozialen Interaktion mit anderen entwickelt, ja dass, wie der Philosoph Emmanuel Lévinas formuliert, der andere dem eigenen Denken in einem logischen und einem zeitlichen Sinne vorausgeht (Lévinas 1992). Zum anderen darin, dass diese Interaktion immer eines Mediums bedarf, einer Sprache im weiteren Sinne, also nicht nur einer verbalen Sprache, auch einer visuellen, auditiven, taktilen, olfaktorischen. Die Selbstbegrenzung der Ratio, des alltäglichen wie des wissenschaftlichen Denkens, bestünde demnach in einer Reflexion auf die eigene Medialität. Diese Selbstbegrenzung ist nun selbst nicht begrenzbar, denn sie findet notwendig selbst in einem Medium statt. Damit sind wir schließlich bei einer kulturwissenschaftlichen Antwort auf die Frage nach der Energie, die das Austauschverhältnis der Kultur, die Zirkulation kultureller Zeichen antreibt: die nicht abschließbare Medialität des Denkens ist eine Widerständigkeit gegen alle Versuche der autoritären Setzung von Bedeutung. Um es etwas schematisch und plakativ zu formulieren: Wenn Kant in seinen drei Kritiken das Denken in sich selbst begründet und von allen religiösen und weltlichen Autoritäten gelöst hat, so stellte 28

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sich gleichwohl auch für ihn schon das Problem der Selbstbegrenzung der Ratio. Er versuchte es darin aufzufangen, dass er im Begriff des Dings an sich eine Grenze der Erkennbarkeit postulierte. Unter den Kant-Lesern waren es wohl insbesondere die Literaten, die hier schon bald weiter dachten und diese Begrenzung nicht mehr in einem Außen, sondern im Innern der Sprache selbst aufsuchten. Heinrich von Kleists Novellen und Stücke sind durchgängig eine Reflexion über die Leerstellen in der Sprache selbst, über die nicht fassbare Medialität, aus der Sprache ihre Macht ebenso bezieht wie ihre Schwäche, aus der Missverständnisse und Gewalt entstehen. Die Macht der Sprache, die zugleich ihre Schwäche ist, kann auch als Macht und Schwäche des Menschen als sich in Medialität realisierendes Leben verstanden werden. Kultur ist in erster Linie oder in basaler Weise Performativität. Kulturelle Energie wird in jeder Inszenierung hergestellt, wie zugleich in jeder Inszenierung etwas von dem steckt, was Sigmund Freud Urphantasie genannt hat: eine Erzählung, wie wir sie aus Träumen kennen, in der das Ich in der Position des eigenen, des anderen oder des Dritten sich befindet, aber genauso auch der andere und das Dritte in der Position des Ich (Laplanche/Pontalis 1992: 50). Der mediale und performative Charakter von Kultur ist eine bindende Qualität. In der Fassung einer bekannten Stelle aus Samuel Becketts »Warten auf Godot« formuliert: »Estragon: Sollen wir uns aufhängen? Wladimir: Dann geht noch mal einer ab. Estragon aufgereizt: Dann geht einer ab? Wladimir: Und wenn man an die Folgen denkt. Da, wo es hinfällt, wachsen Alraunen. Darum schreien sie, wenn man sie ausreißt. Wusstest Du das nicht? Estragon: Komm, wir hängen uns sofort auf.« (Beckett 1981: 27)

Was für die Kommunikation zwischen den Menschen gilt, gilt auch für das Wissen über die Natur: Die Modelle und Verfahren, in denen wir Wissen gewinnen, sind medial. Auch bildgebende Verfahren, wie sie heute die Neurowissenschaften verwenden, geben ja keine objektiven Daten: Sie folgen bestimmten kulturellen Techniken des Sehens und sie folgen schon im Versuchsaufbau und selbstverständlich in der Auswertung Metaphern der Beschreibung. Für die Beantwortung der Fragen, die sich aus den genannten 29

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Zonen der Unbestimmtheit zwischen Kultur und Natur oder zwischen Leben und Tod herleiten, bedeutet diese Reflexion des Denkens auf die eigene Medialität, dass nicht nur die Sprachlichkeit und Metaphorizität aller Modelle der Beschreibung von neuronalen, genetischen oder auch sozialen Prozessen reflektiert wird, sondern dass auch in den Blick kommt, dass diese Beschreibungen die Gegenstände und damit die Unbestimmtheit selbst prägen, ja herstellen. Es ist eine die Kulturwissenschaft in gewisser Weise begründende Einsicht, dass jede Bestimmung einer Differenz zwischen Natur und Kultur ein Stück Selbsterschaffung von Kultur ist. Selbstbeschreibungen sind konstitutive Elemente von Kultur. Daraus folgt aber auch, dass eine Vorstellung wie die, es gäbe bloßes Leben, selbst ein kulturelles Produkt ist, ein Grenzbegriff. Die Frage ist nun, ob damit ein Ein- oder ein Ausschluss verbunden ist. Im Sinne des von Agamben nachgezeichneten Rechtsbegriffs des homo sacer ist es der politische Versuch eines Ausschlusses. Eine Selbstbegrenzung der Ratio würde grundsätzlich bedeuten, es als einen Einschluss zu verstehen: Dann kann es keine Abstraktion mehr sein, dann ist das bloße Leben immer schon das einzelne Leben. Es ist die Einzigartigkeit jeden einzelnen Lebens, an der die Rationalität ihre Grenze einbekennen muss, nicht aber die Vorstellung einer Heiligkeit des Lebens, die selbst eine kulturelle Abstraktion ist. Im Sinne der kulturellen Abstraktion wäre die Vervollkommnung des Lebens ein höchstes Ziel, dessen notwendige Rückseite eine Verdrängung des Todes ist. Im Sinne der Einzigartigkeit des Lebens wäre es aber das konkrete Glück jedes einzelnen Menschen, und damit auch die Formen, in denen er lebt, stirbt und erinnert wird. Und damit wären wir vielleicht nahe an einen der Zusammenhänge herangekommen, die der globalen Konjunktur der Kulturund Medienwissenschaft zugrunde liegen. Je mehr die Grenzen zwischen Kultur und Natur unsicher werden und je mehr auch die Unterscheidbarkeit zwischen Inhalt, Form und Medium verwischt wird, um so intensiver muss sich auch unsere Reflexion darauf richten, wie sich Kultur und wie Kultur damit auch Natur produziert und welche Rolle dabei die einzelnen Medien haben, von der Haut, mit der das Neugeborene seine Umwelt fühlt und Wärme erfährt, bis hin zum Computertomografen, der vielleicht just diese Erfahrung als einen sich vergrößernden Lichtfleck repräsentiert, der wiederum eine intensivierte Tätigkeit der Neuronen darstellen soll. 30

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Interkulturalität Zu den Grenzen von Kultur, die ihre Selbstbeschreibung produziert, gehört nicht nur die Differenz zur Natur, sondern auch die Differenz zu anderen Kulturen. Historisch ist diese Differenz oft sehr weitgehend an die erste angelehnt. Man denke an die griechische Vorstellung des Barbaren, an den Umstand, dass in vielen Sprachen der Fremde als der bezeichnet wird, der keine Sprache (also de facto nicht die eigene Sprache) spricht, an die in der Ethnologie lange praktizierte Tradition, andere Kulturen als ›primitiv‹ zu beschreiben, die wiederum in Kontinuität mit Vorstellungen der Infantilisierung des anderen steht. Diskurse wie diese boten ja zum Beispiel den Spaniern über Jahrhunderte eine Selbstrechtfertigung, die Bewohner Lateinamerikas einem umfassenden Programm der kulturellen Sozialisation und religiösen Missionierung zu unterwerfen. Alle Selbstbeschreibungen haben Einfluss auf die Zirkulation kultureller Zeichen zwischen den Kulturen. Unterbinden können sie sie in keinem Fall, weil das, was ausgeschlossen werden soll, immer schon beschrieben sein muss und damit, wenn auch vielleicht entstellt, eingeschlossen ist. Wichtiger aber ist vielleicht noch die schon erwähnte und für die Medienkulturwissenschaft grundlegende Einsicht, dass wir unter entwicklungspsychologischen, phänomenologischen, ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten gleichermaßen davon ausgehen können, dass es so etwas wie eine originäre Ansprechbarkeit des Menschen durch den anderen und durch die ihn umgebende Welt der Zeichen gibt. Kinder nehmen ständig Gesten, Worte, Stimmen, Farben und vieles andere wahr, das vielleicht für einen Erwachsenen eine relativ eindeutige Bedeutung hat, dem Kind aber als Reiz begegnet, den es in sich aufnimmt und, jedenfalls dann, wenn der Reiz qualitativ oder, wie im Falle der Wiederholung, quantitativ intensiv ist, auch in das Langzeitgedächtnis integriert. Es steht zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs fest, welche Bedeutung diese Erinnerungsspuren einmal erhalten werden. Es wird darauf ankommen, welche Verknüpfungen später entstehen. Sigmund Freud hat diese komplexe Zeitlichkeit des Gedächtnisses schon am Ende des 19. Jahrhunderts erkannt und den Begriff der Nachträglichkeit als Bezeichnung für die sie bestimmende Temporalität geprägt. In besonderer Weise trifft das für Erfahrungen und Erlebnisse zu, die in ihrer Intensität für 31

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das Subjekt so bedrohlich waren, dass es zum Zeitpunkt ihres Geschehens versucht hat, sie zu isolieren. Solche traumatischen Erfahrungen, ob nun als reales oder als vorgestelltes Erleben, drängen aber später dazu, doch integriert zu werden. Sie wirken sich dann zum Beispiel als Wiederholungszwang aus. Es wird aber auch viele Spuren geben, die nie eine bestimmte Bedeutung im Sinne einer diskursiven Sprachlichkeit bekommen werden. Sie sind mit gestischen Formen der Kommunikation oder mit ästhetischen Wahrnehmungen verknüpft. Wahrscheinlich ist die Relevanz solcher gestischer und ästhetischer Formen für das Leben und das Befinden des einzelnen sehr viel größer, als wir es uns bewußt zugestehen möchten. Wohl nimmt die Ansprechbarkeit oder, wie es Walter Benjamin nannte, das »mimetische Vermögen« mit zunehmendem Lebensalter ab. Aber auch der Erwachsene besitzt es noch und es sind Zustände wie die des Verliebtseins, in denen seine Intensität der kindlichen wohl kaum nachsteht. Für alle Beziehungen, die zwischen Kulturen oder besser gesagt zwischen Menschen verschiedener Kulturen entstehen, und auch für die Rezeption kultureller Produkte aus anderen Kulturen ist diese grundsätzliche Ansprechbarkeit des Menschen basal. Die Kunst, die Musik, die Gastronomie anderer Kulturen können wir oft leicht aufnehmen und hoch schätzen. Konflikte entstehen, je stärker diese Begegnungen mit konflikthaften Strukturen der Subjekte selbst in Beziehung treten. Konflikthaft sind per se alle solche Strukturen, die Ein- und Ausschließungen konstruieren. Viele Formen der Identitätssuche verfahren nach dem grundsätzlich problematischen Schema, eigenes und fremdes zu unterscheiden. Die Dynamiken, die daraus entstehen, können auf der Ebene der Weltanschauung ebenso wie auf der der Körperlichkeit liegen. Am intensivsten werden diese Dynamiken, wenn beides miteinander verschweißt ist. So ist die These wohl kaum zu gewagt, dass in Konflikten, die als interkulturelle charakterisiert werden, die Frage der (männlichen) sexuellen Identität regelmäßig eine maßgebliche Rolle spielt. Richtet man einen analytischen Blick auf die eingangs angeführten Beispiele der öffentlichen Diskussion im Frühjahr 2006 in Deutschland, zeigt sich schnell, dass eine Irritation der sexuellen Identität, insbesondere der des Mannes, in allen Fällen mit im Spiele war. Im Falle des Ehrenmordes ist eine Wiederherstellung dieser Identität ganz offensichtlich das zentrale, ja sogar das erklär32

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te Motiv. Es ist jedoch zweifelhaft, ob in der öffentlichen Diskussion nur die Identität der angeklagten Männer verhandelt wurde, und nicht auch die der übrigen männlichen Gesellschaftsmitglieder, vor allem derer, die sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand waren, aber zum Beispiel über die erschreckend hohe Zahl von anderen, die sexuelle Identität betreffenden Straftatbeständen wie zum Beispiel dem der häuslichen Gewalt, welche in allen Gesellschaftsgruppen ausgeübt wird, kaum einmal ein Wort verlieren. Es wäre auch mit qualitativen empirischen Verfahren weiter zu untersuchen, welche Problemlagen in der öffentlichen Diskussion verhandelt werden, wenn es um Fragen des Tragens von Kopftüchern oder eben sogar eines Ganzkörperumhanges geht. Es steht zu vermuten, dass die Motive der Frauen und die Motive der öffentlichen Statements kaum ein Gemeinsames haben. Untersuchungen über die Motive von Frauen muslimischen Glaubens, die ein Kopftuch tragen, deuten jedenfalls darauf hin, dass diese Kleidung in vielen Fällen sehr überlegt als Bestandteil einer eigenen Subjektivierungsstrategie gewählt wird (Tietze 2000). Über den Zusammenhang von Rassismus und Sexualität gibt es im Rahmen der postcolonial studies umfangreiche Untersuchungen, zum Beispiel die von Robert J. C. Young (1995: 90-117). Was das vierte der Beispiele angeht, die Lage der Schüler an der Berliner Hauptschule, bedarf es kaum einer weiteren Erläuterung über die Rolle der sexuellen Identität, ist doch die Adoleszenz in erster Linie dadurch bestimmt, dass die Subjekte lernen müssen, ihre Persönlichkeit so zu entwickeln, dass sie die für sie neue Intensität des sexuellen Erlebens annehmen und integrieren können. Und es dürfte schließlich kein Zufall sein, dass die eingangs referierte Erzählung eines positiven Erlebens des Lebens in zwei Kulturen mit einem Verweis auf eine Situation einhergeht, die von positiven Phantasien des Überganges in eine neue, erwachsene Lebensphase verbunden ist. Wenn wir also davon ausgehen, dass es eine grundsätzliche Offenheit des Menschen gibt, so müssen wir ebenfalls davon ausgehen, dass der Mensch Mechanismen lernt, diese Offenheit teilweise wieder außer Kraft zu setzen. Diese Mechanismen müssen dem Subjekt eine Selektivität der Wahrnehmung erlauben, insbesondere unter Bedingungen der Moderne, in denen das Subjekt einer Vielzahl von Reizen ausgesetzt ist. In seinen Lektüren der Gedichte Baudelaires hat Walter Benjamin dies für den Menschen in der Großstadt des 19. Jahrhunderts modellhaft aufgezeigt. Benjamin 33

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bezog sich dabei auch auf Freuds bekannte Bestimmung der Funktion des Bewusstseins als Reizschutzmechanismus (Freud 1972: 26-31). Dabei dachte Freud an die inneren nicht weniger als an die äußeren Reize. In diesem Sinne ist die Bildung einer Identität und zwar insbesondere die einer sexuellen Identität ein solcher Reizschutzmechanismus. Er ist deshalb so prekär wie folgenreich, weil die Sexualität, das Begehren und Begehrtwerden, zur grundsätzlichen Offenheit des Menschen gehört. Gewalt gegen den anderen kann als Abwehr dieser Offenheit verstanden werden. Was über die grundsätzliche Offenheit des Menschen gesagt werden kann, trifft in analoger Weise auch für Gruppen und Kollektive zu. Welche Mechanismen es ganzen Gesellschaften erlauben, selektiv mit Empathie umzugehen, sich vom Schicksal einzelner Menschen tief bewegt zu fühlen, sich um das anderer aber gar nicht zu kümmern, ist noch sehr unvollkommen erforscht. Sicher ist, dass kulturelle und mediale Formen eine sehr große Rolle dabei spielen, Menschen so weit zu entstellen, dass ihnen eine Anerkennung und damit auch ein Recht auf Mitgefühl abgesprochen werden kann. Dabei sind die Selbstbeschreibungen, die Kulturen bereitstellen, um die Dynamiken der In- und Ausschließungen zu regeln, von höchster Bedeutung. Die Prozesse der intensivierten Globalisierung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten und die mit den neuen Kommunikationsmedien ebenso zu tun haben wie mit den Migrationsbewegungen, stellen der Medienkulturwissenschaft hier die dringliche Aufgabe, neue Modelle einer Selbstbeschreibung zu erarbeiten. Es werden Modelle sein müssen, die weniger auf Regeln des Ein- und Ausschlusses beruhen, die mithin eine andere, offenere Räumlichkeit konstruieren. Medien haben hierbei nicht nur als Übermittler von Inhalten eine hohe Bedeutung. Sie sind vielleicht viel wichtiger darin, dass sie – zusammen mit den medialen Formen, die man als Genre bezeichnet – Öffentlichkeiten, mit anderen Worten, Räume und Orte der Erfahrung und erfahrene Räume und Orte herstellen. Weil Interkulturalität ein Begriff für die Dynamik der Austauschbeziehungen ist, die zwischen den Kulturen, aber im Grunde auch in jeder einzelnen Kultur sich vollziehen, ist er auch zu einem Schlüsselbegriff der Medienkulturwissenschaft geworden. Die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund steigt in den europäischen Industrieländern beständig. Schon jetzt liegt der Anteil zwischen 5 und 25 Prozent, er wird in Ländern wie Schwe34

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den in wenigen Jahren bei 40 und mehr Prozent liegen. Die Entwicklung in Deutschland vollzieht sich nur wenig langsamer. So zeigen jüngste aus dem Mikrozensus vom Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen erhobene Daten, dass im Jahre 2005 der Prozentsatz der Bevölkerung mit Migrationshindergrund in diesem Bundesland bei 22,6 lag. Bei den Personen unter 15 Jahren betrug dieser Prozentsatz sogar 34,5 (Schäfer 2006). (Die Definition Migrationshintergrund bedeutet in dieser Studie, dass die betreffenden Bewohner selbst in einem anderen Land geboren sind, oder dass beide Elternteile nach 1950 zugewandert sind, oder zumindest ein Elternteil nach 1960.)

Kulturalisierung und kulturelle Differenz Politische, soziale und kulturelle Vorgänge spielen in den Prozessen der Integration vielfältig ineinander. Es ist von großer Bedeutung, dass die Gesellschaften hierüber ein angemessenes Bewusstsein entwickelten, um möglichen Konflikten entgegen zu wirken. Voraussetzung hierfür ist ein Vermögen der Differenzierung und der Analyse von komplexen Zusammenhängen. Dazu gehört die Kompetenz zu unterscheiden, welche Phänomene ursächlich mit der veränderten Rolle des Kulturellen in unseren Gesellschaften zu tun haben und welche im Kulturellen einen Ausdruck erhalten, der die Entstehungszusammenhänge eher verdeckt. Schon Walter Benjamin hat an einer solchen Differenzierung gearbeitet, als er im Nachwort zu seinem schon erwähnten Essay über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« eine »Politisierung der Kunst« von einer »Ästhetisierung der Politik« unterschied, die der Faschismus praktiziere und die auf den Krieg hinauslaufe. Benjamins zentrales Argument ist, dass die Politik versuche, kulturelle Ausdrucksformen für ihre Zwecke zu benutzen. Dabei reritualisiere Politik diese Ausdrucksformen. Was Benjamin dagegen setzt, ist der Versuch, die Veränderungen im Kulturellen, die diese Entwicklung möglich machen, zu analysieren und nach den Möglichkeiten zu fragen, sie mit einer emanzipatorischen Politik zu verbinden. Benjamins Schlüsselbegriff ist, wie erwähnt, der der technischen Reproduzierbarkeit. Wenn es zutrifft, dass sich mit dieser Reproduzierbarkeit nicht nur eine Veränderung der medialen Techniken vollzogen, sondern 35

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dass sich der Bereich der Kultur selbst verändert hat, indem kulturelle Formen immer mehr aus traditionellen Produktions- und Rezeptionszusammenhängen gelöst werden, so ist die neue Qualität vor allem darin zu sehen, dass ›Kultur‹ für den einzelnen verfügbar geworden ist, ja, dass der einzelne in einem früher unbekannten Maße sogar gefordert ist, sich seine persönliche ›Kultur‹ zu konstruieren. Und das gilt nicht nur für die privilegierten gesellschaftlichen Gruppen, die Zugang zu all diesen Gütern haben, sondern auch und gerade für Gruppen der Präkarisierten, wie ein etwas problematischer neuer Begriff lautet, die Gruppen derer also, die aufgrund von Migration, Arbeitslosigkeit, Strukturwandel oder gar Krieg aus den überlieferten soziokulturellen Zusammenhängen entbunden sind. Mit anderen Worten: Was sich durch die Veränderung des Kulturellen gewandelt hat, ist die Rolle des einzelnen Individuums. Klassen, Schichten und Gruppen waren immer schon dadurch ausgezeichnet, dass sie eine eigene Klassen-, Gegen- oder Subkultur entwickelt haben. Das Entstehen neuer Subkulturen im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigt wohl die zu bestimmende Veränderung des Kulturellen an, aber es nimmt diese der Tendenz nach noch in alten sozialen Formen auf. Tatsächlich scheint aber, so meine sicher weiter zu entwickelnde Hypothese, nicht mehr die Gruppe, sondern das einzelne Individuum die soziale Größe zu sein, welche durch die veränderte Struktur des Kulturellen neue Möglichkeiten und Aufgaben erhält. Es gibt einige Versuche, die Richtung, die diese Entwicklung nehmen kann, weiter auszuloten. So überlegt zum Beispiel Pierre Lévy, wie repräsentative, letztlich eben auf Gruppen zurückgehende Verfahren der politischen Organisation und Entscheidungsfindung durch komplexere und auf das einzelne Individuum bezogene Verfahren ersetzt werden können. Lévys Modell dafür ist die Vernetzung, für die das Internet ja eine schon weitgehend vorhandene technische Voraussetzung ist (Lévy 1997). In eine etwas andere Richtung lotet Alain Touraine die Konsequenzen dieser Entwicklung aus. Er spricht vom kulturellen Paradigma, das wir entwickeln müssten, um die Phänomene der heutigen Welt angemessen analysieren zu können (Touraine 2005). Das kulturelle Paradigma setzt er gegen das soziale und das politische Paradigma ab, die im vergangenen Jahrhundert aufeinander gefolgt seien. Am deutlichsten unterscheiden sich die Paradigmen durch ihre sozialen Akteure: zuerst die Nationalstaaten, dann die sozialen Gruppen und nun, 36

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mit dem kulturellen Paradigma, die einzelnen. Entsprechend lassen sich auch die Handlungsziele differenzieren. Erläutern lässt sich das sehr gut an der inzwischen über ein Jahrhundert währenden Geschichte der Frauenbewegung. Sie ist zunächst einmal angetreten, um für eine Gleichberechtigung in den staatsbürgerlichen Rechten zu kämpfen. Dem folgte die Forderung nach Gleichstellung, also nach einer sozialen Gerechtigkeit im Zugang zum Reichtum, zum Berufsleben usw., also das, was wir mit Touraine als Handeln im sozialen Paradigma bezeichnen können. Seit mehreren Jahrzehnten hat sich aber eine neue Forderung artikuliert, nämlich die nach Anerkennung der Differenz. Aber diese Anerkennung der Differenz folgt nicht mehr der Logik der einfachen Toleranz gegenüber dem anderen, sondern der der spezifischen Anerkennung der je eigenen Artikulation einer individuellen Subjektivität, einer Logik der Einzigartigkeit also, und nicht der einer Repräsentation. Es geht um die Anerkennung des großen Reichtums an Artikulationsformen und Lebensäußerungen von Individuen weiblichen Geschlechts in allen kulturellen Bereichen und allen Sparten der Kunst, der Literatur, des Films, des Tanzes, der Musik. Wie alle Lebensäußerung suchen selbstverständlich auch diese Artikulationen eine Anerkennung durch den anderen. Die oft kritische Reaktion von Künstlerinnen, wenn sie und ihr Werk nicht als Individuum oder Individuelles, sondern als Mitglied oder gar Repräsentanz einer Gruppe angesprochen und adressiert werden, zeigt, dass die Artikulation der Differenz nicht schon eine Gruppenidentität einschließt. Im Gegenteil, sie findet auf individueller Ebene statt und ist unabhängig von einem vielleicht ebenfalls vorhandenen Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In allen Zusammenhängen, in denen es um Lebensäußerung von Individuen geht, die einer sozialen Minderheit angehören, egal, ob die Differenz nun geschlechtlich, ethnisch, kulturell oder körperlich fest gemacht wird, lässt sich diese Spannung der Tendenz nach aufzeigen. Ein Beispiel ist die Diskussion über Filme, Videos und Literatur türkisch-deutscher Künstlerinnen und Künstler: Fatih Akin etwa, der Regisseur von »Gegen die Wand«, einem Film, der 2004 den »Goldenen Bären« auf den Berliner Filmfestspielen gewonnen hat, wehrt sich vehement dagegen, seine Filme als deutsch-türkische Filme zu bezeichnen. Es seien deutsche Filme, und nichts weiter. Das ist keine Eitelkeit: Der Film »Gegen die Wand« artikuliert Erfahrungen, die so sicher nur jemand machen 37

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kann, der zwischen zwei Kulturen lebt. Aber es sind Erfahrungen von Individuen und nicht Erfahrungen von Gruppen oder gar Folkloristisches. Die Künstlerinnen und Künstler haben es vergleichsweise leicht, sich von den Fremdzuschreibungen »Frau« oder »Türke« zu lösen, weil sie durch die Produkte ihrer Arbeit in ihrer Einzigartigkeit Anerkennung finden – was immer das Feuilleton dazu sagt. Das ist aber für Menschen, die in einer Fabrik arbeiten oder sogar arbeitslos sind, viel schwieriger. Die Übernahme des Fremdbildes als eigenes Bild, durch das man eine Anerkennung findet, weil es different ist, liegt da oft viel näher. Macht, Michel Foucault hat das vielleicht als erster so deutlich analysiert, realisiert sich in einer produktiven Kreisbewegung. Die Diskurse, die sie entwirft, bieten auch denen, die ihre Objekte sind, eine Möglichkeit der Identitätsbestimmung und damit auch ein Stück Partizipation oder kulturelles Kapital. Und es ist ja der Kern von Edward Saids Analyse des Orientalismus, dass die Stereotypen, die die Europäer gegenüber dem anderen entwickelt haben, im Sinne dieses Kreislaufes der Macht, Teil der Selbstbeschreibung des »Orient« werden (Said 1981). Wir sind weit davon entfernt, diesen Kreislauf aufgelöst zu haben. Er ist in Deutschland wirksam, wenn es zum Beispiel um die Beziehung zu den aus der Türkei emigrierten Mitbürgern und ihren Nachkommen oder um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geht, er ist wirksam zum Beispiel auch in Frankreich in all den Diskussion mit den aus dem Maghreb stammenden Einwohnern und ihren Kindern. Solche Prozesse sind dabei keineswegs geradlinig. Wahrscheinlich macht es aber Sinn, die Geschichte der interkulturellen Prozesse nach Generationen zu differenzieren, d.h. nach Altersgruppen, die in verschiedenen Lebensaltern sich mit je bestimmten Bedingungen und Erfahrungen auseinandersetzen müssen und vor allem auch mit denen, die ihnen von den Generationen der Eltern und Großeltern oft implizit überliefert werden. In einem Forschungsprojekt über Medienbiografien und Mediennutzung von jungen Erwachsenen mit türkischem Migrationshintergrund, das das Düsseldorfer Institut für Kultur und Medien zur Zeit im Auftrag und in Kooperation mit dem WDR durchführt, zeigt sich die sehr deutliche Tendenz, dass die Angehörigen der dritten Generation, also diejenigen Personen, die nach etwa 1980 geboren sind, die Fremd-

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beschreibung »Türke« oft zu übernehmen bereit sind, obwohl sie in der Mehrheit über einen deutschen Pass verfügen und kaum einmal mehr als einige Ferienwochen in der Türkei verbracht haben. Die Angehörigen der zweiten Generation jedoch, die zwischen 1960 und 1980 zum Teil schon in Deutschland geboren sind, benutzen in ihren Selbstbeschreibungen oft ein vielfältiges und einfallsreiches Repertoire an Bildern einer gemischten Identität. Unsere Hypothese ist, dass hier die Erfahrungen der älteren, zweiten Generation die Erfahrungen von Ausgrenzungen, welche die jüngere Generation macht, in indirekter Weise intensiviert. Eine im Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich verstärkt formierende Ablehnung gegen Migranten, die sich auch gewaltsam manifestierte, so in einer Reihe von Brand- und Mordanschlägen, die mit dem in Solingen am 29. März 1993 einen Höhepunkt fanden, als fünf Menschen in den Flammen starben, wirkt noch immer, wenn auch in etwas weniger spektakulären, dafür aber alltäglichen Formen. Die Erfindung einer gemeinsamen Geschichte schien nicht möglich zu sein, ohne dabei aktiv zu vergessen, d.h. aus der bewussten Wahrnehmung zu verdrängen, dass in den vorhergehenden drei Jahrzehnten Leben und Reichtum vor allem in den alten Bundesländern von Millionen von Migranten geprägt und aufgebaut worden war. Der zweite hier wirksame Prozess beruht auf einem Verstärkungsmechanismus, der daraus entsteht, dass die Kinder der Migranten der zweiten Generation auf die Enttäuschung der Eltern über die kontinuierlich erfahrene Ablehnung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft reagieren und diese gewissermaßen stellvertretend und in einem Gegenzug zum gerade in der Identifikation mit den Eltern erlebten Zwang zur Anpassung ausleben. Es handelt sich hier also in erster Linie um soziale Prozesse, die von der Mehrheitsgesellschaft und in Reaktion darauf dann auch von der dritten Generation einer sozialen Minderheit kulturalisiert werden. Selbstverständlich bieten die Möglichkeiten der Medienkultur, so zum Beispiel das Satellitenfernsehen, hierzu neue Voraussetzungen. Doch auch hier weisen unsere jüngsten Untersuchungen auf ein charakteristisches Phänomen hin: Es scheint nämlich so zu sein, dass sich die dritte Generation keineswegs umfassend durch türkische Medien über die Türkei informiert, dass sie oft auch sprachliche Probleme hat, den Sendungen angemessen zu

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folgen. Um so bedeutender sind einige Helden- und Identifikationsfiguren, wie der 2000 verstorbene Komödienschauspieler Kemal Sunal. Und ganz sicher ist auch ein neuer Bezug auf den Islam eine Reaktion der dritten Generation auf die kontinuierlich erfahrene Ablehnung und Nicht-Anerkennung. Religion wird zu einem Differenzmerkmal, das von der Mehrheitsgesellschaft herausgestellt, dann aber selbst übernommen wird. Das geht in charakteristischer Weise einher mit einem sehr partiellen Wissen über die Geschichte und religiöse Entwicklungen, und zwar auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft wie auf Seiten der Minderheitsgesellschaft. In diesem Sinne handelt es sich auch hierbei um eine Kulturalisierung von Politik und sozialen Konflikten. Vielleicht ist es aber angebracht, hier kurz etwas Grundsätzliches zur Ausdifferenzierung der verschiedenen Bereiche, also insbesondere von Politik, Religion, Kultur, Wissenschaft, Ökonomie nachzuschieben. Alle diese Bereiche müssen sich ja überhaupt erst konstituieren, gewissermaßen müssen sie sich selbst ausspannen, über Spannung aufbauen und halten. Diese Spannung ist immer über eine Doppelbewegung aufgebaut, etwa von Bindung und Entbindung, von Ein- und Ausgrenzung, von Erinnerung und Vergessen, von Zirkulation und Unterbrechung. Dabei differenzieren sich diese Bereiche auch in einer Spannung untereinander. Eine Trennung von Politik und Religion setzt zum Beispiel auch eine Trennung von Religion und Kultur voraus. Eine Vermischung von Politik und Religion geht deshalb in der Regel auch mit einer Reduktion der Autonomie von Kultur einher. Religion bindet, wie die Etymologie des Wortes schon andeutet, Menschen in einen Zusammenhang, und sie tut das traditionell darüber, dass sie sich einerseits Bereichen der Unbestimmtheit oder gar der Bedrohung öffnet, andererseits aber Bindungen über Gemeinsamkeiten herstellt. In den monotheistischen Religionen geschieht diese Bindung primär über die Figur eines allmächtigen Vaters. Politik als eine von der Religion differenzierte Sphäre verlangt deshalb auch einen tendenziell autonomen Bereich der Kultur, weil Kultur die Artikulation der Erfahrung von Zwischenräumen aus den Versicherungen über die Figur des Vaters löst und damit auch die Figur des Vaters indirekt entmachtet. Umgedreht löst Politik die Techniken und Diskurse der Ein- und Ausschließung aus den religiösen Formen. Aber auch die politischen Formen der Ein- und Ausschließung ha40

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ben immer wieder zu Krisen geführt, wie die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts so oft gezeigt hat. Deshalb findet man insbesondere in der politischen Philosophie in den letzten Jahren verstärkt den Versuch, das Politische neu zu definieren, und zwar vom einzelnen und seiner Einzigartigkeit ausgehend und nicht mehr von der Allgemeinheit, der Gemeinschaft oder dem Souverän (Derrida 2000; Nancy 2004). Auf der anderen Seite steht die Tendenz einer Ästhetisierung von Politik, eine Reritualisierung und neuen Amalgamierung mit dem Religiösen. In ähnlicher Weise sind wir (gerade als Medienkulturwissenschaftler) angehalten, das Kulturelle neu zu bestimmen und es von der Kulturalisierung sozialer und politischer Prozesse zu unterscheiden, um von hier aus dann auch die Bedeutung des Kulturellen für das Politische und Soziale neu zu bestimmen. So ist zum Beispiel eine Konsequenz, dass das Recht auf differente kulturelle Artikulation als eines angesehen werden muss, dass immer nur dem Individuum zu gewähren ist. Gruppen können sich auf soziale Rechte und Interessen berufen, nicht aber auf kulturelle Differenz. Wobei sich im übrigen bei genauerem Hinsehen zeigen wird, dass ein solcher Versuch von Gruppen, sich auf kulturelle Tradition und kulturelle Differenz zu beziehen, in der Regel eine Fortschreibung oder gar Etablierung einer inneren sozialen Differenz, in den meisten Fällen wohl einer an der Geschlechtsdifferenz markierten, einschließt oder gar bezweckt. Der Begriff der Medienkultur kann sehr offensiv so verstanden werden, dass es unter Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit von kulturellen Gütern keine Legitimation zu einer Fremdbestimmung der Lebensformen des einzelnen Subjekts mehr geben kann.

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Geist, Kultur, Medien

Geist, Kultur, Medien – Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff Matthias Vogel

1. Vorbemerkung Die Begriffe »Kultur« und »Medium« scheinen zur Zeit ein gemeinsames Schicksal zu haben. Denn einerseits werden mit beiden Begriffen weitreichende Perspektiven verbunden, die in der Rede vom cultural bzw. medial turn (vgl. etwa Reckwitz 2000: 14-47 bzw. Margreiter 1999, Münker 2003) zum Ausdruck kommen, andererseits leiden beide Begriffe gemessen an der Emphase der wissenschaftspolitischen Slogans unter einer grotesken Konturlosigkeit. Den Ausgangspunkt für den Versuch einer wissenschaftspolitischen Neuorientierung bildete nicht nur die Diagnose, dass die Geisteswissenschaften in Deutschland den Anschluss an die internationalen Entwicklungen verpasst haben, wie sie sich in der Etablierung der cultural studies dokumentieren, sondern auch die berechtigte Kritik an Auffassungen, die die Geisteswissenschaften zu Orientierungswissenschaften stilisierten oder als institutionalisiertes Bemühen verkannten, die Kosten von Modernisierungsprozessen zu kompensieren (vgl. dazu Marquard 1986, kritisch dazu Schnädelbach 1988). Vor dem Hintergrund dieser Kritik versprach das Label der Kulturwissenschaften ein integratives – heißt interdisziplinäres – Dach abgeben zu können, unter dem die Internationalisierung und Modernisierung der Geisteswissenschaften vorangetrieben werden sollte. Was in der Denkschrift »Geisteswissenschaften heute« von 1991 (vgl. Frühwald, Jaus, Koselleck et al. 1991) noch Programm war, ist inzwischen Teil der akademischen Realität 45

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geworden, und so ist es nicht erstaunlich, dass die Kulturwissenschaften mit einem bemerkenswerten Selbstbewusstsein auftreten. Auch auf Seiten der Philosophie ist diese Entwicklung nicht ohne Folgen geblieben, so dass den aufstrebenden Kulturwissenschaften nun eine Kulturphilosophie zur Seite steht, die den cultural turn ausdrücklich begrüßt. Was macht nun den Kern der Kulturphilosophie aus? Wenn man sich die Stellungnahmen vergegenwärtigt, die jüngst eine Umfrage der Information Philosophie dokumentiert hat (Göller et al. 2005: 20-32), dann lassen sich folgende Elemente präparieren: 1. Die Kulturphilosophie verspricht »das gesamte Spektrum kultureller Ausdrucksformen in seiner Vielfalt und in seiner kulturellen Spezifik zu thematisieren« (Göller 2005: 20), ohne dabei an der Grenze der Sprache halt zu machen; sie schickt sich vielmehr an, diese »in Richtung einer allgemeinen Theorie der symbolischen Formen und überhaupt auch der Formbestimmtheit der Kulturwelt« (Konersmann 2005: 21) zu überschreiten. 2. Die Kulturphilosophie misstraut etablierten Formen des Philosophierens, weil diese allzu oft von den Kontexten der Phänomene absieht, die sie untersucht. Wenn wir solchen Kontexten systematisch Rechnung tragen wollen, »dann können wir ›Geist‹ nur erforschen, wenn wir die ›Kultur‹, in der er sich formt, zur Kenntnis genommen haben. […] Geisteswissenschaftliche Forschung bedarf daher einer kulturwissenschaftlichen Analyse symbolischer Grammatiken, wenn sie sich nicht einem naiven Verständnis individueller Subjektivität ausliefern will« (Schwemmer 2005: 22). 3. Die Kulturphilosophie stellt dazu eine neue Integrationsperspektive bereit, so dass sie »zum übergeordneten Sammelpunkt [avanciert], auf den alle philosophischen Einzeldisziplinen zielen müssen« (Göller 2005: 24). Fasst man diese Impulse zusammen, dann verspricht die Kulturphilosophie gegenüber der herkömmlichen Philosophie erstens eine Erweiterung der philosophisch relevanten Phänomene, zweitens eine praktisch-soziale Kontextualisierung des vermeintlich Subjektiven und der bloß immanenten begrifflichen Analyse sowie drittens eine Integration traditionell unterschiedener Teildisziplinen der Philosophie. Das klingt nach einem anspruchsvollen Programm, in dem der Begriff der Kultur erhebliche theoretische Lasten zu tragen hätte. Vor diesem Hintergrund ist es um so erstaunlicher, dass das Bemühen um einen robusten Begriff der Kultur in den meisten neueren kulturphilosophischen Texten eine eher untergeordnete 46

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Rolle zu spielen scheint. Natürlich kann man den Versuch, einen solchen Kulturbegriff zu entwickeln, als Teil jener diskreditierten immanent begrifflichen Analysen betrachten, mit denen sich die traditionelle Philosophie herumschlägt. Aber man kann die Zurückhaltung hinsichtlich begrifflicher Analysen auch zum Anlass für folgenden Verdacht nehmen: Die kulturphilosophische Perspektive stellt gar keine systematisch eigenständige Perspektive dar, die etwa unabhängig von dem, was man früher Geist genannt hat, einen Phänomenbereich auszeichnen und erforschen könnte. Denn kulturelle Phänomene stehen ja in einem systematischen Zusammenhang zum Geist derer, die sie hervorbringen.1 Unabhängig davon, dass Angehörige einer Kultur gewisse Praktiken ausführen, Überzeugungen gewinnen und tradieren, dass Menschen also denken und handeln, gibt es über das Phänomen der Kultur kaum etwas zu sagen – so dass wir weiterhin vor der Aufgabe stehen, die geistigen Fähigkeiten zu verstehen, die menschlichem Handeln zu Grunde liegen. Dass diese Fähigkeiten nicht von einsamen Subjekten entwickelt werden, sondern in sozialen Kontexten, darüber muss die Philosophie nach Herder, Hegel, Mead, Dewey oder Wittgenstein nicht erst durch eine kulturwissenschaftliche Wende aufgeklärt werden. Denn viele heutige Philosophen betrachten unsere geistigen Fähigkeiten als notwendig sozial erworbene Fähigkeiten, und nicht wenige glauben sogar, dass grundlegende Begriffe wie der der Bedeutung nur im Rekurs auf soziale Bedingungen eingeführt werden können.2 Der »Mythos des Subjektiven« – soviel sollte klar sein – muss nicht erst durch eine kulturwissenschaftliche Therapie aus den Hirnen der Philosophen vertrieben werden. Wenn wir die Orientierung an sozialen Kontexten 1. Darauf hat auch Birgit Recki in ihrer Stellungnahme zur Diskussion hingewiesen. Vielleicht sollte man jedoch nicht wie Recki sagen, dass Kultur im »menschlichen Geist entspringt«, sondern versuchen, das komplexe wechselseitige Erläuterungsverhältnis zwischen den Begriffen der Kultur und des Geistes zu verstehen. 2. Vgl. etwa die sozialexternalistischen Theorien Davidsons, Burges, Putnams oder Brandoms. Der Hinweis, dass der heutige philosophische Mainstream grundlegende mentale Begriffe im Rekurs auf soziale Bedingungen erläutert, soll jedoch nicht bedeuten, dass es keinen Anlass mehr gäbe, die argumentativen Grundlagen dieser Strömung zu prüfen. Vgl. dazu Gerson Reuter (2006).

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teilen, dann wird fraglich, worin der Clou der Orientierung an kulturellen Kontexten bestehen soll. Was genau fügt die kulturelle Perspektive der sozialen hinzu? Nicht viel überzeugender als die Kritik an der vermeintlichen Subjektzentrierung der Philosophie ist die kulturphilosophische Einschätzung, dass die Philosophie angesichts der Komplexität und des Reichtums kultureller Phänomene eigentümlich hilflos ist. In den beschworenen Szenarien tritt die Philosophie dann gern als Vertreterin überzogener reduktionistischer Erkenntnisansprüche auf, die – auf Prinzipien fixiert – unfähig ist, sich auf den von Differenzen, Kontingenzen und Nuancen geprägten Reichtum der Kultur(en) einzulassen. Abgesehen davon, dass solche Kritik am ehesten überzeugt, wenn sie im Kontakt mit konkreten Überlegungen und begrifflichen Vorschlägen entwickelt wird und nicht die Form eines Generalverdachts annimmt, verkennt sie die Lage, in der sich die Apologeten des cultural turn befinden. Denn sie bieten ja gar keine differenzierteren Begriffe an, mit deren Hilfe demonstriert werden könnte, wie und wo philosophische Anstrengungen am Reichtum der mittels alternativer Kulturbegriffe ausgezeichneten Phänomene scheitern. Solange dieser Reichtum aber nicht begrifflich artikuliert, sondern nur beschworen wird, ist nicht zu sehen, was die Substanz des cultural turn ausmachen soll. Begriffliche Anstrengungen, zumal solche, die sich komplexen Phänomen wie dem der Kultur widmen, stehen immer in der Gefahr, ihre Phänomene zu verfehlen oder zu entstellen; aber ohne solche Anstrengungen, die sich als begriffliche Festlegungen angreifbar machen, kommen wir nicht von der Stelle. Die folgenden Ausführungen versuchen daher, einige grundbegriffliche Festlegungen zum Begriff der Kultur zu entwickeln. Dazu scheint es zunächst günstig zu sein, sich von der Magie der Slogans fernzuhalten. Mir jedenfalls wäre fürs Erste damit geholfen, wenn ich verstehen würde, worum es geht, wenn von Kultur die Rede ist. Und einen Begriff der Kultur zu erarbeiten, der Intuitionen unseres alltäglichen Sprachgebrauchs rekonstruiert und nachvollziehbar strukturiert, scheint auch zu Zeiten der kulturwissenschaftlichen Wende eine ganz traditionelle philosophische Aufgabe zu bleiben.3

3. Das scheint auch Göller so zu sehen, wenn er schreibt, »es wäre unter anderem zu klären, was kulturelle Phänomene sind« und betont, dass

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2. Der Kulturbegriff der Alltagsprache So häufig der Begriff der Kultur verwendet wird, so unbestimmt sind viele seiner Verwendungsweisen. Wenn man sich daran macht, den Begriff der Kultur genauer zu erläutern, dann wird man nicht vorgehen können, als hätte Wittgensteins Mahnung, dass sich bestimmte Begriffe nicht definieren lassen, keine guten Gründe. Denn natürlich kann man sagen, dass der Begriff der Kultur etwa dem Begriff des Spiels gerade darin ähnlich ist, dass man keine Kriterien angeben kann, die alle Spiele oder alle Kulturen zu erfassen vermögen. Klar ist jedoch auch, dass der Begriff der Kultur im Mittelpunkt einer theoretischen Bewegung steht, die das Phänomen der Kultur an eine zentrale Stelle rückt, an der der Begriff Lasten zu tragen hat, etwa für die Orientierung des cultural turn oder bei der Auszeichnung der Kulturwissenschaften. In diesen Kontexten müssen wir erwarten, unsere Verwendung des Kulturbegriffs rational kontrollieren zu können oder, um es weniger bürokratisch zu sagen, dass wir in der Lage sind, einen Kulturbegriff vorzuschlagen, dessen Verwendung man im Rekurs auf Gründe auch lehren könnte. Meine folgenden Überlegungen zielen darauf, einen möglichst unspezifischen Kulturbegriff zu entwickeln, der sich nicht auf bestimmte theoretische Perspektiven, etwa funktionalistischer, systemtheoretischer oder zeichentheoretischer Provenienz festlegt, sondern sich des alltäglichen intentionalistischen Vokabulars bedient, das irreduzibler Bestandteil unseres Selbstverständnisses ist. 4 Wenn wir uns in einer begrifflich unübersichtlichen Lage befinden, dann scheint es nach wie vor eine gute Idee zu sein, sich zunächst der Verwendungsweisen des Ausdrucks »Kultur« und der Rolle des Kulturbegriffs in der alltagssprachlichen Kommunikation zu versichern. Auch wenn die Sprache mehr ist als ein mit Symbo-

die Philosophie »als Reflexionswissenschaft […] aufgerufen [ist], diese Fragen zu beantworten.« (Göller et al. 2005: 28). 4. Ich betrachte das intentionalistische oder handlungstheoretische Vokabular als irreduzibel, weil jede Entscheidung darüber, ob es angemessen oder unangemessen ist, keine anderen Gründe mobilisieren kann, als solche, die uns als handlungstheoretische Subjekte überzeugen oder auch nicht.

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len angefüllter Werkzeugkasten,5 ist die Frage legitim, was für ein Werkzeug der Kulturbegriff bereitstellen könnte. Wozu ist er nützlich? Worauf lenkt er unseren Blick? Natürlich ist unsere Rede von Kultur vielfältig, und uns springt offenbar kein handliches Kriterium ins Auge, das unsere Verwendungsweisen regelt. Aber vielleicht müssen wir angesichts dieser Vielfalt nicht verzweifeln. Ich sehe jedenfalls nicht, dass »die Vielgestaltigkeit der Reden über Kultur, […] jede Präzisierung einer Fragestellung unmöglich [macht]« (Schwemmer 2005: 45). Nichts spricht zunächst einmal dagegen, zu untersuchen, welchen »Sitz« der Begriff der Kultur in unserem Sprechen hat, was für eine Art von Werkzeug der Begriff ist. Mir scheinen folgende schematische Szenarien typische Kontexte zu bilden, in denen uns der Kulturbegriff nützlich zu sein scheint: a)

Wir stellen fest, zum Beispiel auf einer Reise, dass sich die Form der Häuser, die Sprache, die Küche, die Mode, die Umgangsformen und anderes von Menschen Getanes oder Gemachtes von den entsprechenden Phänomenen in der Gegend unterscheiden, aus der wir kommen. b) Wir stellen fest, dass sich in anderen Unternehmen oder anderen philosophischen Instituten die Gepflogenheiten – das, was offenbar selbstverständlich ist und was erwartet wird – von dem unterscheiden, was uns selbstverständlich erscheint. c) Wir nehmen mit Entsetzen zur Kenntnis, dass es vor einigen hundert Jahren gang und gäbe war, der öffentlichen Verbrennung von Menschen beizuwohnen.

2.1 Im Mittelpunkt stehen Praktiken In diesen Situationen spielt der Kulturbegriff die Rolle eines begrifflichen Mittels, um Unterschiede zwischen dem, was uns selbstverständlich ist, und dem, womit wir durch Reise, Bericht oder Geschichte konfrontiert werden, zusammenzufassen. Was wir mit Hilfe des Kulturbegriffs tun, ist, auf Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) hinzuweisen, die es mit Blick auf Praktiken (des Hausbaus, des Sprechens, des Kochens, der sozialen Interaktion) 5. Unter anderem deshalb, weil dieses instrumentalistische Verständnis der Sprache die konstitutive Rolle des Begrifflichen für höherstufige Intentionalität nicht zu erfassen mag.

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zwischen sozialen Gruppen (Ethnien, Belegschaften, Einwohner) geben kann. Wenn wir von einer Kultur reden, dann reden wir über ein Phänomen, in dessen Mittelpunkt Praktiken stehen.6 Auch wenn wir dabei nie mehr sehen als individuelle Realisierungen dieser Praktiken (Begrüßungen) oder individuelle Produkte solcher Praktiken (fertige Häuser oder Gerichte) fällt uns auf, dass viele dieser individuellen Phänomene sich untereinander ähnlich sind. Natürlich sind ›ein Gericht kochen‹ oder ›jemanden begrüßen‹ Handlungen, und man könnte sich fragen, warum der Begriff der Praktik und nicht der der Handlung im Zentrum des Kulturbegriffs stehen sollte. Insbesondere zwei Aspekte sprechen für den Begriff der Praktik. Denn einerseits hat der Begriff der Praktik etwas Allgemeineres im Auge als eine individuelle Handlung, nämlich die Form des Handelns (type), die durch individuelle Handlungen (token) realisiert werden kann.7 Und andererseits erlaubt es der Begriff der Praktik, Spielräume dafür zu schaffen, dass Praktiken nicht nur durch Handlungen realisiert werden können, Tätigkeiten also, die Handelnde bewusst aus Gründen vollziehen, sondern auch durch Tätigkeiten, die aus Gewohnheit, oder besser: habituell vollzogen werden, ohne dass denen, die sie vollziehen, rationalisierende Gründe gegenwärtig wären.

2.2 Es geht nicht um irgendwelche, sondern um tradierte Praktiken Wenn wir Praktiken als kulturelle Basisphänomene verstehen, dann haben wir implizit eine Erklärung dafür, warum die Tätigkeiten, die sie realisieren, untereinander ähnlich sind. Denn wir betrachten die Ähnlichkeit weder als bloß zufällig noch als Wirkung eines naturwissenschaftlich erklärbaren Mechanismus der Verhaltenssteuerung. Weil sich die Ähnlichkeiten im Vollzug von Praktiken einstellen, unterstellen wir vielmehr, dass die Ähnlichkeiten daher rühren, dass diejenigen, die diese Praktiken vollziehen, etwas 6. Wer mag, kann diese Festlegung zum Anlass nehmen, den hier vorgeschlagenen Begriff der Kultur pragmatistisch zu nennen. 7. D.h. zwei Handlungen können die gleiche Praktik instantiieren. Eine ähnliche Intuition haben offenbar Dirk Hartman und Peter Janich (1988: 17), die schematisiertes (soziales) Handeln als Praxis bezeichnen, das »in der Tradierung Kultur wird«.

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untereinander teilen, beispielsweise Vorstellungen darüber, wie man etwas richtig macht – wie ein Haus auszusehen oder ein Gericht zu schmecken hat. Wenn wir die Ähnlichkeiten der Tätigkeiten und die Ähnlichkeiten gewisser evaluativer Vorstellungen als kulturelle Phänomene betrachten, dann haben wir zugleich eine Vermutung darüber, warum wir diese relative Ähnlichkeit antreffen. Denn indem wir eine Praktik als eine kulturelle Praktik betrachten, unterstellen wir, dass diese Praktik gelehrt und gelernt wird. Wir unterstellen nicht, dass die relative Homogenität bestimmter Phänomene durch einen Mechanismus der genetischen Vererbung erklärt werden kann, sondern durch Prozesse der Tradierung. Ein minimaler Kulturbegriff könnte daher folgendermaßen definiert werden. (K1)

Eine Kultur im minimalen Sinne ist eine Reihe von Vorkommnissen einer Praktik genau dann, wenn gilt, dass jedes Vorkommnis (außer dem ersten) über eine Tradierungsbeziehung von einem vorangehenden Vorkommnis abstammt.

Die Bestimmung (K1) hat zur Folge, dass die Gruppen von Individuen, die eine Kultur teilen, über Tradierungsrelationen ausgezeichnet werden und nicht über Kriterien der lokalen Nähe, der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit. Lokale Nähe, gleiche nationale oder ethnische Zugehörigkeit können erklären helfen, warum in einer Gruppe Tradierungsrelationen bestehen, doch unabhängig vom Bestehen der Tradierungsrelationen kann aufgrund dieser Merkmale nicht darüber entschieden werden, ob zwei Individuen eine Kultur im Sinne von (K1) teilen oder nicht. Die Bestimmung (K1) ist sicher noch unterkomplex, denn zum einen müsste geklärt werden, mit Hilfe welcher Kriterien die Tradierungsbeziehung ausgezeichnet werden könnte, zum anderen ist sie zu eng, weil sie den Kulturbegriff um eine tradierte Praktik zentriert.

2.3 Der Holismus des Kulturellen Man könnte die vorstehenden Überlegungen zum Anlass nehmen, jede tradierte Praktik als eine Kultur zu betrachten. Doch auch wenn manche unserer alltagssprachlichen Redeweisen, etwa wenn wir von unterschiedlichen Begrüßungskulturen sprechen, eine sol52

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che Identifikation nahe legen, wirft ein auf isolierte Praktiken fokussierter Kulturbegriff Schwierigkeiten auf. Es bleibt nämlich fraglich, welche Tätigkeits- und Handlungsformen diese Praktiken jeweils genau umfassen. Wenn wir Praktiken sehr eng fassen, dann könnte man von einer Kultur des Backens von Schwarzwälder Kirschtorten sprechen, wenn wir den Ausdruck weiter fassen, dann könnten wir Praktiken des Kochens oder Backens herausgreifen, die in einem Tradierungsverhältnis zueinander stehen. Aber selbst wenn wir den weiteren Begriff unterstellen und Praktiken des Zubereitens von Speisen vor Augen haben, liegt auf der Hand, dass diese Praktiken notwendig mit anderen Praktiken zusammenhängen. Man kann eine »Schwarzwälder« nicht ohne Mehl, Kirschen und Sahne backen. Und letztere sind Produkte landwirtschaftlicher Praktiken, die ihrerseits mit Praktiken der Werkzeugproduktion, der Viehhaltung, der Aufteilung des Bodens, des Handels oder Transports verbunden sind. Kurz: Jede kulturelle Praktik steht im Kontext anderer kultureller Praktiken, solchen, die sie ermöglichen, und solchen, die von ihr abhängen. Dieser materiale Holismus des Kulturellen markiert einen weiteren Aspekt der Komplexität des Kulturbegriffs, aber die Analyse dieses Holismus erlaubt es uns auch, die unterschiedlichen alltagssprachlich verankerten Verwendungsweisen des Kulturbegriff zu rekonstruieren. Wenn wir von einem minimalen Kulturbegriff ausgehen, in dessen Mittelpunkt eine bestimmte tradierte Praktik steht, dann können wir, je nachdem auf welche Weise wir dem Holismus Rechnung tragen, kulturelle Zusammenhänge unterschiedlicher Reichweite herausgreifen: – Wir können das Gewebe aller mit je einzelnen Praktiken zusammenhängenden tradierten Praktiken eine Kultur nennen, und, wenn dieses Gewebe lokal relativ autonom (also ohne gravierende externe Einflüsse) tradiert wird, von einer lokalen Kultur sprechen, oder, wenn dieses Gewebe über einen gewissen Zeitraum relativ stabil tradiert wird, von der Kultur einer historischen Phase oder Epoche. – Wir können aus dem Gewebe aller zusammenhängenden Praktiken jene Praktiken herausgreifen, die nicht primär der materiellen Reproduktion dienen, sondern der Artikulation und Tradierung von Selbstverständnissen kulturell vergesellschafteter Individuen, wie die Praktiken der Musik, Kunst, Literatur, Bildung, Wissenschaft, Riten, Gebräuche, Religion, Mode usw. 53

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– Und wir können die Gesamtheit aller historisch und lokal instantiierten Gewebe tradierter Praktiken in einer anthropologischen Perspektive als Kultur bezeichnen.8 Im Hintergrund jeder dieser Verwendungsweisen steht ein gegenüber (K1) erweiterter Kulturbegriff, der dem materialen Holismus tradierter Praktiken Rechnung trägt: (K2) Eine Kultur im weiten Sinne ist ein Gewebe aus Reihen von Vorkommnissen von Praktiken, die unmittelbar oder mittelbar voneinander abhängen, wobei gilt, dass innerhalb dieser Reihen jedes Vorkommnis (außer dem ersten) über eine Tradierungsbeziehung von einem vorangehenden Vorkommnis abstammt.9

Wenn wir die Abhängigkeitsrelationen zwischen Praktiken genauer betrachten, dann fällt auf, dass eine Sorte von Praktiken aus dem Gewebe der Praktiken herausragt, nämlich solche Praktiken, die die Grundlage dafür bilden, dass Praktiken überhaupt tradiert werden können. Alle tradierten Praktiken, so müssen wir sagen, sind von 8. Diese Rekonstruktion impliziert nicht, dass wir den Kulturbegriff mithilfe einer abstrakten Gegenüberstellung zur Natur aus einer Gottesperspektive einführen, und sie impliziert auch nicht, dass wir ihn über eine anthropologische Setzung einführen, etwa im Sinne von Gehlens »Mängelwesen«. Auch wenn ich Mathias Gutmanns Kritik an diesen Vorgehensweisen teile (vgl. Gutmann 1998), scheint mir die Tatsache, dass der Kulturbegriff ein »reflexiver Begriff« ist, nicht auszuschließen, Kulturen realistisch zu verstehen (vgl. ebd. 329). Dort wo keine Tradierungsrelationen zwischen Praktiken vorliegen, da bilden sie keinen Zusammenhang, den man – folgt man meinen Überlegungen – »Kultur« nennen sollte. Ein derartiger Realismus ist unschädlich relativ zu dem Ziel, anthropologische Setzungen zu vermeiden, er erlaubt aber, an einem Unterschied festzuhalten, den das konstruktivistische Verständnis bedroht: Das Vorliegen einer Tradition besteht eben nicht in ihrer Konstruktion durch Theoretiker, allenfalls impliziert ihr Bestehen die Selbstsituierung in einem Tradierungsprozess durch die Tradierenden. 9. Diese holistische Formulierung zielt ersichtlich auf etwas Heterogeneres als Nietzsches Formulierung, »Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäusserungen eines Volkes« (Nietzsche 1873: 163), denn (K2) erwartet weder, dass Praktiken unter Gesichtspunkten des Stils homogen noch Praktiken eines Volkes sind.

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Praktiken des Tradierens abhängig. Diese Tradierungspraktiken können wir einerseits als solche verstehen, in denen sich das Lernen und Lehren anderer Praktiken vollzieht, also als Praktiken des Erzählens, Erklärens, des Vormachens, des Korrigierens usf. Wenn wir uns fragen, wie diese Praktiken des Tradierens möglich sind, dann wird andererseits sofort deutlich, dass sie in einem intimen Verhältnis zu jenen kommunikativen Praktiken stehen, denen Menschen die Fähigkeit verdanken, überhaupt gehaltvolle Gedanken denken zu können.

2.4 Tradieren als Lehren und Lernen Die Tatsache, dass vielleicht nicht alle, wohl aber die meisten Praktiken durch Lehren und Lernen tradiert werden, legt den Gedanken nahe, die Tradierungsbeziehung lerntheoretisch zu rekonstruieren. Man könnte sagen, dass die Kultur einer sozialen Gruppe alle jene Phänomene umfasst, die ein Individuum dieser Gruppe von jeweils anderen Individuen dieser Gruppe lernen kann.10 Der Kulturbegriff lenkt unsere Aufmerksamkeit also nicht auf Lernprozesse überhaupt, sondern auf Relationen sozialen Lernens.11 Ein ersicht10. Vgl. Moore 1954 und kritisch dazu: Hamburg 1958. 11. Dabei ist es ein wichtiger Vorzug der lerntheoretischen Herangehensweise, dass sie einige der Impulse aufnehmen kann, die Herder mit dem Kulturbegriff verband (vgl. Herder 1797: 261ff.), ohne in die Fallen eines sich selbst aufhebenden Kulturrelativismus zu tappen. Herder verstand den Kulturbegriff als ein theoretisches Mittel, genau die Unterschiede in den Blick zu bekommen, die durch die aufklärerische Idee der Einheit der Menschheit und die Vorstellung eines universellen Fortschritts abgedunkelt werden. Entgegen diesen universalistischen Vorstellungen möchte Herder gerade betonen, dass soziale Gruppen durch eigene Wert- und Bedeutungssysteme ausgezeichnet sind, die nicht an einem einheitlichen Maß gemessen werden können. Wenn wir Bedeutungs- und Wertsysteme anderer Kulturen aber auf keinen gemeinsamen Maßstab beziehen können, wie sollen wir dann wissen, dass es sich überhaupt um Wert- oder Bedeutungssysteme handelt? (Vgl. Davidson 1974) Weil das Phänomen des Lernens gemäß dem lerntheoretischen Verständnis des Kulturbegriffs für alle Kulturen spezifisch ist, kann uns die theoretische Orientierung am Lernen mit einer einheitlichen Perspektive ausstatten und uns zugleich erlauben, das je von uns Verschiedene zu sehen.

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licher Vorteil dieser Fokussierung besteht darin, dass sie keine Unterschiede hinsichtlich bestimmter Praktiken macht, sondern die gesamte Bandbreite dessen einschließt, was wir so tun, wie wir es tun, weil wir es so zu tun gelernt haben – seien es Weisen, uns koordiniert zu bewegen (wie beim Schwimmen oder Zähneputzen), Weisen etwas herzustellen (wie beim Kochen oder Flugzeugbau) oder etwas mitzuteilen (wie beim Sprechen oder Musizieren).12 Für wohl alle Tätigkeiten dieser Art gilt, dass man sie so oder anders machen kann, und die Ursache dafür, dass Leute die Tätigkeiten so und nicht anders machen, besteht darin, dass sie sie so gelernt haben. Selbst Weisen so grundlegender Körpertechniken wie Gehen, Sitzen, Gebären oder Schlafen werden gelernt: Die Leute schlafen am Boden, im Bett, mit Kissen und ohne, mit Decken und ohne, in Hängematten, mit Stützen unter dem Kopf oder stehend, je nachdem in welchem sozialen Kontext sie das Wie des Schlafens gelernt haben.13 2.4.1 Exkurs: Menschen, Tiere, Traditionen

Am 20. Januar 2003 konnte man der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entnehmen, dass nach neuesten Erkenntnissen der primatologischen Forschung nicht nur Menschen, sondern auch OrangUtans über eine Kultur verfügen. Ob das richtig ist, hängt natürlich davon ab, was man unter Kultur versteht. Dazu führt die F.A.Z. folgendes aus: »Kultur im wissenschaftlichen Sinn ist die Fähigkeit, neue Verhaltensweisen zu erfinden, die von der Population übernommen und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Die Kultur der Orang-Utans wird von verschiedenen Gruppen und ihren Nachfolge-Generationen unabhängig voneinander entwickelt und praktiziert – genauso wie menschliche Gesellschaften einzigartige

12. Abgesehen davon, dass ich das Musizieren und andere nichtsprachliche Formen der Artikulation nicht primär als Bewegungshandeln sondern als kommunikatives Handeln betrachte, deckt sich die Unterscheidung der aufgezählten Handlungsweisen mit Janichs Unterscheidung von kinetischem, poietischem und kommunikativem Handeln. Vgl. Janich 2003: 34f. 13. Vgl. Mauss 1972: 212. Mauss hat darauf aufmerksam gemacht, dass viele vermeintlich natürliche Verhaltensweisen tatsächlich tradierte »Körpertechniken« sind.

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Formen von Musik, Architektur, Sprache, Kleidung und Kunst hervorbringen und weitergeben.«14 Die Begründung scheint genau jene Elemente ins Spiel zu bringen, die auch im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen standen, nämlich Praktiken und Tradierungsmechanismen, so dass wir anhand dieses Beispiels unsere Intuitionen prüfen und weiter schärfen können. Wenn man die Forderung, Menschenaffen eine Kultur zuzusprechen, prüfen will, dann muss man neben den reklamierten Parallelen auch die Unterschiede sehen, die zwischen dem Zusammenleben von Menschenaffen und menschlicher Kultur bestehen. Im Anschluss daran können wir uns dann in der Perspektive der bisherigen Festlegungen fragen, welche Relevanz diese Unterschiede für die Frage haben, ob Menschenaffen eine Kultur haben. Zunächst, darauf hat Michael Tomasello hingewiesen, sind zwei wichtige Unterschiede zwischen dem Zusammenleben der Menschenaffen und der menschlichen Kultur festzuhalten (vgl. Tomasello 1999: 50ff.): – Die Formen des Zusammenlebens von Affen sind im Vergleich zu menschlichen Kulturen extrem stabil, Abweichungen oder – wie wir auch sagen könnten – kulturelle »Innovationen« sind sehr selten. Menschenaffen fehlt also das Innovationspotential, das für Menschen spezifisch ist. – Falls aber Innovationen auftreten, so gewährleisten die Interaktionsformen der Menschenaffen keineswegs, dass sich die Innovationen auch in hinreichend großen Teilen der Gruppe durchsetzen. Daher kommt es zu keinem kumulativen Wachstum der Fähigkeiten, und die Gefahr, dass Innovationen vergessen werden, ist ungleich viel größer als in menschlichen Kulturen, in denen es aktive Praktiken des Lehrens und Lernens gibt. Menschenaffen fehlen also Mechanismen der effektiven Tradierung. Diese beiden Unterschiede lassen sich ohne speziezistischen Dünkel festhalten. Aber warum bestehen diese Unterschiede? Tomasel-

14. Vgl. http://www.faz.net/s/Rub02DBAA63F9EB43CEB421272A670A 685C/Doc~E34BC9969A0EF42DBAA453EFFC7DFB12E~ATpl~Ecommon~Scon tent.html (Hervorhebung von mir).

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lo vermutet, dass unter Menschenaffen zwar bestimmte Formen des sozialen Lernens vorkommen, andere aber fehlen, und zwar gerade solche, die grundlegend für Innovationen und effektive Tradierung sind. Folgen wir Tomasello, dann lassen sich zwei Formen des sozialen Lernens bei Menschenaffen beobachten, nämlich das Emulationslernen und die ontogenetische Ritualisierung. Emulationslernen (vgl. ebd. 41f.) liegt vor, wenn ein junger Affe gelernt hat, wie man ein Werkzeug benutzt, um beispielsweise Insekten damit zu angeln. Wenn der junge Affe das gelernt hat, dann hat er die Fähigkeit, eine bestimmte Umwelt/Verhaltenssituation wiederholt wiederherzustellen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind – er zum Beispiel Hunger hat und ein Termitenbau in Reichweite ist. Beim Erlernen dieser Fähigkeit ist er nicht auf das Verhalten eines kompetenten Artgenossen konzentriert, sondern auf die Effekte dieses Verhaltens. Dabei differenziert er nicht zwischen Mitteln und Zwecken des Verhaltens, was es erlauben würde, die Mittel auch in verwandten Situationen einzusetzen. Die zweite Form sozialen Lernens, nämlich die ontogenetische Ritualisierung (vgl. ebd. 43f.), können wir im Kontext affektueller Kommunikationen beobachten. So spielt sich etwa zwischen Schimpansen-Müttern und ihren Kindern eine Kommunikation ein, in der bestimmte Gesten oder Laute Anzeichen für bestimmte Gemütszustände sind. Interessanterweise aber bleibt die Verwendung dieser expressiven Äußerungen weitgehend auf die beiden konkreten Interaktionspartner beschränkt, so dass es eine große Variabilität erworbener expressiver Verhaltensweisen innerhalb einer Schimpansen-Population gibt. Mit anderen Worten: Erlernte quasi-symbolische Äußerungen erlangen nicht den Status allgemein verbreiteter Ausdrucksmittel, sondern bleiben an den konkreten sozialen Kontext bestimmter Interaktionspartner gebunden, in dem sie gelernt wurden. Die Tatsache, dass in menschlichen Kulturen soziale Verhaltensweisen hingegen mit einer geringen Variation auftreten, so dass (expressive) Äußerungen hier also relativ stabil sind und gegenüber unterschiedlichen Adressaten verwendet werden, aber auch die Tatsache, dass Menschen einen innovativen Umgang mit neuen Werkzeugen entwickeln, erklärt Tomasello mit unserer Fähigkeit zum imitativen Lernen. Und genau diese Fähigkeit fehlt den Menschenaffen. Imitatives Lernen ist dadurch ausgezeichnet, dass die Lernenden das Ziel und die Strategie einer Tätigkeit erkennen, wo58

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bei sie die Strategie gemäß eigener Zielsetzungen modifizieren können. Das imitative Lernen wird bei Menschen zudem durch aktive Instruktionen der Lehrenden unterstützt, die sich der Fähigkeit der Lernenden zur Aufmerksamkeitskoordination bedienen können, um (Aspekte von) Tätigkeiten zu demonstrieren und Fehler explizit zu korrigieren. Mit Hilfe dieser Interaktionen lässt sich plausibel machen, dass es einerseits zu einer hohen Homogenität von Verhaltensweisen in einer sozialen Gruppe kommt, andererseits aber auch Möglichkeiten der Innovation gegeben sind, die ihrerseits über Prozesse des imitativen Lernens tradiert werden können. Mit Blick auf den F.A.Z.-Artikel können wir nun Folgendes sagen: Ja, es gibt Erfindungen oder Innovationen bei Menschenaffen, aber diese Erfindungen sind sehr selten, und die Mechanismen ihrer Tradierung sind alles andere als zuverlässig, weil es den Menschenaffen sowohl an der Fähigkeit zum imitativen Lernen als auch an der Fähigkeit fehlt, aktiv zu lehren. Und wir können weiter sagen: Ja, es gibt Ausdrucks- und Kommunikationsformen unter Menschenaffen, die – wie unsere Ausdrucksformen – nicht angeboren sind, sondern sich erst in konkreten Interaktionen etablieren. Aber diese Ausdrucksformen bleiben an die eingespielten Interaktionspartner gebunden und finden keine allgemeine Verbreitung. Daher ist der Vergleich mit Musik, Architektur, Sprache, Kleidung und Kunst hauptsächlich irreführend. Zudem sind die Unterschiede zwischen dem Zusammenleben von Affen und der Kultur von Menschen nicht bloß gradueller Natur, denn für den Prozess des kumulativen Wachstums kulturell vermittelter Fähigkeiten und für die Sicherung dieser Fähigkeiten gegen das Vergessen (Tomasello spricht vom »Wagenhebereffekt«) gibt es bei Menschenaffen einfach kein Äquivalent. Wir können diese Überlegungen nun nutzen, um unser vorläufiges lerntheoretisches Verständnis von Kulturen zu präzisieren, und Folgendes festhalten: (K3)

Der Ausdruck Kultur (im minimalen Sinne) bezeichnet eine Reihe von Vorkommnissen einer Praktik, wenn die Fähigkeit von Individuen, die Praktik zu instantiieren, von anderen Individuen, welche die Praktik beherrschen und lehren, imitativ erlernt wird.

Dieses Kriterium ist nicht einfach Ausdruck eines menschlichen 59

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Dünkels, denn wann immer eine biologische Art zur Erfindung von Praktiken und zu imitativem Lernen fähig ist, ist sie auch fähig, eine Kultur (im Sinne von K1) zu entwickeln.15

2.5 Kulturen und Individuen In einer gewissen Hinsicht sind die bisherigen Erläuterungen wenig intuitiv. Denn sowohl (K1) (bzw. K3) als auch (K2) betrachten Praktiken als Teile von Kulturen und sagen wenig darüber, wie sich menschliche Individuen zu Kulturen verhalten – mal abgesehen davon, dass sie die Praktiken realisieren, lernen und lehren. Umgangssprachlich sagen wir aber nicht bloß, dass Praktiken oder ihre Ergebnisse Teile von Kulturen sind, sondern wir betrachten auch menschliche Individuen als Angehörige von Kulturen. Wie verhält sich diese Tatsache zu der auf Praktiken zentrierten Perspektive in (K1)-(K3)? Zunächst ist klar, dass Personen vielfältige unterschiedliche Praktiken vollziehen können, so dass sie Angehörige unterschiedlicher Kulturen im Sinne von (K1) sein können. Dabei heißt Angehöriger einer solchen Kultur zu sein, dass man die jeweilige Praktik gelernt hat, also in der Lage ist, sie auszuführen, und in der Lage ist, sie ggf. zu lehren.16 Aber die Verhältnisse liegen schon auf dieser Ebene komplexer. Jemand könnte nämlich die genannten Kriterien erfüllen, aber den Vollzug der Praktik ablehnen, möglich wäre aber auch, dass jemand die Praktiken ablehnt, sie mangels Alternative oder aus Gewohnheit hin und wieder vollzieht. Dass ein Individuum zu einer minimalen Kultur gehört, kann eben vielerlei heißen. Es kann heißen, dass es die Praktik positiv bewertet, dass es sie negativ bewertet, aber die Neigung hat, sie auszuführen. Es ist unwahrscheinlich, dass man ein allgemeines Kriterium 15. Mit einigen Einschränkungen, wie der Beschränkung auf das Singen, die zeitliche Beschränkung der Möglichkeit des Lernens auf einen gewissen Zeitraum der Individualentwicklung und das Fehlen einer instruktiven Lehrpraxis, kann man die Gesänge von Singvögeln als eine durch imitatives Lernen tradierte kulturelle Praktik beschreiben. Allerdings stellen sie bisher wohl die einzig bekannte Ausnahme unter den bekannten nichtmenschlichen Arten dar. 16. Vielleicht sollten wir auch sagen, dass es Angehörigen einer K1Kultur auch naheliegt, die entsprechende Praktik in ihren Standardkontexten auszuführen.

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für die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Kultur angeben kann, weil sich eine Vielzahl von Einstellungen zu den Fähigkeiten, zur eigenen Lerngeschichte, zur Praktik selbst denken lassen. Vielleicht geben folgende Kriterien aber relevante Hinsichten an, in denen ein Individuum einer Kultur angehören kann: (I)

Ein Individuum I gehört zu einer Kultur K (im Sinne von K1) an, wenn I eine für K spezifische Praktik P 1. gelernt hat oder 2. gelernt hat und lehren könnte oder 3. gelernt hat und faktisch lehrt oder 4. gelernt hat und gutheißt oder 5. gelernt hat und faktisch performiert.

(I) macht deutlich, dass Urteile über die Zugehörigkeit eines Individuum zu einer Kultur spezifiziert werden sollten, denn es ist sinnvoll, in den unterschiedlichen Fällen (1)-(5) von Zugehörigkeit zu reden. Noch unübersichtlicher werden solche Zuschreibungen, wollte man (I) für holistisch verstandene Kulturen reformulieren, denn hier ist es möglich, dass Individuen mit Blick auf die unterschiedlichen material zusammenhängenden Praktiken eines Gewebes von Praktiken jeweils in Relationen des Typs (1)-(5) stehen können und zugleich im Falle dieser oder jener Praktik keines der Zugehörigkeitsmerkmale (1)-(5) erfüllen. Angesichts dieser Schwierigkeiten könnte man die Intuition haben, dass es im Hintergrund holistisch verstandener Kulturen ein Set geteilter Überzeugungen oder Hintergrundannahmen gibt, mit Blick auf die über die Zugehörigkeit von Individuen zu Kulturen geurteilt werden könnte. Aber diese Möglichkeit hängt davon ab, dass diese Überzeugungen homogen sind in dem Sinne, dass man sie nur en bloc haben kann oder gar nicht. Je unübersichtlicher das Gewebe zusammenhängender tradierter Praktiken (einschließlich von Hintergrundannahmen) wird, desto unwahrscheinlicher wird es, mit Urteilen über die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Kultur etwas inhaltlich tatsächlich Spezifiziertes zu sagen. Natürlich stünde noch die Möglichkeit offen, Individuen danach zu befragen, ob sie sich als Teil einer Kultur verstehen. Während jedoch die Antworten mit Blick auf (K1)-Kulturen informativ sein können, insofern sich Individuen als Teil einer Tradierungskette beschreiben könnten, werden mit Blick auf holistisch verstandene differenzierte Kulturen 61

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(K2) neue Fragen danach aufgeworfen, was die individuellen Auskünfte (hinsichtlich der Zugehörigkeit zu minimalen Kulturen) für die Zugehörigkeit zu einer holistisch verstandenen Kultur bedeuten, so dass (durch die Notwendigkeit, die Auskünfte zu evaluieren) dieselben Probleme auftreten wie aus der Beobachterperspektive.

2.6 Geist und Kultur Im Gewebe tradierter Praktiken spielen Praktiken des Tradierens, die wir als Praktiken des Lehrens und (imitativen) Lernens rekonstruiert haben, eine fundamentale Rolle. Damit solche Praktiken möglich sind, müssen wir annehmen, dass die Lehrenden wissen, wie eine Praktik richtig ausgeführt wird, und in der Lage sind, dieses Wissen kommunikativ zu vermitteln.17 Wir unterstellen mithin, dass die Lehrenden Wesen mit voll entwickelter Intentionalität sind – Wesen also, die propositionale Einstellungen wie Überzeugungen, Absichten und Wünsche haben. Wenn diese Fähigkeiten notwendig für die Existenz von Praktiken des Tradierens sind, dann müssten wir sagen, dass Kulturen von diesen Fähigkeiten abhängen und durch ihren Vollzug hervorgebracht werden, dass – kurz gesagt – Kultur ein Produkt des Geistes ist. Andererseits kann man auch fragen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es Wesen mit den genannten mentalen Fähigkeiten geben kann, und nicht zuletzt deshalb, weil eine Vielzahl traditioneller philosophischer Antworten auf diese Frage mit gravierenden Problemen verbunden ist, insistiert der philosophische Mainstream unserer Tage darauf, dass die mentalen Fähigkeiten ihrerseits nicht nur im Rückgriff auf externe soziale Bedingungen erläutert werden müssen, sondern sich auch nur unter bestimmten sozialen Bedingungen entwickeln können. Macht man sich diese Perspektive zu eigen, ist der Geist – wiederum kurz gesagt – ein Produkt sozialer Relationen und dort, wo diese Relationen solche des Tradierens einschließen, ein Produkt der Kultur. Sollten wir also sagen, dass Geist eine notwendige Bedingung für Kultur und Kultur eine notwendige Bedingung des Geistes ist? Das scheint keine besonders verständli17. Natürlich wird die Fähigkeit zu denken auch insofern vorausgesetzt, als wir den Vollzug von Praktiken als den Vollzug von Handlungen beschreiben, denn diese Beschreibung impliziert ja, dass wir den Handelnden Gründe in Form von Absichten, Wünschen und Überzeugungen zuschreiben.

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che Auskunft zu sein, und zwei Überlegungen bieten sich an, diese Auskunft zu vermeiden. Wenn es uns um den Begriff des Geistes geht, dann kann sich der soziale Externalismus darauf zurückziehen, dass der Begriff des Geistes im Rekurs auf soziale Relationen eingeführt werden kann, etwa indem man auf die notwendige Rolle von Triangulationssituationen verweist,18 in denen unsere Äußerungen empirischen Gehalt gewinnen, wir den Wahrheitsbegriff erwerben und lernen, semantische Begriffe zu meistern. Selbst wenn diese sozialen Relationen empirisch nahezu immer in Tradierungskontexten auftreten, so spielt diese Tatsache keine Rolle für die Erläuterung dessen, was es heißt, einen Geist zu haben. Vielleicht sollten wir aber auch sagen, dass die Auffassung, Kultur sei eine notwendige Bedingung des Geistes, insofern in die Irre führt, als der Vollzug tradierter Praktiken schlicht eine Form ist, in der sich Geist zeigt. Dass Individuen geistige Eigenschaften zukommen heißt, dass sie als Interpreten und Interpretierte an tradierten Praktiken, insbesondere kommunikativen Praktiken beteiligt sind. Kultur ist somit keine notwendige Bedingung, sondern ein Aspekt der Wirklichkeit des Geistes. Wenn diese Überlegungen zutreffend sind, dann ist klar, dass auch eine sozial-externalistische Philosophie des Geistes keine Disziplin der Kulturphilosophie oder -wissenschaft ist. Zugleich sind die sozialen Kontexte, in denen Menschen sich zu denkenden Wesen entwickeln, faktisch immer kulturelle Kontexte, in denen Praktiken tradiert werden, darunter solche – nämlich kommunikative –, deren Vollzug ausmacht, dass wir geistige Wesen sind.

2.7 Tradierung, Geist und mediale Praktiken Selbst wenn wir geistige Fähigkeiten begrifflich unabhängig von kulturellen Kontexten einführen können, so ist doch klar, dass sich der Erwerb geistiger Fähigkeiten faktisch in kulturellen Kontexten vollzieht, und es wäre interessant, diese Tatsache genauer zu untersuchen, als es im Rahmen dieses Aufsatzes möglich ist. Der Erwerb 18. Vgl. Davidson 1997: 217. Natürlich ist mehr als fraglich, ob Davidson zeigen kann, dass die Triangulationssituation leistet, was sie leisten soll. Für meine gegenwärtige Überlegung genügt die Feststellung, dass sozialexternalistische Theorien soziale, nicht aber kulturelle Relationen als notwendige Bedingungen des Geistes ins Spiel bringen können.

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der Fähigkeiten, die jemanden in die Lage versetzen, die Rolle eines Lehrers in Tradierungsprozessen zu übernehmen, lässt sich – vereinfacht gesprochen – so rekonstruieren, dass er selbst im Kontext tradierter Praktiken, nämlich kommunikativer Praktiken stattfindet, und zwar genauer im Kontext medial strukturierter kommunikativer Praktiken. Die Rolle des Lehrers setzt zum einen voraus, beurteilen zu können, ob Schüler eine Praktik richtig oder falsch ausführen, und zum andern, den Unterricht am Ziel der erfolgreichen Vermittlung von Fähigkeit zu orientieren. Dazu müssen Lehrer in der Lage sein, gehaltvolle Gedanken zu denken in dem Sinne, dass sie sich auf diese Gedanken beziehen können und also ein Bewusstsein von deren Gehalten haben, weil davon die Möglichkeit abhängt, das eigene Handeln intentional an Gehalten auszurichten. Darüber hinaus müssen wir ihr Denken als eines verstehen, das komplexe nicht existente Zustände, Ereignisse und Prozesse repräsentieren kann, die kontingenten Kriterien entsprechen, die also so oder anders sein könnten und nicht mit der Alternativlosigkeit repräsentationaler Zustände auftreten, die sich als Produkte funktionaler Mechanismen einstellen. Ein Bild des Denkens, das Raum hat, diese Fähigkeiten zu erläutern, ist das interpretationistische Bild, das sprachliche Gedanken als innerliche, d.h. lautlose Äußerungen betrachtet, die dadurch Gehalte haben, dass die entsprechenden Äußerungen in öffentlichen Kontexten auf eine bestimmte Weise interpretiert werden. In diesen Kontexten sind die Äußerungen keine natürlichen Zeichen oder Indikatoren, auf die Rezipienten aufgrund funktionaler Mechanismen reagieren; sie sind vielmehr Äußerungen, die Bedeutung haben, insofern sie mithilfe anderer Äußerungen interpretiert werden. Wenn die Interpretation solcher Äußerungen durch Dritte der fundamentale Fall der Zuweisung von Bedeutung ist, dann können wir den Zugang zum Gehalt von inhibierten Äußerungen (i.e. Gedanken) nach dem Modell der verinnerlichten Fremdinterpretation verstehen. Innere Äußerungen haben keinen intrinsischen Gehalt, sondern verdanken ihren Gehalt einer Selbstinterpretation, die die Interpretation der entsprechenden Äußerungen durch Dritte antizipiert. Wenn wir von dem phylogenetischen Problem absehen, wie sich eine Praxis des Äußerns und Interpretierens entwickeln konnte, können wir sagen, dass Wesen, die die Rolle von Lehrern in 64

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Tradierungsprozessen übernehmen können, eine Geschichte hinter sich gebracht haben müssen, in der sie die Fähigkeit zur Selbstinterpretation und damit den Bezug auf eigene Gedanken durch die Internalisierung von Fremdinterpretation gewonnen haben. Ich habe andernorts (vgl. Vogel 2001, Kap. 4) vorgeschlagen, dass die Rekonstruktion dieser Geschichte nicht allein auf den Spracherwerb fokussiert werden sollte, sondern nichtsprachliche mediale Kommunikationsformen (wie musikalische, tänzerische, bildnerische) einbeziehen sollte, weil diese in gewissen Hinsichten grundlegender sind als die Sprache und wir ihnen Aspekte unseres Selbstverständnisses verdanken, die mit sprachlichen Mitteln nicht artikuliert werden könnten. Entscheidend ist, dass solche Äußerungen eine kompositionale Struktur haben, sich also aus Vorräten elementarer Tätigkeitstypen zusammensetzen, so dass Interpreten Äußerungen als Konstellationen solcher Tätigkeitstypen identifizieren können und ihre Interpretation an deren kompositionaler Struktur orientieren können. Die elementaren Tätigkeitstypen, die der Komposition von Äußerungen zu Grunde liegen, bilden nun ein zentrales Element meiner Konzeption von Medien:19 (M1)

Ein Vorrat solcher Tätigkeitstypen bildet ein Medium in einer sozialen Gruppe, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Die Ausführung der Tätigkeiten bringt öffentlich zugängliche, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände oder Ereignisse hervor; 2. diese öffentlich zugänglichen Gegenstände oder Ereignisse sind für die Mitglieder der Gruppe durch bestimmte beobachterrelative Eigenschaften20 ausgezeichnet, auf die sich die Identifizierung der Tätigkeiten stützt;

19. Vgl. dazu Vogel 2003. Aus nahe liegenden Gründen verzichte ich hier auf das dort angegebene Kriterium, dass die Fähigkeit, die entsprechenden Tätigkeiten auszuführen, in der sozialen Gruppe tradiert wird. 20. Entscheidend sind also nicht die Eigenschaften, die die durch Äußerungen hervorgebrachten Ereignisse oder Gegenstände in physikalischer Hinsicht haben, sondern die Eigenschaften, die sie aus der Perspektive der Rezipienten haben. Wichtig ist nicht, dass beispielsweise ein durch Singen hervorgebrachtes Schallereignis die-und-die Frequenz hat, sondern dass es als ein Ton, etwa ein a gehört wird.

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und es gibt eine Interpretationspraxis, die sich auf Konstellationen dieser öffentlich zugänglichen Gegenstände oder Ereignisse bezieht und sich dabei an den beobachterrelativen Eigenschaften orientiert.

Gemäß (M1) sind Medien also keine Dinge oder Werkzeuge (wie Bücher oder Computer),21 sondern zuallererst Mengen von typisierten Tätigkeiten. Vollzieht man solche Tätigkeiten im Kontext einer etbalierten Interpretationspraxis, dann äußert man sich medial. Vor diesem Hintergrund können wir nun auch sagen, was eine mediale Praxis ist: (M2) Eine Praxis ist eine mediale Praxis, wenn sie Akte medialer Äußerungen und Interpretationen dieser Äußerungen einschließt.

Während sich die Interpretation nichtsprachlicher medialer Äußerungen auf einer grundlegenden Ebene an der Erfahrung ihres medial strukturierten Nachvollzugs orientiert, der seinerseits in eine Geschichte eingebettet ist, in der mediale Äußerungen exemplarisch – etwa durch mimische oder gestische Mittel – interpretiert werden, lassen sich sprachliche Äußerungen als mediale Äußerungen verstehen, die nicht primär erfahrend nachvollzogen werden, sondern deren Äußerung unter Wahrheits- und Angemessenheitskriterien interpretiert wird.22 21. Werkzeuge wie Computer, Bleilettern oder Fernsehgeräte können natürlich Mittel bei der Realisierung medialer Tätigkeitstypen sein, aber diese Rolle als mediale Werkzeuge leitet sich von einem Verständnis der Medien als typisierten Tätigkeiten ab und nicht umgekehrt. Vgl. dazu Vogel 2001: 348352. 22. Vgl. Vogel 2001: 269-280. Das Gewicht der Sprache für Kulturen, die hier nur ganz schematisch aus der medientheoretischen Perspektive betrachtet wird, soll dadurch nicht heruntergespielt werden. Denn es ist offensichtlich, dass z.B. Praktiken, die sich auf institutionelle Tatsachen beziehen, in denen etwas z.B. als Zahlungsmittel betrachtet wird, voraussetzen, dass Gegenstände unter begriffliche Eigenschaftszuweisungen gestellt werden, die die Form konstitutiver Regeln haben. Unabhängig von solchen sprachlichen Regeln und den für ihre Formulierung notwendigen Begriffen, lässt sich nicht erläutern, weshalb bunt bedrucktes Papier Geld ist. Insofern ist die Tradierung aller institutionellen Phänomene (vom Mittelstreifen bis zur GmbH) da-

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Mit Hilfe von (M2) können wir aus dem Gewebe aller zusammenhängenden Praktiken jene Praktiken herausgreifen, die mediale Praktiken sind, und so den holistischen Kulturbegriff (K2) übersichtlicher rekonstruieren: (K4)

Die Kultur einer sozialen Gruppe ist die Extension der Menge aller tradierten medialen Praktiken in dieser Gruppe und jener Praktiken, die von diesen abhängen.

(K4) rechtfertigt nicht die alltagssprachliche Verengung des Kulturbegriffs auf die Themen, von denen das Feuilleton berichtet, aber (K4) macht plausibel, weshalb sich der spezifische Kulturbegriff etabliert hat, von dem das Feuilleton handelt. Weil mediale Praktiken eine fundamentale Rolle für die Entwicklung und Kommunikation von Selbstverständnissen spielen, erlauben sie uns eine Perspektive auf uns selbst, die außerhalb dieser Praktiken nicht möglich ist. (K4) macht zugleich aber auch deutlich, dass der holistische Charakter des Kulturellen nicht nur auf der Tatsache ruht, dass Praktiken in kontingenten Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen, sondern auf der Tatsache, dass die Möglichkeit des Tradierens selbst notwendige Bedingungen hat, die sich nur mit Hilfe von Medien erfüllen lassen, weil sich der Geist der Tradierer in medial strukturierten kommunikativen Prozessen entwickelt. Auf der Ebene medialer Praktiken erreichen wir die Ebene, auf der Tradierungskontexte Interpretationskontexte implizieren und deutlich wird – wie Clifford Geertz im Anschluss an Max Weber zurecht gesagt hat –, dass »der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« (Geertz 1973: 9; vgl. auch ebd. 29f.) Im Rekurs auf die Interpretationen, die sich in medialen Praktiken vollziehen und in ihrem Vollzug tradiert werden, können wir uns darum bemühen, das Selbstverständnis derer zu verstehen, die sich in solchen Praktiken artikulieren und deren Selbstbezug sich diesen Praktiken verdankt (ebd. 292). Der Zusammenhang zwischen Geist, Medien und Kultur beran gebunden, dass die für sie konstitutiven sprachlichen Mittel tradiert werden.

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steht kurz darin, dass Tradierungsprozesse nur möglich sind, wenn in ihnen Lehrer auftreten, die denken können. Medien spielen in Tradierungsprozessen die Rolle eines für das Denken konstitutiven Mittels, das vermittels des Denkens Tradierung ermöglicht. Zugleich ist Denken aber eine Fähigkeit, deren kommunikativer Vollzug die Medien des Denkens tradiert. Medial vermittelte Kommunikationsprozesse bilden die soziale Grundlage des Geistes, in deren Vollzug zugleich die Medien des Geistes tradiert werden, denn die Tradierung medialer Praktiken vollzieht sich in ihrem Vollzug.

3. Einige Folgen des vorgeschlagenen Kulturbegriffs Ein Kulturbegriff wie der hier vorgeschlagene bringt eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich, die sich daraus ergeben, dass Kulturen primär über Tradierungspraktiken ausgezeichnet werden. Insbesondere weil solche Praktiken relativ wenige Restriktionen ins Spiel bringen, muss man überlegen, wie die Allgemeinheit kultureller Aussagen zu verstehen ist (3.2), welche Identitätsbedingungen Kulturen haben (3.3) und wie schließlich die Plastizität von Tradierungsprozessen mit der relativen Stabilität und ggf. Uniformität mancher Praktiken zu verbinden ist (3.4). Ich beginne die Überlegungen mit einer unmittelbaren Konsequenz aus der Orientierung an Tradierungsprozessen.

3.1 Kulturelle Aussagen sind implizit historische Aussagen Wenn wir eine Praktik als kulturelles Phänomen betrachten, dann stellen wir diese Praktik in eine historische Perspektive, denn wir betrachten die verbreitete Gegenwart dieser Praktik als Folge eines in der Vergangenheit abgelaufenen Tradierungsprozesses. Die implizit historische Perspektive des Kulturbegriffs tritt in der Alltagssprache an vielen Stellen an die Oberfläche. Denn wir reden vom Aufstieg, Niedergang oder Untergang von Kulturen. Und wenn wir beispielsweise vom Aussterben eines Handwerks reden, dann ist ganz klar, was damit gemeint ist: Die Tradierungslinien werden dünner, Meisterinnen und Meister finden immer weniger Schüler, bis die letzten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten mit ins Grab nehmen. Das Auftreten einer neuen Kultur fällt ganz analog nicht mit der Erfindung einer neuen Praktik zusammen, sondern ist daran 68

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gebunden, dass die entsprechende Handlungsform tradiert wird, dass sich Nachahmer, Schüler und Lehrer finden. Dieser historische Zusammenhang erlaubt es uns, die Ähnlichkeiten der Praktiken nicht als ein primäres Merkmal von Kulturen zu betrachten, sondern als ein abgeleitetes. Auch wenn es die Ähnlichkeiten sind, die uns zunächst auffallen und insofern epistemisch primär sind, individuieren wir Kulturen nicht anhand dieser Ähnlichkeiten, sondern anhand eines historischen Zusammenhangs: Nehmen wir einmal an, dass man in Nordafrika und in Zentralaustralien die gleichen Speisen serviert, die gleichen Geschmäcker schätzt und ablehnt, dass sich also die nordafrikanische und die zentralaustralische Küche nicht unterscheiden, dann könnten wir, wenn wir auf der Ebene bloßer Ähnlichkeiten stehen bleiben, nicht umhin, beide als – räumlich weit auseinander liegende – Exemplifizierungen einer Kultur zu betrachten. Wenn wir aber wissen, dass zwischen den beiden Kulturen zu keiner Zeit Kontakte bestanden, die als Tradierungsbrücken verstanden werden können, dann setzt uns dieses historische Wissen in die Lage, zugleich zu wissen, dass es sich um zwei Kulturen handelt, deren Praktiken sich zufälligerweise nicht unterscheiden. Diesen Zusammenhang kann man auch ausdrücken, indem man sagt, dass die Frage, ob wir es angesichts gleicher Praktiken mit einer oder zwei Kulturen zu tun haben, nur im Rückgriff auf die Abstammungslinien dieser Praktiken entschieden werden kann.23

3.2 Die (problematische) Allgemeinheit kultureller Aussagen Wenn jemand aus dem Urlaub, von einer Geschäfts- oder Forschungsreise zurückkommt und gefragt wird, wie die Leute dort leben, dann werden die Fragesteller kaum zufrieden sein, wenn sich die Antwort allein auf die Beschreibungen individueller Vorkommnisse von Handlungen beschränkt. Die Fragesteller wollen meist auch wissen, wie »man« dort lebt, was »typisch« ist, was die Kultur oder ihre Angehörigen allgemein charakterisiert. Von Aussagen über Kulturen erwarten wir eine bestimmte Allgemeinheit, die wir für informativ halten, und wir sollten verstehen, welcher Art diese Allgemeinheit ist und welche rationale Grundlage sie gegebenen23. Mit anderen Worten: Kulturen supervenieren nicht auf Praktiken, sondern auf Abstammungslinien von Praktiken.

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falls hat. Dass die Allgemeinheit, um die es hier geht, auch problematisch ist, muss angesichts kultureller Klischees nicht eigens betont werden. Zufrieden wären unsere Fragesteller etwa, wenn der Reisende sagt: (a) »Die Nudeln werden so gekocht, dass sie noch Biss haben«, oder (b) »Nachmittags trifft man sich in den Häusern, man diskutiert und kaut Kat«. Was leisten solche allgemeinen Sätze und wie genau hat man sie zu verstehen? Aus dem zuvor Gesagten ist klar, dass wir die Allgemeinheit von kulturellen Aussagen nicht angemessen verstehen, wenn wir sie im Sinne von Allaussagen interpretieren. Denn es ist klar, dass es in Italien auch Pasta gibt, die zu lange gekocht wurde und es im Jemen auch Menschen gibt, die nachmittags kein Kat kauen. Es ist aber auch fraglich, ob wir die Allgemeinheit solcher Sätze so verstehen können, dass durchschnittliche oder die meisten Angehörigen einer Kultur bzw. Vorkommnissen einer Praktik die genannte Eigenschaften aufweisen oder sie diesen wahrscheinlich zukommt. Vielleicht lässt sich die Allgemeinheit kultureller Aussagen besser verstehen, wenn man sie mit anderen Aussagen vergleicht, denen ähnliche Formen von Allgemeinheit zukommen. Solche Aussagen sind beispielsweise Aussagen über biologische Arten, Aussagen wie »Schwäne sind weiß« oder »Spermien befruchten Eizellen«.24 Denn obwohl wir diese Aussagen für zutreffend halten, sind doch keineswegs alle Schwäne weiß noch befruchten alle, die meisten oder durchschnittliche Spermien Eizellen, ja, es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass ein Spermium eine Eizelle befruchtet. Die Allgemeinheit von Aussagen über Kulturen und über biologische Arten sind zunächst einmal insbesondere deshalb miteinander verwandt, weil es sowohl in Kulturen als auch innerhalb von

24. Mir geht es hier um einen Vergleich hinsichtlich der Allgemeinheit von kulturellen und artbezogenen biologischen Aussagen. Die Vergleichbarkeit in dieser Hinsicht impliziert natürlich nicht, dass Kulturen biologische Arten sind, und es sollte klar sein, dass dieser Vergleich nicht rechtfertigt, Kulturen etwa in evolutionstheoretischen oder soziobiologischen Termen zu beschreiben. Darüber hinaus soll die Analogie auch nicht rechtfertigen, dass man sich eine derart dezentrierte Perspektive zu eigen macht, wie sie etwa Susan Blackmores Memtheorie (1999) entwirft, in der menschliche Individuen als Reproduktionsorgane von Praktiken (die Sonderfälle von Memen wären) auftreten (vgl. etwa S. 62, 66).

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biologischen Arten viel Raum für Unterschiede und Variationen gibt. Weder biologische Arten noch Kulturen sind wirklich homogen oder uniform, und dennoch scheint es Sinn zu haben, generalisierende Aussagen über sie zu machen. Eine fundamentalere Grundlage für die Ähnlichkeit generalisierender kultureller und biologischer Aussagen besteht jedoch darin, dass sowohl Kulturen als auch biologische Arten historisch individuiert werden.25 So wie im Hintergrund einer biologischen Art ein Reproduktionsmechanismus steht, der (unter geeigneten Umweltbedingungen) dafür sorgt, dass sich eine Art in Existenz hält, so werden Kulturen durch erfolgreiche Akte der Tradierung in Existenz gehalten. Weil weder der genetische Reproduktionsmechanismus noch Tradierungsprozesse 1:1-Kopien erzeugen, werden weder alle Vorkommnissen einer Praktik noch alle Angehörigen einer Art26 dieselben Eigenschaften aufweisen. Gleichwohl bilden aber die Existenz und die Effektivität der Vererbungs- bzw. Tradierungsprozesse die Grundlage dafür, dass wir generalisierende Urteile bei aller anzutreffenden Variabilität als zutreffend erachten können. Um zu erläutern, welcher Art die Allgemeinheit kultureller Aussagen ist, können wir sagen: Die Allgemeinheit kultureller Aussagen ist nicht die von allquantifizierten oder statistischen Aussagen, sondern die gattungsbezogener, also generischer Aussagen. Wenngleich die Semantik generischer Aussagen problematisch ist und hier nicht im Detail diskutiert werden kann, können wir annehmen, dass im Hintergrund generischer Aussagen (implizite) Theorien darüber stehen, wie sich unterschiedliche Genera konsti-

25. Das gilt jedenfalls für den genealogischen Artbegriff, der unter Bedingungen der Evolutionsbiologie am ehesten geeignet ist, Phänomene wie den Polymorphismus der Arten oder Prozesse der Mutation, die gewichtige Herausforderungen für essentialistische, mengentheoretische oder solche Artbegriffe darstellen, die Arten als homöostatische Eigenschaftscluster verstehen. 26. Neben den Fehlern des Kopiermechanismus sorgen natürlich auch Mutationen und Umweltbedingungen, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Ausprägung genotypisch angelegter Merkmale nehmen, für das Auftreten von Varianten. Davon können wir hier der Einfachheit halber absehen.

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tuieren, wobei diese Theorien Annahmen darüber enthalten, wie bestimmte Eigenschaften über Individuen (seien es Praktiken oder Individuen einer Art), die den Genera angehören, distribuiert werden. Weil Kulturen und Arten historisch individuiert werden, stützt sich die Allgemeinheit von Aussagen über Kulturen bzw. Arten auf zeitlich ausgedehnte Reproduktions- und Eigenschaftsdistributionsmechanismen. Aufgrund dieser Überlegungen können wir mit Blick auf Kulturen sagen, dass sich die generalisierenden Urteile über Kulturen rechfertigen lassen, weil auch die Reproduktion von Kulturen über Mechanismen des Weitergebens und Tradierens abläuft, die für eine gewisse Homogenität kultureller Praktiken sorgen. Weil der Prozess des Tradierens aber noch weit weniger als genetische Vererbung 1:1-Kopien hervorbringt, müssen wir den generalisierenden Charakter von Aussagen über Kulturen um so vorsichtiger betrachten. Generische Aussagen über kulturelle Phänomene haben eine orientierende Funktion, die mit Blick auf jedes einzelne kulturelle Phänomen scheitern kann. Weil solche Aussagen aber nicht auf Individuelles zielen, sondern auf die genealogisch verwandte Form, die Vorkommnissen einer Praktik qua Tradierung typischerweise gemein ist, werden sie durch das Scheitern am Einzelfall nicht wertlos. Dabei liefert uns der Rekurs auf den Mechanismus der Tradierung zugleich den Grund dafür, dass die generalisierend zugeschriebenen Eigenschaften den Phänomenen nicht akzidentell zukommen, sondern als kulturellen, d.h. als tradierten Phänomenen. Sollten diese Überlegungen dazu beitragen können, die Allgemeinheit kultureller Aussagen angemessen zu verstehen, dann müsste es mit ihrer Hilfe auch möglich sein, die Unterschiede zu erläutern, die sich mit Blick auf generische Aussagen über biologische Arten und kulturelle Phänomene ergeben. Die Behandlung eines ersten Unterschieds bin ich ohnehin noch schuldig: Denn was wäre eine Aussage im kulturellen Kontext, die der Aussage »Spermien befruchten Eizellen« entspräche? Wie sehen mit anderen Worten Fälle aus, in denen Praktiken (P) extrem selten eine gewisse Eigenschaft (E) haben und wir gleichwohl die generische Aussage »Allgemein P hat E« für zutreffend halten würden? Im Falle der Spermien interpretieren wir die Aussage mit Blick auf eine funktionale Theorie, die sich auf den Beitrag der Eigenschaft E für eine Erklärung der Existenz von Spermien stützt, etwa indem 72

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wir sagen: Spermien haben die Funktion, Eizellen zu befruchten.27 Es ist diese in einen reproduktiven Zusammenhang eingebettete funktionale Interpretation, die das Zutreffen des generischen Satzes mit der Tatsache vereinbar macht, dass seine deskriptive Interpretation in sehr vielen Einzelfällen falsch ist. Aber gibt es eine analoge Theorie im Falle kultureller Phänomene? Ein Beispiel für eine in diesem Sinne problematische generisch-allgemeine Aussage wäre (c) »Im Deutschen zieht ›wegen‹ den Genitiv nach sich«. Ist diese Aussage zutreffend, obwohl weder alle noch die meisten noch durchschnittliche Verwendungen von »wegen« den Genitiv nachsichziehen? Wäre es richtig zu sagen, dass »wegen« im Deutschen den Genitiv typischerweise nach sich zieht? Oder ist (c) einfach falsch? Entsprechend den obigen Überlegungen müssen wir nach einer Interpretation des generischen Satzes suchen, die sich auf eine Theorie stützt, die für die Art von Phänomen spezifisch ist, über das wir sprechen. Mit Blick auf (c) könnte eine normative Interpretation geltend machen, dass es im Kontext der Praktik, deutsch zu sprechen, eine Regel gibt, die vorschreibt, woran sich die Teilpraktiken der Wegen-Verwendung zu orientieren haben. Man könnte weiterhin darauf verweisen, dass es Leute gibt, die diese Regel befolgen, sie tradieren, ihre Nichtbefolgung sanktionieren usf. Eine derartige Interpretation würde also die Elemente des Bestehens einer Tradition und die Existenz einer Regel zur Rechtfertigung des generischen Satzes ins Spiel bringen. Weil diese Regel aber von immer weniger Sprechern des Deutschen befolgt wird, sollte die Interpretation des generischen Satzes um einen Kommentar ergänzt werden, der deutlich macht, inwiefern seine umstandslos deskriptive Interpretation irreführend ist. Generalisierende Aussagen über Kulturen sollten daher in dem Sinne kommentiert werden, dass ersichtlich wird, in welchem Maße eine Praktik erfolgreich tradiert wird bzw. in welchem Umfang den zugrunde liegenden Regeln gefolgt wird.

3.3 Die transtemporale Identität von Kulturen Die Tatsache, dass die Tradierung von Praktiken Spielraum für Veränderungen zulässt, stellt uns vor Probleme, wenn es darum 27. Was damit verträglich ist, dass die meisten Spermien diese Funktion nicht erfüllen.

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geht, zu überlegen, unter welchen Bedingungen eine Reihe von Praktiken P1,…, Pn, die über Traditionsrelationen verbunden sind, als eine Kultur zu betrachten sind. Das Problem ist folgendes: Selbst wenn ein Px eine deutliche Innovation relativ zu Px-1 darstellt, bleibt der Tradierungszusammenhang für Px ja bestehen, so dass Px genealogischer Teil der Tradierungslinie ist, selbst wenn Px mit vielen Vorstellungen, die für den Zusammenhang relevant sind, brechen sollte. Die Frage ist also, ob der genealogische Zusammenhang hinreichend dafür ist, dass eine Praktik Teil der Kultur ist, von der sie abstammt. Nehmen wir, um ein (vielleicht etwas zu übersichtliches) Beispiel zu haben, den Fall, dass in einer Schwarzwälder Kirschtorte die Kirschen durch Erdbeeren ersetzt werden und die Sahne durch Pudding. Dieser Kuchen wurde zwar aus einer Schwarzwälder »entwickelt« und gehört insofern zur Kultur der Schwarzwälder, aber er ist klarerweise keine Kirschtorte und schon gar keine Schwarzwälder. In diesem Fall konfligieren zwei Intuitionen miteinander, die Intuition, dass tradierte Praktiken untereinander hinreichend ähnlich sind, und die Intuition, dass die Ähnlichkeit von Praktiken nicht hinreichend dafür ist, dass sie einer Kultur angehören und deshalb die Tradierungsrelation eine grundlegende Rolle spielen muss. Vielleicht sind solche Probleme nicht generell lösbar, sondern nur am Einzelfall im Kontext von Erkenntnisinteressen zu bearbeiten. Vielleicht könnte eine allgemeine Orientierung aber folgendermaßen aussehen: Nehmen wir an, Px sei eine weit reichende Innovation wie die Erdbeer-Puddingtorte, dann können wir uns fragen, wie es um die Kuchen Px+1 bestellt ist, die auf Px folgen. Wenn es unter den Px+1 einige gibt, die die Schwarzwälder-Linie fortsetzen und andere, die der Innovation folgen, dann können wir retrospektiv sagen, dass diese letzteren Px als den Beginn einer Erdbeer-Puddingtorten-Kultur auszeichnen. Mit anderen Worten: Variationen von Praktiken markieren Gabelungen innerhalb von Abstammungslinien, wenn sie eigenständig tradiert werden, während Variationen, die ohne Nachfahren bleiben, als buntscheckige Varianten am Rand der etablierten Kultur stehen. Die Strategie besteht also in folgendem Vorgehen: Angesichts der Tatsache, dass man es innerhalb von Tradierungslinien nie mit Klassen essentialistisch auszeichenbarer Gegenstände zu hat, sondern mit Gegenständen, die genealogisch verbunden sind, wobei die genealogischen Relationen Spielräume für Variationen und grundlegende Innovationen einschließen, kann der Beginn einer 74

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neuen Kultur (oder die Differenzierung einer Kultur in zwei Kulturen) nur retrospektiv diagnostiziert werden, indem eine innovative Praktik selbst traditionsbildend wird. Allerdings wird durch diese Strategie auch deutlich, dass wir von den Eigenschaften einer Praktik nicht absehen können. Denn wenn wir retrospektiv eine Kultur beschreiben, die sich an eine Innovation anschließt, dann können wir das nur, wenn nicht schon in den nächsten Generationen von Praktiken grundlegende Veränderungen oder erneute Innovationen auftreten. Entscheidend ist jedoch, dass die Ähnlichkeiten von Praktiken, die wir einer Kultur zurechnen als Folge ihrer Genealogie verstanden werden – wobei die Genealogie selbst nicht über Ähnlichkeitsrelationen etabliert wird, selbst dann wenn Tradierungsprozesse auf Ähnlichkeiten oder Eigenschaftskonstanz zielen. Wenn dieses Bild annähernd richtig ist, dann können wir an einer Grundierung des Bilds von Kulturen festhalten und sagen: Die Zugehörigkeit einer individuellen Vorkommnis einer Praktik zu einer Kultur wird durch ihre Abstammung und nicht durch ihre beobachtbaren Eigenschaften bestimmt. Daher haben Kulturen keine Essenz in dem Sinne, dass bestimmte Eigenschaften für das spezifisch sind, was unter sie fällt. Kulturen sind wie biologische Arten polymorph. Eine Kultur umfasst wie eine Art nicht eine Klasse von Phänomenen, die gewisse Eigenschaften teilen, egal wo und wann diese Phänomene auftreten, sondern Phänomene, die in zeitlich und räumlich kontinuierlichen Abstammungsrelationen zueinander stehen (vgl. dazu Hull 1978) und die deshalb oft ähnlich sind. So wie alle Individuen zu einer biologischen Art gehören, die mittelbar oder unmittelbar gemeinsame Vorfahren haben, so gehören alle Vorkommnissen von Praktiken derselben Kultur an, die unmittelbar oder mittelbar durch Tradierung mit früheren Vorkommnissen dieser Praktiken verbunden sind. Wir können diesen Zusammenhang auch so ausdrücken, dass wir sagen: (K5)

Kulturen sind historische Individuen.

Damit soll gesagt sein, dass Kulturen raumzeitlich begrenzte Phänomene sind, die aus kausal verbundenen Teilen (i.e. Praktiken) bestehen, wobei die kausalen Relationen unter anderem Akte der Tradierung realisieren. Kulturen sind keine raumzeitlich unbegrenzten Klassen von Phänomenen, deren Elemente Praktiken 75

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sind, auf die gewisse Eigenschaften zutreffen, sondern bilden je ein historisch zusammenhängendes singuläres Ganzes, dessen Teile tradierte Praktiken sind. Wenn wir den holistischen Kulturbegriff (nach K2 oder K4) betrachten, müssen wir weitere Überlegungen in Betracht ziehen. Denn mit Blick auf die transtemporale Identität holistisch verstandener Kulturen haben wir nicht nur mit dem Fall der Variation von Praktiken zu rechnen, sondern auch damit, dass Praktiken, die zu einer Kultur K1 gehören, von Individuen einer Kultur K2 übernommen und innerhalb von K2 tradiert werden. Zwischen Kulturen können – anders als zwischen Arten,28 zwischen denen gewöhnlich kein genetisches Material ausgetauscht werden kann, – Praktiken ausgetauscht werden, weil die Möglichkeiten des Lehrens und Lernens nicht (ohne weiteres) an Kulturgrenzen gebunden sind. Wenn man holistisch verstandene Kulturen betrachtet, dann bilden sie über die Zeit hinweg Tradierungsgewebe, die permanentem Wandel unterworfen sind, einerseits dadurch, dass die tradierten Praktiken durch die Tradierung Modifikationen unterworfen sind, andererseits dadurch, dass sie Praktiken anderer Kulturen aufnehmen und eigenständig tradieren. Aussagen, die sich auf holistische Kulturen beziehen, haben einen Gegenstand, der nicht nur durch Tradierungsprozesse, sondern auch durch das Einweben von Fäden neuer Praktiken in steter Bewegung ist. Dass sich die Praktiken und das Gewebe von Praktiken dennoch nicht in unendliche Vielfalt auflösen, lässt sich auch darauf zurückführen, dass in Tradierungsprozessen unterschiedliche Formen von Macht eine wichtige Rolle spielen. Dazu abschließend noch ein paar Worte.

3.4 Tradierung und Macht Wenn wir den Mechanismus des Tradierens genauer untersuchen, dann können wir Faktoren isolieren, die erläutern helfen, warum manche Praktiken relativ stabil tradiert werden. Bisher haben wir den Prozess des Tradierens nicht weiter situiert, sondern einen kompakten Mechanismus unterstellt, der dafür sorgt, dass die Fähigkeit (möglicherweise auch die Disposition), gewisse Praktiken 28. Hier ist unterstellt, dass Prokaryonten, wie Bakterien oder Blaualgen, möglicherweise aber auch einige wenige Pflanzen keine Arten bilden. Vgl. Mayr 1982: S. 227f.

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realisieren zu können (bzw. zu realisieren), von Individuum zu Individuum weitergeben wird. Eine genauere Analyse dieser Prozesse legt aber nahe, dass Tradierungsprozesse über vielfältige Lehr- und Lernprozesse realisiert werden, die auf der Seite der Lehrenden vom bloßen »Abrichten« bis zu diskursiven Formen des Lehrens reichen. Dabei können wir unterstellen, dass die Lehrenden erstens Vorstellungen darüber haben, wie eine Praktik richtig ausgeführt wird, zweitens Mittel, sie zu vermitteln, und drittens über Mittel verfügen, um durchzusetzen, dass ihre Schüler Praktiken konform zu den Richtigkeitsvorstellungen auszuführen lernen. In Tradierungsprozessen spielen daher neben normativen Überzeugungen und Medien Machtrelationen eine wichtige Rolle, und zwar sowohl auf der lokalen Ebene, die Foucault als »bebenden Sockel von Kraftverhältnissen« beschreibt (Foucault 1977: 114), als auch auf der Ebene von Institutionen. Insbesondere institutionalisierte Machtformen könnten erklären, wie Tradierungsprozesse, die zunächst durch lokale Tradierungsakte zwischen Individuen realisiert werden müssen, in sehr großen Gruppen in Takt gehalten werden können. Dass sich beispielsweise die Rechtschreibreform in den deutschsprachigen Ländern durchsetzen wird, ist ohne die durch institutionelle Macht gedeckte Einflussnahme auf die Tradierungsprozesse, die sich in der Schule – mithin in staatlich kontrollierten Institutionen – vollziehen, kaum verständlich zu machen. Man kann diesen Überlegungen zustimmen und sagen, dass ein empirisch angemessener Kulturbegriff Elemente einer Machttheorie enthalten muss, weil viele Tradierungsmechanismen faktisch auf Machtrelationen zwischen Individuen gründen. Aber es ist natürlich fraglich, ob machttheoretische Aspekte auch einen notwendigen Bestandteil einer angemessenen Theorie der Kultur darstellen. Die Beantwortung dieser Frage hängt gänzlich davon ab, wie der Machtbegriff theoretisch eingeführt wird. Wenn wir Macht als eine Relation verstehen, die in einer methodologisch-individualistischen Perspektive eingeführt werden kann, dann lässt sich diese Relation folgendermaßen bestimmen: »(M) eine Person P1 hat die Macht eine Person P2 zu veranlassen, X zu tun, falls a) P1 über die Gelegenheit und die Mittel verfügt, um P2 zu veranlassen, X zu tun; b) P1 intendiert, P2 zu veranlassen, X zu tun;

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c) P2 aufgrund des Einflusses von P1 gelegentlich X tut, ohne dass andere Personen P2 gezwungen hätten, X zu tun; d) P2 ohne den Einfluss von P1 X nicht getan hätte.«29

Wenn (M) als eine minimale Machtdefinition akzeptabel ist, die hinreichende aber vielleicht nicht notwendige Bedingungen angibt, dann können wir uns fragen, welche Rolle die in (M) beschriebene Relation in Tradierungsprozessen spielt. Insbesondere (d), das die Form einer kontrafaktischen Bedingung hat, legt nahe, dass Macht ein notwendiges Element in Tradierungsprozessen spielt, denn wenn P2 eine Handlung, die eine Praktik instantiiert, nicht ohne den Einfluss30 von P1 vollzogen hätte, dann ist die Macht von P1 für die Tradierung von X notwendig. Denn selbst in dem Fall, dass Schüler das Verhalten ihrer Lehrer spontan imitieren, sind es immerhin die Lehrer, die auf das imitierende Lernen Einfluss nehmen, indem sie dafür das Vorbild liefern. Wenn die Lehrenden in diesem Fall die Disposition von Schülern zum Imitieren nutzen (a) und intendieren, dass sie ihr Verhalten imitieren (b), dann würden selbst elementare Formen des Lehrens und Lernens und damit Prozesse des Tradierens Machtrelationen einschließen.31 Klar ist auf der anderen Seite, dass Macht nicht hinreichend dafür ist, dass Praktiken tradiert werden. Denn selbst wenn P2 unter dem Einfluss von P1 die Handlung X vollzieht, so wäre nicht ge-

29. Wolfgang Detel 1998: 26. Ich sehe hier von zwei weiteren Bestimmungen ab, nämlich (e) zur möglichen Identität von P1 und P2 sowie zur Asymmetrie der Machtrelation. 30. Ich lese »Einfluss« hier im Sinne von »Einwirkung« und nicht im (Parsonsschen) Sinne, dass P2 sich an P1 orientiert, weil P1 sich beim Meistern von Problemen als kompetent erwiesen hat. 31. Diese Interpretation wirft (wie die Überlegungen in 2.7) die Frage auf, ob Verhaltensweisen, für die Lehrende unabsichtlich das Vorbild sind, als tradierte Verhaltensweisen betrachtet werden sollten – und damit als kulturelles Phänomen. Angesichts der Tatsache, dass das intentionale Lehren selbst elementare Körpertechniken (und damit mögliche Elemente des »Habitus«) wie das Gehen einschließt (»Geh nicht über den Großen Onkel«) ist natürlich fraglich, ob solche Fälle überhaupt eine große Rolle spielen. Andererseits scheinen manche Gewohnheiten einfach praktiziert und imitiert zu werden, ohne dass dies beabsichtigt wäre.

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währleistet, dass sie dies tut, wenn der Einfluss von P1 aufhört, und es wäre – wichtiger noch – nicht gewährleistet, dass P2 dafür sorgt, dass eine Person P3 X tut. Es ist wichtig zu sehen, dass diese Analyse nicht impliziert, dass Kulturen notwendig repressiv sind, denn die Macht, andere zum Befolgen konstitutiver Regeln zu veranlassen – kann repressiv und repressionsfrei ausgeübt werden, also so, dass dabei Präferenzen des Lernenden verletzt werden oder nicht (vgl. dazu Detel 1998, insb. 58f.). Klar ist aber auch, dass institutionelle (zumal repressive) Macht Tradierungsprozesse Bedingungen unterwerfen kann, die die Spielräume für Variation und Innovation empfindlich einschränken, so dass Macht ein Faktor ist, der erläutern helfen kann, warum Praktiken mit großer Zuverlässigkeit relativ uniform tradiert werden. Wenn Machtrelationen eine wichtige Rolle in Tradierungsprozessen spielen, dann bilden sie einen interessanten Fokus, in dem Kulturen untersucht werden können.

3.5 Schlussbemerkung Es ist klar, dass hier nicht viel mehr als die Skizze eines nicht-essentialistischen Kulturbegriffs vorliegt, die in vielerlei Hinsicht ausgearbeitet werden müsste. So wäre es insbesondere von Interesse, das relativ kompakte Bild von Praktiken so zu differenzieren, dass insbesondere auch sichtbar wird, wie hochstufige Praktiken, seien sie epistemischer oder diskursiver Natur, in das Gesamtbild eingepasst werden können, auch um so die spezifischen Dynamiken unterschiedlicher Kulturen (im weiten Sinne) erklären zu können. Immerhin scheint der Begriff aber auch über eine Reihe von Vorteilen zu verfügen: Denn mit seiner Hilfe ist es möglich, die (problematische) Allgemeinheit kultureller Aussagen, die Vielfaltgestaltigkeit von Praktiken innerhalb einer Kultur, den Wandel, dem Kulturen unterliegen, und den Zusammenhang zwischen der so genannten materiellen und der symbolischen Kultur auf einer theoretisch homogenen Grundlage zu verstehen, ohne angesichts von Variabilität und fließenden Grenzen die Möglichkeit zu verlieren, Kulturen identifizieren zu können. Dabei könnte es ein weiterer Vorzug des vorgeschlagenen Begriffs sein, dass er sich nicht auf eine hochspezifische theoretische Perspektive festlegt, um so der Flut von Kulturbegriffen bloß einen weiteren hinzuzufügen, sondern sich des gewöhnlichen irreduziblen handlungstheoretischen 79

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Vokabulars bedient, das erlauben sollte, interessante Aspekte spezifischerer Kulturbegriffe theoretisch zu integrieren.

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Blinde Flecken der Medientheorie

Blinde Flecken der Medientheorie Elena Esposito

1. Gegenstand dieses Bandes sind unter anderem die Verhältnisse zwischen Medientheorie und medialen Praktiken: Ein viel debattiertes Thema, das mir aber immer noch nicht völlig geklärt zu sein scheint, vor allem in seinen theoretischen Voraussetzungen. Sieht man genau hin, hat das Thema drei Seiten: die medialen Praktiken, die sich mit beispielloser Geschwindigkeit, Wirksamkeit und Kreativität verbreiten, die Medientheorie, die sich dagegen in letzter Zeit eher schleppend entwickelt und nicht besonders innovativ ist, und das Verhältnis zwischen beiden Ebenen, das heute ziemlich problematisch ist. Etwas scheint hier nicht richtig zu funktionieren: Die Unterscheidung zwischen Reflexion und Praxis, die als Voraussetzung für gegenseitige Einflüsse und Konditionierungen gelten soll, ist faktisch zur Trennung geworden. Jeder geht für sich selbst weiter. Oder besser: Die Praktiken gehen für sich selbst weiter, während die Theorie wenig fortschreitet und fast dazu tendiert, auf die Praxis zu rekurrieren, um das, was sie tut, zu erklären. Man beobachtet eine merkwürdige Rückwirkung, wo die offensichtlichen Erfolge der sogenannten neuen Medien1 und ihre stürmische Entwicklung zur Legitimation der Theorie benutzt werden, aufgrund der Tatsache, dass sie neue und als solche intransparente Phänomene behandelt. Doch waren die Anfänge vielversprechend. In den sechziger 1. Die Tatsache selbst, dass diese Bezeichnung benutzt wird, könnte als Signal gesehen werden, dass etwas in der Theorie nicht richtig funktioniert.

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Elena Esposito

Jahren sind die Prämissen entwicklungsreicher Forschungsrichtungen formuliert worden, welche gerade wegen ihrer Aufmerksamkeit auf Medien Wenden in der theoretischen Reflexion markiert haben: Man denke nur an die von Havelock und Lord ausgehenden Untersuchungen zu Oralität und Schrift, an die Forschung von McLuhan selbst, an die »performative« Wende der Sprachtheorie um die Idee der Sprechakte herum, oder auch an »Grammatologie« oder Konstruktivismus. Selbst die Kybernetik zweiter Ordnung hat sich ausgehend von der ›einfachen‹ Kybernetik entwickelt, mit ihrer Emphase auf Feedbackzyklen und Zirkularität, mit der wir uns noch heute auseinandersetzen müssen. Auch auf einer eher praxisbezogenen Ebene hat in den folgenden Jahrzehnten die Theorie nützlich die Technologie begleitet und Begriffe und Reflexionen entwickelt, die für die Arbeiter der Branche lehrreich und informativ waren: der Begriff der virtuellen Wirklichkeit hat sich parallel in der Praxis und in der Theorie entwickelt, und dasselbe gilt für die technologiebeladenen Bereiche wie die der Künstlichen Intelligenz oder der Hypertexte. Technologien wurden mit dem Anspruch entwickelt, die entsprechenden theoretischen Angaben konkret zu realisieren, obwohl nicht immer mit befriedigenden Ergebnissen: man braucht nur das gigantische Missverständnis der Expertensysteme zu erwähnen. Zumindest aber arbeitete man auf koordinierte Weise. Heute sieht es anders aus. Seit den neunziger Jahren hat sich keine neue theoretische Entwicklung wirklich durchgesetzt – obwohl die Technologie inzwischen rasant vorangeschritten ist. Eine Zeitschrift wie Wired, die sich mit den avancierteren Grenzen der Elektronik und der Telematik, mit personalisierten Medien und mit Automation befasst, nimmt immer noch Marshall McLuhan als eigenen ›Schutzgott‹ an. Aber McLuhan sprach bekanntlich nur von Fernsehen und Radio, bezog sich nirgendwo auf das Internet (Wie hätte er es tun können?), nahm Computer und digitales Denken ganz wenig zur Kenntnis, und benutzte vor allem Kategorien (»Sinnerweiterungen«, »globales Dorf« und ähnliche), die heute eher irreleitend als lehrreich erscheinen. Wie kann diese Latenz der Theorie erklärt werden? Was der Theorie anscheinend nicht gelingt, ist der qualitative Sprung von der bloßen Anerkennung der Phänomene zur Fähigkeit, überraschende, aus der Theorie selbst kommende Verbindungen zu erfassen – anders gesagt: der Sprung zur Erklärungsfähig84

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keit. Aber noch einmal gefragt: Woran liegt das? Hängt das vielleicht mit der Einstellung der Theorie zusammen? Die Hypothese, die ich hier überprüfen möchte, ist, dass dieser Mangel nicht so sehr im Verhältnis von Theorie und Welt liegt, sondern eher im Verhältnis der Theorie mit sich selbst: Das Problem liegt im Mangel an Reflexivität, oder wenigstens an zureichender Reflexivität, um von der Beschreibung zur Informativität überzugehen. Die Medientheorie hat einen blinden Fleck – was an sich weder merkwürdig noch schlecht ist: Ernster und folgenreicher ist ihre Unfähigkeit, diesen blinden Fleck zu sehen und ihn zur Kontrolle der eigenen Entwicklung zu nutzen. Die Systemtheorie spricht – in Bezug auf die Fähigkeit der Theorie, sich selbst als eigenen Gegenstand zu erfassen – von »Autologie« (vgl. z.B. Luhmann 1997: 16ff.); der Medientheorie fehle eben die autologische Fähigkeit, die durch Formen der Externalisierung ersetzt sei. Sie setzt also etwas Äußeres voraus, dem die Konstruktion der Theorie angehängt wird: die Medien als externe Mittel, die »Materialität der Kommunikation«, die andauernde Hypothese der Sprache als System oder natürlich die Kreativität und Autonomie der Individuen – dadurch werden die Rätsel der Zirkularität neutralisiert. Aus der Sicht der Systemtheorie ist dagegen der springende Punkt stets die Kommunikation, mit ihrer Fähigkeit, sich selbst zu betrachten und immer unwahrscheinlichere Formen und Verbindungen zu realisieren. Denn eine Medientheorie kann keine Theorie der Maschinen oder der Individuen mit ihren mehr oder weniger verbreiteten Sinnen sein, sondern nur eine Theorie der Weisen, wie Kommunikation über sich selbst oder von sich selbst ausgehend kommunizieren kann – unter der unvermeidlichen Bedingung, dass sie ohnehin die laufende Operation nicht beobachten kann. Mit anderen Worten: Wie kann eine Kommunikation, die sich selbst nicht zu beobachten weiß, die Kommunikation und ihre Bedingungen reflektieren? Wann und in welchen Formen kann die Beobachtung einer Blindheit zum Sehen beitragen? Und: Was sieht man dann?

2. In ihrer scheinbaren Einfachheit verlangt diese Frage eine äußerst komplexe Theorie. Es handelt sich in der Tat um die Grundfrage 85

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der ganzen Systemtheorie, obwohl das manchmal nicht beachtet wird (Luhmann selbst sagt es allerdings sehr deutlich: vgl. Luhmann 1997: 187, 538). Das ist auch der Grund dafür, dass eine strenge Systemtheorie auch eine Theorie sozialer Systeme, also eine aufgrund der Kombination mehrerer Unterscheidungen gebaute Theorie sein muss. Die Behauptung, dass die Medientheorie keine Theorie besonderer Objekte ist, sondern eine Theorie der Formen der Kommunikation sein muss, die sich selbst gleichsam mediatisiert, heißt, dass man zuerst wissen muss, was Kommunikation ist und wie sie funktioniert. Die Theorie sozialer Systeme antwortet mit dem Systembegriff (oder besser: mit der Unterscheidung System/Umwelt) und meint, dass Kommunikationen die Operationen einer besonderen Art von System mit eigener Reproduktionsfähigkeit sind – also der Fähigkeit, Kommunikation aufgrund früherer Kommunikation weiter zu produzieren. Trotz Einbaus in dieses selbstreferentielle Netz, sind Kommunikationen in der Lage, sich mit einer Vielfalt von Themen und nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen: eine Fähigkeit, die als Beobachtungsfähigkeit beschrieben und auf die Unterscheidung Operation/Beobachtung zurückgeführt wird. Zu all dem ist inzwischen vielfältige Literatur verfügbar (siehe z.B. Luhmann 1990, Kap. 1 und 2). Was uns hier interessiert ist ein weiterer Aspekt, der auf eine andere Unterscheidung verweist: wie kommt ein System, das sich selbst und die Umwelt beobachtet dazu, seine Welt in Möglichkeiten, in (vorläufig) festen Daten und in sich verändernden Elementen, in Notwendigkeiten und in Kontingenzen zu gliedern? Ein komplexes System hat mit einer Welt zu tun, die sich verändert und anders sein könnte (eingeschlossen das System selbst). Aber um das zu erfassen, kann nicht alles zusammen und nicht alles zugleich verändert werden. Etwas muss stabil bleiben, um die Veränderung und die Alternativen erfassen zu können, und es muss Formen geben, die diese Bedingungen regeln und steuern – Formen, die, nochmals gesagt, nicht der Welt, sondern der Fähigkeit des Systems, seine eigene Welt zu ordnen, zugeschrieben werden können, und die sich mit seiner Evolution verändern.2 Damit scheint sich die immer noch ziemlich obskure Un-

2. Es handelt sich im Grunde um die systemische Fassung der Ontologie: Luhmann selbst behauptet allerdings, dass die Unterscheidung Medium/

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terscheidung von Medium und Form zu befassen (vgl. Luhmann 1997: 190ff.; Brauns 2002). Was mit dieser Unterscheidung – die auf ungewöhnlich metaphorische Weise von der Differenz loser und rigider Kopplung von Elementen ausgeht3 – ins Spiel kommt, ist das Auflöse- und Rekombinationsvermögen: der beobachteten Objekte und der Theorie selbst. Das Medium (was immer es ist und welches sein Abstraktionsniveau ist) besteht aus lose gekoppelten und zur Aufnahme von Formen verfügbaren Elementen. Es entspricht dem für das System verfügbaren Auflösevermögen: seiner Fähigkeit (oder fehlenden Fähigkeit), die Daten in Kontingenzen zu lockern und sie auf eigene Weise zu rekombinieren. Das Ergebnis sind relativ rigide Formen, die (vorläufig) als Bezug gelten, um die Möglichkeiten zu ordnen und zu kombinieren. Auch hier haben wir es mit einer Unterscheidung zu tun, die sich in sich selbst reflektiert und in keiner eindeutigen Bestimmung fixiert werden kann: Die Formen selbst können zu den Elementen eines weiteren Mediums werden, das sie auf neue Weisen auflösen und rekombinieren kann. So können mehrere Medien zugleich verfügbar sein, die andersartige Kontingenzen behandeln und sich auch gegenseitig voraussetzen – in dem Sinne, dass die jeweiligen ›Auflösungen‹ in Kontingenzen die Prämisse des weiteren Aufbaues von Formen sind. Wie wir sehen werden, ist das bei verschiedenen Kommunikationstechnologien der Fall, bei denen die einen auf die anderen einwirken und wechselwirken und eine sehr hohe Abstraktion – also Unabhängigkeit von der Welt – erlauben.

3. Wenn wir als Leitfaden das Auflöse- und Rekombinationsvermögen nehmen, können wir m.E. die ganze Frage der Medien kohärenter darstellen, die selbst innerhalb der Systemtheorie als etwas verwirrt Form, auf die wir uns hier beziehen, in seiner Theorie die Frage der Referenz übersetzt (vgl. Luhmann 1995:166). 3. Das Bild findet man schon bei Fritz Heider, von dem Luhmann ausgeht: lose Kopplung zum Beispiel zwischen den Sandkörnern, die ihnen als Medium ermöglicht, die Spuren (Formen) des Fußes anzunehmen, deren Elemente rigider gekoppelt sind (vgl. Heider 1926).

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und zerstreut erscheinen kann4 – und das ist für einen derart für die ›Theoriearchitektur‹ aufmerksamen Ansatz so ungewöhnlich, dass man misstrauisch wird: Ist vielleicht irgend eine Grundverbindung vernachlässigt worden? Warum ist in scheinbar so fernen Kontexten und in Bezug auf so andersartig erscheinende Probleme immerhin von Medien die Rede? Es kann kaum bloßer Zufall sein. Der Begriff erscheint an wenigstens drei getrennten theoretischen ›Orten‹: 1. in der Behandlung derjenigen, die in anderen Ansätzen Kommunikationstechnologien genannt werden (in einem etwas ungewöhnlichen Verständnis, das auch Sprache einschließt); 2. in Bezug auf den typisch systemischen Begriff von Erfolgsmedien (oder symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, von Talcott Parsons »media of interchange« ausgehend); und 3. bei zerstreuten, etwas geheimnisvollen Gelegenheiten, zum Beispiel wenn behauptet wird, dass das Kind das Medium der Erziehung ist (Luhmann 1991), oder dass die (Personal-)Stellen das Medium der Organisation sind (Luhmann 1988). Die Bezugsprobleme sind offensichtlich sehr unterschiedlich: In einem Fall handelt es sich um die Verbreitung der Kommunikation in vom unmittelbaren Kontext immer unabhängigeren Situationen, im anderen Fall um die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation, auch unter unwahrscheinlichen Bedingungen akzeptiert zu werden, schließlich um verschiedene Fragen operativer Art. Was gibt es Gemeinsames, ›richtig Mediales‹ in all dem? Und vor allem: Was hat all das mit den Unterscheidungen der Medientheorie im gängigen Sinne zu tun? Die Antwort auf beide Fragen läuft auf den selben Punkt hinaus: das schon genannte Auflöse- und Rekombinationsvermögen. Die Differenz von loser und strikter Kopplung der Elemente handelt eigentlich davon: vom Umstand, dass zuerst eine Auflösung in Elementen verfügbar ist, wobei verschiedene Kopplungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt werden. Anders gesagt: Der springende 4. Ein Eindruck, der sich noch verschärft, wenn man auch den Gegenbegriff »Form« berücksichtigt. Form wird im Sinne Heiders als rigide Kopplung, aber auch im Sinne von Spencer Browns Kalkül der Form benutzt, wo die Zwei-Seiten-Formen faktisch alle in der Differenz indication/distinction gestaltete Unterscheidungen sind (vgl. Spencer Brown 1972: 1). Hier sehen wir von dieser weiteren Kompliziertheit ab, die man allerdings früher oder später betrachten muss und die natürlich für die Medientheorie nicht folgenlos ist.

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Punkt ist die in der Systemtheorie traditionell beliebte Frage der Kontingenz und ihrer Formen. Auflösung heißt ›Verflüssigung‹ einer Notwendigkeit in einem Kontingenzraum, der dann verwaltet werden muss – und das tut man nicht durch Aufbau neuer notwendiger Arrangements, sondern durch Kombination verschiedener Kontingenzen. Dies sind die von der Medientheorie behandelten Kopplungen (kontingente Kombinationen von Kontingenzen), die gleichwohl als Bezugspunkte gelten. Die so realisierten Formen können und müssen natürlich ihrerseits in Elemente ›aufgelöst‹ werden, die weitere Kopplungen erlauben und erfordern: eine Operationalisierung der Kontingenz.5 Verbreitungsmedien, Erfolgsmedien, Kinder, Stellen und die weiteren Verwendungsweisen des Medienbegriffs in der Theorie sozialer Systeme befassen sich in dieser Hinsicht alle mit der Frage nach dem Auflöse- und Rekombinationsvermögen. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien haben zum Beispiel in ihrer Verschiedenheit die Fähigkeit gemeinsam, mit inneren Mitteln eine externe Motivationslage zu regeln. In allen Fällen geht es um die Bereitschaft, eine Kommunikation zu akzeptieren, die um so unwahrscheinlicher wird, je voraussetzungsreicher die betreffende Kommunikation ist: wenig plausible Behauptungen der Wissenschaft, wenig angenehme Ansprüche der Macht, gravierende Erfordernisse der Liebe und ähnliches. Die Motivationen der Individuen sind undurchsichtig und vom System nicht steuerbar – Glück für das System und für uns alle. Was ein Kommunikationssystem dagegen behandeln kann, sind Bedingungen, die es selbst aufgrund eigener Generalisierungen stellt: zum Beispiel die Preise, welche die externe Gegebenheit der Güter in miteinander vergleichbare 5. Die Voraussetzung ist auch hier ein typisch konstruktivistisches Verfahren: Eine Externalisierung wird auf eine innere Unterscheidung zurückgeführt, die deshalb kontingent wird, weil man darüber verfügt, sie gehandhabt werden kann und kein bloßes Datum ist. Ein über mehrere Unterscheidungen verfügendes System wird andererseits unvermeidlich komplexer, weil es externe Voraussetzungen in eigene Fragen umwandelt, und das gilt auch für die Theorie. Deshalb muss – wie oben angedeutet – die Systemtheorie fast unvermeidlich zur Theorie sozialer Systeme werden. Nur dadurch kann die Unterscheidung System/Umwelt, die eigentlich Konstruktivismus und Zirkularität schon impliziert, mit allen sozialen und zeitlichen Unterscheidungen ergänzt werden, die sie wirklich gangbar und erklärend machen.

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Waren umwandeln und die Bereitschaft wahrscheinlicher machen kann, Eigentum zirkulieren zu lassen; oder die Symbole der Wahrheit, dank derer man vermuten kann, dass eine Behauptung aufgrund der Bedingungen glaubwürdig wird, die ihre Formulierung kontrolliert haben.6 Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ›lösen‹ also die Kompaktheit und Unzugänglichkeit der Motivationen der Individuen auf, verwandeln sie in intern handhabbare Selektionen und eröffnen dadurch einen Kontingenzund Rekombinationsraum: das Verhältnis von Preisen und Kaufbereitschaft, von Produktionsbedingungen der wissenschaftlichen Wahrheiten und der Wahrscheinlichkeit, sie zu glauben, von den Umständen des Machtgebrauchs und der Akzeptanz ihrer Vorschriften. Man braucht nicht die inneren Überzeugungen der Personen ins Spiel zu bringen: Es genügt der Bezug auf die Art und Weise, wie die Kommunikation sich selbst regelt. Etwas ähnliches wird vorausgesetzt, wenn von Kindern oder Stellen die Rede ist: Man hat auch hier mit dem zu tun, was richtig oder falsch und mehr oder weniger wirksam für eine intern steuerbare Variable gehalten und als solche behandelt wird. Und etwas ähnliches gilt auch für unseren Fall: die Verbreitungsmedien, mit denen wir uns jetzt ausführlicher beschäftigen müssen.

4. Unsere Hypothese ist, dass die Unterscheidung Medium/Form der blinde Fleck der Medientheorie ist, also auch – mit einer der üblichen Paradoxien dieses Ansatzes – das, was beobachtet werden muss, um sehen zu können: Die Medientheorie kann reflexiv, also autologisch werden, nur wenn sie sich auf die Unterscheidung Medium/Form hin orientiert und sie als eigene Leitunterscheidung nimmt. Das würde ermöglichen, sich von einer Reihe von Unreinheiten und Bindungen zu befreien und zum Beispiel eine plausible Rekonstruktion der Geschichte und Evolution der Kommunika6. Mit technischen Worten: »Das kombinatorische Problem [von Selektion und Motivation] wird durch Auflösung des zirkulären Verhältnisses von Selektion und Motivation (jede bedingt die andere) gelöst, und zwar dadurch, dass die Konditionierung der Selektion zum Motivationsfaktor gemacht wird.« (Luhmann 1997: 321).

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tionstechnologien zu entwickeln: die bisher verfügbaren Hypothesen oszillieren zwischen einem sehr zweifelhaften Determinismus (Medien als ›Ursachen‹ der Evolution der Gesellschaft) und einem genau so zweifelhaften Finalismus (die von den Medien ermöglichten Vorteile als Ursachen ihrer ›Erfindung‹). Was würde sich ändern, ginge man von der Unterscheidung Medium/Form aus? Zuerst einmal, dass nun das Auflöse- und Rekombinationsvermögen das Hauptproblem wäre und nicht die eigentümlich irreführende Frage der Übertragung. Eine kurze Überlegung reicht, um zu verstehen, dass Medien eigentlich nichts übertragen – in dem Sinne, dass es nichts gibt, was von einem Ort zu einem anderen übertragen wird und am Ende des Prozesses sich nicht mehr im ursprünglichen Punkt, sondern irgendwo anders befindet. Auch wenn sie übertragen würde, ginge die Information des Mitteilenden nicht verloren – man könnte höchstens sagen, dass sie zirkuliert oder sich verbreitet. Und sie wird auch deshalb nicht übertragen, da jeder Empfänger eine eigene Information produziert (falls er sie produziert), aufgrund eigener Kriterien, Erfahrungen und Kategorien, die notwendigerweise anders sind als die Information jedes anderen Empfängers und auch des Mitteilenden. Wie dem auch sei: Man braucht auf jeden Fall ein abstrakteres Modell. Die Metapher der Übertragung wird aber trotzdem immer wieder vorgeschlagen und erscheint fast spontan als erste Deutungskategorie, wenn ein neues Phänomen auftaucht – auch die Verbreitung des Internets wird meistens ausgehend von der Überwindung der räumlichen und zeitlichen Bindungen interpretiert: Information, die an alle gleichzeitig übermittelt wird. Systemtheoretisch wird man statt dessen sagen, dass die Übertragung, falls sie stattfindet, eine sowohl aus zeitlicher als auch aus begrifflicher Sicht sekundäre Folge ist: Um mediale Prozesse zu erklären, muss man eine Auflösung in Elemente und die entsprechende Rekombination in abstrakteren und leistungsfähigeren Formen suchen. Diese Formen werden dann unter anderem die Verbreitung der Information in verschiedenen Kontexten (oder genauer: die Produktion von immer deutlicher vom Kontext abgekoppelten Informationen) ermöglichen. Auch historisch ist die Übertragung immer eine Folge gewesen: Die Schrift ist als mnemonische Stütze eingeführt worden und hat sich als solche etabliert, und nicht als Mittel der Fernkommunikation (vgl. Esposito 2002: 44ff.) – dies ist eine später gewonnene Funktion; der Buchdruck hat als 91

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erste Wirkung eine viel größere Freiheit der Handhabung und Verarbeitung von Manuskripten erlaubt, die Verbreitung von Texten war anfänglich eher begrenzt und wenig beachtet (vgl. u.a. Ong 1982: Kap.5). Versuchen wir dennoch, zumindest kursorisch, die Medien aus dieser Sicht zu betrachten. Was überträgt die Sprache, das ohne sie nicht übertragen werden könnte? Bei mündlicher Kommunikation müssen die Partner mitanwesend sein und sehen und hören können – sprachliche Laute und andere Dinge, die ihrerseits aber (wenn überhaupt) von anderen Medien ›übertragen‹ werden.7 Die entscheidende, von der Sprache eingeführte Zäsur ist jedenfalls keine höhere Übertragungsfähigkeit (was nicht gehört wird, wird auch sprachlich formuliert nicht gehört), sondern die Übertragung eines kognitiven Ereignisses auf ein Wahrnehmungsereignis: Man hört keinen Laut sondern verarbeitet eine Differenz – die Differenz von Laut und Sinn, dank der das Gehörte etwas bedeutet und dadurch für etwas anderes steht (vgl. Luhmann 1997: 213ff.). Die wahrgenommene Gegebenheit (Laut) wird in Elemente (Wörter) aufgelöst, die in den verschiedenen Sätzen jeweils anders kombiniert werden: So entsteht ein Medium, das die Realisierung von Formen (z.B. Sätze) ermöglicht, welche die Elemente in rigideren Konfigurationen koppeln. Diese Konfigurationen (kommunikative und kontingente Gegebenheiten, denn man könnte andere Dinge auf andere Weise sagen) lassen Sinn zirkulieren – aber sie übertragen nichts. Der von der Sprache erlaubte (und erzwungene) Schritt ist ein Abstraktionsschritt und kein Übertragungsfortschritt – die Übertragung ist, wie gesagt, eine Folge und wird erst möglich, wenn – unter Anwesenden – über abwesende Dinge kommuniziert werden kann. Auch die Schrift ist mit einer Abstraktionszunahme verbunden, die sie als Medium qualifiziert: Was sich in diesem Fall ›auflöst‹, ist die Kompaktheit des unmittelbaren Kontextes, der in der mündlichen Kommunikation als unbestrittene Gegebenheit gilt – mit allen daraus folgenden Vor- und Nachteilen. Die von der Wahrnehmung unvermeidlich begleitete und orientierte mündliche Kommunikation kann sich immer auf eindeutige und für alle Teilneh7. Laut Heider geschieht das durch Licht und Luft. Hier verlagert sich die Überlegung aber auf eine physiologische Ebene, die uns nicht direkt betrifft.

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mer unmittelbare Wahrnehmungsdaten stützen – deiktische Elemente, geteilte Kenntnisse, Zeitbezüge, soziale Beziehungen und ähnliches. Gerade deshalb erfasst und benutzt sie ihre Kontingenz nicht. Wenigstens das bleibt uns als Erbe der umstrittenen Debatte zum Übergang von der primären Mündlichkeit zu alphabetisierten Semantiken erhalten (vgl. die ›klassischen‹ Publikationen: Havelock 1963; Ong 1982; für die Debatte vgl. zum Beispiel Assmann 1992): die enorme Relevanz der Notwendigkeit/Möglichkeit, das früher Notwendige als kontingent zu behandeln und die Perspektive des Beobachters zu problematisieren. Das Ergebnis ist eine Abstraktionszunahme, der zufolge Zeit, Raum, Personen und Voraussetzungen nicht mehr das sind, was sie sind, sondern anders sein könnten und unabhängig von jeder einzelnen konkreten Lage erklärt und definiert werden müssen – so dass man von »Hektor ist gerecht«, »Achilles ist gerecht« usw. zu einem substantivierten, von jedem einzelnen »Träger« unabhängigen Gerechtigkeitsbegriff übergeht (vgl. Havelock 1978). Dasselbe passiert mit anderen abstrakten Begriffen. Man kann diese Übergänge herstellen, weil man vom Zeitdruck (der in der Interaktion nicht erlaubt, sich aufzuhalten und zu reflektieren, weil inzwischen die Kommunikation weitergeht) und von der Last der Memorierung befreit ist, die alle Formen der primär mündlichen Kommunikation und Semantik prägen. Auch hier entsteht ein Medium – in dem Sinne, dass ein Kontingenzraum aufgrund von Elementen (die kommunikativen Bezüge) entsteht, die auf andere Weise rekombiniert werden können und müssen, und dadurch Formen generieren, die auch in räumlich und zeitlich fernen Situationen funktionieren (d.h. verstanden werden): sie sind also übertragungsfähig. Was übertragen wird, ist aber nicht die mündliche Kommunikation als solche: was verbreitet (eher als übertragen) wird, ist eine unvorgesehene Dekomposition in Elementen (ein Medium) mit dem entsprechenden Bedarf an rigideren Kopplungen (Formen). Dieser Prozess entwickelt sich historisch mit dem Buchdruck weiter, dessen mediale Relevanz für uns, wie gesagt, nicht vor allem mit der Übertragung zusammenhängt. Sicher, er ermöglicht die Verbreitung von Büchern so, dass die schriftliche Kommunikation zum ersten Mal von der mündlichen Kommunikation unabhängig wird. Aber: Die Kommunikation hat sich deshalb auf ein anonymes und potentiell unbestimmtes Publikum ausbreiten können, weil sie zuerst das Verhältnis zu sich selbst verändert und sich 93

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vom Diskurs in Text verwandelt hat. Worin besteht der Unterschied? Ein Diskurs ist ein Ereignis, das einmalig ist und im Moment seiner Produktion verschwindet – das gilt auch, wie die Studien über mündliche Kultur lehren, für die Fälle gepflegter und tradierter Kommunikationen, wie etwa die großen Epen, die sich faktisch jedes Mal in einer andersartigen Performance realisierten. Diese war auf den Kontext hin moduliert und wurde, ausgehend von einem mobilen Vorrat an Formen und Motiven, situativ verarbeitet: also immer einmalig und unwiederholbar. Einen festen und unveränderbaren Text gab es nicht. Die Idee dessen wäre ziemlich unverständlich gewesen. Deshalb, weil sie immer flüchtig und mobil war, musste die Kommunikation in einer möglichst treuen und rigiden Memorierung ›aufbewahrt‹ werden; und daher rührt auch die bekannte Überrelevanz des Gedächtnisses in den Kulturen, die ein orales Kommunikationsmodell haben. Dies gilt für alle Kulturen vor Verbreitung des Buchdrucks, auch für diejenigen, die über Schrift verfügten. Aber die Rigidität des Gedächtnisses schloss die unbestimmte Variabilität der von ihrem Repertoire ermöglichten Situationen nicht aus. Die mündliche Kommunikation ändert sich also immer, sowohl weil sie verschwindet, als auch weil sie sich in an die veränderliche Varietät der Kontexte orientierten Formen realisiert, auf die sich jede Kommunikation beziehen muss. Die gedruckte Kommunikation tut es nicht: sie bleibt immer gleich, weil sie die kontextuellen Faktoren keineswegs berücksichtigen kann. Sie wendet sich in der Regel an ein anonymes Publikum, das nicht vorausgesehen werden kann und muss. Was der gedruckte Text kontrollieren kann, ist nicht der Kontext selbst, sondern nur seine Unabhängigkeit vom Kontext, die ihm erlaubt, in allen Kontexten zu ›funktionieren‹ – aber das heißt auch, dass der Text, der immer derselbe bleibt, immer unterschiedliche Bedeutungen (Sinn) produzieren wird, je nach Weise, Interessen und Perspektiven der Betrachtung. Die Kommunikation kann jedes mal verändert werden, gerade weil sie sich nicht von selbst ändert (Luhmann 1984: 128), und der Leser kann damit tun, was er will. Daraus entsteht die Problematik der Interpretation, die in der Tat eine typisch moderne Frage ist und die sich in Hinblick auf nicht gedruckte Texte nicht stellte. Sicher: Die Hermeneutik gab es schon vorher, aber als Rekonstruktion eines ursprünglichen, festen und notwendigen Sinnes, der dunkel sein konnte, aber nicht in der 94

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laufenden Kommunikation produziert wurde (vgl. Assmann/Gladigow 1995). Es handelt sich um ein ganz anderes Problem als es das moderne Rätsel der Interpretation darstellt. Hier, bei der Interpretation, wird versucht, die Identität der Kommunikation mit der Explosion ihrer möglichen Bedeutungen zu kombinieren, meistens unabhängig vom originären Sinn des Autors, seiner Intention, oder vom Anfangskontext.8 Ein gedruckter Text setzt sich der Variabilität der Interpretationen aus und kann immer unterschiedlichen Sinn erwerben: Als Text existiert er in der Tat gerade und nur in seiner laufenden Re-Interpretation (Luhmann 1993: 255f.). Auf unsere Unterscheidung bezogen: In der Verbreitung durch den Buchdruck wird die Kommunikation als Text zu einem neuen, offenen und unbestimmten Medium, das sich der Kondensierung in den Formen seiner verschiedenen Interpretationen aussetzt. Die Unterscheidung Medium/Form realisiert sich in diesem Fall in der Differenz Text/Interpretation, die, noch einmal, einem weiteren Abstraktionsschritt und höherer Autonomie der Kommunikation von externen Faktoren entspricht – einer verstärkten Umwandlung von Notwendigkeiten in Kontingenzen. Und auch diesmal ist die vermeintliche Übertragung eine Folge: Die Bücher können sich fast unbegrenzt in Raum und Zeit verbreiten, aber gerade weil sie sich mit keinem spezifischen Raum und keiner spezifischen Zeit identifizieren. Anders ausgedrückt: Ihre Verbreitung geschieht gemäß ihrer mediatischen Fungibilität, ihrer Fähigkeit, sich aufzulösen und in unbestimmten und unvorhersehbaren Formen rekombiniert zu werden.

5. Was wird durch Beobachtung des blinden Flecks der Medientheorie gewonnen, also durch die Annahme einer explizit von der Unterscheidung Medium/Form ausgehenden Theorie? Zunächst eine viel höhere Reflexivität und dadurch auch bessere Kontrollfähigkeit: selbstverständlich nicht der Welt, sondern der Bindungen und der Entwicklung der Theorie, die auf Externalisierungen verzichtet und sich dagegen auf den internen Faktor des Auflösevermögens be8. Ein Standardausdruck im Fall der Kunst und zugleich ein Problem aller Kommunikationen: »offenes Kunstwerk«.

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zieht – anders gesagt: eine autologische Fähigkeit. Die Metapher der Übertragung aufzugeben bedeutet auch, auf jede Form von externem Halt – Daten irgendwelcher Art, die mehr oder weniger treu übertragen werden müssen – zu verzichten und die ganze Frage auf die Fähigkeit der Kommunikation (und der sie beobachtenden Theorie) zurückzuführen, Kontingenz zu generieren und zu verwalten. Und das wird zum neuen, von der Theorie ständig beobachteten blinden Fleck. Die Evolution der Kommunikationstechnologien (der Medien im gängigen Sinne) wird so nicht auf technologische Entwicklungen oder auf andere externe Prozesse hin be- und geschrieben – diese existieren sicher, können aber die eigentlich kommunikativen Prozesse als solche nicht erklären. Ein Medium wird untersucht und, wenn es gelingt, erklärt aufgrund seiner rein kommunikativen Fähigkeit, eine Dekomposition in Elemente mit der entsprechenden Rekombination in Formen zu realisieren: die Welt muss nur die Bedingungen dazu anbieten, muss aber nicht den kommunikativen Sinn des Prozesses erklären. Für den aktuellen und besonders undurchsichtigen Fall der Computer heißt das: Der Anspruch der Theorie wäre, die (möglichen) medialen Eigenschaften des Computers unter Absehung technologischer Fortschritte zu erklären. Die Medientheorie bräuchte nicht den technologischen Entwicklungen hinterher zu rennen, die sie auch nicht legitimieren könnten, sondern wäre gezwungen, eigene Kategorien zu er- und verarbeiten. Versuchen wir zu sehen, was über die »Neuen Medien« gesagt werden kann – wobei man nicht einmal wirklich weiß, ob es überhaupt Medien sind, da sie allen Eigenschaften der ›normalen‹ Massenmedien widersprechen: Sie sind nicht für die Masse, sondern personalisiert, nicht einseitig, sondern interaktiv, nicht anonym, sondern individuell gestaltbar, und vor allem nicht neutral (sie wirken auf die Botschaft ein). Man sieht hier deutlich die theoretische Schwierigkeit der laufenden Reflexion über Medien: Warum befasst sie sich mit dem Gebrauch der Computer, wenn es nicht klar ist, ob sie überhaupt Medien sind? Es überrascht unter diesen Umständen nicht, dass auf die Kategorie des Neuen rekurriert wird: ein Versprechen von Andersartigkeit, das alle Inkongruenzen lösen sollte – man kann nur hoffen, dass die »new media« ›neu‹ heißen sind, um verständlich machen zu können, wie etwas, das nicht den traditionellen, oben angesprochenen Eigenschaften von Medien entspricht, doch ein Medium sein kann. 96

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Und für uns? Zeigt das Einwirken der Computer auf Kommunikation diejenigen Eigenschaften, die erlauben, von einer spezifischen Unterscheidung Medium/Form, von einer Fähigkeit, Notwendigkeiten in Kontingenzen aufzulösen zu sprechen? Und was wären die das Medium konstituierenden losen Elemente? Eine Möglichkeit wäre, von der Fähigkeit der Computer (und nur der Computer) auszugehen, Informationen als Daten zu behandeln und auf eigene Art zu verarbeiten. Die Computer arbeiten bekanntlich nicht mit Bedeutungen, also auch nicht mit Informationen. Sie gehen statt dessen von dem aus, was einst Informationen waren, und produzieren Ergebnisse, die für einen anderen informativ werden können – aber für die Maschine sind sie es nicht und müssen es auch nicht sein. In dieser Limitation besteht der entscheidende Vorteil. Die Computer behandeln Informationen nur als Daten, also als Quellen von Diskontinuitäten, von Differenzen und gehen in ihren Operationen von diesen Diskontinuitäten aus. Listen und Texte werden zum Beispiel aufgrund von nahezu morphologischen Strukturen – Differenzen und Wiederholungen, Redundanzen und Abweichungen – verarbeitet, die die Maschine zur Aktivierung der eigenen Prozeduren benutzt; es resultiert daraus ein weiterer Text, der für den Computer so wenig Sinn hat, wie die ihn generierenden Operationen. Man denke zum Beispiel an die Arbeitsweise der Suchmaschinen, der automatischen Übersetzer und allgemein aller informatisierten Systeme der Verarbeitung von Texten, also von Informationen (oder schließlich: von Kommunikationen). Was wird hier ›aufgelöst‹? Der Rest an »Materialität« der Kommunikationen, wie sie auch in den traditionellen Medien zirkulieren, die, wie gesehen, auf der Ebene der Interpretation fast unendlich unbestimmt sind, weil der Text selbst fest bleibt. Die Computer verändern auch den Text, sind aber aufgrund von schon verfügbaren Informationen in der Lage, noch von niemandem gedachte Informationen zu generieren, die sich als solche der Interpretation aussetzen. Wir haben hier potentiell schon existierende Informationen, die aber erst nach Auflösung der Kommunikation in Daten und ihrer Rekombination in neuen Formen verfügbar werden. Unter diesen Umständen bedeutet der Verzicht auf Unveränderlichkeit des Textes nicht, dem Belieben zu verfallen, sondern im Gegenteil, neue Kontrollfähigkeiten zu gewinnen – diese resultieren, wie in allen medialen Schritten, aus der Überwindung der früheren Kontrollformen: aus der Aufgabe der Wahrnehmungs97

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stützen, der kontextuellen Bedeutungen, der Sinneinheit der Kommunikation. Die Eigentümlichkeit der »Neuen Medien« – verstanden hier als kommunikative Verwendungen der Computer – könnte in unserem Sinne gerade diese kontrollierte Fähigkeit sein, den Mangel an Kontrolle zu verwalten.9 Konkreter: Abgesehen von den technologischen Entwicklungen – also von dem, was mit Computern getan werden kann, und was jenseits vernünftiger Gebrauchsmöglichkeiten übermäßig wächst – soll dieser autologische (bewusst blinde) Ansatz in der Lage sein, spezifisch kommunikative Angaben zur Relevanz und zu den Folgen der verfügbaren Techniken zu liefern. Im Umgang mit Medien ginge man dann nicht von der Welt, sondern von der Reflexivität der Kommunikation und von ihren Auflöse- und Rekombinationsmöglichkeiten aus. Aus dieser Sicht ist es ziemlich offensichtlich, dass man es im Fall der neuralen Netze (die sich dem Zufall öffnen) mit einem neuen Medium zu tun hat – aber nicht im Fall der Expertensysteme; im Fall der Videospiele (die auch die Wahrnehmungsreaktionen der Spieler als Diskontinuitäten benutzen und sie in kompetitive Vorteile umwandeln) – aber nicht im Fall der künstlichen Intelligenz (die sich eigentlich damit befasst, in schließlich traditioneller Form Information zu sammeln und nicht zu generieren); im Fall des Internet (das ohne Zentrum und ohne entsprechende Kontrolle funktionierende Netz von Netzen) – aber nicht im Fall von ›gesteuerten‹ Netzen wie AOL und ähnlichen Experimenten. Die Übertragung ist hier, wie man sieht, sicher nicht der Erklärungsfaktor erster Wahl und die Medientheorie trennt sich deutlich von der Frage der Fernverbreitung der Informationen. Auf diesem Weg kann man aber hoffen, eine auch für mediale Praktiken angemessenere Medientheorie zu gewinnen – gerade weil sie auf anderer Basis begründet ist. Und eigentlich scheinen die theoretischen Hinweise von der ›Welt‹ bestätigt zu werden: Erfolgreich 9. Mit der älteren systemischen Begrifflichkeit könnte man von der Fähigkeit sprechen, Zufall in Struktur umzuwandeln (vgl. Luhmann 1984: 170f.) Das Argument könnte natürlich auch umgekehrt benutzt werden: die Analyse der »Neuen Medien« aufgrund der Unterscheidung Medium/Form trägt dazu bei, Gebrauch und Reichweite der Unterscheidung zu klären, gerade im Sinne der kontingenten Verwaltung der Kontingenzen – die dennoch verwaltet werden.

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Blinde Flecken der Medientheorie

sind gerade die Initiativen, bei denen wir spezifische mediale Eigenschaften (natürlich im Sinne der Unterscheidung Medium/ Form) festgestellt haben.

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Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung. Spuren der Mediennutzung

Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung. Genealogische Spuren der Mediennutzung Irmela Schneider

Der Beitrag geht zu Beginn auf die Begriffspaare Reiz/Reaktion und Vermittlung/Aneignung ein. Anschließend werden die zwei Begriffe kurz erläutert, die für das hier vorgestellte Forschungsvorhaben zentral sind, nämlich der der Mediennutzung und der des Mediendiskurses. Im dritten und umfänglichsten Teil stehen das Konzept der Genealogie und Fragen einer Genealogie der Mediennutzung im Zentrum.

1. Zu den Leitdifferenzen Reiz/Reaktion und Vermittlung/Aneignung Wer heute im Zusammenhang von Medienwirkung noch von Reiz und Reaktion spricht, hat ganz offensichtlich alle Debatten verschlafen, die in den letzten Jahrzehnten in Sachen Medienwirkung geführt worden sind. Zwar lässt sich bis heute in Beschreibungen über Medienwirkung die Vorstellung nachzeichnen, dass Medien Reize bilden, auf die der Nutzer reagiert, aber gleichwohl würde kein Medienwirkungsforscher auf dieses Konzept setzen oder es gar verteidigen. Es kann also auch hier nicht darum gehen, noch einmal all das zu wiederholen, was längst geklärt ist. Für meine Überlegungen ist etwas ganz anderes von Interesse. Es geht um die Frage, warum Reiz/Reaktions-Theorien in Mediendiskursen so lange für richtig

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gehalten wurden, so lange Gültigkeit hatten.1 Welche Gründe, welche Zusammenhänge lassen sich dafür nennen, dass dieser alte Hut einmal sehr neu war und ziemlich lange getragen wurde? Fragt man danach, wo diese Vorstellung ihren Sitz in der Wissenschaft hat, so verweisen die meisten Experten auf psychologische Tests am Anfang des 20. Jahrhunderts, auf die Schule des Behaviorismus, insbesondere auf Burrhus Frederic Skinner. Dabei hat die Leitdifferenz von Reiz und Reaktion eine viel längere Geschichte. Dieser Teil der Geschichte ist allerdings überwiegend in Vergessenheit geraten. Um 1800, als immer mehr Druckschriften entstehen und immer mehr Menschen Zugang zum Gedruckten finden, wird dies sowohl als Fortschritt begrüßt als auch mit der Sorge verbunden, dass es angesichts solcher Verbreitungsmedien zu diversen Fehlentwicklungen kommen könnte. Solche Sorgen werden häufig im Zusammenhang mit Erziehungsproblemen erörtert, die in jener Zeit zunehmend stärkere Beachtung finden. Der Bedeutungszuwachs der Pädagogik zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das 18. Jahrhundert sich selbst als das »pädagogische Jahrhundert« bezeichnet hat. Insgesamt lassen sich eine Reihe von Gesichtspunkten zusammentragen, die die Beziehungen und Zusammenhänge von Erziehungsproblemen und Verbreitungsmedien im 18. Jahrhundert betreffen. Beide, so lässt sich festhalten, beziehen sich seit diesem Zeitraum aufeinander und bedingen sich zunehmend wechselseitig. Ein Aspekt, der für die Frage nach der langen Gültigkeit von Reiztheorien in Mediendiskursen wichtig ist, sei hier herausgegriffen. Ein zentrales Thema der pädagogischen Diskurse jener Zeit war die in den Experimentalwissenschaften breit verhandelte Reiztheorie, die Frage danach also, welche Bedeutung Reize haben, wie sie sich zuerst isolieren und dann mit den Reaktionen, die sie auslösen, verschalten lassen. In zahlreichen Versuchen und Szenarien wurden solche Fragen experimentell erforscht und diskursiv durchgespielt. 1. Damit greife ich eine Forderung von Robert Alun Jones auf, der sich seinereits auf »several historians and sociologists« bezieht: »[…] our task is less to attack where a past thinker was wrong than to explain why he thought he was right« (Jones 1981: 196).

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Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung. Spuren der Mediennutzung

Anknüpfend nun an solche Experimente, die Physiologen konzipiert und durchgeführt hatten, wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts pädagogische Szenarien und Situationen als Experimente konzipiert (Pethes 2005). Wie in der Physiologie, so hieß auch in pädagogischen Experimentalsituationen die Leitfrage: Welche Reize rufen welche Reaktionen hervor? Wie viele und wie starke Reize führen zu welchen Reaktionen? Erziehungssituationen wurden also als Experimente angelegt und das heißt: in ihrem Ablauf genau beobachtet und die Ergebnisse als Messwerte, Zahlen, Statistiken exakt notiert. Der Vergleich unterschiedlicher Messwerte ergibt dann einerseits die Normalwerte und andererseits die Abweichungen. Diese Experimente gehen von zwei basalen Annahmen aus. Die erste lautet: Reize und die durch sie ausgelösten Reaktionen lassen sich, wie die in den Labors der Physiologen zu untersuchenden Objekte, isolieren. Wenn die Zöglinge Reizen ausgesetzt werden, dann sind die Reaktionen ausschließlich verursacht durch diese Reize. Die zweite Annahme: Man kann von den Reizen auf die Reaktionen schließen, obwohl der damit verbundene Sprung durch empirische Beobachtung nicht zu überbrücken, empirischer Beobachtung nicht zugänglich ist, eine Black Box bildet. Analysiert man vor diesem Hintergrund die Sorge um Verbreitungsmedien, so zeigt sich: Diese Sorge isoliert zuerst das Gedruckte, also das Medium, und bestimmt es als Reiz. Dann vollzieht sie genau den gleichen Sprung, der für die pädagogischen Experimente gilt: nämlich den Sprung von den Reizen zu den Reaktionen. Als Reiz wird Gedrucktes, werden Medien zur Ursache für bestimmte Reaktionen, für bestimmte Wirkungen. Diese beiden Annahmen, die Möglichkeit der Isolation und der Kausalsprung vom Reiz zur Reaktion, die pädagogische Experimente im 18. Jahrhundert kennzeichnen, sind, bei allen Verwerfungen, Umschriften und Differenzierungen im Detail, letztlich auch heute noch ein Problem und zwar dann, wenn es um die empirisch-experimentelle Erforschung von Mediennutzung und Medienwirkung geht. Medien werden, wenn ihre Wirkung experimentell erforscht werden soll, isoliert und auf Reize verkürzt, die Reaktionen auslösen. Und hier besteht weiterhin das Problem, dass der Sprung von den Reizen zu den Reaktionen empirisch nicht beobachtbar ist, sondern in einer Black Box verbleibt. Darin liegt einer von vielen Gründen, warum seit dem 18. Jahrhundert immer neue Experimente durchgeführt, immer mehr Da103

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ten, eine immer größere Zahl von Statistiken über die Mediennutzer erstellt werden, stets verbunden mit der Hoffnung, den unsichtbaren Mediennutzer mit solchen Messwerten und Statistiken sichtbar zu machen und auf diesem Wege Medienwirkung präzise bestimmen und möglichst genau prognostizieren zu können.2 Eine Black Box ist und bleibt offenkundig eine Provokation. Sie produziert den Verdacht des Zufalls, und dieser Verdacht muss gezähmt werden.3 Die Black Box verweist auf ein Kontrolldefizit, und ein solches Defizit führt in ein Sicherheitsrisiko. Trotz aller Paradigmenwechsel, die im Zusammenhang der Medienwirkungsforschung ausgerufen wurden und werden, trotz aller Ermüdungserscheinungen angesichts der Formel Reiz/Reaktion: Solange es um Wirkung geht, hinterlässt diese Genealogie, 2. Man kann selbstverständlich weitere Gründe für die seitdem immer intensiver betriebene Konstruktion der Mediennutzer innerhalb der »Audience Research« anführen. So geht W. Russell Neuman in seiner Studie »The Future of the Mass Audience« (Cambridge 1993) von insgesamt sechs Argumenten aus, die die Konstruktion von Mediennutzern begründen. Ich beziehe mich auf die Darstellung dieser Position in: Toby Miller: Technologies of Truth. Cultural Citizenship and the Popular Media. Minneapolis – London 1998, S. 24: »The ›quantity argument‹ points to the enormous reach of the media, the sheer proliferation of messages. It stresses the insidious effects of saying the same thing over and over again. Quantification produces a Malthusian gloome […] The ›targeting argument‹ addresses the control cultural producers exert over texts: magazines selling lists of their subscribers to specialist mail-order companies, for instance. The ›modality argument‹ concentrates on new technology and its impact on our means of making sense, especially in a time of intense simulation of humanness by machines. The ›scope argument‹ applies these other perspectives across the globe, underscoring transnational reach of the media and its implications for world politics. The ›addiction argument‹ was used by businesses associated with new visual technologies in the 1970s to announce their future success, predicated on a putative buildup of desire among future consumers for the arrival of video games, videotext, and related fashions. Finally, the ›subtlety argument‹ discerns increasing professionalism in persuading people to believe and buy, working with targets and modalities in order to circumvent the loss of specificity in scope and quantity through the proliferation of TV signals and formats […].« 3. Vgl. die einschlägige Studie zur Geschichte der Statistik von Hacking 1990.

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hinterlassen Experimente der Physiologen aus den Anfängen der Moderne und vor allem pädagogische Diskurse des 18. Jahrhunderts ihre Spuren. Und in dieser Genealogie liegt einer der Gründe, warum die Reiztheorie lange Zeit und in zahlreichen Diskursen für richtig gehalten werden konnte. Sie gehört zu jenen angenehmen Stabilisierungsformeln, die Komplexität reduzieren, die Sicherheit versprechen, die Ruhe schaffen. In pädagogische Diskurse führt ebenfalls die zweite Leitdifferenz, die Formel von Vermittlung und Aneignung. Sie wird ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz zentral, wenn es um Mediennutzung geht. Medien sollen, wie die Agenten der Erziehung, vermitteln, und die Nutzer sollen sich das Vermittelte aneignen. Diese Formel von Vermittlung und Aneignung verstärkt und erhärtet ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die weit verbreitete Vorstellung von Kommunikation als einer Übertragung, als einem Transport, gegen die sich dann Niklas Luhmann mit Nachdruck wendet: »Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne, daß er selbst es verliert. Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens, die gesamte Dingmetaphorik ist ungeeignet für ein Verständnis von Kommunikation. Die Übertragungsmetapher legt das Wesentliche der Kommunikation in den Akt der Übertragung, in die Mitteilung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit und die Geschicklichkeitsanforderungen auf den Mitteilenden. Die Mitteilung ist aber nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung. Erst dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen, daß die Erregung prozessiert wird, kommt Kommunikation zustande« (Luhmann 1988: 193f.).

Die Transport- oder Übertragungsmetapher, die in der Leitdifferenz von Vermittlung und Aneignung enthalten ist, verfehlt, wenn man von Luhmanns prozessualem und eben nicht von einem linearen Kommunikationsbegriff ausgeht, nicht nur Entscheidendes, sondern versperrt auch den Blick dafür. Die Vorstellung von Mediennutzung als einem Akt der Aneignung, dem ein Akt der Vermittlung vorangeht, impliziert – das ist die zweite Schwierigkeit dieser Leitdifferenz – ein normatives Kommunikationskonzept. Denn Vermittlung wie Aneignung fügen 105

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sich dem Schema von gut versus schlecht, führen die Frage mit sich, ob etwas gut oder schlecht vermittelt – vulgo: rüber gebracht – und, in einem zweiten Schritt, angemessen oder unangemessen angeeignet wird. Beides, die Reiz- wie die Vermittlungstheorie sind nicht nur einfache Irrtümer, wissenschaftliche Torheiten, durch aktuelle Einsichten entlarvt und beseitigt, sondern Diskurselemente, die bis heute die Sicht auf Medien ebenso wie die Mediennutzung formieren und zwar ganz unabhängig davon, wie plausibel und nachvollziehbar die Kritik an einem solchen Verständnis von Medien und Mediennutzung vorgetragen wird. Verallgemeinernd zeigt sich daran: Was heute als falsch gilt, enthält in aller Regel noch Spuren dessen, was gestern als richtig bezeichnet wurde. Wenn schon nach richtig oder falsch gefragt wird, muss gelten: Was einst richtig war, bleibt für jene Zeit auch dann richtig, wenn es heute falsch ist. Die Frage nach richtig oder falsch kann nur lauten: Wie konnte, was heute »falsch« heißt, einst »richtig« heißen?

2. Zum Begriff der Mediennutzung und des Mediendiskurses Wenn hier von Mediennutzung gesprochen wird, so bezieht sich dieser Begriff immer auf die Nutzung von Massen- bzw. Verbreitungsmedien. Die Fragen richten sich dabei weder auf eine chronologische Betrachtung von Mediennutzung, noch geht es um Fragen danach, wann und von wem welche Medien ›tatsächlich‹, ›in Wirklichkeit‹, wie häufig oder selten, in welchen Situationen und mit welchen Effekten genutzt worden sind oder werden. Es geht vielmehr um Mediendiskurse und deren Formierung von Mediennutzung. Zeitlich liegt der Schwerpunkt, wenn es um Fallbeispiele geht, nicht in den Anfängen solcher Diskurse, also im 18. Jahrhundert, sondern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das Fernsehen eingeführt wird und sich vergleichsweise rasch ausbreitet. In jenen Jahren beobachten sich die verschiedenen Verbreitungsmedien – Presse, Radio, Fernsehen – wechselseitig. Dabei liegt der Schwerpunkt in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 auf der Beobachtung des Fernsehens durch die Printmedien. Unterscheiden, aber nicht voneinander trennen, lassen sich 106

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Beobachtungen von Mediennutzung in publizistischen und wissenschaftlichen – z.B. soziologischen, pädagogischen, philosophischen – Diskursen. Beide Diskursgenres beziehen sich aufeinander; beide greifen wechselseitig Argumentationsfiguren auf, die bereits erprobt sind, schreiben sie fort, variieren sie aber auch. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf publizistische Beschreibungen, die sowohl als Fremd- wie Selbstbeschreibungen lesbar sind, je nachdem, welchen Referenzbezug man herstellt, ob man z.B. publizistische Aussagen über das Fernsehen als Selbstbeschreibungen des Mediensystems, oder ob man solche Aussagen als Fremdbeschreibungen des audiovisuellen Teilsystems liest. Mit dem Begriff des Mediendiskurses, der im Kölner Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« seit etlichen Jahren ausgearbeitet wird,4 wird angezeigt, dass es keineswegs um eine Ideengeschichte der Medien geht. Wesentlich ist hier vielmehr, dass der Begriff des Mediendiskurses nicht ein gewissermaßen gewöhnliches, ein bloßes Reden über Medien bezeichnet, das ohne Folgen bleibt. Solche Diskurse sind vielmehr performativ, also folgenreich in doppelter Hinsicht: für die Ereignisse, Themen, Sachverhalte, für die Informationen, die sie formulieren und für die Medien, die die Mitteilung vollziehen. Mediendiskurse sind keineswegs pure Reflexion über Medien oder bloße Prosa, die die Medien legitimiert oder delegitimiert, also Ideologie. Solche Diskurse formieren vielmehr ein Wissen über Medien, und sie handeln auf diese Weise die soziale und kulturelle Stellung der Medien aus. Mediendiskurse, Beschreibungen und Beobachtungen von Mediennutzung in diskursiven Praktiken sind ganz entscheidend an der Konstruktion und Implementierung von Nutzungsformen und Ordnungen, von Dispositiven beteiligt. Mediendiskurse werden, spätestens im 20. Jahrhundert, wenn die Medien zunehmend an Bedeutung gewinnen, ein konstitutiver Faktor von Subjektivierungsformen.5 4. Das Kulturwissenschaftliche Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« ist ein Forschungsverbund der Universitäten Aachen, Bonn und Köln. Das Kolleg wird seit 1999 von der DFG gefördert. 5. Vgl. die Beschreibung politischer Diskurse von Rose/Miller, die Beziehungen zu dem hier skizzierten Begriff des Mediendiskurses aufweist. Rose/Miller verstehen ihre Ausführungen als einen Beitrag zu den – in anglo-amerikanischen und australischen sehr viel früher als in deutschsprachi-

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Die Analyse solcher diskursiver Praktiken lässt sich mit Foucault zusammenfassend folgendermaßen umschreiben: »Es handelt sich darum, die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexität und in ihrer Dichte erscheinen zu lassen, zu zeigen, dass Sprechen etwas tun heißt – etwas anderes, als das auszudrücken, was man denkt, das zu übersetzen, was man weiß.« (Foucault 1981: 297) Die Analyse diskursiver Praktiken fragt also nach den Kräfteverhältnissen der Macht, die Beobachter instituieren, die Handlungspositionen aushandeln und festschreiben (vgl. zur Konzeption von Macht als einem Kräfteverhältnis z.B. Foucault 1996: 29-47). Es geht nicht darum, eine Oberfläche zu durchstoßen, um die Tiefe zu finden, in der sich dann die ›wahren‹ Machtverhältnisse zeigen. Sondern gefragt wird danach, wie sich die Akteure in dem Kräfteverhältnis, in dem Macht als relationale Größe operiert, konturieren, profilieren und positionieren.

3. Zum Konzept der Genealogie Das Interesse an einer Genealogie der Mediennutzung, in dessen Rahmen diese Überlegungen stehen, richtet sich auf folgende Fragen: Welche genealogischen Spuren lassen sich für Mediennutzung ausmachen? Inwiefern gehören diese Spuren zu jener Episteme, die Medien einen Platz innerhalb der gouvernementalen Rationalität zuweist, sie als Steuerungstechniken formiert? Inwiefern gehört Mediennutzung ganz entscheidend zu den modernen Subjektivierungstechniken? Inwiefern konstituiert Mediennutzung als eine Subjektivierungstechnik Subjektformationen? In welcher Weise, so eine weitere Frage, manifestiert sich an den Diskursen der Verbreitungsmedien auf exemplarische Weise, was Foucault die »Normalisierungsgesellschaft« genannt hat, also jene Gesellschaft, die durch eine zunehmende »Medizinisierung des Verhaltens, der gen Forschungen einsetzenden – »governmentality studies«, die sich auf Foucaults Arbeiten aus dem letzten Drittel der 70er Jahre beziehen. Vgl. Rose/Miller 1992: 173-205, insbesondere S. 177, wo sie drei Differenzen herausstellen, die zwischen dem Ansatz der governmentality studies und den neueren soziologischen Studien zur Staatsformation bestehen. Diese drei Differenzen betreffen die Ebene der Wirklichkeit (»realism«), der Sprache (»language«) und des Wissens (»knowledge«).

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Haltungen, Diskurse, Wünsche bestimmt ist, dadurch, dass »alle Beziehungen […] vom medizinischen Denken, von medizinischen Sorgen vereinnahmt [werden]« (Foucault 2003: 484; vgl. auch Foucault 1999: 55)? Es verbindet pädagogische Diskurse und Mediendiskurse, so eine These, die in diesem Rahmen nicht genauer dargelegt werden kann, dass beide seit dem 18. Jahrhundert Normalisierungs-Diskurse sind, da sie sich beide immer intensiver auf den theoretischen Horizont des humanwissenschaftlichen Feldes beziehen, auf dem darüber befunden wird, was als normal und was als nichtnormal gilt.6 Im Folgenden beziehe ich mich auf das Konzept der Genealogie, das Foucault formuliert hat. An einigen Aspekten aus Mediendiskursen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werde ich es exemplifizieren. Es geht zunächst um jene Jahre, als sich das neue Telemedium als Public Service, als öffentlich-rechtlich organisierter Medienveranstalter, immer stärker durchsetzte. Es geht zweitens schwerpunktmäßig um eine von vermutlich vielen Spuren, die etwas genauer verfolgt wird: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich in den 50er und 60er Jahren sehr auffällig und durchschlagend Spuren des Erziehungsdiskurses in Mediendiskurse einzeichnen. Dabei lassen sich, wie gesagt, solche Beziehungen zwischen Medien- und Erziehungsdiskursen historisch bis ins 18. Jahrhundert, bis in die Entstehungsphase von Verbreitungsmedien zurückverfolgen.7 Entstehungsgeschichtlich gibt es auffallende Pa6. Vgl. z.B. Michel Foucaults Vorlesung zur Mikrophysik der Macht vom 14. Januar 1976. Der Normalisierungs-Diskurs bezieht sich nicht auf »das Gebäude des Rechts, sondern das Feld der Humanwissenschaften, und ihre Rechtsprechung wird die eines klinischen Wissens sein.« (Foucault 2003: 247f.) 7. Eine detaillierte Rekonstruktion dieser Beziehungen zwischen Medien- und Erziehungsdiskursen ist hier ebenso wenig zu leisten wie die Frage beantwortet werden kann, welche anderen Diskurse sich in Erziehungsdiskurse einschreiben. Erwähnt sei wenigstens, dass für den Zeitraum seit dem frühen 19. Jahrhundert der Frage nachgegangen werden müsste, inwieweit der Wert des Messens, der ab dieser Zeit für die naturwissenschaftliche Arbeit so zentral wird und der für die Erforschung der Medien seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein immer größeres Gewicht erhält, sich auch in die Erziehungsdiskurse eingeschrieben hat. Vgl. Barry 1996: 132: »While the value of

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rallelen zwischen der Aufmerksamkeit für Erziehungs- und für Medienfragen. Dabei ist wichtig zu vermerken, dass Mediendiskurse keine Anleihen bei Erziehungskonzepten machen, sondern dass Erziehungsdiskurse jeweils neu formiert werden, wenn sich die Medienkonstellation verändert. Es handelt sich also keineswegs um eine einseitige Bewegung, um eine Adaption von Begriffen oder Leitdifferenzen des Erziehungsdiskurses durch Mediendiskurse. Hier übernimmt nicht der eine etwas vom anderen, sondern es geht um eine wechselseitige Beziehung. Es vereinfacht komplexe Prozesse, wenn man von einem festen Bestand an Semantiken für den Erziehungsdiskurs ausgeht und annimmt, dass dieser dann zur Beschreibung, Beobachtung und Formierung der Mediennutzung übernommen wird. Beziehungen zwischen Medien- und Erziehungsdiskursen zeigen an, dass sowohl das eine wie das andere sich verschiebt, dass sich sowohl Medien- wie Erziehungsdiskurse jeweils neu justieren. Wenn man fragt, wie Aussagen, die ihren historisch genuinen Ort in pädagogischen Diskursen haben, zum Bestandteil von Mediendiskursen werden, dann muss sich die Frage anschließen, wie sich mit dieser Bewegung die Semantik beider Diskurse verändert. Welche neuen Bedeutungsfelder entstehen, wenn – um ein Beispiel zu nennen – von Vermittlung nicht nur im Zusammenhang mit Unterrichtung und Unterweisung gesprochen wird, sondern auch in Bezug auf Medien? Medien, so eine ganz geläufige Beschreibung, vermitteln, und die Aufgabe des Lehrers wird damit beschrieben, dass er den Schülern etwas vermittelt. Die doppelte Codierung der Erziehung heißt: vermittelbar/nicht-vermittelbar und besser/schlechter (vgl. Kade 2004: 200).8 Wie grenzt sich das eine vom anderen ab, wenn die gleiche Bezeichnung in beiden Diskursen zirkuliert? Und welcher Wettbewerb entsteht hier, welche Konkurrenz, welcher Vermittlungsneid? Erklärt diese Analogie die Abwehrhaltung, gelegentlich den Hass vieler Pädagogen auf das Fernsehen? Abgesehen von solchen Fallbeispielen und konkreten Diskursmeasurement was a significant theme in the writings of some Victorian physicists, it was also of central importance to the educational practice and moral order of the late Victorian laboratory.« 8. Kade bezieht sich auf Luhmann 2002: Das Erziehungssystem der Gesellschaft.

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relationen eröffnet die wechselseitige Beobachtung und Rekonstruktion beider Diskurse aufschlussreiche und interessante Einsichten, was Subjektivierungstechniken und, im Foucaultschen Sinne,9 Regierungstechniken der letzten beiden Jahrhunderte betrifft, ihre Formationen, Variationen und ihre Stabilisierungen. Das Konzept der Genealogie, das hier skizziert wird, bezieht sich, wie gesagt, auf Studien von Foucault. Seit seinem NietzscheEssay (1970) hat Foucault, so Seitter, die von ihm neu konturierte »Archäologie« zur »Genealogie« »umgetauft« (Seitter 1996: 103). Foucault hat allerdings zugleich – und das korrigiert die These des Umtaufens – im Laufe der 70er Jahre in einer Reihe von Essays und Interviews eine begriffliche Abgrenzung zwischen Archäologie und Genealogie versucht, aber nicht systematisch ausgebaut.10 Hier geht es nicht um solche begrifflichen Bewegungen, sondern um das Konzept der Genealogie, das Foucault in seiner »Geschichte der Gouvernementalität« dargestellt hat, wo er eben nicht von Archäologie, sondern von Genealogie spricht. Foucault unterscheidet dort zwischen Genese und Filiation auf der einen und Genealogie auf der anderen Seite. Sein Ziel richtet sich auf die Ersetzung der genetischen Analyse mittels Filiation durch eine genealogische Analyse, die »ein ganzes Geflecht von Bündnissen, Verbindungen, Stützpunkten rekonstruiert« (Foucault 2004: 176). Foucault nennt drei methodische Grundsätze, die die Voraussetzung für eine solche Umstellung bilden. Im ersten Methodengrundsatz schlägt Foucault vor, in genealogischen Analysen nicht auf der Ebene der Institution zu beginnen, sondern aus der Institution herauszutreten; der zweite betrifft die Funktion; auch hier geht es darum, nicht mit der Frage nach der Funktion zu star9. Foucault will den Begriff der Regierung in dem weiten Sinne produktiv halten, in dem das Problem der Regierung bzw. die »Künste des Regierens« im 16. Jahrhundert verhandelt wurden. Es geht dann keineswegs allein um die politische Regierung, sondern ebenso z.B. um die »Leitung seiner selbst« oder auch um die »Kunst, eine Familie vorbildlich zu führen« (Foucault 2004: 135 und 142). 10. Vgl. z.B. Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976: »Man könnte vielleicht sagen, dass die Archäologie die für die Analyse lokaler Diskursivitäten geeignete Methode und die Genealogie die Taktik wäre, die ausgehend von den so beschriebenen lokalen Diskursivitäten die sich davon ablösenden ›ent-unterworfenen‹ Wissensarten funktionieren lässt« (Foucault 2003: 221).

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ten, sondern einen Übergang ins Außen der Funktion zu vollziehen. Im dritten Methodegrundsatz plädiert Foucault dafür, nicht einen fertigen Gegenstand vorauszusetzen, der dann untersucht wird, sondern das Objekt zu dezentrieren.

3.1 Im Aussen der Institution Aus der Institution herauszutreten und im Außen der Institution die Untersuchung zu starten, meint, die Ebene der Institution »durch den globalen Gesichtspunkt der Machttechnologie zu ersetzen« (Foucault 2004: 176). Wie Foucault auch an anderen Stellen, z.B. in seinem Essay »Wie wird Macht ausgeübt?« hervorhebt, tendiert der Start auf der Ebene der Institution zu einer verkürzten Sicht auf die Machttechnologien. Es besteht die Gefahr, dass Macht allein als ein Effekt von Institution in den Blick gerät.11 In seiner Vorlesung von 1973-74, »Le pouvoir psychiatrique«, erläutert Foucault seinen Appell »Seien wir anti-institutionalistisch«, der mit seinem anti-funktionalistischen Impetus aufs engste zusammenhängt, folgendermaßen: »Wichtig sind nicht die institutionellen Regelmäßigkeiten, sondern vielmehr die Machtdispositionen, die Geflechte, die Ströme, die Relais, die Stützpunkte, die Unterschiede des Potentials, die eine Form von Macht kennzeichnen und die, wie ich denke, konstitutiv sind für das Individuum und das Kollektiv zugleich.«12

11. Vgl. Foucault 1996: 39f. Foucault bestreitet nicht, dass man die Machtverhältnisse in Institutionen analysieren kann – »es ist völlig legitim« –, denn »diese geben eine vorzügliche Beobachtungsstätte ab, um es diversifiziert, konzentriert, geordnet und zu höchster Wirksamkeit gesteigert zu erfassen«. Aber die Probleme, die damit verbunden sind, sind erheblicher Natur, da die Analyse ›intra-institutioneller‹ Machtverhältnisse das Risiko birgt, »hauptsächlich reproduktive Funktionen aufzuspüren«. Zweitens bestärkt die Analyse auf der Ebene der Institution die Tendenz, »Macht durch Macht zu erklären«. Drittens schließlich besteht die Gefahr, da Institutionen durch Regeln und durch einen Apparat agieren, »einem von beiden eine übertriebene Vorrangstellung innerhalb des Machtverhältnisses zu geben und in ihnen bloße Modulationen von Gesetz und Zwang zu erblicken.« 12. Das Zitat aus der Vorlesung vom 7. November 1973 ist abgedruckt

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Die genealogische Analyse setzt also nicht eine Institution als gegeben voraus und untersucht dann diese Institution als Organisation und als eine Instanz der Macht, sondern das Heraustreten aus der Institution verlangt eine Vorgeschichte, die Fragen danach beantwortet, welche diskursiven Praktiken die Prozessierung und Etablierung einer Institution hervorgebracht haben und welche Machttechniken dabei zum Zuge gekommen sind. Für die Genealogie der Mediennutzung heißt dies: Wenn von Medien die Rede ist – das ist zum Verständnis wichtig, wenn auch für manchen vielleicht kontra-intuitiv –, dann ist nicht etwas Gegebenes gemeint, etwas Stabiles und Fixes, eine Größe, deren Leistung und Funktion man an ihrer Beschaffenheit ablesen kann. Also: Erst haben wir das Fernsehen, und dann fragen wir, was es macht und was diejenigen, die es nutzen, damit machen. Medien werden, wenn es um ihre Genealogie geht, vielmehr beobachtet als Effekt von diskursiven Zuschreibungen. Was ein Medium ist, das entscheiden weder die Ingenieure, die es in den Labors entwickeln, noch die Rechtsgelehrten, die es gesetzlich normieren und auch nicht die Medienkonzerne, die ihren Mehrwert abschöpfen. Medien entwerfen sich selbst als Netzwerke. Und an dem Procedere solcher Netzwerke, an ihrem Zustandekommen, an ihrer Weiterentwicklung und ebenso an ihrer Störung ist immer eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Alle Verbreitungsmedien, so die Ausgangsüberlegung, operieren in bestimmten diskursiven Räumen. Und es sind diese diskursiven Räume, die die kulturellen Formen und Funktionen aller Medien festlegen und auch verändern. Medien erzeugen keineswegs von sich aus ein Wissen über das, was sie sind und können. Dieses Wissen stellen Mediendiskurse vielmehr aller erst her. Mediendiskurse formieren also die operative Logik von Medien und machen zugleich diese Logik sichtbar. Und dieses Sichtbarmachen ist immer auch eine Machtwirkung. »Was erscheint«, so Seitter, »ist so mächtig, daß es sich aus der Unscheinbarkeit herausheben und sich gegen andere Erscheinungen durchsetzen kann« (Seitter 1996: 117). Mediendiskurse stellen eine Formation der Macht her und prozessieren sie. Ich gebe dafür ein Beispiel: Wenn man danach fragt, welche in den Anmerkungen zu Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität«. Band I, S. 195.

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Genealogie das Prinzip des Public Service auf den Weg gebracht hat, so verlangt das, die verschiedenen, ja ganz heterogenen Spuren zu verfolgen, aus deren Geflecht Public Broadcasting entstanden ist. Es reicht dann bei weitem nicht, wie es in Mediengeschichten geläufig ist, auf das Vorbild der BBC und die besondere medienpolitische Situation nach 1945 zu verweisen, sondern es entsteht die Frage nach der spezifischen Rationalität, zu der dieses Prinzip gehört. Eine derart erweiterte Perspektive führt in das Problemfeld der öffentlichen Meinung. Die Diskursgeschichte der öffentlichen Meinung, die im 17. Jahrhundert einsetzt, in der Zeit also, in die die »Geburt der Publizisten« fällt,13 bildet – so eine Überlegung, die hier nur angedeutet werden kann – eine wichtige genealogische Spur des Public Broadcasting. Die öffentliche Meinung stellt eine Regierungstechnik dar und operiert zugleich als eine Selbsttechnologie. Die öffentliche Meinung als eine Technik des Regierens findet nach 1945 ihre spezifische Ausprägung durch die Option des Public Service, die als Regierungstechnik und zugleich als Technik des Selbst ihrerseits die Mediennutzung formiert.14 Eine weitere genealogische Spur, auf die hier ebenfalls nur ganz allgemein verwiesen werden kann, bilden kulturelle Konstrukte wie Nation, Nationalerziehung und Nationalkultur, die als Inklusions- bzw. Integrationsbegriffe aufs engste mit der Ausdifferenzierung von Verbreitungsmedien verbunden sind.15 13. Foucault 2004: 394. Nach Foucault kommt es während der Regierungszeit Richelieus zu den »ersten großen Meinungskampagnen«. »Richelieu hat die politische Kampagne mittels Schmähschriften, Pamphleten usw. erfunden, und er hat diesen Beruf der Meinungsmanipulateure erfunden, die man zu jener Zeit die ›publicistes‹ nannte.« 14. Diese Überlegungen müssen in diesem Rahmen abstrakt bleiben. In weiteren Untersuchungen müsste man in diesem Zusammenhang die Position der Medien im einzelnen und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen als ein Sicherheitsdispositiv analysieren. Dass Medien als Sicherheitsdispositiv operieren können, deutet Foucault in einem Gespräch über den panoptischen Blick an, wenn er sagt: »Im Grunde war es der Journalismus – eine wesentliche Erfindung des 19. Jahrhunderts –, der den utopischen Charakter dieser ganzen Politik des Blicks dargelegt hat« (Foucault 2003: 268). 15. Zum Zusammenhang von Verbreitungsmedien und dem kulturellen Konstrukt der Nation vgl. meinen Vortrag »›Rundfunk für alle‹. Zur Paradoxie von All-Inklusion« (gehalten auf der Tagung »Achsen der Differenz«, Johann

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3.2 Im Außen der Funktion Der zweite Methodengrundsatz der Foucaultschen Genealogie betrifft die Beobachtung der »Funktion«, eine Fragestellung also, die gerade im Zusammenhang mit der Analyse von Verbreitungsmedien breit verhandelt wurde und noch wird. Auch hier fordert Foucault einen »Übergang ins Außen« (Foucault 2004: 176). Foucault erläutert diesen Methodengrundsatz am Beispiel der Genealogie des Gefängnisses, die er erforscht hat (vgl. Foucault 1976).16 Mit Blick auf eine Genealogie der Mediennutzung soll dieses Außen am Beispiel des Inklusionsbegriffs der Integration skizziert werden. Ein mögliches Missverständnis muss von vorneherein verhindert werden, das bei Kategorien wie Inklusion und Integration entstehen könnte: Weder der Begriff der Inklusion noch der der Integration sollte ein wärmendes Gefühl sozialer Bindung und Zugehörigkeit geben. Die beiden Begriffe müssen vielmehr daraufhin untersucht werden, unter welchen Bedingungen sie in den Diskursen antreten, welche unterschiedliche Bedeutung sie erhalten, welche Regierungstechnik und/oder Technik des Selbst mit ihnen benannt wird, inwiefern sie Techniken der Regulierung und Kontrolle anzeigen. Ebenso stellt sich die Frage, inwiefern über die Differenzbestimmung von Inklusion/Exklusion bzw. Integration/Desintegration ein Urteil über Gelingen und Misslingen in Bezug auf Regulierung und Kontrolle gebildet wird. Man kann, wie die bisherige Geschichte der Medienforschung zeigt, Verbreitungsmedien, ihre Etablierung und Expansion, unter dem Aspekt betrachten und analysieren, welche Funktionen sie ausüben und wie sie diese Funktionen erfüllen. In der langen Debatte über die funktionale Bestimmung von Verbreitungsmedien dominieren zwei sich ergänzende Sichtweisen: Die einen betonen ihre Informationsfunktion, andere ihre Integrationsfunktion. Letztere Funktionsbestimmung spielte eine wichtige Rolle in den ersten drei Jahrzehnten nach 1945, gewinnt aber an Bedeutung auch wieder in jüngerer Zeit, wenn auch jetzt mit einer ganz anderen Zielvorgabe.17 Zwischen beiden funktionalen Bestimmungen müssen Wolfgang Goethe Universität, 7./8. Oktober 2005). Zur Nation als einem kulturellen Konstrukt vgl. die einschlägige Studie von Anderson 1996. 16. Foucaults vermutlich bekannteste Publikation. 17. Ein Indikator ist die Gründung einer »Bundesinitiative Integration

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Beziehungen und Differenzen ermittelt werden. Es gehört zu beiden hinzu, dass immer zugleich der Gegenbegriff mitgeführt wird. Was die Informationsfunktion betrifft, so wird der Gegensatz gern in die Naturmetapher der »Informationsüberflutung« gebracht. Wenn von der Integrationsfunktion der Medien gesprochen wird, so gilt gleichermaßen, dass sie als desintegrierender Faktor in Anspruch genommen werden.18 Für die diskursive Zuschreibung, dass es sich bei Medien um Agenten der gesellschaftlichen Integration handle, die vor allem in den ersten Jahrzehnten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland zirkulierte, lassen sich eine Reihe genealogischer Spuren ermitteln. Innerhalb der Soziologie spielte, seit Durkheim und vor allem seit Parsons, der Begriff der Integration eine zentrale Rolle. Bei Parsons lassen sich drei Phasen des Integrations-Konzepts unterscheiden, die, wie Ute Gerhardt herausgestellt hat, jeweils auf Zeitbezüge referieren. In den 30er Jahren ist für Parsons Integration »synonym mit demokratischer moderner Gesellschaft« (Gerhardt 1998: 308). In den 50er Jahren wird Integration zu einem »Moment jeglicher Vergesellschaftung«: »Hauptmoment normativer Integration sozialen Handelns ist die Überführung der devianten in demokratisch-normale Handlungsdispositionen durch Sozialisation als Lernprozeß« (Gerhardt 1998: 308). Ab den 60er Jahren geht es darum, »die Logik der Integration hochflexibler, freiheitlicher, multi-ethnischer Gesellschaften« zu begreifen (Gerhardt 1998: 309). Wie Ute Gerhardt betont, zeigt für die deutsche Parsons-Rezeption, gerade was die Theorie der Integration sozialer Systeme betrifft, bis heute Adornos »Interpretationsirrtum« Folgen (Gerhardt

und Fernsehen« im ZKM in Karlsruhe im Juli 2005. Integration bezieht sich hier – und damit verschiebt sich das Konzept ganz entscheidend – auf die von Migranten; zu ihrer Integration, aber nicht mehr zur Integration der Gesamtgesellschaft, wie in der Nachkriegszeit, soll das Fernsehen beitragen. 18. So macht z.B. Axel Honneth, neben anderen Tendenzen, die, wie es heißt, »vereinzelnde Wirkung des massenhaften Fernsehkonsums« dafür verantwortlich, dass sich für eine Zustandsbeschreibung der »hochentwickelten Gesellschaft der Gegenwart […] am ehesten der Begriff der ›Desintegration‹ anbietet« (Honneth 1995: 22).

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1998: 281). Diese Folgen lassen sich ebenso erkennen in den Diskursen über das Problem der integrierenden Funktion der Medien. In den 20er Jahren spielte der Begriff der Integration in staatstheoretischen Konzepten eine wichtige und zugleich ambivalente Rolle (vgl. Nolte 2000: 292). So erschien im Jahre 1928 das Hauptwerk »Verfassung und Verfassungsrecht« des berühmten Staatsrechtlers Rudolf Smend. In diesem Werk nimmt der Begriff der Integration eine zentrale Position ein. Smend begreift Integration als »grundlegende[n] Lebensvorgang des Staats« (Smend 1928: 18). »Staats- und Staatsrechtslehre« haben nach Smend davon auszugehen, dass der Staat als »geistiges Kollektivgebilde« nur lebt und da ist in einem »Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens« (Smend 1928: 18). Von der »persönlichen Integration«, für die Smend auf Max Webers Herrschaftstheorie verweist, unterscheidet er die »funktionelle Integration«, worunter er all jene Vorgänge zusammenfasst, »deren Sinn eine soziale Synthese ist, die irgendeinen geistigen Gehalt gemeinsam machen oder das Erlebnis seiner Gemeinsamkeit verstärken wollen, mit der Doppelwirkung des gesteigerten Lebens sowohl der Gemeinschaft wie der Einzelnen« (Smend 1928: 88). Als drittes unterscheidet Smend die »sachliche Integration« und versteht darunter die »Einsicht in das Wesen der staatlichen ›Zwecke‹ und ›Aufgaben‹« (Smend 1928: 51). Nach Smend gehört es zu den Aufgaben der Verfassung, den Prozess der Integration anzuregen und zu kanalisieren. Das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit ist, so Smend, durch diese ständige Wechselwirkung bestimmt. Es kennzeichnet Staatstheorien wie die von Smend, dass sie vom Vertrag als einer Integrationsform ausgehen und diesen im Sinne von Max Weber als grundlegende soziologische Kategorie vorauszusetzen – und nicht etwa Konfrontationsformen wie Krieg oder Herrschaft. Wie kontrovers eine Position, wie Smend sie repräsentiert, bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war, zeigte sich, als zwei Jahre später, 1930, die umfangreiche Streitschrift »Der Staat als Integration« von Hans Kelsen erschien, in der Smends Theorie grundlegend kritisiert wird. Im Unterschied zu Smend, dessen Suche ganz auf Einheit ausgerichtet ist, geht Kelsen von Differenz als nicht hintergehbarem Faktum aus. Nicht die Integration unter gemeinsamen Werten, wie Smend annimmt, son117

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dern die ethische Fragmentierung kennzeichnet nach Kelsen die moderne Gesellschaft (vgl. dazu Korioth 2005: 318-332). In den 50er Jahren war Integration in den ersten Jahrzehnten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein wichtiger medienpolitischer Begriff. Zum publizistischen Schlagwort wurde in jenen Jahren der Begriff des Integrationsrundfunks. Aber Integration war auch jetzt keineswegs ausschließlich ein Begriff der Mediendiskurse. Integration spielte eine zentrale Rolle auch z.B. im Freiburger Kreis der Ordoliberalen (vgl. dazu Foucaults Vorlesungen zum deutschen Neoliberalismus in den 50er Jahre. Foucault 2004: 112299). In weiteren Untersuchungen zur Genealogie der Mediennutzung muss überprüft werden, welche Beziehungen und welche Differenzen zwischen dem Integrations-Begriff der Mediendiskurse und dem anderer Diskursgenres bestehen, inwieweit sie aufeinander verweisen bzw. sich wechselseitig jeweils aneinander ausrichten und korrigieren. Wie für die Beziehung zwischen pädagogischen und Mediendiskursen so ist auch in diesem Fall davon auszugehen, dass es sich nicht um Praktiken der Adaption handelt, sondern um ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Der Integrations-Begriff lenkt den Blick auf eine weitere Leitdifferenz, nämlich die von Inklusion versus Exklusion, die seit einiger Zeit eine wichtige Diskurslinie in Mediendiskursen, aber auch in soziologischen Studien darstellt.19 Es ist notwendig, diese Linie diskursgeschichtlich in ihren Beziehungen und Differenzen zu Integrations-Konzepten zu verfolgen. Das gleiche gilt für die im Zusammenhang mit Medienentwicklungen verhandelten Adressierungsfragen (vgl. Fuchs 1997: 57-79). Integration/Desintegration, Inklusion/Exklusion, Adressierungsfragen und die Option der AllInklusion20 sind aufeinander bezogene diskursive Praktiken, die die Mediennutzung formieren. Es gibt mittlerweile eine schier unübersehbare Zahl von Stu19. Vgl. z.B Stichweh 1988: 261-293. Vgl. als Beispiel einer ganz anderen ›Schule‹ Honneth 1995. 20. Vgl. in diesem Zusammenhang meinen Beitrag: »Zur Archäologie der Mediennutzung. Zum Zusammenhang von Wissen, Macht und Medien« (Schneider 2006). Die Problematisierung der Option der All-Inklusion verhandle ich hier aus der Perspektive, inwiefern Verbreitungsmedien als Agenten der modernen Pastoralmacht im Sinne Foucaults beobachtet werden können.

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dien über die Funktion von Verbreitungsmedien, sei es, dass diese Funktion innerhalb theoretisch ausgerichteter Ansätze reflektiert wird, sei es, dass sie mit empirischen Methoden erhoben werden soll oder sei es, dass sie, was vergleichsweise selten geschieht, aus einer historischen Perspektive rekonstruiert werden soll. Auf Ergebnisse solcher Studien kann sich eine Genealogie der Mediennutzung beziehen, aber eben aus der Position eines »Außen« und entsprechend mit einem anderen Ziel, als vorliegende Ergebnisse am Ende zu bestätigen oder zu verwerfen. Es geht in einer solchen Genealogie weder um die Frage, wie gut oder schlecht Verbreitungsmedien ihre Informationsfunktion erfüllen, noch wie gut oder schlecht es um Integration und Desintegration, um Inklusion und Exklusion bestellt ist. Es geht vielmehr um die Frage, welche unterschiedlichen diskursiven Zuschreibungen und Verhandlungen um Medien die Formation solcher Funktionen auf den Weg gebracht haben. Es geht also darum zu erkunden, welche Strategien und Taktiken, welche Techniken in jener Zeit erfunden wurden, als Inklusion und Exklusion nicht mehr ›naturgegeben‹, qua Geburt und Stand geregelt waren, sondern zum Problem wurden. Diese Situation entstand, schlagwortartig und verkürzt formuliert, mit der Umstellung von Souveränität und Disziplin auf gouvernementale Verwaltung.21 Anders formuliert: Inklusion wird mit dem Umbau zu einer funktional differenzierten Gesellschaft zum Problem. Nochmals anders formuliert: Solange es einen souveränen Herrscher gibt, sind ihm alle untertan. Wenn diese Instanz fehlt, entsteht Steuerungsbedarf. Entscheidend für die Genealogie von Mediennutzung ist die Differenz zwischen zentripetalen und zentrifugalen Technologien, die Foucault für die Akzentverschiebung von der Disziplinarordnung auf Sicherheitsdispositive herausstellt. Die Disziplin funktioniert raumbezogen, sie organisiert einen Raum, sie segmentiert 21. Ich spitze eine lange und komplizierte Umbruchphase auf diese Dualität zu, wohl wissend, dass Foucault von der Trias Souveränität, Disziplin, gouvernementale Verwaltung bzw. Sicherheitsdispositive ausgeht (vgl. Foucault 2004: 39ff. und 161ff.). Zugleich muss aber betont werden, dass Foucault nicht von einer Ablösung der Disziplinarmacht durch Sicherheitsdispositive ausgeht, sondern Disziplin und Disziplinarmacht auch innerhalb gouvernementaler Verwaltung beobachtet.

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über Räume. Die Sicherheitsdispositive hingegen haben die Tendenz, sich auszudehnen: »Es werden ohne Unterlaß neue Elemente integriert, man integriert die Produktion, die Psychologie, die Verhaltensweisen, die Arten wie man Produzenten, Käufer, Konsumenten, Importeure, Exporteure macht, man integriert den Weltmarkt. Es handelt sich also darum, immer weiträumigere Kreisläufe zu organisieren oder sich jedenfalls entwickeln zu lassen« (Foucault 2004: 73).

Geht man von ihrer jeweiligen Operationsweise aus, so ergeben sich für die Trias Souveränität, Disziplin, Sicherheit folgende Unterschiede: das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor und die Sicherheit antwortet auf eine Realität. Das Gesetz arbeitet im Imaginären, die Disziplin komplementär zur Realität, die Sicherheit operiert in der Realität, steuert diese (vgl. Foucault 2004: 76). Wichtig ist dabei: Es geht nicht um einen Austausch der Verordnungen und Disziplinen durch Sicherheitsdispositive, sondern um Akzentverschiebungen und Gewichtsverlagerungen. Die Umbruchphase von der Disziplinargesellschaft in die gouvernementale Verwaltung ist, was die Mediensituation betrifft, durch eine Expansion der Druckschriften gekennzeichnet. Wenn diese Expansion in Diskursen beobachtet wird, geht es vor allem um das Problem von Inklusion und Exklusion. Es wird festgestellt und hervorgehoben, dass immer mehr Menschen Zugang zu solchen Druckschriften haben. Mit dieser Feststellung einher geht bereits in der Frühzeit der Massenkommunikation eine Problematisierung von Inklusion und Exklusion, wenn die Steigerung von Inklusion nicht nur festgestellt wird, sondern als neues Risiko und als Gefahr ausgemacht wird. Geäußert wird die Gefahr der Steigerung von Inklusion als Sorge um das Wohl der Menschen – gemeint sind vor allem Frauen und Knaben –, die zuviel und das Falsche lesen. Es bleibt in den Diskursen in aller Regel völlig ausgeblendet, dass damals de facto nur eine Minderheit lesekundig war22 und dass erst nach Alphabetisierungsmaßnahmen, also mit der allge22. Vgl. Plumpe 1992: 385: »Um 1770 konnten in den deutschen Territorien erst 15 Prozent der Bevölkerung lesen, um 1800 20 Prozent. Erst das 19. Jahrhundert hat hier für Wandel gesorgt, in dessen Verlauf eine Durchalphabetisierung der Bevölkerung erreicht wurde.«

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meinen Schulpflicht, der Zugang zu Druckschriften ›für alle‹ möglich wird. Die früh geäußerte und nachhaltig die Diskurse bestimmende Sorge, dass der allgemeine Zugang zu Medien das Wohl und Glück der Menschen, insonderheit der Frauen und Knaben gefährde,23 gehört zu den zentralen Formationen von Mediennutzung. Dieses Diskurselement reguliert und kontrolliert Mediennutzung bis in die Gegenwart. Mit dem »Regierungsstaat«, mit der gouvernementalen Verwaltung wird der Begriff der Population, der Bevölkerung gebildet, und im Zusammenhang mit dem Begriff der Bevölkerung erhält die Kategorie der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung eine neue Bedeutung: »Die Öffentlichkeit, ein Hauptbegriff im 18. Jahrhundert, ist die Bevölkerung von der Seite ihrer Meinungen her gesehen, von ihrer Art etwas zu tun, von ihren Verhaltensweisen, ihren Gewohnheiten, ihren Befürchtungen, ihren Vorurteilen, ihren Ansprüchen her, sie ist das, worauf wir durch Erziehung, durch Kampagnen, durch Überzeugungen usw. Einfluß haben« (Foucault 2004: 115).

Öffentlichkeit im Sinne von Foucault rückt in die Nähe des Kulturbegriffs, wie er etwa von Raymond Williams gefasst worden ist; sie wird zu einer Beobachtungsformel, mit der sich Differenzen bezeichnen und – so Foucault – auf die sich mit Techniken einwirken lässt. Eine der ganz wichtigen Techniken, mit denen sich auf die öffentliche Meinung einwirken lässt, bilden die Verbreitungsmedien, die Foucault zwar in seiner »Geschichte der Gouvernementalität« an mehreren Stellen erwähnt, ohne ihnen aber eine breite Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sind in seinen Augen, so mein Lektüre-Eindruck, gewissermaßen der selbstverständlich gegebene Faktor, über den man nicht viele Worte verlieren muss. So heißt es an einer Stelle, ohne dass genauere Ausführungen folgen, als bestände dafür kein Erläuterungsbedarf, dass »Meinung, Presse«, neben »Verfassung, Parlament« und »Kommissionen, Erhebungen« die »Begrenzung von Regierungspraktiken« organisieren (Foucault 2004: 41). An anderer Stelle heißt es, darauf wurde bereits verwie23. Im 20. Jahrhundert rückt dann die Jugend generell ins Zentrum solcher Sorgen, sie wird zur medialen Risikogruppe.

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sen (vgl. Anm. 14), dass Verbreitungsmedien die Utopie des panoptischen Blicks generieren. Solche Hinweise sind sicher richtig und weiterführend; aber sie sind nicht erschöpfend für eine Analyse der Verbreitungsmedien als Techniken der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Ein wichtiger Aspekt wird dabei nämlich gar nicht problematisiert: die Frage, wie Kollektivität, die im Konstrukt der öffentlichen Meinung vorausgesetzt wird, wie öffentliche Meinung als eine kollektive Meinung hergestellt und wie sie kontrolliert und gesteuert werden kann.24 Die Frage, wie Kollektivität der öffentlichen Meinung formiert wird, führt aus einer veränderten Perspektive erneut in das Problemfeld von Inklusion/Exklusion, zur Frage, inwieweit Verbreitungsmedien die Option der All-Inklusion herstellen. Diese Frage, die wohlgemerkt keine von sozialer Bindung oder gar Gemeinschaft ist, ist seit dem 18. Jahrhundert, seit der Expansion von Druckschriften ein Dauerproblem. Verhandelt wird dieses Problem im 18. und auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vordringlich innerhalb pädagogischer Diskurse, als Erziehungsproblem und noch nicht vorrangig in Mediendiskursen. Aber, wie angedeutet, spielt es auch hier eine Rolle und zwar vor allem als Risiko-Diskurs: die allen zugänglichen Medien führen zu Risikogruppen. Trotz dieses Ungleichgewichts gilt, dass das Problem von Inklusion und Exklusion seit dem 18. Jahrhundert aus zwei Richtungen, die sich in der Folgezeit zunehmend aufeinander zu bewegen, zum Dauerproblem wird: durch die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems und durch die Expansion der Medien. Die zuletzt angesprochene Komplementarität von Mediendis24. Foucault setzt Kollektivität voraus, nimmt sie als etwas Gegebenes und diskutiert dann die Bedeutung von kollektiven Interessen in der Zeit des Liberalismus. Vgl. z.B. Foucault 2004: 73: »Das Interesse, dessen Prinzip die gouvernementale Vernunft gehorchen muß, das sind jetzt die Interessen, ein komplexes Spiel zwischen individuellen und kollektiven Interessen, zwischen dem sozialen Nutzen und dem ökonomischen Profit, zwischen dem Gleichgewicht des Marktes und der Herrschaft der öffentlichen Gewalt.« Die Relevanz von Verbreitungsmedien im Sicherheitsdispositiv, ihre Bedeutung als Techniken der Herstellung und Regulierung von Kollektivität zeigt sich, wenn es in der gleichen Studie an späterer Stelle heißt: »Das Problem der Sicherheit: das kollektive Interesse gegen die individuellen Interessen zu schützen« (Foucault 2004: 100).

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kursen und pädagogischen Diskursen hat eine ganz andere Dimension als die oben erwähnte Komplementarität in Bezug auf die Reiztheorie. In der Reiztheorie ging es darum, Techniken zu finden, die es möglich machen, die Wirkung von Erziehung und die von Medien zu messen. Jetzt geht es bei beiden darum, Inklusion und Exklusion herzustellen, zu regulieren und zu kontrollieren und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem beides problematisch geworden ist, nicht mehr zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Wenn qua Geburt klar ist, ob man als Untertan oder als Souverän zur Welt kommt, bedarf es zwar auch der Disziplinierungsmaßnahmen, damit diese naturgegebene Ordnung eingehalten wird, aber die Vorgaben sind geklärt. Im Unterschied dazu erfordert die gouvernementale Rationalität eigene Techniken der Inklusion wie Exklusion; weder das eine noch das andere ist qua Gouvernementalität geregelt. Ungeregelt und ungeordnet sind die Verhältnisse keineswegs nur in Bezug auf die Bevölkerung, sondern ebenso in Bezug auf das Selbst. Insofern gehören Verbreitungsmedien, was ihre Rolle zur Regelung von Inklusion und Exklusion betrifft, sowohl zu den Technologien des Selbst wie zu den Herrschaftstechnologien, zu einer Technik der Dominanz über das Selbst also. Genauer und in Fallstudien überprüft werden muss, wie sich beide wechselseitig bedingen, stören und in Konflikt geraten. Genealogische Spuren, die außerhalb der Medien als Institution auffindbar sind, zeigen also: Verbreitungsmedien werden wie Techniken der Erziehung eingesetzt, also auch und vor allem als Vermittler von Information. Information ist eine conditio sine qua non von Inklusion, aber angesichts von gouvernementaler Verwaltung oder funktionaler Differenzierung25 keine hinreichende Bedingung, um Inklusion zu sichern. Notwendig ist jetzt eine Technik, die den allgemeinen Zugang zur Information regelt. Die Verbreitungsmedien werden, indem ihnen die Option zugeschrieben wird, allen zugänglich zu sein, zu dieser Technik. Eine solche Zuschreibung erfolgt bereits in Ansätzen im 18. Jahrhundert, wird aber erst in Mediendiskursen des 20. Jahrhunderts zum Allge25. Auf die Differenzen, die zwischen der Theorie einer funktional differenzierten Gesellschaft und Foucaults Unterscheidung zwischen Disziplinarmacht und gouvernementaler Verwaltung bestehen, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.

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meingut. Jetzt gehört der allgemeine Zugang zur »Grundversorgung«. Zwei Tendenzen des 20. Jahrhunderts seien zum Abschluss dieser Ausführungen zum zweiten methodischen Grundsatz einer Genealogie wenigstens noch am Rande erwähnt: Foucault verhandelt die Begriffe von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung im Zusammenhang mit der Erfindung der gouvernementalen Verwaltung, die zugleich die »Geburt der Biopolitik« bedeutet. Damit einher geht eine Verlagerung von Verantwortung: der Staat übernimmt »nicht mehr sosehr Verantwortung für Individuen […], die einer Reglementierung zu unterwerfen sind«, sondern für die Bevölkerung, die nicht länger eine »Menge von Untertanen« bildet, sondern eine »Gesamtheit natürlicher Phänomene«. Und als diese »neue Wirklichkeit«, die die Bevölkerung konstitutiert, muss, damit überhaupt steuernd auf sie eingewirkt werden kann, diese zuerst vermessen, gezählt und statistisch erfasst werden (Foucault 2004: 505). Diese Erhebung bio-politischer Daten der Bevölkerung gehört zu den zentralen Techniken der Normalisierungsgesellschaft, die, so Foucault, »mehr und mehr die Verfahrensweisen des Gesetzes kolonisieren« (Foucault 2003: 248). Die Vermessung der Mediennutzer, ihre statistische Erfassung bis in ihr stündliches Medienverhalten hinein, gehört mittlerweile zum Standard der empirischen Medienforschung, und diese Daten schreiben sich immer stärker in die Mediendiskurse ein, kolonisieren zunehmend diese Diskurse. Auch hier gilt: die Techniken der Normalisierungsgesellschaft überlagern mehr und mehr die Verfahrensweisen des Gesetzes. Gleichzeitig allerdings gilt für die Genealogie der Mediendiskurse: Mit viel Verve und Pathos gehören bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, insbesondere mit einem emphatischen Begriff von Öffentlichkeit, »Verfahrensweisen des Gesetzes« zu den diskursiven Praktiken. Für diesen Komplex gilt das gleiche wie für die Reiztheorie: Es geht nicht darum, solche Praktiken einfach nur zu verwerfen, sondern die Genealogie ihrer Nachhaltigkeit zu begreifen. Wenn – und dies ist der zweite Aspekt –, wie dies seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschieht, Verbreitungsmedien als »Massenmedien« bezeichnet werden,26 dann wird damit eine 26. In den offiziellen bundesrepublikanischen Sprachgebrauch fand die Bezeichnung »Massenmedien« Eingang mit dem Fernsehurteil von 1961.

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neue diskursive Möglichkeit hergestellt, um Inklusion und Exklusion, um Selbstexkludierung angesichts der Option von All-Inklusion zu organisieren. Die diskursive Zuschreibung der Medien als Massenmedien formiert diese zugleich, bestimmt ihr Prestige und ihre Position, auch wenn der Begriff als terminus technicus bezeichnet wird. Dies zeigt sich vor allem vor dem Hintergrund der europäischen Diskursgeschichte von Masse, massa, masse, foul und crowd, die auch noch jüngste Analysen prägt, wie Peter Sloterdijks Rede über die »Verachtung der Massen« zeigt, in der es, ganz im Gefolge von Günter Anders’ »Massen-Eremiten« aus den 50er Jahren, heißt: Aus der »Auflaufmasse« ist »eine programmbezogene Masse« geworden, in der man »als Individuum Masse« ist (Sloterdijk 2000: 17). Auch hier müssen die Spuren verfolgt werden, die die Attraktivität exkludierender diskursiver Praktiken genealogisch begreifbar machen.

3.3 Dezentrierung des Objekts Der dritte methodische Grundsatz, den Foucault für eine genealogische Analyse aufstellt, richtet sich auf »Dezentrierung« und zwar in Bezug auf das Objekt (Foucault 2004: 117). Diese Dezentrierung heißt für die Beobachtung von Mediennutzung: Nutzung wird nicht als gegebene und stabile Größe aufgefasst, die in der Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger, Produzent und Rezipient etc. fundiert ist. Die Ausgangsfrage lautet vielmehr: Wie verläuft jener Prozess, der in einem bestimmten Moment Mediennutzung als eine Aktivität definiert, die abgrenzbar ist von anderen Aktivitäten, die zwar gemeinsam mit anderen Tätigkeiten durchgeführt werden kann, aber gleichwohl unterscheidbar bleibt? Wie wird Mediennutzung mit unterschiedlichen Zuschreibungen und definitorischen Festlegungen, die für dieses Aktionsfeld aufgestellt werden, schließlich in ein institutionelles Feld integriert? Welche unterschiedlichen Diskurse zeichnen sich, so heißt die Frage etwa in Bezug auf Public Service, in die Trias von »Information, Bildung, Unterhaltung« ein, in jene Trias also, die den Kern des Programmauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter Zur Begriffsgeschichte von »Massenmedium/Massenmedien« vgl. Christina Bartz (2005): MassenMedium: Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeobachtung. Phil. Diss., Universität zu Köln (im Druck).

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nach dem Zweiten Weltkrieg und, folgt man den Rundfunkgesetzen, bis heute bildet? Zu den diskursiven Feldern gehören nach dem bisher Gesagten die pädagogischen Diskurse, die Diskurse um Integration und Desintegration und um Inklusion und Exklusion. Ein weiteres Feld, das hier nur genannt werden konnte und das in Bezug gebracht werden muss zu den pädagogischen Diskursen, sind die Diskurse um das kulturelle Konstrukt der Nation, um die Option von Nationalerziehung und Nationalkultur. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das kulturelle Konstrukt der Nation, wurde die Option von Nationalerziehung und Nationalkultur zu einem beherrschenden Problem von Mediendiskursen. Nach 1945 dagegen stehen Fragen von Inklusion und Exklusion und Fragen nach der Erziehung bzw. Sozialisation27 durch Medien im Zentrum der publizistischen und auch der wissenschaftlichen Mediendiskurse. Diese beiden Problemkomplexe sind konstitutiv für die Formierung von Mediennutzung in jenen Jahren. Die Wanderbewegungen von wichtigen Fragen der pädagogischen Diskurse in Mediendiskurse und auch die diskursiv aufgestellte Option von All-Inklusion zeigt sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht nur in diesen Diskursgenres, sondern in ganz markanter Weise in den damals formulierten und verabschiedeten Mediengesetzen. So heißt es etwa in §2 des Gesetzes über den Hessischen Rundfunk vom 2.10.1948 (GVB1. S.123): »Aufgabe des Hessischen Rundfunks ist die Verbreitung von Nachrichten und Darbietungen bildender, unterrichtender und unterhaltender Art« (zit. nach von Sell 1992: 19). Für den Programmauftrag des Westdeutschen Rundfunks lautet die Formulierung: »Der WDR hat in seinen Sendungen einen umfassenden Überblick über das internationale und nationale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sein Programm hat der Information, Bildung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge zur Kultur, Kunst und Beratung anzubieten« (zit. nach von Sell 1992: 238).

Wenn es um Erziehung und Bildung in publizistischen Diskursen 27. Zur Differenzierung zwischen Sozialisation und Erziehung vgl. Luhmann 2002: 48-81.

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geht, wenn hier von – so eine häufige Formulierung – »Massenaufklärung und -erziehung« (Einsiedel 1951: 376) gesprochen wird, so ist der Gegenbegriff, der Verdacht von »Massenbetrug« ein ständiger Begleiter. Hier schließt sich nahtlos der sehr populäre, jederzeit abrufbare Manipulationsverdacht an. Ein dritter Verdacht schließlich heftet sich an die Kopplung von Inklusion und Erziehung in Bezug auf das neue Medium Fernsehen: dass dieses Medium, wie es ebenfalls häufig hieß, »aktivere Impulse lähmt […] und jeden Drang zu selbsttätiger Bildung, Weiterbildung verkümmern läßt« (Einsiedel 1961: 378; vgl. auch Anders 1987: 107-109). Verallgemeinert und zugespitzt formuliert lässt sich festhalten: Mediennutzung wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in den Blick genommen als eine Aktivität, die zur gesellschaftlichen Integration oder aber zur »Vermassung« führt; Mediennutzung heißt, sich informieren und auch bilden, oder aber: von Informationen überflutet werden und sich ›berieseln‹ lassen. Die genealogischen Spuren für den Kulturoptimismus wie -pessimismus des 20. Jahrhunderts führen zurück in den Beginn der Diskurse über Verbreitungsmedien, in die Zeit um 1800. Im Jahr 2005 lautet der Appell, das Fernsehgerät abzuschaffen, aus tschechischer Sicht folgendermaßen: »Der ideale Zuschauer wäre der, dem der Fernseher kaputt geht, der sich aber keinen mehr anschafft, weil er es nicht muss. Er weiß, dass er ihn nicht braucht« (Penas 2005: 36). Spätestens jetzt wird ganz deutlich, dass eine Genealogie der Mediennutzung eine Genealogie medialer Subjektivierungsmodi meint. Und angesichts der sozialen und kulturellen Bedeutung, die Verbreitungsmedien spätestens seit geraumer Zeit haben, ist klar: diese Genealogie ist von entscheidender Bedeutung für eine Genealogie des modernen Subjekts westlicher Gesellschaften. Wenn man Foucaults Vorschlag folgt und von einem vielseitigen und wandelbaren Äquilibrium zwischen Technologien der Dominanz über das Subjekt und Technologien des Selbst ausgeht,28 dann zeigt sich, dass mediale Subjektivierungsmodi unzureichend 28. Vgl. Foucault: »Subjectivity and Truth«, lecture delivered at Dartmouth College, 17 November 1980: »Governing people, in the broad sense of the word, is not a way to force people to do what the governor wants; it is always a versatile equilibrium, with complementarity and conflicts between techniques which assure coercion and processes through which the self is constructed or modified by himself.« (Zit. nach Keenan: 1982: 38)

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beschrieben sind, wenn man sie unter Manipulationsverdacht stellt, aber ebenso ungenügend erfasst werden, wenn man die subversiven Potentiale betont. Interessant ist nicht das eine oder andere für sich, von Interesse sind vielmehr die vielseitigen Relationen zwischen den so häufig alternativ gefassten Formen von Mediennutzung.

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Der Alltagssinn des Fern-Sehvergnügens

Der Alltagssinn des Fern-Sehvergnügens Ralph Weiss

Menschen sehen in beträchtlichem Ausmaß fern. Was bedeutet ihnen diese Tätigkeit? Welchen subjektiven Sinn hat für sie die Beschäftigung mit dem Medium der Television? Der folgende Beitrag skizziert, wie eine alltags- und lebenswelttheoretische Konzeption entwickelt werden kann, eine Art »Praxeologie« des Fernsehens, die imstande ist, eine Antwort auf die vermeintlich einfachen Fragen zu geben. Zuvor ist eine Vorklärung nötig. Wieso gibt es Bedarf für ein solches Erklärungskonzept? Das lässt sich in zwei Schritten beantworten: (1.) durch einen Blick auf das Phänomen selbst: das Fernsehen als ein wichtiger Bestandteil alltäglicher Lebensführung; und (2.) mit Blick auf geläufige Erklärungen für Art und Ausmaß des Fern-Sehens. Wenn die vorherrschende Erklärungsweise nicht zufrieden stellend ausfällt, macht es Sinn, nach neuen Wegen der Erklärung zu suchen. An eine entsprechende Diskussion schließt sich (3.) die Skizze zum Theorieaufbau einer Praxeologie des Fernsehens an. Deren Erklärungspotential wird (4.) anhand ausgewählter Beispiele illustriert.

1. Das Fern-Sehen als Bestandteil alltäglicher Lebensführung1 Einige wenige Rahmendaten genügen um zu begründen, dass es Erklärungsbedarf gibt. Die Befunde zum Fern-Sehen als einer Tä1. Zum Begriff des Alltags sowie zur Analyse des Fernsehens als Medium der Alltagskultur siehe Weiß 2003.

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tigkeit im Alltag entstammen der Studie »Massenkommunikation«, einer im Fünfjahresrhythmus durchgeführten Befragung, die die Nutzung aller Medien über mehrere Dekaden hinweg repräsentativ für die deutsche Wohnbevölkerung erfasst (Berg/Ridder 2002).2 Aus der letzten Erhebung im Jahr 2000 lässt sich entnehmen: –







An einem durchschnittlichen Tag der Woche verbringt ein durchschnittlicher Bürger in Deutschland etwas mehr als 3 Stunden mit dem Fernsehen (Fritz/Klingler 2003: 15). Dieser Wert ist seither noch etwas angestiegen (im Jahr 2003: 203 Minuten Sehdauer im Durchschnitt für die gesamte Bevölkerung, 272 Minuten durchschnittliche Verweildauer bei denjenigen, die an einem Tag tatsächlich fernsehen; siehe Gerhards/Klingler 2004: 475.). Wenn Menschen mehr als viereinhalb Stunden beim Fernsehen verweilen, belegt das Medium offenbar einen erheblichen Raum im Alltag. Die Beschäftigung mit dem Fernsehen übertrifft die Zeit, die sich Menschen für ihre Familie, für Freunde oder Bekannte nehmen, um mehr als das Dreifache (Fritz/Klingler 2003: 13). Das Fernsehen stellt alle anderen Formen der Freizeitbeschäftigung – wie Sport oder Geselligkeit in Kneipe oder Verein – weit in den Schatten. Fernsehen beherrscht die freie Zeit. Denn Fernsehen wird in der Zeit genutzt, die von den Erfordernissen des Berufs, der Hausarbeit und der Regeneration frei gehalten ist, die Zeit, die bleibt, wenn alles Notwendige geregelt ist. Umgekehrt gilt auch: Im Durchschnitt betrachtet verbringen Deutsche einen erheblichen, viele den überwiegenden Teil ihrer freien Zeit mit dem Fernsehen.3

Daraus lässt sich schließen: Wenn Menschen Zeit finden, sich aus der Hektik und den Sorgen der Alltagsaufgaben zu lösen, wenn sie sich Zeit nehmen, etwas anderes zu erfahren, zu erleben und zu spüren als die von Notwendigkeiten und Pflichten beherrschte Welt, wenn Menschen die Gelegenheit haben, sich Dingen zu 2. Die Studie »Massenkommunikation« ist eine der wichtigsten Quellen der empirischen Kommunikationsforschung. 3. Im Durchschnitt betrachtet 162 von 470 Minuten also ca. ein Drittel (Fritz/Klingler 2003: 21).

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widmen, die sie schön, anregend oder interessant finden, dann wenden sie sich zumeist dem Fernsehen zu. Darüber hinaus gilt auch: Wenn Menschen den Kopf frei bekommen, um über den Tellerrand der Alltagsbeschäftigungen hinaus zu blicken, wenn der Verstand sich aufmacht, wahrzunehmen und zu begreifen, was auf der Welt geschieht, blicken Menschen vorzugsweise auf die Mattscheibe. Tatsächlich lehren der Blick in die Programme ebenso wie Studien zur Nutzung: Fernsehen ist ein multifunktionales Medium. Mit dem Fern-Sehen erfüllen sich Menschen eine ganze Reihe von Bedürfnissen, denen sie in ihrer freien Zeit nachgehen können: Sie halten sich auf dem Laufenden über das aktuell wichtige Geschehen; sie suchen und finden mit dem Fernsehen Entspannung und Zerstreuung sowie emotionale Erlebnisse (siehe beispielsweise Dehm/Storll 2003). Die wenigen Befunde mögen genügen, um folgende Vermutung zu untermauern: Wenn Menschen dem Fernsehen den Vorzug vor anderen Handlungsmöglichkeiten geben, wenn sie dem Fernsehen einen so großen Raum in ihrem Leben geben, dann dürfte das Fernsehen für die alltägliche Lebensführung eine herausgehobene Bedeutung haben. Aber welche? Wie lässt sich die Bedeutung beschreiben?

2. Erklärung durch Motivkataloge? Ein oft beschrittener Weg, eine Erklärung für die Rolle des Fernsehens zu finden, besteht darin, die Rezipienten selbst darüber zu befragen, welche Motive sie mit dem Fernsehen verbinden. Die empirische Nutzungsforschung arbeitet mit einem erprobten Katalog von Motiven, anhand derer die subjektive Bedeutung des Fernsehens beschrieben werden soll. Darin kommen folgende Dimensionen zur Sprache (vgl. Hasebrink 2002: 349): – – – – – –

sich informieren und orientieren entspannen sich vergnügen Flucht aus dem Alltag Gewohnheit »parasoziale Interaktion«, i.e. der Eindruck, an einem sozialen 133

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Geschehen teilzuhaben, wodurch auch das Gefühl der Einsamkeit vertrieben wird. Der Erfassung dieser Motive liegt – mehr oder weniger ausgesprochen – ein einfaches Modell der Fernsehrezeption zugrunde: Das Fernsehen wird als interessengesteuertes und insofern zweckrationales Handeln entworfen. Gegen dieses Modell und damit gegen die gebräuchliche Manier, Fernsehen aus Motiven und »Gratifikationen« zu erklären, lassen sich zwei Einwände ins Feld führen. Das Modell unterstellt eine Art rationaler Wahl, eine bedürfnisorientierte Abwägung von Handlungsalternativen, eine kalkulierende Abschätzung von Nutz- und Gebrauchswerten des jeweils gerade offerierten Programms. Dem widerspricht die Beobachtung, dass das Fernsehen stark habitualisiert erfolgt. Die Gewohnheit, nicht eine Kosten-Nutzen-Abwägung führt oft Regie. Es ist daher zweifelhaft, ob das Modell der motivgesteuerten rationalen Wahl schon den ersten Akt der abendlichen Fernsehsession erklären kann: die bloße Zuwendung zum Medium und zu einem Programm. Ebenso zweifelhaft ist, ob mit dem Motivkatalog angemessen charakterisiert werden kann, was im Zuge der Rezeption geschieht, was Rezipienten erleben und was sie von dem Erlebnis haben. Das geht auf einen weiteren Mangel zurück: Es fehlt den in der Nutzungsforschung gebräuchlichen Katalogen eine Theorie der Motive. Die Liste der Nutzungsmotive und -gratifikationen ist weitgehend untheoretisch aufgestellt worden (Vorderer 2002: 28). Das macht sich in zwei analytischen Schwächen bemerkbar: 1.

2.

Die Liste der Motive ist inkonsistent. Die Abgrenzung und die Beziehung zwischen den einzelnen Dimensionen sind ungeklärt. Sich zu »entspannen« und »den Alltag vergessen« zu wollen, wird sich kaum wechselseitig ausschließen. Auch »sich informieren« und dabei »Spaß haben« dürfte wenigstens für die kein Widerspruch sein, denen das Begreifen eine Lust geblieben ist. Was macht dann aber genau den Unterschied aus, der eine getrennte Erfassung rechtfertigen könnte? Das ist auch deswegen nicht so ganz klar, weil die Dimensionen jeweils für sich theoretisch unterbestimmt sind. »Weil ich mich informieren möchte«, dabei kann der befragte Fernsehnutzer ganz Unterschiedliches meinen: den sorgfältig recher134

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chierten Bericht über die Haltung der europäischen Nationen gegenüber dem Iran, die neueste Geschichte aus den Häusern der europäischen Aristokratie oder die gut verständliche Übersicht, was sich für einen Arbeitslosen durch die Hartz IV-Regelungen ändert. »Sich informieren« kann also einen ganz unterschiedlichen subjektiven Sinn haben, je nachdem in welchem Sinnhorizont sich der Zuschauer bewegt – im Horizont der Teilhabe am politischen Geschehen, in seiner Rolle als Staatsbürger, in der Sphäre der Organisation und Bewältigung seines praktischen Alltagslebens oder in der Sinnenklave populärer Unterhaltung. Die Kritik gibt bereits die Richtung vor, in der nach einer systematischen, theoriegeleiteten Erklärung für die subjektive Bedeutung des Fernsehens gesucht werden kann: Der Sinn des Fern-Sehens lässt sich durch seine Einbettung in den Kontext der alltäglichen Lebensführung begreifen. Für eine solche Erklärung sind mehrere Elemente nötig: 1.

2.

Die Analyse des Fern-Sehens muss Anschluss an eine Theorie des Alltags finden. Für die hier ins Auge gefasste handlungstheoretische Perspektive ist es nötig, die Prinzipien zu identifizieren, die Wahrnehmung, Denken und Handeln im Alltag bestimmen – generative Prinzipien des Alltagsleben in doppeltem Sinn: Sie generieren Anschauungsweisen und Handlungsformen. Wenn mit diesen Prinzipien angegeben werden kann, wie Subjekte die Strukturen ihres Alltagslebens durch ihr eigenes sinngeleitetes Handeln kreieren, sollte sich besser erklären lassen, was Zuschauer beim in den Rahmen ihrer alltäglichen Lebensführung eingebetteten Fern-Sehen nützlich, richtig oder schön finden. Es bleibt dann noch zu erklären, welche besondere Bewandtnis es damit hat, dass die alltagsgebundenen Prinzipien des Wahrnehmens, der Vorstellungskraft, des Erlebens und Begreifens nun beim Fern-Sehen wirksam werden, worin also die Besonderheit des Fernsehens als Tätigkeitsform liegt. Die besondere Tätigkeitsform Fern-Sehen ist von den anderen alltäglichen Handlungen zu unterscheiden und darüber hinaus muss angegeben werden können, worin sie gerade in ihrer Unterschiedenheit etwas zum Alltagsleben beiträgt. 135

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Geht es im ersten Schritt darum, durch den Rückbezug auf den Kontext der alltäglichen Lebensführung den subjektiven Sinn zu identifizieren, den das Fernsehen gewinnen kann, so folgt der zweite analytische Schritt dem Anliegen, den psychischen Modus zu bestimmen, in dem dieser subjektive Sinn dem Zuschauenden verfügbar ist. Dieser Modus lässt sich – in Anlehnung an einen Begriff des Psychoanalytikers Metz – als je typisch konfigurierte »Bewusstseinseinstellung« charakterisieren.4

3. Grundzüge einer Praxeologie der Fern-Sehens Wie kann ein System der generativen Prinzipien entwickelt werden, die Handeln und Wahrnehmen im Alltag prägen? Habermas legt eine Synopse soziologischer Handlungstheorien vor, die in die Unterscheidung von drei Grundtypen des Handelns mündet (Habermas 1988: 1, 115).5 Ihre generative Kraft entfalten die Handlungstypen in der Projektion auf ein soziales Feld. Bourdieus Theorie der Praxis folgend (1979, 1997) bestimmen die »sozialen Felder«, welche Handlungsziele notwendig und möglich, welche Ressourcen wirksam und welche Handlungsmuster »am Platz« sind. Die Subjekte stellen sich auf die Logik des Feldes durch die spezifische Konfiguration ihrer Handlungsmuster ein. Im »Habitus« wird diese Ausrichtung versubjektiviert. Der »Habitus« verkörpert – in Bourdieus Lesart im Wortsinn – Prinzipien der Praxis. Er bildet eine subjektive Struktur, die durch die objektive Logik der sozialen 4. Metz 1994. Zur Unterscheidung von »Bewusstseinseinstellungen« siehe ausführlich Weiß 2005. 5. Die Typologie findet sich in der ersten Zwischenbetrachtung in der Theorie des kommunikativen Handelns (1988: 1, 369-452; insbesondere 439 und 448). Habermas entwickelt sie in der Auseinandersetzung mit Handlungstheorien, in der ersten Zwischenbetrachtung insbesondere mit Blick auf Weber, im Späteren auch unter Einschluss von Mead und Parsons. Habermas diskutiert die Typologie in der Absicht zu zeigen, wie das soziale Handeln auf »kommunikatives Handeln« verweist und wie im kommunikativen Handeln das Rationalitätspotenzial des gesellschaftlichen Handelns gebunden und bewahrt ist. Dieses Beweisanliegen und die Probleme, in die es hineinführt, können außer Betracht bleiben, da hier nur die Systematisierungsleistung mit Blick auf soziologische Handlungstheorien genutzt wird.

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Felder strukturiert ist und zugleich als Ensemble generativer Prinzipien die Formen der Wahrnehmung und des Handelns in den sozialen Feldern des Alltags strukturiert – strukturierte und strukturierende Struktur in einem (Bourdieu 1989: 279). Aus der Verbindung der bei Habermas gebündelten soziologischen Handlungstheorien mit dem epistemologischen Strukturalismus der Bourdieuschen Kultursoziologie lässt sich so die gesuchte Grammatik der Alltagspraxis, ein System generativer Prinzipien der Wahrnehmung und des Handelns im Alltag gewinnen.6 Grundzüge dieses Systems lassen sich anhand der von Habermas unterschiedenen Handlungstypen in Verbindung mit den ihnen korrespondierenden Sinnorientierungen skizzieren: 1.

Erfolgsorientiertes Handeln: Finalität: Es geht bei diesem Grundtypus des Alltagshandelns um die Befriedigung individueller Interessen – und zwar im Sinne des Eigennutzes; das Handeln wird durch das Ziel bestimmt, erfolgreich ein individuelles Interesse zu verwirklichen. Diese Zielrichtung des Handelns geht einher mit einem spezifischen Geltungsanspruch, der dem planvollen Handeln unterlegt ist. Er prägt daher die nötigen Verstandesoperationen und das begleitende kommunikative Handeln: Das Handeln beansprucht Wirksamkeit.7 Die leitende Handlungsorientierung, an der die Wahl von Handlungsalternativen ausgerichtet wird, ist die Effizienz. Subjektive Handlungsvoraussetzungen sind Kompetenzen, hier im Sinne instrumentalisierbaren Sach- und Regelwissens und effizienter Handlungsmuster. Die elementare Orientierung des Handelns auf den Erfolg des Eigennutzes prägt sich auch in einen Grundzug sozialer Identität ein: Das Selbstkonzept ist gezeichnet vom Streben nach Tüchtigkeit, nach Kompetenz nicht nur als Mittel des Erfolgs, sondern auch als Auszeichnung der Person.

6. Für eine ausführliche Darstellung dieser Praxeologie und ihrer Herleitung siehe Weiß 2001. 7. Habermas ordnet hier noch einen weiteren Geltungsanspruch zu: die Wahrheit von Sachverhalts- und Zusammenhangsbehauptungen; denn er versteht die »Wahrheit« resp. die »Objektivität« als Voraussetzung der Wirksamkeit.

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Normorientiertes Handeln: Finalität: Bei dieser Grundorientierung des Alltags geht es darum, richtig zu handeln, d.h. in Übereinstimmung mit Prinzipien, die allgemein gelten bzw. allgemein gelten sollten. So sucht und sichert der Einzelne die Legitimität des eigenen Handelns; der Geltungsanspruch, der dem Handeln unterlegt ist, besteht auf der Richtigkeit des Tuns. Die maßgebliche handlungsleitende Orientierung liegt im Streben nach Anerkennung – Anerkennung für die Richtigkeit des eigenen Tuns, Respekt daher auch für die Hoffnungen und präskriptiven Entwürfe für ein besseres Leben, die in die Maximen des Richtigen eingelassen sind. Die subjektive Voraussetzung für ein sozial viables Handeln sind das Wissen um das Richtige, Sinn und Gefühl für das Angemessene, Prinzipientreue. Den praktischen Maximen und den auf sie abonnierten subjektiven Eigenschaften korrespondiert wiederum eine entsprechende Dimension im Selbstkonzept der Akteure: Anstand, Gewissenhaftigkeit, Würde, Ehre. Handeln als Selbstverwirklichung:8 Finalität: Ziel dieser elementaren Handlungsorientierung ist die Übereinstimmung mit sich, mit den Haltungen, in denen sich das Subjekt identifiziert. Die Selbstbehauptung wird zum übergreifenden Handlungsziel. Solches Handeln zeichnet sich durch einen spezifischen Geltungsanspruch aus: Wahrhaftigkeit in Handeln und Kommunikation soll die eigene Identität unverstellt zum Ausdruck kommen. Die leitenden Handlungsorientierungen, an denen der Akteur sein Handeln mit dem Ziel der Selbstbehauptung bemisst, sind Authentizität und Selbstbestätigung. Das setzt das Vermögen zu Ich-Orientierung und Selbstverständigung voraus. Der Handlungsorientierung korrespondiert ein besonderer Posten im Identitätsformular des sozialen Selbst: die Würde, die hier als Treue zu sich selbst Sinn macht.

Gewiss handelt es sich dabei um eine analytische Unterscheidung. Alltägliches Handeln verbindet diese Handlungsorientierungen oder wechselt von einer in die andere. Diese Kombinationsgabe des 8. Bei Habermas ist in engerem Sinn von »dramaturgischem Handeln« die Rede.

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praktischen Verstandes mindert jedoch nicht den Wert der analytischen Unterscheidung. Denn sie bezeichnet, durch welche generativen Prinzipien das Handeln in den verschiedenen Sphären des Alltags Struktur erhält und sich zu einem subjektiv sinnvollen Ganzen fügen lässt.9 Diese generativen Prinzipien des Alltags legen darüber hinaus fest, was Menschen beim Fernsehen »interessant« oder »anrührend« finden. Sie geben die psychische Substanz des Fernseherlebens an.10 Worin liegt aber die Besonderheit, wenn alltagsweltliche Maximen, Orientierungen und Selbstkonzepte in der Form des FernSehens virulent werden? Es ist nicht weiter schwer festzustellen, dass das Fern-Sehen etwas mit Fühlen zu tun hat, auch mit Anschauung und Kenntnisnahme, oft auch mit Stimmungen, gelegentlich sogar mit ästhetischem Vergnügen. Das sind verschiedene Bewusstseinslagen, die beim Fernsehen wirksam sein können. Die analytische Aufgabe reicht über diese einfache Feststellung hinaus: Wenn beim Fern-Sehen immer auch Sinnorientierungen des Alltags mit ihm Spiel sind, wenn diese Sinnorientierungen des Alltags den Inhalt des Fernseherlebens wesentlich prägen, wie ist dieser Sinn dann dem Rezipienten gegenwärtig? Worin liegt der Unterschied, ob sich dem Fern-Sehenden die Prinzipien des Alltags dadurch erschließen, dass sie ihm vor Augen treten, oder dadurch, dass sie in sein Gefühl eingehen? Wie hat er sie dann für sich selbst? Diese besondere Art des »Habens«, der subjektiven Verfügung über das sinnhaft Dargestellte entscheidet über die subjektive Bedeutung des Fernsehens im Alltag. Auf der Suche nach einer theoretischen Klassifikation, die

9. Für eine Darstellung, wie diese generativen Prinzipien der Praxis das Alltagsleben strukturieren, siehe Kapitel 3 in Weiß 2001. 10. Die eben skizzierte Unterscheidung bezeichnet allein ein Grundgerüst der Analyse. Durch die Kombinatorik des Alltagsverstandes, die die Grundprinzipien in unterschiedlicher Akzentuierung miteinander verknüpft, und durch den von der Erfahrung aufgenötigten Bezug auf nach Lebenslagen sozial unterschiedlich konfigurierte Handlungsanforderungen und -ressourcen ergibt sich eine Vielfalt von Welt- und Selbstkonzepten, die insgesamt den Raum der Lebensstile ausmacht. Ebenso vielfältig wie die Formen alltäglicher Lebensführung dürften dann die Weisen ausfallen, das Fern-Sehen sinnhaft in den Alltag zu integrieren (vgl. Eichmann 2000).

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»Bewusstseinseinstellungen« darin unterscheidet, wie sie den Gehalt einer Wahrnehmung, einer Erfahrung für das Subjekt festhalten, wird man in der Psychologie Hegels (1986) fündig. In Anlehnung an diese Psychologie lassen sich vier Bewusstseinseinstellungen unterscheiden, die zugleich verschiedene Modi der Rezeption von Fernsehen bilden können:

3.1 Anschauen und Einstimmen Am Anfang steht die sinnliche Wahrnehmung. Ich unterscheide sie von der fühlenden Anschauung. In der Bewusstseinseinstellung der sinnlichen Wahrnehmung erfüllt sich das Bewusstsein des Rezipierenden mit der sinnlichen Präsenz des Medienstoffs. Das kann alles Erdenkliche sein: eine attraktive Figur, ein spannungsreicher Konflikt, eine dramatische Verfolgungsjagd oder ein Idyll sanfter Intimität. Es kann in dem Medienstoff, einer Geschichte beispielsweise, um Mut und Niedertracht, Liebe und Tod oder irgendetwas sonst gehen. Der Medienstoff ist – für diese Bewusstseinseinstellung, d.h. im Rahmen dieser Rezeptionsmodalität – ganz Farbe, Ton, Bewegung, mimetische Verkörperung von Sinn.11 Die Art, wie die sinnliche Wahrnehmung den Sinn auffasst, ist beschränkt und affirmativ: Der Rezipierende öffnet sich dem Reiz, den seine Augen und Ohren zu erkennen gelernt haben. Das Bewusstsein ist gereizt. Eine weitergehende Verfügung über den Rezeptionsinhalt verschafft es sich nicht. Denn das Bewusstsein ist in dieser Rezeptionsmodalität so »eingestellt«, dass es – mit einer Ausnahme – auf alle Unterscheidungen verzichtet. Der Rezeptionsmodus macht am medialen Reiz nur den einen Unterschied aus, ob er dem Rezipierenden behagt oder nicht. Diese Unterscheidung nimmt der Rezipient in der Stimmung wahr, in die ihn der Sinnenreiz versetzt. Zillmann (2004) macht das zum Kern seiner Arbeit. Seine »Mood-Management«-Studien handeln von dem Phänomen, dass

11. Dem Gedächtnis kommt dabei eine besondere Rolle zu. Denn die sinnliche Wahrnehmung fungiert durch das Wiedererkennen vertrauter Gestaltgebungen von Sinn. Die sinnliche Wahrnehmung erkennt darin den Sinn, ohne ihn anders zu erfassen und zu bezeichnen als eben in der konkreten sinnlichen Präsenz seiner Vergegenständlichung.

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Rezipienten gezielt solche Rezeptionserlebnisse aufsuchen, die eine gewünschte Wirkung auf ihre Stimmung haben.12

3.2 Vorstellen und Fühlen Vorstellen und Fühlen bilden eine »Bewusstseinseinstellung« von eigener Art. Sie verschafft eine andere Art subjektiver Verfügung über den Medieninhalt. Populäre Medienangebote handeln von Motiven, die irgendwie auch als Lebensthemen vertraut sind. Action-Filme beispielsweise handeln von der Durchsetzung des Einzelnen in einer von Feinden oder Feiglingen bevölkerten Welt. Melodramen handeln von den Mühen, die es kostet, seiner Liebe oder sich selbst treu zu bleiben usf. Solche Themen beschäftigen auch – wenngleich anders – das Denken des Alltagsverstandes. Der praktische Verstand sucht nach Erfolg versprechenden Wegen der Durchsetzung, wägt obendrein ab, was richtig ist, muss sich bei alledem mit Irritationen seiner vertrauten, aber nicht immer bewährten Routinen des Urteilens auseinandersetzen. Er hat dabei Ziele vor Augen, setzt kognitive Schemata ein, die Zweck-Mittel-Relationen bezeichnen, hantiert mit Vorstellungen von Ursachen und Wirkungen. All das macht die Gedankenarbeit des Alltagsverstandes aus. Für eine Rezeption im Modus des Vorstellens und Fühlens existieren die gleichen Themen und die gleichen Schemata auf eine andere Weise. Was sich der Alltagsverstand als Schlussfolgerung erarbeitet oder wenigstens als Orientierungswissen erwerben muss, z.B. eine Auffassung darüber, was in welcher Situation angemessen ist, das ersetzt die Vorstellungskraft durch eine Assoziation – durch die raumzeitliche Verknüpfung von szenischen Konfigurationen zu Geschichten. Der Tagtraum der Vorstellungskraft fügt Handlungsstränge durch die Kraft der Phantasie zusammen. Der Wahrnehmungspsychologe Frey spricht deshalb von »unbewussten Schlüs12. Es hat den Anschein, als würde Zillmann die praktische Ignoranz, die diese Rezeptionsmodalität auszeichnet, in eine theoretische Gleichgültigkeit gegenüber dem doppelten Ursprung von Empfindungen in (fiktiven) Erfahrungsobjekten einerseits und subjektiven Aspirationen andererseits übersetzen. Diese theoretische Ignoranz gegenüber dem Sinn von Empfindungen und Stimmungen rührt wohl von dem sozialtechnologischen Grundzug des Ansatzes her (Weiß 2001: 217-219).

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sen«, die von der Vorstellung bewerkstelligt werden (Frey 1999: 44). Es sind Schlussfolgerungen, die Gewissheiten schaffen, indem sie einer Idee für das erfolgreiche, das richtige oder das authentische Handeln Gestalt geben.13 Die Vorstellungskraft schafft Sinn-Bilder. Sie gibt Ideen, Idealen, Hoffnungen eine konkrete, anschauliche Gestalt. Wünsche für ein besseres, ein richtiges Leben lassen sich in Vorstellungsbildern anschauen. Sie werden gegenständlich. Das Fernsehen liefert nun einen nie versiegenden Strom solcher Sinnbilder. Fernsehen offeriert Tagträume, die man anschauen kann. Die der Vorstellungskraft verwandte Form, solche Sinnbilder subjektiv anzueignen, ist das Fühlen. Das Fühlen entspringt einem unablässigen Vergleichen zwischen dem Gegenstand einer Erfahrung und dem subjektiven Willen, was sein soll. Freude stellt sich ein, wo Wille und Erfahrung zusammen passen, Ärger, wo dieser Einklang vereitelt wird, Furcht, wo bedroht wird, was das Subjekt will usw. Die Substanz des Fühlens ist ein praktisches Verhältnis. Fühlen ist immer doppelt bestimmt: Das Fühlen ist einerseits Eindruck, Bestimmtsein durch einen Gegenstand der Erfahrung. Fühlen ist aber auch Ausdruck eines Willens, eines Aktes der Selbstbestimmung. Bestimmtsein und Selbstbestimmung in einem, diese Gleichzeitigkeit macht das Fühlen aus. Auch der Fern-Sehende lebt im Fühlen seine alltagspraktischen Grundhaltungen. Und er erlebt – eine populäre Dramaturgie vorausgesetzt – wie sie »gut ausgehen«, wie sie sich erfüllen. Im fühlenden Miterleben erfüllt sich für den Zuschauer seine Idee eines guten Lebens. Fern-Sehen besteht in dem Paradox eines Tagtraums, der erlebt wird. Fernsehen erschließt das Erleben von ungelebtem Leben. Es kommt hinzu: Der Rezipierende kann seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Denn er ist praktisch nicht betroffen. Und er ist auch nicht verantwortlich. Beim Fern-Sehen kann der Rezipient mit Genuss tiefe Trauer durchleben; denn ihn schützt das anhaltende Metabewusstsein zu seinem Fühlen, dass er mit einer Affek-

13. Die kommen in jeder Rechtfertigungsrede zur Sprache, auch wenn der Sprecher keinen Zweifel gelten lassen will. Er muss – spätestens im Fall der Widerrede – Gründe geltend machen, also über seine Schlüsse bewusst verfügen, um sie zu vertreten.

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tion spielt. Aus dem gleichen Grund schafft das Fern-Sehen auch einen Erlebnisraum, in dem der Zuschauer dunklen Gefühlen nachgeben kann, denen im Alltag zu folgen die Sitte oder sein Gefühl für Anstand verbieten würde. Fern-Sehen erschließt ein in beiden Hinsichten freies Fühlen.

3.3 Entziffern und Geniessen Dieser Rezeptionsmodus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich bei der Wahrnehmung den Werkcharakter des Medieninhalts gegenwärtig hält. Das Bewusstsein ist so eingestellt, dass die Art der Gestaltung im Zentrum der Aufmerksamkeit liegt.14 Das Entziffern sucht nicht in erster Linie zu begreifen, was die Inszenierung meint. Der Rezeptionsmodus ist vielmehr darauf angelegt wahrzunehmen, wie sie gemacht ist. Diese Bewusstseinseinstellung geht mit der Gestaltung des Medienstoffs souverän um – vergleicht die Gestaltung mit anderen Formen, das Thema zu behandeln, oder stellt sich alternative Gestaltungsweisen vor, nutzt also die Medienvorlage spielerisch und ästhetisch kreativ.15 Dieser kreative Umgang schafft auch Distanz zum Sinngehalt des Medienstoffs. Dieser wird aus dem Fokus der Rezeption gerückt. Er spielt eine Nebenrolle als bloßer Werkstoff für die ästhetische Gestaltung. Paradoxerweise wird der Sinn damit aber auch affirmiert. Denn die Rezeption nimmt ihn auf, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen.16 Auch der Rezeptionsmodus des Entzifferns hat eine emotionale Dimension. Sie unterscheidet sich vom Mitfühlen. Das Vergnügen

14. Suckfüll, Matthes und Markert ermitteln in ihrer Befragung »Produktion« und »Spiel« als zwei Momente des Rezeptionserlebens, deren Beschreibung zu dieser Bewusstseinseinstellung passt (2002: 203f.). 15. Für das Entziffern spielt die Medienerfahrung eine besondere Rolle. Die Vertrautheit mit einer Vielzahl von Versionen, Themen resp. Motive in Szene zu setzen, schafft die Grundlage für das ästhetische Vergleichen und das kreative Fortspinnen von Inszenierungen. 16. Die Gleichzeitigkeit von Distanz und Affirmation im ästhetischen Vergnügen ist den Autoren aus dem Umfeld der Cultural Studies eine heftige Debatte darüber wert, ob das populäre Vergnügen »Widerstand« gegen oder Einklang mit hegemonialen Sinngebungen anzeigt (Moores 1993).

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ergibt sich aus dem Geschmack und der Kompetenz, mit der das Raffinement der ästhetischen Produktion beurteilt wird.17

3.4 Anschauendes Begreifen Alle Versuche, Formen des Fern-Sehens zu typisieren (vgl. jüngst Gehrau/Bilandzic/Woelke 2005), sehen in der einen oder anderen Weise auch eine »analysierende Rezeption« vor. Der Rezeptionsmodus, der sich auf das Begreifen verlegt, geht – wie alles Denken – von der Anschauung aus. Aber er überwindet die Beschränktheit der sinnlichen Wahrnehmung. Und er geht auch über die Aneignung des Rezipierten in der Form des Fühlens hinaus. Das Begreifen übersetzt in Namen, was die Anschauung wahrnimmt. Es bringt das Rezipierte zur Sprache. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das Wahrgenommene den Operationen des Alltagsdenkens unterzogen werden kann. Das Bezeichnete wird auf seinerseits bestimmte und bezeichnete Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Diese Beziehung ist dem bezeichnenden Verstand in irgendeiner logischen Form, also einer Denkform verfügbar. Das anschauende Begreifen gibt dem Inhalt von Wahrnehmung und emotionalem Erleben eine Denkform. Die Verfügung besteht zunächst in der Kenntnisnahme. Sie bewährt sich in der Prüfung und Klärung der gedachten Beziehung. Die Elementarform dieser Verarbeitung besteht darin, das Rezipierte in die Formeln der fertig existierenden Weltanschauung zu übertragen. Brosius (1995) hat in seiner Analyse der »Alltagsrationalität« beschrieben, wie dieser Assimilationsprozess vonstatten geht, insbesondere bei der Rezeption informierender Sendungen. Viel funktioniert offenbar nach dem Motto: »Da sieht man’s doch mal wieder!« Im Zuge der Rezeption werden existierende Klischees durch ihre Applikation bekräftigt. Das sorgt für Vergewisserung. Eine solche weltanschauliche Vergewisserung ist sogar auf dem Wege des Fern-Sehens besonders komfortabel zu haben. Das Fernsehen liefert die Großen der Welt mit ihren abgezirkelten Sprachregelungen frei Haus ins Wohnzimmer. Wie es dann dort tönt, bleibt dem Betrachter ganz allein überlassen. Keiner redet ihm drein, wenn er applaudiert oder schimpft. Niemand drängt auf Kor17. Daraus lässt sich zudem das weitere Vergnügen an der sozialen Distinktion mittels ästhetischer Raffinesse ableiten.

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rektur, sollte der Betrachter das Dargestellte mutwillig verzerrt haben, um es bruchlos in die Schemata seiner Weltanschauung einpassen zu können. Die Urteile, in die der Rezipient das Wahrgenommene übersetzt, müssen sich keiner kommunikativen Validierung stellen. Medien liefern so den Stoff für ein freies, von Widerrede unbehelligtes weltanschauliches Meinen.18 Der Fern-Sehende kann allerdings auch eine andere gedankliche Stellung einnehmen, indem er sich »Neuigkeiten« aus dem Medium öffnet. Die »Neuigkeit« kann eine Information über politische Vorgänge sein; es kann aber auch die Figur aus einer Geschichte sein, die auf eine Weise handelt, die dem Betrachter fremd ist. Eine Bewusstseinseinstellung, die sich auf die Irritation durch eine solche Neuigkeit einlässt und sie im Denken für sich klärt, sorgt für mehr als für Vergewisserung der schon vorab bestehenden Auffassungen; sie kann das Weltbild erweitern. Auch das gehört zum kulturellen Potenzial des Fern-Sehens. Die Abbildung fasst die beiden analytischen Zugänge zusammen, deren Verbindung das Rüstzeug liefern soll, um den in der alltäglichen Lebensführung wurzelnden Sinn des Fern-Sehens entschlüsseln zu können.

18. Das hängt allerdings auch von der Machart der medialen Weltkonstruktion ab. Fügt sie sich ohne weiteres in die Klischees oder sorgt sie für deren »Irritation«? Darin lassen sich nicht nur Weltbilder der Rezipienten, sondern auch Typen des Journalismus unterscheiden.

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Abbildung: Alltagssinn des Fern-Sehens – handlungsleitende Orientierungen in verschiedenen »Bewusstseinseinstellungen« (A) erfolgsorientiertes Handeln (1)

sinnliches Wahrnehmen, Stimmung

(2) Vorstellen, Fühlen

(B) normorientiertes Handeln

(C) Handeln als Selbstverwirklichung

A-C affiziertes subjektives Prinzip wird in der Stimmung erlebt; Genres, die durch klischeehafte Einfachheit das mühelose Wieder-Erkennen von Figuren und Plot erlauben und so Sinne und Reflexe reizen – z.B. Action, Comedy Emotionale Vergewisserung über die Gültigkeit der Prinzipien und Schranken rechtmäßigen Erfolgs – z.B. Krimi Fiktives Ausleben der Phantasien unbedingter Durchsetzung – z.B. Action Schadenfreude über fremden Misserfolg, defensive Selbstbehauptung im fiktiven Vergleich – z.B. Komödie, Real-LifeShow

Vergewisserung über die Gültigkeit der normativen Ordnung im moralischen Empfinden – z.B. Western, Kriegsfilm, Krimi, Drama Mitleben am Schicksal von Liebe, Freundschaft usw., Rührung über tapferes Scheitern, Freude über das Gelingen im Vorschein des »richtigen Lebens« – z.B. Melodram

(3) Entziffern, Genießen

A-C Thema herabgesetzt zum bloßen Stoff für das Unterscheidungsvermögen des Geschmacks; Genres und Inhalte mit »Anspruch«, der Machart erwägenswert macht

(4) anschauliches Sammeln und Taxieren Begreifen von Neuigkeiten mit Nutzwert für erfolgreiches Handeln im Alltag – z.B. Lokal- und Ratgebersendungen Orientierung über Handlungsoptionen – Geschichten von »Erfolgsmenschen« – z.B. Boulevard- und People-Magazine

Orientierung über Meinungsströmungen Freies Räsonieren als Form theoretischer Selbstbehauptung in Gestalt der »persönlichen Meinung« – z.B. via Tagesschau Begreifen von Problemdeutungen und Handlungsstrategien – z.B. politische Magazine

Fühlen als Form selbstbestimmten Erlebens Teilhabe an Erscheinung und Vita einer geglückten Persönlichkeit, einfühlende Identifikation mit dem VorBild – z.B. Helden (des Erfolgs, der Rechtschaffenheit, der Liebe) in allen Genres; Mitleben in vorgestellter kollektiver Identität – z.B. Sportübertragung

Orientierung über Repertoire expressiver Stile der Lebensführung Selbstvergewisserung durch sozialen Vergleich – z.B. Reality-Shows Kulturelles Räsonnement über moderne Identität – z.B. Talksendungen

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4. Beispiele für den alltagspraktischen Sinn des Fern-Sehens Das erste Beispiel handelt von dem Motivkreis des richtigen Lebens, welcher beim Fern-Sehen in der Bewusstseinseinstellung des fühlenden Miterlebens gegenwärtig wird. So erzählt das Fernsehen beispielsweise in den populären »Soap Operas« Geschichten, die in der Auswahl der Themen und der Zeichnung der Figuren an den Alltag angelehnt sind und doch ganz anders sind als der Alltag. Sie sind in einer entscheidenden Hinsicht eine idealisierte Version des Alltags: Das gespielte Geschehen scheint nämlich durch nichts anderes als die dramatische Verwicklung subjektiver Bestrebungen beherrscht, die von Liebe und Erfolg, Vertrauen und Verrat, Zusammenhalt und Enttäuschung handeln. Der unerbittliche Zwang sachlicher Notwendigkeiten, alle Momente der Heteronomie, die den Alltag reich an Pflichten, aber arm an zufrieden stellenden Erfahrungen machen, treten in der idealisierten Version der Fernseherzählung in den Hintergrund. »Soaps« erzählen vom Leben so als ob es allein von subjektiven Aspirationen und ihren Praxen beherrscht wäre. Dieses »Als ob« wurzelt in alltagsweltlichen Orientierungen. Liebes und Livingstone zeigen beispielsweise, wie Seifenopern auf die alltägliche Erfahrung der Unwägbarkeit und Fragilität des modernen Beziehungslebens anspielen. Ihr Spiel mit diesem Lebensthema setzt den immerwährenden »Kampf« um ein romantisches Ideal in Szene, das Ideal des in der Liebe gefundenen »Glücks« (Liebes/Livingstone 1998: 174f.). Die Dramatisierung dieses gelebten Beziehungsideals, das drohende und dann doch noch abgewendete Scheitern, gibt dem »Als ob« des vom Fernsehen inszenierten Alltags Pathos und Tiefe. Die »Tiefe« verdankt sich dem Anschein, dass ein lebendiges Geschehen augenscheinlich durch nichts Anderes als ein subjektives Lebensideal bestimmt wird. Das Mit-Leben in der Rezeption kann in einer beschwingten Laune angesichts der vorgestellten glücklichen Fügung oder in der tränenreichen Rührung angesichts der melodramatischen Verwicklungen bestehen. Indem sich die Betrachterin oder der Betrachter in das durch die Mediengeschichte evozierte Gefühl versenkt, lässt sie oder er sich ganz von dem alltagsweltlichen Lebensideal erfüllen, das seinem Fühlen zugrunde liegt. Der Fern-Sehende macht diese psychische Bewegung zum Inhalt einer selbstzweckhaften, von den 147

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praktischen Drangsalen und Disziplinierungen werktäglichen Handelns befreiten Tätigkeit – eben zum Inhalt kulturellen Handelns. Darin ist das Fernseherleben in einem Zuge kulturelle Überhöhung und Vergewisserung alltagsweltlichen Sinns. In eine Formel zusammengefasst: Die populäre Kultur des Fernsehens ist eine von praktischen Handlungszwängen und Notwendigkeiten entbundene »Sinnprovinz« innerhalb des Alltags, die den Traum des erfüllten Alltagslebens anschaubar und erlebbar macht (Weiß 2001: 334ff.). Das zweite Fallbeispiel handelt von medienvermitteltem Alltagswissen. Bei dieser Art des Fern-Sehens geht es um Weltanschauung in einem praktischen Sinn – um Weltanschauung als Wissensreservoir, das Handlungen anleitet. Dieses medienvermittelte Allerweltswissen kann für alle drei verschiedenen »Aktor-Welt-Bezüge« subjektiv wichtig werden – auf je besondere Weise. A) Zunächst dient die fernsehvermittelte Weltanschauung einer Art Taxieren: Ändert sich etwas in den für meine individuelle Lebensführung maßgeblichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen? Dieser taxierende Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ergibt sich aus dem instrumentellen Handlungsmodus, der auf die Sicherung des Eigennutzes programmiert ist. Ob es um Hartz IV, eine PKW-Maut, die Wasserstandsmeldungen vom Arbeitsmarkt oder die Wachstumsraten der Exportwirtschaft geht, der instrumentelle Alltagsverstand hält sich bei alledem »auf dem Laufenden«. Er entnimmt der »Tagesschau« in einem der populären Programme, ob etwas vor sich geht, worauf er sich möglicherweise in seiner praktischen Lebensführung einstellen muss. Rezeptionsstudien kommen dabei wiederholt zu dem überraschenden Befund, dass der täglichen Flut der Katastrophenmeldungen vielfach eine Beruhigung entnommen wird. Da mag es verheerende Flutwellen in fernen Ländern geben, das Gespenst einer nationalsozialistischen Partei wieder erstehen, die Zahl der Arbeitslosen sich 5 Millionen annähern – die Nachrichtensprecher bringen das alles pünktlich zur vertrauten Stunde in eine Ordnung, haben zu allem etwas zu sagen oder doch einen Politiker oder sonstigen Experten zur Hand, der mit von Selbstzweifeln freier Gewissheit erklärt, was nun zu tun ist. Auch so lässt sich für den Alltagsverstand durch das Fern-Sehen die fragile Gewissheit auffrischen,

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dass die Welt, so wie er sie für sich sortiert hat, in ihren Grundzügen intakt bleibt. Das mediale »Fenster zur Welt« kann dem taxierenden Blick des praktischen Alltagsverstandes aber auch offenbaren, dass Gefahr im Verzuge ist, dass Bedingungen sich wandeln, die der alltäglichen Lebensführung bisher Struktur und Halt gegeben haben. Für die instrumentelle Perspektive erfolgsorientierten Handelns werden damit Anstrengungen nötig, die Lebenslage zu konsolidieren – durch eine Riester-Rente, den Umzug in augenscheinlich weniger daniederliegende Regionen oder was auch immer sonst. Das Fernsehen wird zum Impulsgeber für Anpassungshandlungen und spart auch nicht mit Ratschlägen, wie sich die vielköpfige Zahl der Betroffenen jeweils als Einzelne auf den sozialen Wandel einstellen kann, der ihnen von makroökonomischen Prozessen oder politischen Entscheidungen aufgeherrscht wird. Die durch das Fernsehen wahrgenommene Irritation praktisch benötigter Gewissheiten kann darüber hinaus im Horizont des normativen »Aktor-Welt-Bezuges« reflektiert werden. Die vom Fernsehen gelieferte Information wird dann als Provokation der individuellen Auffassung von der richtigen Ordnung der Welt wahrgenommen und kann so zum Impuls für kommunikatives oder praktisches, d.h. politisches Anschlusshandeln werden. B) Die beim Fern-Sehen gewonnene Anschauung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit sorgt nämlich auch in einem zweiten Sinn für Orientierung. Der Einzelne kann sich darüber orientieren, welche Auffassungen in einer Gesellschaft darüber vorherrschen, was richtig und legitim ist. Er wird beispielsweise hören und sehen, dass der Wert der »sozialen Gerechtigkeit« von allen maßgeblichen Akteuren, die sich öffentlich ohne weiteres äußern können, heutzutage als Synonym für Wirtschaftsförderung buchstabiert wird – etwa im Sinne der Formel: »Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft«. Auch wer eine andere Auffassung von sozialer Gerechtigkeit vertritt, wird das Bild, welches das Fernsehen von der Hegemonie dieses Standpunktes zeichnet, in Rechnung stellen – beim Reden und beim Handeln. Schon im einfachen Gespräch über soziale, wirtschaftliche und politische Fragen wird derjenige, der etwa traditionelle gewerkschaftliche Positionen vertritt, damit rechnen, dass er aus einer Minderheitenposition, aus einer Position der »Abweichung« von

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Ralph Weiß

der gesellschaftlich vorherrschenden Auffassung agiert; demgegenüber können Anhänger der erstgenannten Meinung aus der Gewissheit heraus auftreten, die vorherrschende Meinung im Rücken zu haben. Die »Theorie der Schweigespirale« handelt von der Frage, was diese kommunikative Asymmetrie für das Funktionieren von Öffentlichkeit und Politik bedeutet (Noelle-Neumann 1980). Die einen mögen mit Blick auf das Fernsehbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu dem Schluss kommen, dass die Welt derjenigen, die sich machtvoll auf der Bühne des Mediums äußern, augenscheinlich nicht mehr die ihre ist, so dass sie sich wie ein »Theater« ausnimmt. Sie richten sich im Schatten der Bühne praktisch ein und machen ihre individuelle Auffassung von einer gerechten Welt, die ihnen zupass kommt, allein mit sich selbst ab – in der Form eines Meinens, das geschieden von praktischem Tun und insofern bloß »theoretisch« sein will. Andere werden sich vom Politikporträt des Fernsehens herausgefordert sehen, in das öffentliche Ringen um die Definition des Richtigen einzugreifen und sich in der Folge vermehrt darüber orientieren, woran sie in der Sphäre öffentlichen Meinungsstreits anschließen und wie sie sich dort vernehmbar machen können.19 Welches Anschlusshandeln der Rezipient auch immer folgen lässt, die Tätigkeit Fern-Sehen ist konstitutiv in den Modus normorientierten Handelns integriert. C) Auch für den dritten Sinnhorizont alltagsweltlichen Handelns, für die Praxis der Selbstverwirklichung, wird die aus dem Fernsehen bezogene Weltanschauung wesentlich. Das Fernsehen liefert den Stoff für ein freies subjektives Meinen. Ist die NPD ein Schaden für Deutschland? Sollen wir auf den A 380 stolz sein? Was müssen wir von Bush erwarten? Was für ein Mensch ist die Kanzleramtskandidatin? – Das Fernsehen liefert die Welt frei Haus. Und es liefert Beurteilungen und Bewertungen gleich mit. So lädt es den Betrachter unentwegt ein, selbst in Gedanken Position zu beziehen. Es ist eine Positionierung ohne Risiko. Denn der Betrachter macht sie ganz mit sich selbst ab. Er muss für sie nicht einstehen. Seine Teilhabe an dem Geschehen auf den großen Bühnen der 19. Die Analyse sozialer Bewegungen hat ergeben, dass die mediale Präsenz solcher Bewegungen nicht nur für die Durchsetzung ihrer Anliegen, sondern bereits für die Konstitution dieser fragilen sozialen Netzwerke von zentraler Bedeutung ist (vgl. Schmitt-Beck 1998).

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Mächtigen und Prominenten belässt ihn in dem geschützten Raum seiner häuslichen Privatheit. Dort kann er nach Herzenslust die Welt über den Leisten seiner ganz persönlich entwickelten Anschauungsweisen schlagen. So trägt das Fernsehen als Fenster zur Welt zu einer besonders komfortablen Form der Selbstverwirklichung bei: Indem es zum freien Meinen einlädt, wird das Fernsehen zu einem Medium einer anstrengungslosen intellektuellen Selbstbehauptung.

5. Schluss: Fern-Sehen als kulturelles Handeln im Alltag Das Fern-Sehen ist eine spezifische Handlungsform im Alltag. Es besteht in der Auseinandersetzung mit (populär-)kulturellen Objektivationen von Sinn. Fern-Sehen ist kulturelles Handeln im Alltag und für den Alltag. Fern-Sehen erneuert und sichert die Orientierung in der umgebenden Sozialwelt. Gerade die unterhaltende Rezeption macht die kulturell überhöht dargestellten Handlungsmuster und Persönlichkeitsideale des Alltagssinns zum Inhalt eines »reinen«, von den Anfechtungen und Einschränkungen der Alltagserfahrung bereinigten Erlebens. So erneuert sich die subjektive Gewissheit über den Sinn der Ziele und die Geltung der vertrauten Regeln alltäglicher Lebensführung auch und gerade dann, wenn die Alltagserfahrung sie gefährdet, brüchig oder mehrdeutig erscheinen lässt. Die Selbst- und Weltgewissheit erneuern sich durch das medienkulturelle Handeln im Rahmen des Alltags.

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Ralph Weiß

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Der Alltagssinn des Fern-Sehvergnügens

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Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel

Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel. Formen der Bildbearbeitung zwischen Information und Verschleierung Christian Schicha

Einleitung Beim Blick in die Boulevardpresse gehört es zur Normalität, dass Fotos von Politikern regelmäßig bearbeitet werden. Dazu einige Beispiele: – So bekam Angela Merkel in der Ausgabe der BILD-Zeitung vom 28. November 2005 einen Schutzhelm mit Deutschlandfahne als Symbol für die zahlreichen Politikbaustellen verpasst, die als Regierungschefin auf sie warten. – Auf dem Titel dieser Zeitung vom 8. November 2005 wurden unter der Überschrift »Die Große Koalition der Diebe« die Nasen der Politiker Merkel, Stoiber und Müntefering künstlich verlängert. In dicken roten Buchstaben war unter den Abbildungen zu lesen: »Ihr Steuerlügner!« – Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat in einer ganzseitigen Werbeanzeige in der ZEIT vom 24. November 2005 unter der Schlagzeile »Deutschland kann mehr« den Kopf der Bundeskanzlerin auf den Körper von Ludwig Ehrhard montiert, um die Bundesregierung zur Durchsetzung umfassender Reformen zu motivieren. – Und auch die WELT-KOMPAKT betreibt Eigenwerbung in einer 155

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Anzeige für die Zeitung mit dem Slogan »Zeitung der neuen Generation« u.a. mit einem Kinderbild, das deutliche Züge der CDU-Vorsitzenden aufweist. – Ein Autovermieter warb bereits vor Jahren für seine Dienste mit dem Spruch »Mieten Sie ein Cabrio«. Gezeigt wurde ein Bild von Merkel, bei der ihre Frisur computertechnisch verändert worden ist. Der nachfolgende Beitrag wird unterschiedliche Formen der Bildbearbeitung vorstellen und bewerten. Es werden konkrete Beispiele skizziert, die in politischen und künstlerischen Kontexten zu finden sind und über die Printmedien transportiert werden. Aus einer medienethischen Perspektive ist schließlich zu reflektieren, wo die moralisch zulässigen Grenzen der Bildbearbeitung liegen. Darüber hinaus werden zunächst allgemeine Spezifika von Bildern aufgrund unterschiedlicher Bildfunktionen und Bildtypen aufgezeigt, um die Bedeutung von visuellen Eindrücken im Rahmen der Wahrnehmung zu verdeutlichen.

Zur Relevanz von Bildern »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte« ist ein altes chinesisches Sprichwort, das in Deutschland durch einen Artikel von Kurt Tucholsky im Jahr 1926 bekannt geworden ist. Die Fotografie galt für Walter Benjamin in seinem gleichnamigen Band als das erste »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« und bis heute sind wir von einer Bilderflut umgeben, die uns die audiovisuellen Medien ins Haus bringen. Weltereignisse von der Mondlandung über Eindrücke von Kriegen bis hin zu zentralen Sportereignissen werden uns primär über Bilder vermittelt. Vor der Sprache ist in der Entwicklung des Menschen zunächst die visuelle Wahrnehmung ausgeprägt. Das Erzeugen von Informationen mit Bildern verläuft nicht linear, sondern kreisförmig, und es ist nicht immer einfach zu entscheiden, wo diese Entwicklung beginnt, da unsere Erfahrung und unser Vorwissen die Erkundung des Bildes ermöglicht und prägt. Nachdem die Aufmerksamkeit für ein Bild erlangt worden ist, werden Figuren und Muster wahrgenommen und interpretiert, die dann in den individuellen Erfahrungshorizont des Einzelnen überführt werden. Insofern ist das 156

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Sehen – bereits durch den Auswahlprozess – ein aktiver Vorgang (vgl. Meutsch 1990). Aufgrund der zahlreichen visuellen Reize, die auf die Menschen einwirken, werden nur wenige bewusst wahrgenommen und interpretiert. Die meisten optischen Eindrücke verlaufen – etwa beim Autofahren – routinisiert. Es ist nicht möglich, die Bildeindrücke einer kurzen Autofahrt auch nur annähernd exakt wiederzugeben, da nur ein Bruchteil der optischen Reize für die angemessene Bewältigung der Strecke von A nach B wirklich wichtig ist, um Unfälle zu vermeiden und das Fahrziel zu erreichen. Mit Hilfe von Bildern lassen sich Sachverhalte auf vielfältige Weise präsentieren. Es können Dinge dargestellt werden, die den Blickwinkel des menschlichen Auges bei weitem überschreiten (z.B. Luftaufnahmen, Fotomontagen, Rundsichten). Durch den Einsatz von Bildtechniken können durch Transformationen, Verzerrungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen neue Perspektiven eröffnet werden. Welten im »Inneren« des Menschen können ebenso dargestellt werden wie Vorstellungen und Träume. Als Ergebnis der bisherigen Forschung lässt sich feststellen, dass das Bildliche stärkere Emotionen auslöst und nachhaltiger wirkt, als das geschriebene oder gesprochene Wort (vgl. Kepplinger 1987). Die Aufmerksamkeit richtet sich in der Regel stärker auf die emotional ansprechenderen visuellen Signale, so dass das gesprochene Wort einen geringeren Stellenwert bei der Wahrnehmung der Informationen erhält. Die bildliche Darstellung wirkt in der Regel realistisch, authentisch und glaubwürdig. Es gelingt ihr stärker, eine emotionale Regung zu erzeugen als der verbalen Codierung. Überspitzt formuliert: »Während die Wortnachricht erst durch den ›Verdauungstrakt‹ der kognitiven Informationsverarbeitung gehen muß, nehmen wir Bildnachrichten gleich intravenös auf.« (Schulz 1996: 6) Die Visualisierung vor allem in den Medien führt dazu, dass die »assoziative Kraft« der Bilder durch die filmische Dynamik einen »Erlebniskontext« bei den Rezipienten erzeugt, der authentizitätsstimulierend wirkt. Durch ihre filmischen Darstellungsmöglichkeiten ist die Visualisierung der Verbalisierung und der Textualität strukturell überlegen, da mit dem Reservoir technischer Bildbearbeitungsoptionen mehr Sinne der Rezipienten erreicht und damit ein höherer Grad an Emotion und Authentizitätsfiktion erzielt werden kann. Bilder können Atmosphäre und Stimmungen von Per157

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sonen darstellen, Emotionen erzeugen und Realitätsillusionen entstehen lassen. Gestaltungskonventionen und Funktionen von visuellen Präsentationselementen, Embleme für wiederkehrende Sendungssegmente, immer gleiche Bilder der »Anchorpersons« in den Fernsehnachrichten und Graphiken können unterstützend dazu beitragen, Sachverhalte verständlich zu machen. Die rhetorische Persuasion liegt mithin in erheblichem Maße schon im Einsatz der Bilder selbst. Das bewegte Bild genießt Priorität bei der Selektion von Reizen. Durch die affektive Wirkung des Bildes fällt den Rezipienten die Distanz schwer. Bilder und Filmmaterial erzeugen die Illusion, dabei zu sein. Es wird den Zuschauern der Eindruck vermittelt, dass sie sich durch die visuelle Präsentation als Augenzeugen selbst ein Bild machen können und direkt an dem Ereignis teilnehmen. Sie sind aufgrund der rhetorischen Übermacht des Bildlichen auch ohne rationale Prüfung der Informationen und Argumente zu überzeugen.

Bildfunktionen Ursprünglich wurde der Visualisierung die Aufgabe zugeschrieben, bestimmte Inhalte durch Bilder zu komplettieren und transparent zu machen (vgl. Domsich 1991). Diese »Ergänzungsfunktion« hat sich jedoch hin zu einer »Dominierungsfunktion« gegenüber den übrigen Informationsquellen (Schrift, Wort) verändert. Die Bildfunktionen sind für Lernprozesse im Zusammenwirken von Texten von entscheidender Bedeutung (vgl. Meutsch 1990): – Durch ihre »dekorierende Funktion« erhöhen sie die Attraktivität von Texten und ermöglichen einen Ebenenwechsel zwischen dem geschriebenen Wort und dem visuellen Moment, wodurch Abwechslung entsteht. – Bilder in »repräsentativer Funktion« hingegen besitzen einen Bezug zu den Inhalten von Texten. Sie bilden Hauptpersonen und Objekte ab, die im Text eine zentrale Rolle übernehmen und akzentuieren damit durch Hervorhebung die relevanten Personen. – Bilder mit einer »organisierenden Funktion« wie etwa eine Gebrauchsanweisung sollen dazu beitragen, das Verständnis kom158

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plizierter Textpassagen zu erleichtern. Sie sollen z.B. unterstützend dabei helfen, einen Gegenstand fachgerecht zusammenzubauen. – Die »interpretierende Funktion« von Bildern soll bei komplizierten Textpassagen Vergleiche mit bereits bekannten Prinzipien ermöglichen, um zu einem besseren Textverständnis zu gelangen. Zum Verständnis von Elektrizität kann etwa in einer visuellen Darstellung auf Analogien mit dem Wasserkreislauf zurückgegriffen werden. – Die »transformierende Funktion« sorgt dafür, dass Bilder eine Gesamtaussage anbieten, die nachträglich durch Detailinformationen im Text erläutert und weitergehend ausdifferenziert wird. – Weiterhin gibt es Bilder mit einer »Erläuterungsfunktion«, die durch Statistiken, Grafiken, und Diagramme spezifische Entwicklungen – etwa in Form von Meinungsumfragen – in komprimierter und übersichtlicher Form visuell erklärt.

Bildtypen Im verschärften Wettbewerb um Zuschaueranteile geht es auch im Rahmen der Berichterstattung nicht um informativere, sondern um attraktive Informationssendungen. Dabei werden nicht nur laufend neue Sendungsformate entwickelt, sondern auch neue Visualisierungsstrategien erprobt. Es wird sowohl auf elektronische Bildbearbeitungstechniken als auch auf Darstellungsformen aus dem fiktionalen Kontext zurückgegriffen. Einer gängigen Auffassung nach haben Bilder in Nachrichten- und Magazinsendungen vor allem eine illustrierende Funktion, womit der sprachliche Text zum eigentlichen und ursprünglichen Informationsträger gemacht wird, dem das Bild untergeordnet ist. Dem widerspricht schon allein die journalistische Praxis, dass einzelne Beitragssegmente und ganze Themen häufig nur deshalb ausgewählt werden, weil geeignete Bilder vorliegen. In der redaktionellen Praxis geht es entsprechend nicht darum, den sprachlichen Text zu illustrieren, sondern – im Gegenteil – zum vorhandenen Bildmaterial den ›richtigen‹ Kommentar zu texten. Insgesamt lassen sich eine Reihe von Bildtypen skizzieren, die im Folgenden dargestellt werden: Das Erläuterungsbild übernimmt eine unterstützende Funktion gegenüber der verbalen Information, indem es einen Zusammen159

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hang, über den im Text gesprochen wird, visuell ›begreifbar‹ macht. Dabei antwortet es auf Fragen der Zusammenhänge. Die primäre Funktion ist also die didaktische Form der Verständnissicherung. Bilder dieser Art beruhen auf Diagrammen und Trickgrafiken. Das prominenteste Beispiel ist wohl die Wetterkarte, die sich ja in den letzten Jahren zunehmend aufwändiger Inszenierungen erfreut. Das Demonstrationsbild ist dem Erläuterungsbild zwar eng verwandt, unterscheidet sich aber dadurch von ihm, dass die wesentlich neue Information auf der Bildseite liegt, bzw. der Inhalt des Bildes als noch nicht bekannt vorausgesetzt wird. Es antwortet auf die Frage nach der konkreten Ausgestaltung. Dabei handelt es sich vorzugsweise um Realbilder in einem mehr oder weniger illustrativen Verhältnis zum Text. Es geht darum zu zeigen, worüber im Text gesprochen wird. So kann man zum Beispiel dem Zuschauer vermitteln, wie ein neues Automodell tatsächlich aussieht. Unter die Kategorie des Darstellungsbildes fallen in dieser Perspektive die bereits skizzierten stereotypisierten »Schnittmusterszenen«, die jeder Nachrichtenzuschauer nunmehr seit Jahrzehnten kennt: Politiker be- oder entsteigen Limousinen oder Flugzeugen, unterzeichnen Verträge, schütteln Hände usw. Politiker sehen sich dabei gerne als »Erlöser«1 (vgl. Prokop 1999), indem sie durch eine symbolische Scheinhandlung den Eindruck suggerieren, dass sich die Probleme durch ihren Auftritt tatsächlich lösen ließen. So sollte der Besuch von Bill Clinton bei seinen amerikanischen Soldaten in Deutschland während des Kosovokrieges die Solidarität des amerikanischen Volkes symbolisieren. Als optisches Signal trug der Präsident eine Bomberjacke, um die Verbundenheit mit der Armee zum Ausdruck zu bringen. Vom bloßen Darstellungsbild muss man das Relationsbild unterscheiden, das eine bestimmte Beziehung ausdrückt und dabei 1. Dieses Bild sollte insbesondere im Rahmen der NS-Propaganda in Filmen wie »Triumph des Willens« der verstorbenen Regisseurin Leni Riefenstahl vom Reichsparteitag der NSDAP vermittelt werden, um den Führermythos zu stärken. Dabei wurde der Diktator durch besondere Kameraeinstellungen, -fahrten und Schnitttechniken ins »rechte Licht« gesetzt. Die Strategie ging auf. Die suggestive Wirkungskraft der Bilder trug dazu bei, dass die Filmszenen speziell mit Hitler im Rahmen der Kinoaufführungen von den Zuschauern bejubelt wurden.

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erst durch den Zusammenhang mit dem verbalen Text verständlich wird. Die Bilder von Kohl und Gorbatschow beim Spaziergang in Alltagskleidung haben nicht einfach nur zwei hemdsärmelige Herren beim Spaziergang gezeigt, sondern sind zum Symbol für die deutsch-sowjetische Verständigung im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung geworden. Im Hinblick auf die Funktion und den emotionellen Wert muss man unterscheiden zwischen Bildern, die konkrete Handlungen wie eine Vertragsunterzeichnung zeigen und handlungsbetonten Bildern, bei denen eine Tat oder eine dramatische Aktion im Mittelpunkt stehen. Das Aktionsbild ist umrissen durch ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Situation, aus der eine Handlung hervorgeht, die wiederum die Situation modifiziert. Aktionsbetonte Bilder stehen weniger für sich selbst als dass sie einen emotionell interessanten Übergang zeigen, die plötzliche und aktionsreiche Veränderung einer Situation. In diesem Sinne ist das Aktionsbild Teil einer Handlungsfolge, einer Kausalkette mit einer als Auslöser zugrunde liegenden Ursache und einer Folge. Bildern von einer Geiselbefreiung zum Beispiel muss eine nicht minder dramatische Geiselnahme, der Sturm auf das Gebäude, die Zuspitzung der Situation vorausgegangen sein, und die gezeigte Befreiung selbst hat Folgen wie Tote oder Verletzte, das Abführen der Gangster, die ersten Schritte der Geiseln in die Freiheit, die förmlich danach verlangen, ebenfalls auf dem Bildschirm präsent zu sein. Der Dramatisierungseffekt besteht in der Steigerung des unmittelbaren Erlebens und in der Intensivierung des Eindrucks, ein bewegtes emotional interessantes Geschehen zu verfolgen. Obwohl aktionsreiche Bilder den Nimbus der Einzigartigkeit verbreiten sollen, bedienen sie in der Regel konventionelle Schemata und das visuelle Material hat auch hier einen relativ hohen Konventionalisierungsgrad bei der Darstellung von Kriegshandlungen, Polizeieinsätzen, gewalttätigen Ausschreitungen usw., die sich primär an den sogenannten »Nachrichtenfaktoren« orientieren, bei denen u.a. Konflikte, Auseinandersetzungen und Kontroversen für den Selektionsgehalt von Nachrichten darstellen. Im Zeitalter der totalen Manipulierbarkeit des Bildes sind Film und Video keine Beweise für die Existenz des Gezeigten – und produzieren dennoch Glaubwürdigkeit. Es gibt letztendlich für den Zuschauer jedoch keine absolute Sicherheit, dass Bilder von 161

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Kriegsopfern in den Nachrichten tatsächlich wirklich aus der Krisenregion stammen, über die aktuell berichtet wird. Sie können ebenso gut bei einer anderen kriegerischen Auseinandersetzung gedreht worden sein oder gar gestellt sein. Nirgendwo wird so massiv gelogen wie im Kontext der Kriegsberichterstattung, wo die Zensur einen bedeutenden Stellenwert einnimmt (vgl. Schicha 1999). Der Authentizitätseffekt von Bildern ist mit Begriffen wie »Augenzeugenillusion« oder »essentialistischer Trugschluss« (Kepplinger 1987: 303) beschrieben worden. Sofern der Zuschauer tatsächlich getäuscht wird, könnte man von einem Manipulationsbild sprechen. Die Wirkung emotionaler oder aktionsreicher Bilder kann durch die Strategie forciert werden, ein Schockbild zu zeigen. Dabei werden etwa die Schrecken des Krieges am eindrucksvollsten durch das Frontalbild eines getöteten Opfers dokumentiert. Der »Idealtyp« des Affektbildes ist die Großaufnahme eines Gesichts oder eines anderen Körperteils, das im Detail gezeigt wird, um einen bestimmten Eindruck zu suggerieren. Bilder dieses Typs sind in gewissem Sinne aus dem zeit-räumlichen Zusammenhang eines Geschehens herausgehoben und konzentrieren sich ganz auf eine emotionale Qualität. Sie sind deshalb nicht auf die Großaufnahme beschränkt, sondern schließen unter bestimmten Bedingungen auch die Naheinstellung ein. Eine Sonderform des Affektbildes ist die Körperdetailaufnahme, die offensichtlich die Absicht verfolgt, Indizien für den emotionalen Zustand oder den Charakter einer Person einzufangen.2

2. So wird z.B. in politischen Talkshows die Unruhe der am Gespräch beteiligten Protagonisten häufig durch die Kamera eingefangen. Dort ist das nervöse Wackeln mit dem Fuß ebenso zu sehen wie die Schweißperlen auf der Stirn. Durch eine professionell eingesetzte Kameraregie kann es gelingen, einen Politiker entsprechend vorteilhaft und unvorteilhaft wirken zu lassen. Im amerikanischen Wahlkampf wurde bei der Fernsehdebatte der Kandidat Nixon im Gegensatz zu seinem Konkurrenten Kennedy auf der visuellen Ebene sehr unvorteilhaft präsentiert. In den USA wird bis heute diskutiert, ob die Bilder des Fernsehduells entscheidend dazu beigetragen haben, dass Kennedy die Wahl gewonnen hat. Während die Radiohörer in der parallel ausgestrahlten Rundfunksendung eindeutig Nixon aufgrund seiner stärkeren verbalen Argumente als Sieger bewerteten, kamen die Fernsehzuschauer des

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Neben dramatisierenden und emotionalisierenden bzw. psychologisierenden Bildern existieren sogenannte Motivationsbilder, die dadurch Aufmerksamkeit erzeugen, dass sie sich auf sich selbst beziehen, also autoreflexiv erscheinen, indem sie die Aufmerksamkeit des Betrachters in besonderer Weise darauf lenken, wie sie gemacht sind, bzw. unter welchen außergewöhnlichen Umständen sie entstanden sind. Ungewöhnliche Kameraperspektiven lassen sich dabei auf eine besonders dramatisierende oder psychologisierende Absicht zurückführen. Sie werden bei banalen und unspektakulären Vorgängen eingesetzt, um zusätzliche Reize beim Zuschauer zu wecken, das angebotene Programm zu konsumieren. Triviale Alltagshandlungen – z.B. eine Politikerrede – werden etwa aus der Froschperspektive gefilmt, um einen visuellen Spannungsbogen aufzubauen. Es werden weiter Varianten von Bildbearbeitungstechniken genutzt, um die Zuschauer zu gewinnen. Beim Schachtelbild etwa wird der Bildschirm geteilt, so dass zwei miteinander sprechende Personen gleichzeitig zu sehen sind. Besonders bei Interviews und Korrespondentenberichten ersetzen die Redaktionen das bekannte Schuss-Gegenschuss-Prinzip durch einen elektronisch inszenierten Dialog auf dem Bildschirm. Durch diese Technik sind die wechselseitigen mimischen und gestischen Reaktionen der beiden Protagonisten zu den jeweiligen Äußerungen des »Gegenübers« unmittelbar wahrnehmbar. Die skizzierten Techniken fallen noch nicht in den Bereich der Lüge, Täuschung und Manipulation im Rahmen der Bildbearbeitung, auf die im Folgenden eingegangen wird. Dennoch prägt die gewählte Form der Bildperspektive und der Bildbearbeitung die Wirkung bei den Rezipienten und kann – etwa aufgrund einer übertriebenen Dramatisierung – durchaus manipulative Züge aufweisen.

Disputs aufgrund der negativen optischen Wirkung von Nixon zu einem gegenteiligen Ergebnis (vgl. Schicha 2003).

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Christian Schicha

Lüge, Täuschung und Manipulation im Rahmen der Bildbearbeitung Täuschung und Manipulation sind Kategorien, die mit negativen Konnotationen versehen sind. Die Manipulation ist eine Form der Beeinflussung, die dies möglichst unauffällig bewerkstelligen möchte, ohne dass der Adressat es merkt. Jede bewusste Manipulation ist eine Fälschung. Für die Bildbearbeitung gilt, dass Fotos als gefälscht klassifiziert werden, die durch das absichtsvolle Hinzufügen oder Beseitigen von Bildelementen die Spuren des abgelichteten Gegenstandes verändern. Eine Fälschung wird mit der Absicht vollzogen, den Betrachter zu täuschen. Im Gegensatz zum Wort wird dem Bild a priori eine höhere Glaubwürdigkeit zugeschrieben, da durch eine Kameraaufnahme eine gewisse Wirklichkeitsnähe suggeriert wird. Die Bildnachricht kann mit einem Blick erfasst und als authentisch akzeptiert werden. Sie orientiert sich an der Realität und wird in den meisten Fällen nicht problematisiert (vgl. Macias 1990). Sehen und Erkennen geht der Entwicklung des Sprachvermögens voraus. Im Rahmen der Sozialisation erfolgt durch die visuellen Wahrnehmungsoptionen die Orientierung in der Umwelt. Der Platz innerhalb der natürlichen Umwelt erfolgt durch die Eindrücke, die optisch aufgenommen werden. Dabei lassen sich die Sinne leicht täuschen, da zwischen dem was gesehen wird und dem, was gewusst wird, keine feststehende Beziehung herrscht. Obwohl der Untergang der Sonne optisch wahrgenommen wird, ist die Drehung der Erde für diesen Vorgang verantwortlich und nicht die der Sonne. Es existiert also eine Diskrepanz zwischen dem Augenschein und der physikalischen Erklärung dieses Naturphänomens (vgl. Berger u.a. 1994). Neben diesen »Sinnestäuschungen« werden konkrete Strategien eingesetzt, um mit Hilfe von Bildern zu manipulieren oder zumindest zu beeinflussen. Dabei prägt das Fernsehen wie kein anderes Medium die Wahrnehmung der Öffentlichkeit quantitativ und qualitativ. Die meisten Informationen, die vom Menschen aufgenommen werden, stammen aus den Medien und prägen die Beurteilung der dargestellten Sachverhalte. Im Folgenden wird ein exemplarischer Überblick vermittelt über die zahlreichen Formen der Bildmanipulation von den Anfängen der Retusche bis zur digitalen Bildbearbeitung. Dabei stellt sich 164

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die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Bild als manipuliert zu bewerten ist.

Formen der Bildbearbeitung und -manipulation Unter einer Manipulation versteht man eine mit Täuschungsabsicht verbundene intentionale Veränderung von Informationen durch Auswahl, Zusätze oder Auslassungen. Knieper (2006) differenziert zwischen unterschiedlichen Täuschungsstrategien bei bewegten Bildern, die moralisch unterschiedlich zu bewerten sind: Eingriffe in die Umwelt durch visuelle Inszenierungen, etwa in Form von eigens für die Medien organisierte Pseudoereignissen, wo das Publikum über die faktischen Motive der Choreographie ggf. getäuscht wird. Rekonstruktionen von Ereignissen. Hier wird ein Ereignis visuell nachgestellt. Exemplarisch werden Fahndungssendungen wie »Aktenzeichen XY… ungelöst« oder Reality-TV-Formate wie »Notruf« benannt, die reale Szenen mit einer hohen Dramatik durch Darsteller nachspielen. Erfindung von Ereignissen mit gestellten Bildern. An diesem Punkt sei der Medienfälscher Michael Born erwähnt, der ausgedachte Geschichten, die er mit Schauspielern drehte, als authentisches Bildmaterial an politische Magazine verkauft hat (vgl. Schicha/Brosda 2000). Bildveränderung. Sie kann u.a. eine erklärende, eine ästhetische oder eine manipulative Funktion besitzen. Insgesamt lassen sich folgende Optionen aufzeigen: – Das Löschen von Informationen, wenn etwa ein Protagonist aus einem Originalfoto entfernt wird, – das Einfügen von Informationen, wenn z.B. ein Künstler ein Bild seiner Person in historische Schlüsselbilder hineinmontiert, – die Fotomontage, die unterschiedliche Bildelemente zu einem neuen Bild zusammenfügt, – die falsche Beschriftung, die dazu führt, dass ein Bild in einen anderen Kontext gestellt wird, – die inszenierte Fotografie, die ein arrangiertes Gruppenfoto zeigt, 165

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– das Löschen von Informationen etwa durch Freistellung von Bildelementen, – die Ästhetisierung von Bildelementen, etwa bei der Modefotografie, – Fotokombinationen, – das Einfügen von Bildelementen, – die fehlerhafte Benennung von Bildelementen, – die Veränderung von Ton und Schärfe, etwa durch das Eindunkeln eines Gesichtes (Farbveränderung), – die falsche Beschriftung, – gestellte Szenen, – digitale Bildbearbeitung. Natürlich lassen sich diese Formen auch wechselseitig miteinander kombinieren. Zusätzliche Abstufungen und Überschneidungen, auf die im Folgenden eingegangen wird, sind möglich. Manipulationen sind grundsätzlich möglich durch: – – – – – – – – – – –

Licht, Aufnahmeschnitt, Standort, Perspektive, Retusche, Kontrast, Bildüberschrift und -unterschrift, gestellte Bilder, falsche Bildunterschriften, seitenverkehrte Darstellung von Bildern, Fotomontage.

Dabei kann gearbeitet werden mit: – – – – – – – –

Kombinationsbildern, Spiegeln, Hintergrundprojektionen, Einkopieren, Verzerrung, Verwischung, optischer Täuschung, Einfärbung von Flächen, 166

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– – – –

Freistellung von Bildteilen, Kopieren von Bildteilen aus anderen Bildern, Drehen, Zoomen, Vergrößern, Verkleinern Positionieren von Bildern, Masken, Texten und Schablonen (vgl. Beifuß/Blume/Rauch 1984: 65ff.).3

Nachdem schwedische Fotografen- und Verlegerverbände vorgeschlagen haben, manipulierte Fotos zu kennzeichnen, gibt es bei mehreren deutschen Verbänden (z.B. IG Medien, BVPA, FreeLens) Initiativen, zumindest die Kennzeichnung manipulierter Fotos auch in der Bundesrepublik durchzusetzen. Die Selbstverpflichtung zur Kennzeichnung durch das Wort »Montage« oder ein Zeichen, welches den Buchstaben »M« enthält, ist vorgesehen. Weitere Hinweise sind bereits vorgenommen worden. Seit dem 1. September 1995 kennzeichnet die Agentur Tony Stone sämtliche digital manipulierten Bilder, wobei sich die Kennzeichnung nach dem Grad der Bildveränderung richtet. Es wird insgesamt zwischen drei Kategorien unterschieden: – Digital Composite (DC): Bilder, bei denen eine Komponente verschoben, entfernt oder hinzugefügt wurde, – Digital Enhancement (DE): Bilder, bei denen wesentliche Elemente verändert wurden, – Colour Enhancement (CE): Bilder, bei denen Farben wesentlich verändert wurden (vgl. zusammenfassend Büllesbach 1997). Auch der Deutsche Presserat (2005: 259) hat seit langem in der Ziffer 2 seines Pressekodex auf die Problematik der Bildbearbeitung und der daraus resultierenden Kennzeichnungsnotwendigkeit hingewiesen. Dort heißt es: »Zur Veröffentlichung bestimmte Nachrichten und Informationen in Wort und Bild sind mit der nach den

3. Unter www.worth1000.com finden sich im Internet zahlreiche Beispiele, wo neue Bildelemente montiert worden sind. Da sitzt der ehemalige amerikanische Präsident Nixon plötzlich am Schlagzeug, Stalin hält eine elektrische Gitarre im Arm, ein Soldat hält statt einer Handgranate ein Osterei in den Händen, der Schauspieler George Clooney bekommt eine neue Frisur, Arafat und Sharon treten in einer amerikanischen Fernsehserie auf und spielen Schach usw.

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Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. […] Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.« In der »Richtlinie 2.2 – Symbolfoto« wird dieser Aspekt noch weiter ausdifferenziert: »Kann eine Illustration, insbesondere eine Fotographie, beim flüchtigen Lesen als dokumentarische Abbildung aufgefasst werden, obwohl es sich um ein Symbolfoto handelt, ist eine entsprechende Klarstellung geboten. So sind – Ersatz- oder Behelfsillustrationen (gleiches Motiv bei anderer Gelegenheit, anderes Motiv bei gleicher Gelegenheit etc.) – Symbolische Illustrationen (nachgestellte Szene, künstlich visualisierter Vorgang zum Text etc.) – Fotomontagen oder sonstige Veränderungen deutlich wahrnehmbar in Bildlegende bzw. Bezugstext als solche erkennbar zu machen.«

Wie tragfähig diese Regeln sind, wird zu prüfen sein. Empirisch lassen sich zahlreiche Formen manipulativer Bildbearbeitung sowohl in den Boulevard- als auch in den Qualitätszeitungen aufzeigen.

Beispiele für manipulative Bildbearbeitung Fälschungen des Politischen Gründe für das Verfälschen von Bildern sind vielfältiger Natur. Politiker totalitärer Systeme sahen sich legitimiert, Bilder zu manipulieren, weil sich die politischen Umstände gewandelt hatten (vgl. Coy 1996). Die politische Ikonographie des Totalitarismus hat durch das Mittel der Fälschung von Bildern Herrschaftsansprüche dokumentiert. In den Bänden von Jaubert (1989) und King (1997) finden sich zahlreiche Beispiele, in denen Machthaber durch gezielte Bildmanipulation versucht haben, die Öffentlichkeit zu täuschen. Mit der Schere wurden ungewollte Bildteile herausgeschnitten, und mit dem Pinsel wurden politische Gegner und unliebsame Zeitgenossen wie Trotzki in der ehemaligen Sowjetunion wegretuschiert. Auf einem Urlaubsfoto, das Lenin mit seiner Gattin zeigt, ist 168

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ein Fernrohr zu sehen, dass jedoch wie eine Waffe wirkt und daher für die offizielle Veröffentlichung des Fotos entfernt wurde. Der italienische Diktator Mussolini ist auf einem Bild vom 29.6.1942 in Tripolis auf einem Pferd mit dem goldenen Schwert des Islam abgebildet. Auf dem Original hält ein Stallknecht die Zügel des Pferdes fest. Für das offizielle Foto ist dieser Steigbügelhalter wegretuschiert worden, um nicht den Eindruck zu erzeugen, dass der Diktator eine Hilfestellung benötigt: »Die historische Aufnahme wurde von unwichtigen Einzelheiten […] befreit, um den Duce in seiner grandiosen Einsamkeit zu präsentieren.« (Jaubert 1997: 55).4 Auch Hitler hatte phasenweise Probleme mit Goebbels. Auf einem offiziellen Foto mit Eva Braun und Leni Riefenstahl ist der Propagandaminister herausretuschiert worden. Zahlreiche Bilder, die Hitler beim Einüben seiner Reden, mit Brille oder in kurzen Hosen zeigten, fielen der NS-Zensur zum Opfer, da sie dem Image des Diktators wohl hätten schaden können. Beispiele plumper Fälschungen wirken im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung inzwischen antiquiert. Fotos und Filme haben inzwischen jeglichen Authentizitätsanspruch verloren. Es ist technisch kein Problem mehr durch digitale Technik – etwa in dem Spielfilm »Forest Gump« – den Händedruck des verstorbenen amerikanischen Präsidenten Kennedy mit dem Schauspieler Tom Hanks zu zeigen, ohne dass diese Täuschung dem Betrachter auffällt. Per Rechner wurden ihnen zusätzliche Dialogsätze in den Mund gelegt. Durch die elektronische Bildbearbeitung in Form der digitalen Technik ist es machbar, Bilder in beliebiger Form neu zu komponieren, wobei die Veränderung für den Betrachter nicht mehr zu erkennen ist. In diesem Film kam zudem ein Tischtennisball aus dem Rechner. Die Schauspieler simulierten ein Tischtennismatch ohne Ball. Einem Schauspieler, der einen verwundeten Soldaten darstellte, wurden die Beine digital »amputiert«.5 4. In Italien sind im übrigen im Jahr 1957 auch gefälschte Mussolini Tagebücher aufgetaucht, die angeblich zwischen 1920 bis 1943 entstanden sein sollen. Später meldete sich der Drucker, der die Werke des »Duce« gedruckt hatte (vgl. Mayer 1998). 5. Beim Betrachten der Bilder von realen Opfern etwa des letzten Golfkrieges, wo ein irakischer Junge beide Arme verlor, gelangen derartige

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In dem amerikanischen Spielfilm »In the Line of Fire« (Die zweite Chance) wurde authentisches Filmmaterial des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes von 1992 mit Bill Clinton in die Handlung eingearbeitet (vgl. Queau 1997). Zusätzlich wurden zwanzig Jahre alte Spielfilmszenen des Hauptdarstellers Clint Eastwood in modifizierter Form in die aktuelle Filmhandlung hineinretuschiert.6 Ein weiteres Beispiel für eine Bildmanipulation unter demokratischen Vorzeichen im nicht-fiktionalen politischen Kontext stellt die veränderte Fotografie der Agentur Reuters vom 14.5.1998 dar, auf der der damalige US-Präsident Bill Clinton, sowie der Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl und der ehemalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel auf einer Veranstaltung in Eisenach abgebildet sind. Die drei Politiker stehen vor einer Menschenmenge. Kohl und Clinton winken und Vogel lächelt. Ein Transparent mit der Aufschrift »Welcome to Eisenach Mr. President« rundet das Bild ab. Die gute Stimmung wird jedoch durch ein weiteres Transparent getrübt, auf der der Schriftzug »Ihr habt auch in schlechten Zeiten dicke Backen« zu lesen ist. Diese Kritik an den Politikern ist jedoch in einer von der Thüringischen Landesregierung herausgegebenen Broschüre »Für den Mutigen werden Träume wahr« wegretuschiert worden. Ausgerechnet die BILD-Zeitung macht auf die Fälschung in ihrem Bericht vom 2.6.2003 mit dem Titel »Nanu, wo ist denn das Plakat geblieben« aufmerksam und auch die Süddeutsche Zeitung versucht ohne Erfolg beim Regierungssprecher der Landesregierung herauszubekommen, wer für die nachträgliche Bearbeitung des Bildes verantwortlich ist (vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1998: 23). Ex-CDU-Generalsekretär Meyer hatte ebenfalls ein manipulierMöglichkeiten der Bildmanipulation erneut ins Gedächtnis. Hat der Junge tatsächlich bei einem Angriff diese schweren Verwundungen erlitten oder sorgen digitale Bildbearbeitungstechniken dafür, dass ein »Opfer« aus propagandistischen Motiven heraus der Öffentlichkeit gezeigt wird, das womöglich gar nicht verwundet ist? 6. Inzwischen können die »Daten« der Körper von Schauspielern mit Hilfe der Computertechnik so eingelesen und verändert werden, dass sie im Film beliebig verändert werden können. Daher entstehen Bilder für Spielfilme z.T. komplett im Rechner, wie z.B. der Zeichentrickfilm »Toy Story« dokumentiert (vgl. Hoffmann 1997).

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tes Plakat präsentiert, wo Bundeskanzler Schröder im Stile eines Fotos präsentiert wurde, dass nach einer polizeilichen Festnahme von potentiellen Straftätern gemacht wird. Dabei sind zusätzlich die Mundwinkel des Kanzlers verändert worden. Aufgrund eines breiten öffentlichen Protestes – auch aus den Reihen der CDU – ist dieses Fahndungsplakat wieder zurückgezogen worden (vgl. Müller 2003). Amerikanische Zeitungen haben beim Kampf gegen den Terrorismus Fahndungsplakate entwickelt, auf denen u.a. Bin Laden steckbrieflich mit dem Slogan »Dead or alive« gesucht wird. Auch Saddam Hussein wurde mit einem rotunterlegten Plakat gesucht. Sein Foto ist über der Aufschrift »WANTED« zu sehen. Insgesamt wurden 25 Millionen US-Dollar für Hinweise versprochen, die zur Ergreifung des entmachteten Ex-Diktators des Iraks führen. Dass die Abbildung von Hitler-Motiven als Tabubruch und Provokation gilt, hat auch der verstorbene Jürgen W. Möllemann bei einer Plakataktion zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl strategisch genutzt, indem er den Diktator auf einem Wahlplakat zur Bildungspolitik neben der fiktiven Horrorfigur Freddy Krüger und dem Sektenführer Bhagwan gezeigt hat. Auch dieses Plakat ist nicht als offiziell veröffentlicht worden; es wurde jedoch aufgrund des hohen Nachrichtenwertes auf den Titelseiten zahlreicher Tageszeitungen gedruckt und avancierte somit zu einer kostenlosen Werbekampagne für Möllemann.

Kunst und Ästhetik Der Medienkünstler Matthias Wähner hatte die originelle Idee, Fotos seiner eigenen Person in historische Aufnahmen hineinzumontieren. So gesellt er sich etwa beim historischen Bild von Willy Brandt vor dem Mahnmahl des Warschauer Ghettos, das im Original am 7.12.1970 entstand, ebenfalls kniend neben den Altbundeskanzler. Wähner ist weiterhin in einer offenen Limousine winkend neben John F. Kennedy zu sehen. Er gesellt sich zu den Beatles, frühstückt mit John Lennon und Yoko Ono, und posiert neben der Filmfigur Superman sowie Vertretern des englischen Königshauses. Auch in der Modefotografie wird gerne »geschummelt«. Selbst Fotomodelle verfügen in der Regel nicht immer über einen perfek171

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ten Körper. Muttermale, Blinddarmnarben und Falten verschwinden durch »digitale Haut-Plünderer« (Clayssen 1996), die für die Fotos die Arbeit der »echten« Schönheitschirurgen ersetzen, häufig auf den Bildern der Magazine und Werbeanzeigen. Zähne werden verschönert. Deshalb sind diese Fotos ja auch so makellos, nur leider nicht echt. Inzwischen werden speziell in der Kunst und im Bereich der Computerspiele digitale »Menschen« geschaffen, die auf den ersten Blick kaum noch von realen Personen unterschieden werden können. Dabei werden auch digitale »Sexualobjekte« geschaffen (vgl. Wiedemann 2002).

Werbung Seit langem nutzen prominente Künstler und Sportler die Möglichkeit, ihre Popularität im Rahmen von Werbespots gewinnträchtig einzusetzen. Dabei wird auf allerlei Tricks zurückgegriffen. Neben der Bekanntheit wird auf die »Verdopplung« der Stars gesetzt, um eine zusätzliche Aufmerksamkeit bei den potenziellen Kunden zu erreichen. Da erhält die Schauspielerin Anke Engelke plötzlich im Zusammenspiel mit Franz Beckenbauer bei der Werbung für einen Telefonanbieter eine Zwillingsschwester, die real nicht existiert. Es liegen auch Fälle vor, wo längst verstorbene Politiker wie Winston Churchill in Werbeanzeigen etwa für das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« auftauchen. Sogar Ludwig Ehrhard wirbt lange nach seinem Tod für den neuen Audi. Erich Honecker wurde ohne sein Einverständnis als Werbeträger für die Wirtschaftswochen mit dem Spruch »Jede Fusion hat ihre Verlierer« eingesetzt. Eine Doppelgängerin der englischen Queen wirbt mit dem Slogan »Girls just wanna have Fun« für ein Auto. Die Werbung legt es in der Regel darauf an, ihr Produkt ins rechte Licht zu rücken. Dabei wird gelegentlich auch zu unlauteren Mitteln gegriffen. Exemplarisch sei an dieser Stelle an eine Postkarte vom Berliner Alexanderplatz erinnert, auf deren »Verschönerung« in einem Artikel in der ZEIT mit dem Titel »Lügen wie gedruckt« vom 24.7.2003 hingewiesen wurde. Auf dem Originalfoto

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ist der betongeprägte Platz zu sehen. Im Hintergrund findet sich ein hellblauer wolkenloser Himmel. Für die offizielle Postkarte wurde jedoch ein Himmel mit Schäfchenwolken ausgewählt, der tiefblau ist, wodurch ein wesentlich sonnigerer Eindruck suggeriert wird. Zusätzlich wurden noch einige Blumen für das Motiv aufgenommen, die faktisch überhaupt nicht Bestandteil des Alexanderplatzes sind. Im Folgenden werden einige konkrete Beispiele von Bildbearbeitungen skizziert, die nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in Qualitätszeitungen zu beobachten sind.

Ausgewählte Presseorgane BILD-Zeitung Die traditionelle Fotomontage erfreut sich immer wieder großer Beliebtheit. Dies gilt besonders für die BILD-Zeitung. In ihrer Ausgabe vom 8.8.2003 wurde neben einem Artikel mit der Überschrift »US-Geheimdienst sicher – Saddam als Moslem auf der Flucht« eine Fotomontage abgebildet, die das Gesicht des irakischen Diktators hinter einem Schleier zeigt. Die BILD-Zeitung hatte in ihrer Ausgabe vom 29.1.2001 einen Artikel mit dem Titel »Was machte Minister Trittin auf dieser Gewalt-Demo« veröffentlicht. Es zeigt den grünen Politiker, der damals Abgeordneter im niedersächsischen Landtag war, auf einer Demonstration in Göttingen im Juli 1994. Hinter ihm sind vermummte Personen zu sehen, die laut Darstellung des Boulevardblattes mit einer rot überblendeten Schrift einen »Bolzenschneider« und einen »Schlagstock« in den Händen halten. Der jetzige Bundesumweltminister wird also in diesem Zusammenhang mit »vermummten Chaoten« in Verbindung gebracht, die angeblich Gewaltbereitschaft signalisieren. Bei einer genaueren Analyse des Bildes hatte sich jedoch herausgestellt, dass es sich bei dem »Bolzenscheider« um einen Handschuh handelt, der den Dachgepäckträger eines Pkws umfasst, und dass es sich bei dem »Schlagstock« faktisch um ein Absperrseil handelte. Das Foto ist von der BILDZeitung so beschnitten worden, dass weder der Dachgepäckträger, noch das durchhängende Seil zu erkennen war (vgl. Müller 2003: 102f.). Der Chefredakteur Kai Diekmann hatte sich bei Trittin für den Fehler entschuldigt. Er wies den Vorwurf einer bewussten Ma-

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nipulation jedoch zurück. Dennoch bleibt festzuhalten: Durch die vorsätzlich falsche Beschriftung sollte der Minister diskreditiert werden. Dieses Beispiel dokumentiert, dass auch nur marginale Änderungen des Bildausschnittes dafür sorgen können, dass eine grundsätzlich andere Interpretation einer visuellen Darstellung möglich ist. Ein Sommerloch-Thema ist immer wieder die Berichterstattung über das Wetter. Unter der Überschrift »Diese Wüsten-Sonne« stellte BILD auf der Titelseite vom 12.8.2003 die weltbewegende Frage »Werden wir alle Afrikaner?«. Um dies visuell zu unterstreichen, wurden die Gesichtsfarben von einigen Künstlern und Politikern verdunkelt. Dieter Bohlen erhielt »Rasta-Locken«, aus der CDU-Chefin wurde »Angola Merkel«, die »braun wie eine Schokoladenkugel« dargestellt wurde.

DER SPIEGEL Durch das Einfügen von Bildelementen können Fotos natürlich eine andere Konnotation erhalten. Auch das renommierte Wochenmagazin DER SPIEGEL hat in seiner Ausgabe vom 6.4.1992 auf dem Titel mit der Überschrift »ASYL – Die Politiker versagen« zu fragwürdigen Mittel gegriffen, um die vermeintliche Bedrohung durch Asylanten zu dokumentieren. Während auf dem Originalfoto mit Asylbewerbern vor einer Antragsstelle in Berlin Tiergarten zahlreiche Menschen zu sehen sind, die sich vor ein geöffnetes Tor drängen, hat der SPIEGEL zusätzlich zwei Polizisten in das Bild montiert, um das Bedrohungspotenzial der angeblichen Asylantenflut zusätzlich zu dramatisieren (vgl. Glaab 2003: 36).7

7. Beispiele etwa für widersprüchliche Ortsangaben von Ländern finden sich z.B. in Schulbüchern und Magazinen. Das gleiche Motiv von Menschen vor dem Bildschirm wird in einem Schulbuch als »Fernsehen in Nigeria« klassifiziert, während der Spiegel einem ähnlichen Bild an dem gleichen Ort den Titel »Fernsehkonsum in Afrika (Niger)« gegeben hat.

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TITANIC Auch das »endgültige Satiremagazin« TITANIC nutzt die Möglichkeiten der Bildbearbeitung für seine ironischen Kommentare. Da wird auf einer Postkarte mit dem Slogan: »Die ganze Wahrheit: Der Neue bei MODERN TALKING« der Kopf des Diktators auf den Körper des Sängers Thomas Anders montiert, der dann neben Dieter Bohlen abgebildet ist. Unter dem Motto: »Bin Laden auf der Flucht: Die Spur führt nach Deutschland« findet sich eine weitere Titanic-Manipulation, in der der Kopf des früheren Bundestagspräsidenten Thierse auf den Körper des Terroristen Bin Laden montiert worden ist, der zusätzlich noch einen Turban trägt und ein Gewehr hält.

KÖLNER EXPRESS Berühmte Fotomodelle und Schauspielerinnen, die sich bislang nicht haben nackt ablichten lassen, waren überrascht, dass auf Bildern im Internet ihr Kopf auf dem nackten Körper einer anderen Person montiert worden ist, ohne dass diese Fälschung für Außenstehende zu bemerken ist. So kursieren mit dieser Methode u.a. »Nacktfotos« von Lady Diana, Claudia Schiffer und Sandra Bullock im Netz (vgl. Fuld 1999). Ein schönes Beispiel für eine publizistische Doppelmoral liefert in diesem Zusammenhang die Boulevardzeitung EXPRESS vom 21.5.2003. Unter der Überschrift: »Gefälscht, gestohlen« titelt das Blatt: »Miese Tricks mit Heidi Klum«. Dort wird auf gefälschte Nacktaufnahmen hingewiesen, wobei natürlich eine entsprechende Fälschung gezeigt wird, die das Model mit blankem Busen zeigt. Auch Gewerkschaftsfunktionäre bekamen im EXPRESS ein neues Outfit. Angesichts der Auseinandersetzungen um den Führungsanspruch in der IG-Metall wurden die Köpfe der am Disput beteiligten Protagonisten wie Jürgen Peters und Klaus Zwickel in dem Artikel »Das Kasperle-Theater bei der IG-Krach-Metall« vom 8.7.2003 in Kasperle-Figuren einmontiert, um das Niveau der Auseinandersetzung zu dokumentieren.

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MARIE CLAIRE Die Frauenzeitschrift MARIE CLAIRE hat in ihrer Ausgabe vom Juli 2002 einigen Spitzenpolitikerinnen mit Hilfe einer Fotomontage eine neue Rolle zugeschrieben. Da tritt Angela Merkel (CDU) als Zirkusdirektorin auf, Edelgard Bulmahn (SPD) absolviert die hohe Schule der Balance als Seiltänzerin und Renate Künast (B90/Grüne) übt eine Rolle als Dompteuse aus.

YELLOW PRESS Auch heute findet man gerade im Bereich der »Yellow-Press« eine Vielzahl von Fotomontagen, die den Eindruck suggerieren sollen, dass z.B. eine Prominente ein Kind bekommen hat, obwohl sie »im richtigen Leben« noch nicht einmal schwanger ist. Die Motive dieser »Journalisten« für eine solch geartete Vorgehensweise sind unschwer zu erkennen. Es geht in diesem Kontext um nichts anderes als kommerzielle Verkaufsinteressen. Durch die Konkurrenz auf dem Zeitungsmarkt sind die Anbieter dieser bunten Blätter motiviert, weniger den Wahrheitsgehalt ihrer Bilder in den Vordergrund zu rücken, als vielmehr auf die potenziellen Käufer zu blicken. Die bunten Blätter beschäftigen sich überwiegend mit dem Schicksal von prominenten Künstlern sowie Akteuren aus den Königshäusern. Als Prinzessin Stephanie von Monaco 1992 ein Kind erwartete und sich die Schwangerschaft hinzog, haben mehrere Illustrierte (u.a. NEUE WELT, DIE AKTUELLE, DAS NEUE BLATT, FRAU MIT HERZ) der Prinzessin mit Hilfe von Fotomontage bereits zahlreiche Babys in den Arm gelegt. Diese besaßen dann blonde oder schwarze Haare, hatten aber eine Gemeinsamkeit: Kein Kind auf den Abbildungen war das leibliche Kind der werdenden Mutter (vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1998: 78).

DIE WELT Gerade im Sommerloch erfreuen sich Bildmanipulationen großer Beliebtheit. In der »Sauren-Gurken-Zeit«, in der auch Politiker im Urlaub sind und in der Regel nur wenig interessante Meldungen in den Medien auftauchen, bedienen sich findige Fotoredakteure der Techniken der Bildbearbeitung, um Politiker künstlich altern zu 176

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lassen. Da bekommt der 23-jährige Vorsitzende der Jungen Union Philipp Missfelder, der mit seinen provokativen Äußerungen über Gesundheitsleistungen für alte Menschen für öffentlichen Wirbel gesorgt hatte, etwa in der Tageszeitung DIE WELT vom 9.8.2003 in einer Abbildung einige Falten und graue Haare reinretuschiert, um sein Erscheinungsbild in 30 Jahren zu »zeigen«.

TIME Neben konventionellen Bildretuschen gibt es auch durch die Variante, potenzielle Straftäter durch Eindunkelung des Gesichtes noch bedrohlicher wirken zu lassen, beispielsweise im Fall des afroamerikanischen Football-Spielers O.J. Simpson, dem vorgeworfen wurde, dass er seine Frau und deren Freund getötet haben soll. Während das Magazin NEWSWEEK vom 27.6.1994 den Mann unretuschiert auf dem Titel abbildet, hat die am gleichen Tag erscheinende Ausgabe TIME das Foto verdunkelt und den Blick verändert. Simpson erweckte somit einen dämonisierenden Eindruck, der ihn als Schwerverbrecher abstempelt (vgl. Glaab 2003: 37; Clayssen 1996).

Zur Kennzeichnungspflicht von bearbeiteten Bildern Es gibt bislang keine allgemeinverbindliche Regelung über die moralische und rechtliche Angemessenheit im Umgang mit manipulierten Bildern. Die Einzelfallprüfung, die den Kontext, den Hintergrund und die Motivation derartiger Bilder bewertet, scheint unverzichtbar zu sein. Gleichwohl sollten liberalere Maßstäbe an die Veröffentlichung im Rahmen der Kunst oder der Satire angelegt werden. Nicht kenntlich gemachte Bildmanipulationen in Presseorganen sollten jedoch untersagt werden.

Fazit »Bild schlägt Wort« ist die landläufige Bezeichnung der These von der »Text-Bild-Schere«, die besagt, dass die visuellen Eindrücke das gesprochene Wort dominieren und die Erinnerungsleistung etwa von TV-Nachrichtenbeiträgen stärker durch das Bild als durch den 177

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Christian Schicha

Text geprägt wird. Der Trend zur Visualisierung ist noch nicht hinreichend durchleuchtet: Die konkreten Auswirkungen der zunehmenden Bildzentrierung politischer Diskurse sind bislang zwar theoretisch aufgegriffen worden, tragfähige empirische Studien allerdings, die den Visualisierungsgrad in Bezug zum Informationsgehalt des Berichteten setzen und auch die Frage der Angemessenheit der Berichterstattung zulassen, fehlen. Ein solcher Fokus, der den Vergleich zwischen externer Realität und visueller Medienrealität ermöglicht, wäre ein weiterer wichtiger Schritt zur Beschreibung der Auswirkungen der Politikvermittlung durch elektronische Massenmedien. Die primär fernsehfixierte Perspektive dominiert die öffentliche Wahrnehmung bei der Beurteilung politischer Prozesse und Verfahren, während die Printmedien einen geringeren Stellenwert einnehmen, obwohl der Informationsgehalt oftmals höher eingeordnet werden kann. Es kann davon ausgegangen werden, dass für die mediale Rhetorik die technisch-visuellen Darstellungsmöglichkeiten ausschlaggebender sind als die informativen und argumentativen Elemente ihrer Diskurse selbst. Medienrhetorik ist vor allem eine Rhetorik der Bilder. Visuelle Kommunikation geht über den Bereich verstandesmäßiger Abwägung hinaus. Nicht die Frage nach der Authentizität der Behauptung, sondern die Glaubwürdigkeit der Assoziation spielt dabei eine dominierende Rolle. Die suggestive Kraft der Bilder kann schließlich dazu führen, dass eine kritische Distanz gegenüber den angebotenen Motiven verloren geht. Das gilt vor allem dann, wenn den Rezipienten die Kompetenz fehlt, die visuelle Logik von Bildbearbeitungen zu entschlüsseln und dadurch die inszenierende und manipulierende Wirkungskraft als solche zu erkennen. Bilder und Filme bieten grundsätzlich kein authentisches Abbild der Welt. Schon die Selektion des Motivs, die Bildgestaltung und der gewählte Bildausschnitt hängen von den jeweils subjektiven Präferenzen des Fotografen oder Kameramanns ab und stellen somit ein individuelles Zufallsprodukt dar. Es ist zu konstatieren, dass die aktuelle Medienentwicklung sich verstärkt auf die optische Darstellung konzentriert. Dabei ist davon auszugehen, dass der Journalismus oberflächlicher wird. Durch den »Häppchenjournalismus« werden nicht die Zusammenhänge erläutert, die eine angemessene Hintergrundberichterstattung beleuchten könnte. Vielmehr stehen Personen statt Prozesse im Zentrum der Berichterstattung, wobei komplexe politische 178

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Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel

Sachverhalte zunehmend durch Schlaglichter in Wort und Bild an die Rezipienten herantreten. Die Dominanz der Bilder verstärkt diesen Trend, wo weniger das Argument als vielmehr der visuelle Eindruck im Vordergrund steht. In einer konkurrenzgeprägten Medienlandschaft sind die Medien gezwungen, auf die Rezeptionsgewohnheiten der Zuschauer im MTV-Zeitalter Rücksicht zu nehmen, die auch ein visuell ansprechendes und abwechslungsreiches Programm erwarten. Dennoch sollten die journalistischen Leitlinien einer kritischen, informativen und glaubwürdigen Berichterstattung Priorität vor den Präsentationserfordernissen haben, die diesen normativen Vorgaben entgegenwirken können. Es scheint mir unverzichtbar zu sein, die Funktion von Bildern innerhalb dieses Prozesses einer schnelllebigen Medienlandschaft stärker zu problematisieren. Neben Kenntnissen zur Entschlüsselung von visuellen Montagen sollten in diesem Kontext vor allem die Strategien optischer Signale bei der Montage und Präsentation von Politik genauer analysiert werden, um deren manipulative Wirkungskraft aufzuzeigen. Neben den skizzierten Risiken sollte jedoch nicht das enorme Wirkungspotenzial von Bildern vernachlässigt werden, das durchaus didaktisch vermittelnde Optionen aufweisen kann. Eine Reihe von Hintergrundinformationen können durch eine visuelle Unterstützung gegeben werden. Innerhalb der natürlichen und medialen Lebenswelt werden Menschen permanent akustischen und visuellen Reizen ausgesetzt, die verarbeitet werden müssen. Die Rezeptionsgewohnheiten haben sich von einer schriftgeprägten Kultur zunehmend auf die visuelle Ebene hin verlagert. Es geht also nicht nur im Bereich der Lüge, Täuschung und Manipulation von Bildern um eine Kompetenz zur Dekodierung der optischen Zeichen, die nur in einem ständigen Lernprozess im Umgang mit den visuellen Eindrücken bewerkstelligt werden kann. Bildmanipulationen sind inzwischen perfekt und einfach möglich, etwa mit Programmen wie »Photoshop«. Aufgrund der skizzierten Fallbeispiele wird zu Recht die Sorge über die Authentizität von Bildern artikuliert. Zudem stellen sich berechtigte Fragen nach dem Urheberrecht. Unabhängig davon sollte über die moralischen Grenzen der zulässigen Bilddarstellung von prominenten Politikern und Künstlern nachgedacht werden. Visuelle Provokationen sind einerseits ein wichtiges Merkmal einer freien Demokratie vom Typ der Bundesrepublik Deutschland und das Zensurverbot ist ein hohes Gut. 179

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Künstler wie John Hartfield oder Klaus Staeck haben durch ihre kreativ gestalteten Bildmontagen auf politische Missstände hingewiesen. Zentral ist in jedem Fall, dass die Kennzeichnung manipulierter Fotos sich direkt am Bild befindet. Die Entwicklung von Kriterien für die Angemessenheit von Bildbearbeitungen und Formen ihrer Kennzeichnung ist nicht nur wichtige juristische sondern auch medienethische Aufgabe.

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Manipulierte Fotos oder ein neues Gesicht für Angela Merkel

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Weltverlust und Medienwirklichkeit

Weltverlust und Medienwirklichkeit 1 Simone Dietz

1956, als man in Deutschland noch stolz darauf sein konnte, überhaupt einen Fernsehapparat zu besitzen, als die Zapperwelt der Fernbedienung, der 24-Stunden-Programme und der über zwanzig Fernsehkanäle noch ein ferner Traum war und der Begriff der Virtualität noch keine Verbreitung hatte, veröffentlichte der aus den USA nach Europa zurückgekehrte Emigrant Günther Anders sein Buch »Die Antiquiertheit des Menschen«. Unter dem Titel »Die Welt als Phantom und Matrize« verknüpfte er ein seit Rousseau bekanntes Motiv der Kulturkritik, die Entfremdung des Menschen von der Welt, mit dem damals neuen Phänomen des Fernsehens. Durch Massenmedien werde uns die Welt entfremdet und in einem Vorgang der Pseudofamiliarisierung verbiedert, meinte Günther Anders schon damals. Wir selbst entwickelten uns dabei zu »Masseneremiten« und »voyeurhaften Herrschern über Weltphantome« (Anders 1980: I, 116). Auf die behaglichen Puschenkinozuschauer der 1950er Jahre musste diese unversöhnliche Kritik am Fernsehen als moralinsaure Spielverderberei wirken. Wie ist sie heute, fast fünfzig Jahre später zu beurteilen, in einer Zeit, in der das Fernsehen für uns alle so selbstverständlich zum Alltag gehört, dass die Kritik daran keine bloße Warnung mehr sein kann, sondern der unbequemen Aufforderung gleichkommt, unser Leben zu ändern? Von heute aus betrachtet erzeugen Günther Anders’ Thesen über das Fernsehen ein überraschend widersprüchliches Bild: Seine Kritik wirkt sowohl

1. Eine erste Fassung dieses Textes wurde veröffentlicht in: Vorgänge 169/2005.

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Simone Dietz

überzogen und überholt als auch prophetisch und aktuell, und diese Ambivalenz ist es wert, näher betrachtet zu werden.

Die gesendete Schlaraffenwelt »Wenn die Welt zu uns kommt, statt wir zu ihr«, schreibt Günther Anders, »so sind wir nicht mehr ›in der Welt‹, sondern ausschließlich schlaraffenlandartige Konsumenten. […] Wenn sie zu uns kommt, aber doch nur als Bild, ist sie halb an- und halb abwesend, also phantomhaft. […] Wenn die dominierende Welterfahrung sich von solchen [mobilen und virtuell zahllosen] Serienprodukten nährt, dann ist (sofern man unter ›Welt‹ noch dasjenige versteht, worin wir sind), der Begriff ›Welt‹ abgeschafft, die Welt verspielt« (ebd. I, 111f.). Allein der Hinweis, dass Anders’ These vom Weltverlust in der Tradition kulturkritischer Entfremdungstheorien steht, reicht nicht aus, um sie zu adeln. Im Gegenteil – seine Formel vom Weltverlust muss zunächst einmal unter Sinnlosigkeitsverdacht gestellt werden. Denn wenn ›Welt‹ im Sinn einer Totalität verstanden wird, einer Allheit dessen, was der Fall ist, dann ist die These ihres Verlusts absurd. Um Weltverlust zu konstatieren, muss man einen außerweltlichen, einen ›extramundanen‹ Standpunkt einnehmen können, zum Beispiel durch die Wendung vom Irdischen zum Göttlichen. Aber einen göttlichen Standpunkt hat der Atheist Günther Anders gewiss nicht im Sinn gehabt. Was also markiert den Gegenpol zur Welt, aus dem die These vom Weltverlust ihren Sinn bezieht? Günther Anders’ ›Welt‹ ist weder eine ontologische Kategorie im Sinn einer Allheit des Seins, noch ist sie, im Sinn Kants, eine regulative Idee, die auf Ganzheit zielt. Gemeint ist auch keine spezifische Seinsregion im phänomenologischen Sinn. ›Welt‹ ist für Anders vielmehr eine bestimmte Art der Erfahrung, die er mit Heideggers Begriff des »In-der-Welt-seins« bezeichnet. Genau genommen geht es um ein bestimmtes Weltverhältnis des Menschen, um das Verhältnis zu einem ›Außen‹, das nicht durch uns bestimmt und uns nicht gefügig ist, in dem wir uns verorten als einem unbequemen, widerständigen An-sich. Dieses Weltverhältnis bildet die normative Basis für Anders’ Kritik an der falschen, der

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Weltverlust und Medienwirklichkeit

phantomhaften Welt der Fernsehkonsumenten, die nach seiner Deutung der uralten Idee des Schlaraffenlands nachgebildet ist: »Dieses Schlaraffenland ist, wie man sich erinnert, im ganzen essbar«, schreibt Anders, »mit Haut und Haaren, weil […][diese Welt] ungenießbare Reste schon nicht mehr enthält. Und jener letzte ›Widerstand‹, den die räumliche oder geldliche Distanz der Ware vom Konsumenten gewöhnlich darstellt, ist dort gleichfalls vernichtet, weil sich die Gegenstände, die ›gebratenen Tauben‹ selbst ›senden‹, nämlich in die bereits offenen Mäuler hineinfliegen. Da die Stücke dieser Welt keinen anderen Zweck haben als den, einverleibt, verzehrt und assimiliert zu werden, besteht der Daseinsgrund der Schlaraffenwelt ausschließlich darin, ihren Gegenstandscharakter zu verlieren; also nicht als Welt dazusein. Und damit ist die heutige ›gesendete‹ Welt beschrieben.« (Ebd. I, 195).

Verbiederung, Phantom, Matrize Verbiederung, Phantom, Matrize – das sind die Stichworte, mit denen Anders die entfremdete, falsche Welt des Fernsehens beschreibt, die als Ganze zur Lüge wird. Verbiedert ist die Fernsehwelt in der Scheinvertrautheit, mit der sie in unser Zuhause kommt, in der nun auch das Ferne so nah liegt und den konzentrischen Aufbau von Nah und Fern des natürlichen Weltverhältnisses neutralisiert (ebd. I, 110). In der anbiedernden Heuchelei der Moderatoren, die uns begrüßen wie gute Freunde und sich verabschieden mit der Hoffnung, uns in der nächsten Sendung wieder zu sehen, als sähen sie uns wirklich und nicht nur wir sie, werden Fremde zu Schein-Bekannten. In der konsumgerechten Zurichtung zum gut verdaulichen Serienprodukt ist die Welt scheinbar für uns da, wann immer wir es wünschen. Als Phantome sind die Fernsehbilder weder Wirklichkeit noch Schein, weder Gegenwärtiges noch bloße Repräsentanten von Abwesendem, sondern in ihrer Phantomhaftigkeit zweideutig: Sie sind wirklich und scheinbar, gegenwärtig und abwesend. Wirklichkeit und lebendige Gegenwart erfordern direkte sinnliche Erfahrung und die Fähigkeit zur Stellungnahme; beides aber bleibt uns vor dem Fernsehbild versagt. Was wir sehen, sehen wir sozusagen aus zweiter Hand, unsere Stellungnahme findet im Fernsehgerät

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kein Gehör. Und dennoch ist das, was wir sehen und hören, wirklich im Sinn von etwas »was uns treffen kann und wovon wir abhängen« (ebd. II, 251) und es ist gegenwärtig im Sinn eines ohne Zeitdifferenz simultan ablaufenden Geschehens. Günther Anders hat seine Deutung der phantomhaften Fernsehwelt, als einer dritten Qualität neben Wirklichkeit und Schein, noch überboten mit der These, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Schein selbst werde durch das Fernsehen schließlich aufgehoben. Weil im Fernsehen zwischen Ernst und Scherz, Information und Unterhaltung und unserer Rolle »als moralisch-politisches Wesen oder Mußekonsument« (ebd. I, 143) nicht mehr unterschieden werden könne, würden wir systematisch »der Fähigkeit beraubt, Realität und Schein zu unterscheiden« (ebd. II, 252). Als Beispiel führt er die »vereinsamten alten Damen« an, die an den Ereignissen der Familienserien so lebhaften Anteil nehmen, dass sich in den Rundfunkhäusern Pakete voll gehäkelter Jäckchen für die Fernsehbabys stapelten (ebd. I, 144). In der neueren Literatur wird das gleiche Phänomen illustriert durch Zuschaueranfragen, die an den Fernsehsender gerichtet werden, sobald in der ›Lindenstraße‹ eine Wohnung frei geworden ist. An die These von der Aufhebung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Schein knüpft Günther Anders’ drittes Stichwort an, das der Matrize. »Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.« (Ebd. I, 111)

Weniger abstrakt gesprochen: Wenn nicht mehr das Ereignis selbst zählt, sondern erst die Verbreitung seiner Bilder im Fernsehen, dann ist es nur konsequent, wenn schon das Ereignis fernsehgerecht inszeniert wird. Wenn Studierende auf die dramatisch schlechten Bedingungen ihres Studiums aufmerksam machen wollen, dann tragen sie einen Sarg mit der Aufschrift ›Studium‹ über den Campus, nicht ohne vorher das Fernsehen eingeladen zu haben. Und erst wenn diese Bilder in den abendlichen Nachrichten erscheinen, hat die Demonstration ihren Zweck erfüllt. Die Welt als Matrize – damit bezeichnet Anders ein Phänomen, das Daniel Boorstin in seinem Buch »Das Image« einige Jahre später, 1961, 186

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unter dem Begriff der »Pseudo-Ereignisse« zusammengefasst hat, und das bis heute Gegenstand der Medienkritik und der empirischen Medienwirkungsforschung ist.

Zwischen Verprovianzialisierung und falscher Globalisierung Wie ist nun Günther Anders’ Sicht auf das Fernsehen heute zu beurteilen? Seine Begriffe der ›Verbiederung‹, der ›Phantom- und Matrizenwelt‹ bieten m.E. auch nach fünfzig Jahren einen geeigneten Rahmen für die Analyse der Fernsehwelt – wenn man auf den irreführenden Begriff des »Weltverlusts« verzichtet sowie auf die überzogene These, die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein selbst würde durch das Fernsehen aufgehoben. In einer späteren Auflage der »Antiquiertheit des Menschen« hat Anders zugestanden, dass die Nivellierung von Nah und Fern, die er als »Verbiederung« kritisiert, unter bestimmten Umständen auch positive Wirkungen haben könnte. Insofern die Gefahr der »Verprovinzialisierung« nicht geringer sei, als die der »falschen Globalisierung«, hält er Techniken für erforderlich, die unseren moralischen Gegenwartshorizont über unseren sinnlichen Umkreis hinaus erweitern könnten (ebd. I, 134). Seine pessimistische Einschätzung, das Fernsehen sei für eine solche Erweiterung kein geeignetes Medium, hat Anders unter dem Eindruck der weltweiten Proteste gegen den Vietnam-Krieg teilweise revidiert. So räumte er 1979 ein, »dass Fernsehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, deren wir sonst überhaupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts.« (Ebd. I, VIII) Welche Konsequenz hat dieses Zugeständnis für Anders Kritik? Greift seine Revision nicht zu kurz – sind wahrgenommene Fernsehbilder tatsächlich in jedem Fall schlechter als wahrgenommene Realität? Können wir nicht in manchen Fällen froh sein, manche Ereignisse nur als Bilder, aber immerhin als solche gesehen zu haben? Warum führt das Fernsehen in manchen Fällen zur Erweiterung unseres moralischen Horizonts und in anderen nicht? Hat Anders das Fernsehen, das nach seiner Überzeugung weit mehr als 187

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nur ein Mittel ist, in seiner Manipulationswirkung überschätzt, unsere Möglichkeiten der Mediennutzung hingegen unterschätzt? Weil der Kulturkritiker Anders das Fernsehen zur beherrschenden Signatur der Gesellschaft erhebt, der alle anderen Weltverhältnisse untergeordnet werden, fallen Welt und Fernsehwelt, Mensch und Fernsehkonsument in falschen Totalisierungen zusammen. Im Stil einer paternalistischen Verblendungkritik verweist er auf die häkelnden Damen, die zwischen Fernsehwelt und wirklicher Welt nicht mehr unterscheiden können und damit symptomatisch für uns, aber nicht für ihn, den Kritiker stehen. Denn nur weil er zwischen Sein und Schein trotz allem unterscheiden kann, ist seine Kritik am Verschwinden dieser Differenz möglich. Wenn zumindest der Kulturkritiker in der Lage ist, sich dem suggestiven Schein der Fernsehbilder zu entziehen, dann muss das als Beleg dafür genommen werden, dass nicht das Medium Fernsehen selbst die Verblendung diktiert, sondern dass der falsche, nämlich unaufgeklärte oder missbräuchliche Umgang damit zum Realitätsverlust führen kann. Heute, fünfzig Jahre später, sind die häkelnden alten Damen trotz der gesteigerten Verbreitung des Fernsehens, trotz der Zunahme der Sender und Sendungen und trotz des aktuellen Beispiels aus der ›Lindenstraße‹ eine Randerscheinung geblieben, mit der sich kein Fernsehkritiker und kein Leser fernsehkritischer Texte im Ernst identifiziert. Selbst wenn wir gelegentlich in den Irrtum verfallen mögen, einen Schauspieler mit seiner Rolle, einen Moderator mit seinem Image zu identifizieren, sind unsere Kategorien von Wirklichkeit und Schein doch noch soweit intakt, dass wir dies als Irrtum aufklären können. Anders’ Kategorie der Phantomwelt als einer dritten Qualität zwischen Realität und Schein bietet dagegen eine viel überzeugendere Grundlage für die Interpretation unserer Medienwirklichkeit – eine Kategorie, die auch unser moralisches Dilemma in der Nivellierung zwischen Nah und Fern, zwischen »Verprovinzialisierung« und »falscher Globalisierung« beleuchten kann. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 oder die Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004, die in Europa ausschließlich über Fernsehbilder erlebt wurden, sind für die Fernsehzuschauer weder wirklich erfahrbar gewesen, noch ließen sie sich als bloßer Schein, als bloße Bildfolge aus der Wirklichkeit ausgrenzen. Diese Bilder sind genau 188

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das, was Günther Anders als »Phantome« beschreibt: Sie sind keine wirkliche Erfahrung, sondern Erfahrung aus zweiter Hand und sind doch wirklich als etwas, was uns treffen kann. Sie sind keine lebendige Gegenwart, weil wir in unseren Wohnzimmern gar nicht beteiligt sind, und sind doch gegenwärtig, weil wir wissen, dass etwas jetzt geschieht, das Handeln erfordert. Die Fernsehphantome erzeugen eine so unvermeidliche wie obszöne Gleichzeitigkeit von behaglicher Sicherheit und schreiender Not, die in manchen Fällen schwer auszuhalten ist, die wir aber meist gleichmütig hinnehmen. Wenn in den Tagen oder Wochen nach einer solchen Katastrophennachricht die Bilder der verstörten Menschen, der zerstörten Gebäude oder verwüsteten Landstriche sich nur noch zu wiederholen scheinen, wenn schließlich alle erdenklichen Aspekte in allen einschaltbaren Fernsehrunden erörtert sind, haben wir unsere Möglichkeiten als Fernsehkonsumenten ausgeschöpft und gehen zu anderen Themen über – was sollten wir anderes tun? Sollten wir den Schrecken und das Leid der anderen Teile der Welt von Anfang an aus unseren Wohnzimmern verbannen, weil wir ihnen doch nicht gerecht werden können? Das wäre, mit Anders gesprochen, der Weg der »Verprovinzialisierung«, der für niemanden heute mehr eine reale Option darstellt. Die Option kann nur sein, die »falsche Globalisierung« zu einer richtigen zu machen. Aus dieser Perspektive sind die Phantombilder des Fernsehens, die wir als eine eigene Medienwirklichkeit längst in unseren Alltag integriert haben, kein Weltverlust, sondern ein Gewinn für unsere Welt, mit dem umzugehen wir allerdings erst lernen müssen.

Die virtuelle Öffentlichkeit der Masseneremiten Die Frage nach unseren Umgangsformen mit dem Fernsehen im Dienst einer richtigen Globalisierung, nämlich einer bewusst gestalteten, moralisch vertretbaren und lebenswerten Welt, verweist auf eine weitere Facette der Kritik von Günther Anders, für die sein Stichwort des »Masseneremiten« steht. Auch der »Masseneremit« ist bei Anders das Produkt eines Verlusts, nämlich des Verlusts der lebendigen Gegenwart der Welt, in der Erfahrung und Stellungnahme ein gegenseitiges Verhältnis bilden. Masseneremiten, die massenhaft aber jeweils allein in ihren Wohnzimmern mit Nachrichten über die Welt beliefert werden, 189

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sind wir in der Tat erst durch das Fernsehen geworden. Zwar konfrontieren uns auch Zeitung oder Radio als vereinzelte Medienkonsumenten mit Nachrichten über die Welt, ohne eine Möglichkeit zur direkten Stellungnahme zu bieten. Aber erst das Fernsehen als Bild- und Tonmedium mit der Möglichkeit zu so genannten ›Live-Übertragungen‹ hat die Suggestion eines echten Kommunikationserlebnisses so gesteigert, dass es mehr und mehr als Ersatz realer Kommunikation fungiert. Ungeachtet aller verfügbaren Aufzeichnungstechniken, durch die der Zeitpunkt des Betrachtens von Fernsehbildern längst frei wählbar geworden ist, wird die Fernsehübertragung dennoch in bestimmten Zusammenhängen hartnäckig als ein reales Ereignis zelebriert. So wird die Übertragung von Fußballspielen von den Fernsehzuschauern als aktuelles Ereignis inszeniert, das anderen Erfordernissen des Alltags zum Trotz unbedingt zum Zeitpunkt des realen Geschehens erlebt werden muss, und an dem, genau wie in der Fankurve vor Ort, auch im Wohnzimmer mit lauten Zurufen der Anfeuerung, des Missfallens oder der Begeisterung teilgenommen wird – ohne jedoch auf die Bequemlichkeit der heimischen Couch verzichten zu müssen. »In politisch brenzlichen [sic!] Zeiten eilen wir nachhause, um durch die Medien zu erfahren, was es ›draußen‹ gibt«, konstatiert Anders (ebd. II, 84). Und er ergänzt in diesem Zusammenhang seine Diagnose der Verbiederung durch die These von der »Zellenmentalität« der Masseneremiten (ebd. II, 82) als einem habitualisierten Solistentum: »So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus gebracht wird, so wird umgekehrt die Zuhause-Mentalität in die Außenwelt mithinausgenommen« (ebd. II, 85). Wer hat sich während einer langweiligen Veranstaltung, die kein Ende zu nehmen schien, nicht schon die Fernbedienung herbeigewünscht, mit der sich durch einfachen Tastendruck das Programm wechseln lässt – und dann den Ort bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen, weil eine solche ›Fernbedienung‹ keine echte Möglichkeit zu sein schien? Nicht schon die Tatsache, dass durch das Fernsehen »Meinungen heute genauso geliefert werden wie alle anderen Fertigwaren« entzieht den bestehenden Demokratien die Basis, wie Anders meint, sondern erst die Tatsache, dass es neben diesem Supermarkt der Fertigwaren allenfalls noch elitäre Nischen des Kunsthandwerks zur Meinungsbildung gibt, aber keinen politisch rele190

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Weltverlust und Medienwirklichkeit

vanten, als öffentlich erfahrbaren Raum lebendiger Auseinandersetzung. Der eigentliche Verlust, oder weniger rückwärtsgewandt formuliert: die eigentlich gravierende Lücke, die das Fernsehen geschlagen hat, liegt hier, in der lebendigen, interaktiven Öffentlichkeit durch Gemeinsamkeit von Zeit und Raum. Nicht das Verschwinden der Differenz von Wirklichkeit und Schein ist das Problem, das wir durch die verwirrende Mixtur von Ernst und Unernst der Fernsehbilder zu bewältigen haben, sondern der fließende Übergang von der verantwortlichen Teilhabe zum bloß voyeurhaften Konsum. Dies ist aber nicht, wie es u.a. die Thesen Neil Postmans nahe legen, in erster Linie ein Problem der Qualität der Sendungen und ihrer Neigung zum »Infotainment«. Es ist vielmehr ein strukturelles Problem der Situation, in die wir uns als Fernsehzuschauer gebracht haben. Das moralisch Anstößige der Gleichzeitigkeit unserer behaglichen Sicherheit im Fernsehsessel und der schreienden Not, die uns manche Phantombilder des Fernsehens liefern, liegt nicht darin, dass es auf der Welt gleichzeitig glückliche und unglückliche Menschen gibt. Auch das erleben wir durchaus als moralisch anstößig, wenn wir uns verantwortlich fühlen für das allgemeine Wohl. Aber das ist keine Anstößigkeit, die das Medium verursacht. Die vom Fernsehen verursachte moralische Anstößigkeit liegt darin, dass wir vor dem Fernseher zu bloßen Voyeuren des Unglücks anderer werden, und zwar auch dann, wenn die Journalisten sich um einen seriösen und respektvollen Stil der Berichterstattung bemühen. Ohne die konkrete Gegenwart der Situation, ohne die Gegenseitigkeit der Kommunikation und damit die Möglichkeit, auf das phantomhaft Erlebte zu reagieren, sind wir, wie Günther Anders es ausdrückt, »der Lieferung ausgeliefert« (ebd. II, 130, 197). Der verhängnisvolle Gewöhnungseffekt, der mit dem Konsum solcher »Lieferungen« verbunden ist, liegt nicht so sehr in einer emotionalen Abstumpfung gegenüber fremdem Leid, sondern vor allem in der Beschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten auf ›Ein‹ oder ›Aus‹. Das Internet als Massenmedium hat diese ›Einwegkommunikation‹ in manchen Hinsichten durchbrochen und mit der Möglichkeit der massenhaften Teilnahme an globalen Kommunikationsprozessen eine ›virtuelle Öffentlichkeit‹ geschaffen, die nicht an die Identität von Raum und Zeit gebunden ist. Im Verbreitungsgrad allerdings kann das Internet mit dem Fernsehen noch nicht kon191

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kurrieren – und deshalb bleibt bis auf weiteres das Fernsehen das Leitmedium der politischen Öffentlichkeit.

Spendensammlung, Verbrecherjagd und die Lust am Handeln Nur selten können Fernsehnachrichten so beeindrucken, dass ein massenhafter Impuls zum Handeln geweckt wird. Die meisten Informationen und Bilder des Fernsehens hinterlassen keinen derart wirksamen Eindruck; es gelingt ihnen gar nicht erst, die Aufmerksamkeit einer relevanten Gruppe von Zuschauern zu bündeln. Wo solche Aufmerksamkeit und der Wunsch zum Handeln dennoch geweckt werden, verlieren sich erste Impulse meist in der Suche nach Schuldigen und der Resignation vor unübersichtlichen politischen Verhältnissen. Diese Unübersichtlichkeit selbst ist sicher keine neue, die uns erst das Fernsehen beschert hätte. Die Wirkung des Fernsehens besteht darin, dass es uns handlungsrelevante Nachrichten liefert, ohne einen Raum zu eröffnen, in dem unsere Reaktionen darauf stattfinden könnten. Allenfalls in dafür besonders günstigen Fällen, wie z.B. bei der Flutkatastrophe in Südostasien in den Weihnachtstagen 2004, kann es dem Fernsehen gelingen, durch Spendenaufrufe und Berichte über die Arbeit der Hilfsorganisationen vor Ort nicht nur Phantombilder, sondern auch reale Handlungsoptionen aufzuzeigen. Damit erzeugt das Medium jedoch auch eigene Probleme: Es ist selbst ein Akteur im politischen Prozess, der eine bestimmte Strategie vertritt und seine Berichte und Sendungen dieser Strategie unterordnet. Kritische Berichte über ineffektive Verwendungen von Spendengeldern werden vermutlich eher vermieden, solange die Redaktionen selbst Spendenaufrufe verbreiten. Zudem mündet die politische Strategie unvermeidlich auf das Feld, auf dem das Fernsehen immer schon Akteur ist, nämlich auf den Markt der Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Die Zählung der Spenden verselbständigt sich als ›Charity-Count‹ parallel zum ›Body-Count‹ der neuen Opferzahlen und wird zum Aufmerksamkeitsmagneten höherer Ordnung. Die fortgesetzte Berichterstattung über die Katastrophenregion auf allen Kanälen erzeugt bei den Zuschauern den gleichen Effekt wie Unterhaltungsserien: Man schaltet ein, um zu sehen, wie es dort unten nun weitergeht. Trotzdem ist gerade die 192

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Spendensammlung durch das Fernsehen sicher ein Beispiel, das nicht Kritik sondern Unterstützung verdient. In anderen Fällen, in denen das Fernsehen zum Handeln aufruft, ist die Kritik eher angebracht, z.B. wenn »XY-ungelöst« die Zuschauer zur Verbrecherjagd animiert. Letztlich kann es nicht darum gehen, dem Fernsehen selbst abzuverlangen, uns auch noch die Arena zu bereiten, in der wir real handeln könnten und uns die Optionen vorzugeben, nach denen wir handeln sollen. Denn die Basis solcher Verknüpfung ist, wie Günther Anders gezeigt hat, die Welt der Matrize, die fernsehgerecht inszenierte Wirklichkeit. Die Euphorie des ›Public Viewing‹, die in Deutschland im Fußballsommer 2006 zu erleben war, und die das düstere Bild der »Masseneremiten« lebhaft zu konterkarieren schien, bleibt begrenzt auf Fälle fernsehgerecht inszenierbarer und inszenierter Ereignisse. Kollektiverlebnisse dieser Art können durchaus ein positiver Beitrag des Fernsehens zur gesellschaftlichen Integration sein, der nicht unter das Verdikt randständiger Kritiker fallen muss, Massenmanipulation oder Pseudoereignis zu sein. Doch bleibt dies ein Spezialfall massenmedial inszenierter und gemeinschaftlich erlebter Öffentlichkeit, der für die politische Öffentlichkeit nur sehr begrenzt tauglich ist. Der neuen Rolle des Fernsehens als Vermittler von Massenpartys allerdings hätte es nicht mehr bedurft, um klarzustellen, dass die Forderung nach Abschaffung des Fernsehens, die Günther Anders nahe legt, selbst längst weltfremd geworden ist. Dies kann, wenn überhaupt, nur eine individuelle, aber keine gesellschaftliche oder globale Option sein. Es geht auch nicht allein um die Verbesserung oder Ergänzung des Fernsehens durch andere Technologien, wie z.B. das Internet, um die Einseitigkeit der Kommunikation und die erzwungene Sprachlosigkeit der Zuschauer aufzuheben. Wenn wir nicht dem fatalistischen Tenor eines Weltverlustschmerzes verhaftet bleiben wollen, müssen wir das demokratische und globalisierende Potential der neuen Medienwirklichkeit nutzen und ihr eine lebendige politische Öffentlichkeit zur Seite stellen. Worauf es heute wie damals vor allem ankommt, ist die Ergänzung der technisch vermittelten durch eine lebendige Kommunikation, die sich als öffentliche erfahren kann. Im Prozess der richtigen, also realen und moralisch vertretbaren Globalisierung ist das Fernsehen nicht nur ein Gewinn, sondern bis auf weiteres unverzichtbar. Den Zeitpunkt des Absprungs 193

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zu bestimmen, den Moment, bevor die Medienkommunikation beginnt, als Ersatz statt als Vermittler lebendiger Kommunikation zu fungieren, diese Leistung müssen wir selbst erbringen. Es bleibt zu hoffen, dass das von Hannah Arendt so emphatisch hervorgehobene Charakteristikum des Menschen als eines zur Politik begabten Wesens, nämlich die Lust am Handeln zumindest hin und wieder dafür sorgen wird, dass uns dieser Absprung gelingt. Weil es praktisch nicht um die Abschaffung des Fernsehens geht, sondern um seine richtige Nutzung und Ergänzung als Medium der Öffentlichkeit, greift der philosophische Ansatz der Kulturkritik allein zu kurz. Die Kulturkritik fragt nach den strukturellen Auswirkungen solcher medialen Praktiken auf eine derart erzeugte und veränderte Kultur. Ergänzt werden muss sie um die gesellschaftstheoretische und -empirische Perspektive, die Massenmedien als Institutionen in das übergeordnete Gefüge gesellschaftlicher Institutionen einordnet und erforscht. Beide Perspektiven bedürfen drittens der Ergänzung durch die Medienethik, die die praktischen Voraussetzungen und Normen der Mediengestaltung und -nutzung in den Blick nimmt. Günther Anders Kategorien der Verbiederung, der Phantom- und Matrizenwelt und des Masseneremiten können für diese verschiedenen Ebenen der Medientheorie einen kritischen Rahmen bieten, der dazu beitragen mag, dass wir unsere Welt nicht verlieren, sondern verstehen und gestalten.

Literatur Anders, Günther (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution; Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München.

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Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer Medienästhetik

Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer kritischen Medienästhetik Burkhardt Lindner

Welchen Ort hätte die Ästhetik, die sich in der Neuzeit als Diskurs philosophischer Reflexion über die Künste herausgebildet hat, für eine Medientheorie, die die traditionellen Kunstmedien, den Einschnitt der phono-photographischen Reproduktionsmedien, deren Transformation in elektronisch-audiovisuelle Verbreitungsmedien und die computerielle Digitalisierung umfassen will? Die Frage im Konjunktiv aufzuwerfen unterstellt, dass es bislang keine Medienästhetik gibt, die dem Anspruch der philosophischen Ästhetik genügte oder ihm genügen wollte. Vergröbernd gesagt lässt sich feststellen: Einerseits gibt es den großen, insgesamt dominanten Bereich von technisch-informationstheoretischen und von kommunikationswissenschaftlichen Richtungen der Medientheorie, die die Künste und das Ästhetische der Kunst schon im theoretischen Ansatz rigoros ausklammern. Andererseits gibt es durchaus beachtenswerte Bestrebungen, die Medientheorie nicht derart vom Bereich der Künste abzukoppeln, sondern aus den vom Film ausgehenden Medienveränderungen des 20. Jahrhunderts neue Paradigmen der ästhetischen Produktionsweise und Wahrnehmung abzuleiten. Prämisse dieser ›medienästhetischen‹ Richtungen ist allerdings die Annahme, dass die Problemstellungen und Konzeptualisierungen der klassischen philosophischen Ästhetik nicht mehr taugen und schon rein medientechnisch überholt sind.1 1. Um nicht zuviel Literatur anführen zu müssen, verweise ich nur auf zwei exemplarische Darstellungen: Schnell 2000 und Manovich 2001. Beide

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Die Frage nach der Bedeutung der Ästhetik im medientheoretischen Kontext will ich thesenhaft zu beantworten versuchen, doch zugleich möchte ich das Thesenhafte an einem konkreten mediengeschichtlichen Beispiel überprüfbarer machen. Der Gegenstand, den ich dazu gewählt habe, ist der Kurbler an der Filmkamera, wie er vom alten Stummfilm bekannt ist und in einem Roman Pirandellos2 thematisiert wird.

1. Medien und philosophische Ästhetik Ein Verdacht drängt sich auf: Das Abtun der philosophischen Ästhetik in der neuen Medientheorie ist selbst ein Ausdruck theoretischer Hilflosigkeit und schlechter ›Modernität‹. Dass die Konzeptionen philosophischer Ästhetik tatsächlich bereits anspruchsvolle Wahrnehmungs- und Medienreflexionen bereithalten, wurde nicht begriffen. Mit dieser Hypothese möchte ich einsetzen. Gewiss: Ästhetik als die Lehre vom idealen Schönen, in der sich der Wahrheitsanspruch des Kunstwerks begründet, kann keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Aber auf solchen Pudelskern lässt sich die klassische Ästhetik nicht reduzieren. Einer derartigen Vereinfachung wäre entgegenzuhalten: Ästhetik war Bücher sind konzeptuell so angelegt, dass sie den Gesamtbereich der Medien Fotografie, Film (und Literatur), Video, Fernsehen bis zum Computer abhandeln, wobei Manovich von der Datentechnologie des Computers ausgeht und von hier aus die Geschichte des Films neu konstruiert. Beide Male kommt die übergreifende Perspektive, so die von mir verfolgte These, unter den Bedingungen einer Liquidierung der philosophischen Ästhetik zu Stande. Gleiches gilt auch für die durchaus instruktive Textsammlung von Packer/Jordan 2001. 2. Zitiert wird nach der deutschen Ausgabe: Pirandello 1997. Die weiteren Zitatbelege erfolgen direkt im Text mit der Sigle SG + Seitenzahl. Es lohnt sich, hier die davon abweichenden Formulierungen der ersten deutschen Übersetzung zu vergleichen, die 1928 unter dem Titel »Kurbeln. Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Filmoperateurs Serafin Gubbio« erschien, hg. und übers. von Hans Feist unter Mitwirkung von W.E. Süskind. Diese Ausgabe ist wegen ihrer Kürzungen problematisch, wahrt aber als Übersetzung den zeitgenössischen Sprachstand besser als die modernisierende Neuausgabe.

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immer schon mehr als Ästhetik des Schönen. Deshalb stellt auch die Wendung zur medialen Wahrnehmung, zur Aisthesis im weiteren Sinne, keinen Bruch mit ihr dar.3 Programmatisch und methodisch hat dieser Wendung zuerst der keineswegs nur auf die Literatur beschränkte Russische Formalismus in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts vorgearbeitet. Er sieht das Ästhetische durch eine gesteigerte Wahrnehmung konstituiert, die vom Kunstmaterial erfordert wird. Das ist die Theorie von der Kunst als Differenzqualität und Praxis einer Desautomatisierung der Wahrnehmung qua Verfremdung und Freilegung der in der Automatisierung der alltäglichen Wahrnehmungsvollzüge zugedeckten Wahrnehmungsqualitäten. Das ist wichtig und richtig und doch nicht genug. Die philosophischen Ästhetiken von Kant bis Adorno, von Lessing bis Valéry, haben sich damit nicht begnügt. Bei aller Verschiedenheit stimmen sie darin überein, dass die Rezeption von Kunstwerken nicht bloß eine gesteigerte Wahrnehmung zur Voraussetzung hat, sondern eine Reflexion der Wahrnehmungsbedingungen selbst auslöst, ermöglicht und verlangt. Vorausgesetzt ist damit, dass die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung im Kunstwerk selbst thematisch wird; dass darin geradezu das Privileg des Kunstwerks besteht. Entgegen dem Vorurteil ist darauf zu bestehen, dass in der sogenannten Idealistischen Ästhetik4 die Reflexion der technischen 3. Demgegenüber findet sich immer wieder das Argumentationsschema, der metaphysische Diskurs der philosophischen Ästhetik werde durch eine materiale Theorie medialer Wahrnehmung abgelöst. Dabei beruft man sich sehr häufig auf bestimmte Formulierungen in Benjamins Kunstwerkaufsatz. So lobt etwa Schnell den Kunstwerkaufsatz als Pionierleistung, »weil Benjamin seine Ästhetik nicht als […] Kunstphilosophie entfaltet, sondern […] als Lehre von der Wahrnehmung« (Schnell 2000: 9). Das entspricht einer verbreiteten, aber nichtsdestoweniger unzulässig vereinfachenden Lektüre. Dagegen ist zu sagen, dass gerade diese Abhandlung, indem sie sozusagen als ihr Herzstück den Begriff des Kunstwerks entfaltet, sich kritisch im Diskurs der philosophischen Ästhetik situiert. Vgl. Lindner 2006. 4. Kants Kritik der Urteilskraft zog eine prinzipielle Grenze zwischen den ästhetischen Geschmacksurteilen, die der Kunst und dem Subjektiv-Ästhetischen der Natur gelten, und der objektiven Erkenntnis einer teleologischen »Technik der Natur«, die er von der Kunstsphäre geschieden wissen

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Bedingungen oder der materiellen Voraussetzungen des Hervorgebrachtseins keineswegs unterschlagen werden. Ich halte mich hier der Einfachheit halber an Hegel. Hegels Ästhetik ist sich über die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Medium vollständig im Klaren. Er hebt in seinen Vorlesungen hervor: Die »Täuschung durch den Schein der Kunst beruht darauf, daß alle Wirklichkeit beim Menschen das Medium der Anschauung und Vorstellung hindurchgehen muß und durch dies Medium erst in Gemüt und Willen eindringt« (Hegel 1965, Bd. I: 56). Und er unterstreicht dort weiter, dass dieses Hindurchgehen über die formierende Abstraktion der Bilder, Zeichen, Töne geschieht, die sich von der unmittelbaren sinnlichen Wirklichkeit abgelöst haben. Hegels allgemeine Bestimmungen des Kunstwerks als solchem heben weiter hervor, dass das Kunstwerk Resultat eines »echten Produzierens« sei, weil es »der Bildung durch den Gedanken, der Reflexion auf die Weise seiner Hervorbringung sowie der Übung und Fertigkeit im Produzieren bedarf« (ebd. 38 und 49). Für die Wahrnehmung bedeutet dies, dass das Produziertsein nicht als kontingente Arbeitsspur im reinen Kunstgenuss abzustreifen sei, sondern erkannt und anerkannt werden soll. Im idealen Kunstwerk hat die produzierende Phantasie der technisch-handwerklichen Fertigkeit den Stoff und das Material derart zur konkreten individuellen Werkgestalt durchgearbeitet, dass jeder Teil »das Ganze an ihm erscheinen macht«. Deshalb kann Hegel hierfür ›das Auge‹ als theoretische Metapher für die Einheit von Ausdruck und Vermittlung einsetzen. In »dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur durch dasselbe, sondern wird auch darin gesehen. […] so macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus« (ebd. 156 und 155). Die Rede vom tausendäugigen Argus ist keine Katachrese, sondern ein methodisches Bild. Es besagt, dass das Kunstwerk auf jeder seiner Rezeptionsebenen die Augen aufzuschlagen vermag. Nichts bleibt ihm äußerlich. Abstrakter formuliert: Die Bedingungen der Wahrnehmung und die Bedingungen der Hervorbringung fallen tendenziell zusammen. Eine produktionsästhetische Relektüwill. Im Anschluss und in Abweisung von Kants Grenzziehungen wird in der Folge eine Theorie des Kunstwerks ausgearbeitet, in der dessen Scheincharakter und dessen Technizität zusammengedacht werden sollen. Vgl. zu dieser produktionsästhetischen Wende in größerem Zusammenhang Köhn 2005.

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re der Hegel’schen Ästhetik wird freilich deren Fundierung in der »Seele«5 als der leiblich-individuellen Identität des Inneren mit dem Äußeren revidieren und gerade den Teilen besonderes Interesse zuwenden, in denen die Dialektik des Inneren und Äußeren auseinander tritt und disparat wird: der Vor-Kunst, die Hegel »Symbolische Kunstform« nennt, und der »Auflösung der romantischen Kunstform«, mit der die Moderne einsetzt.

2. Bloß eine Hand, die kurbelt In der Frühzeit des Kinofilms, in der Phase seiner ersten Kommerzialisierung, entsteht ein Beruf, der damals auch im Deutschen der Operateur hieß. Worin dessen Tätigkeit besteht, lässt sich folgendem Zitat entnehmen: »Ich bin Kameramann, Operateur, wie man so schön sagt. Aber um ehrlich zu sein […] hat Operateur nichts mit Opus zu tun, nichts mit Werken, die ich schaffen würde. Ich schaffe gar nichts. Alles was ich tue, ist das: ich stelle meine Maschine auf das Stativ mit den drei einschiebbaren Füßen. Ein oder zwei Arbeiter ziehen nach meinen Anweisungen […] die Grenzstriche, innerhalb derer sich die Schauspieler bewegen dürfen, ohne in der Szene den Aufnahmebereich der Kamera zu verlassen. […] [Der Regisseur] sagt mir, je nach Länge der Szene, wieviele Meter Film wir ungefähr brauchen, dann schreit er zu den Schauspielern hinüber ›Achtung, Aufnahme!‹ Und ich beginne die Kurbel zu drehen.« (Pirandello 1997: 7)

Der Mann, der hier melancholisch seine berufliche Existenz als eine »Hand, die eine Kurbel dreht« (ebd. 8 und durchgehend, z.B. 26; 260) bezeichnet, ist die Hauptfigur von Pirandellos Roman »Quaderni di Serafino Gubbio operatore«. Der Roman erschien 5. Vgl. dazu auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1986, Dritter Teil, § 388 – § 411. Der enge Bezug, den seine Ästhetik zum Klassizismus der menschlichen Gestalt, darin also anti-romantisch, unterhält, zeigt die folgende Passage: »Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat.« (Ebd. 192).

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1915. Wie der Titel »Quaderni« (Schreibhefte) verrät, ist der Roman in Ich-Form geschrieben. Es handelt sich um einen auch literarisch hochinteressanten Roman, in dem mehrere Ebenen zusammengefügt sind. Man kann den Roman als einen lebensphilosophisch-kulturkritischen Essay lesen, in dem das Zeitalter einer zunehmenden Mechanisierung der Welt und der Herrschaft der Maschine über den Menschen beschrieben wird, fast schärfer noch als bei Bergson und Simmel.6 Dazu passt auch, dass Gubbio ausgerechnet bei Dreharbeiten in einem Obdachlosenheim, also an einem Ort, an dem die aus dem Produktionsprozess Herausgefallenen Asyl gefunden haben, als Operateur engagiert wird. Ebenso kann man ihn als frühe Einsicht in die Mechanismen der Kulturindustrie interpretieren. Indem die Aufzeichnungen über Dreharbeiten der Filmfirma »Kosmograph« berichten, erzählen sie von der Arbeit an einem reißerischen Film über eine englische Miss, die durch Indien reist, mit dem Titel »Frau und Tigerin« und gleichzeitig von einem nicht minder melodramatischen Beziehungsgeflecht der Schauspieler zur Femme fatale Varia Nestoroff, das mit einem spektakulären Mord endet. Und schließlich finden wir in dem Roman erstaunliche medienarchäologische Beobachtungen. So z.B. eine Passage über das eigenartige Altern der eigenen Fotografie, wie man sie eher bei Barthes und Kracauer vermutet hätte. Der Zeitpunkt des Aufgenommenseins, die »Zeit dort drinnen im Bild«, heißt es, steht nicht bloß still, sondern entfernt sich, während wir altern, nur in entgegengesetzter Richtung: in die Vergangenheit hinein, so dass je jünger wir aufgenommen wurden, wir uns umso älter und ferner erblicken (ebd. 256ff.). Ich beschränke mich hier nun auf die genauen Beschreibungen der Filmproduktion und die ungewöhnlichen Reflexionen über das Kurbeln, über den apparativen Aufzeichnungsvorgang selbst. Gubbio, der Kameramann, bewegt sich zwischen der »Photographischen oder Positiv-Abteilung«, wo er seine »jungfräulichen 6. So heißt es: »Hören Sie es? Eine Hummel, die unaufhörlich summt […]. Was ist das? Das Summen der Telephondrähte? Das dauernde Entlangstreichen des Straßenbahnbügels an den Fahrleitungen? Das bedrohliche Rütteln so vieler Maschinen, näher und ferner? Oder das des Motors im Automobil? Oder des Kinematographen?« (Pirandello 1997: 12)

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Filmstreifen« abholt, den Studios und ihrem Fundus und eben »der Künstlerischen oder Negativ-Abteilung«, wo der Film fixiert, geschnitten und geklebt wird. Dies sind »unterirdische Räume« in »düsteres, unheilvolles, blutigrotes Licht« getaucht. Ein unheimlicher Ort. Ich zitiere auszugsweise aus dieser längeren Beschreibung: »Das Leben, das die Maschinen verschlungen haben, das ist jetzt hier, in diesen Bandwürmern, will sagen, in den Filmstreifen […]. Das Leben, das keines mehr ist, bedarf jetzt der Fixierung. […] Wir sind hier wie in einem Bauch, in dem sich eine monströse, mechanische Schwangerschaft entwickelt.« (Ebd. 67ff.)

Gubbios eigentlicher Ort, sein Standort, ist der hinter der Kamera. Und hier hat auch das gespenstische Leben der Filmproduktion seinen eigentlichen Ursprung. Hier ist Gubbio nicht nur Beobachter, sondern auch Selbstbeobachter. »Um es ehrlich zu sagen, die wichtigste Eigenschaft, die einer für diesen Beruf braucht, ist die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Handlung, die sich vor der Maschine abspielt« (ebd. 9). Die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Handlung, die sich vor seinen Augen abspielt, ist Voraussetzung des Kurbelns. Das Auge wird anästhesiert, von jeder emotionalen Einfühlung abgelöst, und passt sich der mechanischen Handbewegung des Kurbelns an. Das Ohr hört das gleichförmige Ticken des Apparats. So heißt es: »[…] meine Augen und Ohren sehen und hören durch die lange Gewohnheit schon alles auf diese merkwürdige, rasche, zitternde und tickende Art« (ebd. 267 und 12). Der Aufzeichnungsapparat, der Ort des Kameramanns, tritt an die Stelle von Hegels Medium der (geistigen) Vorstellung. Am Ort des Kameramanns vollzieht sich, wie Gubbio beobachtet, ein doppelter Abtötungsvorgang. Er betrifft zum einen ihn selbst als Kameramann, dessen Existenz auf die Funktion ›Hand zum Kurbeln‹ reduziert ist. Er betrifft aber ebenso die Schauspieler, die ohne echtes Publikum vor der Kamera agieren, ohne ganz zu begreifen, dass ihr Leben »der Maschine zum Fraß vorgeworfen wird«. Die Schauspieler »legen sich nicht so klar Rechenschaft ab, aber mit meiner Kurbel in der Hand bin ich für sie tatsächlich so etwas wie ein Henker«. Sie »ahnen dunkel, in einer wahnhaften, undefinierbaren Empfin201

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dung der Leere, ja, besser des Leerwerdens, daß ihrem Körper seine Realität, sein Atem, seine Stimme entzogen, geraubt, weggenommen wird […], so daß nichts zurückbleibt als ein stummes Bild, das einen Augenblick lang auf der Leinwand erzittert und dann wieder stumm verschwindet, ganz plötzlich wie ein körperloser Schatten […]« (ebd. 84ff.). Ohne Zweifel ist in dieser Beobachtung das Paradigma des Bühnenschauspiels präsent, an dessen Erfahrungsqualität das Filmschauspiel und die Filmaufzeichnung gemessen werden. Gemessen daran saugt der Kurbler als Anhängsel der fixierten Kamera vampirhaft das Leben vor der Kamera in den Apparat hinein. Aber das mindert keineswegs die Sorgfalt seiner Beobachtungen. So kommt bei Pirandello die Großaufnahme des Gesichts schon vor, »in der man jedes einzelne Wimperhaar zählen kann« (ebd. 256 und 259). »Un chien andalou« von Bunuel (und Dali) wird diese Wahrnehmung bei dem berühmtesten Schnitt der Filmgeschichte – dem Schnitt der Rasierklinge durchs Auge – aufnehmen, indem die zählbaren Wimpern der Frau und des Kuhauges identisch erscheinen. Es ist deshalb auch nicht zureichend, die Hauptfigur des Romans ausschließlich als Repräsentanten einer anachronistischen Haltung zu betrachten. Gubbio wird vielmehr in einen Gegensatz zu einer anderen Figur gesetzt, zu seinem Freunde Simone Pau, der seinen Beruf des Violonisten in dem Moment aufgibt, da er mit seiner Geige ein mechanisches Klavier begleiten sollte, und stattdessen lieber zu trinken beginnt. Gubbio kommentiert sehr ironisch dessen Überzeugung, in dieser Verweigerung sich und seiner Kunst treu geblieben zu sein. Er hingegen setzt sich den Entfremdungserfahrungen der Moderne bewusst aus. Daraus entspringt seine Philosophie. Parallel zu Freuds »Das Unbehagen in der Kultur« konstatiert er, »daß der Mensch auf dieser Erde dazu bestimmt ist, sich unwohl zu fühlen, weil er mehr mitbekommen hat, als notwendig wäre um sich wohlzufühlen, das heißt ruhig und zufrieden zu leben. […] Je mehr der Mensch aber auf der Erde selbst sein Überflüssiges in Wahnvorstellungen und Komplikationen umzusetzen versucht, desto schlimmer steht es um ihn« (ebd. 15f.). Die modernste Version der Wahnvorstellung besteht in der Annahme, mit der technischen Perfektionierung der Maschinen werde die Erde immer komfortabler und bewohnbarer.

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3. Vier Reflexionspunkte Es ließe sich einwenden: Wozu einen alten Roman heranziehen, der schon zum Zeitpunkt seiner Publikation von der Fortentwicklung des Mediums überholt wird? Die Mechanik des Kurbelns trat zurück, wurde Teil der beweglichen Filmkamera und verschwand vollends mit dem elektrischen Antrieb des Filmtransports. Und aus dem Operateur wurde der Kameramann, wie wir ihn heute kennen: ein Spezialist der Aufnahmetechnik im gehorsamen Bunde mit dem Regisseur. Aber ganz in filmgeschichtliche Vergessenheit geriet der Roman nicht.7 Denn ohne Zweifel halten die Erfahrungen und Reflexionen des Serafino Gubbio etwas fest, das weiter signifikant bleibt. Es handelt sich, wie gesagt, um sehr genaue Wahrnehmungen. Nichts Geringeres wird hier zum ersten Mal wahrgenommen und reflektiert als jenes Verschwinden der Aura, das später Benjamin im Fotografie- und im Kunstwerkaufsatz thematisieren wird. (Darauf werde ich allerdings nicht weiter eingehen.) In der Figur des Gubbio registriert Pirandello früh eine Abspaltung der werkerzeugenden Apparatur vom Werk. Der Apparat zeigt sich als Fremdkörper, dessen Spur anders als die eines Werkzeugs wie Pinsel oder Schreibutensil, dem die individuelle Handschrift zugehört, zum Verschwinden gebracht werden muss. Wir müssen deshalb genauer bedenken, warum das, was Gubbio (und Pirandello) beunruhigt und beschäftigt, eine ästhetische Problematik darstellt. Sie besteht ja nicht eigentlich nur in der Sensibilität für das Neue des Apparates, sondern in der Beunruhigung darüber, wo diese Entfremdungs-Erfahrung des Kameramanns bleibt, was von ihr übrig bleibt. Dies soll nach vier Gesichtspunkten erörtert werden.

7. Auszüge in französischer Übersetzung erschienen unter dem Titel »On tourne« in der filmhistorisch bedeutsamen Reihe »L’art cinématographique« (Bd. II, Paris 1927). Hier stieß Benjamin bei der späteren Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes auf den Text, dem er in seiner Argumentation einen gewichtigen Platz zuweist.

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3.1 Apparat und Kamera-Auge Gubbio kurbelt. Ins Kino geht er nicht. Vermutlich würde sich sein Leiden dort nur vergrößern, nicht wegen der Primitivität der Kommerzstreifen, die er teilnahmslos dreht, sondern weil er seine ästhetische Erfahrung mit dem Publikum nicht teilen kann. Sein Berufsgeheimnis von der tödlichen Kraft der Apparatur, das er den Schreibheften anvertraut, ist dem Kinopublikum nicht zugänglich. Für das Kinopublikum ist der Kamerakurbler verschwunden. Betrachten wir dieses Verschwinden genauer. Es ist üblich vom Kamera-Auge (Schnell 2000: 103; Manovich 2001: 273 zu Wertows Kino-Glaz) zu sprechen – was Pirandello interessanterweise nicht tut – um die vom fotografischen Medium hervorgerufenen Wahrnehmungsveränderungen zu kennzeichnen. In dieser Redeweise wird ausgesprochen, dass der Zuschauerblick den fertigen Film so rezipiert, als sei das Zeigen der Bilder durch den fertigen Film mit der Kamera-Aufzeichnung gleichzeitig. Dieser Effekt kommt dadurch zu Stande, dass die Aufnahmeapparatur selbst nicht-sichtbarer Teil des Films ist und auch nicht wahrnehmbar sein soll. Dem hat die Entwicklung der Filmtechnik vorgearbeitet. Das Apparate-Material bildet das Rohmaterial, das erst Schnitt und Montage filmgerecht machen. Zu Pirandellos Zeit war dies noch primitiv. Die Weiterentwicklung der Filmtechnik arbeitet daran, dass das Zuschauer-Auge mit dem sogenannten Kamera-Auge illusionär zusammenfällt. Dies gilt für die Hollywood-Ästhetik des unsichtbaren Schnitts genauso wie für Eisensteins Montagefilm. Es ist hier auch nicht entscheidend, danach zu differenzieren, ob der Blick eher gelenkt oder in Schockmontage beschossen wird. Denn Schnitt und Montage haben mit der eigentlichen Aufnahme nichts zu tun, sie legen nicht den Vorgang des Filmaufzeichnens nachträglich frei. Was zu sehr ›abgefilmt‹ erscheint, wird bei der Spielfilm-Montage weggeworfen. Das heißt aber: Der Blick des Zuschauers, der sich als mit dem Kamera-Auge zusammenfallend erfährt, ist eben nicht der des Aufzeichnungs-Apparats sondern einer unterschwellig mitimaginierten Kamera, die als Auge metaphorisiert wird. In der Tat ist die filmfotografische Wahrnehmung, die ein kompliziertes Resultat aus mise en scène, beweglicher Kamera, Einstellung, Schnitt und Montage darstellt, in einer rein optischen Lo204

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Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer Medienästhetik

gik schwer zu erklären, weshalb auch immer wieder und nicht nur wegen der Dunkelkammersituation des Kinos die Traumwahrnehmung vergleichend herangezogen wird. An die Stelle der beiden uns vertrauten Augen tritt die Empfindung einer Art von künstlich erweitertem, traumhaft gleitendem, polyperspektivisch blickendem Sehorgan. In Anlehnung an Jacques Aumont könnte man von einem »Surrogat-Auge« sprechen, das im Spektrum des Films das in der Malerei der Moderne ausgebildete »variable Auge« technisch einholt und überbietet.8 Aber genau dies ist die Frage, ob die durch abstrakte Malerei, Film und urbane optische Signalwelten veränderte Wahrnehmung überhaupt derart mit der Kameraoptik identifiziert werden kann. Die Rede vom Kamera-Auge tendiert dazu, die technischen Vorgänge der Aufzeichnung, der Montage und der Projektion in der Kamerawahrnehmung zusammenfallen zu lassen. Als technoorganische Metapher suggeriert sie darüber hinaus eine Unmittelbarkeit des Sehens (vergleichbar dem Fernrohr oder dem Mikroskop), die die Differenz von Sehen und Angeblicktwerden verdeckt. Damit entpuppt sich die Rede vom Kamera-Auge als ein Anthropomorphismus, der die mediale Struktur des Films verdeckt. Für eine medienanalytische Ästhetik ist die Rede vom Kameraauge nicht ausbaufähig.

3.2 Traditionelles vs. apparatives Kunstwerk Wie könnte angesichts der offenkundigen technischen Produziertheit des apparativen Kunstwerks diese Produziertheit in das Kunstwerk eingehen? Wenn wir an die oben dargestellten produktionsästhetischen Prämissen der Hegel’schen Ästhetik zurückdenken, ergibt sich medientheoretisch hier eine überraschende Beobachtung. Gerade die traditionellen, körper- bzw. werkzeuggebundenen Medien der Sprache, der Schrift und des Drucks, der Malerei sowie des Theaters erlauben es, im Kunstwerk die Reflexion auf ihre technischen Hervorbringungsbedingungen einzuschreiben. Derart 8. Aumont 1992: 77ff., hier S. 82 sowie Aumant 1990. – Eine ausführlichere Kritik müsste auch die verflossene »Apparatus-Debatte« (Baudry, Comolli u.a.) einbeziehen, was hier wegen der komplexen Bezüge zu marxistischer Ideologiekritik und Psychoanalyse beiseite bleiben muss.

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lässt sich z.B. an einem Originalgemälde das Gemaltsein wahrnehmen, und dies nicht nur in dem Fall, dass die Maltechnik unübersehbar hervortritt, sondern auch in dem Fall, wo durch besondere Lasuren die Spuren des Pinsels verschwunden scheinen. Die Literatur wiederum bietet überreichlich Beispiele, wo die Instanzen der Hervorbringung einschließlich des Buchdrucks in die Textualität einbezogen werden.9 Und schließlich lebt das Bühnentheater davon, dass es über das Theater im Theater hinaus seine gesamte Apparatur ins Drama einschließen kann: von Tiecks »Der Gestiefelte Kater« bis Pirandellos »Sechs Personen suchen einen Autor« oder Weiss’ Marat-Sade-Stück. Dies allgemein Bekannte festzustellen ist dann nicht mehr banal, wenn wir damit auf eine grundlegende Differenz zu den neuen apparativen Medien stoßen. Offenkundig lassen die apparativen Medien audiovisueller Reproduzierbarkeit diese Einholung der Technik nur eingeschränkt zu. Es entstehen hier zum ersten Mal Kunstwerke, so lässt sich thesenhaft sagen, in denen die technischen Bedingungen ihrer Hervorbringung technisch nicht wieder eingeholt werden können. Das trifft schon in einer ganz einfachen Hinsicht zu. Ohne Zweifel kann der Film die Produktion eines Films selbst zum Thema machen. Aber dieses Zeigen der filmenden Kamera muss selbst wieder mit einer weiteren Apparatur gefilmt werden, die unsichtbar bleibt. Das Filmen kann sich nicht filmen; aus dem Gefilmten bleibt etwas ausgeschlossen: der Apparat. Ein im Spiegel wahrnehmbarer Kameramann erscheint als Fehler in der Aufnahme. Wir gelangen also zu einem Ergebnis, das zu der Hauptthese der eingangs vorgestellten Medienästhetik völlig konträr steht. Gerade das traditionelle Kunstwerk erlaubt die Einbindung sämtlicher technischer Faktoren, weshalb die von ihm aus entwickelte Ästhetik zu der weitreichenden Annahme gelangen konnte, im Kunstwerk können seine medialen Bedingungen und die von Wahrnehmung überhaupt zugänglich gemacht und ›ausgestellt‹ werden. Demgegenüber erweist sich dies beim technisch-apparativen Kunstwerk als weitaus schwieriger. Die ästhetische Selbstrefle9. Es lässt sich sogar weitergehend behaupten, dass diese Möglichkeit für die Entstehung der Romanform konstitutiv gewesen ist (Lindner 2002: 293-318).

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Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer Medienästhetik

xion des Mediums wird durch technisch bedingte Einschränkungen verstellt. Hier verdiente ein experimenteller Film wie Dsiga Wertows »Der Mann mit der Kamera« (russ. »Kinoapparaton«) von 1929 besondere Aufmerksamkeit, und zwar eine andere, als er sie in Manovichs Buch als Vorläufer der Computertechnik findet. Wertow zeigt alle Aspekte des Einsatzes der Kamera und der Filmproduktion, einschließlich grotesker Filmtricks und Doppelbelichtungen, der Schnittmontage und der Aufführung im Kino. Interessant an diesem Experiment ist aber gerade, dass diese Thematisierung des Mediums durch sich selbst gerade keine Transparenzillusion des Dargestellten erzeugt, sondern ein chaotischer, fast surrealistischer Eindruck hervorgerufen wird, der den realistisch-dokumentarischen Ansatz über den Haufen wirft.10 Mit gleichem Interesse, aber anderer Vorgehensweise verfahren experimentelle Filme, die den Aufnahmeort der Kamera mit dem Blick des Protagonisten strikt zusammenfallen lassen. Michael Powells »Peeping Tom« von 1960 wäre hier zu nennen. In diesem Film fungiert die mit einem Bajonett versehene Kamera als Tötungsmaschine, die das Opfer und seine Ermordung filmt. Der Zuschauer ist sich lange Zeit im Unklaren, ob das Gezeigte durch die Kamera des Täters oder unabhängig davon gefilmt wird. Beide Filme, so grundverschieden sie sind, rücken den Zuschauer aus der durch die filmische Apparatur technisch vorgegebenen Position, in ein gefilmtes Geschehen visuell hineingezogen zu sein, heraus. Er sieht sich in die Apparatur, die der Film technisch voraussetzt, aber normalerweise ausblendet (und ausblenden muss), hineingestellt. Solche Freilegung der Apparatur betrifft nicht den faktischen Aufzeichnungs- und Montagevorgang, den der Rezipient durch bloße Wahrnehmung überhaupt nicht einsehen kann, wohl aber 10. In diesem Zusammenhang wäre auch Buster Keatons »The Cameraman« von 1928 vergleichend heranzuziehen, wo man übrigens auch sehr schön noch das Kurbeln sehen kann, am schönsten bei dem Äffchen, das die rettenden Filmaufnahmen macht. Keaton konnte den Film nicht mehr in eigener Regie produzieren, aber er enthält viele überraschende Effekte und visuelle Selbstthematisierungen des Filmens, der Filmproduktion und der sozialen Verwendung des Mediums, die ihn heute ungeheuer frisch erscheinen lassen.

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das Dispositiv Film im Kopf des Zuschauers. In dieser Hinsicht verdienten auch die von der wissenschaftlichen Diskussion abschätzig ignorierten Computeranimationsfilme wie »Shrek«, »Monsters Inc.« oder »Toy Story« genauere Beachtung. Es genügt nicht, dazu arrogant festzustellen, hier werde mit Mitteln neuester Computerdigitalisierung bloß der Fotorealismus des Spielfilms (bis hin zu digital erzeugten Zelluloid-Effekten) nachgeahmt. Gerade weil diese Filme aus der ganz eigenen Tradition des Zeichentrickfilms leben, wird die Technizität dieser Konventionalisierungen durchaus wahrgenommen. Und in ihren besten Momenten spielen sie dies auch direkt durch. Wenn etwa im Nachspann zu »Monsters. Inc.« eine außer Kontrolle geratene Maschine den Kameramann samt Kamera zu Boden wirft, die auf der Seite liegend das Geschehen weiterfilmt, so weiß der Zuschauer natürlich, dass es im digital erzeugten Film rein technisch solchen Kameramann und solche Kamera gar nicht geben kann, er erfährt aber zugleich, dass er diesem Wahrnehmungsdispositiv immer schon unterliegt.

3.3 Der Apparat und die Störung Nur in extremen Formen der medialen Störung, in der die in der Wahrnehmung normalerweise ausgeblendete Vermittlungsfunktion des Mediums unterbrochen wird, kann ein ›unmittelbares‹ Hervortreten des Apparativen provoziert und in der Wahrnehmung ansichtig gemacht werden. Ein zufälliger Filmriss oder ein elektrischer Kurzschluss reicht allerdings dazu nicht aus. Vielmehr muss die Störung in die mediale Präsentation selbst eingebaut werden. Auf solche Experimente, die in der Avantgarde-Tradition des Films stehen, hat übrigens generell Amos Vogel11 in seinem zuwenig bekannten Buch »Film als subversive Kunst« schon früh aufmerksam gemacht. Dies kann geschehen, wenn etwa die normalerweise fast unsichtbare Emulsionsschicht Blasen zu schlagen oder Brandlöcher zu bilden scheint, die das Abgebildete zerstören und die Materialität des Mediums hervortreten lassen (vgl. dazu Reble 1995). Dies kann weiter dadurch geschehen, dass die Position der Kamera nicht länger einem wie immer kontrollierenden Kameramann zugeschrieben werden kann. Ich führe ein Beispiel an, dem 11. Vogel 2000 (engl. EA 1974) sowie als wichtige Pionierarbeit: Weiss 1995 (schwed. EA 1956).

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Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer Medienästhetik

dies auf sehr einprägsame Weise gelingt: Jochen Gerz, »Die kleine Zeit. Beitrag zur viele Jahre dauernden Diskussion um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas« (2000, 15 min.). Es handelt sich bei diesem Film um eine raffinierte Anordnung, in der ca. 30 Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste eine kompliziert formulierte Frage zur Denkmaldiskussion vorgelegt wird. Jeder Befragte musste auf einem festgelegten Sitz vor der Kamera Platz nehmen, so dass jeweils das Gesicht, oben und unten angeschnitten, frontal zur Kamera, in Großaufnahme zu sehen ist. Der Film zeigt aber nun nicht ihre Antwort, sondern nur stumm die »kleine Zeit« vorher, in der die Befragten überlegen, was sie eigentlich Bedeutungsvolles sagen könnten. Der Zuschauer blickt auf die von der starren Kamera aufgezeichneten Gesichter; er fängt an, da nichts passiert, auf sich gestellt darin zu lesen, wie er es sonst nie tun würde, Wimperntusche oder Barthaare zu studieren, Hautflecken und Adern, Augenblinzeln, merkwürdige Mundzuckungen und mimische Spuren der Denkanstrengung. Er gerät unwillentlich und beklommen in die Gubbio-Position des Aufzeichnungsapparats, die künstlich simuliert wird.12 Ein anderes Beispiel: Peter Campus’ Videofilm »Double Vision« (1971, Schwarzweiß-Video, 15 min.). Der Film unternimmt eine Raumerkundung mit zwei gleichzeitig laufenden Hand-Videokameras, deren Bilder elektronisch übereinander gelegt werden, ohne dass es zu einem stereoskopischen Effekt kommt. Sie werden vielmehr widersinnig deckungsungleich eingesetzt, so dass der Zuschauer sich selbst so vorkommt wie uns Sehenden ein Blinder erscheint, der mit zwei Stöcken sich ein Bild von der Umgebung verschafft, während wir ihn nur nervös stochern sehen. Auch hier ist der Zuschauer Gefangener der Apparatur, deren fremder Wahrnehmungsweise er ausgesetzt ist. Es handelt sich in beiden Beispielen, was ich unterstreichen möchte, um inszenierte Störungen der üblichen medialen Wahrnehmung, die damit keineswegs jene Selbstreflexivität des traditionellen Kunstwerks erneuern wollen oder können.

12. Vogel notiert dazu allgemein: »die Kombination aus starrer Kamera und echter Zeit ist für das Publikum am schwersten zu ertragen. Denn nichts ist im Kino bedrückender als echte Zeit« (ebd. 118).

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3.4 Live Das Telos der medientechnologischen Apparateentwicklung besteht in der Beschleunigung und Perfektionierung von Echtzeit- und Live-Effekten ganz anderer Art. Die dem entsprechende Ästhetik – und natürlich müssen wir auch hier von einer Ästhetik reden – richtet sich auf eine fortschreitende Eliminierung des TechnischMedialen als solchem. Was immer ›vor‹ der Kamera geschieht – und was wäre nicht filmbar? – es muss vom apparativen Vorgang der Aufzeichnung und Sendung abgelöst, immedial erscheinen. Gubbio hat dies am eigenen Leibe vorexerziert. Und damit bin ich noch einmal bei Pirandellos Roman, nämlich seinem grandiosen Schluss. Als spektakuläres Finale des gedrehten Films sollte die Erschießung einer Tigerin durch den Schauspieler Nuti gedreht werden. Alle Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen; der Kameramann Gubbio ist postiert. Es kommt aber zu einer Katastrophe dadurch, dass Nuti nicht wie mit dem Regisseur verabredet den auf ihn losstürzenden Tiger, sondern die gehasste Nestoroff erschießt und vom Tiger zerfleischt wird. Gubbio hatte zu kurbeln begonnen. »Meine Hand gehorchte völlig teilnahmslos« und sie »gehorchte […] weiter, auch als ich mit Entsetzen sah« wie »die Tigerin sich […] auf ihn stürzte und vor meinen Augen mit ihm zu einem blutigen Knäuel verschmolz.« […] »ich hörte das schreckliche Keuchen des Menschen, der sich den Zähnen und Krallen der Tigerin überantwortet hatte, die ihm Hals und Brust zerfetzten; und ich hörte, ich hörte, ich hörte immer weiter über diesem Grollen und diesem Keuchen das ununterbrochene Ticken der Maschine, an der meine Hand ganz allein, von selbst weiter die Kurbel drehte.« Und in der Erwartung, dass die Tigerin sich nun auf ihn stürzt, um ihn mitsamt dem Apparat zu zermalmen, gibt er »mit dem Ticken der Maschine den Takt an, indem ich immer weiter an der Kurbel drehte, ohne aufhören zu können«. Da streckt ein weiterer Schuss den Tiger nieder; man zieht Gubbio aus dem Käfig. »Ich stöhnte nicht, ich schrie nicht. Durch den Schock war mir die Stimme in der Kehle für immer erloschen« (alle Zitate: Pirandello 1997: 266ff.) Gubbio hat sich in dieser Sekunde des Todes – des gefilmten wie des eigenen – mit der Kamera identifiziert. Bis zur letzten Sekunde soll die Kamera, an die er sich kurbelnd festklammert, das entsetzliche Geschehen aufzeichnen. Und wie einen kostbaren Schatz hält er sie verkrampft umschlun210

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gen, als er gerettet wird: »diese Maschine hatte schließlich das Leben eines Menschen im Bauch. […] Eine wahre Goldgrube würde dieser Film werden […] angesichts der krankhaften Schaulust, die der banale Schrecken des Dramas der beiden Getöteten sicherlich überall hervorrufen würde« (ebd. 267f.). So kommt es. Der Film wird ein Welterfolg und auch der stumme, selbst zur ›Stummfilmfigur‹ gewordene Gubbio erhält sehr viel Geld.

4. Das Fragloswerden der Technisierung Warum soll man sich für den Kurbler und sein Verschwinden heute interessieren? Diese Figur erscheint deshalb so marginal, weil wir unterstellen, sie habe noch nicht auf der Höhe der Technik gestanden; deshalb verschwindet sie ebenso wie die primitive Mechanik der Handkurbel durch den technischen Fortschritt der Filmapparatur überholt wurde. Es handelt sich um eine Einstellung, wie sie generell dem technischen Fortschritt gegenüber eingenommen wird. Der Siegeszug des personal computers hat in unbegreiflich kurzer Zeit aus der dominierenden Schreibmaschine ein vorsintflutliches Klappergestell werden lassen. Man muss aber vielleicht nicht erst auf die kryptische Spätphilosophie Heideggers zurückgreifen, um einzusehen, dass wir entgegen allgemeinen Konsenses uns keineswegs ›auf der Höhe der Technik‹ bewegen, sondern ihr »Wesen« uns verstellt ist. Die Technisierung führt nicht zu einer Steigerung der Einsicht in die technischen Bedingungen, sondern zu deren Verbergung. In einer grundlegenden Kritik der Krisis-Abhandlung von Husserls unabgeschlossen gebliebenem Werk »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«, deren heidegger-kritische Untertöne nicht zu überhören sind, hat Hans Blumenberg den Gedanken einer der Technisierung notwendig und irreversibel zugehörigen Unbefragbarkeit verfochten. Husserl wollte die neuzeitliche Wissenschaft und Technik, die auf der mathematischen Abstraktion der menschlichen Lebenswelt beruht, von dieser an sich selbst undurchschauten Abstraktion gewissermaßen heilen und sie zur geschichtlichen Einsicht in ihre verdeckte philosophische Fundierung nötigen. Als Husserl-Kritiker formuliert Blumenberg hingegen den Einwand, dass das Fragloswerden der Technisierung zum Wesen 211

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des Technischen gehört. Damit stellt er die These auf, dass Technisierung als ein Prozess zu verstehen sei, der mit ihrer lautlosen Implantierung in die Lebenswelt die theoretische Neugier, den Erkundungswillen gegenüber der Technisierung selbst, notwendig zum Verschwinden bringt. »Die Technisierung reißt nicht nur den Fundierungszusammenhang des aus der Lebenswelt heraustretenden theoretischen Verhaltens ab, sondern sie beginnt ihrerseits die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen […]« (Blumenberg 1981).13 Vor dem technischen Design des Gehäuses verliert sich das Bedürfnis nach Einsicht in das Innenleben des Geräts ebenso wie in seine komplexe wissenschaftlich-technische Hergestelltheit. Und erst recht verstummt die Frage, woher dieses Gerät überhaupt seine Existenzberechtigung bezieht. Diese Diagnose, die heute an Triftigkeit eher noch gewonnen hat, lässt sich aber nicht umstandslos auf den Bereich der Künste übertragen.14 Die exzentrische Figur des Serafino Gubbio operatore gab den Ausgangspunkt, diese Differenz näher zu verfolgen. Längst ist der alte primitive Kameramann des frühen Stummfilms mit seiner Kurbel verschwunden. Ein Rückgriff auf die philosophische Ästhetik wird ihn nicht wieder hervorholen können. Das zu suggerieren, war aber auch nicht meine Absicht. Vielmehr ging es mir um deren zu voreilige Verabschiedung in neuerer Medienästhetik. Wenn es einen fortwirkenden Impuls der Avantgarden gibt, die das Erbe der klassischen Ästhetik eben nicht bloß destruiert sondern radikalisiert haben, dann ist es dieser: dass sie das Verhältnis von Kunst und Technik neu erkundet haben, weil die autopoietische Geschlossenheit des klassischen Kunstwerks nicht länger als Synthese von Kunst und Technik gelten konnte. Die Erkundungen 13. Vgl. insbesondere den fünften Abschnitt mit der exemplarischen Analyse der Türklingel. 14. Dass die Kunst gegenüber dem lebensweltlichen Fragloswerden der Technisierung eine andere Position einnimmt, hat Blumenberg in dem Schlusskapitel seiner Abhandlung »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen« (Blumenberg 1981a: 92ff.), angedeutet. Interessanterweise bezieht er sich hier auf produktionsästhetische Aspekte von Kants Kritik der Urteilskraft.

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Das Verschwinden des Kurblers. Reflexionen zu einer Medienästhetik

der Avantgarden stellen in der heutigen Perspektive ihres Alterns (und jenseits mancher technizistischen Programmatik) ein Arsenal erster Fremdheitserfahrungen des Technischen dar, in denen die Apparatur keineswegs bruchlos ästhetisch integriert ist. Umso weniger darf deshalb eine Medienästhetik die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts unproblematisch als einen Zuwachs neuer ästhetisch-technischer Wahrnehmungsformen bilanzieren, und dabei die klassische Ästhetik ebenso wie die Abenteuer der Avantgarde als tote Kosten abziehen. Ohne die Aufmerksamkeit auf die Verdeckung der Technik bleibt solche Ästhetik blind. Daraus ergibt sich ein entschiedenes Plädoyer für eine Mediengeschichtsschreibung, die die Kategorien und den Problemgehalt ihrer Ästhetik aus solchen Bruchstellen der Entwicklung, aus abseitigen Experimenten und aus marginalen Phänomenen, wie sie das Kurbeln darstellt, gewinnt, statt einem finalistischen Paradigma zu gehorchen, das den technischen Fortschritt vom Stummfilm zum Tonfilm, vom Schwarzweiß- zum Farbfilm, vom Kinofilm zur Television ratifiziert und ihn in der Computertechnologie als dem Medium aller Medien geschichtlich verschwinden lässt (vgl. dazu Lindner 2003: 24ff.). Und das ist, wie zu zeigen war, keine allein medienarchäologische Geschichte, sondern eine medienästhetische.

Literatur Aumant, Jaques (1990): L’image, Paris. Aumant, Jacques (1992): »Projektor und Pinsel«. In: montage av. 1, S. 77-89. Blumenberg, Hans (1981): »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«. In: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart, S. 7-54. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1965): Ästhetik, 2 Bde., hg.v. Friedrich Bassenge, Berlin. Ders. (1981a): »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen.« In: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart, S. 55-103. Ders. (1986): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Frankfurt a.M.

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Burkhardt Lindner

Köhn, Eckehardt (2005): Erfahrung des Machens. Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe, Bielefeld. Lindner, Burkhardt (2003): »Die Medienprophetien der elektronischen Digitalisierung und die Resistenz von Bild und Schrift«. In: kulturrevolution 45/46, S. 24-31. Lindner, Burkhardt (2002): »Erzähl/Zeit/Crash. Eine kurze Dekonstruktion der Romanform mit Diderot, Sterne, Jean Paul und Cervantes«. In: Hans-Joachim Bieber/Hans Ottomeyer/Georg Christoph Tholen (Hg.), Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel. S. 293-318. Lindner, Burkhardt (2006): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: ders. (Hg.), BenjaminHandbuch, Stuttgart, S. 229-251. Manovich, Lev (2001): The Language of New Media, Massachussetts. Packer, Randall/Jordan, Ken (Hg.) (2001): Multimedia. From Wagner to Virtual Reality, New York/London. Pirandello, Luigi (1997): Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio (hg. und übers. von Michael Rösser), Berlin. Schnell, Ralf (2000): Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart. Vogel, Amos (2000) (engl. EA 1974): Film als subversive Kunst, Reinbek. Weiss, Peter (1995) (schwed. EA 1956): Avantgarde Film, Frankfurt a.M.

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Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und Öffentlichkeit

Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit Timo Skrandies »Alles, was ich habe, habe ich Gott und meiner Arbeit zu verdanken.« Marcelinho, Fußballer

»Was ist Ihrer Meinung nach besonders bezeichnend für die Deutschen?« Für eine Antwort auf diese Frage konnten die Beteiligten einer Umfrage des Allensbacher Demoskopieinstitutes im Jahr 2000 aus einer Reihe von Tätigkeiten auswählen – bspw. Organisieren, Denken, Erfinden, Feiern, Kämpfen, Musizieren, Natur beobachten, Träumen, Beten, Malen. Man ahnt es: 80 Prozent der Befragten entschieden sich bei jener Frage, was den Deutschen besonders gut liege, für die Antwort »Arbeiten«.1 Wenn gearbeitet wird (Und wann wird es nicht?), in jedem dieser Augenblicke, wenn jenes il y a des industriellen und informationellen Tuns statthat, das mit der Entlehnung einer Formulierung Hans Ulrich Gumbrechts in ästhetischer Hinsicht als »Produktion von Präsenz« bezeichnet werden könnte (Gumbrecht 2004), wenn in diesem Sinne (und mit und an den Sinnen – wie wir seit Marx wissen) gearbeitet wird, und auch, wenn nach der Negation dessen in Form von Nichtstun oder Freizeit gesucht oder ersucht wird, hat sowohl die Produktion, Konstruktion oder Konstituierung des Subjekts als auch dessen Verkauf allemal stattgefunden.2 Eine Exis-

1. Im Jahr 1994 waren es 83 Prozent. Vgl. Allensbacher Archiv, IfDUmfragen 5098 und 7000 (zuletzt Dezember 2000). 2. Der schöne Gedanke, dass die Instanz des Subjekts käuflich und

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Timo Skrandies

tenz ›anders als Arbeit geschieht‹ ist nicht so leicht zu haben – und damit auch ein Subjekt nicht, das nicht vom Paradigma der Arbeit (oder, nochmals: dessen Negation) durchzogen wäre. Das heißt aber auch: Ein zur Arbeit Anderes, kontaminierte nicht nur das Arbeitsparadigma, sondern ebenso den mit ihm liierten Begriff des Subjekts. Diese Problemstellung soll im Folgenden mehrfach umkreist werden. Zuerst durch eine Bestandsaufnahme der jüngeren öffentlichen Debatte um Arbeit und ihre in den Massenmedien sozio-politisch beschriebene Krise (1.). Metaphorik spielt hier eine auffällige Rolle. Dann soll historisch rückgefragt werden in die theoretischkonzeptionelle Formung des Arbeitsparadigmas (2.), wie es bis heute in den Erörterungen um immaterielle Arbeit, Globalisierung und Flexibilität wirksam geblieben ist (3.). Schließlich (4.) sei auf Interventionen verwiesen, die nicht vom Krisendiskurs um Arbeit motiviert sind und die eine mögliche Kritik (und durchaus ethische Reflexion) am mächtigen Arbeitsparadigma nicht mit dessen Negationsform des Nichtstuns o.ä. ansetzen, sondern vielmehr in ein (eher Hölderlinsches, denn ein Agambensches) Offenes des Subjekts zur Arbeit weisen; methodologisch gesprochen: ins »Exorbitante« (vgl. Derrida 1994: 272-282).

1. »Cappuccino« in der Öffentlichkeit Cappuccino ist ein beliebtes Getränk dieser Tage. Zumindest in der Metaphorik öffentlicher Debatten um Arbeit, Sozialpolitik, der stets mit Arbeit zusammengedachten Lebensplanung und auch dem prekären Verhältnis von Freizeit und Arbeit. Noch im Jahr 2005, als die Arbeitslosenrate nach Aktivierung der Hartz-IV-Reformen erstmals die Fünf-Millionen-Grenze überschritt, und zügig daran erinnert wurde, dass der Wert der Arbeit einer an sich selbst sei (was um so stärker und deutlicher werde, je knapper bzw. unwahrscheinlicher Arbeit wird) (vgl. Drobinski 2005: 4), prägte Münteferings Bild der Heuschrecken die Diskussi-

verkäuflich ist, stammt vom Titel einer AStA-Ringvorlesung an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, Sommersemester 2006: »Subjekte zu verkaufen«.

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Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und Öffentlichkeit

on. Manager und Börsenbroker fallen über das arbeitende und arbeitsame Volk her, reißen die Produktionsmittel durch feindliche Übernahmen in großem Stile an sich, nur um die befallenen Firmen dann personell drastisch zu verringern, Beschäftigte also »freizustellen« und so massive Ertragssteigerungen in Form höherer Börsennotierungen zu erzielen – eine Vorgehensweise, die man auch aus Michael Moores »The Big One« schon lernen konnte. Der Spiegel lancierte sogleich eine mehrwöchige Serie zum Thema und es war mithin klar, wer eigentlich neuerlich Opfer dieses »Raubtierkapitalismus« sei: der sogenannte kleine Mann von der Straße, der Arbeiter und Malocher, jener z.B., der in Bochum bei Opel am Band steht, samstags ins Fußballstadion zum VfL Bochum geht und mit ansehen muss, wie auch seine Mannschaft von der allgemeinen Depression der Malocher erfasst wird und von einem UEFA-Cup-Platz in die zweite Liga absteigt. Blau-weißes lokales Symbol einer globalen Krise. Nach den Massenentlassungen, Abfindungen, der abgewendeten Schließung des gesamten Werks und den guten Leistungen des VfL, sang man mittlerweile auch im Ruhrstadion wieder das alte Bergsteigerlied: »Wir steigen auf, wir steigen auf. Und wir haben das blau-weiße Licht bei der Hand. Und wir haben das blau-weiße Licht bei der Hand. Wir steigen auf.« Neuere Firmenmeldungen zeigen mithin, dass nicht jeder eingeflogene Finanzinvestor eine Heuschrecke ist. So lässt sich für Baden-Württemberg Folgendes darstellen: »Mit ihrer ausgeprägten mittelständischen Struktur bieten die 10000 Unternehmen im Lande mit 50 und mehr Beschäftigten […] den modernen ›Heuschrecken‹ reichlich Nahrung. […] So flossen 2005 immerhin 457,9 Millionen Euro in 164 baden-württembergische Unternehmen, im ersten Halbjahr 2006 kauften sich Investoren mit 312,2 Millionen Euro in 85 schwäbische und badische Betriebe ein, was fast 40 Prozent der deutschlandweit investierten 820 Millionen Euro bedeutet.«

Trotz dieser deutlichen Zahlenverhältnisse (in Baden-Württemberg) scheint ein genauerer Blick auf einzelne Firmenbeispiele – etwa die Übernahme von MTU Friedrichshafen durch EQT oder des Karlsruher Maschinenbaukonzerns IWKA durch den amerikanischen Investor Guy Wyser-Pratte – zu zeigen, dass solche Übernahmen auch im personellen Bereich der Arbeit produktiv sein können. So erweitert MTU seit der Übernahme den Personalbe217

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stand und IWKA investiert mit neuen Geldern in interne profitable Geschäftsfelder.3 Gleichwohl: Dietmar Lamparter bezeichnete jene Situation als eine der »Demontage« und skizzierte die Gegenwart des Hochlohnlandes Deutschland mit Begriffen wie Lohnkürzung, Nullrunde, Mehrarbeit (Lamparter 2004: 25-27; vgl auch: Bisky 2005: 13; Beck 2004: 13). Sich hierauf – ggf. trotz Streiks – einlassen zu müssen, bedeute eine Entmachtung der Arbeiter, da die Unternehmen global handeln können und im Falle des allzu großen Drucks der Arbeitnehmervertreter auswärtig investieren. Die neuen Absatzmärkte sind nun bspw. Asien, Ostasien, Südamerika. Nicht zuletzt ein Aktienfond mit dem schönen Titel »BRIC« macht das deutlich: Brasilien, Russland, Indien, China. Das Kapital ist mobil, Arbeiter sind es nicht. Von den Abwanderungsmöglichkeiten machten und machen Konzerne trotz guter Gewinne Gebrauch; aufgrund des drohenden Scheiterns der Firma im globalen Wettbewerb (tausende Entlassungen bei der Deutschen Bank und deren Begründung – Erhalt globaler Wettbewerbsfähigkeit – war hierfür eines der prominentesten Beispiele). In diesem Kontext lautet eine in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingetragene und sie möglicherweise zuallererst hervorrufende Frage: Gibt es für diese Situation einen Ausweg? Lamparter deutet drei, allerdings nicht gänzlich überzeugende an. Ausweg 1: die Internationalisierung der Arbeiter und Gewerkschaften. Die Schwäche hierbei besteht in der Gefahr der Ausnutzung auch nur geringer ausgehandelter Lohndifferenzen im internationalen Vergleich. Ein Beispiel hierfür war der Druck, den General Motors auf die Opel-Beschäftigten in Deutschland und Schweden versuchte zeitgleich auszuüben. Ausweg 2: Konsummacht durch Konsumverweigerung bzw. gezielten Konsum, wie sie auch von Globalisierungsgegnern beschworen wird (vgl. etwa Hertz 2002). Die Schwäche hierbei ist, dass eine solche Haltung lediglich bei bestimmten Unternehmen greift, wie etwa Nike. Ausweg 3: Kapitalmacht – die Arbeitnehmer werden zu privaten (Aktien-)Anlegern und setzen, vermittelt über die Fonds, die Unternehmen unter Druck. Das klingt modern, das klingt subversiv, scheint aber nur theoretisch machbar zu sein, wie die Praxis (z.B. in den USA) zeigt. Denn auch die arbeitenden Anleger bzw. die anlegenden Arbeiter achten mehr 3. Zitat und Firmeninfos: Boehringer/Deckstein 2006: 38.

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auf die Rendite der eigenen Anlage und weniger auf die Sicherung der Löhne und Arbeitsplätze in den notierten Unternehmen. Doch nicht nur der Arbeiter in der klassischen Vorstellung industriellen Zuschnitts war Gegenstand der metaphernreichen Debatten seit 2005. Nach der Generation X, den 68ern, den Generationen Golf, Berlin und ähnlichen, wurde nun die Generation Praktikum entdeckt: jene jungen, unterrangig arbeitenden Menschen, die in den Firmen, Verwaltungen, sozialen Einrichtungen oder auch medialen und kulturellen Institutionen einem auf Rang basierenden Machtmissbrauch, kurz: rankism, ausgesetzt waren und sind. Der rankism besteht darin, dass machtlose Personen, weil sie weder eine feste offizielle Stelle, einen klaren Vertrag noch eine Lobby haben, von ranghöheren Personen zwecks Machterhalts und ökonomischer Interessen diskriminiert werden. Aufgrund der massenhaften Schleusung dieser Personen durch die niederen Tätigkeitsebenen der Berufswelt, wird, so die Analyse, der vom Arbeitsmarkt so stark geforderte Wert der Individualität gerade konterkariert. Dies geht für die Betroffenen, etwa aufgrund abstrakter Auswahlverfahren, mit der Erfahrung einher, einer anonymen Masse anzugehören und fördert Verdruss ebenso wie autoritäre Strukturen und – Adorno hätte gesagt – autoritäre Charaktere (vgl. Kortmann 2005: 17; Fuller 2003). Die öffentliche Debatte um die Generation Praktikum hat sich mittlerweile eingepasst in jene allgemeinere um das sogenannte »Prekariat«,4 mit der die Vermutung des Entstehens einer neuen Klasse zusammengefasst wird: bestehend aus jenen Praktikanten, Mehrfachjobbern, illegal Arbeitenden, Honorarkräften etc. ohne Lobby, ausgesetzt einer »schleichende[n] Abschaffung unbefristeter Arbeitsverhältnisse, [der] massenhafte[n] Einführung von Niedriglohnjobs [und dem] Umbau des Sozial- und Gesundheitssystems« (Ege/Timm 2006: 11; vgl. Kraft 2006, 17). Schon 1997 hatte Pierre Bourdieu in einem Vortrag bei den »Rencontres européennes contre la précarité« deutlich gemacht, »dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem 4. Génération Précaire nennt sich die französische Praktikantenorganisation.

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Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist« (Bourdieu 1997).

Um die Sozial-Metaphorik im Feld der aktuelleren öffentlichen Arbeits-Debatten zu komplettieren, müsste an dieser Stelle noch auf die sogenannte »Unterschicht« und den von Harald Schmidt in Umlauf gebrachten Begriff des »Unterschichtenfernsehens« eingegangen werden (vgl. Uchatius 2005: 21-23; Amend 2005: 57f.). Hier wäre dann die Rede von der sogenannten A-Bevölkerung: arm, arbeitslos, Ausländer. Eine neue Schicht Besitzloser, die in sich stark ausdifferenziert ist wie der Rest der Gesellschaft – und nicht als so homogen angesehen wird wie etwa früher das sogenannte Proletariat. Es wäre die Rede vom Armuts- und Reichtumsbericht: dass den reichsten zehn Prozent der Deutschen knapp die Hälfte des gesamten Nettovermögens gehört; dass weit über drei Millionen Haushalte in der Bundesrepublik verschuldet sind, was anderthalb mal so viele sind wie vor zehn Jahren und mehr als je zuvor; dass drei Millionen Erwerbstätige unter der Armutsgrenze leben, was ebenfalls anderthalbmal soviel ist wie vor rund zehn Jahren. Die Arbeitslosenquote der sogenannten Geringqualifizierten liegt bei über zwanzig Prozent – der Nachwuchs dieser Personengruppe hat siebenmal geringere Chancen auf ein Studium als Kinder aus wohlhabenden Familien. Der nicht mehr ganz so neue Begriff der Unterschicht sollte in diesem Sinne erfassen, dass etwas weggebrochen ist. Nämlich ein kollektives Aufstiegsversprechen, es durch Arbeit in der Gesellschaft zu etwas bringen zu können, ein Versprechen, das historisch durch sehr unterschiedliche Strategien angesetzt wurde und das stets noch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend war (vgl. Uchatius 2005: 21-23). Doch sollte man sich offensichtlich davor hüten anzunehmen, dass die sogenannte Unterschicht ein Phänomen sozial Randständiger ist, die schlicht keinen Job finden oder gar ›arbeitsunwillig‹ seien. Viel220

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mehr ist die gesellschaftliche und lebensweltliche Exklusionserfahrung vielfach – und selten rein individuell – bedingt. Der Soziologe Heinz Bude differenziert diese Lage entsprechend aus: »Das Syndrom aus ›prekärem Wohlstand‹, sozialer ›Netzwerkarmut‹, von mangelndem Institutionenvertrauen und beeinträchtigter körperlicher Fitness ist nicht auf die unteren Soziallagen der Gesellschaft beschränkt«.

Diese Gefährdungen können nahezu jeden treffen und bewirken, dass man »auf eine Bahn der Exklusion geraten [kann], auf der sich die dominante Einstellung des Handelnkönnens in eine des Erleidenmüssens verwandelt. […] Wie man in einem solchen desolaten Zustand wieder auf die Füße kommt, ist in keinem Fall nur eine Frage von materieller Zuwendung. Es geht um das Schicksal einzelner Personen, die sich aufgrund kontingenter Ereignisse in ihrer Biographie in einer Situation der stillen Entkopplung von dem immer brüchiger werdenden gesellschaftlichen Zusammenhang wiederfinden. So führt die Debatte über die Unterschichten ins Zentrum der deutschen Gesellschaft, die sich endgültig vom ›glücklichen‹ Bild ihrer Mittelstandszentrierung verabschiedet« (Bude 2006: 13). Doch wie ›bringt man es zu etwas‹? Indem wir uns aus Angst vor dem Stigma der arbeits-losen Überflüssigkeit als jene Subjekte entwerfen, deren individuelle Askese- und Disziplinierungsstrategien sich perfekt und mimetisch in die gesellschaftliche Rationalität und Rationalisierung von Lebensentwürfen einpassen. Im hundertsten Jahr nach Max Webers »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« greift Gustav Seibt diesen Gedanken für die aktuelle Situation globaler Selbstverwirklichungsmobilitäten und Konsumismus nochmals auf und schreibt: »Da Weber sein Theorem [von innerweltlicher Askese und gesellschaftlicher Rationalisierung; T.S.] von vorneherein als Beispiel für die Heterogonie der Zwecke, also für die Unabsehbarkeit der Nebenfolgen, angelegt hatte, war es durch die konsumistische Verwandlung des Kapitalismus nicht zu erschüttern. Denn dessen Kern, die Produktivität als Selbstzweck, beruhend auf Methodik und Rationalität, bleibt davon unberührt. Allerdings war zumindest ein puritanisches Wesenselement bisher nicht auszurotten: Noch immer bedeutet Arbeitslosigkeit nicht nur ein materielles Elend, sondern auch ein moralisches Stigma« (Seibt 2004: 11).

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Wie dem auch sei: Heuschrecken, Raubtierkapitalismus, Generation Praktikum, Prekariat und Unterschicht bilden das jüngere semantisch-metaphorische Feld der öffentlichen Erregung der Debatte um Arbeit und soziale Veränderungen. Es fehlt eine weitere, ebenso leistungsstarke wie humorige Metapher: »Cappuccino«. Das ist jenes Heißgetränk, dessen Rezeptur aus schwarzem Kaffee, Milch, Milchschaum und Schoko- oder Kakaostreusel besteht – aus stets mehreren Bestandteilen also. Da ist zum einen der »Cappuccino Worker«. Er hat einen Job, mit dem die Grundbedürfnisse von Wohnen bis Kleidung etwa abzudecken sind. Daneben steht dieser Mensch in weiteren, kleineren Arbeitsverhältnissen, die die dünnflüssige Grundsubstanz (den Kaffee) um weitere Zutaten bzw. Anschaffungen (Urlaub, Kinderbetreuung, iPod, Instandhaltung des Autos, Restaurantbesuch u.ä.) ergänzen. Tendenz der Verbreitung solcher Arbeits- und Lebensverhältnisse – die in den USA längst selbstverständlich sind – hierzulande: steigend.5 Eine ähnliche Mischung begegnet uns im brisanten Feld der Altersvorsorge. Brisant und heiß diskutiert in den letzten Jahren ist dies unter anderem wegen ihres Status’ als wohlverdiente Entlohnung für die jahrelang erbrachte Arbeitskraft. Auch hier etabliert sich das sogenannte »Cappuccino-Prinzip«, wie es etwa in den Niederlanden seit Jahren praktiziert wird: »Den Kaffee gibt’s aus den staatlichen Rentenkassen, die Sahne oder den Schaum steuert die Betriebsrente bei, und die Schokostreusel obendrauf stammen aus der privaten Altersvorsorge. Offenbar eine ausgewogene Mischung, die die Finanzen im Alter stabilisieren kann. Bei uns in Deutschland indes wird der Kaffee immer dünner und nur allmählich durch ein wenig Schaum und ein paar Schokokrümel angereichert« (Siemes 2006: 31).

Neben »Cappuccino Worker« und dem »Cappuccino-Prinzip« wäre drittens zu nennen, was den Diskurs zu Arbeit mit anderen wie Liebe, Sexualität und Bevölkerungspolitik verbinden ließe. Es sind die – man mag sie aus eigener Beobachtung oder vielleicht sogar Erfahrung kennen – »Cappuccino-Luder«. Frisch entdeckt im Früh-

5. Nach einer kurzen Notiz in der Süddeutschen Zeitung: »Cappuccino Worker« (o.A.) 2006.

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jahr 2006 von der deutschen Kulturdebatte, sind, nach dem Boxen-Luder (d.h. Frauen, die sich in der Nähe der Werkstätten – »Boxen« – von Motorsportteams aufhalten, um mit reichen, jungen und erfolgreichen Männern persönlichen bis intimen Kontakt aufzunehmen), mit »Cappuccino-Luder« nun jene Mütter bezeichnet, die, neben Kinderbetreuung und Hausarbeit, schlicht und ergreifend zu viel freie Zeit haben. Der Siebte Familienbericht der Bundesregierung hält gemäß soziologischer Erhebungen im europäischen Vergleich fest: »Die geringste Präsenz am Arbeitsmarkt findet sich bei deutschen Müttern, die diese gewonnene Zeit aber nicht in Hausarbeit investieren, sondern in persönliche Freizeit« (Siebter Familienbericht 2005: 57).

Einen Kommentar konnte sich die Bild-Zeitung, namentlich FranzJosef Wagner, zum Thema jedenfalls nicht verkneifen: »Mütter, ihr seid faul! Schuhe kaufen, Unterhautfettgewebe wegtrainieren, auf Single-Frau tun, einen 20-Jährigen verführen. Ich bin glücklich, dass meine Mutter Trümmerfrau war!«6 Dazu wäre viel zu sagen: Von der reaktionären, ins heldische gezogenen Besetzung von Arbeit durch die Einsetzung der Bezeichnung »Trümmerfrau« bis zur Debatte um die nur 1,36 Kinder, die eine deutsche Frau heutzutage durchschnittlich zur Welt bringt; und: wie diese Welt für Familien (oder Paare, die eine solche werden wollen) heute eingerichtet ist. Diesbezüglich wies Beate Clausnitzer schon 2005 in Die Zeit auf den Zusammenhang von Geburtenrückgang und dem hohen Wert der Arbeit hin. Die Gleichberechtigung der Frau wird in diesem Diskurs demnach verstanden als Möglichkeit, berufstätig zu sein. Was ein Paradox oder vielmehr ein diskursives double-bind darstellt. Denn Frauen gelten als gleichberechtigt gerade um den Preis der Eigenschaft, die sie vom Mann unterscheidet: Kinder bekommen zu können. Für die Autorin ist der Geburtenrückgang die Quittung für die Werthaftigkeit der Arbeit: nämlich der Erzielung eines Gewinns im Hier und Jetzt – im Gegensatz zu einer eher ungewissen Zukunft, die ein Kind bedeutet. Der bittere Preis einer kinderlosen Zukunft aber liegt ganz woanders, als es die ökonomi-

6. Wagner und der Begriff selbst zit. nach: Rühe 2006: 11.

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schen und sozialpolitischen Debatten um Arbeitsmöglichkeiten und Cappuccino-Existenzen wahrhaben wollen. Er liegt, so Clausnitzer, im »Schmerz einer Leere, die kein Geld der Welt füllen kann« (Clausnitzer 2005: 12).7 Diese kursorischen Darstellungen und Debatten des öffentlichen Diskurses der ersten Zeit nach Beginn der Hartz-IV-Reformen um Heuschrecken, Raubtiere, diverse Generationenformate und Cappuccinos, sind geprägt – das dürfte deutlich geworden sein – von einer wilden Metaphorik. Transportiert und zugleich verschoben wird mit ihr die Fraglichkeit eines Paradigmas von Arbeit, wie es rund zwei Jahrhunderte als zuverlässiges Deutungsmuster und Weltbild dienen und reproduziert werden konnte. Wenngleich es nicht ratsam ist – wie es etwa Peter Weibel getan hat8 – »Arbeit« als Begriff und kulturelle Realität zu verabschieden, ist es gleichwohl triftig, sie als fragliche, als fragwürdig gewordene Größe durchzuarbeiten. Denn sicher leben wir in einer Phase der Verschließung, der clôture eines modernen Arbeitsparadigmas – das zeigen die theoretischen Analysen der vergangenen Jahrzehnte.9 Jene Verschließungsbewegung zeigt sich (im medialen Sinne: zeigt) aber mittlerweile auch an der Metaphorik des öffentlichen Diskurses – wie zuvor gesehen. Wir wissen nicht mehr, was genau sie ist, jene Arbeit, die mit der Industrialisierung aufkam, oder genauer: viel früher aufkam, aber erst im 19. Jahrhundert zu sich selbst kam, d.h. Begriff wurde. Nicht, dass wir sie nicht mehr kennten oder könnten, vielmehr scheint sie nicht mehr zu passen als Erfahrungsmuster und auch nicht als Deutungsmuster oder Erklärungsgröße gegenwärtiger kultureller und interkultureller Lagen. So haben wir die paradoxe Situation, mit einem Gespenst zusammen zu leben: Sie ist noch da, jene Maloche, das Raboten (das eigentlich »Sklave« bedeutet und 7. Ebenfalls zum Thema, nur ganz anders, die beiden ebenso populären wie populistischen Publikationen: Bolz 2006; Herman 2006. Es lohnte ein Text, der diese beiden Bücher miteinander vergleicht. 8. Im Rahmen eines Vortrages und Kolloquiums mit Giorgio Agamben zum Thema »Theologie und Ökonomie«, 14. November 2005, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 9. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Abschnitt II – zu nennen sind hier in jedem Fall Autoren wie André Gorz, Robert Castel, Jean Baudrillard, Richard Sennett oder – neueren Datums – Michael Hardt/Antonio Negri.

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uns heute schnell an »Roboter« denken lässt), das Wulachen und Schuften, jene klassisch zu nennende Arbeit ist noch da: Wir bemerken es regelmäßig zum Beispiel durch ein konvulsivisches Aufbäumen in der medialen Berichterstattung über ihr jetzt nun aber doch endgültiges Ende (Stichworte 2006: Massenentlassungen; Ärztestreik; der Kinofilm »Workingmen’s Death«; Siemens/ BenQ; Airbus-Fehlplanungen), wir begegnen jener Arbeit auch durch die irgendwie fremdländisch aussehenden Putzfrauen in den öffentlichen Gebäuden früh morgens, durch den Geruch dampfenden Teers an einer Baustelle, durch die frischen Farbreste auf dem Sitz in der Straßenbahn, die der Anstreicher auf dem Weg in den Feierabend dort hinterlassen hat. Ja, quasi-romantisch nehmen wir das noch war, doch werden die Umrisse dieser menschlichen Praxis des industriellen Zeitalters im Sinne ihrer kulturellen Bedeutung und Relevanz für eine sogenannte Informationsgesellschaft undeutlicher. Wir sind sie also nicht los und wir werden sie auch nicht einfach los, jene chaplinesken »Modern Times«. Diesen letzten Gedanken nochmals anders ausgedrückt: Solange wir noch an »Arbeit«, diesem Hybrid aus Begriff und menschlicher Praxis, laborieren, solange also jene Begriffsarbeit als Verschließungsbewegung einer Tradition des industriellen und später auch informationellen Dispositivs und als ein Durcharbeiten eines Erbes anhält, solange werden wir mit diesem Gespenst zusammenleben, zusammenarbeiten, solange wird es uns als subjektkonstituierende Größe heimsuchen und bearbeiten. Das ist ebensowenig als Tragödie wie als Gegenwartskritik oder Larmoyanz zu verstehen. Es ist schlicht etwas, was uns zu denken gibt. Daher lohnt es sich – für die im Rahmen dieses Textes gegebenen Möglichkeiten zumindest in Form einer groben Skizze – nach einer historischen Rückvergewisserung jener »Arbeit« zu fragen, von der auch heute noch und überall – und auch hier – die Rede ist.

2. Theoriegeschichtliche Einsätze Wie also kommt es, dass uns die Bestandsaufnahme Nietzsches so vertraut und treffend vorkommt: »Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters«. Dieses Gewissens andere Seite ist die Muße, in Nietzsches Beispiel: die Befassung mit Kunst. Aber: Nur 225

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»die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte [weihen]« (Nietzsche 1999: 623) wir anderen Lebensformen als dem Arbeiten – und dies zudem mit einem ›schlechten Gewissen‹, denn: »Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ›Bedürfniss der Erholung‹ und fängt an, sich vor sich selbst zu schämen. ›Man ist es seiner Gesundheit schuldig‹ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe« (Nietzsche 1999a: 556 u. 557).

Wenngleich Nietzsche für eine klare Trennung von Arbeit und Muße zu plädieren scheint – um von der vita contemplativa her auf jenen Menschen setzen zu können, der sich der Herden(arbeits)moral zu entziehen weiß –, ist hier längst ein Subjekt Mensch vorausgesetzt, für das Nichtstun oder Muße (»Freizeit«) nur eine Negation oder allenfalls eine »hétérotopie de compensation« (Foucault 1994: 761) zur eigentlichen Existenz in einer sich als Arbeitsgesellschaft verstehenden Moderne darstellt. Adorno erläutert diesen Umstand an der »Freizeit« und kündigt ideologiekritischen Verdacht an jener klaren, wie er es nennt, »[s]traffe[n] Zweiteilung des Lebens« in Arbeit und Nichtstun an (Adorno 1994: 648). Das eigene Bedürfnis nach Freiheit – das auch Nietzsche nicht fremd war – wird in Freizeit »funktionalisiert, vom Geschäft erweitert reproduziert; was [die Menschen] wollen, nochmals ihnen aufgenötigt. Deshalb gelingt die Integration der Freizeit so reibungslos; die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, Unfreie sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von ihnen abstrahiert ward.« (Ebd. 648f.) Adorno ist um ein Beispiel nicht verlegen: »Prototyp ist das Verhalten jener, die in der Sonne sich braun braten lassen, nur um der Hautfarbe willen, und obwohl der Zustand des Dösens in der prallen Sonne keineswegs lustvoll ist, möglicherweise physisch unangenehm, gewiß die Menschen geistig inaktiv macht. Der Fetischcharakter der Ware ergreift in der Bräune der Haut, die ja im übrigen ganz hübsch sein kann, die Menschen selber; sie werden sich zu Fetischen. Der Gedanke, dass ein Mädchen, dank seiner braunen Haut, erotisch besonders attraktiv sei, ist wahrscheinlich nur eine Rationalisierung. Bräune ist zum Selbstzweck geworden,

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wichtiger als der Flirt, zu dem sie vielleicht einmal verlocken sollte. Kommen Angestellte aus dem Urlaub zurück, ohne die obligate Farbe sich erworben zu haben, dürfen sie dessen versichert sein, dass Kollegen spitz fragen: ›Sind Sie denn gar nicht in Urlaub gewesen?‹ Der Fetischismus, der in der Freizeit gedeiht, unterliegt zusätzlicher sozialer Kontrolle« (ebd. 649).

Gleichwohl sieht Adorno hoffnungsvolle »Symptome eines gedoppelten Bewußtseins« (ebd. 654): Die Menschen nehmen nicht alles an, was die Freizeitindustrie ihnen vorsetzt, oder zumindest nehmen sie es nicht ganz ernst. Und der Denker der Negativen Dialektik schließt: »[I]ch meine […], dass darin eine Chance von Mündigkeit sichtbar wird, die schließlich einmal zu ihrem Teil helfen könnte, daß Freizeit in Freiheit umspringt.« (Ebd. 655) Dass nun gerade Adorno, der Theoretiker und scharfe Kritiker der Kulturindustrie, in der Freizeit, also jener Form der Lebensgestaltung, die man – analog zur Kulturindustrie – zurecht als (mediale) Freizeitindustrie bezeichnen kann, »Symptome eines gedoppelten Bewußtseins« und somit eine »Chance von Mündigkeit« sieht, mag auf den ersten Blick verwundern. Jedoch: Die Kategorie der Freiheit im Kontext des Arbeitsdiskurses aufzurufen, zeigt als kulturhistorisch wirksam nach wie vor eine Unterscheidung des Aristoteles – jene von praxis und poiesis. Im Aristotelischen Denken sind diesbezüglich drei Momente zu differenzieren, die gleichwohl miteinander verwoben sind: ein metaphysisches, ein ethisches und ein politisches. In metaphysischer Hinsicht bildet die Frage nach der Wirklichkeit (enérgeia) den Ausgangspunkt, spezifischer: die Unterscheidung von Bewegung und Tätigkeit, die Wirklichkeit bilden. Enérgeia meint hier die tatsächliche Existenz einer Sache – nicht also der Potentialität oder Virtualität, sondern »der wirklichen Tätigkeit nach«. (Aristoteles 1994: 240; 1048a 31) Während es nun einerseits Bildungsformen jener enérgeia gibt, die ihr Ziel außerhalb ihrer selbst finden und daher von Aristoteles als bloße »Bewegung« gekennzeichnet werden (Bewegungen, die nicht mit dem Ziel der Bewegung zusammenfallen), finden sich andererseits auch Handlungen (práxeis), die als »wirkliche Tätigkeiten« zu bezeichnen sind, da hier das Ziel der Handlung in ihr selbst enthalten ist (ebd. 240f.; 1048b 19-37). Jenes Handeln, das praxis heißt und an sich selbst zweckhaft ist, lässt sich nun auch ethisch denken. Die Nikomachische Ethik, 227

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in der es um die Bestimmung des guten Handelns geht, setzt genau mit diesem Gedanken ein: »Wenn es aber ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen; wenn wir also nicht alles um eines andern willen erstreben (denn so ginge es ins Unbegrenzte und das Streben wäre leer und sinnlos), dann ist klar, daß jenes das Gute und das Beste ist« (Aristoteles 1984: 55; 1094a 18-22).

Im Sechsten Buch, da Aristoteles die Tugend der Klugheit erörtert, findet sich eine dieses Handlungsmoment resümierende Stelle: »Es bleibt also nur, daß sie [die Klugheit; T.S.] ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten sei im Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Das Hervorbringen hat ein Ziel außerhalb seiner selbst, das Handeln nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel« (ebd.: 186; 1140b 5-8.; Hervorh. T.S.). Die praxis ist hier als Tätigkeit des Menschen ein Handeln, welches das Ziel an sich selbst hat und daher von der poiesis, dem Herstellen und Arbeiten zu unterscheiden sei, deren Ziel wiederum stets die Hervorbringung eines Produktes ist – der Zweck dieses Tuns, der poiesis (hier als Hervorbringung im Sinne des agraischen, handwerklichen und sogar – als techné verstandenen – künstlerischen Arbeitsprozesses)10, liegt also außerhalb seiner selbst. In der griechischen und römischen Antike galt körperliche Ar10. Werner Conze kommentiert zum Thema Kunst: »Die Differenz von Poiesis und Praxis lag der späteren Unterscheidung zwischen ›Künsten‹ und ›Geschäften‹ zugrunde. Sie bestimmte bis über die Schwelle der Neuzeit hinaus die Rangordnung des menschlichen Tätigseins. Dazu gehörte die Trennung der Künste und Geschäfte von der Arbeit im engeren Sinne, d.h. den Tätigkeiten, die auf Anwendung körperlicher Kräfte (Heben, Tragen, Laufen usf.) beruhen. Diese Trennung war mit der modernen Entgegensetzung von körperlicher und geistiger Arbeit nicht identisch, weil die Form der Tätigkeit bei Künsten und Geschäften nicht als Arbeit, sondern als ›Wissen‹ […] begriffen wurde. Künste und Geschäfte setzten Arbeit, körperliche Dienste und Handreichungen, Werkzeuge des Tuns voraus, waren aber nicht selbst Arbeit.« (Conze 1972: 156). Die von Conze hervorgehobene Formulierung »Werkzeuge des Tuns« ist eine Stelle aus Aristoteles’ »Politik« (Aristoteles: 1989: 81; 1254a 5-8) und meint übersetzt: das Besitztum von Sklaven, die zur Klasse der belebten Werkzeuge gehören.

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beit nicht – wie in der Moderne – als eine der anthropologischen Schlüsselkategorien individueller Produktivität oder hinsichtlich gesellschaftlicher Aufstiegs- bzw. Rangmöglichkeiten. Der amerikanische Traum: ›Vom Tellerwäscher zum Millionär‹ war, nicht nur weil es damals noch keine Tellerwäscher gab, un-denkbar. Damals galt gerade jener als freier Bürger von Rang, Tugend und politischer Bedeutung, der es nicht nötig hatte zu arbeiten, oder genauer: der die Zwecke seines Tuns (Handelns) in ihm selbst fand. So schreibt Aristoteles in der »Politik« in einem Kontext der Erörterung von Staatsbegriff und Staatsverfassungen: »In alten Zeiten nun war bei einigen alles Handwerkliche und Fremde einfach Sklavenvolk; daher steht es um viele dieser Art auch heute noch so. Der beste Staat aber wird nicht einen niederen Handwerker zum Staatsbürger machen. Wenn aber auch dieser Bürger sein sollte, dann muß man sagen, daß die Tugend des Bürgers […] nicht jedem und nicht nur dem Freien zusteht, sondern nur denen, die von den notwendigen Arbeiten befreit sind. Die einen aber, die für einen einzelnen derartige notwendige Dienste leisten, sind Sklaven, die anderen, die das für die Gemeinschaft tun, Handwerker und Lohnarbeiter« (Aristoteles 1989: 164f.; 1278a 7-13).11

So reproduziert diese Taxonomie eine gesellschaftliche und politische Ordnung: Wer solchen, seiner selbst heteronomen Zwecken arbeitend nachzugehen hat, ist unfrei, daher Sklave oder Arbeiter und dient lediglich dem freien Bürger und dessen praxis, dem freien und klugen Handeln, das sich den Angelegenheiten der Polis und der Wissenschaft widmet.12 11. Die Kriterien, die darüber entscheiden, ob jemand Staatsbürger ist oder werden kann, hängen, laut Aristoteles, von den jeweiligen Verfassungen ab. Vgl. dazu ebd. die ersten Kapitel des Dritten Buches. 12. Man mag zu Recht bemerken, dass es doch wohl auch in der Antike nicht ganz so einfach gewesen sein mag, wie es hier anhand des aristotelischen Modells skizziert ist. Und tatsächlich: Dies ist eine theorieorientierte Darstellung, die eine epochale Lage und deren historische Wirksamkeit wahrnehmbar zu machen versucht. Eine Re-Konstruktion der gesellschaftlichen Realität des Arbeitens ist das nicht. Diese müsste vielmehr die Arbeits- und Mußeformen und deren Durchlässigkeiten zwischen den sogenannten Ständen betonen – was aber hier nicht von Interesse ist. Ausgangspunkte hierfür wären etwa: Albrecht 1979; Veyne 2000; Meier 2003.

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Wenn es nun aber bei Aristoteles bereits ein ausdifferenziertes und etabliertes gesellschaftliches, und den Subjekten ihren Platz einräumendes (gesellschaftliches und philosophisches) System von Arbeit gibt: Woher kommt sie dann wohl, die Arbeit? Die französische Enzyclopédie hält unter dem Stichwort »Arbeit (Grammatik)« lapidar fest: »Die Mythologie, die sie als ein Übel ansah, ließ sie aus Erebos, der Finsternis, hervorgehen.«13 Erebos ist »Sohn des Chaos (Urleere) und Vater des Aither (Atmosphäre), der Hemera (Tag) und des Charon [der Totenschiffer]; deren Mutter war Erebos’ eigene Schwester [sic!] Nyx (Nacht).« Mythologisch gesehen ist Arbeit, jener Prozess des Hervorbringens, aus einem Quasi-Nichts (Finsternis, Leere) hervorgegangen und ist selbst (In welcher Filiationsbeziehung?) in ein bedeutsames (Familien-)System sichtbarer Existenz eingebunden (Atmosphäre, Tag, Nacht). Ein weiteres Schlaglicht auf die mythologische Herkunft von Arbeit: Da ist Prometheus, der nicht nur arbeitend Hand anlegte und die Menschen aus Lehm formte, der des weiteren Zeus das für noch jede industrielle Arbeit so wichtige Feuer vom Himmel stahl, sondern auch für die Erfindung und Verbreitung von Handwerkskünsten verehrt wurde. Ebenso wichtig zur mythologischen Genealogie der Arbeit ist die Erzählung über des Prometheus Bruder, Epimetheus. Ein vielleicht etwas zu naiver Mann – ihm jedenfalls wurde die erste (von Hephaistos geformte und von Aphrodite mit Schönheit versehene) Frau gesandt. Zeus sandte sie ihm als »Plage der Menschheit« und zur Verunglimpfung des Prometheus: Es war Pandora. Aus ihrem Mitbringsel, jener »Büchse der Pandora«, einmal trotz aller Warnungen geöffnet, entwichen sofort sämtliche Laster, Leiden und Sorgen, die die Menschheit bis heute begleiten. »So waren die Männer«, so will es der Mythos, »aus denen das Menschengeschlecht bis dahin bestanden hatte, und deren Leben frei von Mühe und Sorgen war, genötigt, zu arbeiten […], um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.« Das einzig Gute übrigens in jener Büchse (»ganz unten auf dem Boden«), was ebenfalls entwich, war die Hoffnung – und die ist bis heute verbunden mit dem Schrillen der Feierabendsirene, der Lohnerhöhung, dem Arbeitsplatzerhalt, dem gesunden Erreichen des Rentenalters.14 13. Zitiert nach: »Arbeit« (o. A.) 2001: 214. 14. Die Erläuterungen und Zitate zur Mythologie, vgl.: Grant/Hazel 1990: 320 u. 353f.

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Bei der Frage nach der Herkunft des Arbeitsparadigmas, ist es – jenseits mythologischer Filiationen – wichtig an den Begriff der »Kultur« selbst zu erinnern, dessen Ursprung von der cultura, als Arbeit des Ackerbaus eine Differenz zur natura markiert. Auch diese begriffliche Herkunft zeigt schon, dass das Paradigma der »Arbeit« in die Frage nach der historischen Menschwerdung und des Zur-Welt-Kommens (in einem heideggerschen Sinne des verstehenden Sich-Lichtens von Welt) als problematischer Grenzbegriff zwischen Natur und Kultur eingetragen ist. An der Arbeit, in ihren Zwecken, Zielen, Produkten und den mit ihr verbundenen sogenannten Zivilisations-Techniken, entscheidet sich demnach, was Kultur, was Natur und damit – im Zweifelsfall – Mensch ist. Das Befreitsein von Arbeit als Positivum und Konstitutivum des freien, zivilisierten, kulturalen Subjekts galt auch noch mit dem Aufkommen des Christentums. Arbeit war weiterhin als subalterne Tätigkeit des Menschen angesehen, und insofern wurde sie als Notwendigkeit der Selbsterhaltung eher zähneknirschend zur Kenntnis genommen. Die berühmte Benediktinerregel »ora et labora« spricht dies aus: Arbeiten ja, aber erstens nur insofern durch sie Buße für die Sünden der Menschen getan werden kann und zweitens als lebenserhaltende Maßnahme quasi, nämlich als notwendige Unterbrechung des Betens, also der Nähe zu Gott. Erst in der protestantischen Theologie eines Luther und Calvin erfährt das Verhältnis von Arbeit und Nichtstun dann erstmal eine klare Verschiebung hin zu einem neuzeitlich-modernen Verständnis. Luther schreibt in einer Predigt 1532: »Wenn du eine geringe Magd fragst, warum sie das Haus kehre, die Schüsseln wasche, die Kühe melke, so kann sie sagen: Ich weiß, daß meine Arbeit Gott gefällt, sintemal ich sein Wort und Befehl für mich habe.« Und an anderer Stelle mit Bezug auf den unter Faulheitsverdacht geratenen Klerus: »Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier [im Kloster, T.S.] Arbeit befohlen hat. Zum anderen sündigst du gegen deinen Nächsten« (Zit.n.: Walther 1990: 14).

Das sind deutliche Worte, wenngleich klar sein muss: Zum einen ist auch hier immer noch eine häuslich-landwirtschaftliche, eine den individuellen Bedarf deckende Form der Arbeit, und nicht ein ebenso gesellschaftliches wie subjektkonstituierendes System großmanufakturieller oder frühindustrieller Arbeit gemeint. Zum 231

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anderen ist, wenn – jenseits also der aristotelischen Unterscheidung – vom Lob der Arbeit auch von Besitzenden die Rede ist, weniger an Maloche, sondern eher an das Ideal des Haus-, Hof- bzw. Grundbesitzes gedacht. Hier formt sich der sogenannte oikos. Jenes ausdifferenzierte Wirtschaftssystem eines Hausstandes, das all seinen Mitgliedern – d.h. dem Mann als pater familias, seiner Frau, den Kindern ebenso wie den landwirtschaftlich und handwerklich Bediensteten – hierarchisch klar gegliederte Rechte und Pflichten zusprach. Die »Arbeit« des Hausherrn bestand im Regieren dieses Hausstandes. Der oikos, und dessen Regelwerk, die oikonomia, die von der Neuzeit her auch bekannt wird als »Hausväterliteratur«, wird im säkularen Bereich lange Zeit als Wirtschaftssystem bestand haben und die kulturelle Vorstellung von Arbeit prägen (vgl. Holenstein 2002; Agamben 2005). Von einem frühneuzeitlichen Konzept der ›Produktivität zur Selbsterhaltung‹ hin zum Blick auf die gesellschaftlichen Formen der Warenproduktion in einem lohnabhängigen System der Arbeit, führte der Weg der neuzeitlichen Theoriebildung über die sogenannten Physiokraten, dann insbesondere Smith und Ricardo und kulminierte am und als Beginn der Moderne, mit der Industrialisierung, im Spannungsfeld der Ausführungen von Hegel und Marx. Die Theorien Hegels und Marx’ berühren sich im Begriff der Produktion, den sie allerdings wesentlich verschieden füllen (vgl. Scheier 2000, bes. 5-14): Arbeit als »Machtmittel« (Marx 1982: 194) zu verwenden, um die Natur zu verändern – und sich als Mensch gleich mit –, ist bei Hegel nicht gedacht. In Hegels Philosophie des Rechts stellt Arbeit im »System der Bedürfnisse« eine Vermittlung dar, »den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben«. Das Fortschreiten dieser Partikularisierungen wird bewirkt durch die »Abstraktion« der Arbeit: nämlich durch die Spezifizierung der Produktion, Arbeitsteilung und Mechanisierung. Ihr Verhältnis zur Natur findet diese Arbeit allerdings weiterhin nur darin, »das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse« zu spezifizieren (Hegel 1970a: 351, § 196). So wird bei Hegel zwar schon vorbereitend auf die Industrialisierung des menschlichen Produzierens hingedacht. Dieses verbleibt aber in der Position, nur dasjenige weiterverarbeiten zu kön232

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nen, was von der Natur selbst anfänglich produktiv hervorgebracht wurde. Vorausgesetzt bleibt also ein Begriff von Natur im Sinne der Meta-Physik: Sie ist das originär Poietische, die menschlichen Produktionen – als Getriebe von »Bedürfnissen« – bleiben Weiterverarbeitungen des von ihr Hervorgebrachten. In die poiesis der Natur selbst kann von menschlicher Seite nicht wesentlich eingegriffen werden. Gleichwohl ist die technikhistorische Dynamis der Entfremdung nicht erst bei Marx gedacht: Arbeit ist dem Sittlichkeitsdenker Hegel in seiner Rechtsphilosophie ein vermittelnder (Bildungs-)Prozess von Bedürfnissen, Mitteln und Produktion, in dessen Spezifizierung die Abstraktion des Systems in Form von Technisierung und Automatisierung sich durchsetzt.15 Die »Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels [vervollständigt] die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit. Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten kann« (Hegel 1970a: 352f., § 198).

Die Grenze von Metaphysik und Moderne ist in gesellschaftlicher Hinsicht also der von Hegel geahnte historisch-technische Übergang von der handwerklich-menschlichen Produktionsweise zur maschinellen Produktion, bei der dem Menschen schließlich eine Nebenrolle zukommt. Im »Kapital« pointiert Marx den historischen Schritt so: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt« (Marx 1982: 445).

Arbeit ist hier, verstanden als Komplex aus Tätigkeit, Gegenstand und Mittel (vgl. ebd. 193-195), zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur – der Mensch »vermittelt, regelt, kontrolliert« in 15. Zu Bedeutung und Begriff des »Mittels«, vgl.: Hubig 2002; Hebing 2006.

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diesem Prozess durch seine Tat seinen Stoffwechsel mit der Natur (ebd.: 192). »Im Arbeitsprozess bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff« (ebd. 195).

Nun sind aber Gebrauchswerte bekanntlich nicht das Ziel in der Warenproduktion, denen ein eigener Wert an sich zugeschrieben würde. Sie sind nur wichtig, insofern sie »Träger des Tauschwertes« sind. Der sogenannte Kapitalist will erstens einen Gebrauchswert produzieren, der einen Tauschwert hat (»Ware«) und zweitens eine Ware produzieren, »deren Wert höher [ist] als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft, für die er sein gutes Geld auf dem Warenmarkt vorschoß.« Angesichts eines solcherart hervorgebrachten Mehrwertes wird für Marx klar, dass der Produktions- und Arbeitsprozess als Wertbildungsprozess betrachtet werden muß (ebd. 201).16 Noch die Theorie der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung besagte in ihrer klassischen Begründung, mit der Marx sich auseinanderzusetzen hat, dass die Vorgänge der Marktwelt für die Wertschöpfung verantwortlich sind. Marx statt dessen macht klar, dass die Produktion in der Form menschlich-sinnlicher Arbeit die Grundlage der physischen und sozialen Erhaltung der Wirtschaftsgesellschaft ist.17 Der Wert einer Ware stellt sich daher als das Quantum der zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitszeit dar. So aber wird nun allererst sichtbar, dass auch die Arbeit selbst Ware ist. Ihr Wert bemisst sich nach den Kosten, die zur ihrer (Re-)Produktion notwendig sind – also: wieviel der Arbeiter für seinen sozialen und körperlich-rekreativen Unterhalt benötigt. Der in der 16. Wie Mehrwert entsteht, ebd.: 207ff. 17. Und insofern die moderne menschliche Tätigkeit Produzieren, d.h. hier: Arbeiten, ist, wirft die Einsicht in ihre fortschreitende Technisierung Fragen zu ihrer Sinnlichkeit auf, die uns bis heute angesichts etwa der Medialisierung und Virtualisierung der Arbeitswelt beschäftigen. Vgl. etwa: Marx 1968; Burckhardt 1990; Bühl 2000 (insbes. Kapitel 3 und 4).

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Arbeit produzierte, und vom »Kapitalisten« erheischte »Mehrwert« lässt dann mit Marx sehen, dass das »Kapital« kein abstraktes Ding ist, sondern der Name für das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Menschen. Marx fasst geradezu beiläufig so zusammen: »Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozeß sind also zwei verschiedene Größen« (ebd. 208). In die Differenz jener hier so neutral benannten »zwei verschiedenen Größen« ist das gesamte System der Entfremdung eingetragen, wie Marx es schon knapp zwanzig Jahre vor »Das Kapital«, in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844 auf den Begriff gebracht hatte (vgl. Marx 1968a). Die Besitzlosigkeit des Arbeiters an Kapital und Produktionsmitteln führt erstens dazu, dass das Produkt des Arbeiters sich von ihm entfremdet – es tritt ihm als »unabhängige Macht« gegenüber (ebd. 511ff.). Zweitens findet sich die Entfremdung auch im Akt der Produktion selbst: Die zu tuende Arbeit ist dem Arbeiter »äußerlich«, sie gehört nicht zu seinem Wesen (ebd. 514f.). Drittens erscheint Arbeit als bloßes Mittel der individuellen Existenzsicherung: Der Arbeiter entfremdet sich von seinem Dasein als Gattungswesen Mensch, da sein Wesen zu einem bloßen Mittel für seine Existenz gemacht wird (ebd. 515f.). So kann Marx zusammenfassen: »Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut« (ebd. 517).

Der Gedanke dieser Verdopplung war schon Hegel nicht fremd. Seine Analyse des »Systems der Bedürfnisse« zeigte, dass die Bedürfnisse nicht nur im Ich zugegen sind, sondern die gesellschaftliche Dialektik aus Mitteln und Arbeit ebenso und gleichrangig dazu dient, dass Ich ein »Sein für andere« ist – arbeitend. Wie gesehen, produziert aber nun die Anwendung und Spezifizierung der Mittel nicht nur spezifische(re) Bedürfnisse (meine des anderen und des anderen von mir), sondern ebensolche Mittel, was im industriellen Dispositiv, jenseits also manufakturieller oder agrarischer Arbeitsformen, die Abstraktion der Arbeit aufs Subjekt durchschlagen lässt (Entfremdung).18 18. Dieser Gedankengang im »Zusatz« des §192, in: Hegel 1970a: 349.

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In den Gedanken einer Phänomenologie des Geistes war dieses System der Bedürfnisse noch zu allererst subjektivisch formuliert als »Begierde«, die den status nascendi des Selbst-Bewusstseins markierte. Die Begierde setzt den poietischen Prozess der Dinganeignung als zugleich Objekt- und Selbst-Beziehung in Gang. Die tätige Aneignung in Form des Arbeitens verbleibt hierbei bekanntermaßen vorerst in der Position der Knechtschaft, d.h. einer existenziellen Form, der »das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist« (Hegel 1970: 150)19 – immerhin aber als »gehemmte Begierde« (ebd. 153). Diese Hemmung ist wichtig, denn in ihr drückt sich die Form einer Erfahrung aus, ein Erfahren des Dings in Arbeit als eines Bestandteils der gegen-ständlichen Wirklichkeit. In einer von einem marxistischen Standpunkt mindest als konservativ zu bezeichnenden Volte, führt Hegels dialektische Argumentation so dazu, die Position des Knechtes in die eines Herrn zu verwandeln; zumindest, was den Status des Selbst-Bewusstseins angeht. Er stellt damit nicht nur das aristotelische System aus poiesis (hervorbringendes Arbeiten des Knechts bzw. Sklaven) und praxis (freies Handeln und freie Begierde als »Genuß« (ebd. 151) des Herrn bzw. Bürgers) auf den Kopf (oder auf die Füße?), auch der von Marx als politische und sozialphilosophische Thematik zu lernende Umstand der Entfremdung im kapitalistischen Arbeitssystem wird hier zugunsten einer geistphilosophischen Bestimmung des Bewusstseins einer Entpolitisierung unterzogen. Hegel schreibt also: Dem Knecht wird in der Arbeit die »negative Beziehung auf den Gegenstand […] zur Form desselben und zu einem Bleibenden, weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formierende Tun ist zugleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst« (ebd.: 153f.).

Doch: Sollte die Funktionsteilung der Autoren Hegel (Bewusstseins19. Die Argumentation der »Phänomenologie des Geistes« zum Verhältnis von Herr, Knecht und Arbeit ausführlich rekonstruierend, vgl.: Schmidt am Busch 2002 (bes. Kapitel 5 und 6); Schmid Noerr 1980 (bes. Kapitel I).

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philosophie) und Marx (Sozialphilosophie) so klar sein? Das mit Hegel und Marx sichtbar gewordene kapitalistische Produktionssystem führt mit sich einen neu entstehenden Blick auf Arbeit und legt eine der Moderne eigene Widersprüchlichkeit oder Antinomie frei. Einerseits ist Arbeit von nun an als anthropologische Grundbedingung der Subjektkonstitution festgeschrieben – demnach emanzipiert sich der Mensch in der individuellen sinnlichen Produktivität von der Natur und bringt sich so erst als Wert an sich selbst hervor. Andererseits gerät der Mensch gerade im industriell und kapitalistisch organisierten System der Produktionsformen von Arbeit in ein Abhängigkeitsverhältnis, das ihn der Automatisierung, der Entfremdung und dem Warenfetischismus unterwirft. Letzteres lässt sich auch aus dem Werk Hegels lesen, wenngleich nicht dezidiert sozialphilosophisch durchformuliert – statt dessen subjekttheoretisch so: Sowohl mit dem Begriff des Mittels im »System der Bedürfnisse« als auch mit der basalen Einbindung von Begierde und Bewusstsein in den Konstitutionsprozess der SubjektObjekt-Bindung (als Aneignung, wenn nicht gar Negation des Dings und des zum Eigenen Heteronomen), deutet sich eine kritische, nicht auf Politik, sondern aufs Politische jenes Paradigmas »Arbeit« zielende Erörterungsmöglichkeit ab.

3. »Crisis? What Crisis?« Als die Popband Supertramp 1975 eine Langspielplatte mit dem Titel »Crisis? What Crisis?« auf den Markt brachte, auf deren Cover ein kolorierter Freizeitler unterm Sonnenschirm offenbar nichts bemerkt von den grauen und rauchenden Industrieanlagen in seinem Hintergrund, ist längst ein Wandlungsprozess jener modernen Gesellschaft in Gang gekommen, die sich seit den Zeiten Hegels und Marxens (Industrialisierung) als »Arbeitsgesellschaft«, wenn nicht bezeichnet so doch verstanden hatte. Die moderne Gesellschaft war eine Arbeitsgesellschaft, »weil sie auf der Summe der gesellschaftlichen Tätigkeiten zur Beschaffung und Verwertung von Ressourcen aller Art beruhte« (Welskopp 2004: 225) und die Form dessen sich für den einzelnen, der so strukturell in gesellschaftliche Anforderungen und Sicherungssysteme eingebunden war, als Lohnarbeit bzw. Erwerbsarbeit darstellt(e) (vgl. Castel 2000). Der Begriff »Arbeitsgesellschaft« zeigt die Möglichkeit eines 237

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normierenden und kollektivierenden – in dieser Hinsicht ähnlich dem Begriff »Nation« –, man könnte auch sagen: biopolitischen Verständnisses des Menschen als eines durch und durch in produktive und ökonomische bzw. ökonomisierbare Handlungsprozesse (und den damit verbundenen Statuszuweisungen) eingebundenen Wesens. Dies wird in dem Augenblick diskursiv und konflikthaft, da die Selbstverständlichkeit dieser als »Arbeitsgesellschaft« bezeichneten kulturellen Gesamtrealität verloren geht und »die Arbeit selber (im Sinne von Arbeitsvolumen und Arbeitsplätzen) Gegenstand des gesellschaftlichen Verteilungskonfliktes« wird (Welskopp 2004: 225). Den Menschen in dieser Hinsicht als Gattungswesen zu problematisieren, findet sich auch in Hannah Arendts »Vita activa«, in den USA schon 1958 unter dem Titel »The Human Condition« erschienen. Sie weist darauf hin, dass der gegenwärtigen Situation – gemeint ist die begonnene zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – »die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft [bevorsteht], der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?« (Arendt 1999: 13). Ihr Buch ist ein Vorschlag, wie sie schreibt, »dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind« (ebd. 14). Und das tut sie auch und identifiziert und konturiert dabei drei Tätigkeitsformen: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. In enger Orientierung am aristotelischen Konzept stellt für Arendt das Handeln den eigentlichen Raum der Freiheit dar, im Gegensatz zum Herstellen als eines Raumes instrumenteller Notwendigkeit und letztlich der Arbeit als ans Private des oikos gebundenen Raum biologischer Notwendigkeit der Lebenserhaltung. Im Arbeiten ist der Mensch noch nicht zoon politikon, sondern allererst animal laborans. Wenngleich diese enge Orientierung an einem aristokratischen Gesellschaftsmodell der Antike mitten im 20. Jahrhundert vorerst verwundern mag, ist es letztlich das Ziel der Philosophin, von einem gesellschaftlichen Ideal her gegenwärtige, gesamtgesellschaftliche Dynamiken und Institutionen bezweifelnd bzw. kritisch zu erörtern. Denn hinsichtlich unserer »Arbeitsgesellschaft« ist ja zu sehen, dass »selbst diese einzig auf die Arbeit abgestellte Welt bereits im Begriff [ist], einer anderen Platz zu machen. Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozeß innewohnende Mühe und Plage soweit auszuschalten, daß man den Moment

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voraussehen kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. […] In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können« (ebd. 410f.).

Diese frappante Einschätzung Arendts ließe sich verbinden sich mit zahlreichen anderen Ansätzen – mit der etwas früheren »Dialektik der Aufklärung« Horkheimer/Adornos und deren Kritik des instrumentellen, technischen Charakters, aber auch später, im Spannungsfeld von Industrie- und Informationsgesellschaft, mit Richard Sennetts Analyse des »Corrosion of Character«. Hier werden die Flexibilitätsanforderungen erörtert, die von einem neuen, nun global und informatorisch agierenden Kapitalismus der Institutionen an die Subjekte gestellt werden. Dies geschieht mittels einer Konzentration von Macht ohne Zentralität, deren Methode es ist, Befehle zu kommunizieren in einer nicht-hierarchisch gegliederten Machtstruktur.20 Mit solchen Arbeitsformen sind neue Fragen aufgeworfen, die im obigen Kontext der Prekariats- und Generationenfragen, der Raubtiere, Heuschrecken und Cappuccinos schon anklangen – und auf die es noch keine Antworten gibt. Sennett fragt: »Wie […] können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?« (Sennett 1998: 12).21 20. Der Begriff der »Konzentration ohne Zentralisierung« stammt von Bennett Harrson (vgl. Sennett 1998: 70). 21. Ergänzend dazu: Sennett 2005.

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Mit diesen gesellschaftlichen Modifikationen zeichnet sich ein Gegenmodell zum modernen Produktionssystem des Fordismus ab, das Sennett – mit Michael Piore und Charles Sable – als »Strategie der permanenten Innovation« bezeichnet und das durch den Einsatz von Hochtechnologie, die Geschwindigkeit moderner Kommunikation, schnelle Entscheidungen, kleine Arbeitsgruppen und durch die »Akzeptanz entschiedenen, abrupten, irreversiblen Wandels« geprägt ist (ebd. 64f.).22 Das Flexibilisierungstheorem Richard Sennetts lässt sich um das der »informationellen Ökonomie« bzw. »immateriellen Arbeit« ergänzen, das von Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Furore machenden und umstrittenen Buch »Empire. Die neue Weltordnung« aus dem Jahr 2000 vorgelegt wurde: »Da die Produktion von Dienstleistungen auf nicht-materielle und nichthaltbare Güter zielt, definieren wir die Arbeit, die in diesem Produktionsprozess verrichtet wird, als immaterielle Arbeit – das heißt als eine Arbeit, die immaterielle Güter wie Dienstleistungen, kulturelle Produkte, Wissen oder Kommunikation produziert« (Hardt/Negri 2002: 302).

Diese immaterielle Arbeit kann nun wiederum in zwei Aggregatzuständen beschrieben werden: der abstrakten und der affektiven Arbeit. In der von Marx her gedachten »abstrakten Arbeit« schlägt die Computerisierung vollends durch. Hier haben sich die Arbeits- und Produktionsprozesse in ihrer Form mimetisch »dem Modell der Informations- und Kommunikationstechnologien« angenähert. Wir finden nun Tätigkeiten vor, die in »symbolisch-analytischen Dienstleistungen«, in »Problemerkennung, Problemlösung und ›strategische[n] Makleraktivitäten‹« bestehen (ebd. 302f.). Außerdem reduzieren sich die Unterschiede konkreter Arbeit. Am Beispiel gesprochen: »Computerisierte Schneiderarbeit und computerisierte Weberarbeit können aus exakt den gleichen konkreten Verrichtungen bestehen, also aus der Handhabung von Symbolen und Information« (ebd. 303). Zum anderen ist auch die sogenannte »affektive Arbeit«, die mit dem Computer definitiv nicht zu machen ist, da sie auf »zwischenmenschlichen Kontakten und Interaktionen« beruht, als »immateriell« zu bezeichnen. »Diese Arbeit ist immateriell, auch wenn sie körperlich und affektiv 22. Zu Piore/Sable vgl. ebd.: 208 (Fußnote 8).

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ist, insofern als ihre Produkte unkörperlich und nicht greifbar sind: ein Gefühl des Behagens, Wohlergehen, Befriedigung, Erregung oder Leidenschaft.« (Ebd. 304)23 Im Kontext der Dienstleistungen und affektiven Arbeiten ist die Arbeitswelt nah wie nie am Nichtstun der Müßiggänger: als Kunden der Freizeitindustrie, als Touristen, als Wellness-Suchende, als Informations- und Spielejunkies im Internet, möglicherweise als Freier in den sogenannten »Verrichtungsboxen« (vgl. etwa Moos 2005 u. EMMA 2006) während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Wie auch immer: Auch das Nichtstun scheint stets auf Arbeit als das nur für den Augenblick Vermiedene, Ausgesetzte verwiesen zu bleiben. Der Freizeitler, Urlauber, Pausierende oder Nichtstuende ist wohl eher Müßiggänger, und weniger ein Subjekt, das ›anders als Arbeit geschieht‹ existiert. So fasst auch Benjamin den Zusammenhang von Müßiggang und Arbeit: »Der Müßiggang – [dem »die Züge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in welcher er gedeiht, eingegraben sind«] – sucht jedweder Beziehung zur Arbeit des Müßiggängers, schließlich zum Arbeitsprozeß überhaupt aus dem Wege zu gehen« (Benjamin 1991: 964f., m 3,1; 968, m 4a,4).

4. Gelassenes Arbeiten Die Auseinandersetzung mit dem Hegelschen System, seinen Operationen, seinem Funktionieren und Arbeiten, führt Jacques Derrida zu der Frage, was, als solches, undenkbar hierin bliebe, was un23. Die Situation des Einzelnen in der hier mit Sennett und Hardt/ Negri (und oben in Abschnitt I anhand der öffentlichen Debatten) skizzierten globalisierten »Arbeitsgesellschaft« unserer Gegenwart, fassen Hardt/Negri in »Multitude« zusammen: »Von manchen Ökonomen werden die Begriffe Fordismus und Postfordismus verwendet; sie sollen die Verschiebung beschreiben von einer Ökonomie, deren Charakteristikum die für die Fabrikarbeiter typische stabile Langzeitbeschäftigung ist, zu einer, die von flexiblen, mobilen und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt ist: flexibel, weil die Arbeiter sich verschiedenen Aufgaben anpassen müssen, mobil, weil häufigere Wechsel der Arbeitsstellen notwendig werden, und prekär, weil es keine Arbeitsverträge gibt, die stabile und langfristige Beschäftigung garantieren würden.« Hardt/Negri 2004: 130f.

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denkbar bliebe als Negatives oder Anderes zum System (Hegels), das sich weder anerkennen, vermitteln, noch aufheben ließe, also: »ohne sich zu präsentieren, das heißt ohne im Dienste des Sinns zu arbeiten«. Was könnte das sein? »Vielleicht ganz einfach eine Maschine, eine funktionierende Maschine. Eine Maschine, die in ihrem reinen Funktionieren definiert wäre und nicht in ihrer finalen Zweckmäßigkeit, in ihrem Sinn, ihrem Ertrag, ihrer Arbeit. […] Was Hegel, der aufhebende Interpret der Philosophiegeschichte, niemals zu denken vermocht hat, ist eine funktionierende Maschine. Eine Maschine, die funktionieren würde, ohne dabei von einer Ordnung der Wiederaneignung reguliert zu werden. Insofern als es in sich einen Effekt des reinen Verlustes einschreibt, wäre ein solches Funktionieren undenkbar. Undenkbar wie ein Nicht-Denken, das durch kein Denken aufzuheben wäre, indem dieses es als sein eigenes Gegenteil, sein Anderes konstituiert. Die Philosophie sähe in ihm zweifellos ein Nicht-Funktionieren, eine Nicht-Arbeit, und sie würde dadurch das verfehlen, was in einer solchen Maschinerie eben doch läuft. Von alleine. Draußen« (Derrida 1988: 117f.).

»Arbeit« ist nicht nur das individuelle produktive (oder destruktive) (vgl. Schumpeter 2005) Tun des Werktätigen; sie ist auch eine Vernetzung unzähliger subjektiver Tätigkeiten, Verrichtungen und Abhängigkeiten; ebenso ist sie metaphorisches Spielfeld einer prekären gesellschaftlichen Form und deren Selbstvergewisserungsversuchen; zudem ist sie ein System von Mitteln, Techniken, Vermittlungen, kurz: Dispositiven und reflektierten Begrifflichkeiten; sodann Realität einer ausdifferenzierten und omnipräsenten medienästhetischen Gestaltung. Schließlich ist Arbeit die historisch verfestigte Verspannung von Subjekt und Objekt (Ding), die als kulturelles Medium die noch immer stringenteste Form der Sittlichkeit des Individuums darstellt – eine Sittlichkeit, die – das wissen wir seit Horkheimer/Adornos »Dialektik der Aufklärung« – in jene Barbarei führen kann, die die Behauptung »Arbeit macht frei« nicht ironisch, sondern ernst meinte (und genommen hat). Wie aber wäre nun, angesichts dieses ubiquitären Phänomens, jenes derridasche »Draußen«, die »Nicht-Arbeit« zu denken – wollte man damit nicht einfach die Freizeit oder den Müßiggang identifizieren? Das ist für den vorliegenden Kontext die Frage nach dem, was sich ›anders als Arbeit geschieht‹ öffnete bzw. sich als Öffnen

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des arbeitsamen Subjekts auf eine andere Objekt- bzw. Dingbeziehung hin entpuppte. Die »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« [Hervorhebung: T.S] samt faschistischem Staatsapparat wusste mit ihrem »Arbeit macht frei« eine spezifische Qualität des Arbeitsbegriffs zu nutzen und zu potenzieren: Mit der ab dem 01. Mai 1934 betriebenen, propagandistischen und institutionellen Konstituierung der Deutschen als eines arbeitenden und sich in der Arbeit selbst schaffenden Volkskörpers, erhält die Gesellschaft eine ergologische Identität, die es allererst zu definieren ermöglicht, welche kranken Teile nun eben nicht arbeitsam, arbeitswillig oder arbeitsfähig seien. »Arbeit macht frei« ist daher der Name für ein Programm, mit dem sich ein Volk, eine »Leistungsgemeinschaft« (so Hitlers Wort), durch Arbeit von Nicht-Arbeit befreit und so – wie Werner Hamacher gezeigt hat – als »Arbeitsgesellschaft als ihr eigenes Arbeitsprodukt hervortreten kann.« (Hamacher 2002: 163) Hamacher bettet diesen Gedanken in die Rekonstruktion des faschistischen Arbeitsbegriffs (Hitlers), in die Ausführungen Heideggers aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre und Ernst Jüngers »Der Arbeiter« ein. Mit diesen drei Autoren sind »drei Motive« benannt, »die dem System der Arbeit unter dem Faschismus Kontur gegeben haben: ein mytho-theologisches, ein ontologisches und ein morphologisches.« (ebd. 159) Hamacher legt hier »Arbeit« als eine kulturelle bzw. zivilisatorische Grenzmarke von Mensch und Nicht-Mensch, von Selbst und Totem frei. In dieser Durcharbeitung erst – sein Text heißt »Arbeiten Durcharbeiten« – wird klar, wie politisch prekär unser auf Arbeit beruhendes System der Bedürfnisse ist. Das Durcharbeiten von Arbeit wird (aus ethischen Gründen) immer nur ein vorläufiges und provisorisches gewesen sein können: So greift Hamacher Adornos Begriff der »Aufarbeitung« auf und versteht es »als ein Öffnen, Lockern, Destabilisieren eines verschlossenen, kontrakten, monolithischen Komplexes […], als ein Freilegen, durch das erst aufgetan wird, was war und was noch die Gegenwart im Gewesenen einschließt und arretiert.« (Ebd. 196) Gegeben ist mit diesem als Öffnen verstandenen Auf-Arbeiten die Frage nach dem »was, ohne selber Arbeit zu sein, diese Arbeit zuläßt, [dem] Freiraum des Lassens, ohne den es keine Form, keine Herstellung, keine Diskurse, Ideale, Formationen und ohne den es keine Geschichte gäbe.« (Ebd.: 196) Das in der »Aufarbeitung« gelassene

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Öffnen auf ›ein zur Arbeit anderes‹ hin, führt Hamacher schließlich zum Heideggerschen Terminus der »Gelassenheit«. Dies ist es, von dem her Arbeit bestimmt ist, und das sie weder zu bewältigen noch zu bearbeiten weiß, auf das hin sie aber gedacht werden muss. Arbeit, in ihrer modernen Subjekt-Objekt-Kohäsion, in deren Erbe wir stehen (und arbeiten), ist ein »Versagen vor der Ruhe« – vor der »Gelassenheit als dem Bezug zu dem, was aller Arbeit voraus und noch in der Arbeit offen ist auf das, was selbst nicht Arbeit werden kann.« (Ebd. 199) Das Motiv des Öffnens und der ethische Gedanke des Offenhaltens, verbindet die Analysen Hamachers mit Jean-Luc Nancys Ausführungen zur »Erschaffung der Welt«. Bei Nancy erscheint Arbeit als die prominenteste Repräsentation eines perfekt geschlossenen Systems ökonomischer Äquivalenzen von Sinn, das seit einiger Zeit »Globalisierung« heißt und unsere »Welt«, wiederum als in den Sinnangeboten der Globalisierung gedachte Ganzheit von in Arbeit produzierten Sinns ist (vgl. Nancy 2003: 11-55). »Die Welt findet statt, sie ereignet sich, und alles geschieht so, als wüßten wir nicht, sie zu fassen. Sie ist unsere Produktion und sie ist unsere Entfremdung.« (Ebd. 28) In der Erfassung dieser seltsamen Differenz und Gleichzeitigkeit von Produktion und Entfremdung liegt die Einsicht, dass die Welt uns vor-erst als sie gegeben ist – »sie ist unser Faktum«, ohne dass Grund oder Zweck ihrer Existenz als solche ursprünglich zu benennen wären. »Die Welt zu denken heißt, diese Faktizität zu denken, was voraussetzt, diese nicht auf einen Sinn zurückzuführen, der fähig ist, sie aufzunehmen, sondern in sie, in ihre faktische Wahrheit den ganzen möglichen Sinn zu legen.« Der Sinn, auf den sie gängigerweise zurückgeführt wird, ist aber nun einer, der sich immer mehr so als der Sinn des Ganzen (der Welt in ihrer Globalität, Glokalität und ihrer »allgemeine[n] Äquivalenz aller Sinnformen«) (ebd. 50) repräsentiert, als könne er die Welt in sich aufnehmen: die Welt nämlich als angebliche Produktivität des ökonomisch-kapitalistischen Dispositivs. Wenn das gelänge, bliebe kein Raum zwischen der praxis des Arbeitens, das als entfremdetes erfahren wird, und einer sinn- und seinsmäßigen Produktion von Welt als einer im kapitalistischen Sinne globalisierte. Um jenen Raum für eine andere »Erschaffung der Welt« aber denkerisch zu öffnen und offen zu halten, »das heißt für das, was das Gegenteil einer Globalität der Ungerechtigkeit auf der Basis allgemeiner Äquivalenz bilden muß« (ebd. 54), ist 244

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die (An-)Erkennung eines Sinnabstands zwischen »Interpretationen« und »Transformationen« notwendig. Denn es geht darum, »die Beziehung zwischen ihnen zu verändern und zu verstehen (das heißt umzusetzen), dass der Sinn immer in der praxis liegt, auch wenn sich keine Praxis darauf beschränkt, einen Gedanken zu verwirklichen und kein Gedanke die Praxis erschöpfend erfaßt[.] Aber der Abstand zwischen beiden ist notwendig für das, was praxis heißt bzw. Sinn bei der Arbeit, oder auch Wahrheit am Werk.«

Für Nancy gilt es »also, auf bestimmte Weise die Werke zu denken, in denen sich der Sinn erschafft, selbst wenn seine Schöpfung weit über den geschlossenen Raum der Werke hinausragt. Es gilt zu denken, wie diese Werke den Sinn – der nicht ›ihr‹ Sinn ist – kommunizieren.« (Ebd. 53 u. Fußnote ebd.) Diese Sinnarbeit (Arbeit des Sinns als »Erschaffung der Welt«), die in der Arbeit den Sinn der Arbeit hervorbringt denkt Nancy als Überschuss, also als Öffnung der Arbeit, des Sinns der Arbeit.24 Das »bedeutet eine Arbeit, deren Prinzip [Hervorh; T.S.] keiner Zweckmäßigkeit des Beherrschens (Herrschaft, Nutzen, Aneignung) untergeordnet ist, sondern über jede Unterordnung unter einen Zweck hinausschießt«. Aber: Das, was den Sinnabstand hält, was den Raum des Sinns öffnet und offenhält, ist nie Werk oder Produkt selbst, es ist »der Genuß, von dem Marx sprach, als Genuß der Menschen an dem, was ihre Menschlichkeit über jeden Humanismus hinaus öffnet.« (Nancy 2003: 54)25 24. Zum Gedanken des Überschusses im Rahmen einer kultur-ökonomischen Theorie der Verausgabung und der damit verbundenen Kritik des »Nützlichkeitsprinzips«, vgl.: Bataille 2001: 7-31. 25. Der im Zitat angesprochene Marx-Bezug verweist auf eine längere Passage aus »Die deutsche Ideologie« zum Thema »Weltmarkt«, mit der sich Nancy in seinem Text ausführlich auseinandersetzt. Der entscheidende Teil zum Genuss lautet: Es ist klar, dass der »wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt […]. Die einzelnen Individuen werden erst hierdurch von den nationalen und lokalen Schranken befreit, mit der Produktion (auch mit der geistigen) der ganzen Welt in praktische Beziehung gesetzt und in den Stand gesetzt, sich die Genußfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben.« (Marx zit.n. Nancy 2003: 17f.)

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Dieser Text – als ein Produkt aus immaterieller Arbeit entstanden – endet; vorläufig, denn sein Thema wird weiter zu bearbeiten und auszuarbeiten sein. Was hier nur angedeutet oder gar ungesagt blieb – und das war das meiste – wird begleitet von der »Hoffnung« (vom Grund der Büchse der Pandora), dass es sich wird erarbeiten und aufarbeiten lassen. Wie also enden, jetzt, mit einer Arbeit, die nicht endet? Vielleicht mit diesem Gedanken: Das vermeintlich in die Jahre gekommene Paradigma der »Arbeit«, wie es die Moderne als Form und Begriff hervorgebracht hat, verabschieden zu wollen, wäre ein schales Unterfangen. Was wäre schon gewonnen, sie schlicht durch einen anderen Begriff oder eine Wunde zu ersetzen. Solange Arbeit an uns als etwas zu Bedenkendes arbeitet, wir an ihrer Unvollendetheit herumlaborieren, stehen wir in ihrem Erbe, werden wir ohne sie … nichts tun können. Wir sind nicht Bartleby. So wäre ethisch und, entgegen eines ausgerufenen Endes der Arbeit, in politischer Perspektive die These Guido Westerwelles und Sigmar Gabriels umzudenken, und in eine Frage, in die Prozessualität einer Frage, in eine zu überarbeitende und aufzuarbeitende Frage zu verwandeln, die in aller Kürze lauten könnte: Ist sozial, was Arbeit schafft? Und in individueller Hinsicht wäre zwischen, oder besser: jenseits der Alternative von Arbeit und Nichtstun, nach einem Dritten Ausschau zu halten. Ein Drittes, das – um nochmals Werner Hamacher zu zitieren – »aller Arbeit voraus und noch in der Arbeit offen ist auf das, was selbst nicht Arbeit werden kann« (Hamacher 2002: 199). Ein Drittes, das inmitten jener in einem Zusammenhang gehaltenen Konstellationen aus Arbeiten und Nichtstun und Subjekt und Objekt öffnend produktiv ist; etwas, das auf gespenstische Weise in Arbeit anderes als Arbeit möglich macht – potentiell.

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Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. Leviathan – Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Sonderheft 11/1990, Opladen, S. 3-25. Welskopp, Thomas (2004): »Der Wandel der Arbeitsgesellschaft als Thema der Kulturwissenschaft – Klassen, Professionen und Eliten«. In: Friedrich Jäger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart, S. 225-246.

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Tinte, Blut und religiöse Praxis

Tinte, Blut und religiöse Praxis Christina von Braun

In dem Film »Interview mit einem Vampir« führt ein routinierter Vampir einen Neuling in die Kunst des Blutgenusses ein. Dieser hat sich bisher nicht überwinden können, von Menschenblut zu trinken, und ernährt sich deshalb kläglich vom Blut der Kaninchen, Eichhörnchen oder gar Mäusen. Der routinierte Vampir will ihm den, wie er meint, höher raffinierten Geschmack des Menschenblutes näher bringen und bietet ihm – nachdem er zwei jungen Frauen durch einen kurzen Biss den Garaus gemacht hat – einen Kristallbecher mit rotem Saft an: »Trink«, sagt er zum Novizen, »und stell Dir vor, es sei Wein«. Diese kleine Szene erzählt auf verkürzte und verkehrte Weise von der großen Bedeutung des Blutes im christlichen Abendland. Sie erzählt vom Wandel des Weins in Blut und von den Einbildungskräften, die dafür nötig sind. Sie bringt den Streit um die Transsubstantiationslehre in Erinnerung und öffnet die Augen für die magischen Kräfte des Glaubens. Sie erzählt dabei aber auch von den magischen Kräften des Mediums Film: »Stell dir vor, es sei Wein«, sagt der eine Vampir zum anderen – und der andere trinkt. Der Zuschauer aber weiß, dass der Kelch nicht Wein, sondern Blut enthält – zumindest Filmblut – er lässt sich also nicht täuschen von der falschen Einbildung. Nur die ›echte‹ tut es ihm an – die des Films. Kein anderes Medium scheint so geeignet wie der Film, die christliche Heilsbotschaft zu vermitteln. Es ist fast, als habe der Film erfunden werden müssen, damit die Wunder, die am Altar geschehen, auch in der säkularen Welt ihre Glaubwürdigkeit erlangen. Der Film ist das Simulationsmedium schlechthin. Dank einer ausgeklügelten Bild- und Tontechnik befindet sich der Zuschauer in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit und erfährt etwas 253

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am eigenen Leibe, das eigentlich dem Bereich des Imaginären angehört. Im »Interview mit einem Vampir« wird dieser Topos einer »real imaginären Wirklichkeit« mehrfach aufgegriffen: So befindet sich der Held, inzwischen Routinier im Geschäft des Bluttrinkens, gegen Ende des Films, nach dem Überstehen vieler Abenteuer, in einem Kino, wie der Zuschauer selbst. Dort kann er genussvoll einen Sonnenuntergang (auf Sunset Boulevard in Hollywood) erleben – ein Vergnügen, das ihm, für den das Licht und die Sonne lebensgefährlich sind, im ›normalen‹ Leben eines Vampirs verwehrt ist. Im Kino darf auch er genießen, was die normalen Sterblichen in echt erleben – eben weil diese Wirklichkeit nicht ganz echt ist. Das Blut bildet die wichtigste Schaltstelle zwischen Simulation und Wirklichkeit, zwischen der Welt der Zeichen und der materiellen Welt. Es ist der Garant dafür, dass Einbildung und Simulation Macht über die Wirklichkeit haben. Oder gar ununterscheidbar werden von der Wirklichkeit. Im Film – aber nicht nur da: auch bei den Computerspielen, im Internet – ist das Blut geradezu zu einem Code für ›Wirklichkeit‹ geworden, weil es eine ambivalente Bedeutung hat: Einerseits signalisiert es ›Leben‹, andererseits verweist es auf Wunde und Sterblichkeit. Deshalb gibt es auch ›böses‹ und ›gutes‹ Blut. Das Blut des Vampirs ist ›böses Blut‹: Hinter dem Mythos des Blutsaugers verbirgt sich die Gestalt des Anti-Christen, der jeden Pakt mit Blut unterschreiben lässt und als Blut-Dieb galt – im Gegensatz zum Heiland, der sein Blut für die anderen opfert. Mit ›bösem Blut‹ in Berührung zu kommen, bedeutet Infektion und Krankheit. Die sexuell übertragene Syphilis zum Beispiel galt als die Krankheit des ›bösen Bluts‹. Das geopferte Blut der Märtyrer hingegen gilt als ›gutes Blut‹. Die zweimal jährlich in Neapel stattfindenden Feiern zu Ehren des Heiligen Gennaro, dessen Blut sich angeblich immer wieder verflüssigt, sind dafür ein Beispiel. Die Spaltung in ›böses‹ und ›gutes‹ Blut ist ihrerseits geschlechtlich codiert. Lange galt das weibliche Blut als heilbringend. Im antiken Griechenland z.B. wurde das Menstruationsblut als »übernatürlicher roter Wein« bezeichnet, den Mutter Hera – als Hebe – den Göttern verabreichte (Graves 1955). Auch die Vorstellung, der Mensch sei aus geronnenem Menstruationsblut geformt (eine Vorstellung, die sich an einigen medizinischen Fakultäten Europas bis ins 18. Jahrhundert hielt), verweist auf diesen Zusammenhang von weiblichem Blut und Fruchtbarkeit (Briffault 1927: 444f.). Die Vorstellung von der Fruchtbarkeitssymbolik des weibli254

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chen Bluts hielt sich noch lange: In den Medizinischen Lehrbüchern des Mittelalters wurde es empfohlen zur Behandlung von Epilepsie und Aussatz, zur Verjüngung von alten Männern oder als Liebeszauber. Hildegard von Bingen (gest. 1179) rühmte in ihren Libri subtilitatum diversarum natur creatur, dem ältesten in Deutschland verfassten Werk der Klostermedizin, Menstrualblutbäder gegen Aussatz (Strack 1911: 36f.). Noch in einem Arznei-Schatz von 1681 wird das »monatliche Geblüt« als Heilmittel gegen »die Rose oder auch andere Geschwulste und Schmerzen« empfohlen (ebd. 9). An anderer Stelle wurde das Menstruationsblut gegen Kinderlosigkeit verschrieben (ebd. 42). Allmählich sollte im Christentum diese Fruchtbarkeitssymbolik des Blutes auf den männlichen Körper übergehen. Dort wird es zu einem Code für geistige Fruchtbarkeit. So schreibt etwa Jakob Böhme: »Des Weibes Blut hätte den Zorn Gottes nicht versöhnet. Es musste es nur des Mannes Blut tun, denn das Weib gehöret in [den] Mann und wird im Reich Gottes eine männliche Jungfrau sein als Adam war, kein Weib« (Böhme 1995: 105). Parallel dazu erfährt das weibliche Blut eine Abwertung und wird mit unheilvollen ›magischen‹ Kräften gleichgesetzt, die dem Bereich des Aberglaubens angehörten.1 Weit verbreitet war etwa der Aberglaube, dass das Blut von schwangeren Frauen Dieben die Macht verleihe, unhörbar und unsichtbar zu sein2 (eine Phantasie, für die die Schwangerschaft wenig geeignet erscheint, in der andererseits aber auch eine Sehnsucht nach medialer Desinkarnation mitschwingt). Obwohl sich mit der Moderne eine genaue Kenntnis der Beschaffenheit und der Gesetze des Blutes durchgesetzt hatte – das begann mit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1624 und führte bis zur Bestimmung der Blutgruppen im Jahre 1901 –, haben sich die Mythen des ›bösen Blutes‹ in verwandelter Form bis in die Jetztzeit gehalten: einerseits in den Vorstellungen von der 1. Christliche Autoren vertraten noch im 17. Jahrhundert die Ansicht, dass alte Frauen über magische – und damit gefährliche – Kräfte verfügten, weil sie ihr Menstruationsblut zurückbehielten. Hier verband sich die Vorstellung von der geheimen Macht des Menstruationsbluts mit der der Allmacht des weiblichen Auges, des ›bösen Blicks‹, der Frauen unterstellt wurde (Gifford 1958: 26). 2. Strack zitiert einige Polizeiberichte, in denen dieser Aberglauben deutlich wird (Strack 1911: 75f.).

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Unzurechnungsfähigkeit oder Unreinheit der Frau während der Menstruation; andererseits aber auch im politischen Kontext. Das ›böse‹ oder ›giftige‹ Blut des Juden gehört zu den wichtigsten Topoi des rassistischen Antisemitismus. Er sollte u.a. dazu führen, dass sich der Begriff der ›Blutschande‹ im Verlauf des 19. Jahrhunderts genau umkehrt: Bezeichnet die ›Blutschande‹ ursprünglich die Sünde des Verkehrs mit dem eigenen Blut, also den Inzest, so bedienten sich die Antisemiten dieses Begriffs, um von der ›Sünde‹ des Verkehrs mit dem ›fremden Blut‹ zu sprechen – wobei mit dem ›fremden Blut‹ nicht irgendein anderes Blut, sondern immer das jüdische Blut gemeint ist. Die Vorstellung vom heiligen Blut der Könige und von der Nation als Blutsgemeinschaft – das sind Bilder, die eine ungeheure historische Wirkungsmacht entfaltet haben. Aber es sind eben nur ›Bilder‹, die nichts mit biologischer Wirklichkeit zu tun haben. Woher kommt dann aber ihre Wirkungsmacht? Blut ist der Lebenssaft, der den Körper des Menschen durchströmt – kommt dieser Strom zum Stillstand, so versiegt das Leben. Diese Metaphorik wird aufgegriffen und auf den Sozialkörper übertragen: den kirchlichen, den staatlichen oder den der Armee. Ist Blut ein Code für die Wirklichkeit, so müssen die Ikonen und Hostien zu bluten beginnen, will man im mittelalterlichen Bilderstreit oder im Streit um die Transsubstantiationslehre die Realpräsenz Gottes im Bild und beim Heiligen Abendmahl beweisen. Oft sind es die Geistlichen selbst, die überzeugt werden müssen. Die Tatsache, dass Blut ein Code für materielle Wirklichkeit ist, erklärt auch den Zusammenhang zwischen Blut und Geld. Das Geld, Zeichen schlechthin, ist eine Simulationstechnik, die immer erneut in Erinnerung bringen muss, dass sie sich auf etwas ›Reales‹ – Nahrung, Häuser, Dienstleistungen, käufliche Sexualität – bezieht, und dieser Bezug wird durch den Vergleich mit Blut hergestellt. Im Leviathan vergleicht Hobbes das Geld mit dem Blutkreislauf im Körper: Das Geld wandere »innerhalb des Staates von Mensch zu Mensch« und »ernähre« auf seinem Umlauf jeden Teil, den es berührt (Hobbes 1999: 194). Ebenso werden im Industriezeitalter die internationalen Kapitalströme mit dem Blutkreislauf verglichen. Die Bedeutungen des Blutes sind äußerst vielfältig, doch ein Aspekt ist zentral, zumindest für die Geschichte der Religionen des Buches: der Zusammenhang von Tinte und Blut, das heißt auch von Schrift und Leben. Dahinter steht die Vorstellung, dass Reli256

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gionen und Gemeinschaften, deren Glauben und Zusammengehörigkeit auf einem ›Heiligen Text‹ beruhen, des ›Wirklichkeitscodes‹ Blut und der metaphorischen Bedeutung des Blutes als Symbol für ›Leben‹ bedürfen, um den Zeichen des Textes, den Simulationstechniken schlechthin, Leiblichkeit zu verleihen.

Das Opfer Die Bedeutung des Blutes als »Sitz des Lebens« (Dt. 12,23) und der Seelenkraft erklärt seine zentrale Rolle in vielen (wenn auch nicht allen) Religionen, archaischen wie schriftkundigen. Seine Macht zeigt sich sowohl in den archaischen als auch in den christlichen Vorstellungen des Blutopfers, das in vormonotheistischer Zeit durchaus auch ein Menschenopfer umfassen konnte, dann jedoch weitgehend von Tieropfern – in seiner höchsten Form vom Stieropfer – abgelöst wurde. Die Faszination in Spanien mit dem Stierkampf, gegen den die Kirche Jahrhunderte lang, wenn auch vergeblich, vorgegangen ist, hängt damit zusammen, dass sich dahinter, kulturgeschichtlich noch erkennbar, eigentlich der Ritus des Menschenopfers verbirgt: Durch das Blut von geopferten Jünglingen oder Männern sollte die ›Mutter Erde‹ oder eine jungfräulich gebärende Muttergottheit befruchtet werden; weshalb vielleicht noch in der römischen und griechischen Antike der männliche Same als ein Derivat von Blut gedacht wurde. Später trat an die Stelle des männlichen Menschenopfers das männliche Tieropfer, vor allem der Stier. Er war das größte und wertvollste unter den Opfertieren und eignete sich, wie kein anderes Tier, als Symbol für Männlichkeit, Potenz und Fruchtbarkeit. In archaischen Ritualen wurden Fruchtbarkeitsgöttinnen wie Artemis Stiere dargebracht. Artemis war die letzte der großen vor- und frühgeschichtlichen Muttergottheiten. Ihr Kult war über das ganze römische Reich verbreitet. Die Opferung von Stieren gehörte zum wichtigen Bestandteil ihres Kultes. Artemis war Mutter und Jungfrau zugleich: Das stellte, wie im Christentum, keinen Widerspruch dar, war aber anders begründet: Als Mutter war sie Lebensspenderin, und mit ihrer Jungfräulichkeit sollte ihre von der Natur abgeleitete Fähigkeit der eigenmächtigen Regeneration unterstrichen werden (Braun 1997: 76). Dagegen wird die christliche Jungfrau durch das Wort Gottes befruchtet – eine Veränderung, auf die ich noch zurückkomme. Obgleich jung257

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fräulich gebärend, war auch im Artemiskult ein männlich-zeugendes Element enthalten: Die Hoden des Stieres wurden der Göttin als Opfer dargebracht. Die berühmte Skulptur der »vielbrüstigen« Artemis von Ephesos, die auf ihrem Oberkörper Gebilde trägt, die lange als Brüste, d.h. Symbole für weibliche Furchtbarkeit bzw. als Darstellung von Früchten – Trauben, Datteln, Eier – interpretiert wurden, zieren in Wirklichkeit die Hoden von Stieren, die ihr geopfert wurden (ebd. 77). »Den geopferten Stieren wurden die Hoden abgetrennt und der Göttin angeheftet. Die Reihe der Stiere, die geopfert wurden, vermehrten die Hoden am Brustpanzer der Göttin. […] Im Anschluß an die Opferung zog die mit Stierhoden behängte Göttin in feierlicher Prozession durch die Stadt« (ebd. 78). Bei diesem Vorgang »wurde der Göttin das Zeichen männlicher Potenz sichtbar am Körper befestigt« (ebd. 78). Die Schädel der geopferten Stiere (Bukranien) wurden an geschmückten Pfählen oder an den Wänden des Tempels befestigt, »wobei die zunehmende Reihe der Bukranien der abnehmenden Reihe der zu opfernden Stiere entsprach« (ebd. 78). Insgesamt »könnte das Opfer der Stiere als symbolisch-komplexe Aufführung einer Art Heiligen Hochzeit, eines hierós gamós , als kulturelle Hilfestellung bei der Fruchtbarmachung der Göttin gesehen werden« (ebd. 79). Die Tatsache, dass diese ›Hochzeit‹ und Fruchtbarmachung mit einem Sterben beginnt, erinnert an christliche Vorstellungen, in denen der Tod des Erlösers am Kreuz mit der ›Geburt der Welt‹ verglichen wurde.3 Doch es gibt einen Unterschied: Während im Christentum Gott sich (in seinem Sohn) der Menschheit als Opfer anbietet, ist es im Kult der Artemis der Stier (bzw. wie wir noch sehen werden: der Mensch), der der Göttin als Opfer dargebracht wird. Viele Elemente dieser antiken Fruchtbarkeitsgöttinnen sind in die Gestalt der christlichen Muttergottes eingeflossen – eben deshalb die hohe emotionale Besetzung des Stierkampfes in Spanien. 3. Jesus spricht von ›Wehen‹, als er das Herannahen des Todes beschreibt (Mt 24, 8), und die Mystikerin Marguerite von Oingt betet zu ihm: »Mein süßer Herr, […] bist Du nicht meine Mutter und mehr als meine Mutter? […] Denn als der Moment Deiner Niederkunft kam, wurdest Du auf das harte Bett des Kreuzes gelegt. […] Und Deine Nerven und alle Deine Adern waren zerschlagen. Und wahrlich, es ist nicht erstaunlich, daß Deine Venen geplatzt sind, als Du an einem Tag die ganze Welt geboren hast« (Walker Bynum 1991: 97).

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Keine Corrida, bei der nicht eine Muttergottes in der Nähe ist. Auch finden die Stierkämpfe meistens an Feiertagen statt, die dem Marianenkult geweiht sind. In den über Jahrhunderte sich hinziehenden Disputen der Kirche um das Dogma der Unbefleckten Empfängnis, durch das die Muttergottes einen Status erlangte, der sie fast ebenbürtig mit dem Sohn Gottes werden ließ, hatte Spanien eine Vorreiterrolle. Die ersten Formulierungen des Dogmas entstanden um 700 in der Ostkirche, um sich ab 1100 auch in der Westkirche auszubreiten, bevor das Dogma 1854 offiziell von Rom verkündet wurde. Das Dogma implizierte, dass Maria ohne Erbsünde geboren wurde, mithin der Erlösung durch Christus nicht mehr bedurfte, ja in gewisser Weise diese schon vorwegnahm. Kein anderes Land hat die Durchsetzung dieses Dogmas so nachhaltig betrieben wie Spanien, wo es schon lange vor der offiziellen Verkündung in Rom zu einem Teil der christlichen Lehre geworden war. Im 16. Jahrhundert war in manchen Gegenden Spaniens das »Ave Maria Purisima« (»Gegrüßet sei die allerreinste Maria«) das mit »sin pecado concebido« (»die ohne Sünde empfangen wurde«) beantwortet wurde, Glaubensbekenntnis und Schlachtruf zugleich (Braun 1997: 116). »Die Universität Alcalá de Henares beschloß 1617, daß die Graduierung an einen Eid, der zur Verteidigung des Glaubenssatzes verpflichtete, gebunden war, und die Universität Salamanca stellte nur Lehrkräfte ein, die bereit waren, auf das Dogma zu schwören« (ebd. 118). Auch Zünfte legten ihre Mitglieder auf das Bekenntnis zur Unbefleckten Empfängnis fest. Die Bedeutung, die das Bekenntnis zur ›Unbefleckten Empfängnis‹ in Spanien annahm, erklärt sich nur mit der Überlagerung des Bildes der christlichen Muttergottes mit einer vorchristlichen Verehrung der magna mater. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den antiken Fruchtbarkeitsgöttinnen und der christlichen Muttergottes: Maria wird befruchtet durch das Wort, das in ihr Ohr eindringt oder das sie lesend empfängt. Nach der Erfindung des Buchdrucks mehren sich die Darstellungen der Verkündigung, bei denen Maria die Botschaft des Engels in ein Buch vertieft empfängt. Allein daran ist zu erkennen, wie eng die Vorstellung einer Vergeistigung der Zeugung mit der Geschichte unseres Schriftsystems zusammenhängt – eine Geschichte, die vom Stieropfer, symbolischer Kastration und einer wahren Bluttaufe erzählt.

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Das phonetische Schriftsystem Das erste Alphabet, das semitische Alphabet, entsteht um ca. 1000 v. Chr. – und mit ihm entsteht zum ersten Mal der Glaube an einen unsichtbaren Gott, der sich einzig durch die Zeichen der Schrift offenbart. Es handelt sich um eine Religionsform, die es bis dahin noch nie gegeben hatte und die sich einerseits durch einen Gott auszeichnet, der sich nicht mehr – wie in allen Religionen zuvor – in der Welt zu erkennen gibt. Andererseits führt dieser Gott aber auch ein strenges Regelwerk ein, das die Welt und das irdische Leben der Gläubigen genau reglementiert. Die große Mehrheit der 630 jüdischen Zeremonialgesetze beziehen sich auf den menschlichen Körper – den Umgang mit Speisen, Krankheit, Hygiene oder auch Sexualität. Sie haben zur Folge, dass der Einzelne die Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft immer wieder bewusst praktizieren und rituell einüben muss. Sie sind gemeinschaftsbildend, lassen sich aber auch lesen als eine Art von weltlicher Kompensation für den Glauben an einen abstrakten, unsichtbaren Gott. Die Ritualgesetze – von denen sich auch einige auf das Blut beziehen – stellen also gewissermaßen die Einschreibung des Abstrakten – oder der Schrift – in den Körper des Gläubigen dar. Das geschieht als ein bewusster Vorgang. Im Christentum stellt sich der Gedanke einer ›Beleibung‹ des Geistes in ganz anderer Form dar: als das Fleisch gewordene Wort im Sohn Gottes, und als ›Glaube‹, der sich dem Unbewussten einschreibt. Warum soll das Alphabet eine solche Wirkung gehabt haben, die bis zur Entstehung einer neuen Religionsform, des Monotheismus, führt? Das Alphabet ist ein phonetisches Schriftsystem – es überträgt Laute, Phoneme, auf visuelle Zeichen. Damit erlangen diese Zeichen eine Unabhängigkeit vom Körper, an den in oralen Kulturen das Sprechen gebunden ist. Andere Schriftsysteme, etwa die Piktogramme der altägyptischen Kultur, haben nicht dieselbe Wirkung. Sie bestehen unabhängig von und neben der gesprochenen Sprache. Das Alphabet hingegen stellt einen direkten Bezug zwischen Schriftsystem und Sprechen her, und das hat nicht nur zur Folge, dass sich das Zeichen verselbstständigt, sondern auch dass die mit dem menschlichen Körper so eng verbundene Sprache als unsterblich gedacht wird. Es entsteht die Phantasie, dass der sprechende Mensch, zum Zeichen geworden, sich selbst überleben kann: in dem Gedanken, der auf dem Papyrus verewigt wird. So 260

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entsteht einerseits ein neuer Ewigkeitsgedanke, der dem zyklischen Zeitdenken der vorangegangenen Kulturen fremd ist; und mit ihm ein unsichtbarer Gott, der sich einzig durch die Zeichen der Schrift offenbart. Andererseits wird die Einführung des phonetischen Zeichensystems aber auch als tiefe Verletzung erfahren. In oralen Kulturen – wie auch in Kulturen mit Piktogrammschriften – wird die Sprache als ein Lebenssaft erfahren, der eine Gemeinschaft zusammenhält und der – eben weil die gesprochene Sprache an den Körper gebunden ist – in den Körper des Einzelnen eindringt. Die Bilder vom ›gemeinsamen Blut‹, das durch eine Gemeinschaft fließt, sind eine Metapher für diesen Lebenssaft der Sprache. Mit der Verschriftlichung der gesprochenen Sprache – und dies gilt nur für das phonetische Schriftsystem – wird diese Zirkulation des Lebenssaftes unterbrochen. Um diesen Verlust zu kompensieren, versuchen die Gesellschaften und Religionen, die aus dem neuen Schriftsystem hervorgehen, in dem Regelwerk, dem der Körper unterworfen wird, wie auch in neuen Bildern des Blutes eine Entschädigung zu schaffen. Ist das Blut in oralen Kulturen ein metaphorisches Spiegelbild für die Sprache und das Sprechen, so versuchen die Schriftkulturen des Alphabets der Schrift – den Zeichensystemen – eine ähnliche Funktion zu verleihen. Das geschieht in den verschiedenen Religionen des Buches auf unterschiedliche Weise. Die Analogie von sozialem Körper und menschlichem Körper spielt in allen Gesellschaften – archaischen wie Schriftgesellschaften – eine wichtige Rolle. Durch diese Analogie soll dem Gemeinschaftskörper der Anschein von Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit verliehen werden. In archaischen Gesellschaften zeigt sich die Vorstellung, dass die Gemeinschaft einen ›Körper‹ bildet, in den Opferriten – d.h. dem gemeinsam erlegten Tier, dessen Blut und Fleisch die Gemeinschaft verzehrt – oder auch in den Riten der Blutsbrüderschaft, durch die etabliert werden soll, dass die vielen individuellen Körper in Wirklichkeit einen einzigen bilden, weil ein und dasselbe Blut durch alle Adern fließt. Diese Vorstellung greifen die Religionen des Buches auf, besetzen die Bilder jedoch auf neue und unterschiedliche Weise. Das hebräische Wort dam bedeutet Blut. Adam, der Mensch, bedeutet »rot sein«. Sein Name verweist einerseits auf Leben und andererseits auf die Sterblichkeit des Menschen. In der jüdischen Religion ist der Genuss von Blut streng verboten, weil das Blut, 261

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Symbol für Leben und Tod, dem Schöpfer vorbehalten bleibt (Lev 17,11a). Das Fleisch von warmblütigen Tieren darf erst verzehrt werden, nachdem der letzte Tropfen Blut daraus entfernt wurde. Das Blut von Opfertieren wird auf dem Altar versprengt. Wird Blut versehentlich vergossen, so muss es mit Erde überdeckt, begraben werden, um dem rechtmäßigen Eigentümer, Gott, wieder übergeben zu werden. Ein solches Verbot von Blutgenuss gab es bis dahin in keiner anderen antiken Religion oder Kultur des Orients. Es handelt sich also nicht um ein archaisches Tabu, sondern um ein Kulturgesetz, das mit der Macht zusammenhängt, die einem Gott zugewiesen wurde, der, anders als alle anderen Götter, unsichtbar blieb und sich einzig in der Schrift offenbart. Mit der jüdischen Religion entstand zum ersten Mal eine auf einer Schrift beruhende Glaubensgemeinschaft, in der die »virtuellen« Gemeinschaften der modernen medial vernetzten Gesellschaften präfiguriert sind. Aber anders als in den modernen Gemeinschaften spielen die Bilder des Blutes – als Eigentum Gottes – eine wichtige Rolle. Auch im Christentum wird das Blut zu einem konstitutiven Element der Gemeinschaft. Doch das geschieht nicht durch das Verbot, sondern durch das Gebot des Blutverzehrs. Wird dem jüdischen Gläubigen durch das Verbot des Blutgenusses seine Differenz zu Gott vor Augen geführt, so vollzieht sich im Christentum beim Heiligen Abendmahl die Vereinigung mit Gott. Durch die Eucharistie hat der Christ Anteil an Gottes Unsterblichkeit; zugleich findet im vergossenen und geopferten Blut des Heilands auch die Menschwerdung Gottes ihren Ausdruck. Steht in der jüdischen Religion dem unsichtbaren Gott eine weltliche Gemeinschaft gegenüber, die durch die Ritualgesetze sichtbar wird, so wird in der christlichen Religion der Sublimation der Heiligen Schrift die Weltwerdung Gottes entgegengesetzt, die ihrerseits im Bild von der Gemeinschaft als Leib Christi ihren Ausdruck findet. Beides, Gottes Menschwerdung wie das Konzept der Gemeinschaft als Leib Christi, schlägt sich in wirkungsmächtigen Bildern des Blutes nieder: Dazu gehören neben den Kreuzigungsdarstellungen auch die »Blutwunder« – blutende Gnadenbilder, Hostien und Kruzifixe. Beides – die Vorstellung eines Gottes, der sich geopfert hat, sowie das Bedürfnis nach der ständigen »Re-Präsentation« des Opfers im Heiligen Abendmahl – ist der jüdischen Religion fremd, ja konträr und liegt am Ursprung vieler antijüdischer und antisemitischer Stereotypen christlicher Gemeinschaften, die mit Bildern des Bluts 262

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zusammenhängen: etwa die Ritualmordbeschuldigungen oder die Beschuldigung des Hostienfrevels. Nicht durch Zufall gehen viele der christlichen ›Blutwunder‹ mit Anklagen gegen Juden und antijudaistischen Ausschreitungen einher, und häufen sich die Vorwürfe gegen Juden nach der Durchsetzung der Transsubstantiationslehre um 1215, bei der es um ein Zeichen geht, das nicht als Zeichen, sondern als ›real‹ verstanden werden will. Allgemein gilt, dass die sühnende Funktion des Blutes in den Schriftgesellschaften von einer zunehmenden Sublimierung des Blutopfers begleitet wird. In der jüdischen Religion – der ersten Religion, die das Menschenopfer ausdrücklich untersagte – tritt die Beschneidung an diese Stelle: Die Beschneidung ist Opferhandlung und zugleich Zeichen für den Bund Gottes mit seinem Volk. An die Stelle dieses Bildes tritt in der christlichen Religion die Kreuzigung: Durch das einmalige, für alle erbrachte Opfer wird der »neue Bund« begründet. »Fast alles wird nach dem Gesetz mit Blut gereinigt, und ohne daß Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung«, schreibt Paulus im Hebräerbrief (9, 22). Doch seien durch das einmalige Opfer Jesu alle anderen Blutopfer überflüssig geworden (ebd. 9, 13f). Zugleich verzichtet Paulus auf die Beschneidung. »Die wahre Beschneidung«, so sagt er, »ist die Beschneidung des Herzens im Geist, nicht nach dem Buchstaben« (Röm. 2, 29). Ganz generell kennt das Christentum, verglichen mit der jüdischen Religion, kaum Formen von äußerer Prägung des Körpers – durch Ritus, Speisegesetze oder auf andere Weise – weil Christus einen »neue(n) Bund in meinem Blute« geschlossen hatte (1 Kor. 11, 25). Es ist also ganz deutlich, dass die christliche Kreuzigungsmetapher die jüdische Beschneidung ablösen soll. Deshalb versuchten frühchristliche und mittelalterliche Kirchenväter auch die Beschneidung Jesu aus ihrem jüdischen Kontext herauszulösen und zu ›christianisieren‹: Bei Paulus wird die Taufe als eine ›geistige Beschneidung‹ umschrieben. Augustinus bezeichnete die Beschneidung Christi als einen Akt der Reinigung von der »Erbsünde« (Steinberg 1996: 50) – eine Vorstellung, die der jüdischen Religion fremd ist, wohl aber auf die Taufe verweist. Bernhard von Clairvaux (12. Jahrhundert) sah in der Beschneidung den Beweis, dass Jesus der »wahre Sohn Abrahams« sei (ebd. 54) (mithin die Christen das eigentliche ›Erwählte Volk Gottes‹), während bei anderen Autoren die Beschneidung als Teil des Erlösungswerks interpretiert wird. Sie stelle den Beginn der Passionsgeschichte dar. Deshalb, so er263

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klärt der Heilige Ambrosius, erübrige sich dieser Ritus auch für den Christen. »Da sich Christus für alle geopfert hat, braucht der einzelne nicht mehr das Blutopfer der Beschneidung zu erbringen« (ebd. 51). Das heißt, die Beschneidung, die in der jüdischen Tradition – besonders deutlich in der verhinderten Opferung Isaacs – ausdrücklich an die Stelle des Blutopfers tritt, wird umgedeutet und im christlichen Zusammenhang zu einem Teil des Blutopfers erklärt. Was aber haben Beschneidung und Kreuzigung mit dem Stieropfer und dem Alphabet zu tun? Auf diese Frage geben die Geschichte unseres Schriftsystems und seine Buchstaben selbst eine Antwort. Ich werde zunächst darauf eingehen, bevor ich auf die Konsequenzen des Alphabets für die unterschiedliche symbolische Geschlechterordnung der beiden Religionen der Bibel zurückkomme.

Das Alpha In allen semitischen Sprachen rund ums Mittelmeer bedeutet das Wort Aleph (Alpha) oder eleph »Stier« bzw. »Ochse«: Der erste und wichtigste Buchstabe des Alphabets – die Reihenfolge der Buchstaben ist nicht willkürlich, sondern entspricht einer Hierarchie der Zeichen, der sogenannten Akrokratie – verweist also auf das höchste der Opfertiere, das zugleich Symbol für Fruchtbarkeit und für Männlichkeit ist. (Nicht durch Zufall taucht es heute auch wieder im @ auf, dem Logo der modernen Speichersysteme). Der Buchstabe A oder ›Alpha‹ steht einerseits für den Stier, der männliche Fruchtbarkeit inkarniert, andererseits aber auch für das Haupt bzw. die Krone (oft dargestellt als Hörner), also für geistige Kräfte, sowie für alle Bedeutungen, die mit dem Begriff »vorwärts«- oder »aufwärts«-strebend zusammenhängen. In seinem Buch Sign and Design macht Alfred Kallir, der sich jahrzehntelang mit der Geschichte der Zeichen des Alphabets beschäftigte, auch auf die Tatsache aufmerksam, dass das A-L-P-H im Buchstaben ›Alpha‹ eine metatethische Umkehrung des P-H-A-L in Phallus darstellt (Kallir 1961: 6). Die Erzählungen und Ideogramme, die sich hinter der Geschichte der einzelnen Schriftzeichen verbergen, so Kallir, sind bis heute dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben: »Eine sich selbst und ihr Produkt (Rindersuppe) stilisierende Geschäftsfirma

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›Bovril‹, die im Zentrum von London, in der Mitte einer hell erleuchteten Lichtreklame mit ihrem Namen, die fast genauen Linien des kretischen Oxkopfes zeigt, muß zumindest eine grobe Ahnung von dem festen Zugriff dieses uralten Symbols auf das Unbewußte der Öffentlichkeit haben.« (Kallir 1961/2001: 25)

Kallir geht bei der Entstehung der Alphabetschrift von einer »progressiven Assimilation« (ebd. 23) verschiedener Bedeutungen durch ein Zeichen aus. So habe die Gestalt des Alpha viele Phasen durchlaufen, die von einem klar erkennbaren Stierkopf bis zu den drei uns bekannten abstrakten Zeichen führten. Die Schrägstriche liefen zunächst nach oben auseinander und stellten die Hörner des Stieres dar; rechts und links markierten zwei Punkte die Augen. Im Laufe seiner Geschichte (die sich über zweitausend Jahre hinzog) stellte sich das Zeichen quer, dabei u.a. die Bedeutung des Pfluges assimilierend4, um schließlich auf dem Kopf stehend durch einen Querstrich ergänzt zu werden. Der Querstrich verweist auf das Joch und damit auf den kastrierten Ochsen, der zu einer wertvollen Stütze des Ackerbaus wird: »Auf den frühen ägyptischen Darstellungen sind Kühe, nicht Ochsen vor dem Pflug zu sehen. Die Bezähmung des Ochsen ist die große Errungenschaft der sich entwickelnden Agrarzivilisation und stellt, wie die Erfindung des Alphabets, einen Meilenstein im Fortschritt des Menschen dar. Die beiden Ereignisse scheinen sich zeitgleich vollzogen zu haben: wahrscheinlich Anfang des zweiten vorchristlichen Jahrtausends« (ebd. 39).

Später sollte sich das Alpha wiederum umdrehen, um die uns bekannte Form anzunehmen, dabei den Prozess einer ›Vermenschlichung‹ der Götter widerspiegelnd. Erzählt das Alpha also einerseits von der Kastration des Stiers und seiner Verwandlung in ein Symbol für den Ochsen, so nimmt das Zeichen andererseits auch zunehmend anthropomorphe Gestalt an. Zwar hatten Semiten und Griechen dasselbe Design für ihren ersten Buchstaben; doch zeigte das (alte) semitische aleph seitwärts, während das griechische alpha 4. In der »Traumdeutung« schreibt Freud um 1900: »Ganz unverkennbar ist es auch, daß alle Waffen und Werkzeuge zu Symbolen des männlichen Gliedes verwendet werden: Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw.« (Freud GW II/III: 361).

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aufwärts zeigte. Später wurden auch die semitischen Buchstaben senkrecht gestellt: »Erst als der Buchstabe beginnt, Mensch (bzw. Mann) zu symbolisieren, erscheint er von vorne und stehend. […] Die Aufrichtung der semitischen Buchstaben um 90 Grad fällt zusammen mit dem Übergang von einem theriomorphischen zu einem anthropomorphischen Weltkonzept.; dies scheint uns die eigentliche Erklärung für das Phänomen zu sein. Der Übergang vom aleph, dem Stier, zum alpha, Abbild des Menschenwesens, typisiert dieses Ereignis« (ebd. 77).

Der Buchstabe ›Aleph‹ erzählt also von einem Prozess, in dessen Verlauf nicht nur der Ackerbau entwickelt wird, sondern auch eine neue Religion entsteht, die mit der Phantasie einer Herrschaft über die Natur einhergeht. Vermutlich, so meint Kallir, waren alle alphabetischen Schriftzeichen zunächst Fruchtbarkeitssymbole. Dabei vollzieht sich allerdings ein Bedeutungswandel des Begriffs ›Fruchtbarkeit‹, und dieser spiegelt sich wiederum im Wandel des Rituals und der Bedeutung des Stieropfers wider. Mit der Entwicklung des Alphabets sollte das Stieropfer eine Bedeutung annehmen, die die Muttergottheiten ersetzte und Frauen aus dem Opferakt ausschloss. Der Prozess deutet sich auf vielfältige Weise schon in der kretisch-minoischen Kultur mit ihren unzähligen Stiermythen an – Mythen des Frauenraubes und der Stiertötung. Er setzt sich fort in der Gestalt des ›zweimal geborenen‹, d.h. ›auferstandenen‹ Dionysos, dessen Symboltier der Stier war (wobei nicht unwichtig ist, dass dieser ›zweimal geborene‹, also auferstandene Gott zeitgleich mit dem Alphabet seinen Einzug in Griechenland hält), und wird schließlich im Mithras-Kult seinen wichtigsten Niederschlag finden. Hier steht er im Zentrum der kultischen Handlung. Über die Ursprünge des Mithras-Kultes weiß man relativ wenig. Er fand erst spät eine weite Verbreitung. Ursprünglich eine Gottheit Mittelasiens, vermischte sich die Gestalt von Mithras nach dem Tod Alexanders, durch den der Hellenismus und damit auch das griechische Alphabet prägend für viele Kulturen wurden, mit Zügen von Apoll und Helios. Seinen Höhepunkt erreichte der Kult des Mithras im letzten Drittel des 3. Jahrhunderts n. Chr., als er, mit der orientalischen Sonnenreligion gleichgesetzt, unter Aurelian zur römischen Staatsreligion wurde. (Wir verdanken übrigens un266

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seren geheiligten christlichen Sonntag nicht etwa der Auferstehung Christi am dritten Tag, sondern dem Mithraskult). Walter Burkert beschreibt ein Ritual, das seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar ist: »Der Myste kauert in einer balkengedeckten Grube, über der der Stier geschlachtet wird, so daß das ausströmende Blut auf ihn nieder fließt – eine Bluttaufe im vollen Sinne« (Burkert 1990: 13). Bei dieser Bluttaufe spielte das sexuelle Element eine wichtige Rolle, nun aber in einem ganz anderen Sinne als bei den Stieropfern der Artemis. In den Mithrasmysterien, so Burkert, scheint »kriegerische Männlichkeit alles Sexuell-Weibliche zu verdrängen. ›Mithras haßt Frauen‹, hieß es. Eine merkwürdige Aufmerksamkeit gilt nichtsdestoweniger in den bekannten Kultreliefs den Genitalien des sterbenden Stiers: Samen, der sich ergießt, wird in einem Krater aufgefangen, ein Skorpion greift nach den Hoden, der Schwanz verwandelt sich in Getreideähren – Metamorphose der Zeugung noch im Tode. […] In den Metermysterien wird die Kastration zum zentralen fascinosum; man hat den Eindruck, Besessenheit von Sexualität im Negativbild zu finden« (ebd. 90). Mit anderen Worten: Im Mithras-Kult wird ein zentrales Opfersymbol antiker Fruchtbarkeitskulte aufgegriffen und neu gedeutet: An die Stelle des Kults der mater magna tritt ein Kult des Männlichen, begleitet von einem neuen Kult der Fruchtbarkeit, der einerseits den Untergang des Männlichen als sexuelles Fruchtbarkeitssymbol beinhaltet, andererseits aber den Aufstieg eines neuen Bildes von Fruchtbarkeit beinhaltet, das geistige Fruchtbarkeit besagt. Diese wurde wiederum mit Männlichkeit gleichgesetzt.5 Im heutigen Stieropfer ist beides enthalten: sowohl der alte Fruchtbarkeitskult als auch der neue Kult um die ›geistige Fruchtbarkeit‹, von der die Zeichen der Buchstaben erzählen und in denen die neuen Glaubensinhalte der Religionen des Buches vorweggenommen werden.

5. Auf die Gründe für die Gleichsetzung von Geistigkeit und Männlichkeit kann ich hier nicht ausführlicher eingehen, habe das aber an anderer Stelle getan: vgl. v. Braun 2001.

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Alphabet und symbolische Geschlechterordnung Die Geschichte des Alphabets erzählt also von einem Wandel der symbolischen Geschlechterordnung, bei der sich das Schriftsystem als schmerzliche Wunde in den Körper einschreibt – besonders deutlich repräsentiert im Ritual der Beschneidung, durch das der Bund zwischen dem männlichen Körper und einem Gott, der sich durch die Zeichen der Schrift offenbart, besiegelt wird. Dabei entsteht ein neues Konzept von Fruchtbarkeit, das geistige Fruchtbarkeit besagt, die ihrerseits mit Männlichkeit gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung gilt für beide Religionen der Bibel, schlägt sich jedoch auf unterschiedliche Weise in der symbolischen Geschlechterordnung nieder – und diese Unterschiede hängen wiederum eng mit den jeweiligen Schriftsystemen zusammen. Der Hauptunterschied zwischen dem semitischen und dem griechischen Schriftsystem – sie entstanden mit ca. 200 Jahren Abstand – besteht darin, dass ersteres nur die Konsonanten schreibt, während letzteres auch die Vokale schreibt und deshalb als volles Alphabet bezeichnet wird. Das hat einerseits zur Folge, dass sich das griechische Schriftsystem, das später zur Grundlage der lateinischen Schrift und damit auch unseres Schriftsystems wurde, sehr viel leichter auf andere Sprachen übertragen lässt und aus dem Grund auch heute zum ›universalen‹ Schriftsystem geworden ist. In beiden Schriftsystemen und Kulturen wurde der männliche Körper zur Symbolgestalt des geschriebenen Wortes, während die gesprochene Sprache, das flüchtige, wandelbare Wort oraler Traditionen als ›weiblich‹ gedacht wurden. »Vatersprache« nannten die Gelehrten des Mittelalters das geschriebene Wort und die lateinischen Texte, während sie gesprochene Regionalsprachen als »Muttersprachen« bezeichneten. Diese geschlechtliche Codierung – Schrift ist männlich, das gesprochene Wort ist weiblich – gilt für die griechische wie für die jüdische Kultur. Dennoch hatten die Unterschiede zwischen den beiden Schriftsystemen unterschiedliche Geschlechterordnungen zur Folge. Das griechische Alphabet, das die gesprochene Sprache völlig erfasste, führte dazu, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit im abendländischen Denken in Konkurrenz zueinander traten: Das geschriebene Wort – das alsbald logisches Denken, Rationalität und Wissenschaftlichkeit konnotierte – galt als zuverlässig und als Zeugnis eines unsterblichen Geistes; das gesprochene Wort hinge268

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gen als unberechenbar, flüchtig und, wie der sprechende Körper selbst, von der Vergänglichkeit bedroht. Es wurde abgewertet im Vergleich zum geschriebenen Wort. Dank dieser Hierarchie wurde das Sprechen aber auch zunehmend den Gesetzen und der Grammatik des geschriebenen Wortes unterworfen. Es fand ein Prozess der Angleichung von geschriebener und gesprochener Sprache statt. Wir sprechen heute so wie wir schreiben und umgekehrt. Diese Angleichung von Schrift und Sprache sollte sich in der christlichen symbolischen Geschlechterordnung widerspiegeln, die vom Prinzip der Symbiose oder Einswerdung geprägt ist. Dagegen impliziert das semitische Konsonantenalphabet, dass die in dieser Schrift geschriebenen Texte nur lesen kann, wer auch die Sprache spricht, also aus dem Inhalt erschließen kann, welches Wort gemeint sein könnte. Das führte dazu, dass sich in den jüdischen religiösen und weltlichen Traditionen ein Nebeneinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit erhielt, das der Gegensätzlichkeit von Oralität und Schriftlichkeit des griechischen Alphabets konträr ist. In der jüdischen Tradition wurde einerseits die Heilige Schrift ›festgelegt‹ – seit ihrer Veröffentlichung durch Esra um 440 v. Chr. durfte kein Wort mehr verändert werden. Andererseits sorgte aber die mündliche Exegese für eine immer wieder erneute Auslegung und Rezeption des Textes. Die Weitergabe der Heiligen Schrift verlief also von Generation zu Generation über die sprechenden Körper. Und dieses Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit fand in der Geschlechterordnung seinen sichtbaren Ausdruck. Der weibliche Körper, der für die Vokale, die nichtgeschriebenen Zeichen, steht, verweist auf die ›Leerstellen‹ des semitischen Alphabets, auf die ›aufgeschobene physis‹, den ›klingenden Körper‹, ohne den die Zeichen nicht zur Welt kommen können. Der weibliche Körper ist nicht Symbolträger der Offenbarung – die ist den Zeichen der Schrift und diese sind über die Beschneidung wiederum dem männlichen Körper eingeschrieben –, aber er ist Symbolträger für das »Lautwerden« der Offenbarung, für die »sprechende«, »mündliche Thora« (vgl. Braun 2001). Das bedeutet aber, dass die beiden symbolischen Funktionen – der männliche Körper als Symbolträger der Zeichen und der weibliche Körper als ein ›Lautwerden‹ der Zeichen – aufeinander angewiesen sind. Die Laute ohne die Zeichen sind insignifikant, und andersherum können die Zeichen auch nur über die Laute ›Bedeutung‹ erlangen. Diesem Nebeneinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit entspricht wie269

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derum die symbolische Geschlechterordnung der jüdischen Tradition, die vom Gedanken der Differenz geprägt ist. Betrachtet man die entscheidenden Unterschiede zwischen den beiden alphabetischen Schriftsystemen, so könnte man – sehr vereinfacht – sagen, dass das eine Schriftsystem zu einer strengen Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit führte, während das andere Schriftsystem eine Überlagerung, ja Symbiose von Schrift und gesprochenem Wort zur Folge hatte. Eben diese beiden Charakteristika spiegeln sich in der Art, wie in den beiden Religionen der Bibel das Verhältnis von Gott und Mensch und das Verhältnis der Geschlechter gedacht werden. In der jüdischen Religion die unaufhebbare Differenz von Gott und Mensch, die u.a. im Bilderverbot ihren Ausdruck findet. In der christlichen Religion ein Mensch gewordener Gott, mit dessen Leib sich der Gläubige vereint: Beim Sakrament des Heiligen Abendmahls nimmt er das ›Fleisch‹ und ›Blut‹ seines Erlösers in sich auf. Auf der einen Seite also ein Gott, der sich nur in den Zeichen eines Textes offenbart, den der Gläubige lesen und mit seiner ›Körpersprache‹ produktiv rezipieren kann: ›Körpersprache‹ in jedem Sinne des Wortes – in Form von gesprochener Sprache und in Form von Ritualgesetzen, die die Übertragung der Schrift auf den Körper darstellen.6 Auf der anderen Seite, im Christentum, dagegen ein Gott, dessen Sohn das ›fleischgewordene Wort‹ ist.

Literatur Böhme, Jakob (1995): Von der Menschwerdung Christi, hg. von Gerhard Wehr, Frankfurt a.M. Braun, Christina von (2001): Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich. Braun, Karl (1997): Der Tod des Stiers. Fest und Ritual in Spanien, München. Briffault, Robert (1927): The Mothers, New York.

6. »Das Ceremonialgesetz selbst«, so schreibt Moses Mendelssohn, »ist eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist, und ohne Unterlass zu Betrachtungen erweckt und zum mündlichen Unterrichte Anlass und Gelegenheit gibt« (Mendelssohn 1968: 434).

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Burkert, Walter (1990): Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München. Gifford, Edward S. (1958): The Evil Eye, New York. Graves, Robert (1955): The Greek Myths, New York. Hobbes, Thomas (1999): Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet v. Iring Fetscher, Frankfurt a.M. Kallir, Alfred (1961): Sign and Design. The Psychogenetic Source of the Alphabet, London (deutsch: [2001] Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets, Berlin.) Mendelssohn, Moses (1968): »Jerusalem«. In: ders., Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik, m. Einleitungen, Anmerkungen und einer biographisch-historischen Charakteristik Mendelssohns, hg. von Moritz Brasch, Hildesheim: Georg Olms. Steinberg, Leo (1996): The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, 2. erw. Aufl., Chicago/London. Strack, Hermann L. (1911): Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, Leipzig. Walker Bynum, Caroline (1991): Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York.

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) vakat 272.p 139957329448

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren Christina von Braun, Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Simone Dietz, Professorin für Philosophie am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Elena Esposito, Professorin für Soziologie an der Universität Modena e Reggio Emilia, Italien. Reinhold Görling, Professor für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Burkhardt Lindner, Professor für Geschichte und Ästhetik der Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Christian Schicha, Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Medienwissenschaft an der Universität Marburg. Irmela Schneider, Professorin am Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft der Universität zu Köln. Timo Skrandies, Junior-Professor für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Matthias Vogel, zur Zeit Gastprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

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Mediale Markierungen

Ralph Weiß, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft am Sozialwissenschaftlichen Institut der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf.

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Medienkulturanalyse Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken März 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-482-9

Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur 2005, 350 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-343-3

Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-344-0

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-342-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de