Mediale Reflexivität: Beiträge zu einer negativen Medientheorie [1. Aufl.] 9783839428047

With media, an indirect relationship to the world (Weltverhältnis) is usually insinuated. This theoretical study, in con

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Mediale Reflexivität: Beiträge zu einer negativen Medientheorie [1. Aufl.]
 9783839428047

Table of contents :
Inhalt
Dank
1. Einleitung
2. Kittler
3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit
4. Ereignen und Wahrnehmung
5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen
6. Das Gegen der Gegen-wart
7. Mediale Reflexivität
8. Schluss und Kehre
9. Literatur

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Jan-H. Möller Mediale Reflexivität

Band 16

2014-07-04 10-03-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5370878052092|(S.

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4) TIT2804.p 370878052100

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Jan-H. Möller (Dr. phil., Dipl.-Des.) lebt in Berlin und forscht zur Konstitution von Bewusstsein und zur Reflexivität medialer Strukturen.

2014-07-04 10-03-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5370878052092|(S.

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Jan-H. Möller

Mediale Reflexivität Beiträge zu einer negativen Medienthorie

2014-07-04 10-03-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5370878052092|(S.

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Veröffentlichung als Dissertation an der Universität Potsdam 2012. Gutachter: Prof. Dr. Dieter Mersch und PD Dr. Michael Mayer.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Satz: Jan-H. Möller Korrektorat: Stefanie Mathilde Frank & Nadja Ben Khelifa Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2804-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2804-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-04 10-03-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5370878052092|(S.

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Inhalt Dank 7 1. Einleitung

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2. Kittler

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2.1 Materialität und Datenverarbeitung 2.2 Eine medientechnische Heidegger-Interpretation 2.3 Zur Konstitution des Symbolischen 2.4 Medien und Bewusstsein

28 38 53 61

3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

69

3.1 Heidegger – Die sprachliche Verfassung des Seins-Bezuges 3.2 Derrida – Die Uneinholbarkeit der Vermittlung 3.3 Luhmann – Die mediale Überführung von Komplexität 3.4 Adorno – Aufklärung und Vermittlung 3.5 Reflexivität anhand von Störung und Angst bei Heidegger 3.6 Die Unmöglichkeit, von der Schrift zu wissen bei Derrida 3.7 Realität beobachtet ‚wie von außen‘ bei Luhmann 3.8 Der Mangel eines Begriffs des Begriffs bei Adorno

71 74 76 79 82 85 88 93

4. Ereignen und Wahrnehmung

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4.1 Mit Heidegger über die Sprache zum Ereignen 98 4.2 Derrida oder Etwas muss sich schreiben, damit Schrift gibt 104 4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung 109 4.4 Ein kurzer Versuch einer Ursprungsbestimmung mit Adorno 116 4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung 118

Inhalt

5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

131

5.1 Die Medien der Generalisierung von Symbolen 133 5.2 Zur Differenz im identifizierenden Prinzip des Begriffs 139 5.3 Zur Unübertragbarkeit der Form des Zeichens 142 5.4 Intentionalität und Objektivität in der Negativen Dialektik 147 5.5 Sozialisation und sprachlicher Transfer 151 5.6 Zurück zu de Saussure – ein Exkurs 154 6. Das Gegen der Gegen-wart

161

6.1 Zur Entstehung sozialer Systeme aufgrund von Geräuschen 162 6.2 Verhalten 167 6.3 Komplexität und Kontingenz 174 6.4 Etwas und Etwas treten auseinander 178 6.5 Gegen-Wart 183 6.6 Gegenwart und Bewusstsein 186 6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen 191

6

7. Mediale Reflexivität

199

7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann 7.2 Welt und Erde, Medium und Form 7.3 Verstehen bei Luhmann 7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno 7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

200 209 217 221 228

8. Schluss und Kehre

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9. Literatur

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Dank Alexandra Pfeil-Schneider Dieter Mersch Michael Mayer Frederic Schröder Anne Frank Jörg Sternagel

1. Einleitung Diese Untersuchung interessiert sich für die Selbstkenntlichkeit medialer Prozesse. Sie beabsichtigt, eine fundamentale reflexive Binnenstruktur an jeglichen kulturellen Vermittlungsprozessen auszuweisen. Was besprochen werden soll, ist folglich jedermann vertraut. Unter anderem insofern, dass wir, wenn wir ein Bild sehen, wissen, dass wir ein Bild sehen; verstehen, wenn wir einen Text lesen, dass wir einen Text lesen; verstehen, wenn jemand spricht, dass jemand spricht; wissen, wenn wir Musik hören, dass wir Musik hören usw. – zumindest in der Regel. Dieses Verständnis ist, obwohl sich mannigfaltige Grenzfälle aufzeigen lassen, zunächst einmal eine der alltäglichsten Sachen überhaupt; und doch wird ihm von Theorien, die in hermeneutischer oder semiologischer Tradition ansetzen, nicht hinreichend Rechnung getragen. Nicht hinreichend deshalb, weil der Umstand, dass wir verstehen, dass wir verstehen, die Annahme einer symbolischzeichenhaften oder sprachlich-begrifflichen Vermittlung von Welt destabilisieren müsste. Schon die Frage, ob das, was wir sehen, lesen oder hören ein Bild, ein Text oder eine Musik ist, wie auch die Frage nach Kriterien der Modalität des Gegenstands einer entsprechenden Deutung, lässt sich tatsächlich erst von diesem Wissen aus stellen. Anhand hermeneutischer oder semiologischer Paradigmen ist es jedoch nicht möglich zu klären, woraus dieses Verständnis resultiert. Es soll nicht zuletzt gezeigt werden, dass es dem geschuldet ist, was im Weiteren, die Reflexivität des Medialen genannt wird. Gemeint ist damit wieder etwas zunächst einmal verhältnismäßig Einfaches: nämlich dass zeichenhafte Prozesse, im weitesten Sinne, nicht in ihrer verweisenden Funktion aufgehen, sondern von ihrer, in Bedeutung involvierten wie dieser widersprechenden Materialität her kenntlich sind. Angestrebt wird eine konzeptionelle Herleitung dieser Differenz anhand immanent kritischer Lektüren. Dabei ist die Einsicht, dass Sinn- oder Deutungsprozesse generell im selbst nicht Sinnhaften fußen, das, worin sich Medientheorie, nach hiesiger Auffassung, paradigmatisch von Hermeneutik oder Semiotik unterscheidet.

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1. Einleitung

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Der Versuch jedoch, das Greifen von Bedeutung im Bedeutungslosen zu thematisieren, der Versuch zu konkretisieren, was ein Medium ist, bewegt sich notwendigerweise an der Grenze des Wissbaren. Die einfache Frage, was denn der namensgebende Gegenstand ihrer Disziplin sei, bringt Medienwissenschaftler bekanntlich in größere Bedrängnis. Zumindest sofern sie sich nicht zu mehr oder weniger kurzschlüssigen, weil aus dem genannten unreflektierten Verständnis resultierenden Antworten hinreißen lassen. Wird Philosophie an einem hartnäckigen Fragen nach Voraussetzungen und Bedingungen festgemacht, an einem Fragen, das die Bedingtheit der eigenen Einsichten berücksichtigt, scheint es geradezu, als könne Medientheorie, einer inneren Logik folgend, nicht anders als philosophisch werden. Zumindest strukturell ist dies, etwa in der Vorstellung eines Wissens um Medien, das erst vermittels von Medien möglich ist, angelegt. Tatsächlich erneuert sich so jedoch lediglich, was in der Figur des hermeneutischen Zirkels vertraut ist. Und doch liegt in seiner medientheoretischen Reformulierung ein besonderes Potential: Schreibt Heidegger in Bezug auf den Seinsbegriff in Sein und Zeit, das Niveau einer Wissenschaft bestimme „sich daraus, wie weit sie zu einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig“ sei,1 so wirkt die Medienwissenschaft zur Krise verdammt. Die Klage über die semantische Entgrenzung oder auch Beliebigkeit des Medienbegriffs gehört zu ihrem festen Repertoire. Grundbegriffe sind Heidegger zufolge Bestimmungen, in denen das Sachgebiet und die von einer Wissenschaft thematisierten Gegenstände zum Verständnis kommen. Solchen Bestimmungen ist stets eine Ontologie, sind stets Annahmen über die Grundverfassung des Seins, vorgängig. Und kein noch so ausdifferenziertes Kategoriensystem ändere etwas daran, so erläutert Heidegger, dass, wer nicht klärt, worin diese Annahmen bestehen, im Grunde blind bleibe. In der Krisis eines Grundbegriffs komme das Verhältnis des Fragens zum Befragten selbst ins Wanken.2 Dieses fortwährende Wanken drückt sich in Bezug auf die Medienwissenschaft darin aus, dass ihr die Bestimmung ihres Sachgebiets anhand von Gegenständen nicht gelingen will. Aufzählungen dessen, was alles schon als Medium aufgewiesen wurde, finden sich in vielen Manuskripten, die beanspruchen, etwas Grundsätzliches über Medien zu sagen und sind bekannt. Als symptomatisch für die Schwierigkeit einer Mediengegenstandsbestimmung lässt sich die Tagung Was ist ein Medium? 2005 in Weimar anführen.3 Einleitend soll sich entsprechend kurz auf diese bezogen werden. Bei aller Heterogenität der Ansätze, aller Vielfalt dessen, was als Medi 1 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 9. 2 Ebd. 3 Münker, S. / Roesler, A. (Hrsg.) (2008). Was ist ein Medium? Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

1. Einleitung

um definiert wird und allen daraus resultierenden Missverständnissen und Diskussionen, gibt es nämlich etwas, worin Medienwissenschaftler ganz überwiegend übereinkommen. In Weimar entstand zumindest nicht der Eindruck allgemeiner oder grundsätzlicher Verwirrung darüber, wovon die Kolleginnen und Kollegen eigentlich reden. Tatsächlich besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Medien ein apriorischer oder transzendentaler Status zukommt. Was – in Ermangelung eines Gegenstands, auf den man sich einigen könnte – zutiefst ironisch wäre, wenn nicht implizit vor allem Übereinkunft darin bestünde, dass es im Begriff des Mediums – ob etwa in zeitlicher, prozessualer, räumlicher, technischer, semiotischer, energetischer, differentieller, sprachlicher, sozialer, instrumentaler oder rezeptiver Hinsicht – immer um Vermittlung geht. Die Einsicht, dass es sich bei ihm um eine Universalmetapher handelt, ist Konsens: Ob Sybille Krämer das „Übertragen als Kernaufgabe von Medien […] als ein Wahrnehmbarmachen von etwas Nichtwahrnehmbaren“ bestimmt,4 oder bei Hartmut Böhme und Peter Matussek die Sinne des Menschen als „Medien unseres in der Welt-sein-Könnens“ thematisiert werden.5 Ob „wohldefinierte Medien“ bei Wolfgang Ernst als solche bestimmt werden, die es „mit Prozessen der Daten- und Signalerhebung, -übertragung, -speicherung und -verarbeitung zu tun haben“,6 oder Stefan Münker konstatiert: „Ein Medium ist ein Mittel zur Übertragung von Information“.7 Ganz im Sinne seines lateinischen Ursprung steht „Medium“ – in der Mitte und als Mittleres – stets für etwas Vermittelndes. Die Etymologie des Begriffs muss hier nicht ein weiteres Mal rekapituliert werden. Konsequent wäre Lorenz Engells Plädoyer für ein Ende jeglicher Definitionsversuche dessen, was ein Medium ist. Nicht dem So-Sein von Medien solle die Analyse nachgehen, sondern dem, was sie leisten. Dieses Vermögen aber ist gesetzt. Von ihm aus, von einer stets an- und vorweggenommenen Vermittlungsfunktion aus, steht es Medientheorien nämlich frei, Phänomene als Medien zu analysieren, die – wie Lambert Wiesing nicht zu unrecht beklagt – erst durch die jeweiligen Theorien als Medien identifiziert werden. Ist diese Beobachtung zutreffend, bewegen sich medientheoretische Definitionsversuche mitunter gefährlich nah am Rande von Tautologien. 4 Krämer, S. (2008). Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbe­ richt. In: Münker, S. / Roesler, A. (Hrsg.). Was ist ein Medium? (S. 65 – 90). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 84. 5 Böhme, H. / Matussek, P. (2008). Die Natur der Medien und die Medien der Natur. In: Ebd. (S. 91 – 111). S. 102. 6 Ernst, W. (2008). „Merely the Medium“? Die operative Verschränkung von Logik und Materie. In: Ebd. (S. 158 – 184). S. 161. 7 Münker, S. (2008). Was ist ein Medium? Ein philosophischer Beitrag zu einer medientheoretischen Debatte. In: Ebd. (S. 322 – 337). S. 322.

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1. Einleitung

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Was ist schon gesagt, wenn die Vermittlung als Kernaufgabe von Vermittlern oder etwas Vermittelndes als ein Mittel zur Vermittlung bestimmt wird? Die These von der generellen Vermitteltheit unseres Weltverhältnisses ist gesetzt, wie das resultierende epistemologische Dilemma, dass die Vermittlung der blinde Fleck der Vermittlung ist, notwendig folgt. Das Vermittelnde verhüllt sich in dem Maße, wie es Effekte produziert. Es verschwindet im Vollzug der Vermittlung, da Sinn und Bedeutung generell nur vermittelt gegeben sind. Die Vermittlung ist eine Ermöglichungsbedingung, die im Akt der Vermittlung dasjenige, was sie vermittelt zugleich prägt und beeinflusst. Vermittelt werden Schemata, die Schematisiertes vermitteln. Vermittler sind Vermittler, die das zu Vermittelnde, jeweils selbst schaffen und sind und so unter Bedingungen der Vermittlung stellen. Sie vermitteln etwas dadurch, dass sie sich selber der Wahrnehmung entziehen. Die Vermittlung scheint die menschlichen Sinne simulieren, mindestens aber manipulieren zu können. Sie arbeitet unterschwellig und verbirgt sich hinter ihren Effekten. Es ergibt sich ein fast paranoides Kaleidoskop an Thesen, die sich in unterschiedlicher Nähe um die eine, dass es die (Lebens-)Welt nur vermittels Vermittlung bzw. als Vermittelte gibt, bewegen. Freilich wird diese Situation, wenn auch nicht wie hier formuliert, so doch gesehen und kritisiert. Auch hierin besteht zumindest tendenziell Einvernehmen. Krämer thematisiert, dass der Hypostasierung des Medialen zur souveränen Instanz ein demiurgischer Zug innewohnt. Böhme und Matussek sind der Auffassung, dass der von ihnen im Grunde vertretene Medien-Essentialismus eigentlich zu vermeiden sei. S. J. Schmidt sieht, dass es, wenn sich die „Formulierung, Lösung, Legitimation und Bewertung unserer Probleme mit Medien [...] in Medien“ vollzieht,8 keinen Standpunkt gibt, von dem aus dies möglich wäre. Engell beabsichtigt, bestimmte Fälle aufzuzeigen, in denen „ein direktes Auftreten des Mediums […], gleichsam an den Formen vorbei oder durch sie hindurch“ möglich ist.9 Münker wendet sich, obgleich er dessen technisches Medienapriori übernimmt, gegen Kittlers Hegelianismus. Auch Ernst hat mit der Forderung einer Erdung des Medienbegriffs, insofern Vermittlung in der realen Welt gegeben sein muss, recht. Nicht anders als Hartmut Winkler mit der Frage, wie sich die Bedeutung von Zeichen überhaupt konstituiert und dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer reflexiven Dimension. Es ließen sich mehr Beispiele auch wechselseitiger Kritik anführen. Und genau hierin, so soll behauptet sein, liegt ein besonderes Potential. 8 Schmidt, S. J. (2008). Der Medienkompaktbegriff. In: Ebd. (S. 144 – 157). S. 144. 9 Engell, L. (2008). Affinität, Eintrübung, Plastizität. Drei Figuren der Mediali­ tät aus der Sicht des Kinematographen. In: Ebd. (S. 185 – 210). S. 193.

1. Einleitung

Die Medienwissenschaft übernimmt die Funktion der Vermittlung semiotisch-hermeneutischer Tradition, macht diese in gewisser Weise zu ihrem eigentlichen Gegenstand und kommt in der Frage nach der Gegenständlichkeit des Vermittelnden nicht zur Ruhe. Ihr materialistisches Paradigma verwehrt es ihr, Vermittlung nach idealistischem Vorbild zu sich selbst kommen zu lassen. Anhand funktionaler Bestimmungen müssten ontologische geleistet werden, während sich erst anhand fundamentaler ontologischer Bestimmungen funktionale ableiten ließen. Die Frage, die weitgehend ausbleibt, ist die nach dem Abstand in der Vermittlung. Eine Differenz, die qua Vermittlung überbrückt wird, ist als Grundverfassung unweigerlich stets angenommen – im Zweifelsfall die von Subjekt und Objekt. Ohne Annahme eines Abstands wäre Indifferenz, Unmittelbarkeit also, und Vermittlung – durch Sprache, Zeichen oder Wahrnehmung – in dieser zunächst einmal unnötig und unplausibel. Das Medium jedoch ist als Mittler immer schon in der Mitte. Es ist das Mittlere, das wir – so scheint es zumindest – nicht anders als etwas Seiendes denken können, das sich in seiner Position aber nicht ontologisch denken lässt. Dabei weist Wolfgang Hagen darauf hin,10 dass der Ursprung des Begriffs „Medium“ als ontologischer bei Thomas von Aquin zu suchen ist. Dieser übersetzt den Begriff des Mediums gewissermaßen in die aristotelische Lehre der Sinneswahrnehmung hinein. Im Textkorpus Peri psyches geht Aristoteles davon aus, dass es eine notwendige Abständigkeit zwischen Wahrzunehmendem und erleidender Seele geben muss. Dieses bei Aristoteles explizit unbegriffliche Dazwischen (griech. μεταξύ – Metaxy) gerät Thomas von Aquin in seiner lateinischen Übersetzung zum Medium. Der Abstand, in dem sich Aristoteles’ Wahrnehmung erst ermöglicht, wird zu einem ontologischen Medium, vermittels dessen Wahrnehmung stattfindet. Wie dieser Medienbegriff sodann Kariere macht und nicht zuletzt bei Hegel, der in dem Begriff des Begriffs Vermittlung setzt, Verwendung findet, kann an dieser Stelle nur mitgedacht, aber nicht eigens thematisiert werden. Wiesing ist es, der umgekehrt zur Diskussion stellt, dass der Mensch ohne Medien ein „quallenartig“ indifferentes Weltverhältnis hätte.11 Mit 10 Hagen, W. (2008). Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medien­ begriff. In: Ebd. (S. 13 – 29). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 11 Wiesing, L. (2008). Was sind Medien? In: Ebd. (S. 235 – 248). S. 248. Lei­ der ohne eine explizite Begründung dafür. Hinreichendes Kriterium zur Be­ stimmung des Medienbegriffs ist Wiesing die von Husserl übernommene Differenz von Genesis und Geltung. Medien ermöglichen demzufolge Den­ ken und Rationalität, indem sie – selbst physisch – etwas generierten, das keine physikalischen Eigenschaften habe, nämlich Inhalte. Warum dieses Vermögen bei Medien zu suchen sein soll, klärt sich nicht. Auch er, Wiesing, könne nicht sagen, wie das möglich sei. Entsprechend wird auch nicht her­ geleitet, warum die Inhalte von Romanen, Filmen, Sinfonien oder Bildern

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1. Einleitung

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der Differenz von Genesis und Geltung erst ergäbe sich die Abständigkeit eines Dazwischen. Und tatsächlich soll bei der Herleitung eines Konzepts medialer Reflexivität in diese Richtung gedacht werden. „Vermittlung“, „Indifferenz“ und „Dazwischen bzw. Abständigkeit“ sind die Leitmotive der hiesigen Überlegungen. Die Frage nach der Reflexivität des Medialen ist gleichsam die nach der Rückseite des Verstehens, gegen die dieses verständlich sein könnte: es ist die Frage nach einer fundamentalen reflexiven Binnenstruktur an medialen Prozessen, von der aus überhaupt irgendetwas kenntlich ist. Es wird vermutet, dass sich Bedeutendes und Bedeutetes gegenseitig bedingen, aneinander konstituieren und wechselseitig differenzieren. Zu problematisieren ist nicht, was ein Medium ist, sondern welche Bedingungen ein solches kenntlich werden lassen. Die zugrunde liegende – zunächst keineswegs sonderlich innovative – Annahme ist die, dass immer dann, wenn im weitesten Sinne zeichenhafte Prozesse als solche aufgefasst werden, von einem Medium als deren materialem Träger gesprochen werden kann. Wobei es eben nicht um ontologische Mutmaßungen geht, sondern um die Frage nach einer spezifischen Abständigkeit. Der Begriff der Reflexivität bezeichnet reflexive, linguistisch rückbezügliche Beschaffenheiten. Sprachwissenschaftlich geht es dabei um Satzkonstruktionen, in denen mithilfe von Reflexivpronomen wie etwa ‚sich‘, reflexive Verben ein von einem Subjekt ausgehendes Geschehen auf dieses rückbeziehen, also Sätze mit „ich ... mich“, „er ... sich“ oder „sie ... sich“. Allgemein meint ‚reflexiv‘, die Reflektion betreffend und ‚Reflektion‘ selbst Spiegelung, Rückstrahlung bzw. das Zurückwerfen etwa von Licht, Wärme oder Schallwellen, wie ebenfalls Überlegen, Erwägen, etwas in Betracht ziehen, als auch das vertiefte Nachdenken. Das Verb ‚reflektieren‘ stammt aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus der Vorsilbe ‚re-‘, dem das deutsche ‚zurück‘ oder ‚wieder‘, als auch ‚wider‘ – im Sinne eines ‚gegen‘ – entspricht und dem Verbstamm ‚flektieren‘, was soviel meint wie ‚biegen‘ oder ‚beugen‘. Die Reflektion bzw. das Reflektieren lässt sich weiter sowohl passiv als auch aktiv verstehen: als Nachdenken bis hin zum reflektierten Vorgehen oder als Widerspiegelung, als Reflex, der einerseits einen physikalischen Effekt und andererseits die unwillkürliche Reaktion auf Reize meint. Im Folgenden soll dem nachgegangen werden, woran sich die Reflektion reflektiert und versucht werden, ein reflexives Moment auszumachen, das es dem Denken erlaubt, sich sozusagen auf sich selbst zuals intersubjektive Selbigkeit Geltung haben. Gleichwohl ist die These, ein Verhältnis zur Welt konstituiere sich aus Indifferenz anhand der Differenz physikalischer Vorgänge und physikalisch nicht fassbarer Inhalte in Hinblick auf Hagens Ausführungen, bestechend. Wobei – soll keine ideale Sphäre vo­ rausgesetzt werden – zu klären wäre, woraus Inhalte resultieren. Verbunden wäre damit die Zurückweisung eines einfachen Fragens nach ontologischen Medien, so wie der Versuch von Ableitungen anhand funktionaler Bestim­ mungen vermieden wäre.

1. Einleitung

rück zu biegen und so als solches zu konstituieren. Im Begriff der medialen Reflexivität steht entsprechend eine Selbstkenntlichkeit – eine Widerständigkeit – im Vordergrund, die Selbstreferentialität ermöglicht. Die Frage nach der Reflexivität des Medialen entfaltet sich im Kontext einer ganzen Reihe korrespondierender Problemstellungen und lässt sich nicht ohne weiteres auf einen zentralen Gedanken bringen. Ein Motiv ist gleichwohl essenziell: Die herzuleitende Grundverfassung – um den Gedanken Heideggers aufzugreifen –, von der auszugehen ist, ist nicht eine der Mittelbarkeit, sondern eine der Unmittelbarkeit, in der sich anhand reflexiv-medialer Strukturen erst ein differentes Verhältnis aus Indifferenz herausbildet. Wo hingegen die Vermitteltheit von Welt, Wahrnehmung oder Bewusstsein etwa durch technische Medien behauptet wird, so soll gezeigt werden, impliziert dies eine ganze Reihe unhaltbarer Mutmaßungen. Generell scheinen sich Philosophien oder Theorien, die bei transzendentalen Mechanismen der Vermittlung ansetzen, in einem fundamentalen Selbstbegründungsdefizit zu blockieren, insofern sie sich selbst als durch diese bedingt begreifen müssen. Dabei wird – das zumindest beabsichtigt die Diskussion einiger theoretisch-philosophischer Entwürfe aufzuzeigen – stets ein sich ereignendes Geschehen vorausgesetzt, auf dessen Ereignen das Vermögen der Wahrnehmung überhaupt zurückzuführen sein wird. Im Ansatz bei apriorischen Strukturen der Lesbarmachung von Welt klafft dem entgegen die offene Frage, was diese Vermittler, Sprache oder Zeichen beispielsweise selbst lesbar macht. Die Problemlage, auf die die folgenden Überlegungen eine Antwort versuchen ist nicht, wie sich etwa Bewusstsein oder Wahrnehmung vermitteln, sondern wie sich in rezeptiver Entäußerung überhaupt ein Gegen der Gegen-wart konstituiert. Erst im Anschluss daran können die Überlegungen zur medialen Reflexivität konkretisiert werden. Am Anfang steht eine Auseinandersetzung mit Kittler. Bei aller Grundsatzkritik – etwa an einem behaupteten kriegerischen Telos von Medientechnologien o. Ä. – die auch die hiesigen Überlegungen teilen, muss gleichwohl die Richtigkeit seines materialistischen Ansatzes betont werden. Die Annahme, dass Bedeutungsprozesse in Substanz greifen, sich erst aus ihr generieren, ist für Medientheorie – wie gesagt – fundamental. Bei aller Fragwürdigkeit einzelner Thesen ist der zentrale hier vorgebrachte Einwand Kittler gegenüber, dass seine technizistische Reformulierung des Vermittlungsparadigmas – in der Absicht, den Geisteswissenschaften den Geist auszutreiben – selbst zu einer Art Neo- oder auch Medien-Hegelianismus gerät. Dem grundsätzlichen Vorhaben dieser Austreibung fühlen sich die hiesigen Überlegungen hingegen im Prinzip verpflichtet – den von Kittler formulierten Konsequenzen nicht. Die Annahme, Medien würden unsere Lage bestimmen, greift das genannte erkenntnistheoretische Pro-

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1. Einleitung

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blem auf: ihre Beschreibung wäre unmöglich und unsere Lage unhintergehbar undurchsichtig. Insofern Kittlers Auseinandersetzungen mit anderen Autoren mitunter fast an Pöbeleien erinnern, muss auch Kittler sich im Weiteren einen harscheren Tonfall gefallen lassen. In der Tat entsteht der Eindruck, seine Darlegungen hätten mitunter etwas mit „Argumentationsverweigerung“, oder vielmehr mit der „Ersetzung von Argumentation durch Kalauer“ zu tun.12 Gleichwohl werden bereits von ihm – obwohl die einzelnen Antworten wenig befriedigend sind – eine ganze Reihe der für Medientheorie elementaren Fragestellungen aufgeworfen. Diese gilt es zunächst herauszuarbeiten. Dass die Gleichsetzung von Medien mit Technik kaum trägt, steht dabei nicht im Vordergrund, sondern dass unter dem Primat der Datenverarbeitung eine Absolutsetzung von Vermittlung erfolgt, die notwendig auf elementare Widersprüchlichkeiten des Ansatzes führt. Die Frage, wie eine solche Vermittlung konkret aussehen soll, wirft sich dort auf, wo es Kittler nicht gelingt, eine wie auch immer geartete Kopplung von Wahrnehmung und technischen Medien zu plausibilisieren. Nicht zuletzt die Auslegung des Heideggerschen Seins, als vermittelnder Instanz (ein – vielleicht sogar der entscheidende – Irrtum, den er mit Adorno teilt), lässt ein tiefes Miss­ verständnis der Fundamentalontologie gegenüber erkennen, während im Prinzip – und der Terminus Medium scheint dies so leisten zu können – gleichzeitig ihr Erbe angetreten werden soll. Ist einerseits unklar, wie Medien Wahrnehmung beeinflussen sollen, so ist umgekehrt offen, wie sich oder was ihre Lektüre, was die Dechiffrierung von Zeichen bzw. zeichenhaften Prozessen im weitesten Sinne ermöglicht. Jene wären schließlich Aspekt der Welt, die sie vermitteln sollen. Bereits die These, der Mensch sei „wie“ medial ferngesteuert, wirft schließlich die Frage nach dem Status von Subjekt und Bewusstsein auf. Eklatant widersprüchlich wird ihre Beantwortung da, wo Kittler das eigene Reflektionsvermögen benennt, gleichzeitig aber Verstehen, im Wirken einer ominösen Einbildungskraft, zum unmittelbaren Effekt von Medienstandards und Lektürepraktiken erklärt. Die Erörterung von Kittlers Texten, bereitet die weiteren Überlegungen vor. Es ergeben sich Themenfelder, die sich etwa an Begriffen wie Vermittlung, Wahrnehmung, Zeichen und Bewusstsein festmachen ließen und damit zahllose Möglichkeiten eines weiteren Vorgehens. Nicht nur stehen jene Felder in Korrespondenz zueinander, sie befinden sich jeweils in Kontexten anderer und weiterer. Begriffe wie Wahrnehmung, Zeichen oder Bewusstsein sind den verschiedensten Disziplinen und Denkschulen zentral, finden jeweils unterschiedliche Ausformulierung und müssen sich 12 Fricke, H. (1991). Literatur und Literaturwissenschaft: Beiträge zu Grund­ fragen einer verunsicherten Disziplin. Paderborn: Ferdinand Schöningh. S. 186.

1. Einleitung

auch noch ausnahmslos gefallen lassen, ideengeschichtlich verortbar zu sein. Innerhalb der Medientheorie ließe sich anhand dieser Begriffe wiederum ein Feld von Theoremen rekonstruieren, das sich in Anschluss oder Abgrenzung, aber auch unabhängig und parallel zu Kittler entwickelt hat. Bekanntermaßen machen dessen Thesen ja gemeinsam mit denen weiterer Autoren wie McLuhan, Baudrillard, Flusser oder Virilio als postmoderne Medientheorien Karriere. Das wiederum geschieht vor bzw. aus einem Hintergrund, etwa der Kritik an einer massenmedial formierten Kultur, kybernetischer Ansätze, Technikphilosophien oder post-strukturaler Theoriebildung. Der für Medientheorie brisanteste Terminus ist jedoch der der Vermittlung. Gerade anhand der Schwächen der Kittlerschen Thesen drängt sich der Verdacht auf, dass, wo von Medien die Rede ist, Vermittlung gedacht wird, während gleichzeitig quasi unsichtbar wird, dass völlig unklar ist, wie diese, im Begriff des Mediums immer schon vorweggenommen, konkret aussehen soll. Im Sinne des anfangs genannten Heidegger-Zitats wäre der Terminus Medium geradezu blind machend. Nicht zuletzt gemahnt Kittlers verkürzter wie flexibler Umgang mit der Philosophie entlehnten Thesen, Themen oder Theoremen, zu einer gewissen Askese. So hat Kittler für Adorno nur Schmähungen übrig, ohne dass sich irgendwo eine substantielle Auseinandersetzung mit negativdialektischem Denken fände.13 Ohne die eigenen Überlegungen entsprechend zu überprüfen und ohne ihn zu diskutieren, wird Luhmann zu Hegels Erben erklärt;14 während der besondere Zug der Systemtheorie viel eher darin besteht, in der Trennung sowie der Kolung sozialer und psychischer Systeme, Figuren objektiven und subjektiven Idealismus zu kombinieren. Aus dem dekonstruktiven Entwurf Derridas werden Fragmente – Worte eigentlich nur – die lediglich dank ihres metaphorischen Werts weiter bestehen können, herausgebrochen,15 ohne zu sehen, dass jene ein sich Berufen auf Faktizität ausschließen. Schließlich wird der All-Erklärungsanspruch der Heideggerschen Seinskonzeption übernommen,16 während eine Diskussion auch nur einiger Faktoren, anhand derer sich jener Anspruch überhaupt rechtfertigen ließe, ausbleibt. Im Weiteren wird sich auf eben Heidegger, 13 Vgl. Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Mün­ chen: Fink. S. 237 o. Ders. (1995). Copyright 1944 by Social Studies Asso­ ciation, Inc. In: Weigel, S. (Hrsg.). Flaschenpost und Postkarte. Korrespon­ denzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. (S. 185 – 193). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 14 Vgl. Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Mün­ chen: Fink. S. 101 o. Ders. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. 15 Besonders krude etwa in: Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann Bose. S. 39 u. 55. 16 Vgl. Kittler, F. (2007). Mousa oder Litteratura. In: Kittler, F. / Ofak, A. (Hrsg.). Medien vor den Medien. (S. 17 – 30). München: Fink. S. 17 o. Ders. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 29.

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Derrida, Luhmann und Adorno bezogen. In Kontrast zu Kittlers Umgang mit den Philosophen, sind die hiesigen Überlegungen puristisch. Sie beziehen sich nahezu exklusiv auf die genannten Autoren – lediglich eine kurze, spätere Passage wird sich de Saussure widmen. Die ursprüngliche Absicht bestand darin, exklusiv Sein und Zeit, die Grammatologie, Soziale Sys­teme und die Negative Dialektik, als Werke fundamentaler theoretischer Begründung, miteinander zu konfrontieren. Freilich sind eine ganze Reihe an Aufsätzen und Abhandlungen jener Autoren hinzugekommen. Unter anderem Heideggers Der Weg zur Sprache oder Der Ursprung des Kunstwerks, Derridas Die Stimme und das Phänomen, Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft oder Adornos gemeinsam mit Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung. Zunächst wird aufgezeigt, dass sich das Motiv der Vermittlung in jedem der entsprechenden Ansätze ausmachen lässt. So entwirft Heidegger Sein als im Verstehen sprachlich vermittelten Bezug jeweiligen Daseins, aus einem, der Differenz von Subjekt und Objekt vorausgehenden In-derWelt-sein heraus. Dabei spielt Zeit, einmal als Endlichkeit und einmal als Zeitlichkeit, konzeptionell die entscheidende Rolle. Derrida konzipiert Gegenwart im Ganzen, insofern was immer gegenwärtig auch strukturiert ist, als indirekt in einem Gespinst von Verweisungen strukturell vermittelt. Während die Hierarchie von Signifikat und Signifikant in diesem nicht aufrecht zu erhalten ist. Anhand von Beobachtungs- oder Differenzschemata, die soziale Systeme psychischen Systemen – also Bewusstsein – kommunikativ prozessiert operativ bereitstellen, entwickelt Luhmann Vermittlung. Erst mithilfe von Massenmedien wird demnach die Beobachtung zweiter Ordnung, das Beobachten von Beobachtung, möglich und eingeübt. Und auch Adorno ist Vermittlung zentral, insofern sich Negativität und NichtIdentität erst in der Dialektik von Begriff und Begriffenen, Individuum und Gesellschaft ergeben. Ihm geht es gleichwohl um die Entfaltung eines emanzipatorischen Moments, das irrationaler Vernunft Aufklärung über sich selbst ermöglichen soll. Es wäre ein lohnendes Unterfangen, auch weitere und ältere philosophische Entwürfe auf den Gesichtspunkt der Vermittlung hin zu untersuchen. Vielleicht würde sich zeigen, dass Medienphilosophie weder, wie mitunter behauptet, eine vorübergehende noch eine die abendländische Philosophie umwälzende Sache ist. Könnte es hingegen sein, dass die abendländische Metaphysik, im Begriff des Mediums – insofern jener das Prinzip der Vermittlung fasst – in gewisser Weise zu sich selbst kommt? Nicht um Revolution ginge es, sondern darum, dass Medienphilosophie anhand erneuter Deutungen ihr spezifisches Störpotential freisetzt und so konzeptionelle Verschiebungen ermöglicht. Wäre es also denkbar, dass nicht zuletzt die grandiose Anschlussfähigkeit von Medientheorie, vor der ja nichts – weder Liebe noch Wahrnehmung, weder Werkzeuge noch Spra-

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che, weder Geld noch Zeit – sicher ist, im Prinzip der Vermittlung ihren Grund hat? Hagens Ausführungen müssen wohl in diesem Sinne verstanden werden.17 Fraglos ließen sich zumindest zahllose Schwächen in Theoriebildung vermeiden, wenn die Motive derer sich bedient wird, zunächst in dem Kontext, aus dem sie entlehnt sind, besprochen werden. An dieser Stelle heißt das zu fragen, von wo aus sich die als vermittelnd angesetzten Instanzen wissen lassen. So geht es im Weiteren darum aufzuzeigen, dass bereits Fundamentalontologie, Dekonstruktion, Systemtheorie sowie negative Dialektik jeweils in ein Selbstbegründungsdefizit geraten. Zwar zieht Sein und Zeit mit Störung und Angst zwei elementare Ebenen der Reflexivität in die Konzeption ein, da aber Angst aus Endlichkeit resultiert und diese wiederum Motor der Besorgungen des Daseins ist, trachtet es stets, Störungen zu überwinden. Heidegger kommt entsprechend zu dem Schluss, dass sich das Verstehen anhand von Störung und Angst letztlich doch nicht verständlich werden könne. Gleichzeitig ergibt sich die Schwierigkeit, dass jegliche Reflektion immer schon in dem Verstehen strukturierenden Medium der Sprache stattfindet. Nicht anders muss Derrida seine eigenen Erörterungen als der von ihm angesetzten differentiellen Ökonomie unterworfen erachten. Mit dem Effekt, dass selbst die Demonstration ihrer anhand dekonstruktiver Lektüren – da nicht ableitbar – nicht zu rechtfertigen ist. Nicht anders gerät die Systemtheorie in das Dilemma, im Paradigma der Selbstreferentialität jeglicher Beobachtung, die Möglichkeit der Beobachtung der wirklichen Welt – in der mit Beobachtungen operierende Systeme aufgezeigt werden sollen – ausschließen zu müssen. Luhmann muss eingestehen, dass konstruktivistische Theorie keine Begründung finden kann. Schließlich scheint auch Adornos Hoffnung, anhand eines Denkens in Konstellationen und gegen sich selbst, zum Konkreten zu gelangen, mit der angesetzten Universalität begrifflich gesellschaftlicher Vermittlung, unbegründet. Seine allein funktionale Bestimmung des Begriffs provoziert jedoch gerade, negative Dialektik mit einem genuin medientheoretischen Fragen nach der Materialität des Begriffs zu konfrontieren. Jede der Konzeptionen steht auf ihre Art in einem hermeneutischen Zirkel. Dabei ist es zutiefst unbefriedigend – letztlich ein Skandal, der jede Reflektion fundamental beunruhigen müsste –, dass Theorien, zumindest die behandelten, nicht begründbar scheinen. Präsent ist diese Ruhelosigkeit sowohl im Schreiben von Adorno und Heidegger, als auch bei Luhmann und Derrida, in den unterschiedlichen Versuchen, diese Begründung irgendwie doch zu leisten, die Grundlosigkeit zumindest an eine 17 Hagen, W. (2008). Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medien­ begriff. In: Münker, S. / Roesler, A. (Hrsg.). Was ist ein Medium? (S. 13 – 29) Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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äußerste Grenze zu treiben oder sie gar als eigentliche Erkenntnis zu bejahen. Tatsächlich kann kein Text anders als deuten. Und möglicherweise wäre das die Einsatzstelle. Vielleicht müsste Nietzsches strapaziertes Diktum von dem Schreibzeug, das an unseren Gedanken mitschreibt, in dem Sinne umgedeutet werden, dass sich die Textualität des Textes in den Text einschreibt. Vielleicht ist das Verfahren der Deutung gewissermaßen das Unbewusste des Textes, das sich als Zwang immer wieder Vermittlung denken zu müssen, äußert. Die hiesigen Überlegungen versuchen einen solchen Nachweis nicht zu führen. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, Voraussetzungen aufzuspüren, um die keiner der hier behandelten Denker umhinkommt. Die erste Voraussetzung wird im Begriff des Ereignisses gefunden. Etwas muss geschehen, sonst ist nichts. Anders als ein materiales, sich Wahrnehmung gebendes wäre ein Ereignen zweitens nicht gegeben. Drittens argumentieren drei der vier Autoren anhand eines Konzepts von Zeitlichkeit bzw. Temporalität, während der vierte einen elementaren Vorrang des Objekts denkt. Diese Voraussetzungen werden verbunden. Der anschließenden Argumentation soll auf einigen wenigen folgenden Seiten – in einer Art Parforceritt – voraus gegriffen werden. So wird sich entsprechend Heidegger gewidmet, um anhand einer Kritik eigentlich sprachphilosophischer Reflektionen zum „Ereignen“ zu gelangen. Nicht Endlichkeit oder Sprache kommt ein Primat zu, so die folgende Deutung, sondern der Gabe von Anwesen. Die Fülle sich ereignender Sinnlichkeit fundiert Temporalität und mit ihr Zeit und Sein. Insofern Derridas Figur der Nachträglichkeit mittels Heideggerscher Zeitlichkeit argumentiert, soll gezeigt werden, dass seine Beweisführung einer originären Nicht-Präsenz, einen doppelten Primat des Ereignens impliziert: Etwas muss die Spur der Gewesenheit hinterlassen, wie der behaupteten, durch sie ermöglichten aktuellen Substitution etwas (wenn auch nicht als dieses) zugrunde liegen muss. Fruchtbar lassen sich diese Gedanken mit Luhmann machen, dem Ereignis und Temporalität für die Herleitung der Konditionierung von Sinn als Erwartung, aus einem Primat der Wahrnehmung, ebenfalls zentral sind. Erwartungen lassen sich jedoch nicht, so wird gezeigt, mittels der Paradigmen von Intentionalität und Operationalität herleiten, sondern werden anhand von Rezeptivität passiv konstituiert. Auszugehen ist somit, so wird in einer Art Antwort an Adorno formuliert, von einem ursprünglichen Zustand rezeptiver Entäußerung. Die Frage ist demnach nicht, wie das Subjekt zum Objekt gelangt, sondern wie es, aus einer Indifferenz mit ihm – ereignishaft gedacht – zu sich kommt. Entsprechend wird konkretisiert, dass sich Wahrnehmung erst temporal am Ereignen herausbildet. Sie ist demnach eine sich erst an der Gabe des Anwesens konstituierende; als eine vom Ereignis be-gabte. Wichtig ist, dass mit Wahrnehmung nicht auch schon ein Weltverhältnis im Sinne eines Heideggerschen Seinsbezugs als gegeben gedacht

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werden darf; oder in luhmannscher Terminologie, dass das Bewusstseinssystem qua Wahrnehmung nicht schon operativ geschlossen ist. Jenes hat keine Umwelt, sondern ist von dieser viel eher ursprünglich assimiliert. Wahrnehmung ist temporal in Verweisungen strukturiert, geht aber noch gänzlich im Vorrang des Objekts auf und impliziert kein Subjekt in Relation zu Objekten. Zum einen lässt sich ein entsprechend differentes und aus dieser Differenz bezügliches Verhältnis soweit nicht herleiten und zum anderen – daher die Betonung des Umstands – ist es gerade ein zentrales Anliegen der hiesigen Überlegungen, aufzeigen zu wollen, dass sich ein solches erst an oder vielleicht besser mit medialer Reflexivität konstituiert. Da es nun aber mehr oder weniger offensichtlich ist, dass der Abstand einer Bezugsdifferenz gegeben sein muss, wo etwas bezeichnet oder als bezeichnend aufgefasst wird, setzen die weiteren Erörterungen bei der Frage nach der Lesbarkeit und so der Konstitution von Zeichen an. Dabei fällt auf, dass Identität immer – selbst dort, wo etwas Zugrundeliegendes angenommen wird – ausschließlich auf sie formierende symbolisch-zeichenhafte oder sprachlich-begriffliche Mechanismen zurückgeführt wird. Das Spezielle erscheint stets als Derivat des Allgemeinen. Das jedoch geht nur solange gut, wie nicht nach der Identität dieser vermittelnden Mechanismen selbst gefragt wird. Es soll demnach nicht versucht werden die Frage „Was ist ein Medium?“ zu beantworten, sondern eher – analog zur derridaschen in der Grammatologie gestellten, was ein Zeichen ist – ihr zersetzendes Potential genutzt werden. Eine weite Luhmann-Lektüre wird zeigen, dass Symbol und Symbolisiertes, insofern Verweisendes erst aus seiner Verwiesenheit bedeutet, in einem konstitutiven Wechselverhältnis stehen müssen. Die anschließende Diskussion führt aus, dass, wo bei Heidegger Zeichen nicht als solche aufgefasst werden, nicht nur nicht ihr eigenes, sondern ganz generell kein Sein gegeben sein dürfte. Wie aber konstituieren sie sich als etwas Seiendes? Anhand der Kritik des luhmannschen Konzepts der Generalisierung von Sinn vermittels Symbolen wird die generelle Wahrnehmungsabhängigkeit von Sprache herausgestellt und die bereits aufgeworfene Frage, was die Einheit des Symbolisierenden im Ereignen ermöglicht, erneuert. Auch Adorno, hierin Luhmann ähnlich, schlägt alle Identität gesellschaftlichen Funktionen zu. Die Unmittelbarkeit individueller Erfahrung und mit ihr das Nicht-Identische des Objekts kommen so, trotz des angesetzten Vorrangs, konzeptionell abhanden. Zeichen werden sich jedoch als wahrnehmbar in Wahrnehmung an Widerfahrnissen herausbilden müssen und das ohne ihre eigene Form kommunikativ übertragen zu können. Mit Heidegger wie mit Luhmann lässt sich zeigen, dass Symbole nicht als präexis­ tente Zeichendinge vorausgesetzt werden dürfen. Nicht Wahrnehmung steht im Primat von Zeichen, sondern alles Symbolische im Primat der Wahrnehmung; und nur weil das so ist, weil Einheitsbildung sich an Wi-

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derfahrnissen ausbilden muss, ist es denkbar, dass Symbolisches das Weltverhältnis des Daseins beeinflussen und strukturieren kann. Demnach ist das Vermitteltsein der Begriffe durch das Nicht-Begriffliche, von dem ­Adorno spricht, zu rekonstruieren. Bereits hier deutet sich an, dass jenseits des Bewusstseins der Unidentität von sprachlichem Ausdruck und Gemeintem, von Bewusstsein im vollen Sinne keine Rede sein dürfte. Das Dilemma aber ist – und das wiederum lässt sich gut bei Luhmann aufzeigen –, dass die kommunikative Sozialisation symbolischer Differenzschemata immer schon voraussetzt, was erst ihr Ergebnis sein dürfte: die Möglichkeit vermittels ihrer zu kommunizieren. Auch de Saussure, der insbesondere Derrida verschiedentlich als Referenz dient, kann nicht angeben, wie sich das von der Dekonstruktion übernommene, differentielle Paradigma ursprünglich fundieren könnte. Mehr noch, ist die Hierarchie von Signifikat und Signifikant nicht zu halten – und der Gedanke ist der derridaschen Dekonstruktion zentral – kommt abhanden, was Differentialität zumindest in zweiter Instanz begründet. Damit ist die Grenze dessen erreicht, was sich in kritischer Lektüre relativ stringent ableiten lässt. Die Fragestellung bleibt, wie sich das Bewusstsein von etwas gegenwärtig Seiendem aus Indifferenz herausbilden könnte. Während sich die Erörterungen zu Ereignis und Wahrnehmung etwa – als auch die noch ausstehenden zur Reflexivität des Medialen – konsistent herleiten, setzen nun freie Reflektionen ein, die nicht immer auf bereits bestehende Beschreibungen und definierte Begriffe zurückgreifen. Es wird kaum überraschen, dass im hiesigen Kontext keine umfassende Theorie zur Konstitution von Zeichen oder symbolischen Prozessen geleistet werden kann. Hierin besteht auch nicht das Ziel. Dennoch wird die Frage notwendig provoziert; und zumindest aufgewiesen, dass die Antwort auf sie, auf die Temporalisation des Ereignens in Wahrnehmung zurückzuführen sein wird. Die Problemlage, wie sich die Identität bedeutender Körper in ihrer Heterogenität konkret herausbilden könnte, ist und bleibt jedoch offen – zumindest soweit es sich unter Bezug auf Heidegger und Derrida, Luhmann und Adorno ableiten lässt. Dass der Körperlichkeit aller Welterfahrung auch insofern Rechnung zu tragen ist, als mit ihr immer schon ein – zunächst einmal intentionsloses – Verhalten anzunehmen sein wird, ist der Einstieg in die weiteren Überlegungen. Die Gabe von Anwesen, das Ereignis, ist nicht nur als von kulturellen – jedoch als solchen unkenntlichen – Praktiken durchsetzt zu denken, sondern auch einzubeziehen, dass der Leib der Empfindung ein sich unweigerlich verhaltender ist. Er ist als ein sich verhaltender indifferenter – jedoch nicht inaktiver – Aspekt des Anwesens. Anhand der passivaktiven, der responsiven Interdependenz dieser Größen wird ein rudimentärer Mechanismus vorgeschlagen, der zur Klärung der Frage beitragen will, wie sich Gesten oder Sprache aus der hergeleiteten rezeptiven Indif-

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ferenz als konventionelle temporalisieren. Insofern alles, was immer sich in Wahrnehmung erschließt, in einem Horizont impliziter Verweisungen steht – so wird im Weiteren argumentiert – werden explizite Verweisungen erst aus der Selbstreferentialität sozialen Geschehens, in das jeder Einzelne unweigerlich hineingezogen wird, sichtbar. Ausdrücklich Verweisendes – eine Geste etwa – bedeutet aus seiner Verwiesenheit, ist aber nicht, worauf es verweist und so kenntlich. Ob eine solche Verweisungsdifferenz ausgemacht wird, bleibt jedoch auffassungsabhängig und eine Ontologie von Medien so ausgeschlossen. Die Strukturen der sich erschließenden Welt sind somit untrennbar materiell wie temporal fundiert. Die Diskussion der Begriffe Komplexität und Kontingenz bei Luhmann unterstreicht dies. Gegenwart – im Sinne eines Gegen aus der Indifferenz des Ereignens – wird sich mit der antwortenden Hervorbringung von Zeichen anhand der genannten Verweisungsdifferenz konstituieren. Das Dasein wird in seinem Bezug nehmenden Verhalten, aus dem Geschehen, auf das es antwortet, gewissermaßen abgeschieden. Was jeder Einzelne als Transzendenz seines Bewusstseins erfährt und der Theorie als ‚Jenseits der Hermeneutik‘ erscheint, konstituiert sich demnach fortwährend und rückhaltlos im Diesseits. Während dessen Orientierung in der widerfahrenen Welt anhand von in Dinglichkeit zurückgestellter Kultur geschieht, kann doch kein Aspekt von Welt vermittels einfacher Kausalverhältnisse zum Konstituens von ihr erklärt werden. Eine abschließende Auseinandersetzung mit Derrida, wendet die zutreffende Auffassung, dass kein Recht zur Unterscheidung zwischen nicht-sprachlichen und sprachlichen Zeichen bestehe, entsprechend gegen die damit ausgeschlossene Vorstellung, die stimmliche Äußerlichkeit des sinnlichen Körpers sprachlicher Äußerungen reduziere sich phänomenologisch selbst. Insofern das Erfassen von Sinn als auch die Lektüre wie die Hervorbringung von Zeichen – wieder im weitesten Sinne – als unwillkürlich antwortend rekonstruiert wird, lässt sich der Begriff des Verstehens nicht mehr im Sinne einer vermittelnden Hermeneutik der Welt herleiten. Verstehen geschieht nicht reibungslos, sondern bildet sich sozusagen an Reibung, an medialer Widerständigkeit oder eben Reflexivität heraus. Konzeptionell greifen Negative Medientheorie und Posthermeneutik entsprechend ineinander.18 Die Kommunikation fundierende, weil Verstehen konstituierende Differenz von Information und Mitteilung ist keine kommunizierte oder sonst irgendwie vermittelbare, sondern eine medialreflexive. Luhmann ist die Herleitung dieser der Systemtheorie elementaren Differenz, anhand ihrer eigenen Paradigmen, verwehrt. Tatsächlich verlangt die Erörterung 18 Vgl. Möller, J.-H. / Sternagel, J. / Hipper, L. (2013). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.) Paradoxalität des Medialen. (S. 9 – 23). München: Fink.

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des „Wie“ oder „Was“ einer symbolisch generalisierten Beobachtung – die Beobachtung zweiter Ordnung – ein reflexives an Materialität sich entfaltendes „Dass“ ihrer medialen Kenntlichkeit. Dieses Konzept medialer Reflexivität wird schließlich – anhand der Konfrontation von Heideggers Welt-Erde-Dialektik mit der luhmannschen Differenz von Medium und Form – als Konstellation sich verweigernder Verweisung und verstellter Verwiesenheit konkretisiert. Verstehen ist nicht als eine Selektion der Beobachtung zu begreifen wie es Luhmann tut, sondern, als jegliche Sozialität begründend, als Effekt einer medialreflexiven Binnenstruktur, in der bedeutende Ereignisse sich in sich als codiert und nicht-codiert unterscheiden. Oder um es in Anlehnung an Adorno und etwas kryptisch zu formulieren: Geistiges ist temporal in Reflexivität aus Entäußerung an Dinglichkeit. Die Heideggersche Lichtung des Seins und die Dialektik der Aufklärung entfalten sich, so wird argumentiert, an einem gemeinsamen medialen Moment. Aus der immanenten Antithese von Absorption und Betrachtung erst, die bei Horkheimer und Adorno angelegt, aber nicht ausformuliert wird, erfolgt die Genese des Selbst. Charakterisiert Heidegger Wahrheit als Urstreit der Un-Wahrheit, so wird dieser das Offene bzw. das „Un“, den Riss, Spielraum oder Abstand erstreitende Streit aus der Mitte des Seienden als mediale Reflexivität rekonstruiert. Das Gemeinte ist einfach und seine Erfahrung elementar. Die theoretische Erörterung und konzeptionelle Absicherung medialer Reflexivität jedoch verlangt eine mitunter sehr anspruchsvolle Sprache. Das Verfahren wechselseitiger kritischer Lektüren bedingt, dass sich auf die jeweiligen Terminologien – die nicht ohne weiteres kompatibel sind – eingelassen und diese teils übernommen werden. In der Auseinandersetzung mit Heidegger, Derrida, Luhmann und Adorno drängt sich dabei ein übergreifendes Problem auf: Wie überhaupt über irgendetwas sprechen? Nicht nur soll aufgewiesen werden, was jeder Deutung vorausgeht, was sie fundiert, ihr extern ist und bleibt – nicht nur meint die thematisierte mediale Reflexivität selbst nichts Seiendes –, vielmehr gehen die Autoren übereinstimmend davon aus, dass Sprache Gemeintes kategorial erst erzeugt, aus einer Welt erdichtet, als strukturales Artefakt mit sich führt bzw. Begriffenes zumindest überformt und verstellt. Die Situation ist ein bisschen so, als stehe mit Sprache nur Falschgeld zur Verfügung.19 Es ist erkannt, dass sich davon ohne Betrug nichts kaufen lässt, trotzdem wird hartnäckig an der Vorstellung festgehalten, wenn nur hinreichend viel davon eingesetzt wird, könne die Reflektion vielleicht doch in redlicher Weise etwas dafür bekommen. 19 Die monetäre Metaphorik oder die des Tausches findet sich etwa bei de Saussure und Adorno. Vgl. u. a. de Saussure, F. (1976). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter & Co. sowie Ad­ orno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Gesammelte Schriften 6. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Letztlich bleibt nur – ohne dass das Problem im Kern gelöst wäre – was Adorno Denken in Konstellationen nennt – um das Gemeinte einzukreisen und einen Blickwechsel quer zur Überformung zu evozieren. Der Vorteil anhand medialer Reflexivität zu denken, besteht gleichwohl darin, von den a-textuellen Bedingungen des sprachlichen Textes, vor allem denen seiner eigenen Kenntlichkeit aus zu schreiben, um zu diesen innerhalb der Konzeption zurückzukehren. Innertextuelle Letztbezüge wie begriffliche Absicherung kann es nicht geben. Nicht zuletzt die Passagen zur Gegen-wart ringen entsprechend deutlich nach Worten. Die qualitative Veränderung der hiesigen Überlegungen besteht freilich darin, den konzeptionellen Anspruch auf Selbstbegründung fallen zu lassen. Kein hermeneutisches oder semiologisches Prinzip dient als Letztbezug. Vielmehr wird Vermittlung als sekundär hergeleitet. Die vorgetragenen Überlegungen verlaufen quer zu disziplinären Grenzen und sind insoweit ungeschützt. Sie legen eine Schneise durch Fundamentalontologie, Dekonstruktion, Systemtheorie und negative Dialektik, deren Flanken noch offen sind. Positiv – mit Luhmann – formuliert ergibt sich eine ungeheure Anschlussfähigkeit. So ließe sich beispielsweise Hegel leicht in die Erörterungen einbeziehen.20 Es könnte weiter anhand von Heideggers Beiträgen zur Philosophie: (Vom Ereignis) der hergeleitete Ereignisbegriff tiefergehend diskutiert werden. Auch Kant und das Problem der Metaphysik und hier vor allem der Abschnitt zu Schema und Schematismus könnten Berücksichtigung finden. Aber auch Husserl und von ihm ausgehend aktuellere phänomenologische Ansätze ließen sich einbeziehen. Der Umstand, dass der Konstitution von Wahrnehmung, aber auch der Zeit eine so zentrale Stellung zukommt, ist darauf zurückzuführen, dass von Heidegger über Derrida bis Luhmann und Adorno niemand an einer Auseinandersetzung mit der Phänomenologie vorbeikommt. Darüber hinaus ließen sich allgemein Erkenntnis-, Zeichen,- und Sprach- sowie psychoanalytische, Informations-, und Bewusstseinstheorien einbeziehen und keinesfalls zuletzt natürlich aktuelle und explizit medientheoretische Konzepte stärker berücksichtigen; an erster Stelle die von Dieter Mersch, aber auch Georg Christoph Tholens Zäsur der Medien etwa oder Sybille Krämers Kleine Metaphysik der Medialität wären u. a. zu nennen.

20 Der Vorwurf, dass ein Denken aus einem Primat der Vermittlung auf einen impliziten Hegelianismus führt, ließe sich letztlich erst anhand der Lektü­ re seiner Texte absichern. Auch Derridas Feststellung, Hegel sei der erste Denker der Schrift etwa, wäre von hier aus zu bewerten. Nicht zuletzt folgt der Aufbau der hiesigen Überlegungen selbst, ähnlich – Sinnlichkeit, Selbst­ bewusstsein, Vernunft – dem der ersten Hälfte der Phänomenologie des Geistes. Auch das provoziert einen kritischen Abgleich.

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Überhaupt sind die hiesigen Überlegungen im höchsten Maße von Dieter Mersch geprägt. Sie bewegen sich im direkten Kontext von Posthermeneutik und negativer Medientheorie. In gewisser Weise ist das vorliegende Manuskript der Versuch, den von ihm ausgehenden Impuls in eigener Form zu fassen. Was freilich zu Veränderungen und Ausprägungen führt, mit denen er sich möglicherweise nicht mehr einverstanden zeigen würde. Dass sich an keiner Stelle direkt auf Mersch bezogen wird, ist dem Umstand geschuldet, dass diese Publikation im Rahmen einer Doktorarbeit entstanden ist und er Gutachter dieser Arbeit war. Das fortwährende Zitieren des eigenen Doktorvaters wäre fraglos plump. Da es aber ebenso unkorrekt wäre, auf ihn zurückzugreifen, ohne dies anzuführen, wurden seine Texte während der Entstehung dieser Arbeit verbannt. Ziel des Folgenden ist es, einen Weg zu Reflexivität des Medialen zu bahnen. Ein Ausbau dieses Weges, vielleicht auch eine elegantere, möglicherweise schlüssigere Streckenführung steht noch aus. Schließlich bleibt der – aus dieser Arbeit erst resultierende – Wunsch eines anderen Schreibens. Ein solches müsste auch der Form nach, Adornos zu verallgemeinernder Einsicht, dass „Erkenntnis nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt“ bedarf,21 entsprechen. Es lässt sich annehmen, dass jener Walter Benjamin meinte, als er feststellte, dass einem Denken in Namen als Urbild der kategorial nicht verstellten Sache die Erkenntnisfunktion fehle. Letztlich ist es jedoch Adorno, dem in resignativer Verblendung der Erkenntnisgrund abhanden kommt. Indem er einzig die Dialektik begrifflicher Vermittlung, als Einsatzstelle um Unbegriffliches zu begreifen, gelten lässt, verkümmert ihm die philosophische Erfahrung seines Freundes, die sein eigenes Denken hätte absichern können.22 Tatsächlich scheint Benjamin im Bild der sprachlichen Mitteilung als „Symbol des Nicht-Mitteilbaren“ nicht nur Adorno vorzugreifen;23 vielmehr bietet er in dem „einer geheimen Losung […], die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt“, lange vor Derrida, eine positive Variante umfassender Verweisung an, insofern „der Inhalt der Losung […] die Sprache des Postens selbst“ ist.24 Die hiesigen Überlegungen hätten es gerne so gesagt. Manches von dem Abenteuer, das Medienphilosophie ist, findet sich schließlich im Schreiben Roland Barthes’. So wäre etwa an die Beschreibung eines ihn berührenden Fotos zu denken: „[E]s beseelt mich. Ich beseele es“.25 21 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 51. 22 Vgl. Ebd. S. 62. 23 Benjamin, W. (1992). Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders. Sprache und Geschichte. (S. 30 – 49). Stuttgart: Reclam. S. 48. 24 Ebd. S. 49. 25 Barthes, R. (1989). Die helle Kammer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 29.

2. Kittler Sich noch einmal mit Kittler auseinanderzusetzen, heißt sich der These, dass Kultur in Materialität fußt, zuzuwenden. Die medientechnische Auslegung kultureller Prozesse als Datenverarbeitung destabilisiert freilich die ursprünglich materialistische Ausrichtung des Kittlerschen Ansatzes. Betont jener, gegen idealistische Tendenzen in den Geisteswissenschaften, einerseits die Notwendigkeit eines Zeichen und Diskursen äußerlichen Hintergrunds, der sich – da zugrundeliegend – seiner Speicherung, aber auch Prozessierung und Übertragung entzieht, so opfert er das eigene Paradigma, einem Gruseln vor sich dem Menschen gegenüber verselbstständigenden Informationsmaschinen. Sowohl das Kittlersche Geschichtsmodell als auch seine Herleitung der Konstitution von Innerlichkeit etwa orientieren sich dabei offen an Hegel. Inmitten eines Konglomerats von Metaphern, Analogien und Computerfantasien steht die These von der Entmaterialisierung des Realen in seiner medialen Vermittlung. Beanspruchen seine Interpretationen durch Fakten geleitet und so dem zirkulären Dilemma jeglicher Deutung enthoben zu sein, so zeigt sich – etwa an der These, Medien würden die Wahrnehmung täuschen, manipulieren oder hintergehen, Technik und Neurophysiologie seien irgendwie verschaltet –, wie wenig stich- und sachhaltig Kittlers Szenarien sind. Die Beliebigkeit, mit der sich etwa bei der Begrifflichkeit Lacans bedient wird, streicht so heraus, dass Medien, entgegen dem was aufgezeigt werden soll, tatsächlich kenntlicher Teil jener Wirklichkeit sein müssen, die sie vermitteln sollen. Was herzuleiten und zu begründen wäre, wird mangels Argumenten behauptet, während sich die angesetzte Materialität von Medien verflüchtigt. Wie eklatant die Diskrepanz zwischen Erklärungsanspruch und theoretischem Potential ist, wird schließlich an Kittlers Überforderung deutlich – im Bemühen Heideggers Seinsbegriff als technisch determiniert dualistisch umzudeuten – mit dem hermeneutischen Paradigma der Fundamentalontologie umzugehen. Ein Amalgam aus strukturaler Semiologie, die Physiologie des Gehirns betreffende Spekulationen und Science Fiction ist Anlass, Sprache als eine mechanische Einrichtung und den Menschen als eine Informations-

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maschine zu begreifen. Dass Differenzialität jenseits von Bedeutung nicht plausibel zu machen ist, deutet sich dabei dort an, wo Kittler im Bild anonymer Signifikantensysteme de Saussure in seine Argumentation einbindet. Ihre Leugnung als vermittelt, als gespeichert und kanalisiert, erneuert im Zuge dessen die Frage nach einer primären Sinnlichkeit. Das von Kittler angesetzte Universalmedium Einbildungskraft, das die Fiktion der Welt und die Realität der Medien miteinander verklammert, führt letztlich auf die grundlegende Schwierigkeit, wie in Regellosigkeit überhaupt Ordnung auszumachen sein soll. Irgendwie wird sich die Lesbarkeit von Medien schließlich ermöglichen müssen. Die behauptete Äquivalenz von Natur und Mathematik führt Kittler zu der Vorstellung, naturwissenschaftliches Wissen sei von der Dialektik seines Gewusstseins, quasi von Natur aus befreit. Hermeneutisches Verstehen ist ihm Nebenwirkung einer bestimmten Lektürepraxis, in der sich mediale Materialitäten in der Unmittelbarkeit ihrer Halluzinationen auflösen. Denken und Bewusstsein werden als positive Effekte eines medientechnischen Unbewussten gedeutet. Tatsächlich wird so unfreiwillig die Frage aufgeworfen, ob ein sich bewusstes Bewusstsein nicht ein Verstehen, das versteht, dass es versteht, impliziert, und ob ein solches nicht an die materiale Kenntlichkeit medialer Vermittlungen gebunden ist. Es ergibt sich das Bild einer Medientheorie, die sich der theoretischen Basis ihrer Diagnosen beraubt, indem sie ihren materialistischen Ansatz im Ansatz verrät. 2.1 Materialität und Datenverarbeitung

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„Diskursanalysen […] haben […] materialistisch zu sein“.1 Das ist, programmatisch gefasst, der Kern der Kittlerschen Medientheorie. Michel Foucaults Archäologie wird unter dem Dogma der Datenverarbeitung medientechnisch uminterpretiert. Vor allem Harold A. Innis, Marshall McLuhan und Claude E. Shannon stehen hier Pate. Sprechen Roland Barthes in Die strukturalistische Tätigkeit von Kultur oder Derrida in Signatur Ereignis Kontext vom Schreiben als Maschine, wird diese Rede in gewisser Weise wörtlich genommen. Schaltungen bestimmen, was wirklich ist. „Was heute in Siliziumchips und Mikroprozessoren läuft, diese endlose Berechnung von Daten unter Speicheradressen und unter Programmbefehlen, fand [einst] etwas schlichter auf Papier statt. Anderswo hätte jenes große Tableau der Repräsentation […] Foucaults […] medientechnisch gar keinen Bestand gehabt“.2 1 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 502. 2 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 13 f.

2.1 Materialität und Datenverarbeitung

Kittler schließt an Foucaults „Verdacht, dass alle Macht von Archiven ausgeht und zu ihnen zurückfindet“, an. Archive aber haben eine materiale Basis. Schrift etwa ist „ein Nachrichtenmedium, dessen Technologie der Archäologe nur vergaß.“3 Das „Faktische“, so vermutet er, sei Foucaults Diskurshistorie zu empirisch oder zu trivial gewesen. Als Motivgeber dienen neben Foucault vor allem Jacques Lacan und Jacques Derrida. Zu behaupten Kittler würde die Methoden von Diskursanalyse und strukturalistischer Psychoanalyse auf eine Geschichte der Medien übertragen, ist gleichwohl zu weit gegriffen.4 Eher übernimmt er plakative Thesen poststrukturalistischer Theoriebildung – etwa die vom Tod des Autors oder die vom Verschwinden des Menschen – und stellt sie häufig verkürzt unter ein medientechnisches Primat. So steht Der Tod des Autors nicht – wie in Barthes’ gleichnamigen Aufsatz – im Zeichen der Geburt des Lesers, auch ist der Autor keine gesellschaftliche Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse wie in Foucaults Was ist ein Autor?. Vielmehr besiegelt die Phonographie – Aufschreibesys­ teme 1800 1900 zufolge – als Spurensicherung des Körpers, die den poetischen Hauch der Stimme negiert, den Tod des Autors und mit ihm auch gleich den des Menschen.5 „Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin unterläuft“.6 „Der Strukturalismus ‚macht den ,Menschen‘, der in den Humanwissenschaften seine Positivität bildet und bildet ‚kaputt‘“.7 Medientechnologien unterlaufen den „sogenannten Menschen“ – wie es bei Kittler verschiedentlich heißt. „Foucaults berühmte, aber noch immer philosophische Wette, dass ‚der Mensch verschwinden wird wie am Ufer des Meeres ein Gesicht im Sand‘, wiederholt nur die mathematische Gewissheit Alan Turings, ‚wir sollten damit rechnen, dass die Maschinen eines Tages die Macht übernehmen‘.“8

Auch auf Heidegger beruft sich Kittler gerne. „Wo das Denken aufhören muss, beginnen Blaupausen, Schaltpläne, Industriestandards. Sie verändern (streng nach Heidegger) den Bezug des Seins zum Menschen, dem 3 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 13. 4 Vgl. Berz, P. / Bitsch, A. / Siegert, B. (Hrsg.) (2003). Vorwort. In: Dies. FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag. (S. 11 – 14). Mün­ chen: Fink. S. 13. 5 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 285 f. 6 Ebd. S. 297. 7 Kittler, F. (1980). Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn: Schoeningh. S. 9. 8 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 32.

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2. Kittler

nur mehr übrig bleibt, zur Stätte ihrer ewigen Wiederkehr zu werden.“9 Dass es so etwas wie einen Bezug des Seins zum Menschen nach Heidegger nicht gibt, insofern Sein von jenem – was im Weiteren noch von Bedeutung sein wird – als Bezug und nicht als idealistische Instanz gedacht wird, stört Kittler nicht. Er entwickelt im Fahrwasser der Fundamentalontologie und in erstaunlicher Nähe zu Hegel ein All-Erklärungsgebaren, das der Medienwissenschaft generell bis heute nicht ganz abhandengekommen zu sein scheint. Beansprucht wird nicht weniger als Heideggers Geschichte von Sein und Sagen „in technischer Präzision evident zu machen.“10 Hierzu dient unter anderem Heideggers Vortrag Die Frage nach der Technik, demzufolge Technik eine Weise des Entbergens ist.11 Nietzsches Diktum folgend, dass unser Schreibzeug an unseren Gedankten mitarbeitet, dürfen Medientechnologien im Allgemeinen und Computer im Speziellen nicht als Werkzeuge missverstanden werden. „‚Die Technik ist in unserer Geschichte‘, sagte Heidegger“.12 Soweit wäre noch gar nichts einzuwenden, übersteigerte Kittler den Gedanken nicht. Entgegen der „Grundannahme, dass natürlich der Mensch das Subjekt aller Medien sei […] drängt sich gerade der umgekehrte Verdacht auf, dass technische Innovationen […] nur aufeinander Bezug nehmen oder antworten und dass gerade aus dieser Eigenentwicklung, die vom individuellen oder gar kollektiven Körper des Menschen völlig abgekoppelt läuft […]“.13

„Die technische Implementierung von Turings Prinzipschaltung [...] mechanisiert [...] die Sprache selber“, heißt es an anderer Stelle.14 Charakteristisch für Kittlers Argumentation ist das Verwischen von Differenzen, hier die zwischen Energien in der Natur (auf die sich Heidegger in der eben genanten Rede bezieht), Informationen und Sprache. „Nietzsche […] wechselte von Argumenten zu Aphorismen, von Gedanken zu Wortspie30

9 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 332. 10 Kittler, F. (2007). Mousa oder Litteratura. In: Kittler, F. / Ofak, A. (Hrsg.). Medi­ en vor den Medien. (S. 17 – 30). München: Fink. S. 17. 11 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 132; sowie: Kittler, F. (2000). Eine Kultur­ geschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 238. 12 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 293. 13 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 22. 14 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 130.

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len, von Rhetorik zu Telegrammstil. Genau das besagte der Satz, dass unser Schreibzeug mit an unseren Gedanken arbeitet“.15 Und Kittler verfährt in seinen eigenen Schriften nicht anders als es der ihm zufolge erste Medientheoretiker tut. „Kultur war immer schon ein Prozedere von Datenverarbeitung“,16 ein Prozedere, das nun vom Menschen abgekoppelt in Computern ablaufe. Gemeinsam mit Norbert Bolz und Georg Christoph Tholen konstatiert Kittler, dass „technische Medien überhaupt“ in der Universalität von Computern aufgehen würden. Demnach ist es ein „Faktum, dass die Gegenwart von Algorithmen und Schaltkreisen gemacht wird“.17 Kittler zufolge ist es eine programmiertechnische Binsenwahrheit bzw. eine belegte Wahrheit, dass die Computer „eines Tages übernehmen“ und den Menschen als sogenannten Herrn der Erde ablösen werden. „Nur die jetzige (z.  B. vierte) Generation von Computern ist überhaupt noch imstande, die nächste (z. B. fünfte Generation) in Schaltungsdesign, Chiplayout und Durchsatzoptimierung zu berechnen. Zum ersten Mal im Weltzeitalter des Menschen scheint mithin eine Evolution hinter unserem Rücken stattzufinden“.18

Technische Innovationen nehmen wie zitiert nur noch aufeinander Bezug. Leitend ist für Kittler ein relativ simples Geschichtsmodell, das er 1984 in seiner Habilitationsschrift entwirft. Um 1800 kommt es im Zuge des Aufkommens von Leselernfibeln zur allgemeinen Alphabetisierung. Wurden bisher, ohne dass Verstehen, Vorstellungen oder innere Bilder aufgekommen wären, Bibelverse auswendig gelernt, entstehen nun, als Effekt mütterlicher Leseübungen, Sinn und Individualität. Durch stille Lektüren wird Innerlichkeit eingeübt. Diese Innerlichkeit, so lässt sich (einige Vermutungen, das erotische Verhältnis der Geschlechter betreffend, ausklammernd) zusammenfassen, ist die Keimzelle von Autorschaft, romantischer Literatur und ihrem Pendant der idealistischen Philosophie. Die Entwicklung von Speichertechniken für Akustik, Optik und Schrift – im Einzelnen in Grammophon, Film und Typewriter thematisiert – setzt der Innerlichkeit jedoch um 1900 gleich wieder ein Ende. Der Phonograph wird als empirisch-objektive Protokollinstanz und Metapher hirnphysiologischer 15 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 296. 16 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch aus­ brechen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei .(S. 95 – 129). Wien: Turia & Kant. S. 99. 17 Bolz, N. / Kittler, F. / Tholen, C. (1994). Computer als Medium. München: Fink. S. 7. 18 Kittler, F. (1993). Die Evolution hinter unserem Rücken. In: Kaiser, G. / Ma­ tejovski, D. / Fedrowitz, J. Kultur und Technik im 21. Jahrhundert. (S. 221 – 223). Frankfurt a. M.: Campus. S. 221.

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Funktionen zum psychoanalytischen Apparat. Die Aufzeichnungstechnik enttarnt Sprache als etwas Äußerliches und das Subjekt als ihr zufälliges daherplapperndes Anhängsel. „Das Subjekt des Unbewussten ist buchstäblich Abfall“ und die Literatur um 1900 „Abfallverwertung von psychophysisch gespeichertem Unsinn“.19 Die Spurensicherung des Körpers negiert die Sprache als „Bastion der Innerlichkeit“ und besiegelt den Tod des Autors. Sind romantische Literatur und idealistische Philosophie in Aufschreibesysteme noch Ergebnis einer bestimmten Lektüretechnik, so interpretiert Kittler in seiner Vorlesung Optische Medien seine eigenen Thesen neu. Hier hat „die deutsche Romantik […] das erfolgreiche Erbe aller Camera obscuras der Renaissance und aller Laterna magicas des Barock angetreten“.20 Lesen wird dabei als Erzeugung sichtbarer innerer Bilder begriffen und unzulässigerweise mit filmischen oder fotografischen Bildern gleichgesetzt. Ohne zu sehen, dass Metaphern nicht der Ordnung angehören, auf die sie sich beziehen, argumentiert Kittler, dass auch das Cartesianische Subjekt sowie philosophische Theorien des Scheins durch Camera obscura und Laterna magica produziert oder zumindest ermöglicht worden seien. Kant habe diese Ansätze in seiner Transzendentalphilosophie nur noch verallgemeinern brauchen. So sei „auch der deutsche Idealismus […] der Geschichte der optischen Medien entsprungen“.21 Aus dem Umstand, dass medientechnische Entwicklungen auch militärischen Ursprungs sind, schließt Kittler darüber hinaus auf einen ontologischen Zusammenhang zwischen Medien und Krieg. So ist vom Radio und der Unterhaltungsindustrie im Ganzen als „Missbrauch von Heeresgerät“22 die Rede. Weil sich der Mechanismus des Transports des Films in Kameras und Projektoren auf den Revolver zurückzuführen lässt, wird geschlossen: „Im Prinzip von Kino haust der mechanisierte Tod“.23 Die Filmkamera wird als „Waffensystem“24 thematisiert und die Schreibmaschine zum „Diskursmaschinengewehr“.25 „Massenmedien […] sind Mobilmachung“.26 Lässt die Fotografie Spekulationen über die Unabhängigkeit von Formen bzw. Information und Materie zu, wird im Umkehrschluss die fotografische Information mit der Destruktion von Materie assoziiert 19 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 366 u. 372 f. 20 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 146. 21 Ebd. S. 123. 22 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 149. 23 Ebd. S. 190. 24 Ebd. S. 195. 25 Ebd. S. 283. 26 Ebd. S. 170.

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und geschlossen, die „Bombe über Hiroshima [… sei] zugleich eine Fotobelichtung […]. Mit anderen Worten: Der Informationsbegriff selber hat eine militärische, eine strategische Komponente“.27 In ähnlicher Weise lässt sich sodann auch eine assoziative Parallele zwischen dem Kommunikationsverhalten von Bienen und Menschen ziehen und zu dem Schluss kommen: „Bienen sind Geschosse und Menschen Fernlenkwaffen“.28 Insbesondere durch Grammophon, Film und Typewriter dringt eine unappetitliche Faszination für alles Militärische, die an das neugierigen Hantieren eines Jungen mit Waffen erinnert. Markieren Speichertechniken die erste Phase der Kittlerschen Medienweltgeschichte, kennzeichnen elektronische Übertragungstechniken wie Radio und Fernsehen die zweite. Ihr inneres Ziel erfüllt sich allerdings erst mit der computerisierten Wissensverarbeitung. „In künstlichen Intelligenzen geht aller Medienglamour zugrunde und zum Grund. […] Bits zerlegen die scheinbare Stetigkeit optischer Medien und die reale Stetigkeit akustischer in Buchstaben und diese Buchstaben in Zahlen“.29 In wenigen Schritten gelangt Kittler von einer medialen Prähistorie, die rückwirkend ein paradoxes Reden von Medien vor den Medien nötig macht,30 zu einer Posthistorie, von der aus Computer die Geschichte umschreiben.31 Die „Informationsmaschinen laufen den Menschen, ihren sogenannten Erfindern, davon“. 32 Die Tücke sei, „dass so vielen Operationen die Operanden nicht mehr anzusehen sind“.33 Computer ermöglichten die Simulationen von Sachen, die es nicht gibt. Soweit ist nichts einzuwenden. Kittler argumentiert jedoch: „Wenn simulieren besagt, zu bejahen, was nicht ist, und dissimulieren besagt, zu verneinen, was ist, dann hat die Computerdarstellung komplexer, zum Teil also imaginärer Zahlen eine sogenannte Wirklichkeit buchstäblich dissimuliert, nämlich auf Algorithmen gebracht.“34 Was Kittler unterschlägt, ist, dass Medien in dem von ihm verwendeten Sinne, im Allgemeinen und nicht nur Computer, die Mechanismen und Bedingun 27 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 39. 28 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 372 f. 29 Ebd. S. 352 f. 30 Vgl. Kittler, F. / Ofak, A. (2007). Umrisse der Medien vor den Medien. In: Kittler, F. / Ofak, A. (Hrsg.). Medien vor den Medien. (S. 9 – 17). München: Wilhelm Fink. 31 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 11. 32 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 372 f. 33 Kittler, F. (1994). Protected Mode. In: Bolz, N. / Kittler, F. / Tholen, C. (Hrsg.) Computer als Medium. (S. 209 – 222). München: Fink. S. 211 f. 34 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 67.

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gen des eigenen Funktionierens nicht explizit mitvermitteln. Wer könnte behaupten, der Mensch habe je etwa über seine Sprache (wird sie als Medium begriffen) verfügt, noch verstanden – ihr ansehen können – wie er in sie gefügt ist? Deshalb verstellt sie sich aber noch nicht in Hinterlist oder macht sich absichtlich unkenntlich. Die Darstellung der Wirklichkeit in Computermodellen ist eben nur deren Repräsentation und nicht ihre bewusste Verheimlichung. Benoit Mandelbrots fraktale Geometrie, auf die sich Kittler im zuletzt genannten Zitat bezieht, stellt Modelle zur Beschreibung und Erklärung von komplexen Gebilden und Erscheinungen, wie sie auch in der Natur vorkommen, zur Verfügung. Sie ist nicht Natur. Antiidealismus und Hegelianismus gehen bei Kittler so Hand in Hand. Die angeführte Rede davon etwa, dass der Mensch die Stätte der ewigen Wiederkehr von Blaupausen, Schaltplänen und Industriestandards als Determinanten des Bezugs des Seins sei, legt bereits den Verdacht nahe, diese Schaltpläne würden den Platz von Hegels Geist besetzen. Wie aber kann das sein? War es doch Kittler der zur „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ aufrief.35 „[G]egen den Idealismus [… sei] die Materialität und Äußerlichkeit von Zeichen und Diskursen zu betonen“.36 Gleichzeitig führt er selbst, den für die Aufschreibsysteme so entscheidenden Ansatz, dass stumme Lektüren „den Boden der Innerlichkeit im Subjekte […] begründen“,37 auf Hegel zurück.38 Dessen Geist ist allgemeines Selbstbewusstsein, das sich, so erläutert Kittler entsprechend in Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, als Sprache im Ich äußert und sich als das sich im Sprechen selbst vernehmende Ich manifestiert.39 Innerlichkeit und mit ihr Geist sind demnach reale Effekte eines medientechnologischen Standes der Geschichte, dem Aufschreibsystem 1800 – genauer eigentlich einer medialen Praxis, aber darauf geht Kittler nicht ein – und im selben Zug narzisstische Illusion des Menschen. „Der Deutsche Idealismus legitimiert die Deutsche Dichtung durch Umschrift ihrer Phänomene auf einen λόγος [lógos] und ihrer Helden auf einen Geist“.40 Argumentiert Kittler, um 1800 sei die Poesie totale Kunst gewesen, so schließt er an Hegels Vorlesungen über die Ästhetik an. „Andere Künste definierten jeweils ihr sinnliches Medium (Stein, Farbe, Baustoff, 35 Kittler, F. (1980). Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn: Schoeningh. 36 Kittler, F. / Schneider, M. / Weber, S. (1987). Editorial. In: Dies. (Hrsg.). Dis­ kursanalysen 1. Medien. (S. 7 – 12). Opladen: Westdeutscher. S. 7. 37 Hegel, W. (1986). Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 276. 38 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 23. 39 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 98. 40 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 199.

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Klang); das Medium der Dichtung dagegen […] verschwindet unter ihrem Gehalt“.41 „Um 1800 ist der Schatten technischer Medien noch nicht auf die Dichtung gefallen“.42 Antiqua-Schriften, die sich in Deutschland erst im 19. Jahrhundert durchsetzten, sollen das Lesen seiner Äußerlichkeit entledigt haben. „So erlöste erst eine buchstäbliche Entmaterialisierung Leseraugen davon, die Materialität von Buchstaben auch nur wahrnehmen zu müssen“.43 Die These, dass Formgebung Materie ihres Materiellen entledigen soll, scheint Kittler tatsächlich plausibel. Das eigentlich unsinn­ liche, im Dichterischen wirkende universale Medium, ist ihm ohnehin die Einbildungskraft bzw. die Fantasie.44 In der Einbildungskraft, die in der Kittlerschen Konzeption dasselbe leisten soll wie das Imaginäre Lacans, fallen Wahrnehmen und Lesen zusammen.45 Wahrnehmen ist demnach eine Art Lektüre und Lesen produziert Sinneseindrücke. An zentralen Stellen nimmt Kittler auf Hegels bekannte Widerlegung der Wahrheit sinnlicher Gewissheit in der Phänomenologie des ­Geistes Bezug.46 Scharfsinnig stellt er fest, dass „Kategorien keine Datierung dulden“,47 dass Hegels Sätze von ihrer eigenen Stofflichkeit abheben und so „die Deixis noch deiktisch […] widerlegen“.48 „Alle Diesheiten verschwinden vor der totalitären Diesheit Autor“.49 Das Aufkommen von Speichermedien um 1900 jedoch bereitet dem Autor, wie gesagt, sein Ende. Das Speichermonopol von Sprache und Buch wird durch die Daguerreotypie gebrochen. Die „Medientechnik Fotografie [… vernichtet] das ‚idealische‘ oder eben Imaginäre“ und bringt erstmals etwas Reelles zur Erscheinung.50 Bezichtigt Kittler Hegel in den Aufschreibesystemen noch der „Lüge“, ist ihm dessen Widerlegung des Sinnlichen in Die Nacht der Substanz nur noch schal. Affirmierend stellt er fest, dass Datenverarbeitung seit dem 41 Ebd. S. 139. 42 Ebd. S. 123. 43 Ebd. S. 114. 44 Ebd. S. 140. 45 Vgl. Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 23. 46 „Auf die Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewissheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebenso wenig dadurch, dass wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschrie­ bene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, dass sie schal ge­ worden ist.“ Hegel, G. W. F. (1989). Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Surkamp. S. 84. 47 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 204. 48 Ebd. S. 205. 49 Ebd. S. 206. 50 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 194.

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Aufkommen der Fotografie nicht mehr mit der Verschriftlichung mündlicher Rede zusammenfalle. Seitdem würden technische Analogmedien die Natur selber fixieren. „Denn nicht erst die Panzer-Nachtziel- und Aufklärungsgeräte von 1945 haben vorgeführt, wie Nächte mittlerweile ganz ohne Buchstaben verarbeitet werden können.“51 Kittler lässt seinen eigen­ en materialistischen Anspruch fallen. „Durch Zwischenspeicherung mechanischer oder chemischer, elektrischer und schließlich elektronischer Wandler gelangte das Reale [...] zur Speicherung und Übertragung. Die Geister haben aufgehört, nur in geistreichen Büchern zu hausen; sie sind Medien in allen Wortsinnen geworden“.52

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„Als Hegel den perfekten Alphabetismus seiner Zeit auf den Begriff brachte, hieß dieser Begriff Geist. […] Die Medienrevolution von 1880 hat den Möglichkeitsgrund für Theorien und Praktiken gelegt, die Information nicht mehr mit Geist verwechseln“.53 Jetzt herrschen die mechanischen Geister der Medien. Auch Denken sei, nicht anders als es von Kultur behauptet wurde, nie etwas anderes als Kybernetik oder Datenverarbeitung gewesen. Von nun an aber heiße „das kontrollierende Subjekt nicht länger Mensch, sondern Computer oder näherhin Signalprozessor.“54 Wie allerdings die Datenverarbeitung des Denkens und die der Kultur miteinander verschaltet sein sollen, kann Kittler nicht erläutern. Fotografie und Film, Phonograph und Grammofon hätten das Computerzeitalter vorbereitet und der Computer könne nun sämtliche Analogmedien inklusive Sprache und Schrift adressieren und daher verschlingen. „Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Geistererscheinung [...], ist ihrerseits durch universale diskrete Maschinen aufgehoben.“55 Sämtliche Datenströme würden im Computer zusammenfließen und so beliebigen Manipulationen offen stehen, „einfach weil alle Daten unter eindeutigen Adressen und unter binären Befehlen laufen. Damit ist die Alltagssprache, dieses jahrtausende alte ‚Haus des Seins‘, schlichtweg verlassen.“56 Was mit antiidealistischem Gestus ansetzt, schlägt um in einen kruden technizistischen Medien-Hegelianismus – und Kittler ist sich im Klaren darüber. In einem Interview gefragt, ob in seinen Texten ein technisch ar 51 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 25. 52 Ebd. S.25 f. 53 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 27 ff. 54 Kittler, F. (1989). Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli. S. 6. 55 Ebd. S. 28. 56 Ebd. S. 29. Die Rede vom ‚Haus des Seins‘ spielt offensichtlich auf Heideg­ ger an.

2.1 Materialität und Datenverarbeitung

gumentierender Hegel spreche, entgegnet er: „Diesen Eindruck habe ich manchmal auch“.57 Auf die These, der gegenwärtige technologische Stand erlaube von einer umfassend informierten Kommunikationsgesellschaft zu sprechen, erwidert Kittler: „Hegels Konzept des luziden, transparenten Staates, der zugleich die Weltvernunft ist, hat sich erfüllt“.58 Ist das Telos der Hegelschen Geschichte im vernünftigen preußischen Staat erreicht, so ist das Ziel der Kittlerschen die totale Unvernunft der Datenverarbeitung. Anmaßend bekennt Kittler in Optische Medien, er wolle einen Systementwurf wie Hegel versuchen, allerdings unter hochtechnischen Bedingungen. Anders als die Hegelsche beruhe seine Systematik jedoch nicht auf „philosophischen Abstraktionen, sondern [gehe auf die] Strukturen der Sache selber“.59 Und diese Sache sind Medien, im Speziellen der Computer. Blaupausen, Schaltpläne und Industriestandards. Was dabei herauskommt ist geistlos. Intendiertermaßen. Argumentiert Kittler in den Aufschreibesystemen noch zutreffend: „Zeichen, um Zeichen zu sein, stehen notwendig vor einem Hintergrund, den kein Speicher speichern kann“,60 so kassiert er mit der Behauptung, heute würden Medien das Reale selbst übertragen, prozessieren und speichern die Materialität und Äußerlichkeit von Zeichen und Diskursen, die er gegen den Idealismus betonen wollte. Der von ihm in Anschlag gebrachte Informationsbegriff versteht sich als explizit antimaterialistisch. Dabei wirft Kittler den Autoren der Dialektik der Aufklärung tollkühnen Hegelianismus vor.61 Schwerwiegender aber noch ist, dass der vertretene Mediendeterminismus in einen fundamentalen Selbstwiderspruch gerät. Bestimmen Medien, wie gleich zu Beginn von Grammophon, Film, Typewriter behauptet, unsere Lage, so wäre, und auch das stellt Kittler noch zutreffend fest, „ihre Beschreibung unmöglich“.62 „In dieser Lage bleiben nur […] Erzählungen“.63 Schlichtes technisches Wissen von Medien würde aber eben nicht genügen, wenn „die jeweils herrschenden Nachrichtentechni 57 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch aus­ brechen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien: Turia & Kant. S. 98. 58 Ebd. S. 110. 59 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 17. 60 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 233 f. 61 Kittler, F. (1995). Copyright 1944 by Social Studies Association, Inc. In: Wei­ gel, S. (Hrsg.). Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kri­ tischer Theorie und Poststrukturalismus. (S. 185 – 193). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. S. 190. 62 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 3. 63 Ebd. S. 4.

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2. Kittler

ken alles Verstehen fernsteuern und seine Illusionen hervorrufen“.64 Wer sich derart auf Fakten und Tatsachen beruft, produziert keine positive Kulturwissenschaft, sondern „Mythen, Wissenschaftsfiktionen, Orakel“.65 In dem erwähnten Gespräch nach dem theoretischen Ort seines Sprechens gefragt, bleibt Kittler eine Antwort entsprechend schuldig.66 Anzunehmen, Medien würden ihre Rezipienten steuern, ist, der Einsicht des Autors selbst zufolge, paranoid. „Was spricht für die Paranoia? Ich weiß es auch nicht. [...] Die Diagnose baut auf ein paar greifbare Fakten auf, die ich probeweise verlängert habe“.67 2.2 Eine medientechnische Heidegger-Interpretation Die sinnliche Wahrnehmung wird bei Kittler gewissermaßen zeitgemäß vom Paradigma der Hirnphysiologie aus thematisiert. „Harte Fakten“, die ihm die Psychophysik liefert, legen die „unbewussten Mechanismen, die für die Konstruktion einer psychophysischen Realität verantwortlich sind“,68 offen. Ein Prozess, der, allemal zutreffend, als Entmenschlichung erscheint, von Kittler allerdings aggressiv überbetont wird. Die „Psychophysik stößt hinter aller Sinnstiftung und ihrer durchsichtigen Willkür auf den sinnlosen Körper, der eine Maschine unter Maschinen ist“.69 In der selbstwidersprüchlichen Konsequenz dieses Vorstoßes werden die eigen­ en Annahmen über die physiologische Verfasstheit des Menschen freilich zum Effekt medienhistorischer Determinanten. Medientechnologien entstanden „im 19. Jahrhundert aus Forschungen über Psychologie und Physiologie eines sehr empirischen und nicht mehr transzendentalen Menschen“.70

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„Nachdem Motorik und Sensorik des sogenannten Menschen (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) unter allen denkbaren Extrembedingungen durchgemessen sind, steht ihrer ergonomischen Revolution nichts mehr im Weg. Die zweite industrielle Revolution zieht ins Wissen ein. 64 Ebd. S. 5. 65 Ebd. S. 4. 66 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 100. 67 Ebd. S. 116. 68 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 121. 69 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 265. 70 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 241 f.

2.2 Eine medientechnische Heidegger-Interpretation

Psychotechnik verschaltet Psychologie und Medientechnik unter der Vorgabe, dass jeder psychische Apparat auch ein technischer ist und umgekehrt“.71

Ein solches Wissen bestünde etwa darin, die Filmtechnik als Modell der Seele zu begreifen. Was als historische Diagnose noch plausibel wäre, kippt ins Absurde, wenn Kittlers eigene Argumentation an die kinematografische Metaphorik anschließt. Kino nämlich decke die „unbewusste[n] Prozesse des Zentralnervensystems“ auf. Die Behauptung, der Film implementiere „den neurologischen Datenfluss selber“,72 ist jedoch, den eigenen Herleitungen folgend, kaum mehr als ein epistemologisch metaphorisches Paradox: Die Wahrnehmung richtet sich auf das Medium, das als Bild ihrer Beschreibung dient. Kittler argumentiert tatsächlich, den Zuschauern würde gesendet, was Bewusstsein und Sprache unzugänglich sei: der eigene Wahrnehmungsprozess. Blaupausen und Schaltpläne sind Kittler wahrheitsfähig, da er mediale Schaltungen als „Schematismus von Wahrnehmbarkeit überhaupt“ begreift.73 Geben „Medientechnologien [… aber] Modelle für Psychologie und Physiologie“ ab,74 begeht er erneut einen Kategorienfehler, indem er Modell und Faktizität verwechselt. Er belegt so, dass die Sprache, seinen eigenen Thesen zuwider, keineswegs medientechnologisch entmachtet ist. Offensichtlich erschließt sich das vermeintlich Faktische im Metaphorischen. Selbst wenn probehalber gelten sollte, dass es zutrifft, dass nichts über die Sinne zu wissen ist, „bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen“,75 müsste doch gerade diese Einsicht vor dem Fehlschluss, die psycho-physische Verfasstheit des Menschen habe tatsächlich irgendetwas Technisches an sich, bewahren. Die Entstehung von Medientechnologien würde jene Episteme voraussetzen, die sie erst bereitstellen soll. Kittler aber scheint sich am Taumel seiner eigenen Argumentation zu berauschen. Das einzige, was man von Seele oder Mensch wissen könne, seien „die technischen Apparate […], an denen [… sie] jeweils historisch Maß nehmen“.76 Weil Medien den Zweck hätten, unser Selbstverständnis zu täuschen und zu hintergehen, böten sie privilegierte Modelle für unser Selbstverständnis. Derartige Thesen müssen der puren Freude am Widersinn entsprungen sein. 71 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 238 f. 72 Ebd. S. 240. 73 Ebd. S. 5. 74 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 241 f. 75 Ebd. S. 28 f. 76 Ebd. S. 30.

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2. Kittler

„Erst nachdem Wahrnehmungsprozesse so kalt und unmenschlich erforscht waren, als wären sie technische Medien, stand der Konstruktion wirklicher Medien, die diese selbe Wahrnehmung täuschen und/ oder simulieren können, nichts mehr im Weg“.77

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Mussten audiovisuelle Sinnlichkeiten um 1800 noch über den Umweg von Zeichen symbolisch in Form von Buchstaben, Ziffern und Noten gespeichert werden, werden um 1900 Funktionen des Zentralnervensystems technisch implementiert und die Aufzeichnung von Sinnesdaten möglich.78 „Zur symbolischen Fixierung von Symbolischem tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz“.79 Habe Sinnlichkeit zuvor über den Umweg der Imagination hergestellt werden müssen, würden mit technischen Medien Sinnesdaten speicherbar gemacht: „Reales rückt anstelle des Symbolischen“.80 Auch wenn es die Sprache suggeriert, tatsächlich kann im Film natürlich keine Bewegung gespeichert werden und auch der Phonograph verzeichnet keine akustischen Ereignisse als solche.81 Das Reale oder auch die Wirklichkeit kann nicht aufgezeichnet werden. Was immer Sensoren erfassen, wird vielmehr zunächst technisch erschlossen und umgeformt, und erst diese verfügbar gemachte Übersetzung, die zwar eine Realität, aber nicht die vermeintlich aufgezeichnete Wirklichkeit ist, kann dann gespeichert, übertragen und weiter verändert werden. Dieses Umgeformte steht dann analogen oder digitalen Manipulationen offen. Keineswegs ist jedoch mit Medientechnik „das Unmanipulierbare so manipulierbar, wie das in den Künsten nur symbolische Ketten gewesen sind“.82 Weder hat die umformende Erschließung etwas mit den Funktionen des Zentralnervensystems zu tun, noch imitiert sie die Wahrnehmung. Die aufgezeichneten Daten haben nichts mit Sinnlichkeit gemein, sie müssen vielmehr in einem weiteren Prozess der Übersetzung gewissermaßen aufbereitet werden, damit überhaupt etwas zur Wahrnehmung gebracht werden kann. Eben diesen Vorgang des zur-Wahrnehmung-Bringens deutet Kittler als Täuschung von Augen und Ohren. „Bild- und Soundmontagen unter 77 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 122. 78 Vgl. Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 144 / Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 39 f. 79 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 277 f. 80 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 42. 81 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 295. 82 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 166.

2.2 Eine medientechnische Heidegger-Interpretation

laufen ihre Wahrnehmungsschwellen und damit Kontrollmöglichkeiten“.83 Die menschliche Wahrnehmung könne aufgrund ihrer Trägheit mediale Simulationen nicht kontrollieren. Insbesondere bildgebende Verfahren, die „die Bewegungsauflösung des Auges“ überbieten würden, dienen hier als Beispiel. „Es gäbe überhaupt kein Fernsehbild zu sehen, wenn die Augen im Fünfundzwanzigstelsekundentakt auch noch einzelne Bildzeilen und Pixel unterscheiden könnten.“84 Dem könnte soweit zugestimmt werden. Wie bereits erwähnt, vermitteln Medien ihren Mechanismus nicht explizit mit. Auch audiovisuelle Medien sind schließlich entwickelt worden, um etwas und nicht sich zur Wahrnehmung zu bringen. Deshalb unterlaufen sie aber nicht die Wahrnehmung. Technische Medien im Sinne Kittlers zeichnen sich vielmehr durch Brüche der Übersetzung aus. Diese Erschließungen und Umformungen jedoch versucht Kittler zu übergehen, um stattdessen das Zusammenfallen von Nachrichtentechnik und Hirnphysiologie zu behaupten. „Kino war von Anfang an Manipulation der Sehnerven und ihrer Zeit“.85 Film und Zentralnervensystem seien – irgendwie, so wird behauptet – miteinander verschaltet. Abgesehen davon, dass Medien offenkundig nichts wollen, stellt Kittler zutreffend zur Diskussion: „Die Frage ist überhaupt, ob Technologien [… die] Wahrnehmung wirklich verändern können oder wollen“.86 Tatsächlich übernehmen sie bei ihm mit den Funktionen des Zentralnervensystems die Wahrnehmung. Wie aber sollten sie das können? Die Annahme, dass Medien die Wahrnehmung verändern, ist ein zentraler medientheoretischer Topos, wie er sich bereits etwa bei Benjamin findet, auf dessen wie es nach wie vor keine schlüssige Antwort gibt. Kittler bedient sich für seine Erklärung bei „Lacans Begrifflichkeit als nützlichen Werkzeugkasten“.87 Er übernimmt die Differenzierung von Symbolischem, Imaginärem und Realem oder auch Reellem. Das Reale ist demnach reines Rauschen bzw. das Diffuse, Materiale, Körperliche und beerbt, trotz Kittlers Anleihen bei der Informationstheorie Shannons, im Grunde die amorphe chaotische – reale vor-interpretative – Welt der klassischen Metaphysik. Das Imaginäre steht für Prozesse der Gestalterkennung, also der „automatischen“ wie trügerischen Fähigkeit, Formen auszumachen, aber auch für das Traum 83 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 71. 84 Kittler, F. (1998). Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elekt­ ronischen Kommunikation. In: Faßler, M. / Halbach, W. R. (Hrsg.) Geschichte der Medien. (S. 253 – 267). München: Fink. S. 254. 85 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 177. 86 Kittler, F. (1990). Synergie von Mensch und Maschine. In: Rötzer, F. / Rogen­ hofer, S. (Hrsg.) Kunst machen? (S. 90 -103). München: Klaus Boer. S. 94. 87 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 38 f.

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hafte, Halluzinatorische sowie die Kraft der Einbildung. Das Symbolische fällt schließlich mit dem sprachlichen Code, der Fähigkeit mit Buchstaben, Zahlen oder allgemein Symbolen umzugehen, zusammen.88 In Kittlers Epochenschema mussten die Menschen des 18. Jahrhunderts „als Untertanen der allgemeinen Alphabetisierung […], Manipulationen im Symbolischen als sinnliche Daten halluzinieren“.89 Der folgende historische Schwenk ersetzt jedoch Einbildungskraft durch Datenverarbeitung und das Reale rückt an die Stelle des Symbolischen.90 „Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken“.91 Kittler ordnet in kruder Weise die Lacanschen Begriffe – methodische und nicht anthropologische oder ontologische Distinktionen, wie er selbst erwähnt –92 Medientechnologien zu. Akustische und optische Daten – analog zum Imaginären und Realen – werden von der Schrift ablösbar, von nun an durch Grammofon und Film statt von Dichtung gespeichert. Die Schreibmaschine prozessiert, was mechanisch übrigbleibt, das Symbolische. „Mit der historischen Gleichzeitigkeit von Kino, Phonographie und Maschinenschreiben wurden die Datenflüsse von Optik, Akustik und Schrift ebenso getrennt wie autonom“.93 Gleichzeitig historisiert er Lacans Distinktionen, indem er sie lapidar zum Effekt jener medialen Konstellation erklärt. Jede Theorie habe ihr technisches Apriori. Das Symbolische stehe für die Materialität und Technizität der Schrift, das Imaginäre für die optischen Illusionen des Kinos und das Reale für alles Akustische, das als „Rest oder Abfall“ erscheint. An anderer Stelle wird erläutert: „Also hat das Symbolische den Status von Blockschrift. […] Also hat das Imaginäre den Status von Kino. […] Also hat das Reale […] den Status von Phonographie […]. Mit der technischen Ausdifferenzie-

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88 Vgl. Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Phi­ losophien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 61 u. 74 / Ders. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 248 / Ders. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 38 f. 89 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 62 f. 90 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 115 f. 91 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 297. 92 Kittler, F. (1993). Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine. In: Ders. Draculas Vermächtnis. (S. 58 – 80). Leipzig: Reclam. S. 65 u. 69 / Ders. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 27. 93 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 27 ff.

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rung von Optik, Akustik und Schrift […] ist der sogenannte Mensch machbar geworden. Sein Wesen läuft über zu Apparaturen“.94

Letztlich soll die Digitalisierung das Reale wieder nach Prinzipien des Symbolischen verfügbar machen. Eine Reihe simpler Assoziationen führen Kittler zu der Behauptung, Wahrnehmung werde medial prozessiert. Die Behauptung, das Wesen des Menschen sei technisch okkupiert, ist jedoch bestenfalls Ausdruck der Hilflosigkeit, nicht plausibel machen zu können, wie Medien das menschliche Weltverhältnis beeinflussen oder bestimmen sollen. Widersprüchlich ist nicht zuletzt, wie in Optische Medien von einem optischen Reellen die Rede ist, während das Reale der Akustik zugeordnet wurde.95 Erkennbar werden hier im Grunde naive Wirklichkeitsvorstellungen verhandelt. In Wirklichkeit sind die Hufe eines galoppierenden Pferdes, wie es die Fotografien von Eadweard Muybridge beweisen, alle in der Luft. Der „‚pencil of nature‘, [… als] Bleistift der sich selbst zeichnenden Natur“.96 Erneut ist zu erwidern: kein Reales oder Wirkliches kann von Medien erfasst, übertragen oder verarbeitet werden. Weder die analoge noch die digitale Signatur eines aufgezeichneten akustischen oder optischen Ereignisses ist in irgendeiner Weise dieses Ereignis. Bei technischen Medien haben wir es mit chemischen, mechanischen oder elektronischen Übersetzungen zu tun, die häufig erneut übersetzt, bearbeitet oder, mit Heidegger, umgeschaltet werden müssen, damit etwas zur Wahrnehmung kommen kann. Das von Kittler wiederholt angeführte Zitat aus Die Frage nach der Technik stellt „erschließen“, „umformen“ und „umschalten“ als für das technische Entbergen wesentlich heraus. Dieses „geschieht dadurch, dass die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird“.97 Kittler hingegen unterstellt, Medien könnten, was er der menschlichen Wahrnehmung stets absprechen würde, nämlich Unmittelbarkeiten erfassen und verarbeiten. Was technische Medien erschließen, scheint ihm somit auch der Notwendigkeit der Interpretation enthoben. Er versteht folglich auch nicht, warum nach Heidegger die Grundbestimmungen des Seins von Philosophen zu leisten sind;98 und bestätigt so, was in Die Frage nach der Technik zur Diskussion gestellt wird, dass das Scheinen und das Walten der Wahrheit durch das Techni 94 Ebd. 95 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 227. 96 Ebd. S. 178. 97 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 16. 98 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 238 f.

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sche gerade verstellt wird – und zwar weil „das Wesen der Technik nichts Technisches ist“,99 sondern auf etwas Dichterisches verweist. Die abwegige Thematisierung des Imaginären zeigt, dass das, was Medien zu Wahrnehmung bringen, offenkundig deren Gegenstand sein muss. Die Ansicht, Muybridges Arbeiten würden „alles Imaginäre oder Gestalthafte […] durch Reelles ersetzen“,100 ist nicht zu halten. Das galoppierende Pferd auf jenen Fotos muss wahrgenommen sowie als solches erkannt und damit irgendwie auch interpretiert werden. Die Ansicht, Medien würden das Zentralnervensystem erobern oder implementieren – „und damit überflüssig […] machen“101 – oder es würde bei Medien um die Kopplung, die Verschaltung oder den Kurzschluss von Körpern und Maschinen gehen, versucht genau diesen Umstand zu leugnen. Das, was Medien wahrnehmbar machen, muss als strukturiert in jener Wirklichkeit wahrgenommen werden, die sie erst strukturieren – oder gar erzeugen, ersetzen oder übernehmen – sollen. Als ob die Interpretation eines Buches auf Grund der Indirektheit der Schrift notwendig, die eines Fotos oder Filmes aber überflüssig sei, weil diese ja zeigen, worum es geht. Die Vorstellung, visuelle oder auditive Eindrücke wären qua medialer (Re-)Produktion der Gestalterkennung oder ihrer Deutung enthoben, ist nicht zu halten – und Kittler weiß auch das. An anderer Stelle gibt er zu, dass sein Schreiben über mediale Inhalte wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit sei, die „am liebsten das Symbolische und das Reale – um weiter strikt mit Lacans Begriffen zu argumentieren – unter Umgehung des Imaginären im Kurzschluss direkt verschaltet sähe. Natürlich entspricht das nicht ganz dem Stand der sozial laufenden Dinge. Das Imaginäre ist grässlich anwesend“.102

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Dass es für den Psychoanalytiker völlig sinnlos wäre, eine Umgehung des Imaginären auch nur in Erwägung zu ziehen, muss nicht weiter thematisiert werden. Lacans Konzeption ist Kittler ohnehin lediglich technologisch-historischer Reflex und Hilfsquelle. Die Suggestion hingegen, es sei nur ein temporäres sozial relatives Moment, dass Symbolisches und Reales, so wie von Kittler aufgefasst, nicht medial kurzgeschlossen sind, täuscht darüber hinweg, dass die Kenntlichkeit von Medialität eine Be 99 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 35. Vgl. Ebd.: S. 27. 100 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 227. 101 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 115 f. 102 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 113.

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dingung für Sozialität ist. Kommunikation als zentraler Mechanismus des Sozialen fußt, wie Niklas Luhmann wiederholt betont, in der Differenz von Information und Mitteilung – auch dies wird im Weiteren noch eine entscheidende Rolle spielen. Anders gesagt: Das, was Medien zur Wahrnehmung bringen, differiert von der Wahrnehmung des jeweiligen Mediums. Ansonsten wäre Medialität nicht kenntlich. Es wäre nicht möglich, auf sie Bezug zu nehmen (was mit Luhmann Anschlusskommunikationen unmöglich machte und das Ende jeglicher Sozialität bedeutete), noch ein Unterschied zwischen ‚wirklich‘ und ‚medial vermittelt‘ auszumachen. Jedes Reden von Medien wäre gegenstandslos. Eben diese Unterscheidungsmöglichkeit spricht Kittler dem Menschen um 1800 ab. „Ihre Alphabetisierung versperrte alle Möglichkeiten, Zeichenbedeutungen zu negieren, bis die Fiktion eine wirkliche, sichtbare Welt nach den Worten entließ“.103 Die Ansicht, Medien würden das Reale selbst speichern, übertragen und verarbeiten, kassiert jene Äußerlichkeit medialer Prozesse, die tatsächlich erst ihre reflexive Kenntlichkeit ermöglicht und mit ihr die Möglichkeit inhaltlicher Negation. Vulgär materialistische Reduktionen schlagen in Neoidealismus um. Kulturelle Daten werden als naturwissenschaftliche entziffert104 und der psychische Apparat als ein komplexes Nachrichtensystem bestimmt.105 Auf der einen Seite Medientechnologie, auf der anderen Neurophysiologie. Zwischen beiden Instanzen kursieren Daten oder Informationen. In der Tat wäre hier die Materialität von Medien, wie von Kittler ursprünglich gefordert, zu betonen. Die alles andere als geklärte Frage, wo Kulturalität abgelegt ist, um sich wie zu reproduzieren, wäre dringend zu stellen. Kittler hat jedoch, der Fragwürdigkeit vorauseilend und etwa Derrida banalisierend, immer schon Antworten parat. So wird beispielsweise der Phonograph zum poststrukturalistischen Gerät. „Die Spur vor jeder Schrift, diese Spur der reinen Differenz, […] ist einfach eine Grammophonnadel“.106 Spuren ohne Subjekt. Schrift ohne Schreiber. Motive poststrukturalistischer Theoriebildung, die sich medientechnisch umdeuten lassen. Versteht sich die Dekonstruktion als Exemplifizierung der Mechanismen der Metaphysik und Absage an ihre Möglichkeit, ist die Konsequenz einer in letzter Instanz eben nicht ursprünglich begründbaren Theorie – wie sie Derrida offensiv vertritt – für Kittler nicht zu ertragen. So thematisiert er etwas 103 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 62 f. 104 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 121. 105 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 352 f. 106 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 54.

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Amorphes, Chaotisches, Reales an allen Medien, das als weißes Rauschen oder Ur-Geräusch gedeutet wird. „Aber um Rauschen und Nachrichten überhaupt zu unterscheiden, muss Reales über technische Kanäle laufen können. Das Medium Buch kennt Druckfehler, aber kein Ur-Geräusch“.107 Durch die Hintertür doch ein reflexives Moment einführend soll unter technischen Bedingungen am Rauschen informationstheoretischer Medienkanäle evident werden, was für Kittler bereits entschieden sein muss, da es dem Gedanken nach nicht zu belegen ist: Der Mensch ist medial ferngesteuert. So wird das Schreiben eines freien Aufsatzes beispielsweise als anonyme, beliebige Funktion gesetzt, um als das Gegenteil dessen, was sein Titel suggeriert zu erscheinen. „Schüler […] schreiben, was ihren Hirnen eingeschrieben ist“.108 Dabei dürfte Kittlers Schreiben nicht weniger ferngelenkt sein. Durch seine Worte wäre das Wispern der Medien selbst zu hören, nicht anders als durch die Hegels die Stimme des Kollektivsubjekts Geist. Technische Medien seien, wie gesagt, zur „Überrollung [… der] Sinne entwickelt worden“,109 und inzwischen in einem „Monismus des Siliziums“ verschaltet.110 Wenn im platonischen Dialog Phaidros die Schriftsprache das Erinnern ersetzt, so ersetzen Computer bei Kittler die Wörter, die noch in einem Bezug zu Sinnlichkeit und Erinnerung, zu einer sichtbaren und hörbaren Welt standen und auf die Kraft des Halluzinierens bei Schreibern und Lesern angewiesen waren.111 Der Ansatz, den menschlichen Organismus nicht einfach als Hardware des Geistes zu begreifen, ist dabei durchaus vielversprechend, diese aber im Gegenzug mit Medientechniken wie dem Buch gleichzusetzen, die inzwischen im Silizium konzentriert seien, ist nicht weniger falsch. Hardware meint Körperlichkeit, auch wo Kittler diese als weißes Rauschen thematisiert. Rauschen sei, so erläutert er, nichts Digitales, sondern habe vielmehr mit dem Analogen, zu dem auch der Körper gehöre, zu tun. Die Natur sei eben nicht digital verfasst.112 Je nach Bedarf werden Begriffe wie real, Wirklichkeit, Ur-Geräusch, Rauschen, Körper, Materialität oder Natur – These und Gegenthese – aufgerufen und 107 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 382. 108 Ebd. S. 398. 109 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 32. 110 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 113. 111 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 20. 112 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 102 f.

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verwurstet, ohne dass sich ein letztlich konsistentes Theoriegebäude rekonstruieren ließe. Gleichwohl deutet Kittler auf etwas: Medien müssten in der wie auch immer erfassten Realität genauso ihren Gegenstand haben, wie an der materiellen Realität ihrer selbst ihren Widerpart. Das Auge sieht den Unterschied im bzw. am Film. Es braucht keinen Beobachter, der das Sehen dieses Auges überwacht. Anders als es Kittler suggeriert, wird es auch in Zukunft keinen Medienstandard geben, der „den Unterschied zwischen Film und Leben […] kassiert“.113 An der Möglichkeit etwas zur Wahrnehmung zu bringen, hängt stets die Äußerlichkeit des Medialen selbst. Es gibt einen Unterschied zwischen Mediiertem und Medium, den Kittler mit seiner Prognose im Prinzip sogar anerkennt, der die Sinne gegen die Überrollung durch eine totale Simulation feit. Optische Medien geben also nicht „das Sichtbare erst zu sehen“,114 sie geben zunächst einmal etwas zu sehen. Wie dieses Etwas die Sichtbarkeit selbst verändert, wo es doch selbst ein Sichtbares ist, wäre zu klären. Sicher aber verschwinden Medien nicht im Prozess der Vermittlung. Sie konstituieren sich als Medium vielmehr erst dadurch, dass sie etwas vermitteln. Konstitution und Verschwinden würden anderenfalls in eins fallen und sich aufheben. Kittler partizipiert an der Idee, die Welt könne nur Illusion, Schein oder Vorstellung sein. Ein Gedanke, der in jener technischen Entwicklung optischer Medien fußen soll, die auch den deutschen Idealismus mit sich führt.115 Linearperspektive, Camera obscura und Laterna magica haben, den Ausführungen in Optische Medien zufolge, jedoch zunächst das cartesianische Subjekt produziert. Sie seien nämlich für den neuzeitlichen Gedanken von der Vorstellung als vermittelnder Instanz zwischen Subjekt und Objekt verantwortlich.116 Wie Descartes klar gemacht habe, zähle „im Cogito der Unterschied von Tag und Nacht, Wachen und Träumen, Wirklichkeit und Halluzination nicht“.117 Das Sein des Objekts ist Vorstellung oder Konstruktion des Subjekts. Es kann folglich nicht entscheiden, ob es sich bei einer Vorstellung um die eines tatsächlichen Objekts oder um eine nur vorgestellte Vorstellung handelt. Die Annahme einer umfassenden medialen Simulation wiederholt das daran anschließende Paradox, dass das Wissen um diese Vorgestelltheit Teil ihrer selbst sein müsste. Dass die Lochkamera mitunter als Bild einer Wahrnehmung dient, der die Welt lediglich Repräsentation ist, steht außer Frage. Auch ist plausibel, dass 113 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 33. 114 Ebd. S. 35, Hervorhebung vom Verf. 115 Vgl. Ebd. S. 123. 116 Vgl. Ebd. S. 91 f. u. 119. 117 Ebd. S. 91 f.

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sich die Metaphorik der Repräsentation mit dem technischen Stand bildgebender Verfahren ändert. Vor der Erfindung des Computers kam auch niemand auf die Idee, das zentrale Nervensystem mit einem Prozessor zu vergleichen. Nichtsdestotrotz variiert jenes Bild nur die sehr viel ältere Vorstellung vom Organismus als Maschine. Der Einfall, die Welt könne der primären Erkenntnis nur Abbild sein, hängt ebenfalls sicher nicht an optischen Medien. Bereits Platons Höhlengleichnis thematisiert Schatten als Bilder der Realität. Dasjenige technische Medium, „das die Vorstellung selber (anstelle eines Wirklichen) vorstellt, heißt“ Kittler zufolge hingegen und zwar „selbstredend Laterna magica. Man schiebt das Bild von etwas, also seine Vorstellung, in den schwarzen Kasten, schickt Licht hindurch und wirft eine Vorstellung dieser Vorstellung, ein Bild dieses Bildes, an die Wand“.118 Eine Art primitiver Diaprojektor wäre demnach die genuine Reflektionsinstanz des menschlichen Erkenntnisvermögens. Der sich in der Laterna magica selbst erblickenden Erkenntnis würde die Indirektheit und Projektivität ihres Weltverhältnisses so ersichtlich. Schließlich verquickt Optische Medien auch noch Heideggers Seinsgeschichte mit der vermeintlich technisch hervorgerufenen Einsicht vom Sein als Vorstellung. Heideggers spätes Denken unternehme nämlich „bekanntlich den Versuch, den Grundbegriff europäischer Philosophie, das Sein, aller Tradition zum Trotz als geschichtlich wandelbar zu denken“.119 Tatsächlich wird der Geschichtlichkeit des Seins bereits in Sein und Zeit ein ganzes Kapitel gewidmet. Eine von Heideggers Thesen laute, heißt es weiter, „dass sich das Sein in der ihm eigenen Seinsgeschichte erst der europäischen Neuzeit in Gestalt der Vorstellung geschickt hat. Die Vorstellung nämlich stellt das Sein als Objekt einem Subjekt zu, das es bei Griechen oder Römern noch gar nicht gegeben hat“.120 Kittlers HeideggerInterpretation zufolge wäre das Sein selber eine Art Medium der Vorstellung, ähnlich wie Einbildungskraft und Fantasie universelle Medien des Dichterischen sein sollen.121 In der Tat vertritt Heidegger einen sprachlich hermeneutischen Weltzugang, der das Dichterische der Wahrheit der Unverborgenheit des Seienden immer wieder betont. Nicht nur zu einfach, sondern schlicht falsch ist es aber, Dichtung „strikt nach Heideggers Seinsgeschichte – zur Tätigkeit von Subjekten an Objekten“,122 erklären zu wollen. Heideggers ganze Philosophie wendet sich – an späterer Stelle wird noch wiederholt darauf eingegangen – gegen eine solche Setzung eines 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 140. 122 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 115 f.

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Subjekts als Letztbezug. Kittler aber schätzt einfache Erklärungen. Die Laterna magica macht das Vorgestellt-sein der Welt einsichtig: „Fertig ist die Seinsgeschichte“.123 Heidegger würde jenen Cartesianismus, gegen den sich Sein und Zeit vehement wendet, nach Kittlers Lesart, in seiner Spätphilosophie rehabilitieren und fortschreiben. Und wirklich argumentiert Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft in diese Richtung. Die Fundamentalontologie sei als „Destruktion aller wissenschaftlichen Grundbegriffe“ angelegt. Heidegger würde „tollkühner noch als Hegel die Grundbegriffe der Natur aus den Grundbegriffen der Kultur herzuleiten“ versuchen.124 Wissenschaftlich meint für Kittler, der sich mit so viel Begeisterung auf harte Fakten beruft, offensichtlich naturwissenschaftlich. Unstreitig steht am Anfang von Sein und Zeit die These, dass „die überlieferte Gleichsetzung von Sein und Gegenwart […] nicht trägt“.125 Der Anspruch der Fundamentalontologie ist es, eine neue Grundlegung der Ontologie zu leisten. Dabei geht es um die Destruktion der Geschichte der abendländischen Ontologie – nicht die wissenschaftlicher Grundbegriffe –126 um überkommene Seinsauffassungen zu überwinden und die existenzialen Seinsstrukturen der menschlichen Existenz offenzulegen. Es trifft zu, dass sich Sein und Zeit im Zuge dessen auch gegen eine „physikalisch-mathematische Dingontologie“ wendet.127 Jenem Autor, der die Geschichte von Sein und Sagen technisch evident machen möchte, ist Heideggers elementares hermeneutisches Anliegen jedoch offenkundig schon im Ansatz zutiefst unplausibel. Kittler ist das Sein naturwissenschaftlicher Tatsachen evident. Entsprechend unterstreicht er Descartes’ Bestimmung der „Dinge und Wesen der Natur als bloße ausgedehnte Maschinen […], wie sie einem ausdehnungslosen Subjektpunkt in dessen Denken und Vorstellen gegenwärtig sind“.128 Fraglos wären sowohl Foucault als auch Derrida – generell weite Teile der neueren u.a. französischen Philosophie – ohne Heidegger nicht denkbar.129 Die Seinsverfassung des Daseins wird in Sein und Zeit explizit als Strukturzusammenhang gedacht und das Verstehen des Daseins als konstitutive ontologische Struktur der Existenz. De Saussures strukturale Semiologie erwies sich als mit diesem Ansatz, schon der Begrifflichkeit nach, hoch kompatibel. Jene Diskursanalysen, die Kittler materialistisch 123 Ebd. S. 91 f. 124 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 225 ff. 125 Ebd. 126 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. § 6, S. 19 ff. 127 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 228 f. 128 Ebd. S. 225 ff. 129 Ebd. S. 220 f.

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zu reformulieren beansprucht, belegen und konkretisieren gewissermaßen Heideggers Konzept einer dichterischen Wahrheit. Foucaults Archäologie weist variierende wahre Ordnungen der Dinge in Archiven nach, während Derridas Dekonstruktion die Fortschreibung der Heideggerschen Destruktion der metaphysischen Tradition in strukturaler Lesart ist. Gleich zu Beginn gliedert sich Aufschreibesysteme an Foucaults Rede vom „‚Kontinuum der Repräsentationen und des Seins‘, diesem ‚durch die Präsenz der Repräsentationen offenbarten Sein‘“, an.130 Ist der Mensch, Überwachen und Strafen zufolge, das Resultat einer Unterwerfung,131 so versieht Kittler diese mit dem Attribut medial und beklagt gleichzeitig, Derrida aufgreifend, den Irrtum, Worte „überhaupt als Signifikanten dem Primat von Signifikaten zu unterstellen“.132 Goethes Dichtung steht für diesen Fehlschluss und mit ihr das System von 1800, so wie das von 1900 durch Nietzsche repräsentiert wird. Dessen Thesen in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne werden in ihrem Positivismus strukturalistisch gewendet übernommen. „Die Sprache (das zeigt schon ihr Plural) ist nicht die Wahrheit und Wahrheit folglich überhaupt nicht. […] Wie Nietzsches Ästhetik geht auch seine Sprachtheorie von Nervenreizen aus. Optische und akustische Reizreaktionen, Bilder und Laute erzeugen die Sprache in ihren zwei Seiten, als Signifikat und Signifikant“.133

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Ist das Seiende Foucault vermittels einer Ordnung der Repräsentationen zugänglich, gerät bei Kittler die Schreibung dieser Ordnung in den Fokus. Das Repräsentierte ist Vorstellung und als solche strukturaler Effekt, während die Ordnung der Repräsentationen als unmittelbares Resultat einer transzendentalen Ordnung der Signifikanten begriffen wird. „Der Nebel von Bedeutung [...] ist der Schein, es gäbe einen Referenten, [...] der Schein, Texte seien hermeneutisch verstehbar und nicht programmiertprogrammierend“.134 Die Ökonomien variierender Signifikantentopologien regeln Texte und deren programmierte Rezeption.135 Vor diesem Hintergrund fragt sich Kittler, wie Sein und Zeit zu der These kommt, dass es cartesianische mathematisierbare Dinge nicht gibt – und schon die Frage ist falsch. Heidegger zeigt lediglich auf, dass jegliche Ontologie in einem ontischen, also praktisch alltäglichen Weltver 130 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 13. 131 Foucault, M. (1994). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S 42. 132 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 18 / Vgl. Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 455 – 457. 133 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 226. 134 Ebd. S. 30. 135 Ebd. S. 229.

2.2 Eine medientechnische Heidegger-Interpretation

hältnis fußt. Die Dinge des Alltags begegnen uns demnach nicht zunächst als Gegenstände wissenschaftlicher Auffassung, sondern als „zuhandenes Zeug“.136 Die mathematische Auslegung ihrer stellt eine Entfremdung dieser ontisch vortheoretischen Beziehung dar. Irrtümlich vermutet Kittler, es gehe Heidegger „um den Nachweis, dass diese alltägliche Ontologie den naturwissenschaftlich-mathematischen Ontologen Descartes schlechthin widerlegt“.137 Die gewöhnliche Praxis stellt noch gar keine eigene Ontologie, sondern deren Basis dar. In Theorie kann nur begegnen, wozu ein distanziert reflexives Verhältnis besteht. Um etwas als etwas wissenschaftlich Vorhandenes zu thematisieren, muss es seine Selbstverständlichkeit unauffälliger Zuhandenheit verlieren. Diese Reflexivität erlangen die Dinge Heidegger zufolge, wenn sie nicht funktionieren oder auch fehlen. Dann werden sie auffällig, aufdringlich oder aufsässig. In der Störung werden die Dinge sozusagen reflexiv. „Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen“.138 Kittler vermutet, im Anschluss an diese Überlegung, Wissenschaftlichkeit bestünde darin Auffälligkeiten und Fehlverhalten zu messen, zu testen und zu mathematisieren. Sein und Zeit zufolge „wäre das ganze Kategoriengebäude, unter das die neuzeitliche mathematische Physik seit Descartes die gesamte Natur gestellt hat, also eine Universalisierung oder Generalisierung alltäglicher Fehlfunktionen oder Fehlanzeigen“.139

Eine These, die Heidegger nicht im Halse steckenbleibt, wie Kittler meint, weil sie schlicht Unfug ist. Reflexivität besagt lediglich, dass die Voraussetzung gegeben ist, damit Gegenstände und ihre Eigenschaften selbst thematisch werden können. Kaputte Hämmer oder abstürzende Computerbetriebssysteme haben nichts Wissenschaftliches an sich. Für Kittler aber meint Vorhandenheit, „streng nach Sein und Zeit“,140 cartesianische Gegenstände – eine Auffassung, gegen die sich Sein und Zeit explizit wendet.141 Dieses Missverständnis erklärt seine Verwirrung: Wäre von Dingen alles Kulturelle subtrahiert, müsse doch Natur und Technik den Rest bilden. Dass Heidegger nicht zu diesem Schluss kommt, scheint für Kittler 136 Vgl. bsp. Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. 137 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 232 f. 138 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 74. 139 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 233. 140 Ebd. 141 Vgl. Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Bsp. S. 211 f.

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2. Kittler

dessen philosophisches Scheitern zu belegen: „Die cartesische res extensa bleibt der Felsen, an dem Heideggers Frühphilosophie gescheitert ist, gerade weil sie […] Kultur und Natur kategorial zusammenzwingen wollte“.142 Sein und Zeit sei hinfällig und die sogenannte Kehre darauf zurückzuführen. „Ab 1935 wird Heidegger nicht mehr behaupten, ‚das Dasein vollziehe‘ etwas ‚mit dem Rundfunk‘, sondern gerade umgekehrt, der Rundfunk vollziehe etwas mit dem Dasein. Nun ist aber das Radio fraglos ein ganz und gar cartesisches Ding. Ohne die Mathematik der Frequenzen und die Physik des Elektromagnetismus könnte ‚die Technik‘ den Menschen, der ja nicht mehr ihr Schöpfer heißt, schlechterdings nicht historisch prägen“.143

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So einfach ist das. Die bloße Behauptung des Radios als kultureller Determinante genügt, um unter Verweis auf das Gerät die Richtigkeit einer positivistischen Weltauslegung zu bestätigen. Die Reflektion auf die eigene Deutung bleibt aus. Der Widerspruch, als Erkenntnis Ergebnis seiner selbst sein zu müssen, widerlegt jenen umfassenden Medien-Determinismus jedoch immanent. Kittler suggeriert es gäbe eine Umkehr oder technologische Wende in der Philosophie Heideggers, die als Eingeständnis zu deuten sei, „dass kein wie auch immer geschichtliches Dasein den Rundfunk hat erfinden können, sondern dass gerade umgekehrt technische Medien wie etwa der Rundfunk über geschichtliche Weisen dazusein bestimmen“.144 Dass Heideggers Kehre etwas völlig anderes meint – und sicher keine Wendung zu irgendeiner Form von Medien-Idealismus benennt – wird noch zu thematisieren sein. Vorerst muss der Hinweis genügen, dass vom Rundfunk sowohl in Sein und Zeit oder in Die Zeit des Weltbildes übereinstimmend im Kontext einer technologischen Verfügbarmachung der Welt angesprochen wird.145 In nicht von der Hand zu weisender Nähe zum Konzept der instrumentellen Vernunft der Kritischen Theorie wird in Die Kehre ein technisches Bewusstsein bemängelt, dem sich die Wahrheit des Seins gerade verweigert. Kittler übergeht all das und behauptet, Heidegger statuiere „einen Vorrang des Objekts […] (um mit Adorno als bürgerlichstem und dümmsten

142 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 233 f. 143 Ebd. S. 232 f. 144 Ebd. S. 237. 145 Vgl. Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 105 / Ders. (2003). Die Zeit des Weltbildes. In: Ders. Holzwege. (S. 75 – 114). Frank­ furt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 95.

2.3 Zur Konstitution des Symbolischen

solcher Heideggerkritiker zu sprechen)“.146 Wie die Kittlerschen Anbiederungen an Heidegger entsprechend zu bewerten wären, sei offen gelassen. Wer sich die Zeit nimmt, die wenigen Seiten von die Technik und die Kehre zu lesen, muss feststellen, dass Kittler die Heideggersche Philosophie mit wahrlosen Assoziationen und Thesen angeht. Das Radio sei jener zufolge „etwas ebenso Riesiges wie Winziges, das Leute unbegriffen überfällt. Die cartesische Bestimmung des Seins, vorgestellt sein oder Repräsentation zu sein, empfängt einen historischen Index, den Descartes nie verkraften hätte können. Anstelle seiner zeitlosen Methode tritt der kulturgeschichtliche Radikalismus, jeder historischen Formation Europas im Nachhinein einen radikal anderen Sinn von Sein zu unterstellen“.147 Heideggers Philosophie hat freilich zu keinem Zeitpunkt seines Denkens das Geringste mit dieser Art Techno-Konstruktivismus oder Medien-Cartesianismus zu tun. 2.3 Zur Konstitution des Symbolischen Kittler sind „Medien anthropologische Aprioris“.148 Und er erläutert am Beispiel der Sprache auch, worin ihre Apriorität bestehen soll. Da, so argumentiert er, Sprache keine menschliche Erfindung sein könne, müssten Menschen „als ihre Haustiere, Opfer, Untertanen entstanden sein“.149 Ein unzulässiger Umkehrschluss, der, die Notwendigkeit jeweiligen Sprechens ignorierend, erneut zu bestätigen meint, was tatsächlich voraussetzt wurde. Aus dem Umstand, dass etwas als Bedingung benennbar ist, lässt sich kein monokausales Determinationsverhältnis folgern. Angefangen mit der Notwendigkeit zu atmen oder zu trinken, ließen sich unzählige Bedingungen der menschlichen Existenz nennen, ohne dass sich sinnvoll ein Opferverhältnis konstruieren ließe. Das aber tut Kittler und zwar wieder auch unter Bezug auf Heidegger. Sprache sei das Medium, das den Menschen zum Menschen mache.150 Dass sich Heidegger etwa in Der Weg zur Sprache, aber auch in Sein und Zeit durch die Bestimmung einer ganzen Reihe von Existenzialien, explizit gegen derartige Simplifizierungen wendet und das Ermöglichende der Sprache betont, wird von Kittler übergangen. 146 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 237. 147 Ebd. 148 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 167. 149 Ebd. S. 167. 150 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 97.

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2. Kittler

Ich und Autor sollen, wie erwähnt, einzig der Illusion, in eigenen Worten zu sprechen, geschuldete, literarische Phänomene sein. Tatsächlich sei die „Welt der Sprachsymbole und Diskursnetze […] ganz einfach eine Welt der Maschinen“.151 Ganz einfach. Natürliche Sprachen seien so etwas wie „ein Steuerprogramm von Leuten“.152 Fragt sich Nietzsche, im zweiten Teil seiner Unzeitgemässen Betrachtungen, die Irrelevanz der Philosophie beklagend, ob „Menschen vielleicht nur Denk-, Schreibund Redemaschinen sind“,153 meint Kittler diese These unter Verweis auf empirische Forschungen abschließend bestätigen zu können. Sprache sei, heißt es in Grammophon, Film, Typewriter, hirnphysiologisch lediglich ein „Regelkreis mechanischer Einrichtungen“ –154 ohne dass erläutert würde, was genau an ihr mechanisch sein soll. Eine Schrift des Mediziners Adolf Kussmaul zu Sprachstörungen, die Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, veranlasst Kittler zu der These, die Sprachlokalisationsforschung gelte einer Schreibmaschine. Kussmauls Hirnphysiologie räume mit der Illusion auf, „Sprache sei mehr ‚als ein durch Uebung erlerntes Spiel mechanischer Einrichtungen‘, die ‚durch Vorstellungen in geordneten Gang versetzt werden, wie man eine Näh-, Rechen-, Schreib- oder Sprachmaschine spielen lassen kann, ohne dass man ihre Construction zu kennen braucht‘. Es gibt eben vor jedem Bewusstsein sensorische und motorische, akustische und optische Sprachteilzentren, die durch Nervenbahnen genauso verschaltet werden wie die Schreibmaschinenfunktionsgrupen durch Hebel und Gestänge“.155

Was als historisches Dokument in kritischer Analyse zweifellos von Interesse wäre, wird von Kittler inhaltlich affirmiert und zur Grundlage seiner eigenen Überlegungen. Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns würden es der Forschung ermöglichen, eingetretene Störungen durchzumessen, „um einzelne Subroutinen der Sprache anatomisch sauber zu 54 151 Kittler, F. (1980). Autorschaft und Liebe. In: Ders. Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. (S. 143 – 173). Paderborn: Schoeningh. S. 158 f. 152 Kittler, F. (1998). Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elekt­ ronischen Kommunikation. In: Faßler, M. / Halbach, W. R. (Hrsg.) Geschichte der Medien. (S. 253 – 267). München: Fink. S. 266. 153 Nietzsche, F. (1994). Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart: Reclam. S. 49. 154 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 280 f. 155 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 305 / Vgl. Ders. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 280.

2.3 Zur Konstitution des Symbolischen

scheiden“.156 Dass der Mensch eine Informationsmaschine ist, muss allerdings auch hier bereits entschieden sein. Bei Kittler wuchern technoide Metaphern, die sowohl auf Sprache als auch den Menschen Anwendung finden. Diskurse sind gleichwohl kaum auf Erregungen der Großhirnrinde einzugrenzen. Sowenig, wie sich aus dem Umstand, dass sich Regionen des Nervensystems bestimmten Funktionen zuordnen lassen, direkt auf die Mechanismen von Sprache schließen lässt. Dem Umstand, dass derartige Bestimmungen selbst jenseits von Sprache kaum möglich sein dürften, wird nicht Rechnung getragen. Dabei ist die physische Verfasstheit des Menschen überhaupt nicht zu leugnen. Sprache wird sich, insofern Kommunikation wesentlich ein soziales Phänomen ist, aber nicht schlüssig auf das Organische reduzieren lassen – schon gar nicht auf Hebel und Gestänge. Mit Fragen wie der, auf welche Weise sich überhaupt Bedeutung in sprachlicher Form konstituiert oder so etwas wie Verstehen möglich sein könnte, hält Kittler sich nicht auf. De Saussures Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft ist ihm ein Algorithmus nicht nur der Sprachanalyse, sondern auch ihrer Synthese. „Anatomisch-technische Rekonstruktionen von Sprache“ seien keine Fiktion mehr.157 Wenn die distinktiven Merkmale eines Sprechens erst einmal ausgemacht seien, könne jeder denkbare Satz generiert werden. Mikroprozessoren müssten lediglich die Phoneme aus dem Reden eines Sprechers extrahieren. „Das analoge Signal wird einfach digitalisiert, durch rekursive Digitalfilter geschickt, auf seine Autokorrelationskoeffizienten hin berechnet und elektronisch gespeichert. […] Im zweiten Schritt können dann beliebige Sprachsynthesen folgen“.158

Sätze, die sich vermutlich nicht anders in einem Perry-Rhodan-Heftchen finden ließen. Tatsächlich wirken Geräte, die Stimmen generieren, etwa PKW-Navigationsgeräte oder entsprechende PC- oder MobilphonAnwendungen, nach wie vor nicht authentisch. Aber selbst wenn das in Zukunft gelingen wird, hätte der glaubwürdige Eindruck eines Sprechens vermittels eines Apparats, nichts mit Sprache zu tun. Eine Simulation erweckt eben nur den Anschein und ist keinesfalls eine Rekonstruktion der Sache selbst. Die Differentialität der de Saussureschen Sprachkonzeption steht explizit in einem Bedingungsverhältnis zu Bedeutsamkeiten, die Maschinen notwendig verwehrt bleiben.

156 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 280 f. 157 Ebd. S. 118. 158 Ebd.

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2. Kittler

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Dass Soziales nicht sinnvoll als „Verschaltung von Hirnzentren“ erklärbar ist, lässt sich auch nicht durch den Hinweis, die Sache bzw. die Verdrahtung der einzelnen Bauelemente sei gleichwohl sehr „komplex“, verbergen. Kittler argumentiert, um 1900 zerfalle Sprache in ihre Einzelteile: „in optische und akustische, sensorische und motorische Nervenreize und erst damit in Signifikant/Signifikat/Referent“.159 Ein Blick in die Geschichte der Semiotik zeigt dem entgegen, dass sich dreistellige Konzeptionen des Sprachzeichens bereits bei Platon und Aristoteles finden, während sich de Saussures Entwurf, auf den Kittler Bezug nimmt, dadurch auszeichnet, so konsequent dualistisch zu sein, dass es in ihm keine Referenten gibt, sondern – wie noch zu zeigen sein wird – nur Vorstellungen. Terminologisch mache es nur auf dem Boden der Psychophysik Sinn, „dass Saussure zur Begründung einer neuen Strukturlinguistik das Sprachzeichen in Gegenstandsvorstellung (Signifikat) und akustisch-sensorielles Bild (Signifikant) zerlegt“.160 In der Tat argumentiert dieser etwa mit der Vorstellung vom Kreislauf der Sprache psychophysikalisch. An keiner Stelle der Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft wird jedoch die Isolierung von Sinnesmodalitäten zur Voraussetzung der strukturalen Zeichenkonzeption. Der Gedanke der arbiträren oder konventionellen Verbindung von Signifikant und Signifikat verbietet es vielmehr, dass nur Akustisches oder Optisches die eine oder andere Funktion übernehmen könnte. De Saussures Beispiel der drei handschriftlichen t, das die These der Differentialität von Zeichen veranschaulicht, bestätigt dies.161 Vielmehr stellte sich die Frage, was eigentlich die Gegenstandsvorstellung des Signifikanten von der des Signifikats unterscheiden sollte und ob sich so etwas wie Referenz nicht in einem Gefüge der Verweisung auflösen müsste. Was Kittler als Medienmaterialisten wirklich fasziniert, ist die Idee reiner „Differenzialität vor jeder Bedeutung: die nackte und rohe Existenz von Signifikanten“.162 Seiner Betrachtung zeigen sich die Prozesse der Sinnstiftung als „Regelsysteme und anonyme Zusammenhänge“.163 Er übersieht freilich, dass Vorstellung und Lautbild bei de Saussure lediglich psychischer Natur sind.164 Was jenem, wie Derrida bemerkt, auch den

159 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 260. 160 Ebd. S. 261. 161 Vgl. Ebd. S. 308 / Vgl. de Saussure, F. (1976). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter & Co. S. 143. 162 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 252. 163 Kittler, F. (1994). Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbre­ chen. In: Maresch, R. (Hrsg.). Am Ende vorbei. (S. 95 – 129). Wien:Turia & Kant. S. 97. 164 de Saussure, F. (1976). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter & Co. S. 76 ff.

2.3 Zur Konstitution des Symbolischen

Vorwurf des Mentalismus eingebracht hat.165 Entkleidet, unmittelbar oder irgendwie sonst roh ist die Materialität der Signifikanten bei de Saussure nirgends. Sie sind überhaupt nicht materiell, sondern unkörperlich. Wiederholt erläutert dieser so oder ähnlich: „die Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz“.166 Der eigentliche Haken der differentiellen Sprachkonzeption ist, dass sie Kriterien für jenen Differenzierungsprozess benötigt, an denen sich Signifikanten formen. Die Vorstellung reiner Differentialität widerspricht dem Gedanken der Differentialität selbst. De Saussure geht von „Laut-Gedanken“ aus, die eine differentielle Ordnung bilden, in deren Differenz zueinander sich jene kategorial herausbilden. Die Überlegung Signifikat und Signifikant seien dabei untrennbar wird durch das Bild, sie seien wie die zwei Seiten eines Blattes, verdeutlicht. Kein Signifikant ohne Signifikat. Bedeutendes und Bedeutung stehen, eingelassen in ein System angrenzender Werte, in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis. Rohe Signifikanten kann es nicht geben. Etwas muss vielmehr Anlass geben, am Materiellen Signifikanz auszumachen. Weder Zeichen noch Differenzialität können somit von Sinn oder Bedeutung abstrahiert noch als präexistent gesetzt werden. Mithin läst sich die Frage nach der Konstitution von Bedeutung auch nicht unter Verweis auf jene beantworten. Genau betrachtet wird vielmehr fraglich, wie sich überhaupt ein differentielles System von Zeichen konstruieren können soll und – auf diesen Umstand wird ebenfalls an späterer Stelle noch eingegangen – de Saussure hat keine Antwort auf diese Frage. Dem Literaturwissenschaftler Kittler erschließt sich Sprache jedoch am ehesten vom geschriebenen Wort her. Beim Schreiben und Lesen romantischer Poesie soll um 1800 eine sichtbare oder hörbare Welt halluziniert worden sein.167 Bereits die Rede von Dichtung als Ersatzsinnlichkeit, die dann wiederum durch Medientechniken ersetzt werde, verweist dabei auf eine primäre Sinnlichkeit, die gleichwohl vehement bestritten wird.168 Die Vorstellung, technische Medien seien eine Simulation von Wahrnehmung, behauptet das zu simulierende Original ebenfalls gleich mit.169 Wie aber soll Fiktion „eine wirkliche, sichtbare Welt nach den Worten“ erzeu-

165 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 111 f. 166 de Saussure, F. (1976). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter & Co. S. 132 – 146. Speziell S. 134, 142 u. 146. 167 Vgl. Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 20. 168 Vgl. Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 297. 169 Vgl. Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsme­ dien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 122.

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2. Kittler

gen können?170 Die Differenzialität sprachlicher Terme allein kann lediglich ihre wechselseitige kategoriale Abgrenzung erklären, nicht aber, wie sich Bedeutung im Sinne bedeutsamer Qualität konstituiert. Was sich Kittler vorstellt, ist, dass Zeichen im Allgemeinen und Buchstaben im Speziellen audiovisuelle Sinnlichkeiten (wieder wird etwas Primäres angenommen) speichern können.171 Wahrgenommenes soll symbolisch irgendwie fixiert werden. In Optische Medien heißt es, Schrift kombinierte die „Speicherung und Übertragung von Information“.172 Im Falle der Schrift heißt es in Grammophon, Film, Typewriter, müssten alle Datenflüsse „den Engpass des Signifikanten passieren“.173 Um 1800 sei, Aufschreibesysteme 1800 1900 zufolge, „Sprache überhaupt bloßer Kanal. Deshalb kann die Dichtung zwischen ‚Bedeutungen des Geistes‘ (Signifikaten) und Welt (Inbegriff aller Referenz) einen Kurzschluss schalten“.174 Sicher können die Signifikanten der Sprache aber weder etwas speichern, noch sind oder wirken sie wie ein Kanal, der irgendetwas überträgt. Die Metaphorik von Speicherung und Kanalisierung ist der Beschreibung von Sprache unangemessen und irreführend. Die Behauptung ihrer Kurzschließung, der die Welt zur Fiktion nach der Realität des Romans macht, bestätigt noch, was zurückgewiesen wird. Wie sollte der Umweg des Sinnlichen über Zeichen, von dem bereits die Rede war, konkret vonstattengehen, wenn ein direkter Weg, auf dem die Leistung der Imagination anhand von Text aufbauen müsste, ausgeschlossen ist? Im Sinne der Kittlerschen Metaphorik, müsste doch etwas gespeichert, kanalisiert und manipuliert werden. Dem Leser romantischer Literatur sollen immerhin „lauter optische Vorstellungen des Gelesenen“ entstanden sein (Was nebenbei die Frage aufwirft, wie es sich etwa mit taktilen oder olfaktorischen Inhalten verhielte. Literarisches beschränkt sich schließlich nicht auf optische oder akustische Gegenstandsvorstellungen.).175 An anderer Stelle wird von Kittler behauptet, dass „Stimmlautzeichen die Speicherung des Klangs […] möglich“ machten.176 Erstmals sei dies 58

170 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.) Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 62 f. 171 Vgl. Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 144 / Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 39 f. 172 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 49. 173 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 12. 174 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 140. 175 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 138 f. 176 Kittler, F. (2007). Mousa oder Litteratura. In: Kittler, F. / Ofak, A. (Hrsg.). Medi­ en vor den Medien. (S. 17 – 30). München: Fink. S. 20.

2.3 Zur Konstitution des Symbolischen

durch das griechische Vokalalphabet, das damit beliebige Manipulationen auf dem Papier erlaubt habe, möglich gewesen.177 Was ihm „offensichtlich“ erscheint, wird unter dem Gesichtspunkt der Materialität von Zeichen mehr als zweifelhaft. Wie sollten auch Farbe auf Papier oder Pixel auf einem Monitor Klang speichern? Schrift kann sich mit nichts Akustischem anreichern und auch sonst nichts im eigentlichen Sinne übertragen. Änderungen im und am Symbolischen setzen vielmehr mediale Materialitäten voraus, die schon deshalb keine wie auch immer gearteten unmittelbaren Sinnestäuschungen produzieren dürften, weil das zu Manipulierende in der täuschenden Unmittelbarkeit verschwände und sich so der Möglichkeit seiner Gestaltung und letztlich auch Lektüre entzöge. Die Assoziation von Schrift mit Lauten wird vom Leser und nicht vom Medium geleistet. Woher nun speisen sich die Fiktionen, die eine Welt nach den Worten erschließt? Kittler verweist auf das Universalmedium Einbildungskraft. Die „Einbildungskraft ist eben der wunderbare Sinn,“ heißt es in Anschluss an Novalis, „der uns alle Sinne ersetzen kann“.178 Bedauerlicherweise bleibt die Anatomie dieses „wunderbaren Sinns“, der der herkömmlichen Sinnlichkeit hinzuzukommen scheint, sie sogar überflügelt, dominiert und letztlich ersetzt, in Aufschreibesysteme 1800 1900 völlig unerläutert.179 Für die Kittlersche Konzeption ist dieser Umstand verheerend, da das Vermögen der Einbildungskraft schließlich medientechnologisch beerbt werden soll und folglich mit ihrer Plausibilität die des gesamten Ansatzes steht und fällt.180 „Um 1900 führen Film und Grammophon [… so wird erörtert] dazu, das Wort auch theoretisch zu isolieren und seine einstigen Effekte auf Einbildungskraft den Medien zu überlassen“.181 Es wird bezüglich des Films spekuliert, „dass das Vermögen, Bildersequenzen zu sehen, seinerseits aus dem historisch erworbenen Vermögen […], Buchstabensequenzen nicht als solchen, sondern als imaginären Bildersequenzen zu folgen“, resultiert.182 Leser hätten, heißt es in Optische Medien, davon dass sie lesen, im vorausgehenden Jahrhundert gar nichts gemerkt. Sie seien in einen „drogierten oder halluzinatorischen Zustand“ geraten, der ihnen

177 Vgl. Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.). Phi­ losophien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 58. 178 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 146. 179 Die von Kittler angeführte Dynamik ödipaler Bedürfnisse erklärt nicht, wie beim Lesen Eindrücke entstehen und auch die literarischen Selbstbeschrei­ bungen des 18. Jahrhunderts sind nicht überzeugend. 180 Vgl. etwa: Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 302. 181 Ebd. 182 Kittler, F. (2002). Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S. 141.

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2. Kittler

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optische Ekstasen beschert habe.183 Und auch als philosophische sei die Einbildungskraft medienarchäologisch „sehr einfach“ als Fibeleffekt zu rekonstruieren, also selbst literarische Nebenwirkung.184 Tatsächlich legt das behauptete Delirium des Lesens die angeführte Kraft der Einbildung als wunderbares Scharnier einer – im Sinne des Wortes – gegenstandslosen Deduktion offen und wirft das Rätsel, wie sich Symbolisches konstituiert und erschließt, um so nachdrücklicher auf. Kittler selbst thematisiert die Fiktion als von Brüchen durchzogenen Prozess, wenn er feststellt, dass „die Buchstaben – […] nach ihrer Aristotelischen Definition – Zeichen der Laute und die Laute Zeichen für Widerfahrnisse einer Seele sind. Dann“, so schließt er, „schlagen Manipulationen in einem Code auf die Seele von Lesern oder Hörern durch, dann ist das Maximum ästhetischer Machbarkeit erreicht“.185 Buchstaben/Laute, Laute/ Widerfahrnisse. Die Stimme mit Aristoteles, als Stoff des lógos zu bestimmen, ist plausibel – liefe, in jenem Umkehrschluss, der „den lógos, die Form der Stimme, [als] ihren Sinn“ benennt, aber auf eine Tautologie heraus,186 wenn nicht die Widerfahrnisse der Seele jenem stimmlichen Material erst seine Form verliehen. Anderenfalls wäre Sinn der Effekt einer Form, die er doch erst erzeugen soll. Die Möglichkeit, „dass bloße Geräusche wahrgenommen werden“ können187 – wie Kittler an Heidegger gewandt (der dies tatsächlich überhaupt nicht leugnet, sondern eine solche Auffassung lediglich als nicht natürlich begreift) meint –, widerlegt nicht, dass diese zunächst als signifikant aufgefasst werden, sondern streicht es heraus. Nach seinen eigenen Worten ist der „Wunsch, Reales (eine Stimmphysiologie) auf Symbolisches und Symbolisches (eine artikulierte Rede) auf Imaginäres zu reduzieren“ ein unmöglicher.188 Die Rede vom „Durchschlagen“ auf die Seele übergeht folglich, dass die Brüche, die, so wird immer deutlicher, im Symbolischen selbst verlaufen, überbrückt werden müssten. Wer eine fremde Sprache hört, vernimmt nur Sprechgeräusch. Dies zu belegen, dazu braucht es keiner phonographischen Aufnahme. Wer eine ihr oder ihm fremde Sprache geschrieben sieht, vernimmt keine Klänge und kann sie auch sonst nicht unmittelbar dechiffrieren. Etwas muss die Zeichen dem 183 Ebd. S. 142 u. 144 f. 184 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 141. 185 Kittler, F. (1989). Fiktion und Simulation. In: Ars Electronica (Hrsg.). Philoso­ phien der neuen Technologie. (S. 57 – 80). Berlin: Merve. S. 60. 186 Kittler, F. (2007). Mousa oder Litteratura. In: Kittler, F. / Ofak, A. (Hrsg.). Medi­ en vor den Medien. (S. 17 – 30). München: Fink. S. 28. 187 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 124. 188 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 129.

2.4 Medien und Bewusstsein

nach aus ihrem Hintergrund, der zurecht als nicht speicherbar charakterisiert wird, überhaupt erst hervortreten lassen. Im Kontext seines Schreibens über Nietzsche und die Schreibmaschine heißt es in Aufschreibesysteme 1800 1900, die „Materialität von Signifikanten ruht einem Chaos auf, das sie differenziell definiert“.189 Ob dieses Chaos als Natur, als eines von Umwelteindrücken oder informationstheoretisches Rauschen gedacht ist, wird nicht ersichtlich. Begriffe wie real, Rauschen, Materialität oder Natur finden sich, wie erwähnt, in freiem Spiel. Kittler scheint aber doch zu ahnen, dass „kulturelle Daten“, Zeichen, im Zusammenhang einer Ordnung der sinnlichen Wahrnehmungen stehen.190 ‚Order from noise‘ setzt Elemente voraus, in deren rekursiven Zusammenspiel Emergenz erst erklärbar wird. Beliebige Materialitäten erschließen sich nicht einfach als signifikant und selbst für Kittler dürfte das Rauschen der Nachrichtenkanäle keine Information generieren. 2.4 Medien und Bewusstsein Das hergebrachte Denken der Identität wird durch eines der Negativität, das den medialen Brüchen oder Differenzen, die bei Kittler immer wieder hervortreten, Rechnung trägt, ersetzt werden müssen. Im Rahmen seiner Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft ergeben sich diesbezüglich unfreiwillige Hinweise, wenn sich in der fünften Vorlesung dem Verhältnis von Kultur und Natur bei Hegel gewidmet wird. Hier heißt es: „Kein Stein weiß, dass ich ihn weiß; ich dagegen kann erstens reflexiv wissen, dass ich den Stein weiß, zweitens aber auch dialektisch und das heißt seit Hegel immer schmerzlich erfahren, dass das Wissen, das ich vom Stein bislang zu haben glaubte, eine Täuschung oder bestenfalls ein Phänomen gewesen ist. […] Genau diese nicht bei Hegel, sondern erst bei Heidegger bedachte Asymmetrie zwischen Offenem und Verschlossenem ist es nun aber, die Hegels elementaren Trick ermöglicht: Als Gewusstes, das sich selber nicht weiß, kann statt der Natur genauso gut die Kultur eintreten“.191

Woraus das unglückliche Bewusstsein bei Hegel resultiert, thematisiert Kittler so wenig wie die Frage, was sein eigenes reflexives Wissen ermöglicht. Ihm zufolge hat Hegel schlicht nicht bedacht, dass das Substantielle 189 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 233 f. 190 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 119 – 132). Essen: Die Blaue Eule. S. 121. 191 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 95 f.

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der Natur wesentlich verschlossen ist und sich unweigerlich in einer Asymmetrie zum Offenen der Kultur befindet, als er es trickreich in ein sprachliches Kategoriensystemen einordnete. Dass die Antinomie von Kultur und Natur bereits eine hoch problematische ist, hätte Kittler sowohl bei Adorno192 oder natürlich aus Derridas Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss lernen können.193 Stattdessen behauptet er eine Entsprechung von Sprache und Kultur sowie Natur und Mathematik. Als sei Berechenbarkeit dem ansich-Seienden, dem Stein – um beim Beispiel zu bleiben – immanent. Als ob naturwissenschaftliches Wissen der Reflexivität seines gewusst-Seins enthoben sei. Dass seinem Denken ein, mit Heidegger vorgängiger, sehr wohl kultureller, eben mathematisch positivistischer Entwurf von Natur zugrunde liegt, ist Kittlers Reflektion entzogen. Anders als Begriffe würden Zahlen, nichts Geistiges sondern abstrakte quantifizierte Qualitäten erschließen.194 Entgegen seiner Intention hebt er mit dieser Feststellung hervor, dass der naturwissenschaftlichen Quantifizierung ein qualitatives Moment enthalten ist, das sie im Sinne einer negativen Dialektik mit dem Begriff teilt. „Keine quantifizierte Einsicht, die nicht ihren Sinn, ihren terminus ad quem erst in der Rückübersetzung in Qualitatives empfinge“,195 heißt es bei Adorno hierzu. Kittler entgeht nicht nur, dass Mathematik als angewandte die identifizierende kategoriale Zurichtung dessen, was sie berechnet, bedingt, sondern auch – was angesichts des Vorwurfs der Materialitätsvergessenheit gegenüber Foucaults erstaunlich ist –, dass ihre operative Ausübung an mediale Schriftgebilde, Zeichen, Marken oder Grapheme gebunden ist. Keineswegs ist sie oder irgendeine Wissenschaft sonst der Ökonomie der Foucaultschen Archive enthoben. Vielmehr unterliegt auch die Produktivität naturwissenschaftlichen Wissens einer Reflexivität implizierenden Struktur von Bezugnahme und Infragestellung. Das genannte Verhältnis von Offenem und Verschlossenem, von Welt und Erde entfaltet Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes: 62

„Der Stein lastet und bekundet seine Schwere. Aber während diese uns entgegenlastet, versagt sie sich zugleich jedem Eindringen in sie. Versuchen wir solches, indem wir den Fels zerschlagen, dann zeigt er in seinen Stücken doch nie ein Inneres und Geöffnetes. Sogleich hat 192 Vgl. Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 353. 193 Vgl. Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 123, 125 u. 182 ff. Derrida, J. (2006). Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders. Die Schrift und die Differenz. (S. 422 – 442). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 428 ff. 194 Vgl. Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Mün­ chen: Fink. S. 99. 195 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 54.

2.4 Medien und Bewusstsein

sich der Stein wieder in das selbe Dumpfe des Lastens und des Massigen seiner Stücke zurückgezogen. Versuchen wir, dieses auf anderem Wege zu fassen, indem wir den Stein auf die Waage legen, dann bringen wir die Schwere nur in die Berechnung eines Gewichtes. Diese vielleicht sehr genaue Bestimmung des Steins bleibt eine Zahl, aber das Lasten hat sich uns entzogen. Die Farbe leuchtet auf und will nur leuchten. Wenn wir sie verständig messend in Schwingungszahlen zerlegen, ist sie fort. Sie zeigt sich nur, wenn sie unentborgen und unerklärt bleibt. Die Erde lässt so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen. Sie lässt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen“.196

Kittlers Auseinandersetzung mit dieser Passage in seiner Kulturgeschichte ist wenig ergiebig. Er bestätigt – betont, wie er sagt – lediglich, dass ein Fels seiner messtechnischen Zerlegung phänomenal entzogen bleibt. Das Phänomen ist ihm schließlich (siehe unglückliches Bewusstsein) Täuschung. Dass die im Weiteren mit Bezug auf Heidegger aufgemachte Differenz von Dingen und Erde, jenem, der in unmittelbarem Anschluss an das genannte Zitat von den Dingen der Erde spricht, diametral zuwiderläuft, gründet in einem tiefen Missverstehen. Die Erde, von der Heidegger spricht, deutet Kittler in einer früheren Vorlesung, die sich demselben Zitat widmet, als „Mutter Erde“ und setzt sie mit einer Natur gleich, die ihren „Feind“ Sein und Zeit zufolge im Numerischen habe.197 Die simple Gegenübersetzung von oder der „Riss“ zwischen Natur und Kultur wird der Dialektik von Welt und Erde, wie sie Heidegger entwickelt – die ebenfalls an späterer Stelle noch ausgiebig erörtert wird – jedoch nicht gerecht. Erst ein Verstehen, das versteht, dass es versteht, ist im eigentlichen Sinne eines. Tatsächlich hat jedes Verstehen zunächst einmal immer schon verstanden und kann erst aus diesem Verstanden haben auf sich Bezug nehmen. Erst in diesem Metabezug ist eine, ihre eigene Bedingtheit bedenkende und so vernünftige Vernunft denkbar. Kittlers Vorwurf an die Autoren der Dialektik der Aufklärung läuft darauf hinaus, in Ermangelung jeden Sinns für Codes und Programme, auf mediale Inhalte als Waren her 196 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 33. Vgl. Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Es­ sen: Die Blaue Eule. S. 126; sowie: Kittler, F. Eine Kulturgeschichte der Kul­ turwissenschaft. (München: Fink, 2000). S. 242 f. 197 Kittler, F. (1996). Farben und/oder Maschinen denken. In: Hamme, E. (Hrsg.). Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. (S. 19 – 32). Essen: Die Blaue Eule. S. 126 ff.

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einzufallen.198 So würde „das Kulturindustrie-Kapitel die Erkenntnis von Vernunft als universaler Maschine so gründlich und das heißt so semantikverliebt wieder“ verschenken.199 Verstehen wird in Aufschreibesysteme mit Lesen gleichgesetzt, das als Mittel und Zweck von Dichtung um 1800 habe eingeübt werden müssen.200 Wer, wie ehemals ein Kopist, Analphabet ist, so stellt sich Kittler vor, sei lediglich mit der „unleugbaren Materialität der Zeichen“ konfrontiert, höre keine (innere) Stimme und könne folglich nicht hermeneutisch lesen.201 Was nicht mehr sagt, als dass wer nicht lesen kann, nicht lesen kann. Mütterliche Leseübungen erst hätten den erstaunlichen Effekt gehabt, „Kindern überhaupt keine Grapheme im Sehfeld […], sondern ideale Laute im Hörfeld“ beizubringen. Sie übersetzen Schriftlichkeit unmittelbar in Laute und Verstehen. Der Umstand, dass bereits die gesprochene Rede oder sonstige noch nicht einmal notwendig menschliche Äußerungen oder Gegebenheiten irgendwie verstanden und somit interpretiert werden, bleibt genauso außen vor wie die Frage, ob es plausibel ist, dass erst Lesen das Hören einer inneren Stimme konstituiert. Mutters „Stimme ersetzt und reproduziert die Buchstaben wie Natur die Künstlichkeit. […] Es ist diese Medienverschiebung, die hermeneutisches Lesen ermöglicht“.202 Kittler verkennt, dass Textlektüren an die Gegenwart und nicht das Nicht-mehr-Vorhandensein der zu entziffernden Grapheme gebunden sind. Bei ihm wird Verstehen zu einem Vorstellen, das vermittels Einbildungskraft Bilder halluziniert. Hermeneutik als Effekt der Alphabetisierung sei eine „phantasmagorische Medialität“, die jegliche Materialität supplementiere. Verstehen selbst wird zum – nicht vom Vermögen der Einbildungskraft zu unterscheidenden – Medium, das auf Grund seiner drogenartigen Wirkung verschleiere, dass es in Wirklichkeit ein positiver technischer Effekte sei.203 Dass sich dieses System des Verstehens über den preußischen Beamtenstaat, der als Diskurskontrolleur auftritt, indem er Mütter generierende Mädchenschulen installiert, reproduzieren soll, ist lediglich ein chauvinistisches Detail.204 Mit dem Verlust der Einbildungs 198 Vgl. Kittler, F. (1995). Copyright 1944 by Social Studies Association, Inc. In: Weigel, S. (Hrsg.). Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. (S. 185 – 193). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. S. 186. 199 Ebd. S. 189. 200 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 29. 201 Ebd. S. 126. 202 Ebd. S. 117. Geleistet soll diese Verschiebung werden, durch eine spezifische erotische Qualität der mütterlichen Stimme (was wohl mehr über die psy­ chische Verfassung des Autor ahnen lässt, als man wissen möchte). 203 Ebd. S. 142. 204 Ebd. S. 76.

2.4 Medien und Bewusstsein

kraft an technische Medien komme Sprache um 1900 ohnehin auch ihre Funktion als Kanal wieder abhanden. Sie tritt als zu deutendes Medium hervor und verliert – im Sinne von Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne – ihre Wahrheitsfähigkeit.205 Da die hermeneutische Interpretation als Übersetzung, Verschiebung oder „Medientransposition“ gedacht wird, ist auch mediale Unübersetzbarkeit als hergestellt behauptet. Audiovisuelle Medien funktionieren bei ihm nach wie vor kanalisierend. Kittler meint, wie bereits bemängelt, medial Reproduziertes sei Deutung, Verstehen oder Interpretation irgendwie enthoben. Als wolle er die These vom Umschlagen der Aufklärung in Mythos mit Nachdruck bestätigen, schreibt Kittler: „[Z]wischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied“.206 Um jedoch erklären zu können, was von nun an bei der Lektüre von Texten oder etwa psychoanalytischen Interpretationen geschieht, installiert er eine Differenz zwischen Deutung und Verstehen. „Deutungstechniken, die Texte als Scharaden oder Träume als Bilderrätsel behandeln, sind keine Hermeneutik. Sie sind es nicht, weil sie nicht übersetzen“.207 Fällt Verstehen mit der Vorstellung halluzinierter Bilder zusammen, erschließt sich der Deutung umgekehrt unmittelbar die sinnlose Materialität der Diskurse. Deutungen in diesem Sinne wären stets metadiskursiv. Dass ein solcher Perspektivwechsel als Deutung des Verstehens gegenstandslos wäre, wenn nicht das Primat des Verstehens wirksam bliebe, geht in Kittlers Schema epochaler Brüche unter. Um 1800 werden Ordnungen des Symbolischen beziehungsweise Ordnungen der Dinge verstanden, um 1900 wird gedeutet. Dabei wäre der Ansatz, Metadiskursivität anhand der Materialität von Medien zu plausibilisieren, vielversprechend. Derartige Bezüge bleiben jedoch stets selbst ein Verstehen und setzen ein zu verstehendes Verstehen voraus. Die Möglichkeit, Medialität als Dialektik von Offenem und Verschlossenem zu entwickeln, wird von Kittler verspielt, indem er annimmt, Medien wie der Film würden, für Bewusstsein und Sprache unzugänglich, den neurologischen Datenfluss selber implementieren.208 Selbstbewusstsein und Autorschaft sollen gleichermaßen um 1800 aufkommende Phantasmen sein. Unter Verweis auf Derrida, demzufolge Selbstbewusstsein auf dem Trug gründe, „das eigene Sprechen zu hören“, deutet er Autorschaft als die Illusion, „das eigene Schreiben zu lesen und

205 Kittler, F. (2000). Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. S. 160. 206 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 276. 207 Ebd. S. 331. 208 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 240. Die selbe Formulierung findet sich auch in: Kittler, F. (1993). Draculas Vermächtnis. Leipzig: Reclam. S. 103.

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das eigene Lesen zu schreiben“.209 Die reflexive Struktur des sich-Selbst ist ihm eine mechanische Einrichtung, eine kybernetische Rückkopplungsschleife, die sich um 1900 medientechnisch „auftrennt“ und das Individuum demontiert.210 Tatsächlich ist Derrida die Struktur des sich-sprechenHörens keinesfalls ein simples Hirngespinst. Trügerisch ist Die Stimme und das Phänomen zufolge nicht der Umstand selbst, diesen setzt seine Analyse voraus, sondern der Eindruck der phänomenal unmittelbaren Selbstgegenwart im sich-Hören. In Grammophon, Film, Typewriter hingegen ersetzt Kittler Geist, Denken und Bewusstsein im Zuge einer Rhetorik der Programmierung durch die Information und Schaltungen eines medientechnischen Unbewussten. 211 „Und dass das Symbolische die Welt der Maschine heißt, kassiert den Wahn des sogenannten Menschen, durch eine ‚Eigenschaft‘ namens ‚Bewusstsein‘ anders und mehr als ‚Rechenmaschinen‘ zu sein. Denn beide, Leute wie Computer, sind‚ den Appellen des Signifikanten preisgegeben‘, beide, heißt das, laufen nach Programm“.212

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Die Analogie, die Kittler diesbezüglich zwischen Gehirn und Phonograph aufmacht, bringt ihn dazu, Bewusstsein als einen im Gehirn zu verortenden Mechanismus aufzufassen, der „noch weniger erstaunlich ist, als es scheint“. Bewusste Empfindungen und Gedanken kommen ihm einer selbstreferentiellen Bewegung gleich, die der Idee eines Phonographen, der selbst hören kann, entspricht. „Unter diesem Gesichtspunkt wäre es weder allzu ungenau noch allzu befremdlich, das Gehirn als einen unendlich vervollkommneten Phonographen zu definieren – einen bewussten Phonographen“.213 Eine Überlegung von herausragender Unsinnigkeit, da die Frage nach der Struktur oder den Merkmalen eines bewussten Selbstbezugs überhaupt nicht angetastet wird. Ist das, was die „Bewegung“ des Bewusstseins – das bei Kittler stets vorausgesetzt wird – ermöglicht, ein „Geheimnis“ wie er sagt, so ist bereits die Behauptung, diese gehe im Gehirn vonstatten, Willkür. Mit dem selben Recht, mit dem Kittler sich einen bewussten Phonographen fantasiert, ließe sich ein sich selbstgegenwärtiger 209 Kittler, F. (1980). Autorschaft und Liebe. In: Ders. Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. (S. 143 – 173). Paderborn: Schoeningh S. 152. 210 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 39. 211 Vgl. Friedrich, L. (2004). Die Rhetorik der Programmierung. Kittler, de Man und die Allegorie der Zahl. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwis­ senschaft und Geistesgeschichte. S. 499 – 532. 212 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 30. 213 Ebd. S. 53 f.

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Hefeteig erdichten, der immerhin wissen müsste, bei welcher Temperatur er aufzugehen hat. Bewusstsein ist Kittler „nur die imaginäre Innenansicht medialer Standards“.214 Sein Denken ist nicht zuletzt insofern eines der Identität, als er die Möglichkeit, sich als Individuum oder Selbstbewusstsein zu begreifen auf in Archiven abgelegte Narrationen zurückführt. „Seine Positivität“ heißt es in Autorschaft und Liebe „hat das Ich also einzig im Literarischen“.215 Das Vermögen zur Reflektion steht fraglos in einem Zusammenhang zum (sich)-sprechen-hören-Können, zum (sein)-Schreibenlesen-Können. Es ist jedoch kaum Effekt von „Rückkopplungsschaltungen“, in denen sich das Selbst als Selbstbewusstsein identifiziert, sondern müsste in einer Reflexivität des Medialen gründen – unter anderem in dem Umstand zwar Urheber einer Äußerung, aber eben nicht mit ihr identisch zu sein. Für Kittler sind Subjekte hingegen programmierte sprechende Automaten,216 die sich anhand poetischer Anschauungen selbst halluzinieren.217 Die Anbindung an eine ursprünglich materialistische Ausrichtung der Argumentation verliert sich in simplifizierenden Spekulationen.

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214 Kittler, F. (1993). Draculas Vermächtnis. Leipzig: Reclam. S. 61. 215 Kittler, F. (1980). Autorschaft und Liebe. In: Ders. Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. (S. 143 – 173). Paderborn: Schoeningh. S. 158. 216 Kittler, F. (2003). Aufschreibesysteme 1800 1900. München: Fink. S. 62. 217 Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 247.

3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit Die soweit geleistete Lektüre hat vor allem ein ganzes Bündel an Themen und Problemstellungen aufgerufen, dem sich mit Kittler nicht fruchtbar weiter annähern lässt. Es sind die verschiedenen Sackgassen des Kittlerschen Entwurfs, die dazu dienen, eine ganze Reihe von Fragen erneut zu stellen. Die Rede davon, es sei von einem Bündel auszugehen, orientiert sich dabei lose an Derrida,1 der mit jenem Begriff angedeutet sehen möchte, dass die zu berücksichtigenden Motive einem Geflecht ineinander verwobener, sich überkreuzender Linienführungen gleichen, das es nicht erlaubt, einen einfachen Ausgangspunkt auszumachen. Die Frage etwa, wie sich Symbolisches erschließt, wird sich nicht sinnvoll von der trennen lassen, wie sich Sinn oder Bedeutung konstituieren. Die Schwierigkeit, dass sich die Lesbarkeit von Medien irgendwie ermöglichen muss, ist weder von der Frage nach ihrer Materialität noch von der nach der Geltung von Wahrnehmung zu trennen. Wird die mediale Vermitteltheit oder zumindest Beeinflussung des menschlichen Weltverhältnisses angenommen, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Status von Wissen und Verstehen, von Sinnlichkeit und Bewusstsein. Entsprechend ist von einem Bedingungsgefüge unterschiedlicher Fragestellungen auszugehen, das den Hintergrund der folgenden Erörterungen darstellt. Auf Kittler soll dabei kein weiterer Bezug genommen werden. Trotzdem gibt jener, nicht nur durch die von ihm aufgeworfene Problemstellungen, sondern in gewisser Weise auch durch die Reihe an Autoren, auf die er verschiedentlich rekurriert, die Richtung vor. Wie angekündigt, gilt die weitere Auseinandersetzung dabei Heidegger, Derrida, Luhmann und Adorno. Der Gedanke ist zunächst der, dass es die mitunter behauptete Medienvergessenheit der Philosophie so nicht gibt, zumindest nicht, wenn sie statt am Begriff des Mediums am Motiv der Vermittlung festgemacht wird. Wenn, dann ist von einer Materialitätsvergessenheit dem gegenüber zu sprechen, was jeweils als vermittelnd angesetzt wird. Bekanntermaßen 1 Vgl. Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 32.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

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wimmelt es in der Systemtheorie tatsächlich nur so von Medien und auch Derrida schreibt der Ökonomie der Schrift explizit mediale Eigenschaften zu. Aber auch bei Adorno nimmt natürlich das von Hegel übernommene „Medium des Begriffs“ eine zentrale Stellung ein,2 und sogar in Sein und Zeit wendet Heidegger im Kontext einer ersten Annäherung an die „Rede“ – wenn auch nur in Klammern – den Begriff des Mediums an.3 Während die Fundamentalontologie ihren Ansatz jenseits der Dualität von Subjekt und Objekt sucht, erscheint der Verstehensbezug des Daseins zum Seienden gleichwohl, nicht etwa durch Zeitlichkeit, sondern durch das Medium der Sprache vermittelt. Der Dekonstruktion rekonstruiert sich die Gegenwart im Ganzen ihrer differentiellen Vermittlung unterworfen und so als ursprünglich nicht-präsent. Die Konzeption Luhmanns staffelt sich anhand der Medien „Sinn“, „Sprache“ sowie „symbolische Generalisierung“, um die Gesamtheit unseres Weltwissens als massenmediales Konstrukt auszuweisen. Schließlich ist auch der Negativen Dialektik, im Motiv der wechselseitigen Negativität von Begriffenem und Begriff oder Gesellschaft und Individuum, Vermittlung immanent. Bevor im folgenden Schritt aufgezeigt werden soll, dass sich jede dieser Konzeptionen in Selbstwidersprüche verwickelt, ist es zunächst notwendig jeden einzelnen Ansatz noch einmal knapp zu rekapitulieren, um anzudeuten wie Vermittlung jeweils konzipiert wird. Vorteilhaft ist dies nicht nur, um in Erinnerung zu rufen, wie die jeweiligen Autoren ansetzen, sondern auch um zu sehen, wie sie an dieser Stelle aufgefasst und ausgelegt werden. Natürlich lässt sich keiner der referierten Ansätze auf einen einzigen Gedanken bringen, noch kann ihre Wiedergabe beanspruchen, auch nur annähernd vollständig zu sein. Ebenfalls werden sich die noch folgenden Ausführungen nicht auf die Übernahme jeweils eines zentralen Motivs bringen lassen. Trotzdem ist es möglich, eine jeweils grundlegende Figur herauszugreifen und zu betonen, die für den Fortgang alles Weiteren zentral sein wird: Sein ist als Bezug aus der Indifferenz von Subjekt und Objekt zu rekonstruieren. Die Frage „Was ist ein Zeichen?“ destabilisiert den hergebrachten Zeichenbegriff. Ohne Sinn läuft nichts. Negativität ist jeglicher Reflektion unabdingbar. Die einzelnen Punkte werden freilich noch zu diskutieren sein. Vorerst soll es aber darum gehen, aufzuzeigen, dass jeder der Autoren in konzeptionelle Widersprüchlichkeiten gerät, die sich als Selbstbegründungsdefizit des entsprechenden Ansatzes ausmachen lassen. Die Theorie sieht sich mit der Forderung konfrontiert, sich anhand ihrer eigenen Prämissen prüfen zu müssen. Aufgrund welcher Umstände kann sich Verstehen verständlich sein – das ist eine der zentralen Fragen in Sein und Zeit. Und die Antwort lau 2 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 49. 3 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 32.

3.1 Heidegger – Die sprachliche Verfassung des Seins-Bezuges

tet: durch die Störung innerweltlicher Bedeutungsbezüge sowie durch die Angst, die das Dasein sich als Sorge kenntlich werden lässt. Derrida hingegen verzichtet, insofern ein solches unter allen Umständen in den Text der Metaphysik eingelassen wäre, auf den Versuch, ein reflexives Moment herzuleiten, um stattdessen zu argumentieren, die Schrift würde sich artikulieren. Auch die Systemtheorie stellt die Möglichkeit der Bestimmung eines Letztbezugs, der die eigenen Prämissen absichern könnte, infrage. Ihr steht nur die paradoxe Struktur unterschiedlicher Ebenen der Beobachtung zur Verfügung. Die Negative Dialektik gerät schließlich in den Widerspruch einer Universalität der Vermittlung, die dennoch nicht absolut zu setzen sei. Dabei zeichnet die Kritik, Adorno habe die materielle Bedingtheit jeglicher Vermittlung selbst nicht konsequent bedacht, die noch ausstehenden Überlegungen vor. 3.1 Heidegger – Die sprachliche Verfassung des Seins-Bezuges Der Ausgangspunkt des Heideggerschen Denkens, so wie in Sein und Zeit entworfen, ist es, Sein nicht vom Seienden her zu begreifen, sondern als Bezug. Die Dinge und Menschen der Welt sind zwar von ihnen her, aber nicht an sich gegeben. Was immer ist, ist in seinem Sein für jeweils uns in einem Seinsverhältnis zugänglich. Zwischen Sein und Seiendem ist eine ontologische Differenz zu konstatieren. Sein ist das Sein von etwas für ein Dasein, das wir je selbst sind. Der Seinsbegriff meint, ohne übermäßig zu vereinfachen, jenen Bezug, in dem Seiendes, Andere und auch wir uns je selbst gegeben sind. Sein hat insofern etwas mit dem Anwesen des Anwesenden zu tun. Dieses fasst Heidegger als ein Verstehen. In ihm ist, was immer zugänglich ist, „als“ dieses oder jenes gegeben. Das bedeutet nicht, so erläutert er, „dass Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert“.4 Sein aber gibt es nur, solange es die Möglichkeit von Seinsverständnis gibt. Existiert Dasein nicht, kann weder gesagt werden, dass Seiendes ist, noch, dass es nicht ist. Entscheidend ist dabei, dass der Mensch nicht als ein Subjekt, das überdies noch ein Seinsverhältnis zur Welt, zu Objekten, hat, zu denken ist. Er hat vielmehr eine Beziehung zur Welt, weil Dasein von vorneherein In-der-Welt-sein ist. Sein darf daher nicht, wie es in Über den Humanismus heißt, als „ein Produkt des Menschen“ missverstanden werden,5 vielmehr kommt das Dasein aus seinem In-der-Welt-sein auf sich zurück.

4 Ebd. S. 212. 5 Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klos­ termann. S. 28.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

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Heideggers Anliegen besteht somit darin, nicht aus der Differenz von Subjekt und Objekt zu denken, sondern aus ihrer vorgängigen Bezüglichkeit. Ein reines Subjekt ohne Welt kann es nicht geben. Wo ein solches angenommen wird, handelt es sich um die Reduktion seines zunächst Inder-Welt-seins. Das In-Sein wird als der Dualität von Subjekt und Objekt vorausgehend gedacht. Das Sein des Daseins ist dennoch nichts zwischen Subjekt und Objekt, insofern ein solches Zwischen gedanklich schon Resultat zweier Vorhandener wäre. „Das Dasein ist seine Erschlossenheit“.6 Vor jeder Standpunktorientierung, so Heidegger, liegt die These, dass Subjekt und Objekt sich aneinander konstituieren, also jeweils nur füreinander sind, was sie sind. Wenn also nicht irgendwie ihr Sein vorausgesetzt wird, so würde sich diese Korrelation als indifferente Beziehung zeigen. Wird Sein aber als Bezug gefasst, so lässt sich nicht mehr im Sinne der klassischen Metaphysik ontologisch nach dem Wesen der Dinge und des Menschen fragen. Diese erschließen sich als das, was sie sind, schließlich im Verstehen. Die alles entscheidende Frage wird stattdessen, was konstituiert diesen Bezug und wie. Die Fragestellung wird fundamentalontologisch, sie gilt dem Sinn von Sein. Zu ihrer Beantwortung muss Sein und Zeit zufolge bei den Strukturen der Existenz des Daseins angesetzt und ermittelt werden, was diese fundiert. Als jenes Fundament macht Heidegger die Zeit aus. Das Dasein zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.7 Gleichzeitig ist es jedoch endlich. Daher ist Dasein, Heidegger zufolge, Sorge oder drastischer „Sein zum Tode“. Von hier aus entwirft er eine Hermeneutik der Endlichkeit. Alles Verstehen erschließt die Dinge auf ihre Bedeutsamkeit hin, insofern es in den geschäftigen Besorgungen der Welt, die von vorneherein eine mit Anderen geteilte Mit-Welt ist, mit allem eine Bewandtnis hat. Das Dasein ist In-der-Welt-sein in der Weise des Herstellens und Verwendens, des Unternehmens und Erkundens, des Betrachtens, Besprechens oder Bestimmens. Die Welt wird konzipiert als ein Verweisungszusammenhang, in dem das Sein der Dinge als zuhandenes Zeug in den Vollzügen des Besorgens bedeutsam ist. Seinem „Da-sein“ überantwortet und in eine Welt geworfen, auf die es angewiesen ist, ist alles Wollen oder Wünschen im Dasein als Sorge verwurzelt. Sämtliche seiner Aktivitäten sind – auf die eine oder andere Weise – letztlich Bewegungen, um der Endlichkeit seines Daseins auszuweichen. Aus ihr ist die Welt bei Heidegger im Verstehen auf ihre Bedeutsamkeit hin erschlossen. Zeit spielt als Zeitlichkeit für das Verstehen aber noch in einer weiteren Hinsicht die entscheidende Rolle. Denn charakteristisch für das Verstehen ist, dass es das, was es versteht, immer schon verstanden hat. „Das 6 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 133. 7 Ebd. S. 12.

3.1 Heidegger – Die sprachliche Verfassung des Seins-Bezuges

auf Bewandtnis hin freigegebene Je-schon-haben-bewenden-lassen ist ein apriorisches Perfekt“,8 heißt es bereits im ersten Teil von Sein und Zeit. Im zweiten konzipiert Heidegger Zeitlichkeit als einen Horizont dreier Ekstasen: Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart. Der Grundgedanke ist, dass die Zukunft – das auf uns Zukommende – aus der Gewesenheit erschlossen wird und sich so die Gegenwart konstituiert. Das Dasein ist ein geschichtliches In-der-Welt-sein, das das, was es versteht, vorgängig „als das und das“ verstanden hat. Diese „Als-Struktur gründet ontologisch in der Zeitlichkeit des Verstehens“.9 Anders gesagt, das Verstehen ist sich aus seiner Gewesenheit stets selbst voraus. Die gegenwärtige Erschlossenheit des Seienden ist temporal bestimmt. Wir haben kein zunächst neutrales, voraussetzungsloses Verhältnis zu den Dingen und erfassen sie dann als solche, vielmehr ist Verstehen vorgängige Nachträglichkeit – apriorisches Perfekt. Was verstanden wird, ist, so wie es verstanden wird, damit – als Voraussetzung für mögliche Kritik – immer wahr. Entsprechend stellt Heidegger fest, dass „Dasein ist ‚in der Wahrheit‘“.10 Nun könnte vermutet werden, dass sich die Geschichtlichkeit des Daseins im Mitvollzug von Besorgungen konstituiert und sich so die Verweisungszusammenhänge der Welt mit der Zeit als strukturierte herauskristallisieren. Insofern Zuhandenheit, Endlichkeit sowie die Angewiesenheit des Daseins auf Welt an Körperlichkeit gemahnen, ließe sich versuchen, In-der-Welt-sein als leibliche Welteinbettung zu denken und Bedeutsamkeit von hier aus zu rekonstruieren. Heidegger tut dies jedoch nicht, obwohl er schreibt, dass Bedeutungen „das mögliche Sein von Wort und Sprache“ fundierten.11 In den Randnotizen seines Handexemplars heißt es jedoch: „Unwahr. Sprache ist nicht aufgestockt, sondern ist das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da“.12 Sein und Zeit entschließt sich, den Bezug des Seins im Verstehen als durch Sprache strukturiert zu entwickeln. Das Verstehen wird demnach durch die Rede bestimmt und der Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit durch das Gerede der Mit-Welt, dem „Man“, wie es Heidegger nennt, vermittelt konzipiert. In Sprache, dem Logos hat die Erschlossenheit des Daseins seine Wurzel. Sie ist, wie es an verschiedenen Stellen von Über den Humanismus heißt, „das Haus des Seins“ und Sein, so lässt sich ergänzend folgern, mediatisiert.13 Das Gerede der Mit-Welt, des Man, wird in Sein und Zeit als ein Gerüst gedeutet, 8 Ebd. S. 85. 9 Ebd. S. 359. 10 Ebd. S. 221. 11 Ebd. S. 87. 12 Ebd. S. 442. 13 Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klos­ termann.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

„innerhalb dessen die möglichen Verhaltungen des Daseins zu seiner Welt ablaufen“.14 Das Dasein versteht die Welt, sich und die Anderen so wie Man sie im Medium des alltäglichen Geredes auslegt. 3.2 Derrida – Die Uneinholbarkeit der Vermittlung

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Wie kaum ein anderes schließt sicher das Denken Derridas an Heidegger an. Sein Ansatz besteht im Wesentlichen darin, Aspekte des Heideggerschen Entwurfs mit der Semiologie de Saussures zu konfrontieren; mit der Vorstellung, dass Zeichen konventionelle arbiträre Einheiten aus Signifikat und Signifikant sind, die erst in wechselseitiger Differenz Signifikanz erlangen. Die Linguistik, heißt es im ersten Teil der Grammatologie, in dem Derrida die theoretischen Grundlagen seiner Konzeption erläutert, hole „die Frage nach dem Sein selbst wieder ein“.15 Derrida interpretiert Heidegger jedoch nicht einfach im Sinne der strukturalistischen Sprachkonzeption um, sondern dekonstruiert die, von de Saussure angesetzte Dualität von Signifikat und Signifikant selbst. Er formuliert eine generelle Kritik an der Privilegierung von Sprache in der Tradition abendländischer Philosophie bis hin zu Heidegger und betreibt damit einhergehend einen Abbau der Vorstellung von Gegenwart oder Anwesenheit als Präsenz. Ein praktikabler Einsatzpunkt, um Derridas Ansatz zu erschließen, ist dessen Feststellung, dass die „These von der Arbitrarität des Zeichens […] eine radikale Unterscheidung zwischen sprachlichen und graphischen Zeichen verbieten“ muss.16 Entscheidet einzig die Konvention, was ein Zeichen ist, so kann alles ein Zeichen sein. Eine privilegierte Materialität der Vermittlung ist nicht auszumachen. Seiendes wäre demnach allgemein zeichenhaft, und nicht ausschließlich sprachlich, erschlossen. Das Sein des Seienden, das der Bezeichnung zugrundeliegende Signifikat, lässt sich nun aber, nicht anders als der Signifikant, nur als Präsenz denken. „Das formale Wesen des Signifikats ist die Präsenz“, heißt es in der Grammatologie. Und auch das „‚Formale Wesen‘ des Zeichens kann nur von der Präsenz aus bestimmt werden“.17 Um die Frage nach der Präsenz des Zeichens als einem Ding ist nicht herumzukommen, „es sei denn, man verwerfe die Form der Frage selbst und nehme den Gedanken auf, dass das Zeichen […] als einziges sich der Grundfrage der Philosophie: ‚Was ist …?‘ entzieht“.18 Das tut Derrida nicht. Stattdessen setzt er bei der Einsicht an, dass bereits 14 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 176. 15 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 41. 16 Ebd. S. 77. 17 Ebd. S. 35. 18 Ebd. S. 36.

3.2 Derrida – Die Uneinholbarkeit der Vermittlung

die Lautlichkeit der Sprache, um bedeuten zu können, strukturiert sein muss. Die leitende These lautet, dass „Formale, in einer sinnlichen Masse voneinander abgegrenzte Identitäten […] bereits nicht bloß sinnliche Idealitäten“ sind.19 Es gibt demnach keine reine Rezeptivität. Jegliche Wahrnehmung, die von Zeichen und die dessen, was ihnen zugrunde liegt, ist bereits strukturiert, bedeutend und damit vermittelt. Ein Boden der NichtBedeutung ist nicht auszumachen. Ist aber jede Wahrnehmung vermittelt – sowohl die von Zeichen als auch die Wahrnehmung dessen, worauf diese verweisen – so erodiert die Ordnung der Differenz von Signifikat und Signifikant. Peirce zufolge, den Derrida anführt, ist jedes Ding nur als Representamen zugänglich; das wiederum einen Interpretanten hervorbringt, der erneut nur als Objekt der Zeichentrias aus Objekt, Representamen und Interpretant zugänglich ist. Zeichen beziehen sich zwar auf Dinge, deren Manifestation aber keine Präsenz, sondern Supplemente, Zeichen produziert. „Das Ding selbst ist ein Zeichen“ und das entscheidende Kriterium eines Zeichensystems nicht Präsenz, sondern eine indefinite Verweisungsstruktur.20 Nicht Signifikanten verweisen auf Signifikate, sondern Zeichen auf Zeichen. Dieser Verweisungsstruktur spricht Derrida nun einen skripturalen Charakter zu und fasst sie im Begriff der Schrift. Bereits Sein und Zeit begreift Zeichen, von denen es die Sprache jedoch ausnimmt, als Verweisungen im Seienden. Derrida universalisiert diesen Gedanken, Sprache degradierend, im Schriftbegriff und kombiniert ihn mit de Saussure, demzufolge ein Signifikant, insofern er sich in Differenz zu allen anderen Signifikanten konstituiert, etwas Unkörperliches ist. Differenzen sind nichts sinnlich Wahrnehmbares und strukturieren bzw. formen doch, was präsent ist. Es „würden ohne die Differenz […], die als sinnlich bezeichnete Fülle nicht als solche in Erscheinung treten“.21 Die „Spur“ der Differenzen ist Ursprung der Schrift, ist das, was Erfahrung oder Sinn ganz allgemein ermöglicht. Begreift Heidegger die Gegenwart als durch Gewesenheit erschlossene Zukunft konstituiert, ist Derrida diese Gewesenheit die Schrift, die in die Gegenwart eine Spur der Differenzen zieht, und das, was sie temporal hervorbringt, die Bewegung dessen, was er différance nennt. „Die Spur ist die *Differenz [différance], in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen“.22 Bereits im ersten Kapitel der Grammatologie bestimmt Derrida den Sinn von Sein als „eine determinierte signifikante Spur“, und der Schritt

19 Ebd. S. 53. 20 Ebd. S. 86. 21 Ebd. S. 109. 22 Ebd. S. 114.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

hin zu einer determinierenden ist nicht weit.23 Jene Struktur aber setzt notwendig eine Differenz in das Erleben ein. Oder, wie es im gleichnamigen Aufsatz heißt, die différance zieht in die Gegenwart ein Intervall ein, das „die Gegenwart in sich selbst trennt“.24 „Ohne die Differenz zwischen dem erscheinenden Sinnlichen und seinem erlebten Erscheinen (dem ‚psychischen Eindruck‘) könnte die temporalisierende Synthese, die das Auftreten von Differenzen in einer Kette von Bedeutungen erlaubt, unmöglich wirksam werden“.25 Die Temporalisation als Differieren der différance konstituiert eine der Präsenz vorgängige Struktur, aus der Subjekt, Sache oder Referent als abwesend zu denken sind. Entsprechend formuliert Derrida, dass „das Signifikat ursprünglich und wesensmäßig […] Spur ist, dass es sich immer schon in der Position des Signifikanten befindet“.26 Nicht anders heißt es in Die Stimme und das Phänomen, als „Supplement re-präsentiert der Signifikant nicht zunächst und allein das abwesende Signifikat, sondern setzt sich an die Stelle eines anderen Signifikanten“.27 Derrida entwirft einen Kosmos universeller Vermittlung, in dem, was immer zugänglich oder gegenwärtig ist, dies nur indirekt und damit in Nicht-Präsenz ist. Alles ist mediatisiert und doch ist kein Medium auszumachen – außer der Differentialität selbst. Diese aber ist unkörperlich, selbst also nichts und folglich niemals einzuholen. 3.3 Luhmann – Die mediale Überführung von Komplexität

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Auch Luhmanns Überlegungen sind differenztheoretisch angelegt. Verschiedentlich – etwa in Die Wissenschaft der Gesellschaft, seiner Einführung in die Systemtheorie und besonders ausgeprägt in Die Kunst der Gesellschaft – zieht Luhmann Parallelen seines Denkens zu dem Derridas. Sein Ansatz ist gleichwohl ein soziologischer und dessen zentraler Begriff der des Systems. Als System kann demnach alles Mögliche begriffen werden: Maschinen, Organismen oder Ökosysteme. Luhmann interessiert sich primär für soziale Systeme und in Abgrenzung zu ihnen noch für psychische. Ausgangspunkt der systemtheoretischen Analyse ist die Differenz von System und Umwelt. „Systeme […] konstituieren und […] erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Um 23 Ebd. S. 44. 24 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 42. 25 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 115. 26 Ebd. S. 129. 27 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S 119.

3.3 Luhmann – Die mediale Überführung von Komplexität

welt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz“,28 heißt es in Soziale Systeme. Generell, so seine Überlegung, operieren Sys­teme geschlossen und insofern selbstreferentiell in Anschluss an ihre eigenen Operationen. Sie errichten durch diese autopoietisch eine Differenz zur Umwelt. Umwelt ist folglich ein stets systemrelativer Sachverhalt. Soziale Systeme operieren mit Kommunikation und psychische mit Bewusstsein. Operation meint dabei zu selektieren, etwas aus der Fülle des Möglichen – in Differenz zu allem Anderen – zu aktualisieren. Trotz operativer Schließung sind Systeme also umweltoffen. Eine Kommunikation bezieht sich, nicht anders als ein Bewusstsein, stets auf etwas jeweils Aktuelles, selektiert also etwas in Differenz zu alldem, was sonst möglich wäre. Diese Selektion fasst Luhmann als Operation des Beobachtens anhand von Differenzschemata; als Unterscheiden und Bezeichnen. Die Schemata, in denen das jeweilige System operiert, sind dabei für das System selbst nicht zu beobachten, sie sind unhintergehbar, sind der blinde Fleck der eigenen Konstitution. Jeder Kontakt, jede soziale Interaktion bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit aller möglichen Kontakte wird nun als ein kommunikatives Sys­ tem begriffen. Entscheidend ist, dass Luhmann von einem Kommunikationsbegriff ausgeht, der es nicht zulässt, Kommunikation als Handlung – also subjekttheoretisch – auszulegen. Vielmehr ist der Kommunikationsprozess, der das Soziale als eigene Realität konstituiert, erst anhand dreier Selektionen zutreffend bezeichnet. „Die erste Bezeichnung meint die Selektivität der Information selbst, die zweite die Selektion ihrer Mitteilung, die dritte die Erfolgserwartung, die Erwartung einer Annahmeselektion“,29 erläutert Luhmann in Anschluss an Karl Bühler. Grundsätzlich kommt eine Kommunikation jedoch erst im Verstehen zustande. Was ein Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung impliziert. Ob eine Kommunikation gelingt, liegt demnach beim Rezipienten; bei einem Ego, das die entsprechende Information bzw. Selektion, die von einem Sender, einem alter Ego mitgeteilt wurde, nachdem er sie verstanden hat, annehmen oder ablehnen kann. Sie konstituiert sich damit weder auf Seiten alter Egos, noch auf der des Egos, sondern gewissermaßen zwischen ihnen. Kommunikation kann daher keine Handlung sein. Weder der eine noch der andere kommuniziert. Menschen oder präziser psychische Systeme operieren mit Bewusstsein. Nur die Kommunikation, so heißt es bei Luhmann immer wieder, kann kommunizieren. Nur soziale Systeme operieren mit Kommunikation. Soziale und psychische Systeme sind qua unterschiedlicher Operationsmodi voneinander getrennt, jeweils füreinander Umwelt. Gleichwohl 28 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 35. 29 Ebd. S. 196.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

sind sie, ko-evolutionär entstanden, strukturell miteinander gekoppelt. Sie interpenetrieren bzw. durchdringen einander wechselseitig. Und sie müssen dies auch, da die Kommunikation, selbst bewusstlos, auf die Wahrnehmungen psychischer Systeme angewiesen ist, während jene nicht kommunizieren können. Das diese Durchdringung ermöglichende Medium, mit dem sowohl psychische, als auch soziale Systeme operieren, ist Sinn. Sinn meint vereinfacht, jeweilige Selektion in Differenz zum vergegenwärtigten Verweisungshorizont des Möglichen. „Sinn ermöglicht die Interpenetration psychischer und sozialer Systembildungen bei Bewahrung ihrer Autopoiesis; Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewusstsein in der Kommunikation […]. Es ist nicht die Eigenschaft einer besonderen Art von Lebewesen [eines Subjekts], es ist der Verweisungsreichtum von Sinn, der es möglich macht, Gesellschaftssysteme zu bilden, durch die Menschen Bewusstsein haben und leben können“.30

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Entsprechend wird Sinn von Luhmann als „ein Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen“ charakterisiert, 31 in dem sich soziale und psychische Systeme operativ koppeln und so wechselseitig vermitteln und ermöglichen. Konkret wird die strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme primär durch Sprache ermöglicht. Sie ist das originäre, Sinn symbolisch generalisierende Kommunikationsmedium. Luhmanns These lautet, dass das „Prozessieren von Sinn symbolische Generalisierungen erfordert“,32 da erst sie dem indifferenten Erlebnisfluss selektiv Identitäten bzw. Schemata aufprägen. Weder behauptet Luhmann, Sinn sei nur sprachlich gegeben, noch dass Kommunikation nur mit Sprache möglich sei. Ebenso vermeidet er „die Gleichsetzung (und ebenso: die Entgegensetzung) von Sinn und Sein“.33 Ihn interessiert, was Sprache funktional ermöglicht. Sie ist nämlich, wie es in den Mitschriften seiner Vorlesung zur Einführung in die Systemtheorie heißt, „sowohl psychisch als auch kommunikativ verwendbar und verhindert nicht, dass die beiden Operationsweisen […] separat laufen und separat bleiben“.34 Sprache hält Soziale Systeme zufolge „Pauschalbezeichnungen, Typenvorstellungen und Heterogenes übergreifende Begriffe“ bereit.35 „Das soziale System stellt die eigene Komplexität“, heißt 30 Ebd. S. 279 f. 31 Ebd. S. 101. 32 Ebd. S. 135. 33 Ebd. S. 145. 34 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 275. 35 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 137.

3.4 Adorno – Aufklärung und Vermittlung

es an anderer Stelle, „dem psychischen System zur Verfügung. […] Die Sprache überführt soziale in psychische Komplexität“.36 Erst auf „Grund von Sprache haben sich“, im Zuge gesellschaftlicher Entfaltung, „Verbreitungsmedien, […] Schrift, Druck und Funk entwickeln lassen“.37 Mit der evolutionären Emergenz von Verbreitungsmedien und der damit einhergehenden Differenzierung der Kommunikation ist nach Luhmann schließlich die Entwicklung der Gesellschaft bis hin zur modernen, funktional differenzierten verbunden. In ihr haben sich demnach Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik, Religion und nicht zuletzt Massenmedien ausdifferenziert, die alle in einem jeweiligen Medium wie Geld oder Wahrheit und anhand binärer Codes wie haben/nicht haben oder wahr/unwahr operieren. Jedem diese Funktionssysteme wird bekanntermaßen ein eigenes Werk gewidmet. Aus der strukturellen Kopplung sozialer und psychischer Systeme resultieren spektakuläre Konsequenzen, wie sie nicht zuletzt in Die Realität der Massenmedien formuliert werden: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“.38 Luhmann sind die Massenmedien gewissermaßen, was Heidegger das Gerede des „Man“ ist. Sie versorgen, stark vereinfacht gesagt, mit Schemata zur Beobachtung und lassen die gesamte Realität zur massenmedial vermittelten Konstruktion geraten. Ihre wichtigste Funktion besteht aber darin, das einzuüben, was Luhmann Beobachtung zweiter Ordnung nennt. „Die Möglichkeit zu beobachten, was andere nicht (und zwar: konstitutiv nicht) beobachten können, ist […]“ so Die Wissenschaft der Gesellschaft „mit dem Roman des 18. Jahrhunderts [in die ‚Welt‘ gekommen]. Sie ist also dem Buchdruck zu verdanken. Der Leser gewinnt Einblicke in die Motivstruktur der Helden, die diesen selbst verschlossen sind“.39 Massenmedien sind der Mechanismus gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. „Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung“.40 79 3.4 Adorno – Aufklärung und Vermittlung Auch Adornos Denken ist eines der Differenz, auch wenn die Linie der Demarkation bei ihm weitgehend konträr zu Heidegger, Luhmann und auch 36 Ebd. S. 367 f. 37 Ebd. S. 220 ff. 38 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 9. 39 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 90. 40 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 153.

3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

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Derrida verläuft. Die Negative Dialektik ist als Kritik an jeder Form von Identitätsphilosophie angelegt. Der Grundgedanke ist dabei, dass jeder Identifikation etwas ihr Heteronomes zugrunde liegen muss, mit dem diese nicht identisch sein kann. Jede Bestimmung meint etwas ihr Differentes, um bedeuten zu können, und verfehlt es zugleich, da sie es im Bestimmen zurichtet. Die sprachliche Ordnung schiebt sich im Denken gewissermaßen vor das, was sie begreifen will. „Das Moment der Nichtidentität in dem identifizierenden Urteil ist insofern umstandslos einsichtig, als jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind“.41 Die Differenzen, die Adorno zum Hebel seiner Philosophie macht, sind die Differenzen von Bestimmtem und Bestimmung, Besonderem und Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft. Dialektik sage zunächst nichts weiter, „als dass die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, dass diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adaequatio“.42 Eine Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem in Identität, wie sie idealistische Philosophien im Primat eines individuellen oder absoluten Subjekts konzeptionell anstreben, wird mit der negativen Wendung der Dialektik ausgeschlossen. „Dialektik ist das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität“.43 Gleichzeitig entwirft auch Adorno eine Welt umfassender Vermittlung. Was Hegel die Totalität des Geistes war, ist Adorno in Form der Gesellschaft als verwalteter Welt höchst real. Die sozialen Verhältnisse werden als für das Individuum gleichermaßen konstitutiv wie durch selbiges konstituiert gedacht. Die gesellschaftliche Ordnung ist dabei als präsubjektive so objektiv wie die durch sie vermittelten Subjekte. Sie ist eine sich in die subjektiven Vermittlungsmechanismen hinein verlängernde und so bestimmend für die Weise, in der Empfindungen apperzipiert werden. Die Negative Dialektik diagnostiziert eine „Vorgängigkeit von Gesellschaft vorm Einzelbewusstsein und all seiner Erfahrung“.44 Die so konstituierten Individuen sind jedoch keine Kopien, das wäre schon empirisch nicht haltbar. Der greifende Mechanismus ist am besten als Integration durch Desintegration beschrieben – kategorial, da erst überindividuelle Abstraktionen es dem Subjekt erlauben, irgend etwas und nicht zuletzt sich selbst zu bezeichnen, und real, insofern jedem Einzelnen innerhalb der herrschenden Wirtschaftsordnung nichts bleibt als als Agent seiner eigenen – gesellschaftlich gleichwohl oktroyierter – Interessen zu agieren, deren Ordnung sich so reproduziert. Das die existenten wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmende Tauschprinzip wird dabei als dem Prinzip der Identifikation 41 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 153. 42 Ebd. S. 17. 43 Ebd. 44 Ebd. S. 182.

3.4 Adorno – Aufklärung und Vermittlung

zutiefst verwandt gedacht, insofern es das, was es begreifen will, sozusagen mit dessen Begriff vertauscht. Im Zirkelschluss der wechselseitigen Vermittlung von Subjekten und Objektivität installiert sich ein universeller Verblendungszusammenhang, dem im Prinzip nicht zu entrinnen ist. Da Philosophie nun zwangsläufig Begriffe zu ihren Material hat, das zu Begreifende aber im Nicht-Begrifflichen liegt, besteht Adornos Vorgehen in der Demontage dieser Begriffe, um ihre immanente Widersprüchlichkeit auszubreiten. Die Vermittlung wird zur Einsatzstelle, um das Unbegriffliche am Erkenntnisgegenstand zu begreifen. In der Darlegung der Antinomie von Begriff und Realität entstehen Modelle des gegen sich selber Denkens. Seiendes ist Adorno zufolge nie unmittelbar, sondern nur durch Begriffe hindurch und das Nicht-Identische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation. Das Spezifische des Gegenstandes kann nur dadurch, dass Begriffe in Konstellationen treten und die immanenten Unvereinbarkeiten ausbreiten, repräsentiert werden. Sie bezeichnen nicht einfach, sie versammeln sich gewissermaßen um ihren Gegenstand. Da Vermittlung als gesellschaftliche aber objektiv ist, muss jede Anstrengung Erkenntnis zu erlangen als Gesellschaftskritik ansetzen. Ohne ein Wissen von der Gewalt des Systems kann es keinen freien Gedanken geben. Am Bewusstsein ist das Unbewusste der Gesellschaft zu dechiffrieren. Negativdialektisches Philosophieren ist somit Selbstkritik der Philosophie im Sinne einer fortwährenden Reflektion ihrer eigenen Bedingt- und Beschränktheit. Konkret heißt das, Kritik von Texten, in deren Tradition das eigene Denken notwendig steht. Nachdem der zweite Teil der Negativen Dialektik die konzeptionelle Basis darlegt, wendet sich der dritte dem entsprechend Kant, Hegel und abschließend der Frage zu, ob und wie Metaphysik möglich ist. Der Leitgedanke der Adornoschen Philosophie findet sich jedoch bereits in der gemeinsam mit Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung. Es ist das Motiv einer vernunftlosen Vernunft; zweckloser Zweckmäßigkeit; unmoralischer Moral; das sich ohnmächtig verselbstständigender Macht; das entindividualisierender Individuation; unfreier Freiheit; das Motiv einer aufgeklärten Gesellschaft, die in Barbarei verfällt; einer positiven Wissenschaft, die in ihrem Faktenglauben selbst mythisch wird und als Naturbeherrschung in Zerstörung umschlägt; das einer Wirtschaft, die zur Befriedigung der Bedürfnisse aller in ihrem Wildwuchs den Einzelnen annulliert; einer zur Industrie verkommenden Kultur, deren Vergnügungen lediglich die Resignation befördern, die sich in ihnen vergessen will. Horkheimer und Adorno zeichnen das Bild einer Menschheit auf Selbstzerstörungskurs, in der jedes individuell scheinbar rationale Verhalten die allgemeine Irrationalität perpetuiert und so lediglich die Geschwindigkeit der Fahrt erhöht. Entsprechend ist ihre Hoffnung, die Vernunft möge zur Vernunft kommen; die Aufklärung möge sich über die

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

ihr innewohnende Dialektik aufklären. Adornos Lektüren im dritten Teil der Negativen Dialektik nehmen diese Motivik in vielerlei Hinsicht auf und legt sie, etwa am Thema der Freiheit, die sich niemals abstrakt positiv, sondern lediglich im Verhältnis zu realer Unfreiheit bestimmen lasse, erneut aus. Obgleich die gesellschaftlichen Mechanismen der Vermittlung keinesfalls auf kommunikative Vorgänge zu reduzieren sind, wohnt Aufklärung Horkheimer und Adorno zufolge ein elementar sprachliches Moment inne. Denn Sprache, so stellt auch die Negative Dialektik fest, ist das in seinem voraufgeklärten Ursprung fetischistische Werkzeug des Denkens. Ein Aufgeklärtes hängt daran, Ausdruck und Sache in der Reflektion auseinander treten zu lassen. Positivistisches Denken etwa ist eben hierin, sofern ihm dies nicht gelingt, mythisch. An der Odyssee – als Beispiel für den Ursprung der Aufklärung im Mythos – lässt sich dieses Auseinandertreten und das damit einhergehende Mächtigwerden des Menschen über sein Schicksal ablesen. Im Zentrum der Säkularisierung von der Ordnung des Mythos, die „eins mit dem gesprochenen Wort“ war,45 steht demnach die List. Odysseus gibt sich Polyphem, auf dessen Frage hin, als „Udeis“, „Niemand“ zu erkennen. Sich ihrer Konventionalität innewerdend, bricht er, den Zyklopen belügend, den mythischen Bann der Sprache und errettet sich und seine Gefährten. Die Individuation des Subjekts hängt an diesem Akt und kehrt sich, das ist das Thema der Dialektik der Aufklärung, doch gegen es. Im Kern hängt Aufklärung an der Aufklärung darüber, dass dem Begriff unweigerlich etwas Unbegreifbares zugrunde liegt; an der Differenz beider. Eine zu sich selbst gekommene Vernunft wäre einzig in der Einsicht ihres eigenen Unvermögens vernünftig. 3.5 Reflexivität anhand von Störung und Angst bei Heidegger 82

Die skizzierte Entschiedenheit für Verstehen und Sprachen hat weitreichende Konsequenzen für Heideggers Auslegungen, da im Verstehen die Möglichkeit jeglicher Erkenntnis und damit auch die der Fundamentalontologie selbst wurzelt. „Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins“.46 Entsprechend setzt Sein und Zeit bei der Frage nach dem Sein, beim Bezug des Daseins zu seinem eigenen Sein an. Es ist sich schließlich irgendwie selbst in einem Seinsverständnis gegeben. In der Seinsfrage ergibt sich damit ein Zirkel und so das Problem, wie das 45 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 78. 46 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 62.

3.5 Reflexivität anhand von Störung und Angst bei Heidegger

Dasein einer Analyse überhaupt zugänglich sein kann. Die Strukturen seiner Existenz sind ihm schließlich nicht alltäglich in Differenz gegenwärtig. Gleichzeitig kann dem Dasein sein In-der-Welt-sein nicht gänzlich verhüllt sein, da es ansonsten auf immer unerkannt und auch der philosophischen Erkenntnis unverständlich bleiben müsste. Die entscheidende Frage ist also, was fundiert die Möglichkeit des Verstehens, sich auf sich selbst zu beziehen, sich reflexiv selbst verständlich zu werden – und zwar aus der Alltäglichkeit des Daseins heraus. Sind die Dinge der Welt – das Zeug – aus den Besorgungen des Daseins – dem Herstellen oder Verwenden – auf ihre Bedeutsamkeit hin verständlich, ist hier anzusetzen. Heidegger argumentiert – es wurde bereits darauf hingewiesen – dass das Zeug als unverwendbares, beschädigtes oder ungeeignetes auffällt, als fehlendes aufdringlich ist und als störendes, etwa im Weg liegendes aufsässig wird. Er entwirft Reflexivität anhand von Dingen, die in ihrer Verwendung gestört sind. In der Störung kommt dem Zeug seine Bedeutsamkeit nämlich in gewisser Weise abhanden. Sie verschwindet aber nicht, sondern zeigt sich noch einmal „und gerade hierbei zeigt sich auch die Weltmäßigkeit des Zuhandenen“.47 So wird potentiell erkennbar, dass die Struktur des Seins des Zeugs durch den Verweisungszusammenhang ihrer Verwendung bestimmt ist. Wenn etwa ein Hammer aus seinem Gebrauch heraus bedeutet, ist dieser Umstand in seiner Benutzung völlig unauffällig. Fehlt er aber oder ist er kaputt, lässt seine Auffälligkeit oder Aufdringlichkeit, die Störung der reibungslosen Verwendung erkennen, dass seine Bedeutsamkeit in eben ihr liegt. Natürlich behauptet Heidegger nicht, dass sich dem Dasein so geradewegs die Strukturen seiner Existenz erschließen. Vielmehr geht es darum, in die Unmittelbarkeit des Verstehens – die mit dem Verstandenen zusammen fallen müsste – eine Differenz einzufügen, aus der ein rudimentäres reflexives Verstehen erwächst. Erst aus dieser Differenz kann etwas an-sich zugänglich werden.48 Alltäglich führt die Dysfunktionalität von Dingen jedoch tatsächlich dazu, dass sich das Dasein noch mehr in die Verweisungen seiner Existenz verlegt, um nachzusehen, zu prüfen und die Störung zu beseitigen. Erst wo es etwas nicht mehr bewältigt, enthülle sich dieses in seiner Unüberwindlichkeit. „Nur sofern Widerständiges auf dem Grunde der ekstatischen Zeitlichkeit des Besorgens entdeckt ist, kann sich das faktische Dasein in seiner Überlassenheit an eine ‚Welt‘, deren es nie Herr wird, verstehen“.49 Von wo aus aber versteht sich das Dasein als ein in eine unbeherrschbare Welt geworfenes, wenn es durch Rede konstituierte Er-

47 Ebd. S. 74. 48 Eine gewisse Parallele zur Konzeption Adornos ist unverkennbar. 49 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 356.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

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schlossenheit ist – sich das Verstehen, wie erläutert, in seiner sprachlichen Vermittlung stets selbst voraus ist? Heidegger zieht – neben der Störung – eine weiteres Moment der Reflexivität in seine Konzeption ein: die Angst. Da die Interpretation des Daseins lediglich Selbstauslegung ist, ist sie von entscheidender methodischer Bedeutung. In Sein und Zeit argumentiert er, dass jedes Verstehen gestimmt sei und sich erst diesen Stimmungen Dinge etwa als bedrohlich oder auch wünschenswert erschließen können. Aus unserer gestimmten Befindlichkeit geht uns die Welt und ihre Dinge, im doppelten Sinne, an. Aus der Befindlichkeit der Angst nun wird ein Durchblick auf das Dasein als Sorge möglich. In ihr wird zum einen ersichtlich, dass es dem Dasein in seinem Sein um sein Sein geht. Zum anderen erschließt sie das innerweltlich Seiende als an ihm selbst völlig belanglos. Die Welt als Verweisungsganzes der Bedeutsamkeit kontrastiert sich gegen die völlige Unbedeutsamkeit der Welt. Die Angst konstituiert eine Differenz im Dasein. Und erst aus dieser lässt sich Sein, aus dem vorgängigen In-der-Welt-sein, rückwirkend als Bezug denken. Da die Sorge aber das ist, was das Weltverhältnis des Daseins fundiert, weicht es der Angst ursprünglich aus. Es ängstigt sich zwar im Grunde seines Seins, wie Heidegger sagt, dieser Grund aber ist es, der es sich in die Besorgungen der Welt und das Gerede des Man stürzen lässt. Es hat nicht nur keinen Anlass sich einem Denken an die eigene Endlichkeit, aus dem es sich im Sinne Heideggers verstehen könnte, auszusetzen. Jene Endlichkeit ist selbst der Grund, dies nicht zu tun. Heideggers Ideal ist eine „nüchterne Angst“, in der sich das Dasein aus den alltäglichen Auslegungen der Welt befreit und mit sich selbst konfrontiert. Versteht es aber alles schon vorab, „dann muss es der alltäglichen, verständigen Daseinsauslegung ontisch und ontologisch unverständlich bleiben“.50 Entsprechend erkennt Heidegger an, dass seine Auslegung der Angst Voraussetzungen macht, die nicht weiter zu rechtfertigen ist. Sie zu „ergreifen“ und ihr zu folgen ist eine Entscheidung. Seine Darstellung des Daseins kann nicht verbindlich sein; kann es schon deshalb nicht, weil dies seiner Interpretation des Verstehens radikal zuwiderlaufen würde. Setzt Verstehen Verstehen voraus, konstituiert also jedes Fragen nach den Voraussetzungen einer Interpretation einen hermeneutischen Zirkel, so bleibt nichts als „ganz in diesen ‚Kreis‘ zu springen“.51 Sein und Zeit bricht, nach zwei von sechs geplanten Teilen, mit dem Eingeständnis eines fundamentalen Selbstbegründungsdefizits ab. Die Frage, wie „erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich“ sein kann, wird von Heidegger trotz der Reflexivität von Störung und 50 Ebd. S. 309. 51 Ebd. S. 315.

3.6 Die Unmöglichkeit, von der Schrift zu wissen bei Derrida

Angst als ungeklärt erachtet.52 Beide Probleme kulminieren in der, in Sein und Zeit noch nicht berücksichtigten Frage, wie sich überhaupt irgend etwas thematisieren lässt – ohne in fundamentale Widersprüche zu geraten –, wenn sich bereits in dem Medium befunden wird, dem zugeschrieben wird, das Sein zu strukturieren und zu erschließen: der Sprache. Erfährt das Verstehen in der begrifflichen Aussage seine ausdrückliche Auslegung, so zeichnet jegliche Auslegung nur nach, was die Sprache vorschreibt. In Sein und Zeit heißt es hierzu noch unbestimmt, „[d]ie Auslegung kann die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt“.53

Erschließen die Begriffe das Seiende jedoch erst, ist das Anwesen des Anwesenden sprachlich strukturiert, trägt die ohnehin schon zweifelhafte Vorstellung, zu ihm gehöre eine jeweilige Begrifflichkeit, kaum. In Der weg zur Sprache kommt es schließlich zu dem konsequenten Versuch, „[d]ie Sprache als die Sprache zur Sprache zu bringen“;54 allerdings, so mag es zumindest zunächst scheinen, um den Preis sprachmythologischer Züge, einem Achten darauf, was sich im Sprechen mitspricht. 3.6 Die Unmöglichkeit, von der Schrift zu wissen bei Derrida Ein Achten auf das, was sich im Sprechen mitspricht, die Vorstellung, das Sein spreche durch Sprache hindurch, schließt sich für Derrida (so) aus. Schon die Frage nach dem Sein, die ontologische Differenz selbst, ist ihm bereits in das Spiel der Schrift, die Ökonomie der différance eingeschrieben, die insofern „‚älter‘ noch als das Sein“ sei.55 Ein Textäußeres ist nicht auszumachen, da das Gegenwärtige durch die Spur, die selbst jedoch nichts Anwesendes ist, konstituiert wird. Ihr Verschwinden oder auch Erlöschen gehört zu ihrem Wesen. Sie ist und bleibt notwendig verborgen. Die Spur der Differentialität lässt sich als ein Unbewusstes denken, das die Möglichkeit seines Bewusstwerdens notwendig verwehrt. Mit der Struktur der Nachträglichkeit ist ein Aufschub verbunden, der das Bewusstsein selbst als Effekt innerhalb des Systems der différance erscheinen lässt. Denn die bewusste Selbstgegenwart des Subjekts ist nicht nur einzig als Bezeichnen in Differenz zu sich selbst denkbar, diese Gegenwart ist selbst nur als diffe 52 Ebd. S. 437. 53 Ebd. S. 150. 54 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Spra­ che. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 242. 55 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 55.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

rentiell strukturierte plausibel. Das Subjekt ist in die Schrift, in das Gefüge der Verweisungen, eingeschrieben. Ohne sie wäre es sich selbst nicht gegeben, in ihr ist es sich jedoch ebenfalls nicht gegenwärtig. In der Struktur des Bedeutens ist die Gegenwart aufgeschoben und insofern abwesend. Steht aber die différance am äußersten Anfang dessen was ist, war und je sein wird, so lässt sie sich auf nichts zurückführen. Sie wäre, wie es Derrida formuliert, nicht ursprünglicher Ursprung oder stets abwesender Anfang. Von wo aus aber – eine jede philosophische Überlegung muss sich diese Frage gefallen lassen und Rechenschaft über sie ablegen – lässt sich diese alles determinierende, differentiell organisierte, signifikante Struktur und ihre Bewegungen wissen? In Die différance bezeichnet Derrida den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen als einen strategischen, der „in letzter Instanz nicht zu rechtfertigen ist“.56 Und der Begriff Strategie trifft Derridas Vorgehen ziemlich gut. Es besteht im Wesentlichen darin, Voraussetzungen – Textpassagen anderer Autoren – in Anspruch zu nehmen, diese im Zuge ihrer Inanspruchnahme – ihrer Lektüre und Diskussion – zu entkräften, umzudeuten und – meist der Intention des entsprechenden Autors entgegen – neu auszulegen. So setzt die Grammatologie bei einem Zeichenbegriff an, dessen Differenz von Signifikat und Signifikant sie, nicht anders als die von innen und außen oder intelligibel und sinnlich – letztlich die von Subjekt und Objekt – der metaphysischen Tradition verhaftet sieht, ohne den sich jedoch nichts denken lasse. „Wir können auf diese Begriffe um so weniger verzichten, als wir ihrer bedürfen, um die Erbschaft aufzulassen, zu der auch sie gehören“.57 Der Gestus der derridaschen Herangehensweise ist es, lediglich genau – quasi voraussetzungslos – zu lesen. Ob Rousseau, Lévi-Strauss oder Husserl, seine Lektüren dekonstruieren die jeweils in anschlaggebrachten Kategoriengebäude unter Verwendung ihrer eigenen Prämissen und exemplifizieren „in unendlicher Widerspiegelung die Textualität“ im Text selbst.58 Und Derrida bleibt auch gar nichts anderes übrig, denn: 86

„Wir halten es prinzipiell für unmöglich, durch Interpretation oder Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen und so die Schrift durch die Schrift, die auch noch Lektüre ist, zu zerstören; nichtsdestoweniger glauben wir, dass diese Unmöglichkeit sich historisch artikuliert“.59

So verfährt er im Prinzip empirisch und seine Erörterungen etwa in Die Stimme und das Phänomen laufen auf nichts hinaus, das sich nicht auch 56 Ebd. S. 36. 57 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 28. 58 Ebd. S. 281. 59 Ebd. S. 276.

3.6 Die Unmöglichkeit, von der Schrift zu wissen bei Derrida

in der Grammatologie hätte lesen lassen können: Die „Artikulation“ der Schrift durch die Schrift, die ursprüngliche Nicht-Gegenwart des Gegenwärtigen. Dabei ist der Ansatz, sich die Schrift zum Ausdruck kommen zu lassen, offensichtlich weit weniger verschieden von Heideggers Selbstverlautbarung der Sprache, als es am Ende von die différance behauptet wird. Adorno wäre all dies vermutlich idealistisch tautologischer Hokuspokus. Derrida interpretiert das Husserlsche Konzept von Retention und Protention analog zu Heideggers temporaler Bestimmtheit des Verstehens aus einem Primat der Nachträglichkeit. Mit dem scheinbar unvermeidlichen Ergebnis, dass „die Gegenwärtigkeit der wahrgenommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie sie kontinuierlich mit einer Nicht-Gegenwärtigkeit und einer Nicht-Wahrnehmung, nämlich der primären Erinnerung und primären Erwartung (Retention und Protention), Verbindungen eingeht“.60 Tatsächlich schafft natürlich auch Derrida, allein mit der Auswahl seiner Texte, Voraussetzungen. Dabei kommt er immer wieder – direkt oder indirekt – auf Heidegger und de Saussure zurück. Die strukturale Zeichenkonzeption wird aufgelöst und das Prinzip der Differentialität herausdestilliert. Kombiniert mit Heideggers Ansatz, Sein als Bezüglichkeit zu denken, gerät dessen Horizont temporaler Ekstasen, von dem „Worauf “ der Bezugnahme befreit, zu einer differentiellen Matrix. Mehr als fraglich ist dabei zunächst einmal, ob sich reine, von jeder Qualität und damit Anwesenheit befreite, Differentialität überhaupt denken lässt. An irgendetwas – das Argument wurde genannt und wird noch viele Male genannt werden – werden sich Differenzen festmachen müssen. Auch scheint bei Derrida die Frage danach, was ein Zeichen ist, mit der Feststellung, es sei strukturiert und folglich in die Ökonomie der Schrift eingelassen, hinreichend beantwortet. Eine Auskunft darüber, wie sich Zeichenhaftigkeit überhaupt herausbildet, bleibt er schuldig. Da jede positive Bestimmung unter Metaphysikverdacht steht, schließen sich produktive Herleitungen aus (es bleibt nur, sich an de Saussure zu wenden). Jene Konstitution aber wird ohne Zukunft im Sinne Heideggers etwas, das das Dasein angeht und insofern irgendwie gegenwärtig sein muss, kaum plausibel zu machen sein. Es wäre jenseits von irgendeiner Form von Gegenwärtigkeit, generell unklar, wie Neues, Unerwartetes, Anderes oder Abweichendes geschehen kann. In einer nicht enden wollenden, immer neu ansetzenden, tautologischen Bewegung bleibt Derrida jedoch nichts als, anhand zersetzender Lektüren, fortwährend zu sagen, dass sich nichts Zugrundeliegendes sagen lässt. Nicht zuletzt ist in Ermangelung einer reflexiven Position seiner Erkenntnis, um die sich Derrida anders als Heidegger nicht bemüht, festzu 60 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 88.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

stellen, dass der Ansatz bei einer seinsbestimmenden differentiellen Struktur, eben eine Setzung, eine, wie er selber sagt, nicht zu rechtfertigende Voraussetzung ist, die ihn in seinen Lektüren immer wieder einholt. Was sich bei Derrida tatsächlich unendlich artikuliert, ist, was er zuvor, ohne es eben herleiten zu können, in sie hineingelegt hat. Dabei argumentiert das Bild der Nachträglichkeit anhand einer sukzessiven, also linearen Zeitlichkeit, deren Begriff die Grammatologie als der metaphysischen Tradition zugehörig erachtet. Sie erläutert jedoch, dass die Medialität des geschriebenen Textes, seine Linearität selbst, einen anderen als jenen überkommenen Zeitbegriff nicht zulasse. „Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden“.61 Die Frage nach dem Text, der konkreten niedergeschriebenen Interpretation, führt endlich zur schwerwiegendsten der derridaschen Unterstellungen, der, dass das, was sich am Text exemplifizieren lässt, irgendetwas mit dem Sein des Seienden zu tun hat. Augenscheinlich wird eine Analogie zwischen Wortgefüge und Seinsgefüge aufgemacht, eine Gleichsetzung von konkretem Text und dem Gefüge von Existenz untergeschoben, die mehr als fragwürdig ist. Dass jede Unterscheidung dekonstruierbar ist, kann als belegt erachtet werden. Warum dies so ist, ist mit dem Hinweis auf unendliche Verweisungsstrukturen aufgezeigt, aber nicht beantwortet. Dabei steht außer Frage, dass Strukturen der Verweisung für Texte konstitutiv sind. Die Annahme aber, dass die Performativität des Textes Rückschlüsse auf die Verfassung des Seins zulässt, ist zumindest so lange Ideologie, wie nicht im Detail geklärt ist, wie genau „keine Erfahrung reiner Gegenwart“ sein soll.62 Die Annahme, in sie schreibe sich ein Intervall ein, hängt immerhin nicht zuletzt an einem fragwürdigen Zeitbegriff. Tatsächlich ist die absolute Bedingtheit von Erkenntnis immer nur von außerhalb zu behaupten und insofern widersinnig. Derrida kann – und dies nicht nur „in einem gewissen Sinne“, insofern sich jede Bestimmung im infiniten Verweisungsgefüge verliert – nicht wissen, wovon er spricht. 88 3.7 Realität beobachtet ‚wie von außen‘ bei Luhmann Die Frage nach den Bedingungen der eigenen Erkenntnis ist auch für Luhmann durchgehend von Bedeutung. Die Systemtheorie beansprucht schließlich von nicht nur analytischer Relevanz zu sein, sondern sich „auf die wirkliche Welt“,63 auf Systeme, die es wirklich gibt, zu beziehen. Ihre 61 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 155. 62 Derrida, J. (2001). Signatur Ereignis Kontext. In: Ders. Limited Inc. (S. 15 – 46). Wien: Passagen. S. 29. 63 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 30.

3.7 Realität beobachtet ‚wie von außen‘ bei Luhmann

Ambition, alles Soziale zu behandeln, bedingt dabei einerseits, dass sich Luhmanns Theorie als ihren eigenen Gegenstand beinhaltet und so genötigt wird, „sich selbst als kontingent zu erfahren“.64 Andererseits schließt das Konzept operativer systemischer Geschlossenheit jede direkte Beobachtung, so als ob ein Standpunkt außerhalb zur Verfügung stünde, aus. „Alle Beobachtung benutzt (das definiert den Begriff) ein Differenzschema. Dabei wird die Einheit der Differenz durch den Beobachter, nicht durch seinen Gegenstand definiert“.65 Gleichwohl setzt der Ausgang bei differentiellen Distinktionen, wie Luhmann erläutert, eine zu Grunde liegende, durchlaufende und ereignishafte Realität, der sich diese überlagern, voraus. Mehr noch, die Systemtheorie muss sich, will sie ihrem eigenen Anspruch, etwas Wirkliches zu bezeichnen, gerecht werden, auf diese qua eigener Konzeption unerkennbare Realität beziehen. Bereits dem Bewusstsein sind jedoch sämtliche seiner Umweltkontakte durch das Nervensys­ tem vermittelt. Die Realität, so erläutert Soziale Systeme, ist „dem Bewusstsein nie als solche gegeben, sondern nur in der Weise, dass die Bewusstseinsoperationen sich selbst kontrollieren“.66 In Soziale Systeme versucht Luhmann das Dilemma eines fehlenden Erkenntnisstandpunkts mit der Annahme abzuschwächen, dass sich seine Analysen methodisch und theoretisch, insofern sie recht heterogene Sachverhalte beobachten könnten, bestätigten. Die Verschiedenartigkeit des in immer gleicher Weise Aufgezeigten kann demnach „als Indikator für Wahrheit“ gelten. „Damit ist keineswegs gesagt, dass die semantische Form, in der sie präsentiert werden, der Realität ‚entspricht‘“, so wird erläutert, „wohl aber, dass sie Realität ‚greift‘, das heißt, sich als Ordnungsform im Verhältnis zu einer ebenfalls geordneten Realität bewährt“.67 Wahrheit ist der Wissenschaft der Gesellschaft zufolge allerdings dasjenige symbolische Medium, in dem Wissenschaft ganz generell operiert. In ihr codiert sich das System: „Die Unterscheidung wahr/unwahr […] kann sich [somit] nicht selbst beobachten; sie ist ihr eigener blinder Fleck“.68 Anzeichen für sie, im Sinne einer Bewährung an Wirklichkeit, kann es nicht geben. Die Realität ist notwendigerweise eine systemimmanente Konstruktion und wahr, was immer jeweils wissenschaftlich anerkannt wird. „Realität als solche (das heißt ohne Beziehung auf Erkenntnis) ist unerkennbar. Realität kann nur sein, wie sie ist – unterscheidungslos und dunkel“.69 Die 64 Ebd. S. 34. 65 Ebd. S. 654. 66 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 358. 67 Ebd. S. 90 f. 68 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 520. 69 Ebd. S. 698.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

monotone Behandlung unterschiedlicher Erkenntnisgegenstände, kann – wie in Soziale Systeme vermutet – ohnehin kaum als Indikator für die Stichhaltigkeit einer Theorie gelten, sondern lediglich für die Flexibilität ihrer Methode. Die Auskunft „real ist, was die Erkenntnis als real bezeichnet“ kann gleichwohl nicht befriedigen.70 Da die Erkenntnisse der Wissenschaft aber notwendig „Abstraktionen [sind], die das Flüchtige des Moments durch Selektion zu überdauern suchen“,71 ist die Frage wie Luhmann in Soziale Systeme ein Greifen von Theorien oder Begriffen im Ereignishaften denkt. Wesentlich ist hier der Begriff der Kontingenz – des Möglichen, aber nicht Notwendigen, insofern er auf eine das Mögliche limitierende Realität verweist. „Das Objektverhältnis der Wissenschaft ist […] seinerseits ein Verhältnis doppelter Kontingenz. Das Objekt kann nur dadurch erforscht werden, dass man seine Selbstreferenz in Bewegung setzt bzw. deren Eigenbewegung mitbenutzt. Alle Transparenz, die zu gewinnen ist, ist dann Transparenz der Interaktion mit dem Objekt und der dazu nötigen Deutungen“.72

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Von doppelter Kontingenz spricht Luhmann in erster Linie als dem Mechanismus, der, nach dem Prinzip „ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will“,73 zur Bildung sozialer Systeme führt. Dieses Geschehen bedingt demnach nicht nur, dass sowohl Alter als auch Ego aus dem durch sie konstituierten System auf dieses Bezug nehmen, sondern auch, dass die Interaktionsteilnehmer sich erst in Hinsicht auf den Anderen bestimmen, dass also „Selbstreferenz […] über ein alter Ego läuft“.74 Wer Ego ist, vermittelt sich ihm erst aus einer Situation, anhand der Reflektion seines Verhaltens in Bezug auf und durch Andere. Übertragen auf Erkenntnisse würde dies bedeuten, dass die Operation der Beobachtung, keineswegs ihre Differenzschemata einer per se unerkennbaren Realität überstülpt, sondern erst einer Interaktion mit ihr entspringt. Entsprechend heißt es am Ende von Soziale Systeme: „Erkenntnis selbstreferentieller Systeme ist also eine emergente Realität, die sich nicht auf Merkmale zurückführen lässt, die im Objekt oder im Subjekt schon vorliegen […]. Diese Einsicht sprengt […] die Subjekt/Objekt-Schematik der Erkenntnistheorie“.75 70 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 648. 71 Ebd. S. 395. 72 Ebd. S. 657. 73 Ebd. S. 166. 74 Ebd. S. 183. 75 Ebd. S. 658.

3.7 Realität beobachtet ‚wie von außen‘ bei Luhmann

Luhmann arbeitet diesen Ansatz, der, in der Entfaltung einer Bezüglichkeit, an Heideggers Seinskonzeption erinnert und Objekte wie alter Egos behandeln müsste, jedoch nirgends aus. Erst Sprache „ermögliche die Konstruktion einer Welt“ heißt es in Die Wissenschaft der Gesellschaft,76 die sowohl an der Kritik am Subjekt-Objekt-Schema wie am Paradigma der Kommunikation festhält. Jene Kritik basiert auf der systemtheoretischen Dekonstruktion des Subjekts als einem sozial vermittelten. Die Unterscheidung Subjekt und Objekt wird zur systeminternen Differenz von System und Umwelt umgedeutet, aus der „das System sich selbst von etwas anderen unterscheiden kann“.77 Das System differenziert sich, in sich, von sich und nimmt auf die so konstituierte Umwelt Bezug. Dieses System ist wohlgemerkt kein irgendwie geartetes Subjekt, sondern in diesem Fall die Wissenschaft. „Erkenntnistheoretisch gesehen tritt mithin die Annahme eines rekursiv operierenden, eigene Beobachtungen prozessierenden Systems an die Stelle, wo früher das Subjekt die Funktion hatte, sich selbst über apriori geltende Bedingungen des Erkennens zu vergewissern“.78

Einem Bewusstsein ist bereits die dargelegte Problemstellung überhaupt nur zugänglich, insofern es an Kommunikation, in diesem Fall wissenschaftlicher, partizipiert. Die These einer für das Subjekt unerkennbaren Realität wird von Luhmann also „nicht für falsch erklärt, sondern nur generalisiert: Jedes selbstreferentielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt ‚an sich‘“,79 heißt es in Soziale Systeme. Dieses Sich-Ermöglichen von Umwelt setzt wie Luhmann erläutert jedoch eine an sich strukturierte, nicht beliebige, geordnete Realität voraus, da es ansonsten nichts gäbe, woran sich solche inneren Umwelten bewähren und evolutionär herausbilden könnten. Würde Luhmanns Realität nicht doch irgendetwas parat halten, müsste jede Beobachtung, in Ermangelung von Kriterien, willkürlich sein. Die semantische Form mag der Realität, wie zitiert, nicht entsprechen, sie soll jedoch mit einer ebenfalls geordneten Realität korrespondieren. Bereits der Anspruch, sich auf wirkliche Systeme zu beziehen, setzt offen bei einer an sich strukturierten Realität an. Soziale Systeme sollen wirklich Sinn in Form von Differenzen prozessieren und diese psychischen Systemen, primär sprachlich, zur Verfügung stellen.

76 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 52. 77 Ebd. S. 382. 78 Ebd. S. 691. 79 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 146 f.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

Kommunikation müsste also von sich aus strukturiert sein und nicht nur für jeweils die, die sie konstituieren. Am Beispiel der Sprache wird jedoch deutlich, dass diese Annahme problematisch ist. Sie wird nicht nur als „Medium von den Systemen, die es benutzen, erst erzeugt“,80 sie ist auch nur für diese als geordnete Entität existent. Sie nimmt nicht nur, um Imaginationen anregen zu können, „das Gedächtnis psychischer Systeme in Anspruch“, sie bildet sich erst in diesem heraus. Ohne einer Sprache kundig zu sein, erscheinen ihre Äußerungen als undifferenzierter Strom von Geräuschen. Nicht über „Sprache wird Bewusstseinsbildung [… also] überhaupt erst möglich“, sie muss sich vielmehr im Bewusstsein überhaupt erst herausbilden. Der Logik von System und Umwelt folgend, kann ein psychisches System sich das, was Sprache ermöglicht, nur selbst zur Verfügung stellen. Innerhalb einer differenzlosen Realität ist nichts, auch kein Sprachgeräusch, als eigenständig auszumachen. Sie wären indifferenter oder aspektloser Aspekt eines einzigen unterscheidungslosen Sich-Ereignens. Unter dieser Voraussetzung ist die Annahme struktureller Kopplungen zwischen sozialen und psychischen Systemen jedoch nicht plausibel. Luhmann beobachtet also nicht nur so, „als ob wir es von außen tun könnten“,81 seine Deutungen projizieren (Differenzen prozessierende) soziale Systeme in die – vermittels System-Umwelt-Differenz nicht beobachtbare – Realität. Dass es „keine Begründung der ‚Wahrheit‘ der konstruktivistischen Theorie“ gibt,82 gesteht Die Wissenschaft der Gesellschaft ein. Luhmanns Arbeiten wimmeln, bekanntermaßen, von analysebedingten Paradoxien, die er selbst aufzeigt. Der Konstruktivismus kann alles erklären. Er kann nur nicht begründen, was ihn in letzter Instanz zu diesen Erklärungen berechtigt. Jede Beobachtung ist im Versuch ihrer Selbstbegründung zirkulär. Dieses Selbstbegründungsdefizit versucht die Systemtheorie mit dem Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung zu entschärfen. 92

„Es antwortet […] auf das Problem der Zirkularität, indem es den Beobachter anweist, zu beobachten, wie andere Beobachter ihre Zirkel entfalten, und ihn dann zu dem autologischen Schluss zwingt, dass auch er Selbstreferenzprobleme durch Unterscheidungen auflösen muss“.83

Das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung löst das Problem einer Beobachtung von außen jedoch keinesfalls. Es potenziert es vielmehr. Die 80 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 54. 81 Ebd. S. 174. 82 Ebd. S. 531. 83 Ebd. S. 508.

3.8 Der Mangel eines Begriffs des Begriffs bei Adorno

Beobachtung der Beobachtung ist Konstruktion einer Konstruktion. Die konstruktivistische Analyse zieht sich im autologischen Schluss gewissermaßen selbst den Boden unter den Füßen weg. Sie reflektiert fortwährend ihre eigenen, nicht herleitbaren Behauptungen. Die Systemtheorie erklärt und entwertet die jedem Einzelnen zunächst einmal fraglose Wirklichkeit, durch das Einsetzen einer wirklicheren Wirklichkeit, die ihr qua eigener Konzeption unzugänglich sein und bleiben muss. 3.8 Der Mangel eines Begriffs des Begriffs bei Adorno Im Gegensatz zu Heidegger, Derrida und Luhmann, die mit ihren jeweiligen Konzepten in Selbstwidersprüche geraten, rückt Adorno gerade die Widersprüchlichkeit in das Zentrum seines Denkens. Während sich Fundamentalontologie und Dekonstruktion nicht anders als die Systemtheorie mit ihren All-Erklärungsansätzen um die reflexiven Voraussetzungen ihrer Selbstbegründung berauben, macht die Negative Dialektik Reflexivität, die negative Bezüglichkeit von Bezeichnung und Bezeichnetem, zum Kern ihrer Argumentation. Sie zeichnet sich dabei durch eine generelle Ablehnung jeglichen Philosophierens in Systemen aus. Darauf, zum Ausdruck zu bringen, wie unzufrieden er mit der Seinsinterpretation Heideggers ist, verwendet Adorno bekanntermaßen erheblichen Aufwand. Aber auch die beiden anderen hier noch angeführten Autoren hätten, wäre es ihm möglich gewesen und wert erschienen, fraglos seine Ablehnung erfahren. Dabei weist Adorno die Annahme sprachlicher, gesellschaftlicher oder die Wahrnehmung determinierender Strukturen überhaupt nicht zurück. Er bestätigt sie in Abgrenzung zu ihnen vielmehr fortwährend. Nicht die Universalität von Vermittlung wird infragegestellt, sondern lediglich darauf beharrt, dass diese nicht absolut gesetzt werden darf; dass ihr etwas Vermitteltes, nicht gänzlich Unzugängliches, zugrunde liegen muss. Jedes Denken vom Allgemeinen aus steht für ihn dabei im Verdacht, das idealistische Vergehen eines sich absolut setzenden Subjekts zu wiederholen. Deshalb verpasst es die Negative Dialektik aber auch eine Systematik zu entwerfen, anhand derer sich die reflexiven Strukturen, die sie in Anspruch nimmt, begründen ließen. In großer methodischer Nähe zu Derrida bleibt Adorno auf kritische Lektüren beschränkt. „Das Verfahren wird nicht begründet sondern gerechtfertigt“,84 heißt es – an jene, die es schon immer wussten, gerichtet – bereits im Vorwort der Negativen Dialektik. Auch die Adornosche Philosophie muss sich, in ihrem Bemühen, die Vernunft zur Vernunft kommen zu lassen und zum Konkreten zu gelangen, ein Selbstbegründungsdefizit vorwerfen lassen. Dabei macht natür 84 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 9.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

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lich auch sie, etwa mit der Feststellung, dass der vordem unnaive Vorbehalt dem Schein der sinnlichen Erfahrung gegenüber, selbst naiv geworden sei, unweigerlich allgemeine Voraussetzungen. Die eigentliche Täuschung ist ihr, dass der Identifikation etwas ihr Identisches entspricht. In Abgrenzung zu Heidegger und Derrida, deren Anstrengungen drin bestehen, die Sprache durch die Sprache zur Sprache kommen zu lassen oder die Schrift sich in der Schrift artikulieren zu lassen, besteht Adornos Bemühen darin, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“.85 Einen Begriff des Begriffs bleibt er dabei schuldig. Während er Heidegger vorwirft, Substanzdurch Funktionsbegriffe zu ersetzen, ist das Begriffliche der Begrifflichkeit bei ihm selbst, anhand von Identifikation und Vermittlung, funktional bestimmt. Dabei wäre gerade von einer sich als materialistisch verstehenden Theorie eine Antwort auf die derridasche Frage, was jener Begriff selbst ist, zu erwarten. Anhand der negativdialektischen Vorgehensweise müsste sich etwas Unbegriffliches am Begriff als konstitutiv für ihn ausmachen lassen. Mehr noch, der Begriff wäre gezwungen seine eigene kategoriale Bestimmung gegen sich selbst zu kehren, um die Unwahrheit seiner eigenen Kategorie zu bekunden. Bereits die Dialektik der Aufklärung bleibt jedoch auf die Beschreibung der Emanzipation aus sprachlich-mythischen Verstrickungen mit all ihren Folgen beschränkt, ohne ihre, die Möglichkeit der Lüge begründenden Voraussetzungen zu benennen. Tatsächlich wird die den Mythos zerstörende Vernunft, die erst aus seiner Zerstörung resultieren dürfte, bereits, um ihn zerstören zu können, vorausgesetzt. Gänzlich unklar ist dabei, ob es eine radikal unaufgeklärte, absolut fetischistische Sprache – wie sie als ursprünglich angenommen wird –, eine Sprache, in der die Begriffe sind, was sie bezeichnen, überhaupt gegeben haben kann; wie sich mit einer solchen hätte sprechen lassen sollen. Es müsste nicht einfach alles Gesagte uneingeschränkt wahr sein, Sprecher hätten zum Zu-Sagenden keinerlei Distanz, obgleich sich erst aus dieser etwas sagen ließe, während Hörer nichts verstehen, sondern nur reflexhaft auf Gesagtes reagieren könnten. Die in der Negativen Dialektik so vehemente Forderung, Vermittlung zu reflektieren, bleibt auf halbem Wege stecken. Nicht sind Begriff und Realität nur widerspruchsvoll, mindestens als verbal oder skriptural artikulierte sind Begriffe selbst auch Teil der Realität. Anders ließe sich kein Begriff von irgendetwas erlangen. Auch das, das Nicht-Identische in seiner Bestimmung als Objekt Überformende – der Begriff – müsste selbst als Objekt, und im Rückschluss als Nicht-Identisches, bestimmt werden. Anderenfalls setzte die Reflektion eine gleichermaßen transzendente wie transzendentale Instanz ein, die ihre eigene Möglichkeit bedingt und so fragwürdig erscheinen lässt. Damit aber spielt Kritische Theorie falscher 85 Ebd. S. 27.

3.8 Der Mangel eines Begriffs des Begriffs bei Adorno

Aufgeklärtheit die Möglichkeit zu, ihre Gegenwartsdiagnosen, die sich fortwährend und in jüngster Zeit wieder als durchaus angemessen erweisen, als standpunktloses Herumkritisieren zu diffamieren. Der Vorrang des Objekts, den die Negative Dialektik ausmacht, wäre absolut zu setzen. Ihre ideologiekritische Argumentation lebt jedoch, obgleich der Bruch zwischen Subjekt und Objekt nicht absolut zu setzen sei, von dem Widerspruch beider. Adorno sieht, dass die Wand, die das Subjekt zwischen sich und das Objekt baut, die erst dazu führt, sein fürsich-Sein als das an-und-für-sich zu nehmen, selbst bereits Ergebnis von Reflektion ist. Der Heideggersche Versuch jenseits der Differenz von Subjekt und Objekt anzusetzen, erscheint ihm jedoch irrational; der Begriff des Seins hypostasiere Vermittlung. Weil objektive Erkenntnis, wider der Objektivität der Gesellschaft und im Gegensatz zum üblichen Wissenschafts­ ideal, ein Mehr an Subjekt verlangt, individuelle Erfahrung aber als objektiv vermittelt gedacht wird, ist es Adorno unvermeidlich, an einem kritischen Abstand zwischen Subjekt und Objekt festzuhalten. Dass Heidegger das Sein aus der Mitte der „Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide sich durchdringen“,86 zu denken versucht, bleibt der insofern selbst ideologischen Ideologiekritik verborgen. In der Tat sind die Empfindungen des Subjekts, wie von der Negativen Dialektik konstatiert, als an der Materie befestigt zu denken. Differenziert Abstraktion Wahrnehmung von Wahrnehmen oder Wahrgenommenem – im selben Begriff voneinander –, täuscht sie über deren Unselbstständigkeit und mündet in Guckkastenmetaphysik. Die Annahme einer nicht erst im Ineinander der Rezeption mit dem Rezipierten existenten Rezeptivität schneidet das Subjekt von der Welt ab. „Die Polarität von Subjekt und Objekt [… ist jedoch] kein Positives, […] sondern negativ, dadurch Ausdruck einzig der Nichtidentität“.87 Diese Nicht-Identität konkretisiert sich in Empfindungen, die vielmehr das Subjekt vermitteln, als dass sie durch es vermittelt wären. „Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt“.88 Das Subjekt ist nicht das radikal Andere des Objekts, sondern seinerseits unselbstständig und somit Geistiges so wenig vom Körper zu trennen wie der Leib von der Welt, in die er eingebettet ist. An diesem Punkt der Reflektion bricht Adorno jedoch ab. Gleichsam eine Tür aufstoßend, durch die er nicht geht, kehrt er zur Auffassung zurück, dass alle Subjektivität durch gesellschaftliche Objektivität vermittelt sei. Eine Antwort darauf, wie Wahrnehmung überhaupt überindividuelle Prägung erhalten soll, wie es konkret sein kann, dass Empfindungen gesellschaftlich formiert werden, bleibt er schuldig. Dabei wäre aufzuzeigen, 86 Ebd. S. 133. 87 Ebd. S. 176. 88 Ebd. S. 184.

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3. Vermittlung und Selbstbegründungsdefizit

wie im Vorrang des Objekts, „dessen Objektivität zum Nonsens“ würde,89 wie Adorno an anderer Stelle bemerkt, wie sich Sinn aus Nicht-Sinn gebiert. Nicht die Stellung der Worte zur Realität ist zu kritisieren – als ob jene einer von der Wirklichkeit abgehobenen Sphäre angehören würden –, sondern zunächst ihre Körper in der Realität zu rekonstruieren, und so die Konstitution von Reflexivität selbst. Ansonsten erscheint Geist, wie etwa in der Ästhetischen Theorie, erneut als das einfach Andere der Stofflichkeit. Der Rätselcharakter der Kunst, den Adorno dort als der „Konfiguration von Mimesis und Rationalität“ – dem sinnlichen Nachvollzug eines Werkes und seiner geistigen Reflektion entsprungen – deutet,90 reproduziert die hergebrachte Dualität von Intelligibilität und Sinnlichem. Mimesis und Rationalität bedingen sich wechselseitig – ansonsten müsste der Nachvollzug so stumpf und geistlos sein, wie die Reflektion gegenstandslos wäre – und verhöhnen einander doch, insofern sich mit der Ausdifferenziertheit einer Interpretation auch die Eigenständigkeit eines Werkes vertieft und so beide zur Absurdität geraten. In der äußersten Gestalt dieser Konstellation des Rätselcharakters wird jeder „Anspruch der Objektivität von Sinn an sich“,91 dem die Erfahrung ohnehin widerspricht, als uneinlösbar deutlich. Darüber, wie Sinn entsteht, was Sinn ist, verrät Adorno jedoch nichts. „Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben“,92 erläutert er. Es wird jedoch nicht gelöst, sein Grund nicht angegeben, sondern lediglich, in immer neuen Wendungen des Ineinanders und Gegeneinanders von Erfahrung und Theorie, Geist und Materie, seine Rätselhaftigkeit aufgezeigt.

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89 Adorno, T. W. (1997). Zu Subjekt und Objekt. In: Ders. Kulturkritik und Gesell­ schaft II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 756. 90 Adorno, T. W. (1997). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 192. 91 Ebd. S. 193. 92 Ebd. S. 186.

4. Ereignen und Wahrnehmung Jeder Ansatz, der transzendentale vermittelnde Strukturen fokussiert – ob sie nun Sprache, Zeichen, Gesellschaft o. Ä. heißen – muss, so scheint es, in Selbstwidersprüche geraten. Gezwungen sich selbst als durch die gesetzten Bedingungen bedingt zu begreifen, hebelt sich der Hebel der Erkenntnis selbst aus. In diesem selbstbedingten Scheitern liegt bereits Erkenntnis. Eine jedoch, die sich kaum verallgemeinern lassen wird, da es sich stets um das Selbstbegründungsdefizit eines spezifischen Ansatzes handelt. Selbst das sich ebenfalls in Widersprüche verstrickende Denken Anderer zeigt nur, dass auch deren Ansatz auf Antinomien führt. Rückschlüsse auf eine generelle Verfassung der Möglichkeit von Erkenntnis, als in ihrer Bedingtheit notwendig paradox, lassen sich nicht ziehen. Die Deutung der Deutung oder die Beobachtung der Beobachtung als in ihrer Voraussetzung uneinholbar gesetzt, blockiert, wenn es ihr nicht gelingt, doch ein über sie hinausweisendes Moment ihrer Bedingung zu bestimmen. Der Versuch, Voraussetzungen aus ihrer Voraussetzung ableiten zu wollen – Sprache durch Sprache, Schrift durch Schrift, Beobachtung durch Beobachtung – ist ebenso unschlüssig wie der, mit ihnen über sie – dem Begriff über den Begriff – hinaus gelangen zu wollen. Stets arbeitet sich die anfängliche Setzung nur an sich selber ab. Abgesehen davon, dass sie a) kaum sämtliche relevante Faktoren berücksichtigen können wird, b) nicht klar ist, von wo aus sich diese bestimmen lassen sollten und c) das Berücksichtigte bereits kategorial überformt wäre, scheint das eigentliche Dilemma, dass sich allgemeine Erkenntnis in der Bedingtheit ihrer selbst sabotiert – während partiale Erkenntnisse von den sie umgebenden Bedingungen sabotiert werden. Wo Vermittlung gesetzt wird, ist stets eine Funktion behauptet. Das größte Manko von Begriffen wie Sprache, Zeichen oder System aber scheint, dass sie in sich immer schon vorweg nehmen, was sie erklären sollen: Strukturiertheit. Anhand ihrer soll sich die Geordnetheit von Welt herleiten lassen. Selbst sind sie dabei jedoch immer schon als strukturiert vorausgesetzt. Gleichzeitig müssen sie notwendig Teil von Welt sein. Der scheinbare Geniestreich der Strukturiertheit als differentieller selbst

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4. Ereignen und Wahrnehmung

Transzendentalität zuzusprechen, zieht die Unzulänglichkeit lediglich in einem einzigen tautologischen Punkt zusammen und erneuert die kritisierte Selbstwidersprüchlichkeit. Der Schluss kann, so scheint es, nur sein, konzeptuell nicht schon bei vermittelnden Strukturen anzusetzen. Der vorgreifenden Auskunft, dies sei nicht möglich – ja vielleicht sogar peinlich naiv und anmaßend zugleich –, ist entgegen zu halten, dass ihr kein Standpunkt zur Verfügung steht, von dem aus sie sich dessen abschließend sicher sein könnte. Die anstehenden Überlegungen versuchen, wie angekündigt, Voraussetzungen auszumachen und zwar solche, die es erlauben aus der Indifferenz von Subjekt und Objekt zu denken. Sehr knapp beabsichtigt die Auseinandersetzung mit Heidegger dabei aufzuzeigen, dass sich Sprache, in dem von ihm als ursprünglich hergeleiteten Begriff des Ereignisses, auflösen müsste, und dass dieses Ereignis, anders als ein sinnliches, wenig plausibel sein wird. Auch Derrida kommt, so soll aufgezeigt werden, nicht um die Annahme eines ursprünglichen Ereignens umhin – bereits die Differenz Sinnlichkeit/Eindruck setzt es – insofern etwas Spuren hinterlassen müssen wird. Strukturalität jenseits jeden qualitativ sinnlichen Momentes scheint kaum denkbar. Der Begriff des Sinns bei Luhmann wird im Weiteren entsprechend nicht als operativ aktiv sondern als rezeptiv passiv reformuliert. Am Anfang wird der Schluss auf eine rezeptive Indifferenz stehen. Bestimmt Adorno einen Vorrang des Objekts, so ist dieser absolut zu setzen und die Frage folglich, wie das Subjekt aus seiner ursprünglichen sinnlichen Entäußerung in Differenz auf sich kommt. Im Anschluss hieran soll versucht werden, die leibliche Wahrnehmung als sich erst an dem, was sich ihr ereignet, herausbildend, zu rekonstruieren. 4.1 Mit Heidegger über die Sprache zum Ereignen

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Daraus, dass Philosophie fraglos Sprache zur Voraussetzung hat, lässt sich keinesfalls ihre einfach kausale sprachliche Bedingtheit folgern. Um auf diese schließen zu können, müsste geklärt sein, wie Sprache bedeutet. Schon die zunächst scheinbar plausible Annahme, Bedeutung sei zumindest im Falle von Sprache offensichtlich sprachlich strukturiert, lässt sich auch zugunsten einer Strukturierung von Sprache durch Bedeutungen umkehren. Ein Primat der Sprache lässt sich eben nicht herleiten. Mit dieser Aussage wäre vielleicht auch Heidegger noch einverstanden. Das Vorhaben, fundamentale ontologische Strukturen aufweisen zu wollen, bedingt, dass diese in ihrer Fundamentalität nicht ableitbar sind. Nun lässt sich aber tatsächlich erst in Sprache sagen, dass etwas ist. Der Umkehrschluss, dass erst ist, was sich mit ihr sagen lässt, führt hingegen in die Irre; und bestä-

4.1 Mit Heidegger über die Sprache zum Ereignen

tigt gleichzeitig das nicht zu leugnende Bedingende der Sprache, das Verstrickt-Sein des Denkens in sie. Heideggers Der Weg zur Sprache setzt bei der herkömmlichen Auffassung von Sprache als artikulierter und gegliederter Verlautbarung an. Ihre hergebrachte zeichenhafte Konzeption leitet sich demnach vom Zeigenden ihrer Laute ab, die als gehörte zum Anwesenden gehören. Sprache abstrahiert in ihrem Begriff insofern vom Sprechen. Eben damit, dass sie sich anhand der stimmlichen Artikulation, also einer Tätigkeit des Subjekts, herleiten ließe, ist Heidegger jedoch nicht einverstanden. Kein Subjekt kann eine Sprache hervorbringen. Wäre sie vom Sprechen her hinreichend bestimmt, wäre Sprache wechselseitiges sich-Antönen. Das, was sie ermöglicht, nämlich zu bedeuten, entspringt vielmehr einer überindividuellen Ordnung. Sprache ist demnach nicht anhand ihrer Stofflichkeit, als etwas Besonderes im Allgemeinen, zu bestimmen. Sie ist, was sie ermöglicht. Und was sie ermöglicht, ist etwas zu sagen. Sie erlaubt als Sage, dass sich im Sprechen zeigend verhalten wird. Die Ordnung der Sprache wird von Heidegger als der Aufriss des Gefüges des Zeigens bestimmt. Sagen heißt „zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen“.1 Er abstrahiert, um eine Bestimmung von Sprache zu erhalten, im Begriff der Sage, wie Adorno zutreffend feststellt, von ihrer Funktion. Das Sprachwesen leitet sich demnach vom Aufzeigen des An- und Abwesenden her. Entsprechend formuliert Heidegger: „Das Wesen der Sprache ist die Sage als Zeige“.2 Sprache ist keine menschliche Tätigkeit, vielmehr ist der Mensch im Nachsagen der Sage, so wird erläutert, der Sprache hörig. Erst auf die Sage hörend kann er sprechen. Der Weg zur Sprache versucht insofern die funktionale Struktur der Sprache – ihr Ermöglichendes, die Sage – vom Sprechen zu trennen. Tatsächlich muss ihr Aufriss aber nicht weniger in ihre Verlautbarung eingelassen sein als der Mensch in die Sprache. Keine Ordnung ohne etwas, worin sich diese als strukturierte konstituiert: Im Falle der verbalen Sprache ihre Artikulation. Sie tradiert sich nicht als virtuelles System, sondern im konkreten Sprechen. Ohne Laute könnte der Mensch der Sprache nicht hörig sein. Damit wird Heideggers Konzeption widersprüchlich. Sprache lässt sich nicht anders als vom Anwesenden her denken – soweit ist Derrida zuzustimmen – ansonsten installierte die Reflektion eine imaginäre Instanz – und soll es doch erst anwesen lassen. Dieses „anwesen“ bezeichnet dann sowohl den Modus als auch den Vollzug des Anwesens des Anwesenden: das Zeigen, Erscheinen, Sehen und Hören. Es meint – so lässt sich rekonstruieren – die Art und das Geschehen der Bezüglichkeit des Seins. 1 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Spra­ che. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 252. 2 Ebd. S. 254.

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Funktion und Stoff lassen sich jedoch nicht trennen – bzw. wo dies in der Theorie geschieht, zumindest nicht ohne in Unstimmigkeiten zu geraten. Denn die Sprechenden haben nicht nur im Sprechen auf etwas, das sie angeht, gerichtetes, ihr Anwesen; sie sind sich selbst nicht nur aus der Ausrichtung auf etwas – das selbst nichts Sprachliches ist – gegeben; nicht nur hält jenes sich dem Sprechen entgegen, so dass die Sprechenden sich zu etwas verhalten;3 vielmehr entfaltet sich die Bezüglichkeit dieses Verhältnisses insofern es mit etwas geschieht: dem artikuliertem Laut. Die gerichtete Bezüglichkeit des Anwesens konstituiert sich gewissermaßen in der Konstellation einer wechselseitigen Entgegenhaltung: Etwas und Etwas. Die Überlegungen scheinen wieder bei einer konventionellen zeichenhaften Sprachkonzeption angelangt. Sprechen ist Heidegger zufolge jedoch nicht als Tätigkeit des Subjekts zu begreifen, sondern als Antworten. „Jedes gesprochene Wort ist schon Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen“.4 Der Mensch reagiert  sozusagen sprechend – antwortend – auf das ihm widerfahrende und vernimmt sich dabei selbst. Er sagt die Sage der Sprache nach, hört sich und ist ihr so ganz konkret hörig. Heidegger wandelt die Auffassung ab, derzufolge Sprache eine Welt strukturierende Position zwischen Geist und Gegenständen, zwischen Subjekt und Objekt einnimmt. Er entsubjektiviert sie, indem er von einem „Zwischen“ aus denkt. Aus der Bezüglichkeit ist der hergebrachte Dualismus nicht mehr zu halten. Der Mensch ist der Sage nicht mächtig, sondern hörig und gerät selbst in die Position des (sich) Anwesenden. Die Dualität von Subjekt und Objekt wird in die Funktion der Sprache eingelassen, in ihr aufgelöst. Sprache ist das strukturierende – damit aber selbst, wie bemängelt, immer schon als strukturiert vorausgesetzte – Medium des Seinsbezugs. Bereits in Sein und Zeit wird der Sprache diese eigentümlich herausgehobene Position zugewiesen. So wird zwar dargelegt, dass schon vorprädikatives Verstehen, das es fraglos gibt, die Dinge aus ihrer Bewandtnis als solche versteht. Verstehen wird als eigenes Existenzial neben der Rede angesetzt. Die Rede erst soll aber „die bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“ übernehmen.5 Hören und Sprechen machen sie jedoch notwendig zu einem Teil von Welt. Wo und wie konstituiert und tradiert sich dann aber der Aufriss der Sage? Woher die Differenz der Bezüglichkeit? Die Annahme vorprädikativ verstehbarer Dinge lässt die Frage nach dem Ding gesprochene Sprache unberücksichtigt.

3 Vgl. Ebd. 250 f. 4 Ebd. S. 260. 5 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 162.

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Selbst etwas Seiendes soll die artikulierte Aussage als Aufzeigung „Seiendes von ihm selbst her sehen lassen“,6 so Heidegger in Sein und Zeit. Hierin ist sie unselbstständig. In der Rede regt sich, an- und abwesend, etwas. Ob theoretisches, phantastisches oder konkretes Sprechen, an etwas ist alles Reden in letzter Instanz zurückgebunden. Dieses Etwas aber, das was verstanden wird, lässt sich nur so denken, dass es sich ereignet. Dieses „Es“ müsste – vor jedem Verstehen – als unstrukturierte, nicht jenseitige, sondern diesseitige, eben an-wesende qualitative Fülle gedacht werden. Während Abwesendes nur als defizitärer Modus jener Fülle einsichtig ist. Entscheidend aber ist, dass der Mensch keinerlei Verfügung über jenes Geschehen hat. Etwas ereignet sich. Er ereignet sich antwortend. Der Zusammenhang ist – in aktuellerer Terminologie – ein Zusammenhang der Responsivität. Das Ereignis gibt. Der Weg zur Sprache führt zum Ereignis. „Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen“,7 erläutert Heidegger. „Eignen“ sowohl im Sinne eines Besitz- oder Verfügungsverhältnisses, als auch im Sinne eines ereignishaften Geschehens. Die zitierte Formulierung ist demnach beabsichtigt indifferent: das Zeigen regt sich im Eignen, und das Eignen sich im Zeigen. Das sich Ereignen (des Sprechens) lässt das sich Ereignen (des An- und Abwesenden) erscheinen. „Das Ereignis ereignet den Menschen“.8 Das Ereignis des Antwortens, als auch das, worauf es antwortet, widerfahren, ohne dass jedoch einsichtig würde, was beide voneinander trennt. Die Konsequenz, dass sich Sprache als eigenständige Instanz in dem hergeleiteten Ereignis auflösen müsste, wird von Heidegger im Grunde zum Äußersten getrieben, jedoch nicht gezogen. Sein Weg führt – so soll behauptet sein – nicht zur Sprache sondern destruiert sie. Lediglich das Vorhaben, zu ihr gelangen zu wollen, täuscht sich noch darüber, dass der Weg von einem Primat der Sprache tatsächlich zu einem des Ereignens geführt hat. Die Differenz zwischen dem Anwesen der Sprache und dem in ihr Anwesenden dürfte in diesem nicht aufrecht zu erhalten sein. Die Hierarchie von Bezeichnenden und Bezeichneten löst sich auf. Es west, geschieht, ereignet sich. Sprache müsste in die indifferente Fülle des „Es“ genauso eingelassen sein wie alles andere auch. Wie sich aus unstrukturierter Qualität Ordnung herleitet und tradiert, wäre aufzuzeigen. Dass der Mensch nicht als Subjekt, auf die ihm begegnenden Dinge und Menschen zugreift, sondern als durch jene „be-dingtes“ und „be-stimmtes“ Dasein – das sich selbst erst in Ausrichtung auf etwas gegeben oder anwesend ist 6 Ebd. S. 154. 7 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Spra­ che. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 258. 8 Ebd. S. 261.

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– rekonstruiert werden muss, ist so plausibel wie der daraus letztlich resultierende Umstand, dass sein Sprechen als Antworten aufzufassen ist. Das Dasein ist in ein Ereignen verfügt. Der zentrale Einwand ist, dass die bezügliche Differenz des Anwesens, nicht anders als die Strukturiertheit der Sprache – an der die Funktion des Zeigens hängt – nicht hergeleitet, sondern gesetzt ist. Der Begriff des Ereignisses bezeichnet keinen Endpunkt für die Erkenntnis, sondern einen Anfang. Als endliche Wesen mögen wir metaphysisch ins Nichts gehalten sein, wie es in Was ist Metaphysik? heißt, aber nur insofern wir einer sensuellen, sich ereignenden Fülle entspringen. In jener Abhandlung ist das Es, das gibt, noch das Sein. In seinem Vortrag Zeit und Sein wird jedoch ersichtlich, wie sich Heideggers Ansatz von einem hermeneutischen hin zu einer Philosophie des Ereignisses verschiebt. Die Strukturen des Bedeutens müssen eine letzte Fundierung erfahren. Zeit und Sein selbst müssen sich final begründen lassen. Der Ausgangspunkt, Sein nicht aus dem Seienden ableiten zu wollen, bleibt. Es geht, technisch formuliert, nach wie vor um den Mechanismus, aus dem Seiendes anwesend ist. Als diesen bestimmt schon Sein und Zeit die temporale Horizontalität aus Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit. Sein ist Anwesenheit durch Zeit. Aus dem temporalen Gefüge, das Heidegger zufolge selbst nichts und insofern transzendent ist, west das Anwesende an. Dasein müsste demnach als an ein Ereignen entäußert, aus diesem temporal auf sich kommend, rekonstruiert werden. Und eine Fußnote in Der Weg zur Sprache erläutert in der Tat, dass nicht „‚das Sein‘ als Ereignis gedacht“ werde, sondern „das Sein hinsichtlich seiner Wesensherkunft aus dem Ereignis“.9 Genau betrachtet, bezeichnet jene Anordnung der Zeitlichkeit von vorneherein keine statische Ordnung, sondern ein dynamisches ereignishaftes Gefüge, in dem Sein und Zeit einander bedingen. „Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d. h. in ihr Zusammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis“.10 Über das Ereignis selbst lasse sich allerdings nichts weiter sagen, als dass es gibt. Es handele sich bei ihm dennoch nicht um einen Oberbegriff, unter dem sich Sein und Zeit subsumieren ließen, sondern um ihren Geschehenszusammenhang. „Die Gabe von Anwesen ist Eigentum des Ereignisses“,11 so Heidegger. Das Ereignis, das woraus das Anwesen letztlich anwest, das worin selbst Sein und Zeit sich konstituieren, ist selbst nichts und entzieht sich endgültig jeder Bestimmung. Heidegger konzipiert für das Ereignis einen generativen Entzug. Spätestens seit 9 Ebd. S. 260. 10 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 20. 11 Ebd. S. 22.

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Derrida, der diese argumentative Figur übernimmt, ist der Gedanke – dem sich im nächsten Kapitel gewidmet wird – geläufig. Das, was das Seiende hervorbringt, ist selbst nichts Seiendes und entzieht sich folglich. Jenseits produktiven Ereignens ließe sich gleichwohl nichts plausibel machen. Anders als werdend und geworden kann Seiendes in seiner widersprüchlichen Vielfalt, tatsächlich in jeder erdenklichen Hinsicht, nicht sein. Auch Adorno äußert sich in den Meditationen der Negativen Dialektik entsprechend. Darauf, dass es nicht auf sein Gewordensein heruntergebrochen und so für nichtig erklärt werden darf, weist er hin. Das ereignishaft Werdende lässt keine mit ihm identische Bestimmung zu, sondern zeichnet es in seiner Eigenständigkeit als Nicht-Identität aus. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, sich noch einmal den Ansatz der Heideggerschen Überlegungen zu vergegenwärtigen: Was heißt es, dass etwas ist? Das ist die Frage. Und zwar nicht an sich, sondern jeweils für uns. Jede Vorstellung von etwas an sich, jegliche wissenschaftlich noch so elaborierte Erkenntnis, gibt es, aus ihrer unbestrittenen Geschichtlichkeit, nur für ein jeweiliges Dasein. Weil Heideggers Frage nach dem Sein nicht dualistisch ansetzt, sondern beim In-der-Welt-sein des Daseins, gerät sie nicht in einen infiniten Regress, wie er etwa von Luhmann als unvermeidlich für ein fortwährendes Fragen nach Gründen angesehen wird (Wobei auch er, wie gesagt, zu dem Schluss kommt, dass eine sich ereignende Realität zugrunde gelegt werden muss). Der Regress ist endlich. Nicht weil es eine theologische Begründung dafür gäbe, warum an-sich etwas ist, sondern weil das nicht die Frage ist. Sein verlangt, dass sich etwas ereignet. Etwas muss geschehen. Würde sich nichts ereignen, wäre nichts. Abstrakt läuft diese Einsicht, wie Adorno kritisiert, auf eine bloße Tautologie hinaus. Und in der Tat haftet Heideggers Ereignisbegriff, insofern er vom Seienden absieht, etwas Irreales an. Einzig anhand der angängigen Zukunft des Anwesenden, das in seiner temporalen Konkretion das Seiende konstituiert, verliert das Ereignis an Abstraktheit. Dass Sprache in das Gefüge des Ereignens eingeht, ihr also keine sublime Stellung zukommen kann, ist gezeigt worden. Gleichzeitig deutet sich an, dass mit der Bewegung, in der die Seinsfrage zum Ereignen gelangt, noch keine Antwort auf sie gefunden ist. Worin besteht der angenommene Geschehenszusammenhang? Der Horizont von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart – und mit ihm potentiell Vermittlung – bleibt gesetzt. Die Frage ist, was oder vielmehr wie konstituiert sich, in der Indifferenz des Ereignens, Temporalität, so dass Bezüglichkeit aus ihr hervorgeht.

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Das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ereignis ist vor allem für die Philosophie Derridas brisant. Die Vorstellung, im Ereignis sei Anwesendes anwesend, ist mit dem Entwurf der différance nicht vereinbar. Entsprechend äußert sich eine Fußnote in Die différance unter Verweis auf Zeit und Sein. Demzufolge lässt der Umstand, dass Heidegger das Ereignis nicht als Oberbegriff verstanden sehen will, gleichwohl eine (ohnehin nie wirklich in Frage stehende) Parallele zwischen der Konzeption der différance und der des Seins erkennen. Auch mit der Bewegung der différance ist schließlich etwas (wenn auch nicht „einfach“) Aktives oder Produktives gemeint. „Demnach wäre sie [… die différance] ebenso wenig wie das Sein eine Art der Gattung Ereignis“,12 schreibt Derrida. Die Annahme eines organischen, homogenen, ereignishaften Ursprungs, der dazu verleitet, Differenzen selbst als etwas zu begreifen, ist zu vermeiden, da sie „die ökonomische Bedeutung des Umweges, des temporisierenden Aufschubes, des ‚differer‘ zunichte machen“ würde.13 Zunächst einmal lässt aber ihr aktives Moment es nicht zu, die différance anders als ereignishaft, oder zumindest in Konstellationen des Ereignens eingebunden, zu denken. Ihre Bewegung wäre, jede Form unmittelbarer ereignishafter Präsenz im zeitlichen Aufschub in Anführungsstriche setzend, das Ereignis des „Ereignisses“. Zumindest dieses wird sich irgendwie verorten lassen müssen. Der Umstand, dass sich Differentialität nicht ohne Ursprung oder Zentrum, dass „sich in der Tat keine unorganisierte Struktur denken“ lässt, wird kompakt zu Beginn von Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen thematisiert. Derrida argumentiert wie gehabt, dass auch die Präsenz der Struktur niemals sie selbst sei, sondern Abwesenheit. Der Grundgedanke ist dabei relativ simpel: Als solche ist auch die materiale Strukturalität der Struktur nur strukturell erschlossen. Der Vorrang des Bezeichnens, eines Codes, lässt Präsenz, im Intervall der Wiederholung, zum Substitut werden. „Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt“.14 12 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 358. 13 Ebd. S. 42. 14 Derrida, J. (2006). Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders. Die Schrift und die Differenz. (S. 422 – 442). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 424.

4.2 Derrida oder Etwas muss sich schreiben, damit Schrift gibt

Das Anwesende ist in die Funktion des Spiels der Zeichen eingelassen. Allerdings wird eine Begründung dieses Spiels in seiner Setzung (die man sich nicht eingestehen, sondern mitmachen muss) umgangen. Das Ganze gleicht einem Taschenspielertrick, bei dem die Karte „Materialität der Struktur“ kurz hochgehalten wird, um sie vor den Augen strukturalistisch geschulter Selbstverständlichkeit, gleich wieder in der Struktur verschwinden zu lassen. Aber es ist mehr als das. Tatsächlich ist es nicht ohne Weiteres möglich, sich innerhalb eines Textes plausibel auf etwas Außertextuelles zu beziehen. Jeder einfache Versuch, dies zu tun, bestätigt zunächst lediglich, dass es kein Außerhalb zu geben scheint. Derridas Argumentation profitiert von diesem Effekt. Transzendentale Signifikate oder Referenten sind demnach so wenig auszumachen, wie etwas Anwesendes an der statt ihrer transzendental gesetzten Struktur der Signifikanten. Der Blickwechsel bringt, was immer präsent ist, in die Position des Signifikats und substituiert es. „Das Substitut [aber] ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert hätte“.15 Ein sinnvolles Fragen nach einem solchen an-sich schließt bereits Heideggers Ansatz aus. Die Differenz von Intelligiblem und Sinnlichem, und mit ihr der Begriff des Zeichens, muss sich auflösen. Jegliche Erfahrung oder Wahrnehmung ist interpretativ. Und sie muss es sein, insofern sich ansonsten keine Signaturen entdecken ließen. Derrida nennt diese Konsequenz. Es stehe jedoch, weil immer textuell, keine Sprache zur Verfügung, um sie zu kommunizieren. „Die Schrift liest sich, sie gibt ‚in letzter Instanz‘ keinen Anlass zu einer hermeneutischen Entzifferung“.16 Signatur Ereignis Kontext schlägt, in Übereinstimmung mit der genannten Auffassung, Kapital aus einem Kommunikationsbegriff, der – als Übertragung von Sinn – in der Tat unhaltbar ist: „Die Kommunikation transportiert demnach eine Repräsentation als idealen Inhalt (was man den Sinn nennen wird)“.17 Schon der Begriff der Repräsentation schließt jedoch bereits aus, dass das jeweils Vermittelte in ihr anwesend sein kann. Es gibt keine kommunizierbare, übertragbare Entität Sinn. Weder ist die Intention eines Autors bzw. Senders in einem Zeichen enthalten, noch kann er antizipieren, wie oder in welchem Kontext ein Empfänger sie deuten wird. Weder ist für einen Leser etwas vom Sender Gemeintes anwesend, noch ist überhaupt so etwas wie Kontext deutungsunabhängig gegeben. Konstitutiv für jeden Interpretationsprozess ist vielmehr eine Unterbrechung, die eine Verschiebung – Derrida verwendet den Term Alteration – unabdingbar macht. Was es gibt, ist einzig der Code, der alle Auffassung 15 Ebd. S. 424. 16 Derrida, J. (2001). Signatur Ereignis Kontext. In: Ders. Limited Inc. (S. 15 – 46). Wien: Passagen. S. 44. 17 Ebd. S. 23.

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regelt, und einen unweigerlichen Bruch im Verstehen. Ähnlich der Heideggerschen Sage ermöglicht erst der Code, dass etwas als Zeichen, letztlich das irgendetwas als „Ereignis“ aufgefasst wird. Der Begriff des Zeichens impliziert dabei, dass es sich bei einem Zeichen um nichts Singuläres, sondern etwas Wiederholbares oder, wie Derrida sagt, Iterierbares handelt. Iteration und Alteration konstituieren das Spiel der Schrift. Die derridasche Figur ist die einer unendlichen, sich historisch immer nur vermehrenden Interpretation, die es nicht erlaubt, zu irgendetwas Substantiellen vorzudringen. Die „Totalität der ‚Erfahrung‘“ ist demnach in dieses Spiel eingeschrieben. Jegliche Anwesenheit, jedes Seiende, alles Ereignen, was immer präsent oder anwesend ist, ist end-selbst, „da die Iterabilität selbst, die ihre Identität konstituiert, ihnen niemals erlaubt, gegenüber sich selbst eine Identitätseinheit zu sein“.18 Die Übereinstimmung mit der Argumentation Adornos drängt sich auf. In der Identifikation ist das Identifizierte nicht mit sich identisch. Mit eben dieser Figur erneuert sich jedoch auch die Frage nach dem, was der Deutung zugrunde liegt, die Frage nach dem Nicht-Identischen. Damit die Rede von Substitution sinnvoll ist, muss sich eine Bezeichnung, trotz Iteration, auf etwas von sich aus Unbestimmtes beziehen; auch wenn es das Substitut nicht ersetzt, sondern seine Identität als solche überhaupt erst erzeugt. Lektüren verlangen, auch wenn erst die Lektüre ihren differenzierten strukturierten Gegenstand konstituiert, dass sie sich an etwas festmachen. Ohne Beschaffenheiten, Qualitäten, etwas Organisches – wie immer es genannt sein soll – gäbe es nichts, worin sich Differenzen gewissermaßen „verhaken“ könnten. Bereits Adorno weist die Möglichkeit einer direkten Thematisierung des Nicht-Identischen, in der Negativfigur Nicht-Identität, zurück. Für Derrida erübrigt sie sich. Es wäre ihm vermutlich nichts als ein weiteres Geschwür im Wildwuchs der Interpretationen; Epiphänomen im NichtOrt des Austauschs von Zeichen. Gegen diese Auffassung ist nun aber (mit einer gewissen strategischen Naivität) einzuwenden, dass das Dasein, der Mensch, das Individuum, aller so zweifelhaften Erfahrung nach, nicht bereits codiert vom Himmel fällt. Die Schrift muss sich in es einschreiben, bzw. es muss sich in den Code einschreiben. Das Prinzip von Iteration und Alteration setzt immer schon Zeichenhaftigkeit voraus. Das Ereignen des „Ereignens“ muss sich aber irgendwie irgendwo konstituieren. Sollte es eine oder einige erste Signaturen geben (Und woher resultierten sie?), aus denen sich die ganze Komplexität der Welt erschafft? Ohne herzuleiten, wie sich ein bezeichnend zeichenhaftes Weltverhältnis überhaupt herausbildet, ohne zu erläutern, was es bedeutet, dass etwas bedeutet, ohne darzulegen, wie im Verste 18 Ebd. S. 28.

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hen verstanden wird, ohne aufzuzeigen, woraus sich das Substitut schafft, bleibt die Ausstreichung von Präsenz, Anwesenheit oder Ereignis im „als“ eine Behauptung. Die Sorge, sich mit metaphysischen Begriffen zu beschmutzen, führt lediglich zu einer Ausweichbewegung, die unabschließbar ist. Wie konstituieren sich Zeichen? Strukturell. Was konstituiert die Struktur? Zeichen. Das Bild des Codes kann insofern nur ursprungslos gedacht werden. Soll mit seinem Begriff keine mystische Instanz eingesetzt sein, muss anerkannt werden, dass es Zeichen nicht an sich gibt, sondern nur für jeweilige Individuuen oder Menschen, auch wenn diese sich selbst erst deutend erschließen. Implizieren Derridas Überlegungen damit nicht aber doch einen Anfang? Dasein oder Individuum müssten ursprünglich – so wie der hiesigen Auffassung zufolge im Heideggerschen Ereignis angelegt – als Nicht-Dasein, Nicht-Individuum in eine unbestimmte qualitative NichtIdentität eingelassen gedacht werden – nicht als einem sinnlichen Anderen des Bedeutens, sondern als dessen ereignishafter Anlass. „Die Gegenwärtigung des Anderen als solchen, das heißt die Verstellung seines ‚als solches‘ hat immer schon begonnen, und keine Struktur des Seienden vermag sich dem zu entziehen“,19 erläutert die Grammatologie. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass nicht nur die gedankliche Thematisierung von etwas oder jemandem nicht ohne Verstellungen auskommt, sondern auch die Gegenwart nicht jenseits ihrer gegenwärtig ist. Zu klären ist, wie sich dieses „als“, dem das Gegenwärtige zur Vorstellung geraten soll, konstituiert. Hier kommt bei Derrida der Begriff der Spur als Ur-Schrift zum Tragen. Auch er denkt dabei von einem homogenen Ursprung aus, wenn er feststellt, dass „ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, […] keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten“ könnte.20 Die Grammatologie erdenkt „eine reine Bewegung, welche die Differenzen hervorbringt“.21 Diese „reine“ Spur eben sei die différance. „Somit erweist sich die *Differenz [*différance] als die Formation der Form“.22 Erst die Spur ermöglicht ganz allgemein Erfahrung. Etwas aber wird diese Spur hinterlassen müssen, etwas muss sich schreiben, damit (es) Schrift gibt, damit sich so etwas wie ein Code der Weltdeutung herausbilden kann. Bei aller Abstraktheit der Überlegungen darf nicht vergessen werden, dass es nicht um die Frage geht, wie sich Zeichen, Strukturen oder eine formierte Welt an sich konstituieren – ein solches Fragen schließt sich aus –, sondern wie sie sich für jeweils uns konstituieren. 19 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 82 f. 20 Ebd. S. 109. 21 Ebd. 22 Ebd. S. 110.

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Das Konzept der différance setzt immer schon Differenzen voraus; nicht zuletzt die zwischen Sinnlichem und dessen „Artikulation“ als psychischem Eindruck. „Ohne die Differenz zwischen dem erscheinenden Sinnlichen und seinem erlebten Erscheinen (dem ‚psychischen Eindruck‘)“, so erläutert Derrida, „könnte die temporalisierende Synthese, die das Auftreten von Differenzen in einer Kette von Bedeutungen erlaubt, unmöglich wirksam werden“.23 Heideggers temporaler Horizont aus Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist auch Derrida unhintergehbar. Obgleich dieser ihn in eigener Weise konkretisiert: zwischen die Zukunft, das was anwest, das erscheinende Sinnliche, und die Gegenwart, das Anwesende, sein erlebtes Erscheinen, schiebt sich die Gewesenheit, die Spur der Schrift. Das von sich aus undifferenzierte, in sich gleiche, ereignishafte Sinnliche wird aus der Gewesenheit entziffert, sequenziert, formiert und zu jeweils etwas als solchem synthetisiert. Das ist mit dem Umweg, des temporisierenden Aufschubes, von dem Die différance spricht, des ‚differer‘, gemeint. Die Spur, so Derrida, ist dabei das „Urphänomen des ‚Gedächtnisses‘“,24 im Sinne einer Verräumlichung der Zeit. Wie und wo diese Bewegung ihren Anfang nimmt, erläutert er jedoch nicht. Der Terminus différance ist gewissermaßen die Verweigerung dieser Frage. Die Grammatologie legt ihr Augenmerk darauf, dass Subjekt, Sache oder Referent diesen Horizont der Verräumlichung als Struktur, Schrift oder Code zur Voraussetzung haben. Jeder Versuch, sie zu hintergehen, vermehrt die Interpretationen und bestätigt nur ihre Unhintergehbarkeit. Und dass sie sich in unfassbarem Maß vermehren, ist nicht zu leugnen. Dennoch, Derrida weist die Bedingung sinnlichen Ereignens überhaupt nicht zurück. Er setzt es vielmehr voraus, um eine interpretative Differenz zwischen ihm und seiner Artikulation zu diagnostizieren. So schleicht sich ein impliziter Dualismus ein. Die Gegenwart hängt an der Möglichkeit der Wiederholung einer idealen Form. Wahrnehmung interpretiert. Nicht anders sind die Ausführungen in Die Stimme und das Phänomen zu lesen. Die Gegenwart verlangt Vergegenwärtigung und gerät in dieser zur Repräsentation ihrer als solcher. Dass dieser Gedanke, sofern ihm Geltung zugesprochen wird, auch auf die Stimme, in der sich das Subjekt selbst gegenwärtig ist, anzuwenden wäre, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. Derridas Auseinandersetzung mit Husserl steht im Einklang mit seinen soweit erörterten Ausführungen. Er negiert die Anwesenheit von Signifikanten und so die Selbstgegenwart des Subjekts. Sie läuft auf die folgende Feststellung hinaus:

23 Ebd. S. 115. 24 Ebd. S. 123.

4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung

„[I]m Gegensatz zu dem, was die Phänomenologie – die stets Phänomenologie der Wahrnehmung ist – versucht hat, uns glauben zu machen, und im Gegensatz zu dem, was unser Wunsch nicht umhin kann, versucht zu sein zu glauben, entzieht die Sache selbst sich stets“.25

Ein solches an sich ist jedoch eine Abstraktion. Es lässt sich nur anhand der Interpretation konkreter Wahrnehmungen erschließen. Das Nicht-Identische als Nicht-Präsentes ist Ergebnis einer spezifischen Begriffsscheidung. Dem Entzug entzieht sich, was er sich selbst erst setzt. Genau genommen laufen Derridas Erörterungen nicht auf einen Primat des Bedeutens hinaus, sondern auf einen doppelten des Ereignens. Erst aus dem Ereignen wird sich so etwas wie eine Spur der Gewesenheit konstituieren können. Diese ist insofern unselbstständig, als sich ihr etwas zu Interpretierendes, etwas zu Synthetisierendes ereignen muss. Der Horizont der Zeitlichkeit selbst muss sich im Ereignen konstituieren und die Deutung sich ereignen. Bevor nicht zumindest versucht wurde zu klären, wie dies geschieht, ist die behauptete Abwesenheit des Nicht-Identischen in der Gegenwart eine selbst gezimmerte Unzugänglichkeit. Was es heißt, dass etwas bedeutet bzw. Sinn macht, ist mit dem Hinweis, es müsse entziffert, sequenziert, formiert und synthetisiert werden, nicht beantwortet. Die ideale Form verlangt vielmehr strukturell wie inhaltlich ein qualitatives Moment, das sie nicht generieren kann. 4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung Bereits Luhmanns Einsicht, dass nur „das Bewusstsein […] ja in der Lage [ist], etwas wahrzunehmen (was einschließt: Kommunikation wahrzunehmen)“,26 wie es in Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? heißt, macht eigentlich deutlich, dass der Begriff sozialer Systeme – anders als beansprucht – Abstraktionen meint. Innerhalb seiner Argumentation können erst einem Bewusstsein sinnliche Ereignisse Kommunikationen sein. Nicht anders lässt sich nur extern beobachten, dass Bewusstsein, Wahrnehmung und Außenwelt getrennt und einander neurophysiologisch durch Reize vermittelt sind (Adorno ist diese Auffassung zurecht eine vulgärmaterialistische.). Erst ein nachträglicher Zirkelschluss lässt sowohl die Reduktion von Empfindungen auf Gehirnvorgänge, als auch die Konstruktion einer inneren und einer ihr unerreichbaren 25 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 140. 26 Luhmann, N. (2001). Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Ders. Aufsätze und Reden. (S. 111 – 136). Stuttgart: Reclam. S. 122.

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äußeren Welt zu. Ihren erkenntnistheoretischen Vorrang schließt das aus (So etwas wie eine Realität an sich ist, wie Heidegger herausstellt, „nur auf dem Grunde einer schon erschlossenen Welt“ entdeckbar.27). Luhmann geht hingegen davon aus, dass das Gehirn seine Eigenleistung unterdrücken müsse, damit das Bewusstsein überhaupt unter dem Eindruck von Unmittelbarkeit seine Wahrnehmungen verarbeitet und so die Welt als Welt erscheinen lässt. Und tatsächlich unterscheidet er nicht zwischen „Ideen und Empfindungen“,28 beide sind ihm „Vorstellungen“ des Bewusstseins (Sein und Zeit erläutert passend: „Nach der Zertrümmerung des ursprünglichen Phänomens des In-der-Welt-seins wird auf dem Grunde des verbleibenden Restes, des isolierten Subjekts, die Zusammenfügung mit einer ‚Welt‘ durchgeführt“.29). Strukturelle Koppelungen übernehmen bei Luhmann die Verbindung dessen, was erst die Analyse trennt. Luhmanns Verdienst besteht aber zunächst einmal darin, grundsätzlich die „Priorität des Wahrnehmens gegenüber dem Denken“ zur Diskussion zu stellen.30 Da Kommunikation nichts mit der Übertragung von Information zu tun haben kann, wie auch er, ähnlich Derrida, zutreffend verdeutlicht, kann sie weder Wahrnehmungen aufnehmen noch produzieren. Schon die anschließenden Überlegungen in Die Kunst der Gesellschaft lassen der „Feststellung des Primats der Wahrnehmung im Bewusstsein“ jedoch nichts folgen.31 Luhmann interessiert, wie eine „selbstläufige“ Kommunikationen Wahrnehmung „einrichten“ kann. „Wir wissen […] heute,“ heißt es gleich zu Beginn, „dass diese Außenwelt eine eigene Konstruktion des Gehirns ist und nur durch das Bewusstsein so behandelt wird, als ob sie eine Realität ‚draußen‘ wäre. Ebenso ist bekannt, wie stark Wahrnehmung durch Sprache vorstrukturiert wird“.32 Der Grundgedanke ist, dass „Kommunikation […] auf die Wahrnehmung ihrer Zeichen angewiesen [ist], während umgekehrt die Wahrnehmung in ihrer Unbestimmtheit sich durch Sprache beeinflussen lässt“.33 Diese für die Systemtheorie zentrale Auffassung ist, obwohl zunächst so plausibel, in ihrem Kern gleichwohl widersinnig. Die Wahrnehmung soll an sich unbestimmt sein, trotz dieser Unbestimmtheit aber die Zeichen der Kommunikation, Sprache, als bestimmte wahrnehmen und so beeinflusst bzw. strukturiert 27 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 203. 28 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 355 f. 29 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 206. 30 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 13. 31 Ebd. S. 16. 32 Ebd. S. 15. 33 Ebd. S. 30.

4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung

werden, also Bestimmtheit erhalten. Erst wenn psychische Systeme „Worte oder Zeichen als Differenz wahrnehmen“,34 kann sich Kommunikation aber reproduzieren. Luhmann setzt mit der Vorstellung, Wahrnehmung werde durch Sprache vorstrukturiert, also voraus, was erklärt werden soll: die Strukturiertheit von Wahrnehmung. Die Argumentation fußt in einem differenztheoretisch umformulierten Formbegriff, der Unterscheidungen als Formen behandelt. Wahrnehmen käme mit „ungeformten Unterscheidungen“ aus,35 so die Idee, während Kommunikation Formbildung voraussetze. Sind Formen aber Unterscheidungen, ist schon der angesetzte Wahrnehmungsbegriff, als indifferent-differenziert, in sich widersprüchlich. Die selbstläufig geformten Unterscheidungen der Kommunikation müssten entweder in einem Niemandsland flottieren oder paradoxe Entitäten im Unterschiedslosen sein. Gleichzeitig setzt der differenztheoretische Begriff der Form Welt als ‚unmarked space‘ voraus, in dem sich Formen im Medium Sinn konstituieren. Welt sei das Medium zur Bildung spezifischer Formen. Erneut ist dieser ‚unmarked space‘ anders als irgendwie wahrgenommen kaum plausibel. Mehr noch, der Formbildung müssen Kriterien ihrer Konstituierung zur Verfügung stehen. Wiederum werden irgendwie geartete Qualitäten diese ermöglichen müssen, sollen sie nicht gänzlich willkürlich und so unbegründbar sein. Die Frage wäre demnach, wie Welt, im Sinne des Wortes, als sinnvolle entsteht. Die für Luhmanns Argumentation so zentrale Differenz von Selbst- und Fremdreferenz des Bewusstseins, die an der kommunikativen Unterscheidung von Information und Mitteilung hängt, kann qua Wahrnehmung nicht von vornherein gegeben sein. Die Systemtheorie baut auf einem genuin phänomenologischen, in gewisser Weise kybernetisch reinterpretierten Sinnbegriff auf. Luhmanns Konzeption des psychischen Systems greift auf Husserl und dessen Einsicht in die Bedeutung der Zeitlichkeit für das Bewusstsein mit seinen Retentionen und Protentionen zurück. Es handelt sich also um jenes Konzept von Temporalität, das in variierter Form auch Heidegger und Derrida verwenden. In Luhmanns Lesart entsteht Sinn durch die zeitliche Reduktion entropischer Komplexität zur redundanten Komplexität von Welt. „Im Prinzip geht es um die Fähigkeit, zeitlich Inaktuelles zu aktualisieren“.36 Der Grundgedanke ist dabei erst einmal, dass „Zeit selbst zunächst nur an Änderungen gegeben ist, [… und] daher ihrerseits reversibel und irreversibel gegeben“ ist.37 Den Ausgangspunkt bilden also weder Sinn noch Zeit, sondern ein Sich-Ändern, die überkomplexe Fülle eines konstant sich 34 Ebd. S. 50. 35 Ebd. 36 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 76. 37 Ebd. S. 71.

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wandelnden Ereignens. Gleichwohl denkt Luhmann das Ereignis von Sys­ temen aus, die jenseits ihrer Operationen keine Dauer haben und sich daher ständig operativ reproduzieren müssen. Es geht ihm um die innersys­ temische Einrichtung und Erhaltung einer Differenz zwischen jeweiligen Systemen und ihrer, ihre Komplexität vielfach übersteigenden, ungeordnet entropischen Umwelt. Dass dieses überkomplexe Ereignen damit aber im System gegeben sein muss, indiziert, dass der Ansatz Unstimmigkeiten mit sich führt. Der gedoppelte Komplexitätsbegriff reproduziert die Paradoxie einer unterschiedslos-unterscheidenden Wahrnehmung. Tatsächlich wird das psychische System, um diesen Term zunächst einmal beizubehalten, ursprünglich in die Fülle seiner, als solcher inexistenten, Umwelt rezeptiv indifferent eingefügt sein müssen. Erst aus dieser kann sich die Differenz von System und Umwelt herauskristallisieren. Stellt Luhmann fest, dass Systemgrenzen nicht „ohne ein ‚dahinter‘“ zu denken sind, sie „die Realität des Jenseits und die Möglichkeit des Überschreitens voraus“ setzen,38 wäre von ihrem vorgängigen bzw. ursprünglichen Überschrittensein aus zu denken. Das seine Komplexität Übersteigende muss dem System gegeben sein, damit es sie und sich differenzieren kann. In großer Nähe zu Heideggers Begriff der Bedeutsamkeit begreift Luhmann Sinn als Verweisung. „Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“,39 so Luhmann in Soziale Systeme. Heidegger ist das Erscheinen selbst ein „Verweisungsbezug im Seienden“.40 In utilitaristischer Engführung erscheint Sein und Zeit das innerweltlich Seiende, das „Zeug“, als etwas „um zu“. Was ist, ist eingefügt in Verweisungsmannigfaltigkeit. Zuhandenheit ist folglich die Appräsentation eines „wofür“, einer Dienlichkeit. In ihr ist bzw. erscheint Seiendes nicht in einer bestimmten Art aufgefasst, sondern so „wie es ‚an sich‘ ist“.41 Verweisungen konstituieren entsprechend den Weltzusammenhang. Seiendes ist daraufhin entdeckt, auf etwas verwiesen zu sein; daraufhin, dass es mit oder bei etwas sein Bewenden hat, und Bewandtnis entsprechend die ontologische Bestimmung seines Seins. In den Bezügen dieses Verweisungszusammenhangs ist Welt bedeutsam. Ihre Struktur bestimmt Heidegger als das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit. Luhmann befreit diesen Ansatz, ohne dass er sich dabei auf Heidegger beziehen würde, gewissermaßen von seiner instrumentellen Reduktion und ordnet ihn – anders als Sein und Zeit, in dem Bedeutsamkeit und Zeitlichkeit nacheinander thematisiert werden 38 Ebd. S. 52. 39 Ebd. S. 94. 40 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 31. 41 Ebd. S. 71.

4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung

– von vornherein temporal ein. Gleichzeitig denkt er jedoch nicht von dem her, was sich gibt, sondern übernimmt von Husserl das Paradigma der Intentionalität. Das gegenwärtig im Zentrum der Intention Stehende verweist auf Anderes, Mögliches, auch Abwesendes oder Unmögliches und strukturiert so einen Standpunkt in der Wirklichkeit. „Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfassbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operationen psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten“,42 so die Überlegung. Der Begriff der Appräsentation, als mitgegenwärtig-Machen oder Mitvergegenwärtigung, stammt aus der Phänomenologie und wurde vor allem von Husserl und Schütz geprägt. Luhmann konkretisiert ihn als einen konditionierten. Temporalisierung meint demnach konditionierte Anpassung des Systems an die eigene reversible, sich ändernde Komplexität, in der Irreversibilität der Zeit. Die „Temporalisierung der Komplexität führt zu einer selektiven Ordnung der Verknüpfung der [Sinn-]Elemente im zeitlichen Nacheinander“.43 Bereits Heidegger zufolge ist der „Verweisungszusammenhang, der als Bedeutsamkeit die Weltlichkeit konstituiert, […] formal im Sinne eines Relationssystems“ zu fassen.44 Nach Luhmann wird inaktuelles Konditioniertes in Sinn appräsentiert, und so ein geregeltes System von differentiell geformten Relationen konstituiert. Das je aktuelle Erleben wird mit redundanten Möglichkeiten ausgestattet. Sinn meint also konditionierte Erwartung. Sinnerwartungen erfüllen und erweitern konzeptionell, was Heidegger als Dienlichkeit auffasst. Sinnvoll bzw. bedeutsam ist etwas, insofern es anhand von Erwartungen verwiesen ist. Ein Hammer ist, wozu er sich verwenden lässt. Dass der Begriff der Konditionierung an Rezeptivität, an Er- oder Widerfahrnisse und damit an Passivität gemahnt, ist evident. Nach Luhmann konditioniert sich das System jedoch selbst. Es ist aktiv, es intendiert und selektiert. Weil das jeweils intendierte Ereignis mehr Verweisungen an die Hand gibt, als das System aktualisieren kann, zwinge die Verweisungsstruktur von Sinn „den nächsten Schritt zur Selektion“.45 Das ist nun aber mehr als erstaunlich, denn weder kann das System entscheiden, was es erwartet, da seine Erwartungen sich durch das, was ihm widerfahren ist, bestimmen, noch kann es selektieren, was sich tatsächlich aktuell ereignet. Es bestimmt nicht, es wird viel eher bestimmt und zwar durch das, was geschehen ist und durch das, was geschieht. Da Luhmann Empfindungen jedoch als Vorstellungen und damit als Bewusstseinsleistung begreift, besteht für 42 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 94. 43 Ebd. S. 77. 44 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 88. 45 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 94.

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ihn die Arbeit des Systems „in der Konditionierung der Interdependenz von Auflösung und Reproduktion“.46 Das System produziert sich selbst. Weit sinnvoller scheint es dem entgegen, davon auszugehen, dass das jeweilige Erleben in seine Widerfahrnisse, um einen Begriff von Heidegger zu übernehmen, geworfen ist. Es reproduziert sich nicht und intendiert auch nichts, es ereignet sich, ihm ereignet sich „etwas“ – ursprünglich indifferent. Das Ereignen eignet es. Besser als Heidegger es tut, lässt es sich kaum sagen. Anders wäre wenig ersichtlich, wie sich ihm Ereignendes geben soll, das seine Komplexität um ein Vielfaches übersteigt. Luhmann formuliert hingegen, „wir [wollen] die Reproduktion der ereignishaften Elemente als Operation bezeichnen“.47 Ihm hält die Intention die Zugänglichkeit der Welt offen. Tatsächlich wird die Welt sich offen halten. Ist von einem Primat der Wahrnehmung auszugehen, konditioniert das Sich-Ändern, seine Erwartung und konstituiert so erst das Wahrnehmen als strukturiert. Wahrnehmen hieße weit eher zu antworten und nicht zu intendieren (diesbezüglich ist wie besprochen bei Heidegger anzuschließen). Lässt sich ein konstruktives Moment an Wahrnehmung ausmachen, so ist dieses aus Rezeptivität herzuleiten und nicht die unmittelbare Empfänglichkeit für Sinneseindrücke zu leugnen. Dass Luhmann nicht so argumentieren kann, resultiert aus dem Versuch, seinen Sinnbegriff so zu formulieren, dass er sowohl für soziale als auch für psychische Systeme greift. Um selbstläufig bzw. selbstreferentiell zu sein, muss sich die Kommunikation operativ autonom reproduzieren. Dabei ist seine Argumentation, in Bezug auf das Psychische erstaunlich inkonsistent. Einerseits sei Sinn innerhalb „der sinnhaft-selbstreferentiellen Organisation der Welt […] eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie“,48 andererseits, heißt es wenige Seiten später, sei damit nicht gesagt, „dass es außer Sinn nichts gibt“.49 Dies würde der Funktion von Sinn widersprechen. Mehr noch, es widerspräche „direkt zugänglichen Erfahrungsgehalten, die in literarischen und philosophischen Traditionen mit Titeln wie Genuss, Faktizität, Existenz benannt worden sind“.50 Die Einsicht besteht gerade darin, „dass die Genese und Reproduktion von Sinn einen Realitätsunterbau voraussetzt, der seine Zustände ständig wechselt“.51 Die spezifische Leistung von Sinn besteht nämlich nicht darin zu bezeichnen, sondern darin, diesem Unterbau in Differenz Informationen zu entziehen. Sinn wäre demnach unhintergehbar hintergangen. In sich eingesperrt ist 46 Ebd. S. 79. 47 Ebd. 48 Ebd. S. 96. 49 Ebd. S. 97 f. 50 Ebd. 51 Ebd.

4.3 Mit Luhmann zu einer antwortenden Wahrnehmung

dem Bewusstsein, nach Luhmann, die sich ereignende Realität dabei allerdings verschlossen. Sinn selbst „vibriere“ nicht entsprechend dieses Unterbaus. Was aber ist es, was der direkten Erfahrung dann zugänglich ist? Die Setzung des Bewusstseins als indirekt beobachtend, operativ geschlossen, lässt ihm nur die Folgerung zu: „Die Vibrationen werden durch emergente selbstreferentielle Systeme ausgeschaltet“.52 Ergibt sich allerdings der Schluss, dass erst das fortwährende Sich-Ändern der Realität selbst, das zunächst diffuse Empfinden bzw. die ungeformte Rezeptivität zum Vermögen, Strukturen wahrzunehmen, konditioniert, sieht die Sache völlig anders aus. Tatsächlich scheint jeder Ansatz, der nicht von Realität ausgeht, von vornherein ein metaphysischer oder theologischer. Und Luhmann bekennt in seiner Einführung in die Systemtheorie ganz freimütig, dass das Paradigma des Beobachters lediglich auf „eine andere Ontologie oder eine andere Metaphysik, eine komplexer gebaute Metaphysik“ hinausläuft.53 In seiner Welt der Sinnsysteme muss alles, was „rezipiert und bearbeitet werden kann“, die Form von Sinn annehmen, sonst bleibt es, wie es in Soziale Systeme heißt, „momenthafter Impuls, dunkle Stimmung oder auch greller Schreck ohne Verknüpfbarkeit, ohne Kommunikabilität, ohne Effekt im System“.54 Vor allem aber wäre alles Sinnlose, obwohl ständig vorausgesetzt, wohl in erster Linie nicht theoriekompatibel. Die Systemtheorie ist gezwungen, fortwährend zu bestätigen, was sie konzeptionell ausschließt: dass der Rezeption das momenthafte Nichtkommunizierbare zugänglich sein muss. In Soziale Systeme stellt Luhmann ausdrücklich fest, „dass sehr viel mehr präsent ist als […] sich zur Kommunikation absondern lässt“.55 Dabei liegen das, was ohne Effekt im System sein soll, und das, was darin seinen Informationswert hat, von Sinn abzuweichen, auffallend nah beieinander. Genaugenommen hat ja das rezipierte Ereignis, das am wenigsten Sinn wachruft, die meiste Information, insofern es neue Erwartungen formt, also informiert. Nicht „Sinn ist also basal instabil“,56 damit Realität zum Zwecke der Systembildung – intentional, aktiv – als Sinn behandelt werden kann, sondern Realität in ihrer Ereignishaftigkeit selbst Sinn generierend – rezeptiv passiv – sich fortwährend von ihm abhebend. Die Vorstellung, alle „Strukturänderung, sei […] Selbstanpassung“,57 ist in Bezug auf Wahrnehmung eben nicht haltbar. 52 Ebd. 53 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 140. 54 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 97 f. 55 Ebd. S. 369. 56 Ebd. S. 99. 57 Ebd. S. 479.

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4. Ereignen und Wahrnehmung

4.4 Ein kurzer Versuch einer Ursprungsbestimmung mit Adorno

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Die Vorstellung äußerer Erfahrung und mit ihr der Dualismus von Subjekt und Objekt ist als konzeptionelle Voraussetzung abzulegen. Die Frage ist nicht, wie das Subjekt zur Welt kommt, sondern viel eher, wie es, aus einer ursprünglichen rezeptiven Indifferenz mit ihr, zu sich gelangt. Das, was Adorno Nicht-Identität nennt, wird sich als elementares Moment von Differenzerfahrung erst herausbilden müssen. Ist das Subjekt, den Erläuterungen der Negativen Dialektik zufolge, „in der primären Erfahrung […] am wenigsten Subjekt“,58 so ist von einer Unmittelbarkeit vor jeder differenzierten Selbstgegenwart auszugehen. Hat die absolute Kontingenz individueller Erfahrung ohne Begriffe keine Kontinuität, wie Adorno annimmt, ist zunächst einmal anzuerkennen, dass sich Begrifflichkeiten jenseits von Erfahrung, jenseits von individueller Geschichtlichkeit kaum konstituieren können. Die Frage ist somit, wie aus Kontingenz Kontinuität resultieren kann. Soll Vermittlung als Einsatzstelle dienen, um Unbegriffliches am Erkenntnisgegenstand zu begreifen, ist diese aus Unbegrifflichkeit zu rekonstruieren. Ein solcher Ansatz kann für sich keine rezeptiv beschreibende Haltung in Anspruch nehmen. Er resultiert aus der Einsicht, dass, was immer als vermittelnd angesetzt wird, selbst Teil von Welt sein muss und ist insofern ein theoretischer. Vermittlung kann sich nur für das Dasein in der Welt des Daseins konstituieren. Das Individuum muss offensichtlich, um eines zu werden, in gesellschaftliche oder auch epistemologische Verhältnisse hineinwachsen, die sich für dieses erst konstituieren, um in ihnen ein Differenzverhältnis zu ihnen zu erlangen. Das Problem einer solchen Perspektive, einer Beobachtung zweiter Ordnung, ist jedoch, dass sie immer schon existierende Formationen sieht und so zu ontologischen Fehlschlüssen, nicht zuletzt dem, einer immer schon gegebenen Beobachterdifferenz, verleitet wird. Deutlich zu erkennen bei Luhmann, der sich nicht entscheiden kann, ob die Realität nun an sich geordnet ist oder nicht. Weder Dialektik noch Sein, weder Systeme noch differentielle Strukturen aber sind gesetzt, eine Beobachtung von außen unmöglich. Den Anfang macht der Schluss auf einen rezeptiven ereignishaften subjekt-objekt-losen Zustand. Kein „leeres Blatt“, sondern eine Fülle indifferenter, sich konstant wandelnder Sensationen. Es sitzt kein Subjekt oder Bewusstsein im Kino seiner Wahrnehmung, vielmehr ist es in seinen Empfindungen völlig entäußert, inexistent. Paradigmatisch für diesen Zustand wäre nicht das Sehen, sondern eher die Taktilität. Der tastenden Berührung ist die Differenz von Selbst- und Dingwahrnehmung unentscheidbar. Mehr noch, in 58 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 49 f.

4.4 Ein kurzer Versuch einer Ursprungsbestimmung mit Adorno

ihr wäre ein Selbst ohne Ding nicht auszumachen. Tatsächlich müsste aber auch eine Ordnung der Sinne und mit ihr eine distinkte Instanz leiblicher Selbstwahrnehmung ausgeschlossen werden. Dass ein solcher Zustand etwa für Neugeborene angenommen werden könnte, drängt sich auf. Es geht jedoch weder um eine anthropologische, noch um eine entwicklungspsychologische Rekonstruktion, sondern um eine rein theoretische. Mit oder aus Rezeptivität wird sich irgendwie Struktur ergeben. Es soll darauf verzichtet werden, dies an onto- oder phylogenetischen Entwicklungsstadien festzumachen. Alles, was sich soweit sagen lässt, ist, dass wenn sich rezeptiv nichts ereignen würde, nichts wäre. Dass kein „Ichbewusstsein ohne Gesellschaft, so wie keine Gesellschaft ist jenseits ihrer Individuen“,59 ist zutiefst plausibel. Weil aber der Erkenntnis niemals eine Außenperspektive zur Verfügung steht, führt etwa die Setzung einer prä-subjektiven, begrifflich-gesellschaftlichen Ordnung, wie sie Adorno vornimmt, nicht nur auf die von ihm aufgezeigten Widersprüche. Soll einsichtig werden, wie Soziales das Einzelbewusstsein vermittelt, darf weder das eine, das andere, noch Vermittlung als ein drittes, vorausgesetzt werden. Das Subjekt vergeht gewissermaßen im Vorrang des Objekts, um die Herleitung der wechselseitigen Durchdringung beider aus einem gemeinsamen Anfangspunkt zu erlauben. Wäre ein solcher nicht anzunehmen, ließe sich ihre reziproke Konstellation nicht als in sich vermittelt plausibilisieren. Erst aus ihm ist eine qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem herzuleiten. Stammt aller, sich gebender Inhalt des Bewusstseins letztlich aus den Sinnen, wie Adorno weiß, gibt es keines, bevor sich ihm nicht etwas gibt. Es kann, so wenig wie die Sinne unabhängig vom Sinnlichen, als präexistent gesetzt werden. Bewusstsein wird sich am Sinnlichen konstituieren müssen. Auch und gerade, weil, was immer sich medial vermittelt, selbst wahrgenommen werden muss. Nicht-Identität wäre jener Grenzwert, der sich das Gegebene eigen, anders, neu oder unerwartet geben lässt und Bewusstsein so vor Stillstand bewahrt; ja überhaupt erst eine Offenheit konstituiert, die es als bewusst begreifbar macht. Das, was Derrida différance nennt, wäre nicht einer signifizierenden hermetisch sich in sich vermehrenden Bewegung zu verdanken, sondern einem qualitativen Überschuss, der die Interpretation immer neu ansetzen lässt und doch nie von ihr eingeholt wird. Die Möglichkeit einer solchen Konstellation wäre auf ein vorichliches Ereignen zurückzuführen. Jede Selbstbezeichnung ist bereits in jene Bewegung eingelassen. Auch das, was retrospektiv als Triebimpuls und irrational am Individuum erscheinen mag, ist, insofern gewollt, vermieden oder gewünscht, nicht jenseits von Sinnlichkeit und auf etwas gerichtet, als indifferent in Indifferenz zu denken. Das Individuum ist nicht, 59 Ebd. S. 272.

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4. Ereignen und Wahrnehmung

nicht Gegenstand oder Erfahrung seiner selbst und so durch nichts genötigt, Vernunftwidriges, Leibliches von sich abzuspalten. 4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung

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Weil die „Präferenz für Sinn gegen Welt, für Ordnung gegen Störung, für Information gegen Rauschen […] nur eine Präferenz“ ist, die „das Gegenteil nicht entbehrlich“ macht, wie Luhmann sagt, weil Sinn, um noch präziser zu sein, sich aus seinem Gegenteil generiert, kann Bewusstsein nicht als Operation begriffen werden. Der Sinnprozess lebt von Störungen, „nährt sich von Unordnung, lässt sich durch Rauschen tragen“.60 Natürlich muss es Mechanismen geben, die Bestimmtheit produzieren. Aus dieser letztlich banalen Einsicht lässt sich aber nicht folgern, dass diese nicht auf Seiten von Welt zu suchen sind, dass Wahrnehmung nicht rezeptiv ist, dass sich Welt, um es noch weiter zu treiben, nicht artikuliert. Ist es nicht, um die Sache einmal umzukehren, ganz abwegig, solche produktiven Mechanismen auf Seiten, qua Konzept, unzugänglicher Systeme zu suchen? – insbesondere, wenn die generelle „Wahrnehmungsabhängigkeit des Denkens“,61 der Einführung in die Systemtheorie folgend, einsichtig ist. Wahrnehmung konstituiert sich in und an Welt, nicht Welt in der Wahrnehmung. Daher scheint es auch falsch anzunehmen, Realität sei als empfundene, „dem Bewusstsein nie als solche gegeben, sondern nur in der Weise, dass die Bewusstseinsoperationen sich selbst kontrollieren“.62 Sinn kann nicht selbstbestimmt prozessiert werden, schon weil er sich nicht selbst hervorbringen kann. Ohne dass geklärt wäre, wie bewusste Wahrnehmungen überhaupt zustande kommen, ist gleichwohl nicht unplausibel, dass die Differenz von Sinn und Welt, also konditionierter Erwartung und dem, was sie konditioniert, eine Differenz von Ordnung aus Störung, von Information aus Rauschen ist. Was Luhmann als aktive Operation auffassen möchte, ist durch und durch passiv, angewiesen auf das, was es angeht, was sich ihm ereignet. Sinn ist nicht bestimmend, sondern in doppelter Hinsicht bestimmt. Um den Eindruck zu vermeiden, Sinn, so wie hier in Anlehnung und Abgrenzung zu Luhmann begriffen, sei doch eine konstruktives Element des Bewusstseins, soll nicht von Konditionierung die Rede sein, sondern von der Begabung der Wahrnehmung, als einem nicht mitgebrachten, sondern einer gewährten oder erteilten Schenkung, aus der „Gabe von An 60 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 123 f. 61 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 271. 62 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 358.

4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung

wesen“ erst hervorgehend. Wahrnehmung müsste nicht als Fähigkeit, mit der konstruierend auf Welt zugegriffen wird, nicht als ein Können, das ein irgendwie geartetes psychisches System oder Subjekt besitzt, gedacht werden, sondern eben als Gabe – als Geschick in gewisser Weise. Mit Geworfenheit ist lediglich eine generelles, aber unspezifisches Vermögen zu Empfinden verfügt. Geworfen in diesem Sinne und in Anlehnung an Heidegger, würde meinen, nicht gewählt zu haben, leiblich in eine Welt hineinzuwachsen. Damit ist nichts Metaphysisches gedacht, sondern lediglich der durchaus als organisch zu begreifende Umstand, dass in eins mit Leib Rezeptivität gesetzt ist. Begabung meint, anders als es Derrida begreifen möchte, Einschreibung des Ereignens in das Empfinden und so zur Wahrnehmung begaben. All das hat zunächst einmal nichts mit signifizierenden Strukturen zu tun. Sinn heißt nicht schon Bezeichnung. Gemeint ist, dass wenn es eine Ur-Spur gibt, diese auf ein leiblich empfundenes Sich-Ändern zurückzuführen ist, als Voraussetzung auch dafür, dass Zeichen als iterierbare überhaupt lesbar sein können. Damit ist aber noch keine „Identität konstituiert“.63 Identitäten verlangen, wie Derrida etwa in Signatur Ereignis Kontext zutreffend herausstellt, Zeichen. Es geht nicht um gekennzeichnete Anwesenheit oder Erfahrung in einem prädikativen Sinne, sondern lediglich darum, dass sich in der durch das Ereignen formierten Wahrnehmung das Ereignen artikuliert. Aus der Gleichzeitigkeit von Konstanz und Wandel, setzt sich das Ereignen in den Spuren, die es hinterlässt, von sich selbst ab. Schon die luhmannsche – in Bezug auf Wahrnehmung notwendig rein metaphorische – Verwendung des Informationsbegriffs schließt aus, dass Informationen, Differenzen oder Sinn etwas sind, das verarbeitet oder prozessiert werden könnte, da über die laufende Varianz der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeiten so wenig wie über das jeweils Aktuelle verfügt wird. Der aktuell erwartete Möglichkeitshorizont ist dabei nichts virtuelles, sondern im Leib der Wahrnehmung konkret. Plausibel ist hingegen, dass sich „gleichsam quer zur Differenz von Aktualität und Möglichkeit“ eine Differenz von Differenz – Andersartigkeit – und (um es vorsichtig zu formulieren) Proto-Identität einsetzt,64 oder besser, dass wesentlich Redundanz entsteht. Luhmann stellt sich vor, dass etwas „als dies-und-nichts-anderes bezeichnet“ wird, insofern mit ihm spezifische Erwartungen verbunden sind (bzw. aktualisierte Möglichkeiten in Differenz zu verschiedenen Möglichkeiten aufgefasst werden). Berücksichtigt wird, dass die jeweilige Erwartungsperspektive über die Zuschreibung von 63 Derrida, J. (2001). Signatur Ereignis Kontext. In: Ders. Limited Inc. (S. 15 – 46). Wien: Passagen. S. 28. 64 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 100 f.

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4. Ereignen und Wahrnehmung

Identität entscheidet. Das Problem aber ist nur verlagert: Was nämlich differenziert Möglichkeiten? Insofern sich Erwartungen bestätigen, ergeben sich Redundanzen. Keine Identitäten. Identität verlangt, dass etwas bezeichnet wird und hier ist Luhmann vorbehaltlich zuzustimmen: „Der allem Sinn immanente Weltbezug schließt es aus, dass wir Sinn als Zeichen definieren. Man muss Verweisungsstruktur und Zeichenstruktur sorgfältig unterscheiden. Die Funktion eines Zeichens erfordert immer Verweisung auf etwas Bestimmtes […]: Ein Zeichen muss Sinn haben, um seine Funktion erfüllen zu können, aber Sinn ist kein Zeichen. Sinn bildet den Kontext aller Zeichenfestlegung […]“.65

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Tatsächlich wird rudimentär in allem Sinn als appräsentierende Strukturen der Erwartung, Generalisierung angelegt sein. Struktur als Einschränkung und Ermöglichung. Erwartungen resultieren aus Widerfahrnissen, die sich „im je aktuell gegebenen Sinn“ anzeigen,66 und folglich nicht selektiert werden können. Mit der Leiblichkeit der Wahrnehmung werden sich bereits rudimentäre, relationale, räumliche und zeitliche Generalisierungen ergeben. Nicht jedoch schon im prägnanten Sinne. Insofern kann auch nicht von Sinnelementen die Rede sein, wie es weiter oben hieß, die sich in einem zeitlichen Nacheinander befinden. Was sich herausbildet, wäre, was im weitesten, unspezifischen Sinne als Kontext begriffen werden kann, der „für jeden zunächst einmal das [ist], was sein eigenes Wahrnehmungsfeld und sein eigenes Gedächtnis bereitstellt“.67 Dass Kommunikation als solche in diesem Feld nicht schon gegeben wäre, ist klar. Wahrnehmung kann nicht als Informationsverarbeitungsapparat, nicht als Membran und auch nicht als Nervensystem begriffen werden, so dass sich auf Grund ihrer automatisch eine Grenze zwischen System und Umwelt ergeben würde. Sie auf ihre organischen Voraussetzungen, die sich fraglos aufzeigen lassen, oder auf technische Metaphern reduzieren zu wollen, verfehlt sie gänzlich. Gleichwohl erfüllt sie in gewisser Weise Interpretationsleistungen. Weil Wahrnehmung erst durch das sich ihr Ereignende begabt wird, ist Welt nie gleich. Erwartungen stellen insofern eine basale Form von Wissen dar. Sie sind gewissermaßen das Kontrastmittel der Wahrnehmung, vor dem sich, mit zunehmender Differenziertheit und gleichzeitig wachsender Einschränkung abzeichnet, was geschieht. Erwartung hieße Einschränkung mit dem entscheidenden Effekt, „dass abweichendes Geschehen an Hand der Erwartung als Störung sichtbar wird“.68

65 Ebd. S. 107. 66 Ebd. S. 187 f. 67 Ebd. S. 217. 68 Ebd. S. 397.

4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung

Was sich identisch wiederholt, hätte Sinn, aber keine Information. Informationen wären vielmehr zu denken als Ereignisse, die Struktur generieren und aktualisieren. Erwartungsstrukturen resultierten demnach aus temporalisierten Ereignissen, die sich am Ereignen aktualisieren. Temporalisation hieße Einschreibung in den Leib der Wahrnehmung. Zeit durchgreift Gegenwart. Derridas Bild, hierin sei Zeit horizontal verräumlicht, trifft durchaus. „Zukunft und Vergangenheit [… sind, wie es Luhmann formuliert] als Horizonte in der Gegenwart“,69 bzw. die Gegenwart im Horizont der Zeitlichkeit – ohne dass sich Zeit als solche bereits konstituiert hätte, und ohne dass irgendjemand über ihn verfügen könnte. Basal selbstreferentiell wäre diese Struktur, insofern sich die Gegenwart selbst artikuliert. Niemand sieht durch seine Augen; Bewusstsein, Subjekt oder psychisches System hinter ihnen, die Realität vor ihnen und der kognitive Apparat dazwischen. Eine Instanz, die sich als wahrnehmend begreift, ist vermittels Wahrnehmung nicht schon gegeben. Die gedankliche Orientierung an Fernsinnen suggeriert Sehen oder Hören hätten etwas Distanziertes. Das Sehen wird ganz im Gegenteil ganz bei dem sein, was es sieht, und sich erst davon entfernen müssen. Eine Bewusstseinsschließung, im Sinne Luhmanns, ist nicht hergeleitet. Seinen Erläuterungen zufolge „übt [… das Bewusstsein] die Differenz von eigenem System und Umwelt [erst] ein“.70 Indifferenz steht demnach am Anfang. Aber wie übt es seine eigene Unterscheidung ein, wenn es zunächst gar nicht gegeben ist? Darauf, dass sich Wahrnehmung in ihrer Unbestimmtheit durch Sprache, Kommunikation oder allgemeiner Gesellschaft beeinflussen lässt, wird sich nicht berufen lassen. Soziale Systeme führt den Begriff der Kognition, der üblicherweise Wahrnehmen und gegebenenfalls Erkennen meint, erst relativ spät und in Kontrast zu Normen ein. Die Grundidee ist, dass Erwartungen anhand von Enttäuschung lernen – oder auch nicht. „Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit, sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt. […] Dagegen werden lernunwillige Erwartungen als Normen stilisiert“.71 Lernen heißt demnach, dass sich die Erwartung an Enttäuschungslagen anpasst. Gegenteilig wird trotz Enttäuschung an Erwartung festgehalten. Im Begriff der Kognition fallen Wahrnehmen und Lernen somit in eins. Sowohl Kognition als auch Information meinen die Veränderung eines Systemzustands. Der Gedanke, Normen mit Lernunwilligkeit gleichzusetzen, trägt dabei durchaus. „Wahrnehmung ist“ Luhmann zufolge aber „zunächst psy-

69 Ebd. S. 609. 70 Ebd. S. 359. 71 Ebd. S. 437.

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4. Ereignen und Wahrnehmung

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chische Informationsgewinnung“.72 Was immer zu Veränderungen führt, muss wahrgenommen werden. Wahrnehmen meint Information, Veränderung. Allerdings fasst Luhmann Kognitionen als Operationen des Beobachtens, als Unterscheidungen und Bezeichnungen auf. Ein sich selbst reproduzierendes System kann, so wird erläutert, jedoch nur beobachten, wenn es auch zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden kann. Auch wenn Luhmann in diesem Kontext auf etwas Anderes hinaus will, aber die „primäre Realität liegt, die Kognition mag auf sich reflektieren, wie sie will, [in der Tat] nicht in ‚der Welt draußen‘“,73 und zwar weil Kognition Veränderung heißt. Die Welt kann nicht draußen sein, soll ein psychisches System sich irgendwie aus ihr differenzieren können. Vielmehr muss es die Norm System/Umwelt oder Subjekt/Objekt erlernen. Es existiert jenseits von Empfindungen, also autonom, überhaupt nicht. ­Adornos Diktum klingt zunächst wie eine rhetorische Formel, trifft aber den Kern der Sache: „Der, dem etwas gegeben wird, gehört a priori derselben Sphäre an wie das ihm Gegebene“.74 Es ist unsinnig, Subjekt von Empfindungen und diese von Welt trennen zu wollen. „Jegliche Behauptung, dass Subjektivität irgend ‚sei‘, schließt bereits eine Objektivität ein, die das Subjekt vermöge seines absoluten Seins erst zu begründen vorgibt“.75 Leider arbeitet Adorno das bei ihm im Prinzip angelegte Konzept einer gebenden und so begabenden Objektivität nicht aus. Sicher sind Empfindungen keine Vorstellungen und auch kein Verstehen über das irgendjemand operativ verfügt. Was sich im Strom der Wahrnehmung formt, lässt sich auch nicht als Elementareinheit auffassen. Wo sich Redundanzen ergeben, ist der Empfindungsfluss nicht schon in Sequenzen zerteilt, so als könne sich ein psychisches System von Ereignis zu Ereignis reproduzieren. Was sich hingegen sagen lassen wird, ist, dass Wahrnehmung prognostisch ist. Sinn antizipiert weiteres Geschehen. Es zeichnet sich ab, was Heidegger u. a. meinen könnte, wenn er sagt, Verstehen sei primär zukünftig. Und es lässt sich zurecht vermuten, dass eben deshalb „ein Beobachter Bewegungen sehen, Melodien folgen, im Moment erahnen [kann], was jetzt gesagt werden wird“.76 Hierin liegt jedoch auch, dass sich der Erwartung, jenseits leiblicher Bedürfnisse, Mangel und Abwesenheit ereignen können. Das Eignen des Ereignens produziert sein Ausbleiben oder Fehlen. Verlust und Entzug sind, weil Wahrnehmen in das Ereignen eingelassen ist, weil es sich erst am Ereignen konstituiert und aktualisiert – bis an die Grenze seiner Auflösung – real. Heideggers Be 72 Ebd. S. 560. 73 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 17. 74 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 197. 75 Ebd. S. 186. 76 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 611.

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hauptung, das Dasein würde den Tod nur als Todesfall, quasi als erzählten, kennen, ist bizarr. Die Erfahrung von „Un-Heimlichkeit“, der Mangel des Vertrauten, ist hingegen elementar. Tatsächlich aber wird im Fehlen, so wie Sein und Zeit es darstellt, an Störungen, am Unerwarteten, Erwartung konkret. Wo sie sich erfüllt, bleibt sie unauffällig. Die Begriffe Sinn, Erwartung und Struktur fallen in der luhmannschen Argumentation in eins. Daher ist es auch falsch zu sagen, dass „alle Information Sinn hat“.77 Sie generiert, als Änderung eines Zustandes, Sinn. ‚Order from noise‘: „Informationen sind [… obwohl über den Begriff der Entropie definiert] Ereignisse, die Entropie einschränken“,78 also Redundanz erzeugen. Deshalb ist es unzutreffend anzunehmen, „Information [… würde nur] durch das System der Umwelt zugerechnet“.79 Soll der Systembegriff zunächst einmal gelten, konstituiert sich im System Sinn, nicht Information. Empfindungen werden empfunden, nicht selbst produziert. Anders würde der Begriff der Information keinen Sinn machen. Träfe es zu, dass für „sinnkonstituierende Systeme […] alles Sinn“ hat,80 wären sie tatsächlich geschlossen und könnten mit nichts konfrontiert werden. Totaler Sinn wäre der Tod des Systems. Aber Luhmann ist sich da selbst nicht so sicher. Ebenso stellt er fest, und auf diese Äußerung wird zurückzukommen sein, dass das Bewusstsein „nie ganz einem Sinn ausgeliefert [ist]; es kann sozusagen die Konturen des Sinnvollzugs […] noch mitbeobachten“.81 Mehr noch, im Begriff des Sinns liegt, dass Erwartungen aus ihrer Überlagerung stets so unspezifisch sind, dass sich immer ein erhebliches Maß an Varianz abzeichnet. Erwartungen, denen Redundanz widerfährt, werden sich nie exakt bestätigen und müssen folglich gewissermaßen unscharf sein. Anders wäre Wahrnehmung kaum möglich. Sie würde mit zunehmender Strukturiertheit taub, blind und stumpf. Das Gegenteil ist der Fall. Wahrnehmungen werden potentiell umso sensibler, je Vielfältigeres sich ihnen ereignet oder verkümmern umgekehrt. In ihrer Überlagerung werden die Eindrücke des Ereignens eine Spur sich immer weiter verfeinernder Verallgemeinerungen hinterlassen, vor der sich das Ereignen kontrastiert. Bereits auf dieser Ebene deutet sich an, was Adorno mit seiner Forderung, objektive Erkenntnis verlange ein Mehr an Subjekt, gemeint haben könnte. Jede Wahrnehmung ist eine (lebens-)geschichtlich einmalige Konstellation. Sie kann damit, weil sie sich an Objektivität konstituiert, nicht – in einem neutralen Sinne – objektiv sein. „Man orientiert sich zwangsläufig 77 Ebd. S. 103. 78 Ebd. 79 Ebd. S. 104. 80 Ebd. S. 110 f. 81 Ebd. S. 362 f.

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an der eigenen Bewusstseinsgeschichte, wie eigenartig diese auch verlaufen sein mag“,82 heißt es in Soziale Systeme. Und diese hat ihre Basis im Rezeptiven. Dabei werden weder Erwartungen noch Informationen, oder besser Eindrücke (der Begriff steht genauso für informieren wie einschreiben), jemals neutral sein, und zwar weil Wahrnehmung leiblich ist. Was seine Spuren hinterlässt, sich eindrückt, wird nicht einfach erwartet, sondern auch genossen, gewünscht, ist unangenehm oder gefürchtet und betrifft dabei immer den eigenen Leib, nicht zuletzt als „Objekt“ der eigenen Wahrnehmung. Bereits Heidegger geht davon aus, dass das Sein gestimmt ist. „Die Stimmung macht offenbar, ‚wie einem ist und wird‘. In diesem ‚wie einem ist‘ bringt das Gestimmtsein das Sein in sein ‚Da‘“.83 Und etwas weiter heißt es in Sein und Zeit: „Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist“.84 Generell sei Verstehen gestimmt. Da Heidegger dem Leib des Daseins aber keine Aufmerksamkeit schenkt, wirkt es eigenartig aufgestockt, wenn er feststellt: „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf … allererst möglich“.85 Etwas wahrzunehmen hieße im Kontext der hiesigen Überlegungen nicht schon, es zu verstehen, trotzdem wäre die Frage, warum das so sein sollte. Bei Heidegger scheint dies vor allem konzeptionelle Gründe zu haben, denn in der Gestimmtheit kann dem Dasein das nackte „Das es ist und zu sein hat“ hervortreten. Die Stimmung bringe das Dasein vor seine Geworfenheit, als Angst vor sein „Sein zum Tode“. Auch Luhmann verortet, ähnlich Heidegger, Gefühle als Regulatoren der Erwartung im „Prozess interner Anpassung an Erfüllungen bzw. Enttäuschungen“,86 als Alarmsystem, vor allem im Negativen. Dem entgegen hieße In-der-Welt-sein, leiblich wahrnehmend zu sein und aus diesem auf sich (zurück)zukommen. Sind „Körper und Geist, […] Abstraktionen von ihrer Erfahrung“,87 wie Adorno herausstellt, und ist es richtig, „dass es keinen Inhalt des Bewusstseins gebe, der nicht aus den Sinnen stamme“,88 worin er mit Luhmann einig ist, sind Leib und Welt aus ihrem Ineinander empfunden gegeben. Wie jemandem ist, hat stets eine körperliche Komponente, über die erneut nicht verfügt wird, sondern die einem, als Hunger, Kopfschmerz oder Lust, widerfährt. „Wille ohne Körperimpul 82 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 362 f. 83 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 134. 84 Ebd. S. 138. 85 Ebd. S. 137. 86 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 364. 87 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 202. 88 Ebd. S. 188.

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se […] wäre keiner“.89 Was ein Richten auf etwas allererst möglich macht, wird jenseits von Leiblichkeit kaum plausibel zu machen sein. „Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewusstseins“, heißt es in der Negativen Dialektik, „sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt körperliches in sie hinein“.90 Alles Glück ziele letztlich auf sinnliche Erfüllung – was nicht nur im offensichtlichen Sinne stimmt, sondern im doppelten aus dem Erwarten zu denken ist –, gewinne erst an ihr Objektivität und ist doch aus der Geschichtlichkeit des Leibes nicht objektivierbar. In diesem Sinne sind „‚Gefühle der Lust oder Unlust‘“, wie von Heidegger konstatiert, temporal zu verorten.91 Widerfahrnisse die sich einprägen, die die Wahrnehmung begaben, lassen in Form von Erwartungen, einen Sinnhorizont entstehen. Ein solcher Sinnhorizont stellt eine Art Weltwissen dar, aus dem überhaupt etwas begegnen kann. Mit dieser Feststellung ist nicht die Autorität des Bewusstseins wieder eingesetzt – offensichtlich keineswegs –, sondern sind lediglich die unbewussten Spuren, die den „Ursprung des Gedächtnisses“ bilden,92 von der „Geschichte der Metaphysik“ dem „Gedächtnis der alten Zeichen“ entkoppelt,93 wie es bei Derrida heißt. Dass überkommene Begriffe eine solche Beschreibung nicht zulassen, ist mit der Verstrickung in sie nicht schon belegt. Diese Behauptung schließt sich vielmehr unweigerlich selber aus. Es wird, obwohl Eindrücke bereits auf dieser ganz basalen Ebene fraglos widersprüchlich, ja gefährlich sein können, auch nicht psychoanalytisch argumentiert (ohne dass dies ausgeschlossen sein soll, im Prinzip ist es sogar angelegt), sondern lediglich dem angeblich „nicht weiter ableitbaren Begriff der Spur“, Welt zurückgegeben.94 Formal konstituiert sich die begabte temporale Wahrnehmung, insofern es mit ihr ein Behalten im Ereignen gibt. Anders ist die Verräumlichung von Zeit kaum denkbar. Und nur so ist Entropie in Redundanz zu überführen. Bereits Heidegger setzt in Sein und Zeit die Möglichkeit des Behaltens, in dem sich das Dasein aus seiner Gewesenheit wiederholt, voraus. Bei diesem Behalten handelt es sich demnach nicht um ein einfaches Erinnerungsvermögen. Ihm „entspricht ein Nichtbehalten, das ein ‚Ver 89 Ebd. S. 240. 90 Ebd. S. 202. 91 Heidegger, M. (2000). Zeit und Sein. In: Ders. Zur Sache des Denkens. (S. 1 – 26). Tübingen: Max Niemeyer. S. 342. 92 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 48; vgl. Ders. (1976). Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders. Die Schrift und die Differenz. (S. 302 – 350). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 93 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 138. 94 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 123.

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gessen‘ im abgeleiteten Sinne darstellt“.95 Erinnerung ist auf dem Grunde dieses Vergessens möglich und nicht umgekehrt. Erst das Gewesensein gestatte ein Befinden. Primär gründet die leiblich gestimmte Befindlichkeit im Behalten, das Heidegger jedoch direkt mit Bedeutung und im Weiteren mit der Als-Struktur des Verstehens verknüpft. Dem entgegen ist zunächst einmal eine erste Annäherung zu versuchen, was Behalten für Wahrnehmung bedeutet. Adorno unterscheidet, eher beiläufig, unstrukturiertes Empfinden und strukturierte Wahrnehmung voneinander. Dass es eine rezeptive oder empfindungsmäßige Differenz der Sinne gibt, wurde bereits weiter oben in Frage gestellt. Beim Riechen und Schmecken beispielsweise ist der Übergang offensichtlich nicht klar zu scheiden und auch das Hören geht bei tiefen Tönen direkt in Empfindungen der Taktilität und des Körpers über. Nun ließe sich argumentieren, es gäbe eine ursprüngliche rezeptiv-synästhetische Einheit des Empfindens, die sich erst im Laufe der Zeit zu einer Wahrnehmung ausdifferenziert. Und das ist sicher nicht ganz falsch; im Falle des Sehens etwa aber schwer plausibel zu machen. Entscheidend ist, dass Wahrnehmung aus dem Behalten heraus immer synästhetisch ist. Ja, die Synästhesie der Wahrnehmung sich immer enger und feiner verknüpft. Am offensichtlichsten ist dieser Umstand beim Sehen. Gesehen wird, was gefühlt, geschmeckt oder gehört wurde. Wenn etwa kleine Kinder alles begreifen und in den Mund nehmen müssen, ist auch im späteren Sehen die Fülle dieser Eindrücke mit präsent. Andere sinnliche Erfahrungen vom Sehen grundlegend zu spalten, wird der Komplexität von Wahrnehmung nicht gerecht. Entsprechend soll also behauptet sein, dass sich etwa das Sehen, als Aspekt der Wahrnehmung, nicht auf die „Verarbeitung“ sensorischer hier visueller Reize reduzieren lässt, sondern die Mitgängigkeit einer widerfahrenen Welt impliziert. Oder andersherum und etwas pointierter gesagt: Wer nicht fühlen könnte, wäre blind. Dass in jeder Wahrnehmung Erwartungen mitgängig sind, wird wieder besonders deutlich, wo diese sich nicht erfüllen; wenn etwas anders aussieht als es Geschmack, Klang oder Taktilität erwarten ließen, oder wenn sich etwas anders anfühlt, als es Geruch oder Aussehen in Aussicht stellten. In der enttäuschten Erwartung wird das Vergessen des Behaltens erahnbar. Auch das Vermögen paralleler Wahrnehmungen, das Luhmann einfach voraussetzt, speist sich aus dieser Begabung, die es erlaubt, auch das Ereignen am Rande des Fokus der Aufmerksamkeit mit entgegenzunehmen. Damit ist keinem kruden Konstruktivismus das Wort geredet. Der Realismus der Begabung schließt dies schon aus. Das Behalten ist ständigen Korrekturen, Verfeinerungen und Ergänzungen ausgesetzt. Was ließe sich schon sehen, wenn über das Sehen hinaus keine Erfahrung mit 95 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 339.

4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung

Welt bestünde? Wie sollte sich beispielsweise eine raue oder glatte Oberfläche sehen lassen? Jeder Sinn für sich alleine wäre stumpf und blind. Sollte ein Primat bestimmt werden, so käme dieser der Taktilität inklusive der verschiedenen Selbstwahrnehmungen des Leibes, dem Gustatorischen und Olfaktorischen zu. Wahrnehmen aber heißt, dass die Sinne aus der Eindrücklichkeit der Realität untrennbar ineinandergreifen. Eine Deutung dessen, was Bewusstsein sein könnte, ist bisher ausgeblieben. Die Überlegung ist soweit sehr einfach: Spuren oder Eindrücke müssen hinterlassen werden und sind daher genötigt, sich auch ableiten zu lassen; gerade wenn kein Subjekt mit spezifischen Fähigkeiten gesetzt sein soll. Dabei ist Gegenwart tatsächlich kaum ohne Nicht-Präsenz in Form von Erwartungen denkbar. Soll jedoch keine weitere Instanz, die sich soweit nicht herleiten lässt, gesetzt werden, kann diese Gewesenheit sich nicht zwischen Sinnliches und dessen Artikulation schieben. Eher zeichnet das Ereignen sich vor ihr ab. Nicht das Gegenwärtige wird – im Sinne Derridas – wiedergeholt, vielmehr holt das Ereignen die Erwartung wieder. Was sonst sollte Sinn aktualisieren? Gegenwart ist nicht wiedergeholt – ein obskurer Gedanke –, sie wiederholt sich überhaupt nicht. Heißt es in Die Stimme und das Phänomen, dass ein Signifikant „trotz der Verzerrungen, die das, was man das empirische Ereignis nennt, ihn notwendig erleiden lässt, und durch sie hindurch derselbe bleiben und als solcher wiederholt werden können“ muss,96 liegt die Präsenz eines Ereignisses darin, abzuweichen, also immer wieder Information zu haben. Dabei wird das empirisch Verschiedenartige, den Signifikant nicht modifizieren, sondern seine Gestalt erst prägen. Wo sollte Gestalt sonst herkommen? Sie kann kommunikativ nicht prozessiert und folglich auch nicht in Umlauf gebracht werden. Die Unübertragbarkeit von Sinn oder Information verbietet dem Zeichen, seine eigene Form zu tragen. Was sich ereignet, ist, nach Derridas Angaben, „notwendig immer anders“.97 Das Andere des Anderen ist aber nicht automatisch das Gleiche – von dieser Vorstellung sollte die strukturalistische Lehre doch zumindest befreien – alles andere ist Identitätsdenken durch die Hintertür: das Ereignis als Repräsentation, als ideale Identität. Aktivität und Macht des Subjekts werden auf eine Struktur übertragen, die nun an Stelle seiner aktiv und mächtig ist. Erkennen, Bezeichnen oder Identifizieren; alles Akte der Zurichtung, des Zugriffs und der Konstruktion. Dass im Ereignis die Macht entmachtet sein könnte, scheint (ausgenommen für Heidegger) undenkbar, vielleicht sogar bedrohlich. In der Tat drängt sich der Verdacht auf, dass das eigentlich Beängstigende die Vorstellung ist, 96 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 69. 97 Ebd. S. 70.

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4. Ereignen und Wahrnehmung

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dass das, was geschieht, in seiner Unfassbarkeit und Unkontrollierbarkeit tatsächlich geschieht. Lieber negiert sich das Individuum, um zumindest der Einsicht seiner Nichtigkeit mächtig zu sein, als seiner umfassenden, eventuell verstörenden Verstrickung ins Ereignen ins Auge zu blicken. Wahrnehmen heißt verändert werden. Dabei wandelt auch größte Monotonie, die es absolut niemals gibt, den Erwartungshorizont; bestätigt, verstärkt, beruhigt oder lässt einen unerträglichen Mangel an Stimulanz entstehen. Das temporale Gefüge selbst ist nicht produktiv. Das ist es vermutlich, was Heidegger meint, wenn er sagt, dass das Ereignis den Menschen eigne, dass die Gabe des Anwesens Eigentum des Ereignisses sei. Temporalität meint keine Maschine, die Gegenwart herstellt. Die différance als Differenzen prozessierend und produzierend ist diesbezüglich ein grandioser Unfug. Wird Intentionalität dekonstruiert oder vom Paradigma der Ausgerichtetheit alles Psychischen ausgegangen, wie Derrida oder Luhmann es tun, mag dies so scheinen. Eine solche Perspektive verkennt aber die Passivität, Abhängigkeit oder Unselbstständigkeit der Zeitlichkeit selbst. Vor allem aber ignoriert sie die Doppelaspektivität der Zeit, von der Luhmann in Soziale Systeme zurecht sagt, sie sei ein konstantes sichÄndern, reversibel und irreversibel zugleich. Wo die temporale Struktur hingegen als ein sukzessives Geschehen begriffen wird, macht die Zukunft einen Umweg über die Gewesenheit und die Gegenwart erscheint aufgeschoben, verspätet, wiedergeholt, als Repräsentation, Vorstellung, nicht präsent. Der Begriffsbildung gerät Temporalität zu einem dreiteiligen Geschehensgefüge, in dem Etappen zu absolvieren sind. Wer sich auf diese Argumentation einlässt, hat schon verloren. Weder wäre plausibel, dass der Moment ausgedehnt und so irgendwie dauernd sein soll, noch dass das Anwesende, dem strukturell fraglos ein Primat vor der Gewesenheit zukommt, anwesend ist. Bereits Heidegger besteht aber darauf, dass Zeitlichkeit nicht als ein Nacheinander, sondern als Einheit zu begreifen sei. Die Gegenwart wäre sonst selbst abwesender Umkipppunkt eines „noch nicht“ in ein „nicht mehr“ und so immer nur indirekt. Stattdessen ist zu betonen, dass der Leib der Wahrnehmung, selbst ereignishaft und insofern ohne Einschränkung ganz in das Ereignen eingebunden ist. Ihm ist das Rezipierte nicht gegen-wärtig. Ein Gegen im Sinne eines sich in seiner Rezeptivität begreifenden Subjekts ist mit ihm nicht schon gegeben. Wird Wahrnehmung als temporal fundiert begriffen, ist sie deshalb auch nicht schon ekstatisch. Nichts an ihr ist transzendent. Vielmehr zeichnet sich das Ereignen, in den Leib der Wahrnehmung ein und so erst in seinen zwei Aspekten von sich ab. Jenseits seines Eindrucks, der Veränderung, die es hinterlässt, seiner Verräumlichung, hat kein Geschehen irgendwelche Gesichtspunkte, auch nicht die von Luhmann zum Ausgang seiner Überlegungen gemachte Doppelaspektivität.

4.5 Die Artikulation des Ereignens in der Wahrnehmung

Soweit wurde sich anhand einer Heidegger-Lektüre einem Ereignen im Sinne einer „Gabe von Anwesen“ als notwendiger aber noch unspezifischer Voraussetzung eines Seinsverhältnisses angenähert und gezeigt, dass auch die derridasche Konzeption von Nicht-Präsenz – von Spur und Supplement – ein transzendentales Sich-Ereignen in zweifacher Hinsicht impliziert. Die Spur der Gewesenheit muss von etwas hinterlassen werden. Nicht anders muss dem, durch diese Spur ermöglichten, aktuellen Supplement etwas zugrunde liegen. Eine sich sinnlich ereignende Fülle fundiert Temporalität und bietet somit die Ausgangsbasis, um Sinnprozesse zu deuten. Mit Luhmann ließe sich hier anschließend die gedankliche Ausgangssituation als eine rezeptiver Entäußerung weiter spezifizieren. Dieser deutet, aus einem Primat der Wahrnehmung, Sinn als konditionierte Erwartung, die folglich aus Widerfahrnisen resultiert. Die Vorstellung, Bewusstsein würde in seinen Operationen intentional auf Welt zugreifen, wurde jedoch zurückgewiesen, da es weder über die Aktualität noch über seine Erwartungen verfügt, während die unmittelbarer Präsenz des Aktuellen notwendig erscheint. Tatsächlich, so die hiesige Deutung, ist mit Wahrnehmung noch kein Bewusstsein, kein Seinsverhältnis gegeben. Vielmehr ist der von Adorno angenommene Vorrang des Objekts, als eine an ein Sich-Ereignen entäußerte Rezeptivität, absolut zu setzen. Damit wird auf die erkenntnistheoretische Ausgangssituation des Kapitels geantwortet: Aus Unmittelbarkeit ist eine mittelbare Bezüglichkeit herzuleiten und nicht Mittelbarkeit vorauszusetzen, um diese konzeptionell durch Vermittlungsprozesse zu überbrücken. Ein erster Schritt – der jedoch noch kein differentes Weltverhältnis impliziert – besteht darin, Wahrnehmung als durch die Gabe des Ereignens begabte zu begreifen.

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen Mit dem soweit dargestellten Ansatz einer sich erst am Wandel der sich ereignenden Welt konstituierenden Wahrnehmung ist hergeleitet, was vielleicht ein Monismus der Rezeptivität genannt werden kann. Der Vorteil einer solchen Perspektive besteht zunächst einmal darin, dass sie auf jegliche vermittelnde Strukturen oder Entitäten verzichten kann. Noch nicht einmal das Vermögen wahrzunehmen, muss vorausgesetzt werden. Es bildet sich überhaupt erst an der Fülle eines Ereignens, das seine Spuren hinterlässt, heraus. Gleichzeitig erklärt sich die Subjektivität aller Welterfahrung, ohne auf diese reduziert werden zu können, da die Objektivität von Welt nicht konstruktivistisch ausgehebelt, sondern herausgestellt wird. Transzendentalität kann einzig ihrem Ereignen, deren indifferenter Aspekt der rezeptive Leib selbst ist, zugesprochen werden. Was sich ereignet ist im Sinne des Wortes wirklich und Wirklichkeit damit weder subjektiv noch objektiv. Das bemängelte Selbstbegründungsdefizit bleibt bestehen, verändert sich aber qualitativ, da keine strukturierten Voraussetzungen mehr aus ihrer Vorausgesetztheit hegerleitet werden müssen. Der Anspruch auf Selbstbegründung wird schlicht fallengelassen. Weder historisch noch gegenwärtig lässt sich dem Prinzip des Bezeichnens ein Primat zuweisen. Die Herausforderung besteht nun darin, die Differenz, aus der einem Subjekt Objekte gegeben sind, die Differenz, die einen Seinsbezug erst plausibel macht, herzuleiten. Die Dualität von Subjekt von Objekt ist schließlich qua Rezeptivität oder Wahrnehmung gerade nicht schon gesetzt. Zwar entwirft etwa Heidegger sein Konzept des Seins als explizit nicht-dualistisch, das aus der Welt auf sich zurückkommende Dasein, wird jedoch aus der Emanzipation vom Weltverständnis des Man gedeutet, nicht aber aufgezeigt, worin der Abstand, der einen Bezug des Seins erst zulässt, gründet. Adornos kritisches Festhalten an der Subjekt-Objekt-Differenz lässt sie ihm, nachdem er sie an die Grenze ihrer Auflösung getrieben hat, dann aber auf die Herleitung ihrer Konstitution verzichtet, zu etwas Metaphysischen geraten. Dass Derrida das Subjekt als durch die Schrift konstituiert und so zugleich einer temporalen Dislokation unterworfen konzipiert, lässt sich aus einem Primat des Ereignens fruchtbar ma-

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

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chen, eigentlich sogar erst plausibilisieren. Er setzt jedoch immer schon bei einem sprechenden, sich im Sprechen vernehmenden und von hier aus zu dekonstruierenden Subjekt an, während das Paradigma der Differentialität unbefragt bleibt. Luhmann schließlich setzt die Differenz System/Umwelt qua psychischem System immer schon voraus. Allen hier gelesenen Autoren gemein ist, dass sie, selbst dort, wo ihre Alleinstellung infragegestellt oder ein Logozentrismus beklagt wird, der Sprache eine besondere Stellung im Kontext der Konstitution einer objektivierten Welt wie eines sich gegebenen Selbst einräumen. Sicher ist wohl, dass dort, wo etwas als etwas aufgefasst oder bezeichnet wird, der gesuchte Abstand gegeben sein muss – Bezeichnung setzt Positionalität und damit ein Subjekt-Objekt-Verhältnis voraus –; ohne dass damit jedoch schon klar wäre, dass das eine in einem einfachen Verhältnis zum anderen stünde. Dabei soll aufgezeigt werden, dass es hier eine Verbindung gibt. Ohne den Nachvollzug einer vorbereitenden, die Thematik sondierenden Suchbewegung werden die weiteren Überlegungen jedoch nicht einsichtig werden können. Unklar in der Konzeption Luhmanns ist, was bzw. wie sich die Identität von Symbolen, die als Medien der Bildung von Einheit begriffen werden, selbst herstellt. Die Frage verknüpft sich mit der nach der Beschaffenheit psychischer Systeme, der von Bewusstsein. Vergleichbar ist bei Heidegger die Problematik expliziter Verweisungen innerhalb der Verweisungsganzheit von Welt, die mit dem Status von Sein verbunden ist. Am Beispiel von Sprache wird deutlich, dass die Systemtheorie die Funktion symbolischer Generalisierungen ansetzt, ohne ihre Konstitution zu klären. Nicht anders Adorno, dessen Vorhaben die ordnende Begrifflichkeit zu zersetzen, deren Hypostasierung betreibt, insofern er Identität als überindividuell begründet ableitet. Dabei lässt sich zeigen, dass die Präsenz von etwas als Kommunikation, an der jeweils kommunizierten Information hängt. Kenntliche Verweisungen werden sich in Wahrnehmung eingelassen an Bedeutsamkeit herausbilden müssen. Damit aber wird das Paradigma der Intentionalität, dass nicht zuletzt negativdialektischem Denken zentral ist, weiter destabilisiert. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, die Frage danach, wie sich etwas sozialisieren können soll, das kenntlich erst Ergebnis von Sozialisation sein dürfte. Wird sich nicht Derrida, sondern noch ein Mal de Saussure und mit ihm dem Paradigma der Differentialität zugewandt, verschärft sich die Situation nur. Der Zerfall der Differenz von Signifikat und Signifikant löst das strukturale Paradigma selbst auf. In Auseinandersetzung mit Luhmann gelangen die hiesigen Überlegungen schließlich – dies aber wird erst Gegenstand des nächsten Kapitels sein – zu der Einsicht, dass sich der Frage, wie sich symbolische Generalisierungen ergeben, nicht jenseits der intimen Interaktionen körperlichen Verhaltens annähern lässt.

5.1 Die Medien der Generalisierung von Symbolen

5.1 Die Medien der Generalisierung von Symbolen Zeichen müssen, um ihre Funktion zu erfüllen, Soziale Systeme zufolge, Sinn haben. Sinn bildet, wie zitiert, den Kontext aller Zeichenfestlegung, ist aber selbst nicht zeichenhaft. Nach hergebrachter Vorstellung verlangen Zeichen eine Asymmetrie zwischen etwas Bezeichnendem und etwas Bezeichnetem. Etwas steht für etwas. „Die Funktion eines Zeichens erfordert immer Verweisung auf etwas Bestimmtes“.1 Der Begriff des Sinns macht es nun aber nicht ohne weiteres möglich, zwischen der Verweisungsstruktur der Erwartung und der Verweisungsstruktur von Zeichen zu unterscheiden. Die Angelegenheit wird dadurch kompliziert, dass dem Bestimmten seine Bestimmtheit erst durch seine Bestimmung widerfährt. Luhmann geht nun davon aus, dass sich Gegenstände dadurch herausbilden, dass sie sinnhaft intendiert werden. „Die Sachdimension wird dadurch konstituiert, dass der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten zerlegt in ‚dies‘ und ‚anderes‘. […] Damit entsteht ‚Form‘ im Sinne einer Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen zu ziehen“.2

Was aber erzeugt die Bestimmtheit des Gemeinten? Das Argument, die Form entstehe, indem Sinn den Erwartungshorizont des Gemeinten in dies und anderes zerlege, ist tautologisch, da die Form des Gemeinten mit der Intention gegeben sein müsste. Das Bewusstsein intendierte Gegenstände in die Welt hinein. Der Wahrnehmung werden sich Sonderungen ergeben – Luhmann sprich von primären Disjunktionen –, etwa zwischen Bewegtem und Unbewegtem, Flüssigem und Festem oder auch unterschiedlicher Oberflächenqualitäten – aber keine zeichenhaften Gegenstände. Zeichen verlangen einen Aufschub, in dem sie selbst als bezeichnend, Prägnanz erlangen. Das Problem ist dabei wieder, dass der Ort, von dem aus die Bestimmung erfolgte, bei Luhmann qua Intention des psychischen Systems gesetzt ist. Eine gewisse Stabilität wird Sinn, wie angenommen wird, erst durch symbolische Generalisierungen erfahren. Soziale Systeme ersetzt den Begriff des Zeichens durch den, der Psychologie entliehenen, der symbolischen Generalisierung. Es unterstreicht so zum einen, dass sich Symbolisierungen für jedes einzelne Individuum konstituieren müssen und zum anderen – soweit sich von der nicht zu haltenden Vorstellung eines voraussetzungslos gegebenen Subjekts verabschiedet wird –, dass sich Sinn aus dem generieren muss, was sich der Wahrnehmung einprägt.

1 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 107. 2 Ebd. S. 114.

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

„Der Begriff Symbol/symbolisch soll dabei das Medium der Einheitsbildung bezeichnen, der Begriff Generalisierung ihre Funktion der operativen Behandlung einer Vielheit. Ganz grob skizziert handelt es sich darum, dass eine Mehrheit einer Einheit zugeordnet und durch sie symbolisiert wird“.3

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Etwas Bestimmtes verweist auf etwas Bestimmtes und konstituiert so die Einheit des Gemeinten. Erst die Differenz von Symbol und Prozess mache selbstreferentielles Operieren überhaupt möglich. Sinn selbst ist unverfügbar, erst symbolisiert ist seine Momenthaftigkeit eingeschränkt. Gleichzeitig ist die von ihm eingezogene „Differenz von operativer (oder prozessualer) und symbolischer Ebene“,4 überraschend. Was prozessiert würde, wären schließlich Symbole als Einheiten der Zuordnung, wobei diese selbst einer Viel- oder Mehrheit zugehören, also gar nicht klar ist, was die Einheit des Mediums der Einheitsbildung konstituiert. Ein psychisches System würde sich, Luhmanns eigener Logik zufolge, erst da konstituieren, wo es mit Symbolen selbstreferentiell operiert. Selbstreferentiell zu operieren, konstituiert es schließlich. Nicht anders als alle anderen Systeme auch müsste es aus einem Zustand, in dem es zunächst nicht gegeben ist, emergieren. „Durch symbolische Generalisierungen [erst] werden […] dem Erlebnisfluss Identitäten aufgeprägt – Identitäten im Sinne von jeweils reduktiven Beziehungen zu sich selbst“.5 Luhmann argumentiert enorm zügig. Er verbindet diesen Gedanken unmittelbar mit der Notwendigkeit, dass selbstreferentielle Systeme sich selbst symbolisieren können müssen. Das Problem ist wie gesagt, dass der Soziologe das psychische System als selbstreferentielles immer schon voraussetzt. Wie Selbstsymbolisierung gelingen kann, ist mit der Formulierung ihrer Notwendigkeit aber nicht schon geklärt. Die reduktive Beziehung, die etwas zu sich selbst eingeht – seine Identität – wird nicht durch es selbst, sondern durch etwas anderes, ein Symbol oder Zeichen, konstituiert. Seine qualitativen Eigenarten, sein Sinn – nicht identisch mit jener – ist allein durch es bedingt. Sein es bzw. dies aber, das diese Vielheit an Qualitäten zusammenfasst, ist symbolisch. Symbol und Symbolisiertes stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Unselbstständigkeit. Das Symbol ist nur in Hinblick auf die Qualitäten des Symbolisierten bedeutsam und das Symbolisierte nur aus der Verweisung des Symbols etwas. Da, was immer als zeichenhaft aufgefasst wird, aber selbst Teil des Ereignens sein muss, stellt sich die Frage nach der Einheit des Symbolisierenden. Anzunehmen, die Welt würde durch Zeichen, durch symbolische Genera 3 Ebd. S. 135. 4 Ebd. 5 Ebd. S. 136.

5.1 Die Medien der Generalisierung von Symbolen

lisierungen, lesbar ohne Rechenschaft über die Lesbarkeit von Zeichen, die Lesbarkeit dessen, was generalisiert, abzulegen, wäre eben Willkür. Als Grundstruktur aller Zeichen, seien es Indikatoren, Darstellungen, Symptome oder Symbole, macht Sein und Zeit gleich zu Beginn das Erscheinen aus, als ein „Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt“.6 Nur auf der Grundlage eines Sichzeigens von etwas ist Erscheinen möglich. Erscheinung meint demnach „einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst“.7 Das Bestimmte, auf das die Funktion eines Zeichens verweist, ist demnach potentiell, aber nicht notwendig, abwesend. Was sich nicht zeigt, ist die Erwartung, welche die verwiesene Erscheinung begründet. Als konstitutiv für Weltlichkeit wurden bereits Verweisungen genannt. Welt ist Heidegger zufolge eine Verweisungsganzheit. Zeichen seien in dieser ein Zeug, dessen spezifischer Zeugcharakter im Zeigen bestehe. Nun wurde aber das Sein selbst als Bezug charakterisiert, in dem Seiendes, Andere und auch wir uns, als einem Dasein, gegeben sind. Formal ist auch die Verweisung ein Beziehen. In Sein und Zeit wird entsprechend differenziert: „Jede Verweisung ist eine Beziehung, aber nicht jede Beziehung ist eine Verweisung“.8 Ähnlich dem des Sinns macht es auch der Begriff des Seins – der wohlgemerkt etwas Anderes meint – also nicht einfach möglich, zwischen der Verweisungsstruktur der Bedeutsamkeit und der Verweisungsstruktur von Zeichen zu unterscheiden. Zeichen wären explizite Verweisungen innerhalb des impliziten umfassenden Verweisungszusammenhangs der Welt. Heidegger unterscheidet zwischen „Verweisung als Dienlichkeit und Verweisung als Zeug“.9 Wobei die Verweisung als Zeigen in der „Dienlichkeit zu“, der bereits in ihrer Engführung kritisierten Seinsstruktur des Seienden als Zeug, gründet. Zeichen lassen demnach Seiendes in einem Zusammenhang begegnen bzw. zugänglich werden, in der Form, dass sich der besorgende Umgang eine Orientierung gibt und sichert. Sie sind „ein Zeug, das ein Zeugganzes ausdrücklich in die Umsicht hebt“.10 Im Zeigen konkretisieren sich Erwartungen innerhalb der Welt. Zeichen sind nicht einfach mit anderem Seienden zuhanden, vielmehr sind sie „ein Zeug, das ein Zeugganzes ausdrücklich in die Umsicht hebt, so das sich in eins damit die Weltmäßigkeit des Zuhandenen meldet“.11 Im Zeigen erst konstituieren sich das Erscheinen von Gegenständlichkeiten, aber auch Vollzüge oder Praktiken ausdrücklich. Die Parallele zur Argumentation von Luhmann ist 6 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 29. 7 Ebd. S. 31. 8 Ebd. S. 77. 9 Ebd. S. 78. 10 Ebd. S. 80. 11 Ebd.

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offensichtlich. Tatsächlich werden Gegenstände immer in Ereignisstrukturen eingebunden sein, so dass sich Ding und Performativität nicht trennen lassen, während sich das Erscheinen von Zeichen aus ihrer Verwiesenheit begründet. Zeichen müssen allerdings zum-Zeichen-genommen-werden. Werden sie nicht als solche aufgefasst, begegnen sie Heidegger zufolge als unverstandenes Zeug. So etwas wie Zeug oder Seiendes, das nicht verstanden ist, dürfte es jedoch eigentlich innerhalb der Konzeption von Sein und Zeit, nicht geben. Entweder hätte es als unverstanden verstanden einen paradoxen Status oder es stünde außerhalb der Bezüge der Welt. Wieder wäre, wie bereits bei Luhmann, unklar, warum es überhaupt als differenziertes Etwas aufgefasst werden sollte. Ähnlich der Negativen Dialektik oder der Dialektik der Aufklärung in Bezug auf Sprache, geht Heidegger davon aus, dass für den „primitiven Menschen“ das Zeichen, Fetisch gleich, mit dem Gezeigten zusammenfällt. Für jenen sei das Zeichen selbst das Gezeigte. Das Zeichen sei noch-nicht-frei vom Bezeichneten. Vergleichbar ist Horkheimer und Adorno, wie zitiert, die Ordnung des Mythos, noch „eins mit dem gesprochenen Wort“.12 Die Zeichen hätten gewissermaßen noch keine Aufklärung erfahren. Information und Mitteilung zeichnete keine Differenz aus. „Solcher Zeichengebrauch geht noch völlig im Sein zum Gezeigten auf, so, dass sich ein Zeichen als solches überhaupt noch nicht ablösen kann“.13 Bezeichnung und Bezeichnetes wären (noch) nicht auseinandergetreten. In diesem nicht-abgelöst-sein aber wären sie gewissermaßen beliebig in der Wahrnehmung und eben nichts Seiendes im prägnanten objektivierten Sinne. Die Vorstellung von unaufgeklärten fetischistischen Zeichen ist jedoch ebenso wenig sinnvoll, wie die einer unaufgeklärten Sprache. Jeder zeichenhaft schöpferische Akt würde sich ausschließen. Wo Zeichen in eins mit dem fallen, was sie bezeichnen, wo es keine Distanz zu ihnen gäbe, könnte, nach dem Prinzip einfacher Konditionierungen, nur reflexhaft auf sie reagiert werden. Nicht nur Zeichen wären unentdeckt, das innerweltlich Zuhandene im Ganzen hätte für das primitive Dasein nicht die Seinsart von Zeug. Es wäre nichts Seiendes. Und Heidegger kommt im Prinzip zu eben diesem Schluss. „Das Zusammenfallen gründet nicht in einer ersten Objektivierung, sondern im gänzlichen Fehlen einer solchen. Das besagt aber, dass Zeichen überhaupt nicht als Zeug entdeckt sind, dass am Ende das innerweltlich ‚Zuhandene‘ überhaupt nicht die Seinsart von Zeug hat“.14 12 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 78. 13 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 82. 14 Ebd.

5.1 Die Medien der Generalisierung von Symbolen

Es wäre damit, da Seiendes primär als Zeug entdeckt ist, kein Sein im Heideggerschen Sinne. Die Welt würde nicht erscheinen. Es ließe sich nur unmittelbar auf Erwartungen reagieren, ohne dass Dinge in Aufschub oder Differenz für Konsequenzen stünden. Luhmann wendet den Begriff der symbolischen Generalisierung – was Heidegger im Falle der Struktur von Zeichens nicht in den Sinn kommt – nun direkt auf Sprache an. „Niemand wird bestreiten wollen, dass Worte (wie auch Dinge) als Zeichen verwendet werden können, also als Hinweis auf etwas, das unabhängig von der Sprache existiert“. Sprache habe jedoch weder eine primär hinweisende, noch eine in erster Linie kommunikative Aufgabe. „Ihre eigentliche Funktion liegt in der Generalisierung von Sinn mit Hilfe von Symbolen, die – im Unterschied zur Bezeichnung von etwas anderem – das, was sie leisten, selbst sind. Nur in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium, und das scheint evolutionsmäßig gesehen die ursprüngliche Funktion zu sein, ist die Sprache an Codierung, also an akustische bzw. optische Zeichen für Sinn gebunden“.15

Obwohl der Sprache in der luhmannschen Theorie, als Kommunikationsmedium, eine so zentrale Stellung zukommt – sie erst soll die Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen leisten und so die Ausdifferenzierung erster sozialer Systeme ermöglichen –, verzichtet Soziale Systeme auf jede weitere Erläuterung dieser Setzungen. Schon der Unterschied von eigentlicher und ursprünglicher Funktion ist dabei dubios. Es stellt lediglich fest: „Die Konsequenzen für Begriff und Theorie der Sprache können wir hier nicht ausarbeiten“,16 und, soweit bekannt, tut Luhmann dies auch sonst nirgends. Im Umgang mit sich sondernden Ereignissen entstehen, so die Annahme in Soziale Systeme, Generalisierungen – was nicht abwegig ist. „Begriffe könnten allenfalls dazu beitragen, zweifelhafte Fälle oder Gebrauchsweisen auf den eigentlichen Sinn zu beziehen“.17 Sinn konstituiert sich durch Erfahrung, anhand von Qualitäten und Ereignisstrukturen, in die disjunkte Geschehensaspekte eingebunden sind. Generalisierungen, im Sinne von Heideggers Bedeutsamkeiten, die im konkreten Umgang einen flüchtigen Horizont diffuser Relationen entstehen lassen. Symbolisiert, so dass sie sich als solche thematisieren lassen, sind sie dadurch nicht. Luhmann trennt nicht sauber zwischen Generalisierungen der Erwartung und Symbolisierung bzw. macht, sollte eine solche Trennung nicht eindeutig möglich sein, die Zone der Indifferenz nicht kenntlich. 15 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 136 f. 16 Ebd. 17 Ebd. S. 136.

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Der vermutete Grund, warum die Konsequenzen für den Begriff der Sprache nicht ausgearbeitet werden, liegt darin, dass Luhmann ignoriert, dass die Medien der Einheitsbildung selbst etwas sein müssen. Auch Worte sind insofern lautliche Dinge. Etwas muss erscheinen, damit sich etwas melden kann, das sich potentiell nicht zeigt. Erscheinen ist Grundlage von Verweisungsbezügen. Die Symbole, die dem Erlebnisfluss Identitäten aufprägen, sind Teil von ihm. Symbole müssen damit gewissermaßen selbst Generalisierung erfahren, sie müssen, etwa als stimmliche Ereignisobjekte, selbst wieder zugänglich sein und sollen gleichzeitig Heterogenes typisierend zuordnen. Was aber symbolisiert gleichsam das Symbol? Was prägt dem Fluss seines Ereignens Identität auf? Das Argument, die Dinge hätten qua Bekanntheit Identität, ist offensichtlich kurzschlüssig. Auch die Vorstellung, die Symbole der Sprache seien, was sie leisteten, bedient sich, die Frage nach der Konstitution von Bedeutung abschneidend, einer ähnlichen Logik. Sich die Farbe Rot oder das Wort „Rot“ vorzustellen, macht einen Unterschied, so wie es einen Unterschied macht, etwas Rotes zu sehen oder gesagt zu bekommen, etwas sei rot. Luhmann hätte auch sagen können, er verstehe Sprache, das reiche. Tatsächlich befreit die Reduktion auf ihre Funktion sie von ihrem Signifikanten, während die Figur des „sein, was sie leisten“ den Ansatz der Konstitution aus Verwiesenheit bestätigt. Die Vorstellung, dass Sprache, wo sie nicht als Kommunikationsmedium fungiert, auch nicht an Zeichen, nicht an akustische oder optische Codierung gebunden sein soll, ist dabei unhaltbar. Bewusstsein ist durch und durch wahrnehmungsabhängig. Selbst seine Imaginationen simulieren, der Einführung in die Systemtheorie zufolge, Wahrnehmung. „Versuchen Sie einmal“, fordert Luhmann seine Studierenden auf, „Gedanken zu denken, ohne dabei mitspielen zu lassen, dass Sie eine Schrift sehen oder einen Klang hören“.18 Entscheidend ist dabei nicht, ob Gedanken sprachlich oder von Sprache begleitet sein müssen, sondern dass bereits das Denken in Worten Wahrnehmung simuliert bzw. wieder wachruft. Der Umstand, dass Sprache, Zeichen allgemein, irgendwie erlernt werden müssen, macht die Notwendigkeit eines vorgängigen sich Ereignens evident. Im Falle von Worten wird dies üblicherweise anders als anhand akustischer oder optischer Geschehen kaum gelingen. Ob geschrieben, gedacht oder gesprochen, diese Ereignisse müssen im Sprechen, auch dem gedanklichen erneuert werden. Keine Codierung ohne etwas, das den Code trägt. Sollen sprachliche Symbole bzw. Worte in irgendeiner Form sein, was sie leisten und ist das, was sie leisten, Sinn zu generalisieren, so unterscheiden sie sich nicht von allen anderen Symbolen oder Zeichen, die ihre Bedeutung erlangen, indem sie sich auf etwas beziehen. Weder lässt 18 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 271.

5.2 Zur Differenz im identifizierenden Prinzip des Begriffs

sich Sprache auf ihre Funktion reduzieren – schon Heidegger gelingt dies nicht – noch ließe sich ihre Stellung vor allen anderen zeichenhaften Prozessen ausmachen. Das Herausragende an gesprochener Sprache – im Unterschied zu Straßenschildern etwa – wird sein, dass sie sich kontextunabhängig und zeitnah reproduzieren lässt. Der Unterschied Symbol/Bezeichnung trägt nicht, da die Möglichkeit, etwas anderes zu bezeichnen, die Generalisierung von Sinn voraussetzt. In beiden Fällen muss sich die Assoziation mit etwas Gemeintem, Erwartung bzw. Sinn, einstellen. Kein Wort und kein Bild ist selbstgenügsam. 5.2 Zur Differenz im identifizierenden Prinzip des Begriffs Die Negative Dialektik beschreibt die Gesellschaft als einen Immanenzzusammenhang, in dem Geistiges „weit über den individuellen Urheber hinaus, im kollektiven Leben des Geistes und nach seinen immanenten Gesetzen objektiv begründet ist“.19 Adorno fasst sie als dem Einzelbewusstsein und all seinen Erfahrungen vorgängige Objektivität auf, dem individuellen Geist in sich durch sie vermittelt. Die Gesellschaft ist dem Individuum und seinem Bewusstsein vorgeordnet. Ihre Vormacht verschränkt sich dabei mit der des Begriffs, ohne den individuelle Erfahrung – Adorno argumentiert ähnlich wie Luhmann – keine Kontinuität hätte. Die Phänomene sind durch ihre Begriffe determiniert, Seiendes nicht unmittelbar, sondern nur durch ihre Ordnung hindurch. Vor allem Inhalt hypostasiert der Begriff seiner Form nach. „Identifizierendes Denken vergegenständlicht durch die logische Identität des Begriffs“.20 So ersetzen Begriffe die Selbstheit der Sache. Sie sind nicht einfach Produkt von Synthesen und Abstraktionen, das würde phänomenale Dinghaftigkeit voraussetzen, sondern das begrifflich bestimmte Besondere ist vielmehr grundverschieden von der Einheit des unter dem Allgemeinbegriff abstrahierten. Denken kann, Adorno zufolge, nicht anders als identifizieren und tut dies im Medium des Begriffs. Das, was es begreift, wird in der abstrahierenden Identifikation objektiviert, verdinglicht. Erscheint etwas als etwas, ist es – gleich ob das Subjekt als Phänomen seiner selbst oder jedes beliebige andere Objekt – schon nicht mehr es selbst. Das Selbst ist das Gegenteil seiner Gleichsetzung mit seinem Begriff, ist jenseits seiner Objektivation. Das Nicht-Identische ist „die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation“.21 Das Primat des Widerspruchs zwingt das negativdialektische Denken durch jeglichen Term seiner Argumentation einen Schnitt zu 19 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 89. 20 Ebd. S. 157. 21 Ebd. S. 164.

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tun, keine positive Bestimmung gelten zu lassen und jegliches Moment von Identität auf die Seite des Allgemeinen zu schlagen. Mit mehreren Effekten: Zunächst einmal magert das Unmittelbare, Nicht-Identische, Materiale zu einem ‚fast Nichts‘ ab, während die Negative Dialektik andererseits faktisch zu einer „Ontologie des falschen Zustandes“22 wird. Der Ansatz einer immanenten Idealismuskritik wird selbst, wenn auch gebrochen, idealistisch. Gleichzeitig geht völlig unter, was Ziel materialistischer Philosophie sein sollte, nämlich die Herleitung „des Ganzen“ aus seiner materialen, dinglichen Fundierung. Stattdessen wird es in Form einer einerseits ökonomischen, andererseits begrifflichen Ordnung aus der angesetzten Widersprüchlichkeit extrapoliert, dann vorausgesetzt, und alles Phänomenale schließlich als durch sie vermittelt abgeleitet. Der Vorrang des Objekts verdünnt sich zu einem der dialektischen Reflektion angehängten, zu einer qualitativen Unterscheidung von in sich Vermitteltem, das der Versicherung, es sei keine bloße Idee, bedarf. Zwar verortet Adorno das Subjekt und mit ihm die gesamte SubjektObjekt-Relation völlig plausibel in der Sphäre des Materialen, leitet sie jedoch, wie bereits bemängelt, nicht aus dieser her. Stellt er heraus, dass Körper und Geist, wie ihre radikale Differenz, ein Gesetztes ihrer Abstraktion sind, deutet er die Abstraktion ihrerseits zum Medium selbsterhaltender Vernunft und koppelt sie an Identität und Begriff. Gleichzeitig erklärt er: „Das identifizierende Prinzip des Subjekts ist selber das verinnerlichte der Gesellschaft“.23 Eine solche Behauptung wird möglich, insofern Adorno das identifikatorische Prinzip des Begriffs an das gesellschaftlich bestimmende des Tausches rückkoppelt, die Wirklichkeit selbst als nach dem Prinzip der Identität „gemodelt“ begreift. Tausch, Identifikation und Identität werden Attribute einer dem individuellen Bewusstsein vorgängigen gesellschaftlichen Ordnung, durch die hindurch es sich und die dinglich materiale Welt vermittelt sind und die Vermittlung dem nicht-identischen Selbst fremden System zugeschlagen. So lässt sich erklären: „Was die Tatsachen vermittelt, ist gar nicht so sehr der subjektive Mechanismus, der sie präformiert und auffasst, als die dem Subjekt heteronome Objektivität hinter dem, was es erfahren kann“.24 Aus der Notwendigkeit, dass der Vermittlung etwas Vermitteltes zugrunde liegen muss, folgt jedoch nicht, dass in der Vermittlung etwas Unmittelbares liegt, wie Adorno meint, sondern lediglich, dass etwas jenseits der Vermittlung existieren muss. Insbesondere solange angenommen wird, dass es präformierende Mechanismen der subjektiven Auffassung gibt, ja, das Bewusstsein selbst universale Vermittlung ist.

22 Ebd. S. 22. 23 Ebd. S. 239. 24 Ebd. S. 172.

5.2 Zur Differenz im identifizierenden Prinzip des Begriffs

Die Negative Dialektik setzt bei einer Differenz, einem Widerspruch an, den sie zwar überzeugend aufzuweisen vermag, dessen Beschaffenheit sie aber nicht klärt. Adornos Vorbehalt, Tatsachen einfach als gegeben hinzunehmen, wie diese im Bewusstsein zu verorten, ist richtig. Auch lässt sich kaum bezweifeln, dass eine materiale, dingliche Welt – all das, was er unter dem Vorrang des Objekts fasst – Voraussetzung dafür ist, dass Begriffe sich auf etwas beziehen können; dafür, dass Sein überhaupt irgend ist. Nichtsdestotrotz wiederholt er, in ähnlicher Form, jenen Subtraktionsprozess, den er idealistisch-dualistischem Denken vorwirft. Indem er davon ausgeht, dass individuelle Erfahrung ohne begriffliche Vermittlung zwar unmittelbar, aber kontingent wäre, zieht er alles, was am Phänomen nicht zufällig erscheint, als der Vermittlung und damit der Gesellschaft zugehörig, ab. Zwar ist Adorno die These der umfassenden Bedingtheit des individuellen Bewusstseins vulgärmaterialistisch, dennoch wird das subjektiv Gegebene in seinen Betrachtungen zu einem nur noch „vermeintlich“ Unmittelbaren. In einem Atemzug mit Individualität gerät Unmittelbarkeit zur Fiktion. Kritisiert negativ dialektisches Denken die phänomenologische Wesensschau und ihre Tatsachen völlig zu Recht als kategorial überformt, entwertet es gleichzeitig die alltägliche Erfahrung. Insofern der gemeinen Auffassung das allermeiste nicht als kontingent, willkürlich oder zufällig erscheint, ist sie folglich nahezu umfassend durch die Gesellschaft bestimmt und da diese eine falsche ist, falsches Bewusstsein. Einzig in impulsiven Momenten individuellen Leidens, sowie in Konstellationen interpretativen Scheiterns, ragt etwas über die Universalität des Verblendungszusammenhangs. Erst das, was am Seienden, am Objekt seine gedanklichen Bestimmungen übersteigt, kehrt es dem Subjekt als Unmittelbarkeit zu. Zunächst sieht es sich der zugerüsteten und vergegenständlichenden Gestalt der Begriffe als unmittelbar gegenüber. Begriffe werden aufgefasst als allgemeiner Widerpart des nicht-identischen Besonderen. Zwar besteht Adorno, wie Heidegger, darauf, dass der Gedanke auf die Sache selbst geht, dennoch erscheint alles Sprachliche der Herrschaft des Überindividuellen zugehörig. In der Metakritik der Erkenntnistheorie heißt es besonders deutlich: „die ordnende Begrifflichkeit [… ist] selbst nur Derivat der Tauschgesellschaft“.25 Rechtfertigt die angesetzte Analogie zwischen Tauschprinzip und Identifikationsprinzip kaum, Sprache als Anhängsel einer bestimmten Gesellschaftsform zu begreifen, so ist zugleich evident, dass Begrifflichkeit nicht im nicht-identischen Seienden steckt. Die Auffassung, dass das Subjekt einer jeweiligen gesellschaftlich ökonomischen Situation unterworfen ist, sich in dieser und 25 Adorno, T. W. (1997). Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 52.

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durch diese konstituiert, sowie die, dass die gegenwärtige potenziell alles zu einer Ware degradiert, ist kaum zu bezweifeln. Ebenso offenkundig ist aber auch, dass die Programmatik einer Entzauberung des Begriffs eben über keinen differenzierten Begriff des Begriffs verfügt. Verkündet Adorno, er sei problematisch geworden, und bestimmt er negativ dialektisches Denken als Logik seines Zerfalls, erfolgt seine Bestimmung als Negat aus der Differenz der Annahme, er sei es, der etwas als etwas erscheinen lässt. Nicht-Identisches wie Begriffe ergeben sich in wechselseitiger Negation, aus einer Differenz, die beim Zauber, der Fetischfunktion des Begriffs ansetzt. Hält er der traditionellen Erkenntnistheorie vor, Objektivität sei nicht durch dem Abzug subjektiver oder begrifflicher Präformation zu erlangen, folgt die Logik, Unmittelbarkeit würde sich in dem, was die begriffliche Bestimmung von etwas übersteigt bzw. scheitern lässt, einstellen, einer verwandten Mechanik. Die Operation des Widerspruchs lädt dabei, analog der Gesellschaft, dem Begriff alle Identität und mit ihr das Prinzip des Tausches auf. Die Einsicht, dass kein unter eine Klasse subsumierter ‚Gegenstand‘ in seiner Bestimmung aufgeht, macht vor der Kategorie des Begriffs selbst halt. Seine vermeintliche Entzauberung hypostasiert ihn, anstatt ihn zu zersetzen, während im selben Zug vorausgesetzt wird, dass der Weltzugang des Subjekts überhaupt ein primär intentional begrifflicher ist. Stattdessen müsste Begrifflichkeit selbst aus dem Vorrang des Objekts hergeleitet werden. 5.3 Zur Unübertragbarkeit der Form des Zeichens

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Über die Untauglichkeit der Übertragungsmetapher für zeichenhafte Prozesse sind sich Derrida, Luhmann und Heidegger, aber auch Adorno, zumindest implizit, einig. Bedeutung oder Sinn können nicht übertragen werden. Außer Rezeption steht damit für Bedeutung keine andere primäre Quelle zur Verfügung. Bei aller Komplexität, eigener Produktivität und Abstraktheit sind Zeichen an Widerfahrnisse rückgebunden. Verweisung bzw. Bedeutung kann es ohne Erfahrungen nicht geben – daher konkretisiert sich diese als solche nicht jenseits von Bedeutungs- oder Verweisungsbezügen. Dabei können Zeichen fraglos Unterschiedliches bedeuten. Jedem zeichenhaften Ereignis haftet ein individueller, nicht eindeutiger, nach Kontext variierender Horizont an, der die gesamte Sinnwelt mit apprä­sentiert. Mit dem von Derrida dekonstruierten hätte dieser Kontextbegriff nichts gemein, insofern er sich nicht auf andere und weitere Interpretationen zurückführen lässt, mit denen sich brechen ließe. Vielmehr wird ein implizites, wahrnehmungsmäßiges Weltwissen mitgeführt, das den Rahmen dessen, was sich antwortend deuten oder auch missdeuten ließe, bei weitem überschreitet. Erst vor diesem kann sich die ganze Fülle

5.3 Zur Unübertragbarkeit der Form des Zeichens

eines situativen Ereignens abheben, aus der sich Aspekte, nicht zuletzt die zu deutenden Zeichen selbst, herauskristallisieren. Das Gegenwärtige im Ganzen semiotisieren zu wollen, hieße sämtliche möglichen Deutungen vorwegzunehmen. „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, dass der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. […] Die Mitteilung ist aber nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung“.26 Die volle Konsequenz ihrer Untauglichkeit ist aber erst dort gezogen, wo klar ist, dass auch Zeichen oder Sprache, ihre eigenen Codes, ihre eigene Form nicht übertragen können. Eine Mitteilung muss überhaupt als Mitteilung erkannt und nicht als beliebiges Ereignis aufgefasst werden. Es muss sich erschließen, dass etwas neben der Information, die es immer schon selbst darstellt, noch für eine weite Information steht. Es muss sich überhaupt aus der Fülle eines Kontextes herausheben. Entscheidend ist nach Luhmann dabei „die Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung“,27 unabhängig davon, ob es einen Sender gibt oder nicht. Da aber „Selbigkeit nicht schon durch die inhaltliche Qualität der Information garantiert“ ist,28 kann auch die Identität eines Zeichens nicht einfach als im Kommunikationsprozess angelegt erachtet werden. Ansonsten würde die Information, die eine Kommunikation oder ein Zeichen selbst darstellt, ontologisiert. Nun ist Kommunikation, nach Luhmanns Angaben, generell auch „ohne Mitteilungsabsicht möglich, wenn es […] gelingt, eine Differenz von Information und Mitteilung gleichwohl zu beobachten“.29 Kommunikation lässt sich also nicht anhand der Intentionalität eines Senders definieren. So wenig wie anhand von Sprachlichkeit, da ein Lächeln, Blicke, Kleidung, allgemein das Abweichen von bekannten Erwartungen (insofern informativ) kommunikativ sein könnten. Wieder macht Soziale Systeme eine erstaunliche Unterscheidung: Es fehle „an Kommunikation, wenn beobachtetes Verhalten nur als Zeichen für etwas anderes aufgefasst wird. Rasches Gehen kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein, so wie dunkle Wolken als Zeichen für Regen“.30 Wo aber wäre, etwa bei einem Regenmantel, die Grenze zu ziehen? Wird nur Regen erwartet oder gibt es eine modische Absicht? Geht jemand schnell, weil er in Eile ist oder will er Geschäftigkeit demonstrieren? Derartige Fragen lassen sich leicht vermehren. Die „Differenz von Information und Mitteilung“,31 die Luhmann zur 26 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 193. 27 Ebd. S. 195. 28 Ebd. S. 194. 29 Ebd. S. 208. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Definition des Kommunikationsbegriffs dient, ist sämtlich gegeben. Da sie beobachtet werden muss, und, wo sie ausgemacht wird, sie jedes Zeichen auszeichnet, ist es wenig sinnvoll, Kommunikation als das Prozessieren jener Differenz zu begreifen. Ob Verhalten kommunikativ oder doch nur zeichenhaft ist, lässt sich, da auffassungsabhängig, nicht ausmachen – schon die Differenz ist suspekt. Der Begriff der Mitteilung suggeriert, es werde kommuniziert. Tatsächlich scheint so ziemlich alles Mitteilung oder Zeichen sein zu können, ohne dass sich ontologisch bestimmen ließe, ob es eine/s ist. Ist etwas beispielsweise einfach nur grob gearbeitet und abgenutzt oder steht es für Rustikalität? Hat jemand einfach nur viele Bücher oder demonstriert seine Bibliothek Belesenheit? Ist jemand müde oder desinteressiert? War der Blick gerade intendiert? Jegliches Erscheinen und Verhalten des Körpers kann als zeichenhaft gedeutet werden, ist es aber nicht notwendig von sich aus. Dasselbe gilt für natürliche oder hergestellte Dinge im Ganzen. Eine Ontologie der Zeichen, von Medien oder der Kommunikation kann es nicht geben. Was immer als Kommunikation aufgefasst wird, muss, soviel lässt sich sagen, jedoch stets selber etwas sein. Innerhalb des „bloß Wahrgenommenen“ ist dennoch nicht eindeutig, was als solche zu gelten hätte. Luhmanns These in Bezug auf Sprache lautet, „dass Sprache die Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen aus einem (wie immer anspruchsvollen, komplexen) Wahrnehmungskontext ermöglicht“.32 Er beruft sich dabei auf eine „besondere phänomenale Prägnanz“ des Sprachverhaltens, das sich innerhalb der Wahrnehmung abhebe. Die Differenz von Information und Mitteilung verlangt einen „Unterschied zur Umgebung, der auffällt und Aufmerksamkeit auf sich zieht. (Artikulierte Rede stört den, der nicht angesprochen ist, mehr als bloße Geräusche)“.33 Die Codiertheit von Sprache, ihre zunächst einmal lautliche Geformtheit, ist dabei allerdings wieder vorausgesetzt. Für einen Mitteleuropäer ist etwa bei der Buschmannsprache schwer entscheidbar, was Geräusch und was artikuliert ist. Mit der phänomenalen Prägnanz des Sprachverhaltens würde die Information-Mitteilung-Differenz gewissermaßen naturalisiert. „Auf die technischen Probleme einer solchen Codierung“, heißt es in Soziale Systeme, „gehen wir nicht näher ein“.34 Die Frage, was Ereignisse in codierte und nicht-codierte differenziert, ist jedoch mehr als eine bloß technische Schwierigkeit, da die Antwort auf sie darüber entscheidet, wie Individuen sozial integriert sind, darüber, wie sich soziale Systeme differenzieren, darüber, ob es überhaupt zulässig ist, 32 Ebd. S. 210. 33 Ebd. S. 197. 34 Ebd.

5.3 Zur Unübertragbarkeit der Form des Zeichens

von einer Koppelung von Psychischem und Sozialem auszugehen – letztlich darüber, ob der Begriff sozialer Systeme trägt. Dass Sprachverhalten Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn es sich als kodiert erschließt, beantwortet nicht, warum es sich als kodiert erschließt. Die Differenz von Information und Mitteilung bzw. die Mitteilung ohne Information wäre immer schon gegeben. Soll gelten, dass es auffällt, wenn Leute Geräusche von sich geben – was ja nicht abwegig ist –, bleibt die Frage, was diesen Fluss von Lauten codiert, also differenziert, mit Informationen koppelt und diese gleichzeitig von ihnen abhebt. Der Umstand, dass eine als artikuliert erfasste Rede, den Nichtangesprochenen besonders stören kann, lässt die phänomenale Prägnanz des Sprachverhaltens als von einem unwillkürlichen Verstehensprozess abhängig erscheinen. Entsprechend argumentiert de Saussure, auf den noch eingegangen wird. In der Wahrnehmung würde sich abheben, was in seiner Kodiertheit verstanden wird, nicht umgekehrt. „Das Medium, das das Verstehen von Kommunikation weit über das Wahrnehmbare hinaus steigert, ist“, Luhmann zufolge nun ebenfalls, „die Sprache. Sprache ist ein Medium, das sich durch Zeichengebrauch auszeichnet. Sie benutzt akustische bzw. optische Zeichen für Sinn“.35 Die Zeichen der Sprache, Zeichen allgemein, greifen aber nur insoweit über das Wahrnehmbare hinaus, als sie in doppelter Hinsicht an dieses gebunden sind. Selbst müssen sie als sinnliche, etwa als stimmliche oder skripturale und somit leibliche bzw. materiale Ereignisse wahrgenommen werden, sie greifen als gedachte Vorstellungen auf Wahrnehmung zurück und bleiben mit wahrgenommenem Sinn verfilzt. Sprache ist ein diesseitiges reales Geschehen, das, wenn es hervorgebracht oder als solches aufgefasst wird, das Diesseits ordnet, modifiziert, Aufmerksamkeit lenkt, Widerfahrnisse in Narrationen einbindet, Abwesendes wachruft und so in einem überbordenden Maße weitere Informationen generieren kann. Sprache ist in die Wahrnehmung eingelassen und insofern produktiver Teil von ihr. Ihr Fundament, ihre Semantik und Pragmatik, die Substantive, Adjektive, Verben usw. werden aus einer widerfahrenen Welt heraus bedeuten. Tun sie das als Zeichen für Sinn, werden ihre Worte Erwartungen in neue, andere, möglicherweise fantastische oder auch vergessene Konstellationen bringen, in deren sinnvollem Zusammentreffen sich das Ereignen anders, neu, unerwartet, aber auch bestätigend oder ermüdend gleich abhebt. Sie lässt sich aus dem Behalten, dem „Gedächtnis als Verzögerung der Re-aktualisierung von Sinn“ begreifen.36 Wahrnehmung würde auch durch Sprache strukturiert, aber nicht vorstrukturiert, wie es Luhmanns weiter oben genannte Ausgangsfrage annimmt und zwar, weil sie in Wahr 35 Ebd. S. 220. 36 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 168.

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nehmung stattfindet. Die erstaunliche Lebendigkeit von Lektüren oder Erzählungen würde im Zusammenhang reaktualisierter Widerfahrnisse stehen. So etwas wie Einbildungskraft kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Wahrnehmungsmäßiges Weltwissen ist vielmehr Voraussetzung für zeichenhafte Prozesse, welcher Art auch immer. Dabei stellt jede entsprechend generierte Information selbst ein unwillkürliches Erfahren oder Erleben, ein Geschehen, ein zustoßendes unkontrollierbares Begegnen, Betreffen oder Zuteilwerden dar. Sprache steht im Primat der Wahrnehmung, nicht Wahrnehmung im Primat der Sprache. Eigentlich sieht Luhmann das. Er lässt seinen eigenen Einsichten nur nichts folgen, sondern gerät in den Widerspruch einer unbestimmten Wahrnehmung, die durch bestimmte Zeichen beeinflusst bzw. strukturiert werden soll. Diese Überlegungen lassen sich zum Teil durch Heideggers Ausführungen zur aussagenden Sprache stützen; wobei Sein und Zeit den Begriff des Sehens für Wahrnehmung allgemein verwendet. Primär bedeutet demnach eine sprachliche Aussage als Aufzeigung, wie erwähnt, im Sinne eines „Seiendes von ihm selbst her sehen lassen“.37 Die Aufzeigung meint das Seiende selbst, nicht eine Vorstellung seiner. Sie kanalisiert Aufmerksamkeit und ist Prädikativ eine Einschränkung der Aufzeigung, um das Offenbare von sich her ausdrücklich offenbar zu machen. Als Mitteilung schließlich ist die Aufzeigung eine Art, gemeinsam sehen zu lassen. In ihr wird ein gemeinsames Sehen zum Aufgezeigten geteilt. Entsprechend kann das Aufgezeigte auch „‚weiter-gesagt‘ werden“38 und sich ein Umkreis eines „Miteinandersehenlassens“ als Wissen und Kennen erweitern. „Das Aussagen ist“, so heißt es an anderer Stelle, „ein Sein zum seienden Ding selbst. Und was wird durch die Wahrnehmung ausgewiesen? Nichts anderes als dass es das Seiende selbst ist, das in der Aussage gemeint war“.39 Spricht Heidegger von Aufzeigung als Wissen und Kennen, als auch die Möglichkeit des Weitersagens fundierend, so wird er meinen, dass Worte wie „Haus“ oder „Wasser“ bedeuten, weil mit ihnen Seiendes aufgezeigt wurde. Insofern ist von primärer Bedeutung die Rede. Wobei ihr entsprechender Sinn (nicht im Heideggerschen, sondern im wahrnehmungsmäßigen Sinne) vom Seienden selbst her rührt. Es wird wohl möglich sein, sich darauf zu einigen, dass auch „gelb“ oder „nass“, „lachen“ oder „haben“, „weil“ oder „wenn“, „unter“ oder „zwischen“ erst aus den Bezügen der Welt bedeuten, auch wenn sie in gänzlich theoretischen oder fantastischen Zusammenhängen gebraucht werden können. Ist Sprache mit konstitutiv für die Verfassung der Erschlossenheit des Daseins, ist sie es, ohne sie zu erfinden. Sie gliedert das, was Heidegger Ver 37 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 154. 38 Ebd. S. 155. 39 Ebd. S. 218.

5.4 Intentionalität und Objektivität in der Negativen Dialektik

ständlichkeit nennt. Im Kontext dieser Überlegungen ließe sich dies vielleicht genauer mit der leiblich wahrgenommenen Bedeutsamkeit des Inder-Welt-seins beschreiben. Und zwar in der Welt, aus der sie sich herauskristallisieren muss. Als Kategorie wird etwa „gelb“ nicht notwendig sein, trotzdem wird mit ihr eine Erfahrung verbunden sein, aus der sie bedeutet. „Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen“.40

Was als Verstehen zu gelten hätte, wurde soweit noch nicht thematisiert. Sinn oder Bedeutsamkeit zu erfassen und etwas zu verstehen, sind zweierlei Angelegenheiten. Aus Heideggers Erläuterungen lässt sich jedoch ablesen, dass Worte und Bedeutungen in einem konstitutiven Wechselverhältnis zu stehen scheinen. Zeichen wachsen an Bedeutsamkeit ihr zu und konstituieren so Bedeutung. Symbole als Medien der Einheitsbildung von Viel- oder Mehrheit können nicht als präexistente Zeichendinge konzipiert werden. Erst in reziproker Beziehung ist die jeweilige Einheitsbildung plausibel. Eine Konsequenz, die Sein und Zeit jedoch nicht zieht, da weder der Körper der Sprache noch der Leib des Daseins Beachtung finden. Im Ereignen von Welt werden sich Zeichen oder Worte und das, was sie in Prägnanz bezeichnen, primär aneinander konstituieren. Weder das, was ein Wort sagt, noch das, was etwa eine Abbildung zeigt, kann für sich stehen. Die Welt ist, wie Heidegger sagt, von vornherein Mit-Welt. Die Zeichen sind sozusagen schon da, ohne bereits Zeichen zu sein. Das Dasein wächst nicht in eine Welt hinein, in der es auch Kultur gibt, vielmehr ist sie von vornherein mit sozialen Vollzügen gesättigt. Jenseits ihrer landet die Reflektion bei einer schlicht an sich geordneten Realität, mit der aktuellen Tendenz, die Ontologie der Welt zu Gunsten einer Ontologie der Zeichen oder Medien zu vertauschen. 147 5.4 Intentionalität und Objektivität in der Negativen Dialektik Entscheidend für die zuvor angestellten Überlegungen zu Sinn und Wahrnehmung war es, das Paradigma der Intentionalität zurückzuweisen. Dieses ist Adornos Denken zentral. Objektivation und Intention greifen ineinander. Lautet sein Vorwurf, Heidegger würde in Sein Vermittlung hypostasieren, so setzt seine Kritik bei der Feststellung an, dass „Ist“ (etwas ist: Sein) erst in einem spezifischen intentionalen Urteil Bedeutung gewinnt. Die Intentionalität des Begriffs ist dabei die Einsatzstelle eines Denkens des 40 Ebd. S. 161.

5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

Widerspruchs, denn der Gedanke geht auf die Sache selbst. Er ist auf etwas gerichtet, da er ansonsten nichts meinen würde, und richtet es im Urteil gleichzeitig zu. Das Beharren auf den Vorrang des Objekts hängt an dieser Gerichtetheit, die das mit ihr Nicht-Identische gleichzeitig den Mechanismen der Objektivation unterwirft. So ist es die Intention, die Vermittlung konstituiert und deren Universalität gleichzeitig dementiert. „Jeder Versuch, das ‚Ist‘, und wäre es in der blassesten Allgemeinheit, überhaupt nur zu denken, führt auf Seiendes hier und dort auf Begriffe“.41 Eben hierin ist Sprache ihrer Form nach unselbstständig. Geht das gegeben-Sein des Seienden dem Begriff in seiner Unselbstständigkeit damit nicht aber notwendig voraus? Dass etwas ist, wird sich nicht auf seine Benennung reduzieren lassen. „Der Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialektischer Logik“, schreibt Adorno. „In ihm überlebt sein Vermitteltsein durchs Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriffsein begründet. Ihn charakterisiert ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen – so wie schließlich nach traditioneller Erkenntnistheorie jede Definition von Begriffen nichtbegrifflicher, deiktischer Momente bedarf –, wie konträr, als abstrakte Einheit der unter ihm befassten Onta, vom Ontischen sich zu entfernen“.42

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Das Denken negativer Dialektik geht dem konstitutiven, deiktischen, positiven Bezug im Begriff, seiner Verwiesenheit, jedoch nicht nach, sondern setzt seinen Schnitt und analysiert ihn aus seiner konträren Bewegung. Es teilt die Einheit des Deutens, durch die der Begriff erst bedeutet, in ein abstrahierendes und ein nicht-identisches Moment und erklärt seine Form zum Identitätszwang, den der Begriff mit sich führt. Ebenso treibt sie ihren Spalt aber auch nicht tief genug. Während das Seiende nach Abzug seines Begriffs offensichtlich völlig unbeschadet, eben nur nicht bezeichnet, fortexistieren würde – der Vorrang des Objekts denkt dies –, bliebe vom Begriff, nach Entfernung des konstitutiven Nicht-Begrifflichen, noch nicht einmal sein abstrahierendes Prinzip, sondern bestenfalls ein Geräusch und vom Gedanken ohne ein Etwas seines Bezuges, schlicht nichts. Ist im NichtIdentischen die eine Seite der begrifflichen Relation zum Äußersten getrieben, bleibt von der Unselbstständigkeit der Sprache ihre Form. Ist Dialektik weder nur Methode noch Reales im naiven Sinne – keine Methode, da die Sache selbst widerspruchsvoll ist und sich gegen jede einstimmige Deutung sperrt und kein schlicht Reales, da Widersprüchlichkeit eine Reflektionskategorie ist –, geht das Widerspruchsvolle der Sache doch 41 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 111. 42 Ebd. S. 24.

5.4 Intentionalität und Objektivität in der Negativen Dialektik

auf eine spezifische Reflektion des Realen zurück. Adorno verkennt so doch die Eigenständigkeit des Seienden. Die Sache ist nicht widerspruchsvoll. Sie selbst erhebt Widerspruch – gegen ihre materiale wie terminologische Zurichtung. Jenseits der Eigenständigkeit des Dinglichen muss jede Dualismuskritik scheitern. Sämtliche Ansätze bei Subjekt und Intention sind verdammt, Vermittlung zu denken – und dass in dieser Unvermitteltes liegen soll, ist letztlich nicht plausibel zu machen. Dass das Subjekt mit dem Vorrang des Objekts entmachtet ist, wie festgestellt wird, unterwandert die Möglichkeit, dass das Gegebene Konstruktion des Bewusstseins ist. Es muss sich selbst in der materialen gegebenen Objektivität konstituieren, von der sich die gesellschaftliche nicht abstrahieren lässt. Das dinglich Seiende verweigert sich einer Logik, die völlig plausibel machen kann, wie sich Freiheit einzig in Kontrast zu Unterdrückung bestimmen lässt, denn es ist kein ‚Effekt‘, wie das Verlangen nach Abwesenheit von Repression, dessen begriffliches ‚Konzept‘ mit dem Verschwinden von Unfreiheit obsolet werden würde, sondern das, bei dem das Dasein immer schon ist – und jenseits dessen es nicht wäre. Statt zu erläutern, was es heißt, dass das Subjekt selbst Objekt ist und der Sphäre des Objektiven angehört, begreift Adorno das unmittelbar Gegebene als vom Objekt abstrahiert. Erkenntnis liegt der Negativen Dialektik zufolge primär in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Dabei ist bereits zuvor klar, dass die vorgängige Objektivität des Tausches die Dinghaftigkeit der Welt konstituiert und diese insofern Schein ist. Gleichwohl heißt es: „Im Dinghaften ist beides ineinander, das Unidentische des Objekts und die Unterwerfung der Menschen unter herrschende Produktionsverhältnisse, ihren eigenen, ihnen unkenntlichen Funktionszusammenhang“.43 Das Nicht-Identische verzehrt sich in der Bewegung seiner Reflektion, bis letztlich das klaustrophobische Entsetzen über die Enge des Systems selbst zum Index dafür wird, nicht mit dem Allgemeinen übereinzustimmen. Die angesetzte Vormacht des Begrifflichen verschiebt die Frage nach dem, was erkennbar ist, zu der, was unter seiner Hegemonie erfahren werden kann. Die Herrschaft des Allgemeinen ist dabei so angesetzt, dass der unmittelbare Grenzwert des Gegebenen nicht benennbar ist. Jeder Versuch es zu tun, würde einen Regress des Entzugs inaugurieren. Schiebt sich der Begriff vor die Sache selbst, kann Dialektik zwar rhetorisch die Partei des Inhalts ergreifen, dessen Erkenntnis aber bliebe, weil verstellt, utopisch. Als Einspruch gegen einen sich erneuernden Mythos, im positivistischen Glauben an Tatsachen oder zum Absoluten stilisierenden Subjekt, ist die Negative Dialektik so unbequem wie irgend möglich. Ihre Vehemenz, im Begriff ein Identitätsprinzip auszumachen, dem, so scheint es, generell sein Substrat abhanden kommt, weckt aber Zweifel an ihrer eigenen 43 Ebd. S. 192.

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Durchführbarkeit, selbst im Zeichen einer Ratio, die sich im Selbstbewusstsein dieses Prinzips qualitativ verändert. Das Außervernünftige, worauf sie sich bezieht und woran sie erst ihren Begriff gewinnt, ist im Moment ihres Zugriffs bereits denaturiert. Stünde am Anfang der Fetischismus – wird Sprache, einmal ins Bewusstsein eingewandert, als naturgegeben erfahren –, dann ist nicht klar, was bereits einem Kind die Frage erlaubt, warum eine Bank Bank heißt. Adorno führt dieses Beispiel an. „Freilich ist jener Fetischismus kaum zu durchschauen, weil schlechterdings alles Gedachte auch sprachlich ist“,44 schreibt er im Zusammenhang seiner Heidegger-Kritik. Die These von der fetischistischen Sprache aber ist problematisch. Bereits ein Kind scheint, indem es eine unnaive Unterscheidungsgabe des Verhältnisses von Wort und Sache zeigt, vielmehr eine Art kritisches Verständnis der Begriffe zu handhaben. Wie sich der Sinn der Worte von ihrem Wahrheitsgehalt abhebt, und ob sich eine scharfe Trennung beider überhaupt vornehmen lässt, ist nicht geklärt. Das „Wissen, was das Wort Bank bedeute, und was eine Bank wirklich sei [… ist dem kindlichen], Bewusstsein gleich oder wenigstens nicht differenziert“, heißt es im selben Kontext und Adorno ergänzt, dass dies „übrigens in zahllosen Fällen nur mühsam zu scheiden“ ist.45 Dass diese Unterscheidung tatsächlich kaum gelingen will, lässt sich nun als Beleg für die hegemoniale Macht der Sprache nehmen. Adorno begreift nicht zuletzt die kindliche Unmittelbarkeit so als am erlernten Wortschatz orientiert, in sich vermittelt. Ein solcher Schluss ist jedoch unzulässig. Da nach Angabe der Negativen Dialektik die Welt des Kindes zunächst als eine von Aktionsobjekten sprachlos vertraute ist und zum anderen, gerade weil sich die Bedeutung eines Wortes, sein Sinn, nicht von dem was es bedeutet – von einem Wissen, was dies Bedeutete ist – trennen lässt. Wird Sprache nur am Bewusstsein der Unidentität von Ausdruck und Gemeinten, anhand einer Reflektion, die Bezeichnung und Sache auseinander treten lässt, zur Instanz von Wahrheit, müsste das Ineinander von Geist und Dasein säuberlich auseinander geklaubt werden. Zuvor kann nicht davon die Rede sein, dass das Identitätsprinzip der Begriffe durchschaut ist. Hat Heidegger mit der Auffassung, dass es kein sprachloses Ansich gibt, recht, wie Adorno sagt, so ist der konstitutive Anteil der Sprache an der Wahrheit so minutiös wie möglich darzulegen. Geht Denken auf die Sache selbst und zeichnet sich das Weltverhältnis des Subjekts ursprünglich als eines zu Aktionsobjekten aus, so wird sich Begrifflichkeit an einem Vorrang der ‚Aktion‘ disjunkter Objekte herausbilden, ohne dass geradewegs einsichtig wäre, dass dessen anfängliche Unmittelbarkeit dadurch abhanden kommt. Das Paradigma der sprachlichen Intentionalität muss 44 Ebd. S. 117. 45 Ebd.

5.5 Sozialisation und sprachlicher Transfer

fallen, schon weil mit ihm bereits ein intendierendes Subjekt gesetzt ist. Aus einem radikal gedachten Vorrang des Objekts sind Begriffe selbst zu rekonstruieren. 5.5 Sozialisation und sprachlicher Transfer „Körperlichkeit“, so stellt Luhmann fest, „ist und bleibt eine allgemeine (und insofern theoretisch triviale) Prämisse sozialen Lebens“.46 Wird in Erinnerung gerufen, dass Sprachverhalten außerordentlich anspruchsvoll ist, nicht nur im Verstehen, sondern auch in der Artikulation, ja, dass es vor der Einführung der digitalen Technik, keine Kommunikationen (im weitesten luhmannschen Sinne) gab, die nicht mindestens indirekt körperlich – geschrieben, gemalt, montiert oder etwa geschneidert – hervorgebracht wurden, so wird schnell deutlich, dass der Leib eine keineswegs triviale Prämisse des sozialen Lebens darstellt. Rezeption und Produktion zusammengenommen, gibt es – bis hin zur Bedienung eines Computers – keine Kommunikation ohne Leibesübung, ohne körperlich vollzogene Praxis. Der wahrnehmende, sich verhaltene Leib ist keine banale organische Voraussetzung von irgendetwas Sozialem oder Geistigem, sondern als nichtidentischer Aspekt des sich Ereignens transzendental. Schon die Argumentation, die Allgemeinheit einer Prämisse lasse auf ihre theoretische Trivialität schließen, ist grandios abwegig. Vielmehr müsste doch das Gegenteil zu folgern sein. Auf die Frage, wie sich Zeichen, Sprache oder Begriffe überhaupt begründen, versuchen weder Adorno, Heidegger noch Derrida eine konkrete Antwort zu geben. Wird gefragt, was individuelle Komplexität konstituiert und so soziale Komplexität reproduziert, so wird direkt oder implizit auf Sozialisationsprozesse verwiesen – wenn auch eventuell ganz unsoziologisch, wie Adorno etwa Heidegger vorwirft. Allgemeines und Spezielles stehen in einem produktiven Wechselverhältnis. Das scheint – ganz unabhängig vom Begriff selbst – das stets dialektische Prinzip zu sein, ob es nun um Sprache bei Heidegger oder kapitalistische Verhältnisse bei Adorno geht: Die Gesellschaft reproduziert die Individuen, die Individuen reproduzieren die Gesellschaft; das Dasein ist dem Mitdasein, dem Man, hörig und konstituiert es im Reden mit. Nicht anders in Soziale Systeme, das den Prozess der Sozialisation als einen der Interpenetration sozialer und psychischer Systeme spezifiziert. Der Begriff der Interpenetration meint dabei nichts anderes, als der bereits genannte der strukturellen Kopplung (der ihn in Luhmanns wei-

46 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 334.

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teren Schriften auch weitgehend ersetzt).47 „Alle Sozialisation läuft als soziale Interpenetration, alle soziale Interpenetration als Kommunikation ab“.48 Interpenetration meint demnach, dass soziale Systeme ihre Komplexität psychischen Systemen zur Verfügung stellen und umgekehrt. „Die für diesen Transfer entwickelte evolutionäre Errungenschaft ist die Sprache. […] Die Sprache überführt soziale in psychische Komplexität“.49 Dabei geht Luhmann nicht davon aus, dass Bewusstseinsprozesse notwendig sprachlicher Natur sein, sie würden lediglich – und seine Argumentation erinnert stark an de Saussure – von Vorstellung zu Vorstellung durch Sprache strukturiert. Was bereits eine problematische Annahme ist, da Worte, wo sie gedacht werden, selbst Vorstellungen sind und wo sie nicht imaginiert werden, sich ein eigenartig umgekehrtes Verhältnis von Faktischem und Vorstellungen ergäbe. Soweit wäre, der luhmannschen Terminologie zufolge, der Sachverhalt der Penetration gegeben. Ein System stellt seine Komplexität einem anderen System zur Verfügung. „Im Falle von Interpenetration wirkt das aufnehmende System auch auf die Strukturbildung der penetrierenden Systeme zurück“.50 Die Beziehung wird wechselseitig, indem an Kommunikation teilgenommen und das penetrierende Systems so mitbestimmt wird. Wie aber ist dieser Transfer möglich, wenn Sprache, und mit ihr erst die Befähigung an Kommunikation zu partizipieren, selbst sozialisiert werden muss? Was wird da wie überführt? – insbesondere wenn „Sozialisation […] immer Selbstsozialisation“ sein soll und ausdrücklich nichts mit der „Übertragung eines Sinnmusters von einem System auf andere“ zu tun hat?51 Laut Luhmann in Soziale Systeme „ist Sozialisation nur möglich, wenn es Differenzschemata gibt, die das psychische System der Umwelt zuordnen und auf sich beziehen kann“.52 Wo in Erinnerung gerufen wird, dass erst symbolische Generalisierungen selbstreferentielles Operieren möglich machen, dass sich psychische Systeme erst da konstituieren – operativ schließen, was mit der Annahme einer ursprünglichen rezeptiven Indifferenz außerordentlich kompatibel ist –, wo sich dem Erlebnisfluss Identitäten aufprägen und als symbolisch gleichzeitig von ihm abheben, da verschärft diese Auffassung das Problem nur noch. Damit das psychische System der Umwelt irgendetwas zuordnen und auf sich beziehen kann,

47 Vgl. Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 286. 48 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 330. 49 Ebd. S. 367 f. 50 Ebd. S. 290. 51 Ebd. S. 327. 52 Ebd.

5.5 Sozialisation und sprachlicher Transfer

muss es sich von ihr abheben, also bereits gegeben sein und sich folglich irgendwie konstituiert haben. Als Beispiele für solche Differenzschemata nennt Luhmann die Zuwendung oder Abwendung von Bezugsperson, Konformität oder Abweichung, Erfolg oder Misserfolg und nicht zuletzt Verstehen oder Nichtverstehen. Stets geht es um Interpenetrationsverhältnisse, die jene Schematismen, die sie erzeugen sollen, in ihrer Realisierung voraussetzen. Jedes höher entwickelte Tier lässt sich durch Zuwendung oder Abwendung im weitesten Sinne konditionieren. Es kann, so ist zumindest zu vermuten, insofern Sinn erfassen. Aber es versteht nicht. Verstehen kann es erst mit der Differenz von Information und Mitteilung geben. Erst da, wo eine Information nicht nur einen unwillkürlichen Impuls auslöst, der danach direkt wieder im Strom des Ereignens vergeht, kann von Verstehen die Rede sein. Situative Informationen sind bereits gegeben, wo sich das jeweils aktuelle Geschehen aus Erwartungen abhebt. Damit im Schematismus Verstehen/Nichtverstehen anhand unerwarteter Ereignisse ein „Aha-Effekt“ aufleuchtet, wie Luhmann sagt, ist eine symbolische Differenz erforderlich. Die Frage, wird sich auf die luhmannschen Ausführungen eingelassen, ist in der Tat, wie „die Komplexität des jeweils anderen Systems für den Aufbau des eigenen zu nutzen“ ist.53 Die Antwort, dies sei durch binäre Schematisierung möglich, ist allerdings mehr als vage und in Bezug auf Sprache als Voraussetzung kommunikativer Sozialisation unbefriedigend. Damit Kommunikation gelingt, müssen „verschiedene Systeme in der Reproduktion ihrer Elemente [bereits] dasselbe Differenzschema verwenden, um Informationen zu verarbeiten“.54 Luhmann erläutert, im „Differenzschema liegt eine Vorentscheidung über die danach möglichen Optionen“.55 Der Knackpunkt ist, dass Soziale Systeme davon ausgeht, Kommunikation könne Sinn in Form von Differenzen prozessieren, so dass sich behaupten lässt, „Sinn ermöglicht die Interpenetration psychischer und sozialer Systembildungen“.56 Das Bewusstsein wird entsprechend als Medium der Reproduktion sozialer Systeme aufgefasst, während parallel das Verstehen und Sich-Fortsetzen von Bewusstsein in Kommunikation ermöglicht wird. Tatsächlich sieht Luhmann aber, dass die Zeichen der Kommunikation überhaupt als solche aufgefasst werden müssen – dass Sinn kein Zeichen ist –, was ihre Ontologisierung ausschließt und die Vorstellung, Sozialisation laufe als Interpenetration durch Kommunikation ab, aushebelt. Die Argumentation blockiert sich in einer Aporie.

53 Ebd. S. 311. 54 Ebd. S. 315. 55 Ebd. S. 328. 56 Ebd. S. 297.

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Die Verlegenheit dechiffriert sich mit der Annahme, dass „zu den Umweltbedingungen der Selbstreproduktion menschlichen Lebens und menschlichen Bewusstseins […] Gesellschaft“ gehöre.57 Dass ganz allgemein die sich ereignende Welt für Sozialisationsprozesse die ausschlaggebende und einzige Rolle spielt, ist fraglos richtig. Mit der Setzung von sozialen Systemen auf der einen und psychischen auf der anderen Seite, ist Luhmann gleichwohl zu einem eigenwilligen Eingeständnis gezwungen. Die „Verhältnisse der Interpenetration und Bindungen“ gäbe es nämlich „nicht nur zwischen Mensch und sozialem System, sondern auch zwischen Menschen.58 Menschen werden auch durch andere Menschen sozialisiert. Eine Einsicht, der eine unverkennbare Absurdität anhaftet. Der Begriff der Gesellschaft ist schließlich eine Abstraktion, selbst eine Generalisierung, um die unfassbare Mannigfaltigkeit sozialen Geschehens in einem einzigen Wort zu sagen. Natürlich kann das Individuum so etwas wie Gesellschaft, etwa in rechtlicher oder ökonomischer Hinsicht, allgemein in seinen Zwängen und Konventionen, als heteronom erleben. Wie entscheidend dieser Umstand ist, macht Adorno deutlich. Fraglos ist es auch anonymen isolierenden Situationen ausgesetzt, gerade auch da, wo es mit Medientechnologien zu tun hat, die insofern obendrein Sozialisationseffekte jenseits von Kommunikation haben werden. Von hier aus ließe sich die gesamte systemtheoretische Argumentation, angefangen mit der Annahme, dass Gesellschaft nicht aus Menschen bestehe, Kommunikation aber sehr wohl von Bewusstsein getragen wird, wieder aufrollen. Entscheidend ist aber, dass Sozialisation die „Teilnahme an Kommunikation voraus[setzt], und zwar speziell die Möglichkeit, das Verhalten anderer nicht nur als Faktum, sondern als Information zu lesen“.59 Wenn die eigentliche Funktion von Sprache in der Generalisierung von Sinn liegt (was als Hypothese vorerst gelten soll), müsste Sinn mit dem Erlernen von Sprache seine erste, für alle weitere Kommunikation entscheidende Generalisierung erfahren. Ohne das konkrete, unter anderem stimmliche Verhalten Anderer, ohne direkte zwischenmenschliche Bindungen ist sprachliche Kompetenz nicht zu erhalten. 5.6 Zurück zu de Saussure – ein Exkurs Die Befragung von Derrida zu Differenzschemata, zu Sprache und Zeichen, führt auf Ferdinand de Saussure zurück. Der gesamte erste Teil der Grammatologie lässt sich als eine de Saussure-Lektüre lesen, die darauf 57 Ebd. 58 Ebd. S. 303. 59 Ebd. S. 280.

5.6 Zurück zu de Saussure – ein Exkurs

zielt, aufzuzeigen, dass die Schrift anhand keines natürlichen Verhältnisses dem gesprochenen Wort unterzuordnen ist, sondern, in einem modifizierten Schriftbegriff, Ursprung der Sprache sei. Derridas Überlegungen sind dabei sehr differenziert und in ihren Schlüssen häufig außerordentlich stichhaltig. Was freilich nicht befragt wird, ist das Paradigma der „modernen Linguistik“, das der Differentialität selbst. Vielmehr speist sich das Programm einer „allgemeinen Grammatologie“, die Idee einer Spur, die das unmotiviert-Werden der Zeichen erst ermöglicht, aus ihm. Die „These von der Differenz als Quelle des sprachlichen Werts“ wird übernommen und ausgeweitet.60 Im Rückschluss darauf, dass jene anders „unmöglich wirksam werden“ könne, 61 wird der Unterschied zwischen Sinnlichem und erlebtem Erscheinen und so letztlich die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats, zugunsten einer Ordnung aufeinander verweisender Signifikanten, behauptet. Dabei lässt sich anhand de Saussures Cours de linguistique générale, der Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft aufzeigen, dass diese These alles andere als unproblematisch ist. De Saussure selbst hat keine Antwort auf die Frage, wie sich Sprache anhand der von ihm aufgemachten Prämissen als differentielles System konstituieren sollte. Zunächst einmal versteht de Saussure Sprache als soziale Tatsache, deren Laute in der menschlichen Rede nicht für sich existieren, sondern eine mit Vorstellungen zusammengesetzte, sowohl physiologische wie geistige Einheit bilden. Er setzt sie als normatives, den Äußerungen der Rede vorgängiges System bzw. Prinzip der Klassifikation an, das sich im Reden aller, der übereinstimmenden Verwendung von Zeichen, reproduziert. Obgleich Sprache nur in der redenden Masse existiert, scheidet er sie vom Sprechen und damit „1. das Soziale vom Individuellen; 2. das Wesentliche vom Akzessorischen und mehr oder weniger Zufälligen“.62 Eine solche Differenzierung erlaubt es ihm, einen vom Einzelnen unabhängigen „code der Sprache“ zu bestimmen, der im Sprechen von Personen kombiniert wird und eine konventionelle Einrichtung innerhalb einer Sprachgemeinschaft darstellt. Sprache bildet demnach ein System von Zeichen, das jedoch, so de Saussure, keine Abstraktion ist, sondern eine Realität mit Sitz im Gehirn. Dennoch sei Sprache eine soziale, vom Individuum unabhängige Tatsache, die als System erforderlich ist – die Argumentation erinnert an Heidegger –, damit Sprechen überhaupt verständlich sein kann. De Saussure vergleicht sie etwa mit einem in den Hirnen vieler Personen niedergelegten Wörterbuch, dessen Exemplare sich untereinander gleichen. Dieses, 60 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 92. 61 Ebd. S. 115. 62 de Saussure, F. (1976). Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter & Co. S. 16.

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

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in jedem Einzelnen sedimentierte „soziale Produkt“, ist Gegenstand seiner Untersuchung. Bereits problematisch ist die Setzung, derzufolge das Soziale wesentlich sei, während das Individuelle als nebensächlich zu bewerten ist. Eine soziale Tatsache ist schließlich, dass Menschen reden. Als wesentlich wird das Ergebnis einer Abstraktion angenommen – das Sprache als vorgängiges System, als vom Einzelnen unabhängiger Code ist – und dieses Ergebnis in das Hirn jedes Einzelnen reimplantiert. Der Begriff der Sprache ist per Definition, wie jeder andere, Resultat einer spezifischen Begriffsbildung. Keine Verallgemeinerung ist Sprache, de Saussure zufolge, nur in ihrer mehr oder weniger zufälligen Ausprägung, als Sediment im Einzelnen. Dennoch wird auf ein „Leben der Zeichen“ geschlossen – deren wichtigstes System die Sprache sei, prinzipiell aber „symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar“ –,63 das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und anhand dessen sich die Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse begreifen lässt. Im Widerspruch hierzu verlangt sein Ansatz gleichwohl die Idee an sich existierender Zeichen aufzugeben. Erst eine jeweilige Auffassung, die etwas Beliebiges mit einer Vorstellung – im hiesigen Kontext Sinn oder Erwartung – verknüpft, konstituiert sie überhaupt in ihrer Erscheinung. Nicht anders als bei Luhmann ist aber unklar, was sich einen Code der Sprache im Einzelnen ablagern lässt. Die de Saussuresche Sprachkonzeption geht unter anderem von zwei elementaren Annahmen aus: a) die Sprache ist keine Nomenklatur, keine Liste, in der sich Ausdrücke mit entsprechenden Sachen verbinden, vielmehr vereinigen sich im sprachlichen Zeichen eine Vorstellung und ein Lautbild, und b) die Bedeutungen der Worte sind nicht anhand bereits gegebener Vorstellungen positiv vorhanden, sondern ergeben sich negativ aus ihrem Verhältnis bzw. ihrem Wert innerhalb der Glieder des Sprachsystems. Die erste Annahme geht davon aus, dass Bezeichnetes und Bezeichnung, Vorstellung und Lautbild bzw. Signifikat und Signifikant erst in ihrer Verbindung das sprachliche Zeichen bilden. Fundamental ist, dass nicht das Bezeichnende als Zeichen zu begreifen ist, sondern die Einheit dieser Verbindung. Das Lautbild, nach herkömmlicher Auslegung Zeichen, lässt sich nur als solches auffassen, insofern es mit einer spezifischen Vorstellung verknüpft ist – aus seiner Verwiesenheit gewissermaßen. Bezeichnetes und Bezeichnung bilden daher eine untrennbare Einheit, einen „LautGedanken“, der in seiner grundsätzlich beliebigen Verbindung konventioneller Natur ist. Das Lautbild entspricht dabei nicht einem Laut, sondern dessen psychischem Eindruck. Der Laut selbst ist lediglich sensorisch „materielle“ Voraussetzung für das psychische Lautbild. Jenes, so die Überlegung, lässt sich auch rein gedanklich vergegenwärtigen und sei demnach 63 Ebd. S. 19.

5.6 Zurück zu de Saussure – ein Exkurs

nur „das innere Bild der lautlichen Erscheinung“.64 Bemerkenswert ist, dass der Argumentation zufolge, die Möglichkeit etwas zu vergegenwärtigen, das Vergegenwärtigte ausstreicht. Ferner geht de Saussure davon aus, dass Sprache ein System von Werten ist, „das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird“.65 Das Paradigma der Differentialität. Die Annahme b) besagt, dass die Bedeutung eines Wortes nicht sein Wert ist, sondern dem Bezeichneten des sprachlichen Zeichens entspricht. Gleichwohl bedingt der Wert eines Begriffes seine Bedeutung, und das in einer Art horizontalem Schema, in dem sich ähnliche Worte in ihrer Gegenüberstellung zueinander unähnlich sind. „Innerhalb einer und derselben Sprache begrenzen sich gegenseitig alle Worte, welche verwandte Vorstellungen ausdrücken“.66 Was die Grundlagen beschreiben, ließe sich als Netz einer virtuellen kategorialen Wabenstruktur begreifen, in dem sich jede Kategorie jeweils durch Angrenzung und Abgrenzung zu den nächstgelegenen außerhalb seiner ergibt.67 Diese ‚Waben‘ bilden ein System von Unterscheidungen, „die nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems definiert sind. Ihr bestimmtes Kennzeichen ist, dass sie etwas sind, was die anderen nicht sind“.68 Die Bedeutung eines Wortes, die Verbindung eines bestimmten Lautbilds mit einer bestimmten Vorstellung, ist demnach „nichts Primäres, sondern nur ein Wert, der durch seine Verhältnisse zu anderen ähnlichen Werten bestimmt ist, und ohne diese Verhältnisse würde die Bedeutung nicht existieren“.69 Nicht anders verhält es sich mit der materiellen Seite des sprachlichen Zeichens. Nicht der Laut selbst ist entscheidend, „sondern die lautlichen Verschiedenheiten, welche dieses Wort von allen anderen zu unterscheiden gestattet“, wobei der zentrale Gedanke in einem Nebensatz steckt: „denn diese Verschiedenheiten sind die Träger der Bedeutung“.70 Der materielle Laut ist, wie gesagt, sekundär. Das bezeichnende Element der Sprache ist seinem Wesen nach „keineswegs lautlich, es ist unkörperlich, es ist gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die 64 Ebd. S. 77. 65 Ebd. S. 95. 66 Ebd. S. 138. 67 Obwohl de Saussure ansonsten von einer linearen Struktur der Sprache ausgeht, muss er hier ein flächiges oder holistisches Gefüge annehmen. Denn die Kategorien grenzen sich nicht in der Lautfolge ab. Vielmehr muss jedes Wort der Lautfolge einen Hof von angrenzenden, aber verschiedenen Bedeutungen mit sich führen. 68 Ebd. S. 139 f. 69 Ebd. S. 140. 70 Ebd.

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

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Verschiedenheiten, welche sein Lautbild von allen anderen trennen“.71 Für die Bedeutung von Zeichen ist das Material ihrer Hervorbringung gänzlich gleichgültig. Einzig Verschiedenheit, korrelativ zu materialer Beliebigkeit, ist entscheidend. Weder Vorstellungen noch Laute sind demnach präexistent. „Ein sprachliches System ist eine Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen“,72 erläutert de Saussure und spezifiziert: „die Sprache ist eine Form, nicht eine Substanz“.73 Etwas Sprachliches sind Laute in ihrer gesprochenen Folge nur als Träger von Vorstellungen. „Für sich selbst betrachtet ist sie [die Lautfolge] nur eine Linie, ein fortlaufendes Band, in dem das Ohr keine hinlängliche und feststehende Einteilung vernimmt“.74 Erst ein Wissen um den Sinn und die Rolle eines jeden Teils einer solchen homogenen, kontinuierlichen Folge von Lauten lässt gewisse Teile auseinander treten „und das gleichmäßig fortlaufende Band sich in Glieder abteilen“.75 Innerhalb der Lautfolge lassen demnach einzig Gewöhnung und Aufmerksamkeit spezifische, nicht von vornherein abgegrenzte Elemente ausfindig werden. Eben hierin ist das Lautbild psychischer Natur. Für sich genommen ist es eine „unterschiedslose Masse“. Damit aber hängen die Abgrenzungen der Lautbilder an bestimmten Vorstellungen, die Abgrenzungen der Vorstellung aber genauso, wie erläutert, an bereits unterschiedenen Lautbildern. Es fragt sich also, wie die Differenzen in die Unterschiedslosigkeit kommen. Zumindest in der Theorie, sagt de Saussure, sei dies sehr einfach. Er stellt sich – nicht völlig unähnlich dem hier weiter oben, allerdings als Kreuzung, angestrengten Bild – zwei parallele Ketten vor, die der Lautbilder und die der Vorstellungen. Eine richtige Abgrenzung verlangt nun, dass die Einteilungen der akustischen Reihe denen der Vorstellungen entsprechen. Soweit ist jedoch lediglich eine Forderung formuliert, keine Erklärung ihrer Differenzierung. De Saussures Erläuterungen zufolge hat Sprache keine unmittelbar greifbaren Tatsachen, was die Abgrenzung ihrer konkreten Einheiten zu einem „heiklen Problem“ werden lässt. 76 Er begreift Sprache als in lautlicher Materie organisiertes Denken, das in Absehung seines Ausdrucks durch Worte lediglich eine gestaltlose, unbestimmte Masse wäre. „Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vor-

71 Ebd. S. 142. 72 Ebd. S. 144. 73 Ebd. S. 146. 74 Ebd. S. 123. 75 Ebd. 76 Ebd. S. 127.

5.6 Zurück zu de Saussure – ein Exkurs

stellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt“.77 Ebenso verhält es sich, wie gesagt, mit den Lauten, auch sie bilden für sich genommen eine Masse ohne klare Bestimmungen, deren gesonderte Teile aber, um Bezeichnungen zu liefern, dem Denken notwendig sind. Die Einheiten der Sprache müssen sich also irgendwie zwischen vagen Vorstellungen und unbestimmten Lauten herausbilden. Dieses ‚irgendwie‘ ihrer Abgrenzung aber, von dem de Saussure annimmt, dass es aus ihrer Verbindung notwendig resultiert, bleibt ungeklärt. Es handelt sich „um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, dass der ‚Laut-Gedanke‘ Einteilungen mit sich bringt und die Sprache ihre Einheiten herausbildet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet“.78 Die anschließende Analogie zur Wellenbildung auf einer Wasseroberfläche, die die Verbindung von Denken und Lauten anschaulich machen soll, unterstreicht de Saussures Ratlosigkeit diesem Mysterium gegenüber. Die Grundlagen sind einem zutiefst dualistischem Denken verhaftet. So wie sie das Lautbild beschreiben, als psychischen Eindruck, handelt es sich bei ihm um eine Projektion, die zwar in einer substanziellen Voraussetzung gründet, selbst aber nur eine Empfindungswahrnehmung ist. Das Lautbild ist demnach eigentlich nicht das Bild eines Lautes, sondern die Vorstellung von etwas nicht näher Bestimmbarem. Analog ersetzt das Substitut bei Derrida nichts, das ihm präexistiert hätte. Ebenfalls nur in Gedanken ist auch der Rest der Welt – genauer, eine ‚Realität außerhalb‘ wird nicht thematisiert, sondern nur Vorstellungen innerhalb eines denkenden Gehirns. „Begriffe wie ‚Haus‘, ‚weiß‘, ‚sehen‘ usw. an sich selbst betrachtet“, erläutert de Saussure, „gehören der Psychologie an“.79 Ohne dass es in eine kategoriale Gliederung eingefügt wäre, ist so etwas wie ein Haus nicht, sondern gelöst in einer einzigen Nicht-Vorstellung, innerhalb der Nebelwolke Denken, einer Art intramentalen Ursuppe des Psychischen. Nicht anders als die Vorstellungsbilder der Laute werden sich aber auch sämtliche anderen mentalen Vorstellungen gleichwohl auf eine materiale Wirklichkeit gründen müssen. Das Substitut substituiert etwas Substituiertes. Entscheidend aber ist, dass es damit nicht zwei unbestimmte Massen oder Felder gibt, die bereits voneinander differenziert wären, wie es de Saussure annimmt – auf der einen Seite die vagen Vorstellungen und auf der anderen die unbestimmten Laute –, sondern einen einzigen Brei von Vorstellungen oder Empfindungen. Die elementarste Abgrenzung, die letzte und erste Verschiedenheit der de Saussureschen Sprachkonzeption ist nicht aufrechtzuerhalten. Die Differenz von Akustischem und Gedanklichem, von Laut und Vorstellung verschwindet. 77 Ebd. S. 133. 78 Ebd. S. 134. 79 Ebd. S. 122.

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5. Überlegungen zu Sprache und Zeichen

De Saussures sprachliches Zeichen setzte sich nicht aus Bezeichnetem und Bezeichnung zusammen, sondern aus zwei Vorstellungen. Es wäre nicht die Einheit eines Laut-Gedankens sondern die eines ‚Gedanken-Gedankens‘. Derrida ist in seinem Schluss, dass die Differenz von Signifikat und Signifikant nicht aufrecht zu erhalten ist, zuzustimmen. Weiter oben wurde die Erosion dieser Differenz als für die Dekonstruktion elementar ausgewiesen. Es lässt sich keine natürliche Verschiedenheit zwischen beiden ausmachen – mit ihr wird jedoch das Paradigma der Differentialität selbst weggespült. Dass Kategorien erst in Abgrenzung zueinander Schärfe erlangen können, ist keineswegs unplausibel. Alle soweit wiedergegebenen Überlegungen setzen jedoch Differenzen voraus, von denen offen ist, woraus sie resultieren sollten. Geht die Differenz von Vorstellungen und Lautbildern verloren, kommt mit ihr auch ihr reziprokes Konstitutionsverhältnis abhanden und damit die Quelle des sprachlichen oder zeichenhaften Werts aus Differenz. Verschiedenheit setzt, was de Saussure ausstreichen will und Derrida als ausgestrichen übernimmt, Positivitäten voraus, zwischen denen sie sich ergibt und ist folglich sekundär. Erst, wo sich in Überlagerung erste Laut-Formen und mit ihnen überhaupt Vorstellungen herausbilden, kann sich ein ‚dies‘ im Verhältnis zum ‚anderen‘ konstituieren. Wie sich aber Sprache, Zeichen als konventionelle soziale Einrichtung für jeden Einzelnen herausbilden, bleibt offen.

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6. Das Gegen der Gegen-wart Die Emergenz dessen, was sich mit Luhmann, im expliziten Sinne, als Bewusstsein(s-system) begreifen lässt, und die Konstitution dessen, was jener als symbolische Generalisierungen fasst, sind miteinander verknüpft. Gleichzeitig müssen sich Symbole, aus einem reziproken Verhältnis zum Symbolisierten in der Wahrnehmung konstituieren. Erst mit der Sonderung expliziter Verweisungen aus einem impliziten, nicht ausdrücklichen Verweisungsganzen wird sich, Heidegger folgend, Sein einstellen. Erscheinen, und zwar auch das der Symbole der Generalisierung, ergibt sich in einem Gefüge von Verweisung und Verwiesenheit. Identität lässt sich dabei nicht widerspruchsfrei auf die Vermittlungsleistung etwa von Begriffen oder Zeichen zurückführen, insofern die Selbstheit der Begriffe oder Zeichen unbeleuchtet bliebe. Schon die von Adorno gezogene Parallele zwischen Identität und Intentionalität ist problematisch. Zeichen oder Mitteilungen können nichts, auch nicht ihre eigene Form, übertragen, während ihre Wahrnehmung bzw. ihr Verstehen, wenn sie als solche aufgefasst werden, unwillkürlich geschieht. Tatsächlich setzt die Figur der Übertragung immer schon eine irgendwie geartete Differenz der Bezüglichkeit voraus. Zeichen aber sind in Wahrnehmung eingelassen – müssen sich, wie gesagt, in ihr konstituieren – und nicht Wahrnehmung durch Zeichen vermittelt. Die Forderung ihrer Lesbarkeit lässt sie als produktiven Teil einer Welt erscheinen, in der sie aus Erwartung auffassbar sind, während sie eben deshalb Sinn organisieren oder strukturieren können. Zu rekonstruieren wäre, wie sich Begriff und Begriffenes als solche aneinander herausbilden und voneinander abheben – so dass bereits ein Kind ihre Beziehung befragen kann, so dass das Begriffene auf diesem Weg potentiell als unbegreiflich oder nicht-identisch erscheint und Wahrheit zu einem in sich widersprüchlichen, aus dieser Widersprüchlichkeit wahrheitsfähigen, Begriff wird (worauf erst im letzten Teil der hiesigen Überlegungen eingegangen wird). Das Verhältnis von Allgemeinem und Speziellem ist dabei, eigens auch im Hinblick auf das strukturale Prinzip, problematisch geworden. Jeder Ansatz bei Bildern und Vorstellungen, die Ignoranz vorgängiger Positivität, gerät in eine mentalistische Aporie.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

Stattdessen soll Sprache – in einem sowohl engeren wie weiteren Verständnis – im Folgenden zunächst als gestisches Verhalten, das sich für jedes einzelne Dasein herausbildet, hergeleitet werden. Es wird entsprechend eine Erwiderung, letztlich eine Erzählung, versucht, die eine – in vielfacher Hinsicht noch vorübergehende – Antwort auf die zuletzt aufgeworfenen Fragen anstrebt. Dieser Versuch intendiert, mit Gesten verbundene Erwartungen, auf die leibliche Welteinbettung zurückzuführen – die Einbettung in eine Welt gesellschaftlicher Praktiken, aus der sich Gesten anhand der Verzahnung von Wahrnehmung und Verhalten temporalisieren. Jene müssten als antwortend, intentionslos sich aus Interaktion generierend, gedacht werden. Aus den impliziten Verweisungsbezügen, in denen alles Seiende steht, schälen sich explizite Verweisungen – Verweisendes, aus Verwiesenheit seiend und doch nicht seiend, worauf es verweist. Einhergehend mit dieser Bewegung konstituiert sich Welt als Umwelt, bildet sich Gegenwart aus und an der Komplexität des sich Ereignenden heraus. Die Transzendenz des Bewusstseins, das Jenseits des Hermeneutischen, gründet im Diesseits, während die Diesseitigkeit dieser räumlich, zeitlich und sozial organisiert sich gebenden Gegenwart als eine keineswegs notwendige erscheint. Die Argumentation wird sich bis hierhin vor allem an Luhmann, aber auch an Heidegger orientieren. Da der Stimme, im Kontext dessen, was mit Selbstgegenwart bezeichnet ist, in der Tat eine besondere Stellung zukommt, ist, in Auseinandersetzung mit Derrida, das Dasein nochmals explizit als durch das sich ihm Gebende vermittelt aufzuzeigen. 6.1 Zur Entstehung sozialer Systeme aufgrund von Geräuschen

162

Luhmann unterscheidet, wie gesagt, zwischenmenschliche und soziale Interpenetration. Er führt die Gesellschaft aber unmittelbar wieder ins Zwischenmenschliche ein. Denn nur „dank des sozialen Systems Gesellschaft können Menschen so komplex sein wie sie sind“. 1 Zwischenmenschliche Interpenetrationen werden von ihm als Intimität aufgefasst, in der sich mehr und mehr Bereiche des Erlebens und Körperverhaltens von Menschen wechselseitig „einspielen“. Die Komplexität des Anderen ist in der Intimität Moment des eigenen Lebens. Wie jene als relevant zugänglich wird, ist mit der Metapher des Spiels jedoch erneut nicht schon geklärt. In Soziale Systeme argumentiert er, dass die „Genese und Reproduktion von Intimität sehr verfeinerte Situations- und Milieukenntnisse, also viel Kultur voraus setzt; denn nur auf einer solchen Grundlage ist hinreichend

1 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 304.

6.1 Zur Entstehung sozialer Systeme aufgrund von Geräuschen

nuanciertes Beobachten und Zurechnen möglich“.2 Das ist durchaus einleuchtend, klärt aber wieder nicht die Frage, wie Sozialisation als Kommunikation ablaufen soll, wenn Kommunikation Sozialisation voraussetzt. Mit dem Gedanken, die Komplexität des Menschen könne sich erst im Hinblick auf Gesellschaft entwickeln, wird lediglich das so einleuchtende Prinzip der Sozialisation aufgerufen. Dabei scheint das Potential des Begriffs der Sozialisation dem des Mediums verwandt, insofern auch in ihm immer schon die Funktion einer Vermittlung gedacht und vorweggenommen wird. Der Aporie der nicht zu begründenden Voraussetzung wird jedoch nur zu entkommen sein, wenn sich auf den Gedanken eingelassen wird, dass sich das Spezielle nicht am Allgemeinen, sondern das Allgemeine am Speziellen konstituiert. Auf Allgemeines lässt sich immer nur schließen. Niemand ist beispielsweise jemals direkt, sondern nur in Lehrbüchern etwa, mit so etwas wie einem Code der Sprache konfrontiert worden. Luhmann hingegen setzt zum großen, historisch theoretischen Bogen an und erklärt zwischenmenschliche Interaktionen zum soziologischen Sonderfall. Der Mensch sei nicht durch zwischenmenschliche, sondern durch soziale Interpenetration entstanden. Er sei, was gar nicht unplausibel ist, das Ergebnis soziokultureller Evolution. Darauf, dass der Mensch genauso wie die Gesellschaft Abstraktionen, diskursive Artefakte sind, wird sich vermutlich einigen lassen. Zu klären ist, was Luhmann dazu bringt, Soziales und Zwischenmenschliches, Gesellschaft und Interaktion zu differenzieren. Und die Antwort ist relativ einfach. Ein „interaktionsfreier Bereich gesellschaftlichen Handelns“ entsteht mit Medientechnologien, wie Schrift, aber auch bild- und ton-gebenden Verfahren.3 „Durch Schrift wird Kommunikation aufbewahrbar, unabhängig von dem lebenden Gedächtnis von Interaktionsteilnehmern, ja sogar unabhängig von Interaktion überhaupt“.4 Lesen und Schreiben sind interaktionsfreie, kommunikative, gesellschaftliche Vorgänge. Erst Medien in diesem Sinne – tatsächlich verwendet Luhmann den Begriff des Mediums in fast inflationärer Weise mit unterschiedlichster Bedeutung – machen die Bildung gesellschaftlicher Funktionssysteme möglich. Entsprechend ist aber auch gesetzt, dass die „Differenz von Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen […] ihrerseits Resultat einer historischen Entwicklung“ ist.5 Primitive Gesellschaften, aber auch Familien- oder Wohngemeinschaften, würden nach wie vor ganz interaktionsnah gebildet. Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion meint demnach wechselseitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugleich. „Die Gesellschaft schließt 2 Ebd. S. 308. 3 Ebd. S. 584. 4 Ebd. S. 127. 5 Ebd. S. 576.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

Interaktion nicht aus, sondern ein“.6 Interaktionen setzten, das Argument wurde in Bezug auf zwischenmenschliche Interpenetrationen identisch genannt, als Episode der gesellschaftlichen Reproduktion Gesellschaft voraus. Luhmann argumentiert anhand einer diachronen Achse, folgert aber Gesellschaft als synchrones Gefüge. Die Differenz von Zwischenmenschlichem und Gesellschaft, von Mensch und sozialem System, ist wenig plausibel, wenn „Gesellschaft und Interaktion“, wie Luhmann sagt, „verschiedenartige Sozialsysteme“ sind;7 jedes sich im anderen reproduziert. Der Gedanke, es ließe sich aus Intimem Gesellschaftliches herausrechnen, wäre absurd. Vielmehr wird, in der Terminologie von Soziale Systeme, soziale Interpenetration primär als zwischenmenschliche stattfinden. Es ist kaum sinnvoll festzustellen, „dass man in Interaktionssystemen [praktisch] nicht nicht kommunizieren kann“,8 (außer es wird Abwesenheit gewählt und selbst das lässt sich als Kommunikation auffassen) um gleichzeitig darzulegen, dass „[n]icht alle […] Interaktionssysteme unter Anwesenden […] einfache Sozialsysteme“ seien.9 Wird „in der Interaktion unter Anwesenden Kommunikation erzwungen“,10 und sind Interaktionssysteme des Kontaktes unter Anwesenden einfache Sozialsysteme, lassen sich gelegentliche Flüstergespräche so wenig ausnehmen wie bloßes „Beisammenstehen oder Nebeneinandersitzen von Leuten, die sich mögen“.11 Die Trennung von Verhalten in gesellschaftliches und interaktionelles ist nicht überzeugend – und in Bezug auf Handlungen sieht Luhmann das nicht anders. Die Argumentation von Soziale Systeme verfährt also phylogenetisch, wo sie Ontogenetisches betreffen sollte. Interaktionen würden „historisch gesehen, relativ voraussetzungsfrei, okkasionell, natürlich und situationsabhängig möglich gewesen sein. Man könnte fast von einem vorgesellschaftlichen Erfordernis für das Entstehen von Gesellschaft sprechen“.12

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In archaischen Verhältnissen hätten sich die Interaktionen mit ihrem Vollzug noch laufend revidiert. Gesellschaft hingegen wirke formgebend auf sie ein. Darauf, wie sie das ganz konkret tut, weiß Luhmann aber keine Antwort. Wie kann zwischenmenschliche Interpenetration nur durch Kommunikation, durch den Aufbau sozialer Systeme möglich sein und 6 Ebd. S. 574. 7 Ebd. S. 566. 8 Ebd. S. 562. 9 Ebd. S. 263. 10 Ebd. S. 563. 11 Ebd. S. 264. 12 Ebd. S. 567.

6.1 Zur Entstehung sozialer Systeme aufgrund von Geräuschen

gleichzeitig über die Möglichkeiten von Kommunikation hinausgehen, wie er sagt? Intimität, so wird nämlich erläutert, schließe die Erfahrung der „Inkommunikabilität“, die Grenze sprachlicher Möglichkeiten, ein. Muss, wer die Ontogenese kommunikativer Kompetenz, ihre Sozialisation, klären will, nicht von dieser Grenze, in gewisser Weise von ihren vorgesellschaftlichen Erfordernissen, aus denken? In Bezug auf Inkommunikables weist Soziale Systeme konkret ausschließlich auf die Bedeutung des Körperkontaktes hin. Die Komplexität der Welt müsste sich einem nicht schon geschlossenen psychischen System, einer vor-ichlichen Instanz, als erratische Unbestimmtheit ereignen. „Der Aufbau sozialer Systeme (und ebenso Aufbau psychischer Systeme) folgt dem order from noise principle“, erläutert Luhmann. „Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren“.13 Durch die Hintertür schleicht sich also – entgegen der genannten Definitionskriterien von Kommunikation – doch wieder die Intention, in Gestalt des Versuchs als Anlass von Kommunikation, in die Argumentation ein. Was aber sollte „Jemanden“, den es nicht gibt und der keinerlei Vorstellung von Kommunikation hat, zu Versuchen zu kommunizieren, veranlassen? Deutlich erkennbar ist überdies der mentalistische Zug der Argumentation, denn Psychen geben offensichtlich überhaupt keine Geräusche von sich. Das tun nur Körper. Aber auch das ist noch nicht korrekt. Es wäre unzulässig, visuelle, olfaktorische oder auch taktile Aspekte des Leibes zu ihm zu zählen, seine akustischen aber nicht. Die Laute des Leibes sind zunächst einmal genauso der Leib. Jemanden zu hören, ist insofern Körperkontakt. Gleichwohl wird der besonderen Situation für einen Sprecher, der besonderen Konstellation überhaupt, die sich dadurch ergibt, Ursprung von etwas zu sein, das einem im Moment der Entäußerung entgegentritt, Rechnung zu tragen sein. Zunächst einmal scheint die Rede von ‚order from noise‘, in Bezug auf Sprache aber wörtlich zu nehmen zu sein. „Als Sozialisation wollen wir ganz pauschal den Vorgang bezeichnen, der das psychische System und das dadurch kontrollierte Körperverhalten des Menschen durch Interpenetration formt“.14 Dem Körper wird von Luhmann dabei wieder von vorneherein eine sekundäre Position zugewiesen. Interpenetrationen beträfen nicht nur das psychische System, sondern auch den Körper des Menschen. Geistiges wird schon im Ansatz als von der Materie abgesetzt gedacht. Die Psyche interpretiert ihre Umwelt und steuert den Körper. Das Bewusstsein erhält Sozialisation durch Kommunikation, während der Leib entweder über den geistigen Umweg oder als inkommunikables in Intimität eingespieltes Anhängsel Kontrolle erfährt. 13 Ebd. S. 291 f. 14 Ebd. S. 326.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

Sprache kann unter diesen Voraussetzungen kaum verständlich werden. Als Aspekt einer sich ereignenden Welt ist sie zunächst Körperverhalten. Noch wichtiger aber wird sein, dass auch das vor-ichliche Dasein sich mit der Geworfenheit seines Leibes immer schon verhält. Die Wahrnehmung wird nicht durch eine Welt begabt, die irgendwie natürlich wäre, und in der es auch noch soziale Aspekte gibt, vielmehr ist ihr Ereignen von vorneherein vom eigenen und dem Verhalten Anderer durchdrungen. Es lässt sich sagen, die Realität ist von kultureller Leiblichkeit gesättigt. Luhmann hingegen erachtet Interaktionen als in Wahrnehmung und Kommunikation doppelbasiert, als ob Kommunikation ohne Wahrnehmung auskäme; was, wie weiter oben dargelegt, in mehrfacher Hinsicht falsch ist. Auch Soziale Systeme zufolge ist es gleichwohl eine Tatsache, „dass Menschen in körperlicher Existenz zusammenleben, sich sehen, hören, berühren können“.15 Eine Tatsache, die allerdings nur in begrenztem, vom Ansatz her jedoch verallgemeinerbarem, Rahmen Berücksichtigung findet. Luhmann stellt nämlich durchaus die Frage, „wie die Spezifikation einer Körperbewegung zustande kommen kann, so dass sie als hinreichend spezifischer Auslöser des Verhaltens anderer dienen kann“.16 Der Begriff der Geste benenne das spezifizierte Zusammenspiel von Körpern, kläre aber – und Luhmann argumentiert so, wie es hier in Bezug auf Kommunikation geschieht – nicht dessen Zustandekommen. In der Tat ist nicht unplausibel, dass Umwelt, weil sie irgendwie von sich aus spezifiziert ist, Körperverhalten spezifiziert. Die Art, auf einem Stuhl zu sitzen, etwa sei auch durch Körper und Stuhl selbst bedingt. Vor allem in Bezug auf räumliche Bewegungsmöglichkeiten lautet Luhmanns These, „dass erst die Doppelung der Spezifikation die Spezifikation erklärt. Die Spezifikation des Potentials zu Körperverhalten ergibt sich aus einer spezifischen Inanspruchnahme, die ihrerseits Spezifikationsmöglichkeiten in Anspruch nimmt“.17

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Wie Körper wechselseitig ihre Reduktionsmöglichkeiten herausfordern, veranschaulicht er an Tanz, gemeinsamen Musizieren, Hand-in-Hand-Arbeiten oder Ballspielen. Die These der doppelten Spezifikation kann aber nur den Rahmen des Möglichen benennen. Tatsächlich ist es bekanntermaßen möglich auf vielerlei Weise, und fraglos stets mit zumindest potentiell kommunikativem Wert, auf einem Stuhl sitzen; ganz aufrecht oder lässig, respektlos oder verkrampft: „Schon wie der da gesessen hat“. Unbestreitbar ist Luhmann, dass es eine Semantik der Körperlichkeit mit Einfluss auf „Körperverwendung“ und -empfinden gibt. Auch der 15 Ebd. S. 337. 16 Ebd. S. 333. 17 Ebd.

6.2 Verhalten

menschliche Körper sei in die Interpenetration von Mensch und Gesellschaft einbezogen. Man sehe, berücksichtige und erwarte, dass er sich so oder so verhält und auch anders verhalten kann. Diese Komplexität betreffe aber nicht den Körper selbst, sondern sei Resultat sozialisierter Schemata. Gibt es demnach, so ließe sich fragen, einen Körper hinter der Semantik der Körperlichkeit? Einen natürlichen Körper, konditioniert und verdeckt vom kulturellen? Generell spricht Soziale Systeme von Semantik als von in Kommunikation bewahrten Sinnformen. Auch die „Semantik der Körperlichkeit“ im Speziellen werde an Formveränderungen, die sich in der soziokulturellen Evolution“ ergeben, gekoppelt.18 Natürlich sei der Körper „als Subjekt und als Objekt physischer Gewalt, als wahrnehmbar, als sexuell reizbar, als Träger von Bedürfnissen immer schon relevant gewesen“.19 Eben deshalb sei es auch notwendig, Körperlichkeit symbolisch einzubeziehen, zu regulieren und zu kontrollieren, was auch alle großen Funktionsbereiche der Gesellschaft – Religion, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw. – täten. Soziale Systeme wechselt vom Speziellen zum Allgemeinen, stellt fest, was sich fraglos beobachten lässt, erklärt rückwirkend dessen Notwendigkeit und paart jene großen Funktionsbereiche mit einer, kaum zu leugnenden, soziokulturellen Evolution, die zu „zunehmend anspruchsvollen, aspekthaften Kombinationen von Körperlichkeit und funktionsspezifischer Kommunikation“ führe.20 Der von ihm selbst aufgeworfenen Frage, wie körperliches Verhalten als spezifisch und bedeutend konkret und im einzelnen zustande kommt, weicht Luhmann aus. 6.2 Verhalten Im Zuge der Überlegungen lässt sich Sprechen nun, im Anschluss an Luhmann, durchaus als lautliche Geste auffassen. Geräusche, die Menschen von sich geben, müssen nicht nur als spezifisch und bedeutend aufgefasst, sondern auch, und das ist entscheidend, artikuliert werden. Um diesen Umstand zu begreifen, ist es notwendig, das zumindest wäre die These, sich vorzustellen, dass das Individuum, das Dasein, der Mensch spricht – im weitesten Verständnis des Wortes – bevor er etwas sagt oder zu sagen intendiert. Es bzw. er verhält sich. Ganz unweigerlich. „Zunächst sozialisiert das kommunikative Geschehen selbst“, heißt es an einer nirgends näher erläuterten Stelle bei Luhmann, und zwar „dadurch, dass es als Kommunikation gelingt“.21 In diesem Bild liegt die Vorstellung eines Sprechens, das 18 Ebd. S. 341. 19 Ebd. S. 339. 20 Ebd. S. 338. 21 Ebd. S. 330.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

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keines ist, auch nicht schon Geste, und insofern etwa Verhalten genannt werden müsste. Auch hier nimmt Soziale Systeme die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen wieder vorweg. Grundlage aller Sozialisation ist demnach aber die Teilnahme an einem Geschehen, von dem sich gerade nicht schon sagen lässt, dass es ein kommunikatives im Sinne der luhmannschen Explikation sei. Der Ursprung unseres jeweiligen Daseins liegt (für jeweils uns als auch von außen) im Dunkeln, ist aber eben kaum auf Kommunikation als Prozessieren von Differenzen zurückzuführen. Es gäbe keine Differenzen. Eine systemtheoretisch schwer zu begründende Annahme, insofern ein prä-systemischer Zustand vorausgesetzt wird, aus dem sich ein kommunikatives Geschehen herauskristallisiert. Wobei, ein Rauschen oder Ereignen, das trägt, wird wie gesagt angesetzt. Dieses ist, auch nach Luhmann, nicht auf intendiertes oder zurechenbares Handeln zurückführen. Entsprechend gilt es, sich der Metapher der Kristallisation konkretisierend anzunähern. Wie gelingt, was nicht beabsichtigt ist? Mit Wahrnehmung ist nicht nur immer schon ein Leib und mit ihm Bedeutsamkeit, sondern ebenso Verhalten gegeben. Zunächst unwillkürliches, das in einer sozialen Welt gleichwohl nicht unbeantwortet bleibt. Was nicht als Mitteilung oder Kommunikation gemeint ist, temporalisiert Effekte. Während Wahrnehmung immer nur aus der eigenen Perspektive als bereits konstituiert bekannt ist, lässt sich das, wenn auch nur „von außen“, beobachten. Nicht die Wahrnehmung erfährt also Begabung, sondern der wahrnehmende und nur insoweit gegebene Leib als ein sich verhaltender – so die Folgerung. Verhalten bedingt insofern Erwartungen und erfährt auf einer rudimentären Ebene Sinn. Das Dasein steht, noch bevor es eines ist, in Interaktion mit einer Welt, aus der Verhalten, Gesten, Mimiken oder Laute, aber auch sonstiges Geschehen, ganz im Sinne einer begabten Wahrnehmung markiert werden und insofern sinnvoll sind. Der Begriff der Markierung oder besser des Merkmals orientiert sich dabei lose an Derrida. Wobei das Mal, am ehesten im Sinne eines Wundmals zu verstehen wäre. Markierung oder Einschreibung in den sich verhaltenden Leib der Wahrnehmung. Luhmanns – bzw. George Spencer Browns (aber auf Luhmann wird sich hier bezogen) – ‚unmarked space‘ wäre im hiesigen Kontext als rezeptiv sinnlicher gedacht, in dem sich Marken schreiben. Die Grammatologie legt nun Wert darauf, dass die Spur, von der die Rede ist, nicht als Merkmal im Sinne eines natürlichen Zeichen misszuverstehen sei. Sie erst ermögliche „das Unmotiviert-Werden des Zeichens“.22 Unmittelbar zuvor wird erläutert, dass „der Begriff der Schrift(graphie) – als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz

22 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 83.

6.2 Verhalten

der vereinbarten Spur“ impliziert.23 Die Spur wird hergeleitet, was sich gut mit den hiesigen Überlegungen verbinden lässt, als Ursprung allen Sinns.24 Sinn als Erwartung aus widerfahrener Redundanz. Tatsächlich muss ein Signifikant ganz allgemein, wie es in Die Stimme und das Phänomen heißt, „trotz der Verschiedenartigkeit der empirischen Merkmale […] in seiner Gestalt erkennbar sein“.25 Gleichzeitig wird er aber auch erst anhand empirischer Merkmale, die nicht absolut verschiedenartig sein dürfen, wahrnehmbar sein. Nicht zuletzt, weil sich anders kaum Redundanz ergäbe. Deshalb darf das „‚gegenwärtige‘ Element“, wie beispielsweise in Die différance, auch nicht in Anführungszeichen gesetzt werden, weil seine Gegenwart zwar nicht Gegenwärtiges reaktualisiert, dies aber seine Gegenwart verlangt. Bedeutung wird nur möglich sein, wo ein gegenwärtiges Element „sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an sich behält“ und sich seine „Gegenwart durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist […] konstituiert“.26 Unmotiviertes Empirisches wird in seiner konventionellen Beziehung zu vergangenem Empirischen als Merkmal lesbar. Anhand von Ereignissen, die das sich verhaltende Ereignen des Leibes involvieren, spielen sich basale Gesten ein, wird Geschehen markiert. Die Vorstellung, es würde sich in gewisser Weise selbst sozialisieren, ist somit keineswegs abwegig. Allerdings nicht aus einem systemischen oder strukturalen (Bewusstseins-)Solipsismus – der vielmehr in Erklärungsnöte gerät –, sondern aus dem Ineinander von Leib, Welt und Wahrnehmung. Was dabei als verbale und was als nonverbale Geste zu gelten hätte, ist keinesfalls klar. Nur Schriftkulturen werden auf die Idee kommen, lediglich das für Sprache zu halten, was sich verschriftlichen lässt. Erst im Zusammenspiel mit Schrift wird sich eine spezifisch verbale Semantik konstituiert haben, die viele leibliche Aspekte des Sprechens als nonverbal oder metakommunikativ abscheidet.27 Sprache wäre zunächst einmal nonverbal. Entscheidend ist jedoch vorerst, dass, wo sich der Wahrnehmung im Verhalten wiederholt Marken ergeben, die Komplexität der Erwartungsbezüge erheblich gesteigert wird. Ereignisse stehen nicht einfach für Erwartungen, sondern ein Ereignis, wenn auch zunächst intentionslos hervorgerufen, für die Erwartung eines anderen. Wo in Form von Reaktionen oder, allgemeiner formuliert, Veränderungen Einfluss auf ein Geschehen genommen 23 Ebd. S. 81. 24 Vgl. Ebd. S. 114. 25 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 69. 26 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 42. 27 Vgl. Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 278.

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wird, können sich Gesten, generell strukturiertes Verhalten, überhaupt konstituieren. Sie werden durch ein zufälliges Gelingen in einer sozialen Welt initialisiert und stabilisiert. In dieser Figur wiederholter, wechselseitiger Überlagerung liegt bereits Verallgemeinerung. Das Geschehen abstrahiert gewissermaßen aus sich selbst; es konstituiert generalisierte Formen, vereinbart Spuren, die wiederholbar sind – im Grunde ihre Wiederholung erzwingen. Die Argumentation ähnelt der erwähnten Luhmanns, der zufolge die „Differenz von Differenz und Identität […] gleichsam quer zur Differenz von Aktualität und Möglichkeit eingesetzt“ wird,28 mit der entscheidenden Verschiebung, dass nicht die Auffassung der Identität von etwas Bezeichnetem geformt, sondern die von Bezeichnendem vorbereitet wird. Jene Formen sind, so wäre nicht zuletzt an Derrida gewandt festzustellen, aber an die gesamte Fülle der Welt rückgebunden. Wichtiger aber noch ist, dass sich erst aus der Erfahrung der Einflussnahme Gesten als Mitteilungen auffassen lassen werden. Was kaum heißt, dass jede Geste nachvollzogen worden sein muss, um bedeutsam zu sein. Vielmehr begründet sich ein Prinzip, aus dem Verhalten nicht nur bedeutsam, sondern als potentiell zeichenhaft begreifbar wird. Der Gedanke ist, dass nur wer erfahren hat, was es heißt sich mitzuteilen, eine Mitteilung erfassen kann; begreifen kann, dass sie für eine Information steht und überhaupt Veranlassung hat, sich mitzuteilen. Die Intention ist dem Gelingen nachgeordnet. Erst von hier aus wird eine Differenz zwischen Information und Mitteilung – die damit noch nicht thematisiert ist – einsichtig werden können. Der Informationswert jeweiliger Mitteilungen wäre demnach kein Abstraktum, sondern die konkrete Veränderung jeweiliger Situationen. Aufmerksamkeit etwa wird gelenkt, Lust oder Unlust bekundet, auf Dinge des unmittelbaren Umfelds Bezug genommen. Gesten differenzieren sich aus der Unmöglichkeit des sich nicht Verhaltens in Interaktion mit einer Welt kultureller Praktiken. Erst wo sie sich, eigene und die Anderer, wechselseitig bewähren, werden sie Generalisierung erfahren und sich so als „vereinbarte“ oder konventionelle stabilisieren. Die Überlegung ist so umfassend, dass ihre Konsequenzen an dieser Stelle nicht ansatzweise in vollem Umfang gezogen werden können. Klar aber ist, dass sie auch nicht-gestisches Verhalten, etwa im Sinne der Veränderung der eigenen Wahrnehmungslage, der relationalen Raumsituation beispielsweise, beinhalten. Wahrnehmung und Verhalten sind im Höchstmaß miteinander verquickt, insofern Verhalten wahrgenommen werden muss und zwar eben auch vom sich Verhaltenden, während es gleichzeitig Wahrnehmung verändert. Aus diesem Verhältnis ergibt sich eine informativ eindrückliche Dynamik, die kaum zu fassen ist. Das Verhältnis von Stuhl und Körper, Raum- und Leibempfinden ist nicht einfach gegeben, 28 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 100.

6.2 Verhalten

sondern schafft sich aus responsiver Interaktion. Die Spezifik von Körperverhalten, Gesten und Gegenständen entfaltet sich wechselseitig aneinander aus Indifferenz. Wobei das, was antwortet und das, worauf geantwortet wird, ineinandergreifen. Vorausgesetzt ist dabei, dass Wahrnehmung überhaupt Begabung erfährt und für weiteres Wahrnehmen wie Verhalten erfahren hat. Das Geschehen selbst ist in der geschilderten Form eindrücklich. Die Vorstellung, es konstituierte sich ein Feld von Rückkopplungsschleifen, wäre nicht ganz falsch, würde der enormen Komplexität das Sachverhalts aber gerade nicht im mindesten gerecht. Kein Verhalten, auch kein gestisches, ohne Raumempfinden etwa. Welt konstituiert sich als leibliches bedeutsames Bezugsganzes. Damit ist klar, dass jegliches Verhalten in die Temporalität der Wahrnehmung eingelassen ist. Die „Konstitution der Gegenwart“, begriffen als „Synthese von Merkmalen (marques), von Spuren von Retentionen und Protentionen“, wird es jenseits ihrer nicht geben.29 Konkret ergibt sich ein fließender Übergang zwischen dem, was lediglich Bewegung ist, allgemein erwartetem und sozial sanktioniertem Verhalten. Deshalb gibt es auch keine vorgängige Semantik, keine kommunikativ bewahrten Sinnformen der Körperlichkeit mit Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten des Leibes. Vielmehr resultiert (seine) Bedeutung aus Verhalten und Empfinden. Empfindungen prägen sich in das Verhalten ein, das aus dem mit ihm verbundene Erwartungen sinnvoll sind. Nur aus ihnen lässt sich, jenseits reiner Zufälligkeit oder organisch festgelegter Reflexe, verhalten; während jedes Verhalten weitere Informationen generiert, weitere verfeinerte Erwartungen hervorbringt und sich so die Ereignisbezüge der Welt zunehmend differenziert sozialisieren. Der Leib, seine Wahrnehmung und sein Verhalten, konstituieren sich in und aus den immer schon sozialen Bezügen der Welt, in die er geworfen ist. Die Komplexität des Leibes ist, in eins mit der der Wahrnehmung, eine lebensgeschichtlich einmalige. Was immer ihn auszeichnet, tut dies, insofern er betroffen wurde. Soziale Schemata können eben nicht Inhalten gleich übertragen oder sonst irgendwie eingepflanzt werden, sondern müssen sich im Speziellen am Speziellen generieren und generalisieren. Der Leib ist nicht in eine irgendwie natürliche Welt eingebettet, in der es auch noch Kultur gibt, sondern von vornherein in eine gesellschaftlicher Praktiken. Wenn, dann bestünde die Natur der Welt zunächst einmal darin, eine kulturelle zu sein. Jene wäre wohl tatsächlich im Adornoschen Sinne als naturwüchsige vorzustellen.30 Ließe sie sich von außen betrach 29 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 42. 30 Vgl. Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 351.

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ten, würde sie als geistloses, sich evolutionär entwickelndes Ereignen erscheinen. Luhmann hat jedoch völlig Recht, in jenen Beziehungen, die er als intim charakterisiert, ist die Komplexität des Anderen, letztlich aber die der gesamten widerfahrenen Welt, Moment des eigenen Lebens. Körper und Welt sind aus ihrer rezeptiven Indifferenz gewissermaßen ereignishaft performativ in Geschehensabläufen verzahnt. Aus der Welteinbettung des Leibes folgt so, dass es kein Jenseits der Intimität gibt. Was angeht oder betrifft, was Eindrücke hinterlässt und Erwartungen formt, tut dies aufs Intimste oder gar nicht. Jede erdenkliche konkrete Situation ist nur in Veränderung des Daseins in ihr. Keine Markierung, deren Lektüre sich nicht in einer Konstellation wechselseitiger Beseelung erst ergäbe. Tatsächlich ist Gesellschaft, Soziales oder Kultur insofern Voraussetzung der Komplexität des Menschen; ihre Kenntnisse müssen sich jedoch fortwährend individuell reproduzieren. Der wahrnehmende Leib erfährt Sanktionen, bevor er versteht und begreift diese zunächst aus seinem reglementiert-Sein. Es sind konkrete Menschen und Situationen, die Gesten markieren und Symbolisches als Merkmale lesbar werden lassen – keine abstrakten gesellschaftlichen Systeme, in deren interpenetrierenden Fänge das Dasein auf eine nicht näher zu klärende Weise gerät. Die Heideggersche Zuhandenheit muss in diesem konkreten Sinne verstanden werden. Kultur, so lässt sich in Anlehnung an Adorno sagen, ist ein Funktionszusammenhang realer Individuen und kein wie auch immer konstruierbares Gesamtsubjekt, noch eine Ansammlung von Systemen. Das schließt nicht aus, dass dieses Gefüge Dynamiken folgt, die niemand beherrscht, das Gegenteil ist mit dem Gedanken der Einbettung gesetzt, aber das Allgemeine, das sich fraglos denken lässt, begegnet nur im Speziellen – konstituiert sich an ihm. Wurde bezüglich des Ereignens von Welt argumentiert, dieses würde sich artikulieren, so muss dies in eins damit für die Verweisungsbezüge in diesem gelten – die sich aus jenem Geschehen fortwährend erzeugen. Das Prinzip ‚order-from-noise‘ wird gewissermaßen auf das, zunächst zufällige und in diesem Sinne ‚noise‘, Information, generierende Verhalten des Leibes angewandt, der in ein responsives Geschehen eingebunden ist, dessen Responsivität order, Sinn, generiert. Das soweit geschilderte performative Geschehen wäre nach wie vor als eines zu denken, in dem es Zeichen im prägnanten Sinne nicht gibt. Zwar haben sich, unter anderem lautlich gestische Verhaltensweisen – eigene und die Anderer – konstituiert und mit Eindrücken verknüpft, sie stünden aber immer noch unmittelbar für ihre Erwartungen. Das Verhalten und die Wahrnehmung des Leibes generieren sich intentionslos aus Interaktion. Kein Jemand oder Subjekt verfügt über das Geschehen seines Körpers. Das Ereignen eignet den Menschen – Heidegger lässt sich auch in diesem Sinne deuten. Verhalten reagiert oder antwortet aus Erfahrung und weite Teile des gewohnten Verhaltens werden, selbst bei höchster Reflek-

6.3 Komplexität und Kontingenz

tiertheit, diese Ebene nie verlassen; zum einen, weil niemand über seine Bedürfnisse noch deren Ausprägung verfügt (sie lassen sich in einem lediglich begrenzten Rahmen kanalisieren oder kontrollieren) und zum anderen, da die Komplexität selbst einfachster Abläufe so hoch ist, dass sich ihre Verhaltensaspekte nicht intentional kontrollieren ließen. Es ließe sich vorstellen, Menschen wären fortwährend davon in Anspruch genommen, ihr Gleichgewicht zu halten. Fraglos gibt es Situationen, in denen das notwendig ist. In denen geschieht dann aber auch wenig anderes. Der Leib hält, einmal dazu begabt, sein Gleichgewicht meist selbst. Der Körper ist keine Marionette, keine Maschine in der ein Ich oder Bewusstseinssystem strukturell gekoppelt Fäden zieht beziehungsweise Hebel betätigt. Er verhält sich vielmehr aus seiner Begabung von sich aus. Die meisten werden sich an eine Situation erinnern können, in der sie etwas plötzlich Kippendes – etwa eine vom Tisch fallende Tasse – aufgefangen haben. Niemand wird behaupten können, sie oder er habe sich entschieden, die Tasse zu fangen. Verhalten wird eingeübt, vielfach übt es sich ein, und funktioniert dann selbstständig. Musizieren, Sport, das Schreiben auf einer Tastatur usw. – letztlich weite Bereiche des alltäglichen Lebens gelingen, weil nicht gehandelt, sondern sich verhalten wird. Dieser Umstand lässt sich leicht überprüfen, indem die Lektüre dieses Textes unterbrochen wird, kurz ins Bad gegangen oder sich ein Kaffee gemacht oder auch nur dagesessen und die Aufmerksamkeit auf das eigene Verhalten gerichtet wird. Der Blick wandert, Hände hantieren, gar nicht zu reden von den Gedanken, die sich denken (die in den bisherigen Darstellungen aber noch keinen Platz haben). Natürlich steht das eigene Verhalten im Spiegel seiner Attribution. „Dem einen erscheint als Handeln, was der andere primär als Reaktion auf Erleben erfährt“.31 Derartige Zurechnungen aber verlangen Bezugnahme, ohne dass soweit präzisiert wäre, von wo aus diese möglich sein sollte. Die Unverfügbarkeit von Sinn, das Bestimmt-sein von Erwartungen, unterläuft im Verhalten die Differenz von Selbst- und Fremdreferenz, den Dualismus von internaler und externaler Attribution. Über die Varianz von Aktualität und Möglichkeit wird auch in Bezug auf den eigenen Leib in vielfacher Hinsicht nicht verfügt – was mit der Leiblichkeit der Wahrnehmung gesetzt ist. Aus Redundanzen lassen sich weder Identitäten noch Handlungen extrapolieren. Sinn bildet, wie zitiert, den Kontext aller Zeichenfestlegungen, ist selbst aber nicht bezeichnend.

31 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 125.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

6.3 Komplexität und Kontingenz „Die Typik der Wesensformen, an der das Alltagsverhalten sich […] faktisch orientiert, ist das Resultat vorgängiger Sinnbestimmungen, die weder im Sinne einer Ontologie der Wesensformen der Welt, noch im Sinne einer Konstitutionstheorie dem Subjekt zugerechnet werden können. Sie ergeben sich vielmehr daraus, dass die sinnbezogenen Operationen […] durch Auslöseprobleme (primäre Disjunktion, Irreversibilität, Dissens) gereizt und die Doppelhorizonte der Sinndimension dadurch unter Optionsdruck gesetzt werden“.32

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Als Sinndimension handhabt Luhmann in Soziale Systeme – übereinstimmend mit Disjunktion, Irreversibilität und Dissens – Sach-, Zeit- und Sozialdimension, mit ihren „jeweiligen Doppelhorizonten innen/außen, Vergangenheit/Zukunft, Ego/Alter“.33 Optional wären dabei bereits die entsprechenden Zuordnungen, etwa von innen und außen; und Druck entstünde, weil aus Erwartung Möglichkeit bzw. Nicht-Notwendigkeit also Kontingenz resultiert. Auf die Herleitung der entsprechenden Dichotomien verzichtet Luhmann jedoch. In seiner Einführungsvorlesung gibt er an, für sie „keine vernünftige Begründung“ zu haben.34 Die gesamte Dynamik dessen, was die Systemtheorie als doppelte Kontingenz beschreibt, hängt, angefangen bei der fundierenden Differenz von System und Umwelt, gleichwohl an jenen Dichotomien, die etwa in Die Kunst der Gesellschaft als Medien von Raum, Zeit und Kunst wieder auftauchen. Dass Wesensformen, die, da nur Einzelnes begegnet, weder in der Welt sind, noch von einem Subjekt erzeugt werden, ist nachvollziehbar – die metaphorisch-begriffliche Verbindung von Wesen und Form setzt gewissermaßen, dass zweierlei zusammenkommt – und doch müssen sie sich für jeweils uns konstituieren. Mehr noch, sie sind anhand dessen, was Luhmann als Auslöseprobleme benennt, an eine sich ereignende widerfahrende Welt gebunden. Dass Wahrnehmung dabei nicht als sinnbezogene Operation des Bewusstseins aufgefasst werden darf, wurde bereits aufgezeigt. Weder über Aktualität noch Redundanz, noch das Verhältnis beider zueinander wird verfügt. Auch können die Wesenstypen der Welt nicht einfach kausal auf Kommunikationen zurückgeführt werden, da auch diese wahrnehmungsbasiert sind. Nicht zuletzt müssten die genannten „Auslöseprobleme“ den Sinnbestimmungen vorgängig sein. Erst sie sind der Anlass,

32 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 123. 33 Ebd. S. 133. 34 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 238.

6.3 Komplexität und Kontingenz

damit Sinn wachgerufen wird; eher wäre Sinn, wie dargelegt, damit als responsiv oder reaktiv zu rekonstruieren. Der Kontingenzbegriff wird in Soziale Systeme folgendermaßen hergeleitet: „[er] wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. […] Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist“.35

Luhmanns einleuchtende These ist, dass soziale Ordnung erst auf Grund doppelter Kontingenz entsteht. „Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist […] einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand (sie selbst sind immer schneller!) füreinander undurchsichtig“.36

Die Theorie sozialer Systeme baut, die genannten Sinndimensionen voraussetzend, auf diese Gestalt. Ego und Alter müssen einander nicht nur wechselseitig in ihrer Umwelt beobachten, sondern sich jeweils auch noch als alter Ego, als ‚black box‘ des Anderen begreifen. Die Frage nach den Realitätsvorgaben, die vorliegen müssen, damit es überhaupt „zur Erfahrung von doppelter Kontingenz und damit zum Aufbau sozialer Systeme kommen kann“, dreht sich wie gehabt im Kreis: „Die Antwort heißt Interpenetration“.37 Alle soziale Interpenetration läuft aber, wie erörtert wurde, als Kommunikation ab, während die Figur der doppelten Kontingenz die kommunikative Grundsituation der Theorie sozialer Systeme beschreibt. Darüber hinaus gibt Luhmann an: „Situationen mit doppelter Kontingenz erfordern gewiss, um Kommunikation überhaupt in Gang bringen zu können, ein Mindestmaß wechselseitiger Beobachtung und ein Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen“.38 Und etwas später: „Zum Unterbau, der im Theorem der doppelten Kontingenz vorausgesetzt 35 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 152. 36 Ebd. S. 156. 37 Ebd. S. 293. 38 Ebd. S. 154 f.

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ist, gehören hochkomplexe sinnbenutzende Systeme“.39 Das fundierende Mindesterfordernis ist damit zunächst einmal das Sich-Ändern der sich ereignenden Realität. Das Mögliche ist, wie zitiert, durch die gegebene Welt limitiert, was die gewichtige Frage nach dem Maß und der Art aufwirft, in dem Realität ihr Wesentlich- oder haft-Sein begrenzt oder einschränkt, also bedingt und bestimmt. Unmöglichkeit ist schließlich ausgeschlossen. Eine unvermeidliche und gleichzeitig unfassbar schwerwiegende Annahme. Tautologisch formuliert: Nur das Mögliche ist möglich. Was aber ist möglich? Was ist notwendig und was unmöglich? Zunächst einmal muss daran erinnert werden, dass Kenntnisse auf Erwartungen gründen – Sinn meint konditionierte Erwartung – und nicht, wie zitiert, umgekehrt. Das Kennen von etwas als etwas steht im Kontext seiner Formierung zu diesem anhand von Markierungen; eines sinnlich Wesenhaften also, das formiert wird. Seine Synthese ist diesseits wie jenseits der Relation an Widerfahrnisse gebunden. Die aufgeworfene Problematik perpetuiert sich. Nach Luhmann ist von der Realität aus gesehen das, was sichtbar wird, notwendig Reduktion. Das, woran sich Realität reduziert, ist dabei Teil von ihr. Auf eine Welt an sich lässt sich nur schließen, sich ein Sehen von dieser aus nur erdenken. Schon der Umstand, dass Dinge eine Rückseite haben oder fortexistieren, auch wenn sie nicht wahrgenommen werden (was sie ja gar nicht alle tun – vieles ist ‚Schall und Rauch‘), wird erlernt. Die Komplexität von Welt entfaltet sich aus der Teilhabe an ihr als einer von sozialen Performanzen durchsetzten. „Die Attribution auf ein anderes Ich, […] setzt nicht nur doppelte Kontingenz, sondern in dieser Kontingenz interpenetrierende System/ Umwelt-Verhältnisse voraus. Erst dadurch ist ein Verstehen möglich, das das eigene Ich in der Welt des anderen und das andere Ich in der eigenen Welt lokalisiert“.40

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Dabei muss das andere Ich in einer Umwelt, dessen Teil es ist, ausgemacht und verortet werden. Es muss überhaupt ein Verhältnis zu dieser Umwelt – und das ist es, was an dieser Stelle nicht zuletzt interessiert – geben. Die Figur der Reduktion von Umweltkomplexität zum Aufbau von Systemkomplexität ist grundlegend für die Systemtheorie. Systeme passen sich der Realität an, indem sie unbestimmte Komplexität in bestimmbare Komplexität überführen. Luhmann arbeitet dabei mit zwei Komplexitätsbegriffen: einerseits als „entropische Komplexität“, „im Sinne nichtbeliebiger Verteilungen“ begriffen, andererseits anhand der „Begriffe Element und Relation“ definiert.41 Fasst Soziale Systeme Komplexität also als Neg 39 Ebd. S. 156. 40 Ebd. S. 307. 41 Ebd. S. 166, 383, 45.

6.3 Komplexität und Kontingenz

entropie auf, so als Abweichung von Gleichverteilung und als Redundanz. ‚Order from noise‘ ist demnach nur möglich, wenn in ‚noise‘ gewissermaßen ‚order‘ steckt. So etwas wie Verteilung lässt sich gleichwohl nur anhand von Elementen denken, die sich jedoch nicht unabhängig von Sys­temen bestimmen lassen. „Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme“.42 Sie werden, so die Annahme, immer erst durch ein System konstituiert. Das Element, mit dem psychische Systeme in Form von Erwartungen operieren, ist Sinn. Realität wird so zu einer zugrundeliegenden „These“ degradiert; zu einer „Annahme“, auf die sich, weil sie unvermeidbar ist, eingelassen wird.43 Ähnlich Adorno schlägt Luhmann alles, was an ihr strukturiert erscheint, Systemen zu, während er die vorausgesetzte Komplexität, die Elementbildung erst ermöglicht, als unzugänglich abscheidet. „Die Systemgenese setzt strukturierte Komplexität voraus“.44 Das „‚Sich-Ermöglichen‘ von Umwelt ist in einer strukturlosen, beliebigen, chaotischen Umwelt nicht möglich“,45 da sich die Ermöglichung an nichts bewähren und so keinen Bestand gewinnen könnte. Bedingung ist die „hinreichende[] Komplexität der vorliegenden Realität“.46 Sie ist Bedingung dafür, so lässt sich rekonstruieren, dass unbestimmt entropische Komplexität in bestimmbare „temporalisierte[] Komplexität“ überführt werden kann.47 Sinn ist „Einstellung auf Komplexität“.48 Temporalisierung ist ein Prozess struktureller Anpassung, der gleichzeitig verhindert, dass sich ein System in seiner Umwelt stabilisiert, da Erwartung keine Information ist. Mit Sinn, und erst mit ihm, ergibt sich Kontingenz. Redundante „Komplexität in diesem […] Sinne ist dann ein Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Information“ und Kontingenz nur für ein System,49 aus Erwartung. Das, was geschieht, wäre eventuell anders möglich gewesen, ist im Moment seines Geschehens aber notwendig. Luhmann nimmt nun an, dass Komplexität, für die Informationsverarbeitungsprozesse eines Sys­tems nur als Selektionshorizont und insofern als Selbstreferenz relevant wird. Umwelt könne nur in Form von Sinn erfahren werden. Das Moment der Information, unzulässigerweise als Selektion begriffen, reduziere Komplexität. Dabei schließt erst Sinn Möglichkeiten auf und aus. Wahrneh-

42 Ebd. S. 43. 43 Ebd. S. 245. 44 Ebd. S. 165. 45 Ebd. S. 146. 46 Ebd. S 173. 47 Ebd. S. 79. 48 Ebd. S. 107. 49 Ebd. S. 50.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

mung ist „Informationsgewinnung“.50 Information geht Sinn stets voraus. Der Moment der Information ist unmittelbar. Möglichkeit wie ihre Negation, die Unmöglichkeit, extrapolieren sich aus dem konstanten Wandel des Sich-Änderns temporal. Das luhmannsche Bewusstseinssystem hingegen ‚lebt‘ in einer hypothetischen Welt, in einem Selektionshorizont; aus der Vergangenheit in der Zukunft. Die Gegenwart wird dabei umgangen. „Die Komplexität der Welt, ihrer Arten und Gattungen, [… entstehen] erst durch Reduktion von Komplexität und durch selektive Konditionierung dieser Reduktion“.51 Mit der Zurückweisung des „Postulat[s] einer entgegenkommenden Rationalität oder Gesetzlichkeit der Natur“ kommt auch das Entgegenkommende der Realität abhanden.52 Welt aber reduziert sich. Die Kristallisation ihrer Dimensionen, die doch Wesensformen sind, die Differenzierung von Ich, Umwelt und Anderen und damit die Herausbildung von Oppositionen wird ineinandergreifen. 6.4 Etwas und Etwas treten auseinander

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Das geschilderte Geschehensgefüge kann Verweisungskomplexität entfalten, da Ereignis und Materialität in ihm aneinander befestigt sind. Mit Gesten lässt sich nicht einfach nur auf Veränderungen oder Ereignisse Bezug nehmen, sondern auch auf Gesten – und zwar weil diese stets selbst materielle Ereignisse sind. Bereits hier deutet sich an, wie unter anderem gestisches Verhalten Geschehen symbolisch greifbar machen kann. Die Performanzen der immer schon sozialen Welt sind nicht nur von Marken, Dingen oder Gesten durchsetzt, die ihren Fortgang gewährleisten, sie werden vielmehr in gewisser Weise ebenso von Zeichen begleitet. Und zwar indem Zeichen, gemäß der Heideggerschen Vorstellung, etwa Dienlichkeiten oder eben Erwartungen innerhalb eines Verweisungsganzen aufzeigen und so Orientierung leisten (die damit aber Aspekt des Vollzugs und ohne eigentliche Prägnanz wären). Luhmann würde diesbezüglich von prozessualer Selbstreferentialität sprechen. Eine Grenze zwischen Durchsetzung und Begleitung wird sich dabei tatsächlich wieder nicht sinnvoll ziehen lassen, so wenig wie zwischen Vollzugsverhalten, Körperbewegung und gestischem Verhalten. Mit Vollzügen ist schließlich die Erwartung ihres Fortgangs verbunden. Das Nicht-Abreißen des Sich-Änderns des Ereignens hat sich eingeschrieben. Es folgt immer etwas. Jedwedes Geschehen ist potentiell symbolisch, wie jegliches Verhalten potentiell gestisch ist. Komplexeres ist gleichwohl nur da möglich, wo nicht 50 Ebd. S. 560. 51 Ebd. S. 47. 52 Ebd. S. 146.

6.4 Etwas und Etwas treten auseinander

nur punktuelles Verhalten oder Dinge, die stets als selbst ereignishaft zu begreifen sind, sondern ganze Geschehenssequenzen, Relationen, Eigenschaften oder Dinge Generalisierung erfahren, indem mit Dingen wie Gesten auf diese Bezug genommen wird. Das Geschehen des alltäglichen Lebens ist von Gesten, vielfach Gerede – von Marken anhand derer sich Einheiten bilden – begleitet und durchsetzt, mit denen aus ihm auf es Bezug genommen wird. Ganz praktisch, indem etwa nach etwas gegriffen und parallel dieses Greifen kommentiert wird. Die Komplexität seiner Vollzüge wird so erst möglich. Bemerkenswert ist, dass aus Verweisungen auf Verweisungen mit Dingen, Gesten oder Zeug, die in ihnen stehen, Bezug genommen und verwiesen wird. Erst aus der Möglichkeit solcher Selbstreferentialität lässt sich letztlich im hergebrachten Sinne sprechen. Aus ihr erst lässt sich etwas negieren. Generalisierungen erfahren wechselseitig Generalisierung in einem Horizont babylonischer Verschachtelungen und Staffelungen. Die Relationen des Etwas für Etwas können ausdrücklich werden. Die Bezüge geben im Grunde sich, insofern stets etwas anspricht. So lässt sich mit Sein und Zeit sagen, „das Zeichen ist nicht nur zuhanden mit anderem Zeug, sondern in seiner Zuhandenheit wird die Umwelt je […] ausdrücklich zugänglich. Zeichen ist ein ontisch Zuhandenes, das als dieses bestimmte Zeug zugleich als etwas fungiert, was die ontologische Struktur der Zuhandenheit, Verweisungsganzheit und Weltlichkeit anzeigt“.53

Dem Heidegger Exegeten springt dabei ins Auge, dass in Sein und Zeit von Ausdrücklichkeit sonst nur im Kontext der Rede als verstehender Auslegung gesprochen wird. Das Zuhandene kommt, § 32 zufolge, in der Auslegung ausdrücklich in die verstehende Sicht. Dieses ausdrücklich Verstandene steht in einer Struktur des Etwas als Etwas. Das in der Auslegung Genannte oder Gemeinte ist so als Etwas verstanden. Die Struktur der Ausdrücklichkeit, in der ein Verstandenes steht, macht dieses als aus, ohne an Sprache gebunden zu sein. Das Etwas, das für Etwas steht, muss demnach keineswegs ein Ausdruck im Sinne eines Begriffs sein. Mehr noch, es kann fälschlich oder mit der Absicht zu täuschen verwendet werden. Orientierung ist untrennbar mit Desorientierung und Verstellung verbunden. Die fortwährend praktizierte Möglichkeit des Lügens, von sich ergebenden Widersprüchlichkeiten, von Erwartungen, die enttäuscht werden oder ins Leere laufen, schreibt sich genauso aus dem Geschehen ein. Zeichen wären, in luhmannscher Terminologie, beobachtbare Indikatoren in und für Welt. Wer sie versteht, hat die Möglichkeit der Desorientierung erfahren.

53 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 82.

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In einer verstehbaren Welt sind derartige Vielschichtigkeiten immer schon gegeben. Entsprechend wäre einsichtig, wie Heidegger behaupten kann, die Als-Struktur des Verstandenen sei in gewisser Weise schon vor der thematischen Aussage über es gegeben, und werde in dieser lediglich ausgesprochen oder eben aufgezeigt. Sie konstituiert sich im Ereignen; in den Vollzügen der Bedeutsamkeit und erfährt in diesen aus diesen Ausdrücklichkeit. Was immer Gesten oder Ereignisse insofern bedeuten, sie tun es aus dem begabenden Ereignen heraus. Pragmatik und Semantik greifen untrennbar ineinander. Die Struktur ist temporal wie materiell niedergelegt. Aus ihr ermöglichen sich Bezug und Ausdrücklichkeit. Im Anschluss an Sein und Zeit würde aus ihr, aus impliziten Verweisungen – alles Seiende steht in Verweisungsbezügen – explizit, zeichenhaft ausdrücklich erschlossene Verweisungen. Wobei das Prinzip der Verweisung, demzufolge das Verwiesene aus seinem Verwiesen-Sein, von dem her worauf es verweist – bei Heidegger Dienlichkeit oder Bewandtnis – bedeutet, ist, was es ist, bestehen bleibt. Mit Derrida: Bedeutung wird nur möglich sein, wo ein gegenwärtiges Element sich konstituiert durch die Beziehung zu dem, was es nicht ist. Dies geschieht in der Wahrnehmung. Einmal entsprechend begabt, lässt sich eine Geste nicht mehr nicht als solche wahrnehmen. Eine Sprache, die verstanden wird, lässt sich nicht nicht verstehen. De Saussure deutet diesen Umstand mit seiner Beschreibung des Laut-Gedankens an. Es lässt sich nicht intentional hinter eine einmal geschehene Begabung zurücktreten. Bestimmt Luhmann etwas oder fragt Adorno danach, was eine Bank eigentlich ist, um das Beispiel wieder aufzugreifen, nehmen sie mit ihren Bestimmungen vielleicht Bezug auf etwas Bestimmtes, rufen mit ihnen aber einen, je meinigen, Verweisungs- oder Sinnhorizont wach. Das Exempel der Negativen Dialektik zeigt, wie unmittelbar sich Sinn erschließt. Intendiertermaßen wird noch nicht einmal klar, ob von einer Sitzgelegenheit oder einem Geldinstitut die Rede ist, und trotzdem stellt sich, so oder so, Bedeutung ein. Nicht anders als Heideggers Hammer wäre ein Wort, wäre, was immer auch als symbolisch wahrgenommen wird, aus seiner Verwiesenheit, seinem um-zu, was es ist. Es wird aus Wiederholung und Verallgemeinerung, aus seiner Temporalität heraus, in einer Situation, entdeckt, ohne zu sein, worauf es verweist. Etwas und Etwas treten dabei auseinander und erfahren jeweils Prägnanz. Eine Bank ist das eine, ihr Begriff, die für sie verwendete Geste, ihr Wort, das Geräusch oder die Skriptur etwas anderes. Es kann keine Ontologie der Zeichen geben und dennoch geschehen Verweisungen auf Verweisungen in der jeweilig sich ereignenden Welt, in die ein Individuum hineinwächst, in denen es sich als solches überhaupt erst konstituiert, immer schon. Voraussetzung hierfür ist, dass die Medien – soll der Begriff verwendet werden – der Bezuggabe selbst etwas sind, während sie, weil sie selbst etwas sind, mit dem, worauf sie verweisen, von

6.4 Etwas und Etwas treten auseinander

dem her sie bedeuten, nicht durcheinandergebracht werden. Damit etwas anhand eines Zeichens zugänglich werden kann, sich thematisieren lässt, muss die Als-Struktur dabei in gewisser Weise immer schon gegeben sein. Die Strukturen der Verweisung sind insofern aber auch egalitär. Alles sich Ereignende steht, sobald es aufweisbar ist, vorab in ihr. Es lässt sich weder aus seiner mitgängigen ausdrücklichen Aufgewiesenheit schälen, noch auf diese reduzieren. Der sich entfaltenden Verweisungskomplexität lässt sich nicht entziehen. Sie geschieht, begabt, schreibt sich ein. Die Begabung zu symbolischer Orientierung, zu Sprache – im erweiterten wie engeren Sinne – erfolgt imperativisch. Aus dem Geschehen wird auf Geschehen Bezug genommen und in Verweisungen verortet. Die soziale Welt ist voll von Ereignissen, die auch oder in erster Linie Orientierung leisten. Ein umfassendes Gespinst von Relationen quasi, in dem alles mit allem zusammenhängt. „Verweisungsganzheit“ oder „Sinnhorizont“ fassen dieses begrifflich. Es geschieht permanent, während die verhaltensmäßige Partizipation an ihm gewissermaßen erzwungen ist. Erschließen sich erste Laute, Gesten, Zeichen als sinnvoll, als redundant also, vermehren sich entsprechend die Informationen, die das Ereignen der Welt bereithält. Aus ihrer Verwendung, der Anderer und der eigenen, ermittelt sich aus dem Geschehen weiteres Geschehen als sinnvoll. Es kommt zu einem erosionsartigen Informationsabbau, aus dem sich immer weitere Markierungen erschließen, die nur weitere und mehr Informationen eröffnen. Diese Dynamik geschieht aus der ganzen Fülle der Welt. Daher ist es auch nicht möglich, explizit kommunikative Zeichen, nicht beabsichtigtes und dennoch mitteilsames Verhalten sowie allgemein Zeichen, möglicherweise sogar natürliche, für etwas anderes, ohne immanente Widersprüche zu definieren. Die Welt, ihre Erzählung, ihre Praktiken und Vollzüge oder ihre Dinge und Relationen sind ineinander. Jeder Versuch, ein oder einige transzendentale Medien ihrer Vermittlung ausmachen zu wollen, muss scheitern. Alles Seiende, inklusive solcher materiellen Ereignisse, die als Medien Ausdrücklichkeit erfahren, steht in Verweisungsbezügen, letztlich in einem gemeinsamen Horizont, und ist aus seiner Verwiesenheit heraus, aus dem Sinn, den es appräsentieren, was es ist. Wird eine Dichotomie verwendet, die hier letztlich ausgehebelt werden soll, so ließe sich sagen, zu den Erzählungen gehören die Dinge wie zu den Dingen ihre Erzählung. Einmal entsprechend begabt, hören wir, um ein Beispiel Heideggers aufzugreifen, keine neutralen Geräusche oder Lautkomplexe, sondern „den klopfenden Specht, das knisternde Feuer […] Motorräder und Wagen“.54 Mehr noch, wer aus Interesse oder beruflich etwa mit Autos zu tun hat, hört mitunter sogar, um was für ein Fahrzeug es sich handelt: um einen 54 Ebd. S. 163 f.

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„Adler-Wagen“ oder einen VW-Käfer vielleicht.55 Der Mechanismus, nach dem sich mit jedem Ding oder Vollzug unweigerlich ein Verweisungshorizont auftut, ist derselbe, der auch Gesten oder Zeichen formt und sein lässt, was sie sind. Von wo aus sollte entschieden werden ob, um willkürliche Beispiele aufzugreifen, die Fassade einer Bank, ein Porsche oder sonst irgendetwas, aufgezeigtes Seiendes oder zeichenhaftes Seiendes sei? Die Frage wäre lediglich, wo in den Verweisungsinterwall eingestiegen wird. Im Ereignen konstituiert sich aus ihm etwas, was als Schema aufgefasst werden kann – mit der Tendenz zur Entfaltung immer weiterer. Die Rede davon, hiermit käme es zu einem „Sündenfall“, von nun an sei „die Fülle des Seins“ nie wieder zu erreichen,56 wäre kaum mehr als Effekthascherei. Tatsächlich steigert sie sich immerzu mit der Menge an Informationen, die sich abzeichnen können, als auch, ganz konkret, den Entäußerungen, die in die Welt abgesondert werden. Es ergeben sich bedingende Strukturen der Ermöglichung. Jenseits ihrer ermöglicht sich gar nichts; wäre kein Sein. Erst einer begabten Wahrnehmung, der sich Bezüge scheiden, ist Irgendetwas. Die Vorstellung einer vorgängigen Seins-Fülle bedient sich eines naiven Seins-Begriffs. Die differentiellen Kategorien der Wesensformen, wie sie die strukturalistische Theorie herleitet, werden sich erst herausbilden müssen. Derrida hingegen, dem Luhmann diesbezüglich argumentativ sehr nahe steht, übernimmt von Heidegger das Paradigma der Sprache – einer voll konstituierten Sprache, deren individuelle Konstitutionsbedingungen beide nicht explizieren –, um es uminterpretiert unter dem Titel Schrift als seins-bestimmend auszuweiten. Auch wenn „die moderne Linguistik insgesamt einer klassischen Begrifflichkeit verhaftet bleibt […], so kann, was in dieser Linguistik die Einheit des Wortes überhaupt dekonstruiert, nicht mehr nach dem Modell der Heideggerschen Frage […] als ontische Wissenschaft […] umschrieben werden“.57

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Das Argument ist, wenn Differentialität das Wort bzw. das Zeichen konstituiert, seine Einheit also dekonstruiert, dann ist das strukturale Prinzip dem Zirkel ontischer Wissenschaften enthoben. Derrida maßt sich insofern an, einen Standpunkt außerhalb ontischer Verstrickungen beziehen zu können. Er gaukelt vor, es ließe sich in irgendeinem Prinzip gesichert Halt finden. Schon formal ist dieser Schritt verfehlt. Er scheidet die derridaschen Reflektionen in Tiefe und Aufrichtigkeit von denen Heideggers, der 55 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 10. 56 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 328. 57 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 40.

6.5 Gegen-Wart

die Fundamentalontologie als dem ontischen verhaftet zu entfalten versucht. Aber auch inhaltlich ist sie außerordentlich fragwürdig. Differenzen werden keineswegs Voraussetzung für Bezuggaben sein können, sondern müssten sich in Bezügen als Oppositionen herausbilden. Der blanke Umstand, dass im Zuge der Zeichenbegabung gar nicht genügend Zeichen zur Verfügung stünden, um ein Gefüge negativer Relationen bilden zu können, müsste Differentialität als Ursprungsprinzip ausschließen. Am Anfang steht Positivität, stehen vorgängige Bedeutsamkeiten, die als bedeutend erst in sich kontrastierende Relation geraten müssen und nicht Negativität. 6.5 Gegen-Wart Die Kontingenz des eigenen Verhaltens ist Teil der Komplexität der Welt. Jenseits von ihr wäre, so die hiesige Überlegung, die selektive Konditionierung von Reduktionen unplausibel. Der Gedanke ist – nicht zuletzt deshalb war es wichtig, gestisches Verhalten aus der Perspektive des sich Verhaltenden in die Überlegungen einzubeziehen –, dass erst die ‚Verwendung‘, Absonderung oder Hervorbringung von Zeichen ein ‚Hier‘ in Differenz zum ‚Dort‘ konstituiert. Um es sehr plakativ zu sagen: Es macht einen Unterschied, ob das Läuten einer Glocke, wie bei Pawlows Hund, mit einer Erwartung verbunden ist, oder die Glocke selbst geläutet wird. Antwortet das Dasein mit gestischem Verhalten aus einem Geschehen auf es, konstituiert es ein Ereignis im Ereignen; eine Verweisung in Verweisungen. Die Gegenwart des Mediums der Bezugname wird dabei nicht ausgelöscht, noch mit dem, worauf es antwortet, durcheinandergebracht. Etwas und Etwas treten auseinander. Die Überlegungen kehren zu der luhmannschen Annahme, dass sich Gegenstände mit ihrem Intendiert-Werden konstituieren, zurück. Und in gewisser Weise stimmt das sogar. Allerdings anders als in Soziale Systeme dargelegt, schon weil das Paradigma der Intentionalität nicht zu halten ist. Luhmann lässt die Performanz seiner eigenen Äußerung unberücksichtigt. Nicht zuletzt hierein liegt das Ungenügen der hermeneutischen Perspektive. Sinn wirkt für ihn differenzierend, „‚dies‘ und ‚anderes‘“,58 und konstituiert so die Sachdimension der Welt. Mit Sinn wäre gleich auch Objektivierung gegeben. Ein Gegenstand als solcher wird jedoch erst dort prägnant werden, wo er entgegensteht, quasi aus dem Ereignen ragt. Die Gegenständlichkeit von Gegenständen liegt nicht in ihrer Materialität – alles Ereignen ist materiell –, sondern darin, aus antwortender Bezugnahme bzw. -gabe entgegen zu treten, für jemanden, jeweils uns. Notwendig ist es, sich zu erinnern, dass Wahrnehmung als entäußert gedacht wurde. Aus der Bezeichnung erst kommt der Gegenstand als sol 58 Ebd. S. 114.

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cher in seiner Gegenständlichkeit entgegen. Das ist ein bisschen geheideggert, lässt sich aber auch anders sagen. Eine Sach- oder Objekt-, aber auch Zeit- und Sozialdimension bildet sich heraus, wo bezeichnend auf Dinge, Vollzüge, Personen oder Eigenschaften Bezug genommen wird und zwar nicht, weil so etwa die Stofflichkeit der Welt konstruiert würde, sondern weil sich im Bezug der Ort, von dem aus Bezug genommen wird, das Gegen, begründet. Das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Bezeichnung und Bezeichneten konstituiert in der Bezeichnung den sich in ihr konstituierenden Bezeichnenden. Derselbe Mechanismus, der die Welt sich, in einem Feld wahrnehmungsmäßiger Verweisungen, artikulieren lässt, lässt das, was sich artikuliert, als solches, in einem Feld von Verweisungen prägnant werden und scheidet einen „Bezugsort“ von sich ab. Wieder kann dieser Vorgang nur als ein intentionsloser gedacht werden. Kein Jemand oder Subjekt entscheidet sich dafür, sich eine gegenständliche Welt begegnen zu lassen. Aus der leiblichen und damit verhaltensmäßigen Indifferenz mit Welt differenziert sich ein Verhältnis zu ihr. Das wird nicht mit einem Schlag passieren. Es ließe sich vielleicht vorstellen, die Richtung der Wahrnehmung wende sich allmählich, mit verhaltensmäßigen Bezeichnungen aus der Richtung mit dem Vollzug, aus ihm auf ihn und konstituiert einen Aufschub im Strom des Ereignens, der eine Position zu ihm mitführt. Jegliches Erleben lässt sich dabei weiter als antwortend rekonstruieren, auch das des expliziten Bezugnehmens. Aus der Verschränkung von Wahrnehmung und Verhalten folgt bereits, dass sich aus der Welt, in ihr, ein Verhältnis des Leibes zu ihr ergibt. Insofern Gesten Körperverhalten sind, lässt sich erneut nur ein allmählicher, gradueller Übergang hin zu ihrer Verwendung annehmen. Mit der expliziten Handhabung von Zeichen ist dennoch eine Zäsur auszumachen, von der aus sich die Welt, die wahrnehmungsmäßig ohnehin gegeben ist, umwelthaft, gegenständlich, aber auch mit Anderen bevölkert, die anhand ihres Verhaltens begegnen, gibt. Ist dabei von Verhältnissen der Wechselseitigkeit, der Reziprozität, des aneinander Konstituierens die Rede, so sind es eben diese Begriffe, deren Sachverhalt Luhmann in Bezug auf soziales als „Problem der doppelten Kontingenz“ fasst.59 Reziprozität sei ein „Sonderfall von Konditionierung: Die Leistung des einen wird unter der Bedingung der Gegenseitigkeit von der Leistung des anderen abhängig gemacht – also doppelte Kontingenz reduziert auf doppelte Konditionierung“.60 Der Ansatz, Wahrnehmung wie Verhalten als vom Ereignen begabt zu verstehen, lässt sich anhand von Verhältnissen doppelter Kontingenz begreifen. Erwartungen wurden als sich konstituierend aufgefasst. Die reziproke Relation von Redundanz und Information ist eine mögliche, aber nicht not 59 Ebd. S. 153. 60 Ebd. S. 186.

6.5 Gegen-Wart

wendige. Es ist weder willkürlich noch notwendig, was sich dem Behalten einprägt, wäre also stets auch anders möglich gewesen. Es hat sich aber so, wie es sich eingeprägt hat, eingeprägt und zwar als Voraussetzung dafür, dass sich weiteres mögliches, aber nicht notwendiges Geschehen abzeichnet. Hierin begründet sich die wahrnehmungs- wie verhaltensmäßige Weltoffenheit. Die Begabung ist Resultat eines nicht notwendigen Geschehens, wie in ihrer Ausprägung nicht notwendige Bedingung, damit sich ein immer feiner abhebendes Geschehen geben kann. Es entfaltet sich ein Verhältnis reziproken Bestimmt-Seins, das in seiner Gegenseitigkeit auf eine leibliche Indifferenz mit dem Ereignen zurückzuführen ist. Mit Reduktion hat das nichts zu tun. Vielmehr wird die qualitative Fülle dessen, was sich ereignet erst zugänglich und bedeutend. Von hier aus bestimmt sich, was als notwendig oder unmöglich erwartet wird. Die Selbstreferenz eines Individuums, des Daseins vermittelt sich fortwährend über seine unmittelbar wahrnehmungsmäßig sich gebende Umwelt, aus der es sich bezugnehmend verhaltensmäßig abscheidet. Was Luhmann als Unterbau voraussetzt, ist nicht einfach hochkomplex, sondern die eindrückliche Welt. Damit das, was er als wechselseitiges Beobachten fasst, möglich ist, muss es nicht einfach ein nicht näher bestimmtes Mindestmaß an Kenntnissen geben, sondern ein wahrnehmungsmäßiges Weltwissen, aus dem ein Gegenüber überhaupt verständlich sein kann. Dieses Wissen ist in seiner unhintergehbaren Selbstverständlichkeit völlig unauffällig, beinhaltet aber tatsächlich, was sich als Sinnhorizont der widerfahrenen Welt auffassen lässt. Selbst wo angenommen sein soll, Verstehen sei aus der Differenz von Alter und Ego letztlich gar nicht möglich, setzte noch das wechselseitige Missverstehen ganz implizit voraus, dass auch der Andere die Erfahrung teilt, leiblich in Welt eingebettet zu sein. Diese Begabung, Sinn, generiert niemand aus sich. Ohne das eindrückliche Ereignen, aus dem sein Dasein hervorgeht, ist niemand. Das, was sich als Umwelt abzeichnet, hat es erschaffen und erschafft es momentan. Es ist das unverfügbare, sich gegenwärtig Ereignende, aus dem jeder Einzelne auf sich zurückkommt. Die Behauptung, dass „wir“ erst aus den Massenmedien wüssten, was wir über die Welt wissen, schneidet das Wissen, das wir von Welt haben müssen, um Medieninhalte lesen zu können – aus und an dem diese erst sind –, ab. Die Komplexität der Welt, zu der Medien gehören, artikuliert sich in jeweils uns. Es wäre auch uneinsehbar, warum das Objekt als wissenschaftlich erforschbares in seiner Eigenständigkeit aus Interaktion mit ihm seine, wie auch immer begrenzte, Erkenntnis zulassen sollte – wie zum Ende von Soziale Systeme angedeutet –61 ihm im Alltäglichen diese Eigenständigkeit aber nicht zukäme. Die Zeichen oder Begrifflichkeiten sei 61 Vgl. Ebd. S. 657 f.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

ner Aufzeigung oder Deutung sind selbst Objektivitäten, die sich im Ereignen aus ihm für jeweils uns generieren. Als aus ihm hervorgegangen sind sie ihm gegenüber damit tatsächlich notwendig minder komplex. Sie sind und bleiben aber Teil von ihm, stehen selbst in einem doppelt kontingenten, in einem produktiven Verhältnis zu dem, worauf sie verweisen. Der Wesenstypus von Etwas konstituiert sich jeweils in einem solchen Verweisungshorizont, ohne dass das Unmittelbare in seiner Gegen-wart dabei abhanden käme. Vielmehr stehen notwendig Momente der Unmittelbarkeit, auf die Antwort erfolgt, aus der die Möglichkeit zu antworten resultiert, im Zentrum von Gegen-wärtigkeit. Wesen und Typik sind miteinander amalgamiert; ergeben sich in Prägnanz, wo das Dasein, anhand von Verhaltensverweisen, die es nicht mit dem, worauf sie antworten, verwechselt, sich bezugnehmend von etwas differenziert. 6.6 Gegenwart und Bewusstsein

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Die Frage, was Gegen-stände und ihre Gegen-wart bedingt, führt auf das Bild eines Geschehens, in das das Dasein, der Mensch, das Individuum jeweils hineinwächst, in und aus dessen Vollzügen es räumlich, zeitlich wie sozial (um diese ja lediglich heuristische Aufteilung beizubehalten) verortet wird. Es wird hineingezogen in Semantiken, in Konstellationen von Markierungen, die sich ihm unwillkürlich, aus seiner nicht abweisbaren Partizipation am Geschehen auftun. Faktisch spielen verbale Semantiken in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Rolle und das wohl vor allem, weil sie sich als Verhalten der Bezugnahme ‚leicht‘ hervorbringen lassen (die Hände sind gewissermaßen frei) – ohne aber auch nur ansatzweise allein bestimmend zu sein. Bedeutsamkeiten werden „das mögliche Sein von Wort und Sprache“ fundieren – um Heidegger zu wiederholen – und doch ist das,62 was die Rede nennt, was sich anhand von Marken auftut, mit dem Wesen dessen, was da ist, als einem Benanntem oder Aufgezeigten verstrickt. Sprache wäre weder aufgestockter, noch extrahierbarer oder isolierbarer Teil der Bezüge der Bedeutsamkeit. Jede Anstrengung, die Konstitution der Komplexität von Welt anhand einfacher Kausalverhältnisse in irgendeiner Richtung ableiten zu wollen, führt in die Irre. Vielmehr entfaltet sich ein multiples, auch mediales, kommunikatives oder zeichenhaftes Verweisungsgefüge. Kein singulärer Aspekt von Welt aber kann zum Konstituens von ihr erklärt werden. Es ergibt sich eine Formation, in der sich gleichwohl je nach temporal wie situativ konstituierendem Kontext, Dinge – im weitesten Sinne – die sind, was sie bedeuten und Dinge, die nicht sind, was sie bedeuten, wechselsei 62 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 87.

6.6 Gegenwart und Bewusstsein

tig bedingen und voneinander scheiden. In diesem Geflecht erscheint ein Teil des Gefüges als „Gestell“ oder „Gestell“ – Heidegger nennt den Begriff im Kontext von Kunst wie von Technik – als dinglich-manifeste Strukturierung des „Her-vor-bringens“ oder „Her-vor-ankommen-Iassens“.63 Die Struktur der Erschließung von Welt ist in ihre Dinglichkeit eingelassen. Das Ge-stell bestimmt die Stellung oder Positionalität, aus der das Dasein auf sich käme, insofern es sich an ihm befestigt, von ihm differenziert. Die Bewegungen der Orientierung und der Differenzierung der Gegen-wart verlaufen simultan. Spricht Luhmann von Gegenwart, tut er dies im Rahmen einer Zeitsemantik, der die Gegenwart als Punkt des Umschlagens von Vergangenheit in Zukunft erscheint. Diese Semantik ist für seine Konzeption von erheblicher funktionaler Bedeutung, insofern sie eine zu bewältigende Irreversibilität in Bezug auf die Vergangenheit und Unsicherheit in Bezug auf Zukunft erzeugt und so den Aufbau sozialer Komplexität vorantreibt und immer weiter beschleunigt. Soziale Systeme thematisiert gleichwohl, dass sich ein solcher Begriff von Zeit historisch hat konstituieren müssen und dass etwa im Mittelalter auch andere Zeitvorstellungen dominierten. Auch die Zeit als solche ist demnach Ergebnis soziokultureller Evolution. Die Gegenwart hat sich dabei vom Gegenwärtigen, „von der Bindung an das unmittelbar Erfahrbare gelöst, sie streift allmählich auch die Zuordnung zur Differenz von Anwesendem und Abwesendem ab, sie wird zu einer eigenständigen Dimension, die nur noch das Wann und nicht mehr das Wer/Was/Wo/Wie des Erlebens und Handelns ordnet“.64 Die Sinndimension Vergangenheit/Zukunft ist danach eine vom Anwesenden abgeleitete Abstraktion. Hierin liegt unter anderem die Schwierigkeit, Zeit als Dimension vorauszusetzen. Ihre Dimensionalität steht im Zusammenhang ihrer Markierungen. Die Einheit des Symbolisierten wird erst durch seine Symbolisierung erzeugt. Bei aller Vorsicht erweist sich Heideggers Auffassung von Gegenwart, zumindest in Aspekten, als mit der Luhmanns kompatibel. Sie setzt ihren Schwerpunkt freilich in entgegengesetzter Richtung. Heidegger denkt Gegenwart vom Anwesen des Anwesenden her. Gegenwart nicht als Zeitpunkt aufzufassen, ist grundlegend für seine Argumentation. Zukunft meint im Konzept der Zeitlichkeit – wie bereits erörtert – etwas völlig anderes als bei Luhmann, nämlich das (auf jeweils mich zu)Kommen des Gegenwärtigen. Heidegger bindet diesen Ansatz in die Semantik von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ein. Wo das Dasein, in den Dimensionen von 63 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 72. Vgl. Ders. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 19. 64 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 116.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

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Vergangenheit und Zukunft, aus seinen Besorgungen mit der Zeit rechnet – eine solche Zeit wäre als objektivierte zu begreifen –, ist es mit einer Art verstümmelten Gegenwart konfrontiert. Heidegger spricht hier vom „Gewärtigen“.65 Die uneigentliche Zukunft habe den Charakter des Gewärtigens, die erst als eigentliche Gegenwart zum Augenblick wird. Übereinstimmung mit Luhmann besteht gleichwohl darin, dass Gegenwart mit dem Anwesenden verknüpft ist. Jenseits eines Ereignens, das sich erst an den Eindrücken seines Wandels abzeichnet, ist keine Zeit. Wie diese zu fassen ist, kann gleichwohl nicht festgelegt sein. Stets provoziert sich eine negative Lesart. Zeit konstituierte sich, wie alles andere auch, im Modus ihrer Aufweisung. Das Abhandenkommen des unmittelbar Gegenwärtigen ergibt sich als Effekt einer spezifischen Zeitsemantik, die stets auf anderes verweist. Im Sinne einer Gegenwartsdiagnose kämen beide Autoren überein. Was anwesend ist, ist nach Luhmann das unmittelbar Erfahrbare, sind Objekte, aber auch Personen und Personengrupen. Mit der seienden, der umwelthaft gegenständlichen Welt verbunden ist dabei bereits der Dualismus von innen und außen, den Soziale Systeme als Aggregation von Verweisungen in Form von Horizonten mit jeweiliger Binnendifferenzierung fasst. Dem Prinzip nach greift die duale Maxime aber für sämtliche Doppelhorizonte der Sinndimension. Luhmann schreibt: „Der Horizont ist keine Grenze, man kann ihn nicht überschreiten. Irgendwann muss man umkehren, und der Gegenhorizont gibt dafür die Richtung an“.66 Normalerweise scheut sich Luhmann nicht vor Ausführlichkeit, hier bleibt er sie schuldig. Ist innen/außen gar keine Grenze, sondern ein Übergang und warum sollte sich dieser, sofern dies so ist, dennoch nicht überschreiten lassen? Die System-Umwelt-Differenz des psychischen Systems, sowie Vergangenheit/Zukunft und Ego/Alter wären diese Grenzen. Bewusstsein konstituiert sich, Soziale Systeme zufolge, dadurch, dass es mit Vorstellungen operiert und so erst eine Differenz zur Umwelt schafft. Wie sollte es auch anders sein? Ebenso ist die Dualität von Vergangenheit und Zukunft, als auch die von Ego und Alter, nur anhand derartiger Sinnhorizonte. Die jeweiligen Grenzen ziehen sich erst. Welche Sinnformen Bewusstsein „verwendet“, wird Ausschlag darüber geben, ob es etwa den Leib von sich abscheidet oder Aspekte seines sozialen oder ökologischen Umfelds miteinbezieht. Wie erörtert, können Wahrnehmungen dabei nicht als Vorstellungen begriffen werden. Qua ihrer konstituiert sich auch nicht schon eine Umweltdifferenz. Stattdessen sind Vorstellungen als simulierte bzw. reaktualisierte (und rekombinierte) Wahrnehmungen zu begreifen. Die Erfahrung, 65 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 337 f. 66 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 114.

6.6 Gegenwart und Bewusstsein

mit dem Kopf zu denken, ist schließlich nicht auf den Sitz des Gehirns im Schädel zurückzuführen, sondern darauf, dass Laute oder Seheindrücke dort „simuliert“ oder besser wachgerufen werden, wo ihre Wahrnehmung stattfindet. Die nicht visuelle, sondern leibliche Vorstellung, etwa in einen Nagel zu treten oder eine Schwimmbewegung zu vollziehen, verortet sich nicht im Kopf, sondern im Fuß bzw. im gesamten Körper. Das Denken in Worten simuliert Geräusche und ruft Sinnhorizonte wach. Der Übergang zwischen lautem, halblaut gemurmeltem und stummem, nur vorgestelltem Sprechen ist fließend. Das Erstaunliche dabei ist, dass Vorstellungen auf Vorstellungen antworten und sich eine Instanz konstituiert, die sich als denkendes Bewusstsein erfährt. Nicht anders lässt sich aber auch im Visuellen, Kinetisch-Taktilen oder in Melodien denken. Wollte Bewusstsein, in dem Versuch seine eigentliche Wesenssubstanz zu bestimmen, was immer sich auf Wahrnehmungen, seine Verstricktheit in Welt zurückzuführen ist, von sich als fremd abscheiden, löschte es sich aus. Es existiert in einem Gefüge räumlich-zeitlich-sozialer Objektivationen – das zumindest scheint die Konsequenz – aus denen es auf sich kommt. Nach Heidegger stehen Prozesse der Objektivierung im Zusammenhang mit der ausdrücklichen Endeckung des Seienden als solchem in zeichenhaft sprachlichen Bezügen – so lässt sich aus seinen Erläuterungen zu Zeichen und Verweisung schließen. Explizit spricht Sein und Zeit erst im Kontext wissenschaftlich theoretischen Verhaltens wieder von Objektivierung. Objekt ist demnach etwas, das als Vorhandenes thematisiert und so entdeckt wird. „Die Thematisierung objektiviert“,67 so die Überlegung. Grundsätzlich fasst Heidegger das In-der-Welt-sein als unthematisches „Aufgehen in den für die Zuhandenheit des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen“.68 In dieser Form ist Welt vertraut. Die Thematisierung modifiziert jenes bereits bestehende Seinsverständnis – und das anhand der Rede, die als konstitutiv für die Erschlossenheit des Daseins bestimmt wird. Die Verständlichkeit des In-der-Welt-seins gliedert sich in Form des Redens über etwas als Thema von Aussagen. Tatsächlich wird es ein unthematisches In-der-Welt-sein nicht geben, da die Vollzüge und Verweisungen, in denen das Zeug erst ist, was es ist, in denen aber auch ich und die Anderen erst sind, was sie sind, in denen ebenfalls die Zeit erst ist, was sie ist, sich jenseits ihrer Markierung nicht organisieren könnten. Was in diesem Ganzen Marke und was Objekt ist, verwehrt sich ein letztes Mal einer ontologischen Bestimmung. Vielmehr ergäbe sich ein Gefüge positionaler Fluktuation, wechselseitiger Unselbstständigkeit und jeweiliger Erwartung. Sein und Zeit sagt es an verschiedenen Stellen, das „‚Als‘ gründet wie Verstehen und Auslegungen überhaupt in der ekstatisch-horizontalen 67 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 363. 68 Ebd. S. 76.

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Einheit der Zeitlichkeit“.69 Die Ekstasen der Zeitlichkeit sind der Kontrolle des Bewusstseins entzogen, insofern sie es begründen. Und in diesem Sinne ist Transzendenz, wie es bei Heidegger heißt, Voraussetzung für Objektivierung, die sich jedoch mit jener erst konstituiert. Wie Sprache in diesen Horizont eingebunden ist, erläutert er, wie bereits bemängelt, nicht. Ist Sinn jedoch als wahrnehmungsbasiert begriffen, lässt das nur den Schluss zu, dass sich das Jenseits der Hermeneutik im Diesseits begründet. Transzendenz meint ein jenseits der Erfahrung des Gegenständlichen Liegendes, dass sich an Widerfahrnissen konstituiert und (sich) so (aus) Gegen-ständlichkeit hervorbringt. Es geht nicht um das Überschreiten der Grenzen des Diesseits, sondern die Konstitution jener Grenze in ihm, von der aus die diesseitige bewusste Erfahrung der sinnlichen Welt möglich wird. Das Differenzverhältnis von Subjekt und Objekt entfaltet sich in jeweiligen Konstellationen von Performanzen und Materialitäten. Dieses Jenseits der Erfahrung ist überhaupt nicht jenseits, sondern inmitten von Diesseitigkeit, in dem sich eine Mitte oder ein Spalt des Da-seins auftut. Es hat etwas mit dem zu tun, was im Weiteren als mediale Reflexivität aufgezeigt werden soll. Dabei ist selbst das Sinn ermöglichende Behalten nicht gänzlich verborgen, sondern in Form von Erwartungen erfahrbar. Die „Konturen des Sinnvollzugs“ sind, insofern sie sich an der Materialität des Ge-stells kontrastieren, mitbeobachtbar.70 Das was als Jenseits erscheint, ist das nächste, das jeweils sich im Bezeichnen gegebene Individuum, oder auch Dasein, Bewusstsein oder Subjekt. Dabei ist die Welt des alltäglichen Daseins, Heidegger folgend, seine, nicht in einem primär räumlichen Sinne gemeinte, Umwelt. Auch der Raum erschließt sich, nicht anders als alles andere auch, im Horizont der Zeitlichkeit als daseinsmäßige Räumlichkeit. Er ist nicht vorhanden, sondern die Räumlichkeit vielmehr von Zeitlichkeit umgriffen. Heidegger spricht von „Ent-fernung und Ausrichtung“.71 Nur weil das Dasein geistig sei, so argumentiert Sein und Zeit § 69 c, könne es räumlich sein. Dieser Geist hat seine Basis jedoch im Eignen des Ereignens, im SichEreignen von Leib und Welt. Die Transzendenz des Geistigen ist keine Voraussetzung im Sinne von etwas Seiendem. Vielmehr werden sich Raum und Geist, Zeit und Geist, die Anderen und ich aneinander entfalten, so dass von Umwelt als räumlicher, zeitlicher und sozialer die Rede sein kann. Der Raum ist immer ein zeitlich-sozialer, das Soziale immer ein räumlichzeitliches, die Zeit immer eine sozial-räumliche – und schon die Dimensionen dieser Zurichtung keine notwendigen. 69 Ebd. S. 360. 70 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 363. 71 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 105, 110 u. 299.

6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen

Das Da-sein hat sein Anwesen in Ausrichtung auf das ihm Anwesende, es ist den Strukturen der Ausrichtung hörig, vernimmt sich erst in seinem antwortenden Verhalten. Die Stellung des Gegen, aus der und in der sich Da-sein verortet, bestimmt sich aus und in seinen Markierungen. Sie setzen es in eine jeweilige Relation zu ihm und so gewissermaßen in seine gegenwärtige Perspektive. Innerhalb der wahrnehmungsmäßigen Umwelt bieten sie Ordnung und Ausrichtung. Aus dem Geschehen konstituiert sich ein Horizont, der keine Grenze ist, so zumindest ließe sich Luhmann deuten, dessen Gegenhorizont dennoch irgendwann zum Umkehren zwingt. Mit der Deutung installiert sich die Grenze, die die Deutung überschreiten möchte. Dass dionysische oder meditative Praktiken, die ein Empfinden der Einheit mit der Welt zu erlangen trachten, in verschiedenster Weise darauf zielen, jegliche Thematisierungen fallen zu lassen, wird kein Zufall sein. Wie umgekehrt Adornos Deutung übermächtiger, das Individuum negierender Verhältnisse, in denen es gelebt wird und in dessen Fremdbestimmtheit es sich erlebt, ebenso ihre Berechtigung zukommt. 6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen Die sich im Diesseits konstituierende Transzendenz lässt keineswegs alles, was in ihrer Gegenwart begegnet, als solches erscheinen. Es hebt sich vielmehr, in der Konstitution dieser ekstatischen Position, eine überbordende Fülle ab, aus der ein infinites Maß an Bezeichnungen möglich wird. Das Andere ist nicht in Gänze Verstellung seiner ‚als solches‘. In-Welt, in einem leiblich indifferenten Sinne, wird an ihm erst Um-Welt, als einem In-der-Welt-sein. Zwar ist jedes Ding potentiell ein Zeichen, was in der Tat „jede natürliche Hierarchie zwischen Signifikanten oder Ordnungen von Signifikanten“,72 wie es bei Derrida heißt, ausschließt; es ist aber nicht Zeichen seiner selbst. Die Vorstellung, mit der transzendenten Positionalität des Daseins sei das Gegenwärtige auch schon vollständig semiotisiert, ist unhaltbar. Die Vielfalt des Umfassenden ist dafür zu gewaltig. Die „als sinnlich bezeichnete Fülle [tritt überhaupt] nicht als solche in Erscheinung“,73 so als ließe sie sich im Ganzen unter dem „als“ ihrer Fülle subsumieren. Wo Etwas als Etwas aufgefasst wird, ist es freilich mit Vorstellungen verbunden. Es ruft Sinn wach und wird insofern in gewisser Weise tatsächlich zu einem Repräsentanten. Das Dasein antwortet aus seiner Geschichtlichkeit darauf mit Erwartungen. Das aber streicht nicht seine andersartig eigenständige Präsenz aus, sondern lässt sie erst hervortreten. Tatsächlich ergibt sich, unter dem Aspekt der Lesbarkeit, eine Struktur, in der nur Zei 72 Derrida, J. (2003). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 78. 73 Ebd. S. 109.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

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chen auf Zeichen verweisen. Diese aber müssen sich lesen lassen. Vor den Verallgemeinerungen, die mit der Eindrücklichkeit des Ereignens bereits einsetzen und sich mit der Herausbildung von Marken fortschreiben, hebt sich das Spezielle, Eigene oder Andere ab. Ist etwa das Lautbild einer verbalen Geste, selbst wo hergeleitet wurde, dass sie sich nicht als Form in Abgrenzung zu anderen Formen, sondern als eigen im Geschehen herausbilden können muss, nicht trotzdem unkörperlich? Die Form, die sich abzeichnet, ist schließlich auffassungsabhängig und ließe sich insofern als eine ideale begreifen. Sie begegnet erst aus der Eindrücklichkeit des Ereignens, konstituiert sich sogar erst aus Relation zu anderem. Sie ist in gewisser Weise nur, insofern sie Sinn reaktualisiert. Das aber befreit sie nicht von Substanz. Form lässt sich nicht von Materialität lösen. Laut und Bild, Ereignis und Artikulation trennen zu wollen, ist schon falsch. Erst an ihrer substantiellen Qualität reaktualisiert sich unwillkürlich, was sich als ihr Bild auffassen lässt. Es zu einem idealen zu erklären, hieße die leibliche Geschichtlichkeit des Daseins zu etwas, von vornherein Geistigem machen zu wollen. Das Gewordensein jedes Einzelnen lässt sich zwar nur erzählen, anhand von Marken rekonstruieren und so immer auch nur erfinden, aber es ist nicht geistig. Es ließe sich sagen, nichts an ihm ist geistig. Seine Transzendenz zündet in Substanz und zwar nicht als bezeichneter, sondern als Überschuss einer materiellen Differenz. Wäre das Andere, bevor man es „als Anderes im Gleichen festhält“, das Gleiche, ließe sich in ihm nichts festhalten. Wo es sich nicht in seiner materiellen Substantialität gäbe, „könnte keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten“.74 Was unter dem Begriff Form zu einer idealen Entität erklärt wird, ist keine, sondern unselbstständig, insofern es erst durch das sich Ereignende auf- oder wachgerufen wird. Was im Akt der Wiederholung Anwesenheit konstituieren soll ist, wie gesagt, nur in Responsivität. Derridas didaktische Überheblichkeit ist geradezu unglaublich: An der Differenz von Laut und Lautbild sei nämlich festzuhalten, um „Verwirrung zu vermeiden“.75 Aus ihrer Verallgemeinerung erst wird Welt im Unterschied zu ihrem Erleben zum psychischen Abbild. An der Grenze zwischen dem Erscheinenden und seinem Erscheinen ist demnach festzuhalten, weil das, was sich ansonsten ergäbe, möglicherweise irritierend, ja beunruhigend sein könnte. Derrida schmuggelt in Heideggers Seinskonzeption einen Dualismus ein, der jener im Innersten zuwiderläuft. Dass das Anwesende in seiner Gegenwart abwesend ist, ist mit jener Dualität gesetzt und keinesfalls hergeleitet. Frei nach Nietzsche ließe sich sagen, wenn jemand selbst etwas hinter einem Busch versteckt, es dann sucht und auch 74 Ebd. 75 Ebd. S. 113.

6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen

findet, so liegt in diesem Suchen und Finden keine sonderliche Erkenntnis. Sinn setzt Gedächtnis und damit Einschreibung voraus. Tatsächlich ist erst aus der Spur der Eindrücke des Ereignens Gegenwart möglich. Nachträglichkeit aber lässt sich nur anhand eines sukzessiven Zeitbegriffs konstruieren, der vom Anwesenden abstrahiert und auch nur unter Voraussetzung eines an-sich-Seienden, das ebenfalls als Abstraktion des Anwesenden zu begreifen ist. Zu beklagen, es sei nicht gegenwärtig, hieße zu bedauern, dass es nicht gibt, was erdacht wurde. Die hiesigen Überlegungen gelangen zu einer ähnlichen Position wie der in Die Stimme und das Phänomen kritisierten, dass nämlich die Verwendung von Zeichen etwas mit der Selbstgegenwart des sie Verwendenden zu tun hat. In der Stimme unterscheidet sich das Bewusstsein in dem Stoff von sich selbst, in dem es ideale Gegenstände konstituiert, so ganz grob der Ausgangspunkt von Derridas Husserl-Interpretation. Ob Husserl angemessen oder zutreffend interpretiert wird, ist an dieser Stelle nicht entscheidend, sondern welche Prämissen Derrida zu welchen Schlüssen führen. Husserl unterscheidet demnach Zeichen in Ausdrücke und Anzeichen – bedeutsame Ausdrücke und anzeigende Zeichen. Gleichzeitig postuliert er, nicht anders als es hier im Grunde genommen getan wird, eine vor-ausdrückliche Schicht des Erlebens in der Wahrnehmung. Erst das „beseelende“ intentionale Erleben entscheidet demnach, ob ein Phänomen als Ausdruck oder Anzeichen wahrgenommen wird. Und in der Tat ist die Unterscheidung Anzeichen/Ausdruck problematisch, da, so wird in Die Stimme und das Phänomen argumentiert, die „Ordnung der Bedeutung überhaupt das gesamte psychische Erlebnis […] nur anzeigende Verkettungen kennt“.76 Insofern sie etwas bedeuten, sind auch Anzeigen, so schließt Derrida nicht zu unrecht, Ausdrücke. Der „Unterschied zwischen Anzeichen und Ausdruck [ist] ein funktionaler oder intentionaler, aber kein substantieller“.77 Soweit ist Derrida zu folgen. Einzuwenden ist, dass Bedeutung damit jedoch noch kein strukturaler Effekt ist, sondern an leiblich sinnliche Bedeutsamkeit gebunden, und das Erleben nur insoweit in eine Ordnung von Verweisungen eingelassen ist. Etwas zuvor heißt es, jenen Gedanken ausweitend, es gäbe „nicht das Recht, zwischen Anzeichen und Ausdrücken wie zwischen nicht-sprachlichem Zeichen und sprachlichem Zeichen zu unterscheiden“.78 Im Ganzen gibt es keine Kriterien, um zwischen Zeichen und (ihren) Gegenständen zu differenzieren. Soweit ist Derrida wieder zuzustimmen. Er folgert jedoch, dass das, was ist, als das, was es ist, demnach psychisch vermittelt sei; 76 Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 43. 77 Ebd. S. 53. 78 Ebd. S. 51.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

anstatt das Dasein durch das sich ihm Gebende vermittelt zu begreifen. In diese Auffassung spielt freilich das Paradigma der Intentionalität hinein. Mit dem Begriff des Phänomens als Kundgabe erneuert Derrida die Differenz zwischen Erlebnis und Artikulation. Die Vermittlung schiebt sich zwischen beide. „Die Kundgabe verkündet das, worüber sie in Kenntnis setzt, und entzieht es zugleich“.79 Der Schluss, dass das, was von der Anzeige nicht ermöglicht wird, von ihr aktiv verwehrt würde, ist natürlich unzulässig. Die Nicht-Gegenwärtigkeit, aus der sich behaupten lässt, „das phänomenale Erlebnis gehört nicht der Realität an“,80 ist gesetzt. Damit ganz allgemein Gestalten oder Formen erkennbar sind, so Derridas Überlegung, müssen sie, und mit ihnen die Gegenwart des Gegenwärtigen, vergegenwärtigt werden. Die Realität gerät zur Repräsentation, zu einer Idealität, zum Ersatz ihrer selbst. Das Anwesendsein von etwas Vorausdrücklichem in der Wahrnehmung wird unter dem Begriff des Anzeichens subsumiert und ausgestrichen. Dass sich Ausdrücklichkeit aus Vorausdrücklichkeit generieren muss, wird dabei außen vor gelassen. Die Forderung seiner Lesbarkeit aber verwehrt es, Materialität unter dem Begriff des Anzeichens zu subsumieren. Von hier aus löst Derrida die Selbstgegenwart des Subjekts im Sprechen auf. Dabei ist eine vorgängige Identitätsunterstellung ausschlaggebend für die Argumentation. „Die Stimme ist das Bewusstsein […], weil sie zwei phänomenologische Ursprünge der reinen Selbstaffektion in Beziehung bringt“.81 Der Ausdruck ist Medium des in ihm gegenwärtigen Sinns, als auch der Selbstgegenwart eines nicht empirischen Bewusstseins. Die Operation des sich-sprechen-Hörens wird als einmalige Art der Selbstaffektion begriffen. Beim Spiegelbild etwa, soweit man sich selbst sichtbar ist, oder im Fall von Selbstberührungen sei das Nicht-Eigene, der Bezug zum eigenen Körper als Oberfläche oder Äußerlichkeit, bereits eingetragen.

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„Die […] ‚scheinbare Transzendenz‘ der Stimme [hingegen] hängt damit zusammen, dass das Signifikat, das stets von seinem Wesen her ideal ist, die ‚ausgedrückte‘ Bedeutung, dem Ausdrucksakt unmittelbar gegenwärtig ist. Diese unmittelbare Gegenwärtigkeit hängt damit zusammen, dass der phänomenologische ‚Körper‘ des Signifikanten sich in genau dem Moment aufzulösen scheint, in dem er hervorgebracht wird. Er gehört scheinbar immer schon dem Element der Idealität an. Er reduziert sich phänomenologisch selbst, in reine Durchsichtigkeit. Diese Auflösung des sinnlichen Körpers und seiner Äu-

79 Ebd. S. 56. 80 Ebd. S. 65. 81 Ebd. S. 108.

6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen

ßerlichkeit ist für das Bewusstsein schlicht die Form der unmittelbaren Gegenwärtigkeit des Signifikats“.82

Derrida baut also die Figur eines mit-sich-im-Hören-seiner-Stimme identischen Subjekts oder Bewusstseins auf, dessen Transzendenz jedoch nur vermeintlich ist, um sie mit der einer vorgängigen Nachträglichkeit zu kombinieren. Die Äußerlichkeit des Sprechens wird demnach in seinem wesentlich-Sein aufgelöst. „Die lebendige Gegenwart geht aus ihrer Nicht-Identität mit sich und aus der Möglichkeit der retentionalen Spur hervor. Sie ist immer schon eine Spur. […] Das Selbst der lebendigen Gegenwart ist ursprünglich eine Spur“.83

Selbst oder Ich geraten, als sich gegenwärtig, zum Supplement. Dem ist entgegenzuhalten, dass Bewusstsein oder Selbst überhaupt nicht vorausgesetzt werden dürfen. Am Anfang steht eine rezeptive Indifferenz mit einem Ereignen, das seine Spuren überhaupt hinterlassen muss und jenseits dieser Indifferenz keine Spuren hinterlassen könnte. Erst mit der Setzung eines Subjekts lässt sich dieses als vermittelt abbauen. Die Behauptung, die Körperlichkeit der Stimme löse sich im Sprechen und sichSprechen-hören auf, ist dabei schlicht unzutreffend. Wer auch nur halblaut oder ganz leise spricht, vernimmt sich selbst, ohne dass seine Stimme dabei, in dem durch sie wachgerufenen Sinn, verschwinden würde. Diese Selbstgegenwart könnte aber auch durch Räuspern, Husten, Schnief- oder Schnarchgeräusche zustande kommen. Es wird nicht gelingen, Lautäußerungen eindeutig von anderen Geräuschen der Stimmlippen im Kehlkopf, von Rachen, Mund und Nase oder Vibrationen in Kiefer und Schädel, von ihrer Leibgebundenheit zu unterscheiden. Das ist die Konsequenz, wenn nicht das Recht besteht, zwischen sprachlichen und nicht sprachlichen Zeichen zu unterscheiden. Derartige Geräusche können fraglos potentiell bedeuten. Ob sie es tun, entscheidet aber nicht darüber, ob sie gegenwärtig sind. Generell ist es nicht möglich, spezifisches Verhalten der Selbstaffektion von solchem zu trennen, in dem Verhalten ‚nur‘ wahrnehmungsmäßig selbst gegeben ist. Selbstberührungen, die der Achseln oder Schenkel, der Lippen, die von Zunge und Gaumen, aber auch die der Hände und Finger etwa sind Teil des leiblichen Gegebenseins. Der Stimme zuzusprechen, sie sei das Bewusstsein, hieße überdies, es gehörlosen Menschen abzusprechen. Schon die Idee, deren gestisches Verhalten würde sich in seiner Leiblichkeit phänomenologisch selbst reduzieren, ist absurd. Die Vorstellung, unmittelbare Gegenwärtigkeit – als ob sich Gegenwart steigern lie 82 Ebd. S. 104 f. 83 Ebd. S. 115.

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6. Das Gegen der Gegen-wart

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ße – habe etwas mit der Auflösung des Sinnlichen zu tun, ist widersinnig. Vielmehr muss sich ein Gegen im Unmittelbaren konstituieren, ohne es auszustreichen. Die Transzendenz des Bewusstseins hat etwas damit zu tun, dass zwei Ursprünge in Beziehung geraten. Soweit hat Derrida wieder Recht. Ließen sich diese beiden in idealer Phänomenalität auflösen, verschwände jedoch ihre Zweiheit. Sie würden sich in ihrer Beziehung nicht gegeneinander abheben. Das gesamte Sinngebäude Welt würde, gleich einem aufgezogenen Spielzeugauto, dem Widerstand fehlt, herunter schnarren und zum Erliegen kommen. Die Differenz zwischen bedeutendem Sprechen und im Sprechen Bedeutetem ist keine kategoriale – das ist sie nur formal –, sondern eine materiale; keine struktural-horizontale gewissermaßen, sondern eine vertikale. Ohne substantiellen Abstand ließe sich nicht zwischen Bedeutetem und Bedeutung unterscheiden. Das ganze Kartenhaus der Verweisungen stürzte in sich zusammen. Entscheidend aber ist die Doppelbewegung von Identität und Differenz, von selbst und fremd im Sprechen. Wer Bewusstsein in Deckung mit dem Sinn seiner Äußerungen bringt, verflüchtigt es, da Marken oder Anzeichen die Nicht-Anschauung des in ihnen Erwarteten, ihres Sinns verlangen. Richtig, Erwartung wäre jenseits dieses Aufschubs keine. Das jedoch heißt nur, dass entsprechende Äußerungen nicht sind, wofür sie stehen; was, um einen Nebenstrang der Argumentation aufzugreifen, in der Tat auch für performative Sätze zutrifft. Der Verkündung einer Eheschließung beispielsweise ist der Sinn der Schließung von Ehe noch im Moment der Bekanntgabe extern. Bedeutung wird deshalb aber nicht durch Nicht-Anschauung erzeugt, sondern durch Bedeutendes – in beide Richtungen der Verweisung gedacht. Sinn ist unselbstständig, passiv. Das Selbst ist insofern Beziehung zu sich in Differenz mit sich.84 In der derridaschen Lesart bzw. der von ihm kritisierten Tradition aber müsste es sich selbst vorausgehen. Es würde sich aus sich differenzieren, bzw. differenziert werden. Darauf aber lässt sich Derrida zu Recht nicht ein. Stattdessen rekonstruiert er die geteilte Selbstgegenwart des Subjekts als Resultat der Bewegung der différance; in sich mit sich selbst nicht identisch. Es entsteht die Figur unabschließbarer Deutungen, die unmöglich einholen, was sie deuten. Das dem Text Äußere bleibt ihm äußerlich, fremd, unheimlich – potentiell zumindest – und sinnlos. Die Differenz dieser infiniten Hermeneutik aber entfaltet sich am Gegenwärtigen, das sie erst wachruft. Gegenwart als aus Eindrücken hervorgehend zu begreifen und insofern die Geschichtlichkeit des Daseins im Gegenwärtigen anzuerkennen, ist richtig. Sie im Begriff der Spur auf diese reduzieren zu wollen, ist es nicht. In gewisser Weise ist das Selbst Resultat eines Ereignens, das seine Spuren in 84 Vgl. Ebd. S. 112.

6.7 Zu Derridas Die Stimme und das Phänomen

ihm hinterlassen hat. Es ist jedoch zunächst entäußerter Teil dieses Ereignens, aus dem es auf sich kommt. Folgte aus dem Gesagten ein Plädoyer, bestünde es darin, Verwirrung nicht zu vermeiden, sondern sich von dem Umstand der Unfassbarkeit in Staunen versetzen zu lassen. Dem derridaschen Totentanz wäre die Affirmation sinnloser, Sinn erst generierender Sinnlichkeit entgegenzuhalten. Der Versuch, das Selbst auf ein ich-Sagendes, sich im ich-Sagen vernehmendes Subjekt reduzieren zu wollen, verkennt, dass mit der Markierung Ich Welt gesetzt ist. „Im Ich-sagen spricht sich das Dasein als In-derWelt-sein aus“,85 und zwar aus der Welt. Entsprechend Heideggers Einsicht, das Selbst sei zunächst Man-Selbst. Was markiert wird, bestimmt sich aus den Vollzügen des Geschehens und ist damit keineswegs eindeutig oder notwendig. Ich wäre mit Luhmann eine Horizontbestimmung, die jenseits eines jeweiligen antwortenden Bezugs keine Entität bezeichnet. Gleichzeitig konstituiert sich in der Verallgemeinerung von so markiertem Wahrnehmen, Erleben, Verhalten oder Handeln, Körper oder Leib, Denken, Meinen, Wollen, Wünschen, Versagen oder Verboten, was sich als Person, als „hoch aggregierte Selbstreferenz“ begreifen lässt,86 die sich in und aus einem doppelt kontingenten Weltverhältnis konstituiert und in ihm reaktualisiert. In der Medialität des Begriffs selbst, als Heterogenes zusammenfassend, liegt, dass sich Identität jenseits konkreter Bezugnahmen ausschließt. „Was irgend das Ich introspektiv als Ich zu erfahren vermag, ist auch Nichtich, die absolute Egoität unerfahrbar“,87 so Adorno. Unabhängig von dem, was sich ihm gibt, ist Ich fiktiv. Wer sich auf eines als Ausgesprochenes oder Niedergeschriebenes bezieht, die selbstreferentielle Staffelung der Bezugnahmen also ein weiteres Mal steigert, dem gerät es zu etwas Virtuellem, Abwesenden. Besonders drastisch tritt dieser Effekt in der Reflektion der Vorstellung des Bewusstseins im inneren Sprechen zutage, insofern hier tatsächlich keine Substanz die Konstitution eines Gegen erlaubt. ‚Ich‘ löst sich in seiner Reflektion, in einer tautologischen Bewegung auf. 197

85 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 321. 86 Vgl. Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 182. 87 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 275 f.

7. Mediale Reflexivität Ein Verdienst der Medientheorie – vielleicht sogar das, insofern das Prinzip der Vermittlung übernommen, letztlich nur auf den Begriff gebracht wird – ist es, dass, was sich als kulturelle Organisation und Reproduktion von Welt begreifen ließe, nicht auf sprachliche Prozesse zu reduzieren, sondern auf bildliche, akustische, räumliche oder auch theatrale auszuweiten. Jene werden traditionell von Diskursen der Ästhetik verhandelt. Es ist daher kein Zufall, wenn ein medientheoretisches Fragen nach dem, was Medialität auszeichnet sich auch der philosophischen Behandlung von Kunst zuwendet, ohne sich dabei – zumindest an dieser Stelle – explizit für Kunst in einem engerem Sinne zu interessieren. Bemerkenswert, fast erstaunlich ist es, dass das, was in diesem Kontext, hier von Adorno, Heidegger und Luhmann, verhandelt wird, denkbar heterogen ist und trotzdem übergreifende Merkmale gefordert, aufgezeigt oder angenommen werden können. Die Kybernetik zweiter Ordnung wird bei Luhmann etwa anhand eines sich – nicht anders als bei Adorno – aus religiös-magischem Kontext säkularisierenden Kunstsystems hergeleitet. Mit Massenmedien, ursprünglich mit Schauspiel oder Theater, soll das Vermögen der Beobachtung zweiter Ordnung und damit die Differenz von Täuschung und Enttäuschung eingeübt worden sein. Das „Was“ oder „Wie“ einer Beobachtung setzt strukturell jedoch, so soll gezeigt werden, ihr „Dass“, ein rudimentäres Verstehen von Kommunikation, voraus. Das weitere Vorgehen besteht unter anderem darin, das Heideggersche Konzept von Welt und Erde mit dem luhmannschen von Medium und Form zu konfrontieren. Was Heidegger in der Gegenwendigkeit bzw. als Streit von Versagung und Verstellung thematisiert, findet sich, so die These, in den Paradoxien der luhmannschen Argumentation, die sich in ihrer Widersprüchlichkeit an Positivität entfalten müssen, wieder. Die elementare Differenz Information/Mitteilung, die Verstehen ermöglicht – die Grundform jeglichen Verstehens wäre – ist demnach als eine medial reflexive zu begreifen. Von hier aus wird sich der Ästhetischen Theorie zugewandt, um ein weiteres Mal das Verhältnis von Geist und Stofflichkeit zu befragen. Die unmittelbar folgende Diskussion einiger Passagen der Dialektik der

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7. Mediale Reflexivität

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Aufklärung soll zeigen, dass die Konstitution des Individuums bereits hier als untrennbar mit der materialen Kenntlichkeit von Medien verbunden thematisiert ist. Mit Reflexivität ist eine Differenz, quer zu etwa denen von Subjekt und Objekt oder Natur und Kultur, gemeint. Mit Heidegger wird versucht ein „Zwischen“ inmitten der Physis (φύσις) zu denken, aus dessen Symbiose der Mensch medial ragt. Temporal wie konkret ist Dasein demnach entäußert, anhand der Negativität seiner Äußerungen auf sich kommend, mit einer sich wie es gebenden Welt verwachsen. Verhalten und Wahrnehmung, eingebunden in das Geschehen einer immer schon sozialen Welt, stehen, wie gezeigt wurde, in einem konstitutiv dynamischen Verhältnis. Aus dieser wechselseitigen Bedingtheit kristallisiert und stabilisiert sich, intentionslos – gedeutet im Sinne des Prinzips ‚order-from-noise‘ – aus der Unmöglichkeit des leiblichen NichtVerhaltens auch gestisches Verhalten. Leib, Welt und Wahrnehmung bilden eine intime Einheit. Aus der Temporalität der Wahrnehmung erst, die sich stets am Speziellen konstituiert, lässt sich sprechen, können Gesten zu Mitteilungen werden. Da die Varianz als auch die Ausprägung von Aktualität und Erwartung aber unverfügbar ist, kann Verhalten nur als responsiv rekonstruiert werden. Es zeigt sich ein von Zeichen durchsetzter Horizont von Verweisungen, dessen Vollzüge sich anhand selbstreferenzieller Strukturen ermöglichen. Dieses Sinngefüge konstituiert sich mit der Partizipation an Welt erzwungenermaßen in eben dem Mechanismus, der Wahrnehmung begabt. Explizit werden Verweisungen innerhalb dieses Horizonts, wo sich Erwartungen nicht auch auf das, was sie wachrufen, beziehen. Mit der Temporalisation strukturierten gestischen – und in diesem Sinne typisierend generalisierenden – Verhaltens konstituiert sich anhand der Differenz von Verweisung und Verweisendem eine gegenständliche Umwelt und damit erst ein Ort subjektiver Bezugnahme. Wesentlich ist Seiendes als solches in dieser doppelten Bewegung, in der sich Gegenwart und Bewusstsein in sich voneinander scheiden. Die Konstitution von Welt kann somit nicht anhand ontologischer Dimensionen oder einfach kausaler Konstitutionsverhältnisses anhand von Medien beschrieben werden. Vielmehr ergibt sich ein diesseitiges Gefüge innerhalb dessen sich herausbildet, was als Transzendenz von etwas Geistigem begriffen werden kann. Sinn konstituiert und reaktualisiert sich am von sich aus Sinnlosen, das ihm von daher notwendig extern und im selben Moment mitpräsent bleibt. Diese Figur ist Basis dessen, was im Weiteren als mediale Reflexivität aufgezeigt werden soll. 7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann Dass Luhmann Adornos Begriff der Negativität nicht plausibel ist, scheint, insofern bei ihm nur Berücksichtigung findet, was operativ, diskursiv oder

7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann

eben kommunikativ greifbar ist, zunächst völlig einsichtig.1 Er hat freilich auf seiner Seite, dass sich über Akommunikatives nicht oder nur in paradoxer Form sprechen lässt. Um den Preis allerdings, die Paradoxie einer ursprünglichen Nicht-Ursprünglichkeit an den Anfang aller Überlegungen setzen zu müssen,2 die sich als Unmöglichkeit, das systemtheoretische Kalkül absichern oder letztlich begründen zu können, rächt. So bleibt der Makel des „als ob“ und das Beharren, aus seinem kaum zu leugnenden funktionalen Potential lasse sich eben auch Richtigkeit – Wahrheit im emphatischen Sinne – ableiten. Tatsächlich wird Luhmann Adorno nicht auch nur im Ansatz gerecht, wenn er suggeriert, jener würde mit einfachen Adressen arbeiten.3 Negative Dialektik bestimmt Negativität anhand von NichtIdentität in Identität und thematisiert damit als nicht minder grundlegend, was Luhmann die ursprüngliche Paradoxie der Einheit der Differenz ist. Eigentlich ist kaum vorstellbar, dass ihm das entgangen sein könnte. Auch bei Luhmann findet der Bergriff der Nicht-Identität, ohne besondere Prominenz freilich, Verwendung und zwar im Kontext dessen, was als Bewegung ornamentaler Rekursion thematisiert, von dem, was letztlich als evolutionärer „Ursprung der Kunst“ ausgemacht wird.4 Mit Ornamentalität ist demnach das sich selbst dirigierende Spiel von Formenkombinationen gemeint, anhand dessen sich ein komplexes Niveau von Redundanz und Varietät, Oberfläche und Tiefe konstituiert. Sowohl die Autonomie als auch die Schönheit von Kunst wird auf ihr inneres Ornament, als selbstreferentielle, durch sie selbst definierte, geschlossene, zeitliche oder räumliche Struktur von Rückgriffen und Vorgriffen zurückgeführt. In ihm findet Luhmann jenes Moment, in dem Malerei, Musik, Skulptur, Tanz, Lyrik oder Roman, jenseits ihres jeweiligen Materials – ihres Wahrnehmungsmediums – als kommunikatives Formenspiel, kommensurabel sind. Kunstwerke jeglicher Kunstarten werden als Formenkombination aufgefasst. Mit Nicht-Identität ist bei Luhmann, anders als bei Adorno, folglich die notwendige Verschiebung und Vernachträglichung einer jeden selbstreferentiellen Wiederholung, innerhalb einer Musik, eines Textes oder einer Skulptur angedeutet, die ein Werk autonom erscheinen lässt.5

1 Vgl. Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 473. 2 Vgl. Ebd. S. 73. 3 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vgl. S. 65, 473. 4 Ebd. S. 348; vgl. S. 193 ff. 5 Vgl. Ebd. S. 209 f.

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7. Mediale Reflexivität

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Bereits in Soziale Systeme wird das Paradoxieproblem, etwa „als Einheit eines Widerspruchs“, als Notwendigkeit, jegliche Einheit als „Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz“ denken zu müssen, benannt.6 Es geht, wie gehabt, darum, dass die Differenz in das Differierte „wieder eintreten“ muss, damit sie kenntlich ist; um den Wiedereintritt der Formdifferenz in die Form also. Was zunächst als nur abstraktes Problem erscheint, konkretisiert sich im Theorem einer Kybernetik zweiter Ordnung, der Beobachtung von Beobachtung. Im Kern geht es, wie etwa in Die Realität der Massenmedien thematisiert, um die angenommene Unmöglichkeit, dass ein „beobachtende[r] Beobachter sich selbst als Beobachter beobachtet“.7 Jegliche Beobachtung vollzieht sich demnach als ihr eigener blinder Fleck. Alle verwendeten Unterscheidungen versetzten „sich selbst in den unbeobachtbaren unmarkierten Raum“,8 in dem der jeweilige Beobachter sich selbst operativ unsichtbar ist. Diese primäre Unbeobachtbarkeit, so die Annahme, ist nicht auszuhebeln, sondern lediglich durch eine sekundäre Beobachtung zu beobachten. Die Paradoxie einer ursprünglichen Nicht-Ursprünglichkeit lässt sich somit auf den Punkt bringen, dass immer schon eine sich selbst unkenntliche Beobachtung oder Unterscheidung vorliegen bzw. vollzogen sein muss. Hier nun kommen Massenmedien ins Spiel. Anhand ihrer nämlich, so Luhmanns These, kann ein Beobachter – etwa an in Romanen vorgeführten Personen – „das Beobachten zweiter Ordnung lernen“.9 Tatsächlich wird die Struktur der Beobachtung zweiter Ordnung exklusiv massenmedial begründet. Der Zuschauer werde „fast unbemerkt“, sagt Luhmann, „dazu gebracht, sich selbst als Beobachter von Beobachtern zu begreifen“.10 Es finde eine generelle „Eingewöhnung“ statt,11 Beobachter im Hinblick darauf, wie sie beobachten, zu beobachten, die einen allgemeinen Verdacht generiert, der sich nicht zuletzt auch auf wissenschaftliche Behauptungen erstreckt. „Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung“.12 Nun konstituiert sich das soziale System der Massenmedien, wie jedes andere auch, Luhmann zufolge, anhand sich selbst reproduzierender Kommunikationen, und Kommunikation kommt nur dadurch zustande, dass „in der Selbstbeobachtung (im Verstehen) Mitteilung und Information“ unterschieden werden können.13 Das hierfür notwendige Rea 6 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 495; vgl. S. 640 f. 7 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 206. 8 Ebd. S. 208. 9 Ebd. S. 107; vgl. S.113. 10 Ebd. S. 110. 11 Ebd. S. 152. 12 Ebd. S. 153. 13 Ebd. S. 171.

7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann

litätsverständnis, das Realität in ein „Was“ und ein „Wie“ der Beobachtung unterteilt, soll jedoch durch Massenmedien erst erlernt werden. „Ohne diese Unterscheidung würde Kommunikation kollabieren“.14 Notwendig ist es, „‚was beobachtet wird‘ und […] ‚wie es beobachtet wird‘“ zu differenzieren. „Und das entspricht genau der Beobachtung von Kommunikation im Hinblick auf eine Differenz von Information und Mitteilung“.15 Die Massenmedien wären damit Quelle eben jenes Verstehens, das sie voraussetzten. Der Ansatz von reflexiven medialen Strukturen auszugehen, ist mit diesem radikal konstruktivistischen, demzufolge „auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung zwischen Illusion und Realität und darum auch zwischen realer Realität und imaginärer Realität nicht unterschieden werden kann“,16 nicht vereinbar. Ohne dass deshalb das „Wie“ des „Was“ auch schon einsichtig wäre, meint mediale Reflexivität eine materiale Differenz, an der mit-sichtbar ist, „dass“ beobachtet wird. Mediale Reflexivität schließt eine ungebrochene Beobachtung von im weitesten Sinne zeichenhaften Strukturen, im Modus erster Ordnung aus. Besonders einsichtig ist dies im Falle von bildlichen Darstellungen. Die Differenz von Information und Mitteilung ist in das Medium, wird es als solches aufgefasst, eingeschrieben. Das heißt nicht, dass die Wahrnehmung von Zeichen, von Bildern, Tänzen oder Musik, nicht erlernt werden müsste. Begabung oder Einschreibung ist Wahrnehmung – wie u.a. im 4. Abschnitt dargelegt wurde – notwendig. Wo sie stattgefunden hat, ist der Unterschied von Illusion und Realität jedoch nicht eingeübt, sondern substanzieller Effekt einer Erwartungs- oder Verweisungsdifferenz. Die Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung, eines expliziten „Wie“ des „Was“, könnte sich jenseits medialer Reflexivität nicht herausbilden. Es wäre nicht ersichtlich, wie ein Beobachter seiner primären wahrnehmungsmäßigen Weltverhaftung oder mediatisierten Illusion entrinnen sollte. Es muss ein anfängliches Moment geben, das die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ermöglicht und die Ableitung der Unterscheidung als blinden Fleck erlaubt. Diese anfängliche Unterscheidung verdankt sich, so die hiesige These, einer medial reflexiven Paradoxie, einem medial-materialen re-entry. Auch Luhmann kommt, im Zuge einiger Überlegungen zu Schauspiel und Theater, zu dem Ergebnis, dass die Fähigkeit des Publikums, Beobachtungen zu beobachten, immer schon vorausgesetzt ist. „Die Entstehung dieser schwierigen, sozusagen aufgeladenen Kulturform der Beobachtung von Beobachtern und die Ausbildung von da-

14 Ebd. 15 Ebd. S. 152. 16 Ebd. S. 162.

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7. Mediale Reflexivität

für geeigneten Schematisierungen ist mithin kein direktes Produkt der Druckpresse oder der Massenmedien“.17

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Er lässt fallen, was in Die Wissenschaft der Gesellschaft noch behauptet wird, dass nämlich die Möglichkeit, Beobachtungen zu beobachten, dem Roman des 18. Jahrhunderts, also dem Buchdruck zu verdanken sei.18 Wenn die Beobachtung zweiter Ordnung aber einmal eingeübt sei, lasse sie sich freilich auch in anderen Kontexten, nicht zuletzt in der Philosophie, verwenden. Wenn. Worauf aber ist sie zurückzuführen? Was erlaubt es, eine fiktionale Realität von der realen Realität, Information von Mitteilung, zu unterscheiden? Luhmann führt dieses Unterscheidenkönnen auf die evolutionäre „Entstehung des Bühnentheaters in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“ zurück.19 Einmal etabliert, werde der „Unterschied von Anschein und Wirklichkeit […] zum festen Bestand einer Kultur“.20 Das Renaissancetheater werde als nur vorgetäuschte Inszenierung und damit in sich selbst als Spiel durchschauter Täuschung erlebt. Dieses Schema werde von der Literatur des 17. Jahrhunderts übernommen und finde im modernen Roman wie im heutigen Journalismus größte Nachwirkung. Auch das Publikum mittelalterlicher Aufführungspraxis verwechselt Spiel und Realität, Don Quixote gleich, natürlich nur da, wo „es keine klare Trennung von Bühne und Zuschauer gibt“.21 Fehlt diese Differenz, woran auch immer sie sich festmachen mag, wäre auch jeweils uns eine Aufführung nicht ohne weiteres als solche ersichtlich. Die Annahme, im Mittelalter seien Vorstellungen generell für Realität genommen worden, „mit der Folge, dass das Publikum beruhigt und vom Eingreifen abgehalten werden“ musste,22 ist unsinnig. Ein Publikum ist nur da Publikum, wo es eine Vorstellung als Vorstellung begreift. In Die Kunst der Gesellschaft finden sich derartige Behauptungen nicht. Die Frage ist hier vielmehr: „[W] ie macht sich ein Einzelwerk der Kunst wahrnehmbar“?23 Und die Antwort lautet: Im typischen Fall „durch Anfang/Ende oder durch Rahmen oder durch eine Bühne“, die es von seiner Umgebung isoliert.24 Erst Rahmen oder Bühne, Anfang und Ende stellen demnach sicher, dass eine Auffüh 17 Ebd. S. 201. 18 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 90. 19 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 102. 20 Ebd. S. 103. 21 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 244. 22 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 103. 23 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 78. 24 Ebd. S. 79; vgl. S. 58.

7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann

rung oder Täuschung nicht mit der Alltagswelt verwechselt, sie durchschaut wird.25 Die Grenze selbst sei, so Luhmann, dabei aber unsichtbar, die Trennung könne nicht wahrgenommen werden. Stimmte diese Bild, müsste ein Beobachter zwischen Täuschung und Enttäuschung oszillieren. Erst dieses Pendeln würde das jeweilige Medium gegenüber „realen“ Objekten oder Ereignissen separieren. Mit der Schwierigkeit, dass er entweder ganz in der Illusion oder ganz enttäuscht wäre und der jeweils andere Zustand unkenntlich sein müsste. Zwar würde sich dieser Wechsel vermutlich einschreiben und in weiteren Erwartungen niederschlagen. Die Unsichtbarkeit der Grenze führte dennoch dazu, dass er seine jeweilige Situation nicht durchschauen bzw. verstehen könnte (Verstehen im Sinne der Differenz von Information und Mitteilung). Ihre Nicht-Wahrnehmbarkeit erneuert das ursprünglich paradoxe Dilemma des Beobachters erster Ordnung, für den es eine Trennung von Täuschung und Enttäuschung nicht gibt. Ohne die Differenz von Information und Mitteilung ist Kommunikation jedoch nicht möglich. Und Luhmann gelingt es nicht diese aus Kommunikation herzuleiten. Wie auch? Sie ist Voraussetzung und diese lassen sich eben nicht aus ihrer vorausgehenden Setzung ableiten. Wo die genannte Differenz vorliegt, impliziert sie gleichzeitig strukturell das „Dass“ einer Beobachtung zweiter Ordnung. Das Motiv des blinden Flecks, „die Letztform der Paradoxie“ der „Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens“,26 zieht sich wie ein roter Faden durch Die Kunst der Gesellschaft. Immer wieder geht es darum, dass sich einem Beobachter zweiter Ordnung, in Ermangelung einer Überwelt, der „Weltbegriff ins Unbeobachtbare“ verlagert.27 Das Besondere an Kunstwerken sei es – die Argumentation bleibt sich treu – diese „Unbeobachtbarkeit der Welt zu symbolisieren“, als Paradoxie inszenieren zu können.28 Hier kommt schließlich wieder die ornamentale Bewegung der Kommunikation in Kunstwerken „als Formenkombination“ ins Spiel.29 Sie ist es, die demnach eine in sich autonome Struktur von Selbst- und Fremdreferenz konstituiert, welche Kunst „die Sondierung eines Terrains, auf dem die Wissenschaft nicht operieren kann und trotzdem Einsichten zu gewinnen sind“ erlaubt.30 Bedauerlicherweise meint Luhmann mit dieser Äußerung lediglich aus der Realität der Massenmedien Bekanntes. Indem List, Trug oder Täuschung auf der Scheinwelt der Bühne wiederholt werden, wird die 25 Vgl. Ebd. S. 177. 26 Ebd. S. 158, 96. 27 Ebd. S. 149. 28 Ebd. S. 192. 29 Ebd. S. 199. 30 Ebd. S. 429.

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7. Mediale Reflexivität

„Differenz von Sein und Schein bzw. von Alltag und Außeralltäglichem […] in der Welt des Scheins wiederholt, es kommt zum ‚re-entry‘ der Unterscheidung ins Unterschiedene […]. Der Beobachter kann nicht wissen, wie er beobachtet; und genau das wird ihm vorgeführt und vorenthalten“.31

Ganz allgemein kann Luhmann zufolge gesagt werden, dass es „die Funktion der Kunst [sei], Welt in der Welt erscheinen zu lassen – und dies im Blick auf die Ambivalenz, dass alles Beobachtbarmachen etwas der Beobachtung entzieht, also alles Unterscheiden und Bezeichnen in der Welt die Welt auch verdeckt. [… E]in Kunstwerk kann den Wiedereintritt der Welt in die Welt dadurch symbolisieren, dass es, wie die Welt selbst, als nicht ergänzungsfähig erscheint. Die Kunst hat mithin ihr eigenes Paradox, das sie schafft, indem sie es auflöst, in der Beobachtbarkeit des Unbeobachtbaren“.32

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Aus hiesiger Perspektive ist das zuvor genannte Problem von Bühne oder Rahmung ein sekundäres, insofern es um das „Wie“ oder „Was“ einer Kenntlichkeit ginge, es hier jedoch um mediale Selbstkenntlichkeit geht. Dass es kein kontextfreies Verstehen, kein Erfassen von Zeremonien oder Riten etwa, von konventionellen Prozessen im Ganzen ohne Rahmen oder Bühne gibt, ist sicher richtig. „Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden“,33 heißt es diesbezüglich in Soziale Systeme. Die eigentliche Frage, die nicht zuletzt Derridas Austin-Lektüre aufwirft, wäre jedoch, was es überhaupt erlaubt, Vollzüge der Lebenswelt in Theaterwelten zu versetzen? Derrida stellt entsprechend zur Diskussion, ob nicht „das Zitat (auf der Bühne, in einem Gedicht oder im Selbstgespräch) die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit“ ist.34 Wie aber sollten Zitationen ohne Kenntlichkeit jeweils zeichenhafter Funktionen möglich sein? Setzt nicht schon der Transfer ein reflexives Verhältnis zum Transferierten voraus? Anderenfalls würde etwa Theaterschaffenden ein massiv privilegiertes Weltverhältnis zugesprochen. Die Kunst der Gesellschaft intendiert diesbezüglich, einen evolutionären Ursprung der Distanz zur Welt zu bestimmen. „Ohne Kunstwerke zu sehen oder zu hören, ohne zu lesen und Anschauung abzuziehen“, heißt es bereits im ersten Drittel, „bringen wir auch keine Beobachtung zweiter Ordnung in Gang“.35 Als Anschauungen 31 Ebd. S. 430. 32 Ebd. S. 241. 33 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 217. 34 Derrida, J. (2001). Signatur Ereignis Kontext. In: Ders. Limited Inc. (S. 15 – 46). Wien: Passagen. S. 39. 35 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 111.

7.1 Kommunikation und Verstehen bei Luhmann

werden imaginierte oder vorgestellte Wahrnehmungen begriffen und abzusehen ist von ihnen,36 insofern erst Kontexte darüber entscheiden, ob etwas als Kunst aufzufassen ist. Obgleich sie fraglos darüber entscheiden, wie und sogar ob etwas überhaupt als kommunikativ zu verstehen ist, löst der Verweis auf Kontexte nicht das Problem der Kenntlichkeit derartiger Prozesse. Und auch Luhmann scheint dies so zu sehen. Im VII. Abschnitt des 4. Kapitels wird die Entstehung des Kunstsystems – wie üblich und vom Ansatz her im Einklang mit Adorno – als Prozess der Säkularisierung aus religiös-magischem Kontext beschrieben. Es wird ein Dreistufenmodell entworfen, demzufolge Kunstwerke zunächst als symbolisch, dann als zeichenhaft und schließlich modern als Formenkombinationen zu begreifen sind. Bereits vor ihrer Ausdifferenzierung sei es die Funktion der Kunst gewesen, das Nicht-Darstellbare, Unzugängliche, Unvertraute oder Unbeobachtbare zu symbolisieren. Und zu dieser Funktion kehrt sie mit ihrer Ausdifferenzierung wieder zurück. Als paradigmatisch für die Lektüre von Zeichen als Zeichen (für etwas anderes) und damit für den durchschauten Schein dient wieder das Bühnentheater. Was aber bringt den Säkularisierungsprozess in Gang? Luhmann zufolge ist es der Umstand, dass Kunst, noch bevor sie sich als eigenes Medium konstituiert, lediglich „Schwester der Magie“ sei und „nicht selbst Religion“, sondern nur als dienend zu begreifen ist. Sie erfährt dabei kirchliche Direktion und Aufsicht. Das wiederum verlangt, dass Symbole als Symbole kommuniziert werden. „Der Symbolbezug von Kommunikation trägt mithin den Keim zur Selbstauflösung in sich“.37 Erst wo sich die Zersetzung des Symbols zum Zeichen vollzogen hat, könne schließlich „sinnvoll zwischen dem Zeichen selbst und seinem materiellen Träger unterschieden werden. Erst dann kann die Materialbasis der Zeichen als austauschbar behandelt werden, und erst dann, sehr spät also, kann die Frage aufkommen, ob das materielle Substrat der Zeichen nicht doch mehr Bedeutung hat als die reine Semiotik angenommen hatte, und etwas Eigenes mitteilt“.38

Tatsächlich wäre zu fragen, ob die Darstellungsverbote und Benennungsvermeidungen jüdisch-christlicher Tradition, und auf diese bezieht sich Luhmann, nicht bereits Ergebnis eines Verständnisses um die Toxizität des Symbolisch-Zeichenhaften sind; ob nicht der Verdacht, oder die Sorge, Gott könne als Simulakrum enttarnt werden, so wie es Horkheimer und Adorno vermuten, in archaischem Wissen um die Indirektheit der Kommunikation mit ihm wurzelt. Wie hätten sich in der, bei Luhmann nur in 36 Ebd. S 16 u. 187. 37 Ebd. S. 275. 38 Ebd. S. 279.

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7. Mediale Reflexivität

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Klammern erwähnten, Antike Zeichentheorien entwickeln sollen? Die klerikale Überwachung, die das Zeichenwerden des Symbols in Gang bringen soll, setzt – erneut – ein Bewusstsein um die Abwesenheit des Symbolisierten im Symbols sowie die Selbstkenntlichkeit der symbolisierenden Materialbasis, also ein (mindestens implizites) Verständnis von Arbitrarität, voraus. Da Luhmann funktionalistisch argumentiert, liest sich diese Erklärungsnot – voraussetzen zu müssen, was doch Ergebnis sein soll – bei ihm so: „Wie immer bei Stufen der Evolution ist schwer zu sehen, wieso und wozu das überhaupt geschieht“.39 Entscheidend ist, dass, wo sich die Materialität des Trägers von Bedeutung, nicht von der Verweisungsfunktion des Zeichens differenziert, es keinen Unterschied von Information und Mitteilung gibt, sich kein Verstehen, sich keine Kommunikation und sich damit keine Dimensionen der Sachen, der Zeit noch des Sozialen differenzieren und so konstituieren könnte. Damit die Frage aufkommen kann, ob das materielle Substrat der Zeichen etwas Eigenes mitteilt, muss es selbst kenntlich sein. Der Keim der Selbstauflösung im Zeichenbezug trägt das Symbol, als einen medial-reflexiven, in sich. Intersubjektivität ist nicht ohne den Samen der Erosion der Selbstverständlichkeit eben jener gemeinsamen Welt zu haben. Die ornamentale Formenkombinatorik moderner Kunst, so wie sie Die Kunst der Gesellschaft konstruiert, kann sich nicht, wie behauptet, durch den referenzlosen Gebrauch von Zeichen auszeichnen.40 Dann wären nicht mehr Zeichen, sondern Mysterien gegeben. Die Bewegung des Ornaments erneuert lediglich das Bild kommunikativer Selbstreferentialität und verlangt damit genauso einen nicht-identischen Bezug wie ein negatives Medium, von dessen Negativität her sich Bezüglichkeit erst abhebt. Der Prozess lässt sich nicht in ominösen Distinktionsanweisungen, als ein Hineinkopieren in sich selbst, auflösen. Was sich an Kunst explizit zeigte, wäre vielmehr das, ohnehin stets mitgängige, Nicht-Identische am Symbol selbst. Nicht „Formenkombination, die nur über ihre eigenen Unterscheidungen verfügt“,41 sondern Aufzeigung dessen, was sich nur widersprüchlich bezeichnen lässt. Nach Luhmann versucht Kunst „letztlich also das re-entry der Form in die Form“ zu symbolisieren.42 Eben dieses re-entry beabsichtigt die hiesige Argumentation als Figur medialer Negativität oder eben Reflexivität zu entparadoxieren. Jenseits dieser Anstrengung scheint die Rede vom „Zeichen für die Unbezeichenbarkeit des Ausgeschlossenen“, qua eigener Begrifflichkeit, sinnlos.

39 Ebd. S. 280. 40 Vgl. Ebd. S. 276. 41 Ebd. S. 288. 42 Ebd.

7.2 Welt und Erde, Medium und Form

7.2 Welt und Erde, Medium und Form Die von Derrida zum Ausgangspunkt seiner Kritik an Husserl gemachte Differenz von Stoff und Form erfährt durch Luhmann, als Unterscheidung von Medium und Form in Die Kunst der Gesellschaft, eine Neuinterpretation. „Die Unterscheidung Medium/Form dient dazu, die Unterscheidung Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaften zu ersetzen“.43 Der Begriff des Mediums soll dabei „den Fall loser Kopplung von Elementen“, als „offene Mehrheit möglicher Verbindungen“ bezeichnen.44 Die Worte oder Sätze einer Sprache wären solche Elemente, während das Medium der Sprache, das sich im Gebrauch seiner Elemente erst konstituiert und erhält, selbst unzugänglich ist. Das luhmannsche Medialitätskonzept ist jedoch nur verständlich, wenn sich zunächst vom Begriff des Mediums, von Kopplung und Möglichkeit, gelöst und erinnert wird, was bei Luhmann Formen sind. Der Begriff der Form meint „Unterscheidung und Beobachtung“. Die drei Begriffe stimmen überein. „Als Form bezeichnen wir also das Beobachtungsinstrument Unterscheidung“, erläutert Luhmann.45 Von hier aus erschließt sich, wie Die Kunst der Gesellschaft zu der Auffassung gelangt, das allgemeinste Medium könne „mit dem Begriff ‚Sinn‘ bezeichnet werden“.46 Der Unterscheidung Medium/Form entspricht ganz allgemein die Differenz Welt/Beobachtung oder Sinn/Selektion. Die Welt wird, als nicht fassbarer, jeweils systeminterner Horizont, als Medium der laufenden Bildung von Formen, das den Wechsel der jeweiligen Konstruktionen überdauert, konzipiert. Medien selbst sind demnach prinzipiell nur an der Kontingenz der von ihnen ermöglichten Formbildungen erkennbar. Vergleichbar Luhmann, allerdings mit völlig anderem Schwerpunkt, wendet auch Heidegger sich in Der Ursprung des Kunstwerks, mit seiner Unterscheidung von Welt und Erde, gegen die Begriffsmechanik von Stoff und Form, von Ding und Merkmalen oder Substanz und Akzidenz. Er tut dies im Zuge von Überlegungen, die explizit nach dem Dinghaften, dem dinglichen Unterbau von Kunstwerken fragen, um es als Seiendes aus dem Sein, und nicht als Einheit einer Empfindungsmannigfaltigkeit etwa, zu denken. Dabei wird das Werkhafte am Werk bereits im Vorwort als symbolisch oder allegorisch, als etwas Zeichenhaftes also, bestimmt. Angenommen wird ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Ding- und dem Zeichenhaften. „Allein, dieses Eine am Werk, was ein Anderes offenbart, dieses Eine, was mit einem Anderen zusammenbringt, ist das Dinghafte

43 Ebd. S. 165. 44 Ebd. S. 168. 45 Ebd. S. 111. 46 Ebd. S. 173.

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im Kunstwerk“.47 Der Begriff der Welt würde, anhand des Werkbegriffs gedeutet, gewissermaßen die symbolische Ordnung, aus der sich Seiendes erschließt, bezeichnen. Nicht von Interesse ist an dieser Stelle, inwieweit der Begriff des Werkes dabei Kunst, insbesondere moderner, gerecht wird, sondern lediglich, dass nichts Zeichenhaftes ist, ohne das, worin es sich artikuliert. Ob etwas ein Bauwerk oder doch nur ein Bau, ob es ein Sprachwerk oder nur sprachlich ist, ... nicht nur Kunstwerke kommen „am Dinghaften“, an Stein oder Laut etwa, „nicht vorbei“.48 Das Prinzip, nach dem gefragt wird, ist insofern universell. Kunstwerke werden begriffen als Weise, als eine mögliche Variante also, der Entbergung der Wahrheit des Seins des Seienden und Kunst entsprechend als „das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit“.49 Interessant ist die Ausrichtung der Heideggerschen Untersuchung vor allem, weil die Frage nach den materiellen Bedingungen des Seins für ihn normalerweise keine Rolle spielt. Sein nicht vom Seienden her zu deuten, ist sein Ansatz. Das, was er als Erde konzipiert, intendiert dem entgegen, sich dem dinglichen Grund der Welt, aus dem Sein ist, anzunähern. Zurück zu Luhmann. Es lässt sich zeigen, dass dem, was jener als Sinn konzipiert, ein schon im Ansatz widersprüchlicher Status zukommt. Die Sinnwelt erscheint als „eine geschlossene Welt“,50 Sinn, also Erwartungen, als universales, nicht negierbares Medium. Alle Bezeichnungen müssen als Unterscheidungen in der Welt stattfinden, die sich so konstituiert. Ihren Widerspruch hat diese Geschlossenheit zum einen im ‚unmarked space‘, in welchem sich Bezeichnungen gegen „alles andere“ abgrenzen. Dieses Andere muss, soll das Beobachtete nicht im Beobachter aufgelöst werden, auf Seiten des Bezeichneten gesucht werden. Dabei sind Formen von vorneherein als Zwei-Seiten-Formen gedacht. Dass, worin sie sich abgrenzen, muss in der jeweiligen Form mit gegenwärtig sein, damit es Form überhaupt geben kann, damit sie sich in Etwas von Etwas differenzieren kann.51 Die Unterscheidung bezeichnet zwar immer nur die eine und nicht die andere Seite, ist aber gezwungen ihren eigenen Unterschied und damit dass, wovon sie sich unterscheidet, zu enthalten. Die Form muss sich in der Form abbilden bzw. wiederholen, was Luhmann als Paradoxie des „re-entry“ thematisiert. Zum anderen sind Sinn oder Welt in Bezug auf psychische Systeme nur als Verweisungsüberschuss je aktueller Bewusstseinsinhalte repräsentiert. Als Sinn gebend wird entsprechend die Unterscheidung von Aktua 47 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 4. 48 Ebd. 49 Ebd. S. 25. 50 Vgl. Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. S. 61. 51 Vgl. Ebd. S. 102.

7.2 Welt und Erde, Medium und Form

lität und Potentialität begriffen, die „auf der Seite des Aktuellen in sich selbst wieder ein[tritt]“.52 Ein weiterer „re-entry“. Das Unzugängliche ist im Zugänglichen zugleich zugänglich und unzugänglich. Der Widerspruch doppelt sich. Sinn und Form konstituieren sich an der Schnittstelle zweier Verweigerungen. Sinn ist, wie in Luhmanns Einführungsvorlesung erläutert, „eine bestimmte Art der Differenz von Medium [Sinn] und Form“,53 er sei die Aufforderung zur Bildung von Formen im Medium Sinn. „Sinn ist mithin Medium und Form zugleich“.54 Und Luhmann fragt sich selbst, ob die von ihm gewählten Begriffe „aufeinander passen“. Form und Sinn sind nur als Verweisungsüberschuss. Wobei sich Formen anhand jener Erwartung, die sich in ihnen aktualisiert, konstituieren. Wieder lassen sich zwischen Luhmann und Heidegger, bei divergenter Ausprägung natürlich, Entsprechungen ausmachen. Das, was bei Luhmann als Paradoxie, als Kreuzung immanenter Widersprüche, feststellbar ist, rückt bei Heidegger als Streit zwischen Welt und Erde gewissermaßen in das Zentrum der Betrachtungen. Dabei thematisieren beide den Begriff der Welt in großer Ähnlichkeit, wie bereits angesprochen, als Horizont von Verweisungen. Heideggers Welt ist, wie in Sein und Zeit erläutert, Grundverfassung des Daseins. Sie ist die Welt des In-der-Welt-seins als ein Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit, innerhalb dessen das Seiende begegnet. „Die Dinge sind und die Menschen, Geschenke und Opfer sind, Tier und Pflanze sind, Zeug und Werk sind. Das Seiende steht im Sein“.55 Die Wahrheit bzw. Unverborgenheit des Seienden geschieht aus einer jeweiligen Welt. Ihren sie bedingenden und durch sie bedingten Widerpart hat diese Welt an der Erde, insofern sie etwas Dinghaftem bedarf, „eines Mediums bedarf, aus dem und in dem es [das Werk] schafft“.56 Schnell ist ersichtlich, dass Heidegger – obwohl jener den Begriff des Mediums an nur einer Stelle verwendet – und Luhmann konträre, unvereinbare Medienbegriffe verwenden. Während Luhmann das Medium auf Seiten einer erwarteten Welt verortet – Welt nur in Form von Erwartungen existiert –, siedelt Heidegger es eher auf Seiten dessen, was Erwartungen wachruft und erwartet wird, an. Mit Erde wird von dem her gedacht, was sich in der Unverborgenheit zeigt, vom Anderen der Beobachtung aus sozusagen, das gleichzeitig dasjenige ist, in das Welt „zurückgestellt“ ist. „Welt und Erde

52 Ebd. S. 174. 53 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 229. 54 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 174. Hervorhebung vom Verf. 55 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 39. 56 Ebd. S. 43.

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sind wesenhaft voneinander verschieden und doch niemals getrennt. Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt Welt“.57 Nun charakterisiert Heidegger die Lichtung des Seins – in Parallele zu Luhmanns „Wie“ und „Was“ der Beobachtung – als ein Geschehen der Verweigerung „in der Weise des zwiefachen Verbergens“.58 Was sich so als Versagen verbirgt, ist zum einen die Erde.59 Es lässt sich vielleicht sagen, Der Ursprung des Kunstwerks streicht die phänomenale Eigenständigkeit und Irreduzibilität des Materiellen in seiner Rezeption heraus. Die qualitative Fülle des im Anwesen Anwesenden ist sich in seinem Ereignen eigenen – verschließend. Ge- und Bewahren sind Modi, in denen es als Sich-Verschließendes, von dem sich nicht mehr sagen lässt, als dass jenes Ereignen sich gibt, erscheint. Zum Anderen verstellt sich, als Weise des Verbergens, das Erscheinen des Seienden. Heideggers Vorhaben in Der Ursprung des Kunstwerks besteht darin, alles, „was sich an Auffassung und Aussage über das Ding zwischen das Ding und uns stellen möchte“, zu beseitigen. „Erst dann überlassen wir uns dem unverstellten Anwesen des Dinges“.60 Was aber verstellt es? Es sich? Auffassungen und Aussagen können es verstellen, wurde gesagt. Tatsächlich heißt es bei Heidegger: „das Seiende erscheint zwar, aber es gibt sich anders, als es ist“.61 Genauer: „Seiendes schiebt sich vor Seiendes, das eine verschleiert das andere, jenes verdunkelt dieses, weniges verbaut vieles, vereinzeltes verleugnet alles“.62 Der Versuch, dem Begriff der Verstellung bei Heidegger weiter nachzugehen, erweist sich als zäh. Er findet keine häufige Erwähnung und kaum Erläuterung. Was sich aber sagen lässt, ist, wenn Sein und Zeit nach ihm befragt wird, dass er in Zusammenhang mit der Welt des Daseins steht. „Der phänomenologische Aufweis des In-der-Welt-seins hat den Charakter der Zurückweisung von Verstellungen und Verdeckungen“.63 Es lässt sich rekonstruieren, dass es die „in ihrer Bodenständigkeit verhüllten Seinsstrukturen und deren Begriffe“ sind,64 die jene „Verstellung“ der Phänomene bedingen. Es ist die „Seinsverfassung des Daseins selbst, gemäß derer es sich selbst – und d. h. auch sein In-der-Welt-sein – ontologisch zunächst von dem Seienden und dessen Sein her versteht, das es selbst nicht ist, das ihm aber ‚innerhalb‘ seiner Welt begegnet“.65 Ähnlich 57 Ebd. S. 35. 58 Ebd. S. 41. 59 Ebd. S. 33. 60 Ebd. S. 10. 61 Ebd. S. 40. 62 Ebd. 63 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 58. 64 Ebd. S. 36. 65 Ebd. S. 58.

7.2 Welt und Erde, Medium und Form

argumentiert Heidegger in Bezug auf Descartes, dessen Orientierung an der Tradition, seinen „Blick für das Phänomen der Welt [habe] verstellen“ müssen.66 Jene metaphysische Tradition, zu deren Destruktion die Fundamentalontologie ansetzt, die in ihrer „geläufig gewordene[n] Denkweise […] allem unmittelbaren Erfahren des Seienden vor[greift]“,67 findet auch in Der Ursprung des Kunstwerks ihre Kritik. Gerade die Auslegung des Seienden aus christlich-theologischer Überlieferung als Geschaffenes, als Stoff-Form-Gefüge gilt es zu überwinden, während jene Auffassung gleichzeitig ihre vorgängige Berechtigung hat, insofern das Seiende ursprünglich und zunächst als Zeug begegnet. Hierin ist es, wie im ersten der drei Kunstwerk-Vorträge erläutert, geordnet, verlässlich – die Welt eine der Geborgenheit –, aber eben auch vernutzt, verödet und gewöhnlich. Besonders eindrücklich heißt es in Wozu Dichter?: Der Mensch als „der Vorund Herstellende steht […] vor dem verstellten Offenen“.68 „Die Welt des Daseins gibt das begegnende Seiende auf eine Bewandtnisganzheit frei, die dem Man vertraut ist “, so Sein und Zeit, und will das Dasein die Welt sowie sein eigentliches Sein erschließen, müsse dies „als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt“ geschehen.69 Das Erschlossene ist im Gerede der „Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit“ des Man im Modus der Verstellung entdeckt, während die Anstrengung gerade darin besteht, das „schon Entdeckte gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich“ anzueignen.70 So etwas wie Erde schließt die luhmannsche Herangehensweise aus. Materiale Qualitäten ließen sich bei ihm lediglich als Widerstände „des Systems gegen sich selber – also etwa der Wahrnehmung gegen die Wahrnehmung“ rekonstruieren.71 Aber auch das Fragen nach der Sinn-Welt gestaltet sich schwierig. Der Begriff des Mediums als „offene Mehrheit möglicher Verbindungen“ verweigert sich seiner letzten Bestimmung. „Wollte man das, was in spezifischen Medien als ‚Element‘ fungiert, weiter auflösen, würde man letztlich ins operativ Ungreifbare durchstoßen […]. Es gibt, anders gesagt, keine Letzteinheiten“.72 Diese Ungreifbarkeit reproduziert sich ebenfalls auf Seiten der Form. Nicht nur muss sie ihr Anderes, Äußeres enthalten, sie schiebt in ihrem differenztheoretischen Kalkül sämtli 66 Ebd. S. 98. 67 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 16. 68 Heidegger, M. (2003). Wozu Dichter? In: Ders. Holzwege. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 293. 69 Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. S. 129. 70 Ebd. S. 222. 71 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 22. 72 Ebd. S. 168.

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chen, also auch unmittelbar wahrnehmungsbasierten, Sinnprozessen eine sprachähnliche kategorial ein- wie ausgrenzende Funktionsweise unter. Ähnliches unterstellt Derrida mit seinem Dogma der Schrift. Der Begriff der Form betont jedoch, was an Einheitsbildung problematisch ist: nämlich die Grenzziehung innerhalb eines Heterogenen, eben Nicht-Einheitlichen. Mehr noch, wird etwas als etwas beobachtet, stellt auch das Qualitative in der Form Gerahmte – ohne das es gar keinen „Gegenstand“ der Beobachtung gäbe – wiederum ein operativ Ungreifbares dar. In der Überlagerung, dem Chiasmus zweier Unzugänglichkeiten treten Welt und Beobachtung auseinander. Was Heidegger in der Gegenwendigkeit von Versagung und Verstellung, Erde und Welt thematisiert, bezeichnet gewissermaßen die offenen Flanken der luhmannschen Überlegungen. Nun entwickelt Luhmann die Unterscheidung von Medium und Form im Zuge einer Argumentation, die zunächst einmal nach den Bedingungen von Wahrnehmung und Beobachtung fragt. Sein Ansatz besteht darin, Kunst als eine Art nicht sprachliche, wahrnehmungsbasierte Kommunikation, als „ein funktionales Äquivalent zur Sprache“ zu begreifen,73 welche die von ihm vorausgesetzte und bereits kritisierte Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt und durch Worte nicht adäquat wiedergegeben werden kann. Generell verlange Kommunikation die laufende Kombination von Selbstreferenz und Fremdreferenz, sie verlange Zeichenstrukturen, die das Bewusstsein dazu zwingen, Bezeichnendes und Bezeichnetes simultan zu prozessieren und doch auseinanderzuhalten. Normalerweise operiert das Bewusstsein, so heißt es gleich zu Beginn, in der Form von Wahrnehmungen irreflexiv. Erst Sprache, so die Annahme, zwinge es, Mitteilung und Information auseinanderzuhalten. Sie biete die Möglichkeit, „reflexiv auf sich selber zurückgeführt zu werden“.74 Damit es Kunst geben kann, muss sich folglich der Wahrnehmungsprozess reflexivieren. Kunstwerke werden entsprechend als Mittel der Kommunikation begriffen, als Mitteilungen also, die „durch einen zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen“ Sinn wachrufen.75 Worin aber besteht die funktionale Gleichwertigkeit von Sprache und Kunst? Tatsächlich kann ja nichts, können selbst Worte nicht – wie sollte eine solche Übereinstimmung aussehen? – durch Worte wiedergegeben werden. Sie lassen sich erläutern oder übersetzen, aber nicht wiedergeben, sondern nur wiederholen; wobei jede Iteration eine Alteration bedingt – soviel lässt sich von Derrida lernen. Jegliche Kommunikation ist wahrnehmungsbasiert, auch Worte sind zunächst einmal Geräusche oder Bilder. Luhmann sagt demnach lediglich, dass Kunst nicht Sprache ist, sich 73 Ebd. S. 36. 74 Ebd. S. 31. 75 Ebd. S. 41.

7.2 Welt und Erde, Medium und Form

aber beide in ihrer Funktion entsprechen. Wobei Kunst, bei Luhmann wie Heidegger, freilich auch sprachlich sein kann, was die Unmöglichkeit der Wiedergabe im Sprachlichen selbst erkennen lässt. Jeweilige Mitteilungen wären wahrzunehmende Singularitäten, die eine Veränderung bedeuten; die insofern Sinn generieren, als sie informieren und das aus einem WeltErwartungshorizont heraus. Wahrnehmung ist hierfür in beiden Fällen Voraussetzung, ließe sich aber in keinem als verfügbar begreifen – schon gar nicht in zweckentfremdeter Weise, das schöbe dem Wahrnehmungsprozess ein ihm innewohnendes Ziel unter. Luhmanns eigentliches Problem besteht darin, dass er Wahrnehmung psychischen, Kommunikation aber sozialen Systemen zuschreibt. Zu den Bedingungen von Kunst gehört jedoch – so als handle es sich bei ihr in diesem Punkt um einen Sonderfall der Kommunikation –, dass sie wahrgenommen wird. Tatsächlich wird dieser Umstand bei ihr lediglich unabweisbar. Das Konzept der Reflexivierung von Wahrnehmung ist bereits problematisch. Es wird schließlich in der Regel nicht das jeweilige Wahrgenommenwerden von Kunst wahrgenommen (Wobei es sicher Werke gibt, die in diese Richtung zielen und bei hinreichend intensiver Auseinandersetzung – vielleicht sogar immer – ein Effekt auftritt, bei dem Betrachter auf ihr Beobachten zurückgeworfen werden; darum aber geht es Luhmann hier nicht.); vielmehr ist im Falle von Kunstwerken die Modalität der Mitteilung, sind ihre Verfahren und Materialitäten, die zunächst einmal keineswegs Kunst exklusiv sind, „Gegenstand“ oder zumindest Aspekt der Information. Dieses selbst-etwas-Sein der Mitteilung, das bei Luhmann normalerweise umgangen wird und in seinem Umgangensein erst zur Trennung von Wahrnehmung und Kommunikation führen kann, gerät in seiner Unabweisbarkeit zur Schwierigkeit. Fraglich, ob es überhaupt möglich ist, Wahrnehmung wahrzunehmen, oder ob sie nicht einen Letztbezug darstellt – welches Organ sollte diese Wahrnehmung leisten? Ist es möglich, das Sehen zu sehen? Oder thematisiert die terminologische Dopplung nicht letztlich das Phänomen des Bewusstseins? –, während die Differenz von Mitteilung und Information ohne jenes selbst-etwas-Sein, ein Unterschied zweier Selbstreferenzen wäre? Auch Heidegger denkt zunächst von einer Besonderheit der Kunst aus. „Das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde sind zwei Wesenszüge im Werksein des Werkes. Sie gehören aber in der Einheit des Werkseins zusammen“. In einer Notiz aus seinem Handexemplar heißt es hierzu in Bezug auf die Art, wie Bildhauer und Maurer Stein gebrauchen, jedoch: „Nur da? Oder hier nur in der gebauten Weise“.76 Heidegger fragt sich selbst, ob das von ihm aufgeworfene Prinzip, wie weiter oben behauptet, 76 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 34.

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keineswegs auf Kunst zu begrenzen ist. Die thematisierte Weise heißt: die „Erde her-stellen […]: sie ins Offene bringen als das Sichverschließende“.77 Kunstwerken haftet, insofern sie ihre Materialien oder Prozeduren ausstellen, ein selbstreferenzieller, genauer ein reflexiver Zug an. Die Verweisung verweist in einer reflexiven Bewegung auf das Verweisende, von dem her sie geschieht, und stoppt – um den Preis, sich jeder weiteren Erläuterung zu entziehen. Freilich lassen sich Erörterungen über das leuchtende Erscheinen der Farbe etwa, das Heidegger als Beispiel dient, anstellen, es lässt sich nur qua Thematisierung nicht einholen und wiedergeben. Das eigentlich Positive bleibt dem Diskurs ein Negatives; während jede Markierung der symbolischen Ordnung in zweifacher Weise nur aus und im Hinblick auf diese Positivität bedeutet: Insofern ihr ein Positives zugrunde liegt, das sich als bedeutend erst im Chiasmus mit einer bedeutenden Positivität konstituiert. Aus dieser Doppelung wird Bedeutung erst, und auch so etwas wie Aufmerksamkeitslenkung beispielsweise, plausibel. Die Stärke der Heideggerschen Argumentation besteht darin, das Erdhafte des Seienden auf beiden Seiten, also sowohl auf der des Bedeutenden wie auf der des Bedeuteten, zu verorten. Das sich anders gebende Erscheinen des Seienden geschieht aus einer Welt, die sich als eine Konstellation von Positivitäten dechiffriert. Die Erde „zeigt sich als das alles Tragende“,78 nach dem sich nicht als einem Ding fragen lässt, da sich ansonsten ein Regress formt, der es notwendig verfehlt. Es schiebt sich, konkret gedacht, wie zitiert, Seiendes vor Seiendes. Vom „Dinghaften [lässt sich] nie geradezu und wenn, dann nur unbestimmt wissen“.79 Damit ist auch gesagt, dass Welt nur von ihrem Grund her und als Chiffre zu dechiffrieren ist; von dem her, was sie als ihr Negatives trägt. Luhmanns Medium Sinn bedarf sozusagen eines Mediums, das es wachruft und an dem es sich konstituiert. Ohne aktuelle wie temporalisierte rezeptive Informationen sind Bewusstseinsinhalte, die einen Verweisungsüberschuss Welt aktualisieren, nicht zu plausibilisieren. Dass diese im Medium Sinn nicht greifbar sind, ist, mit der Annahme Sinn sei temporalisierte Information gesetzt. Das sich Einschreibende geht der Einschreibung, aus der es erst deutbar ist, voraus. Ohne das sich Gebende wäre die Differenz Medium/Form eine Tautologie, eine Differenz von Sinn und Sinn – potentiell und aktuell. Die Sinnformen folgen jeweils aus einander, sind letztlich nur in eins gegeben; insofern das Aktuelle aus seiner Potentialität sinnvoll ist und sich Potentialität am Aktuellen aktualisiert. Sinn wäre die Differenz von Sinn und Sinn. Die Konzeption bedarf einer Sinn negativen, ihn tragenden, rezeptiv sich gebenden Positivität – etwas Unsinnigem, um 77 Ebd. S. 33. 78 Ebd. S. 50. 79 Ebd. S. 57.

7.3 Verstehen bei Luhmann

nicht unsinnig zu werden. Deutbar ist Welt somit nicht anhand von Medien, sondern medialer Konstellationen oder Performanzen, als ein Gefüge der Verweisung und Verweigerung, der Verwiesenheit und Verstellung. Luhmann nennt das operativ Ungreifbare, benennt die Paradoxalität, die in der Nichtanerkennung positiver Voraussetzungen liegt, kann sich aber nicht entschließen, sie in seinen Entwurf einzubeziehen. 7.3 Verstehen bei Luhmann Soziale Reflexivität, die Soziale Systeme als Verstehen benennt, insofern „es um das Erleben des Erlebens und Handelns anderer Systeme geht“,80 wird sich jenseits medialer Reflexivität nicht herausbilden können. Das Erleben und Handeln Anderer ist schließlich nicht erlebbar, nicht irgendwie zu übertragen, sondern – psychologisch – Übertragung; in sie hineinprojiziert. Da Sinn unweigerlich wachgerufen wird und sich stets auf das eigene Erleben bezieht, fußt Verstehen im Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung. Im „Verstehen selbst“ liegt, so erläutert Luhmann, „derjenige Mechanismus, der die Sozialdimension gegen Sachdimension und Zeitdimension ausdifferenziert“.81 In Soziale Systeme argumentiert er, Kommunikation habe bereits unter vorgesellschaftlichen Verhältnissen, zeitlich, sachlich und sozial kaum differenzierten Sinndimensionen, möglich sein müssen, „und zwar Kommunikation im Vollsinne einer am Verstehen laufend kontrollierten Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen“.82 Jene wird als Synthese bzw. Einheit dreier Selektionen begriffen, die sich erst, wenn Verstehen zustande kommt – in der dritten Selektion – realisiert. Anders als Luhmann gehen die hiesigen Überlegungen jedoch davon aus, dass sich eine Mitteilung aus Erwartung, anhand einer unwillkürlichen Sinnunterstellung, so ließe sich sagen, konstituiert. Kommunikation lässt sich mithin erst rückwirkend als „dreistellige Einheit“ behandeln. Es kann nicht davon ausgegangen werden, „dass drei Selektionen zur Synthese gebracht werden“,83 da die Information nicht jenseits der Mitteilung und die Mitteilung nicht jenseits der Information gegeben ist. Was, wird die personale Begrifflichkeit beibehalten, offensichtlich für den Verstehenden gilt, aber ebenso für den sich Mitteilenden, dem sich die Information seiner Mitteilung eben auch erst im Moment seiner Mitteilung verrät. Auf die Idee, die Mitteilung einer Information würde die Information, die sie 80 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 110. 81 Ebd. S. 130. 82 Ebd. S. 567 f. 83 Ebd. S. 196.

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7. Mediale Reflexivität

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mitteilt „duplizieren, sie nämlich einerseits draußen lassen und sie andererseits zur Mitteilung verwenden“, kann nur kommen, wer, zugunsten der Feststellung, so werde die Ausdifferenzierung des Kommunikationsprozesses bewirkt, wie bereits zitiert, auf „die technischen Probleme einer solchen Codierung“ nicht näher eingeht.84 Vielmehr sind Mitteilungen bereits Antwort.85 Ich höre „mich in dem Moment sprechen, in dem ich spreche“.86 Der Skandal kommunikativer Verhältnisse wäre nicht, dass ein Verstehen des Erlebens Anderer – im emphatischen Sinne – strukturell ausgeschlossen, also „praktisch immer ein Missverstehen ohne Verstehen des Miss“ ist,87 und damit trotz Erwartung stets unabsehbar ist, wie etwas aufgefasst wird, sondern dass die eine Situation Konstituierenden sich selbst erst situativ konstituieren. Verstörend – ohne dass deshalb die „Vormacht des Allgemeinen“ evident würde,88 wie Adorno in seinem Exkurs zu Hegel meint – mag dieser Umstand etwa in Bezug auf Entscheidungsfindungsprozesse von Gremien sein. Ebenso „magisch“ ist er aber etwa hinsichtlich intimer Gespräche im herkömmlichen Sinne. Information und Mitteilung sind nicht als zwei Selektionen zu begreifen, die anhand einer dritten, verstehenden verbunden werden. Luhmanns, so in seiner Einführungsvorlesung geäußerte These, „dass der Unterschied zu den Informationen und Mitteilungen im Verstehen fundamental ist“, bleibt dennoch richtig. „Andernfalls erleben wir nur Verhalten“.89 Auch zutreffend ist, dass Verstehen ein Modus der Selbstbeobachtung ist, und zwar derjenige, in dem sich das Selbst der Beobachtung anhand einer medialen Differenz konstituiert. Lediglich in der genannten Vorlesung wird, soweit bekannt, entsprechend vom „Wie“ oder „Was“ der Beobachtung abgesehen und formuliert: „Das Verstehen versteht, dass es versteht, wenn man so will“.90 Erst von einem Verstehen, das versteht, dass es versteht, kann als einem Verstehen die Rede sein. Erst von diesem „Dass“ aus lassen sich Überlegungen zur Modalität der Beobachtung über das „Wie“ oder „Was“ anstellen. „Jemand muss verstanden haben, sonst kommt die Kommunikation nicht zustande“.91 Verstehen ist damit konstitutiv für jegliche Sozialität. In Die Realität der Massenmedien heißt es diesbezüglich, dass „Kommunikation überhaupt nur dadurch zustandekommt, dass sie 84 Ebd. S. 197. 85 S.o. 86 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 260. 87 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 173. 88 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.S. 302. 89 Luhmann, N. (2002). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: CarlAuer-Systeme. S. 299. 90 Ebd. S. 300. 91 Ebd. S. 260.

7.3 Verstehen bei Luhmann

in der Selbstbeobachtung (im Verstehen) Mitteilung und Information unterscheiden kann“.92 Dieser Schritt, der selbstbeobachtendes Verstehen zur selbstreferenziellen Bewegung einer hypostasierten Kommunikation macht – in den genannten, durchaus paradigmatischen Zitat ist es die Kommunikation, die unterscheidet –, ist jedoch nicht zu plausibilisieren. Die luhmannsche Argumentation ist also umzukehren. Schreibt dieser, dass die „Attribution auf ein anderes Ich […] nicht nur doppelte Kontingenz, sondern in dieser Kontingenz interpenetrierende System/UmweltVerhältnisse“ voraussetzt und erst dadurch ein Verstehen möglich sei, „das das eigene Ich in der Welt des anderen und das andere Ich in der eigenen Welt lokalisiert“,93 so ist darauf hinzuweisen, dass das, was als Voraussetzung einer Verstehenssituation ausgemacht wird, Verstehen impliziert. Das geschilderte Ableitungsverhältnis ist tautologisch, insofern doppelte Kontingenz verlangt, dass sich Alter und Ego in der Welt des jeweils Anderen ausmachen. Stattdessen ist herauszustellen, dass sich erst anhand der elementaren Verstehensdifferenz Verweisung/Verweisendes die geschilderte Attributionskonstellation entfalten kann. Anderenfalls würde, wie Luhmann erläutert, nur Verhalten erlebt. Jenseits medialer Reflexivität bliebe es bei sich wechselseitig bedingenden Konditionierungen, ohne dass von System-Umwelt-Verhältnissen die Rede sein könnte. Tatsächlich setzt Luhmann Verstehen voraus, wenn er zuvor formuliert: „Verfügt das System, von dem wir ausgehen, über die Fähigkeit zu verstehen, kann es die Systeme in seiner Umwelt aus deren Umwelt begreifen. Es löst damit die primär gegebenen Einheiten seiner Umwelt in Relationen auf. Dann erscheint dem System seine Umwelt als differenziert in verschiedene System/Umwelt-Perspektiven, die sich wechselseitig überschneiden und insofern insgesamt die Einheit der Umwelt repräsentieren“.94

Sofern sich nicht an der Terminologie gestoßen wird, ist im Grunde lediglich einzuwenden, dass Verstehen keine Fähigkeit ist, über die irgendjemand verfügen würde, sondern aufgebürdet. Ansonsten müsste Bewusstsein, wie gesagt, entweder ein einfach neurophysiologisch zu begründendes Vorkommnis sein oder sich selbst erwecken, was im Kontext der hiesigen Überlegungen beides bezweifelt wird. Das jeweils individuelle Bewusstsein muss sich nämlich einerseits als der Welt zugehörig, als in sie integriert begreifen, und gleichzeitig eine distanzierte Stellung zu ihr einnehmen. Jenseits dieser Distanz müsste es sich 92 Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS. S. 171. 93 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 307. 94 Ebd. S. 256 f.

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7. Mediale Reflexivität

als von der Sinn- also Wahrnehmungswelt assimiliert erfahren und nicht als Subjekt, das innerhalb dieses Rahmens über sich verfügt. „Soziologisch gesehen, ist diese Distanz aber nichts ursprüngliches […]. Wir sehen sie nicht als Faktizität der transzendentalen Situierung, sondern als Effekt der Tatsache, dass Ego das Verhalten Alters als Kommunikation auffasst und ihm dadurch zumutet, diese Distanz anzunehmen. […] Entscheidend ist, dass erst die Sozialität der Situationsauslegung diese Aporie erzeugt “.95

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Aus der Differenz von Information und Mitteilung ergeben „sich zwei Anknüpfungen, die nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen sind“.96 Damit jedoch Ego Alter die Auffassung seines Verhaltens als Kommunikation zumuten kann, muss Alter Ego bereits verstehen. Verstehen kann damit nicht kommunikativ prozessiert werden, sondern ist Faktor, damit Kommunikation zustande kommt. Auf diese Weise aber kehrt sich die Diagnose um. An der Aporie des Medialen, seiner Reflexivität erst entfaltet sich die Sozialität der Situation, die es Alter wie Ego erlaubt, sich in Distanz zur Welt zu erfahren. Erst von hier aus wird es möglich sein, Umwelt in Relationen aufzulösen und jeweils sich in sich überschneidenden Perspektiven einzuordnen – was nichts anderes meint, als Beobachtungen zu beobachten wie sich als beobachtet zu beobachten; nichts anderes als Erwartungen zu erwarten und sich unweigerlich in erwartete Erwartungen einzugliedern. Ist die vorgebrachte Argumentation stichhaltig, so ist jegliche philosophische, soziologische oder erkenntnistheoretische Überlegung nur von diesen Kenntlichkeitsbedingungen aus zu begründen. Nicht auf einen unmöglichen Beobachterstandpunkt lässt sich berufen, sondern ausschließlich auf eine medialreflexive Binnenstruktur, die das jeweils eigene Denken begründet. Es ergäbe sich das Bild unabschließbarer, in ihrer Unabschließbarkeit aber begründeter Reflektion. Ereignisse können nicht „in codierte und nichtcodierte unterschieden werden“,97 wenn die Kenntlichkeit des Unkodierten – selbst in Negativität – ausgeschlossen wird. Die Bedingungen der Vermittlung müssten anderenfalls in der Vermittlung aufgehen. Codierte Ereignisse müssten so in der Wirkung ihrer Informationen verschwinden und mit ihr ein Standpunkt ihrer Verstehbarkeit.

95 Ebd. S. 196. 96 Ebd. S. 195. 97 Ebd. S. 197.

7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno

7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno Von hier aus lässt sich schließlich wieder Adorno zuwenden und feststellen, dass keineswegs nur „der Geist der Kunstwerke“ in „Stofflichkeit“ zündet; es ist ihm hier vielmehr nur eben verwehrt, „als Geist“ aufzutreten.98 So wie es unzulässig ist, Wahrnehmung von Wahrnehmung, dem, was wahrgenommen wird, trennen zu wollen, gibt es nichts Geistiges, ganz generell, ohne dass, was sich ihm gibt, dass, worauf es antwortet und dass wovon es, an ihm befestigt, abgestoßen ist. Was sich gemäß der Ästhetischen Theorie aus seiner Inkommensurabilität als albern oder clownesk kontrastiert, ist selbst nur in „Entäußerung an die Sachen hindurch“.99 Das Dasein, jeweils wir, sind im Sehen, im Hören, in Vollzügen sichtig oder hörig, in Anspruch genommen, angezogen oder abgestoßen. Heißt es bei Heidegger, wir seien in der Sprache, sind wir genauso in Bildern, in Musiken oder Tänzen. Trotz immanenter Differenz erscheint es wenig sinnvoll, beispielsweise das Bild vom Bild, das Wort vom Wort oder die Musik von der Musik trennen zu wollen. „So wenig ein Geistiges an [… Kunstwerken] zählt, das nicht aus der Konfiguration ihrer sinnlichen Momente entspränge [, …] so wenig ist ein Sinnliches an den Werken künstlerisch, das nicht in sich durch Geist vermittelt wäre“.100 Aus medientheoretischer Sicht aber sind eben nicht nur Kunstwerke, zumindest nicht ausschließlich, nicht „als hermeneutische Objekte zu begreifen“, sondern zu begreifen, dass alles Geistige sich aus Verweisung im Vorgeistigen, Unbegreiflichen begründet.101 Es ist überhaupt kein Gedanke, keine Interpretation, kein Sprechen oder Lesen ohne mimetisches Moment, ohne Mimesis – Nachvollzug – am sinnlich Stofflichen. Der Kontrapunkt, der von Adorno beklagten Vergeistigung ist jener nicht einfach konträr, sondern ihr Medium und Geistiges damit in sich kontradiktorisch. Existenz klebt an Materialität. Fast erscheinen die Konstellationen des Stofflichen gleich eines medialen Milieus, als exogenes Skelett dessen, was sich als von Stofflichkeit abgehoben begreifen möchte. Was Adorno unter dem Titel Geist von Hegel übernimmt, ist Antwort aus Temporalität und überindividuell an ihm, nicht zuletzt, was es von sich abstoßen will. Geistiges ist untrennbar verbunden mit seiner eigenen Negation. Partizipiert Kunst am „Gesetz von Aufklärung“,102 das der Ästhetischen Theorie zufolge letztlich darin mündet, dass sich Geist als vermeintlicher Erzeuger seiner eigenen Unwirklichkeit gewahr wird – und zwar mittels einer nicht 98 Adorno, T. W. (1997). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 180. 99 Ebd. 100 Ebd. S. 135. 101 Ebd. S. 179. 102 Ebd. S. 180.

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näher bestimmten Selbstbesinnung, die zwischen Realität und Imagination unterscheiden kann –, so deshalb, weil die Kraft jener Gesetzlichkeit eben nicht ihm, sondern seiner immanenten Entselbstung zuzurechen ist. Ob im Tempelwerk der Gott anwest, wie es bei Heidegger heißt, oder in einer Symphonie oder einer Skulptur oder einem Text eine Wahrheit, ist letztlich gleich. Viel eher blickt etwa ein Bild seinen Betrachter an, als er es und konstituiert den Blickenden in einem Schauen, das somit kaum als seines zu erachten ist. Es zwingt dem Sehenden, der sieht, weil er im Sehen ist, sich auf. Das Sehen antwortet unwillkürlich. Es lässt sich abwenden – und selbst das mitunter kaum –, aber nicht ein Bild nicht sehen. Nicht anders bei Skulpturen, Musiken, Texten oder Tänzen, ihnen gewahr lässt sich ihrer nicht ungegenwärtig sein. Anders aber als etwa die Rinde eines Baumes, deren Rauheit nur aus Erfahrung, ihrem taktilen Ereignen, sichtbar ist, ist die Abbildung einer solchen Borke nicht, worauf sie verweist, während sie doch erst aus jener Verwiesenheit ist. Argumentiert Adorno, Verstehen selbst sei, angesichts dessen, was er als Rätselcharakter der Kunst herausarbeitet, eine problematische Kategorie, so ist zu erwidern, dass aus dem Vexierbild, das eine jede mediale Konstellation darstellt, sich Verstehen überhaupt als eines verständlich werden kann – und so erst problematisch. Auf diesem Weg lässt sich dem Begriff des Verstehens annähern. Jegliches ist letztlich wahrnehmungsbasiert. Der Mechanismus, aus dem etwa eine diskursive Erörterung oder eine Darstellung bedeuten – nämlich aus Verwiesenheit – und das Erörterte oder Dargestellte ist – dessen Erörterungen und Darstellungen ihm alltäglich mitgängig sind –, ist der gleiche. Die Mitgängigkeit resultiert aus jener Übereinstimmung. „Heidegger hat für sich“, schreibt Adorno insofern zurecht, „dass es kein sprachloses An sich gibt“.103 Die Konstellationen der Wahrheit, in denen Sprache steht, an denen sie einen konstitutiven Anteil hat, sind aber ebenso von Bildlichkeit oder von Musikalität – aus der Fülle einer sich gebenden Welt – konstituiert und zwar aus Verwiesenheit in Wahrnehmung. Nicht nur das Sichtbare verändert das Sehen, allgemein das sich der Wahrnehmung Gebende die Wahrnehmung. Hieraus wird ihre Historizität ersichtlich. „Sprache“, heißt es in der Negativen Dialektik, „wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewusstsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten“.104 Dieses Bewusstsein kann es nur geben, wo im Verstehen, am Stoff der Verweisung, Verwiesenheit explizit ist. Wahrheit – die eines Bildes, eines Tanzes oder Diskurses – wird so zu einem in sich gebrochenen Begriff. Keineswegs verweigert sich Heidegger jener sprachphilosophischen Reflektion, wie Adorno bemängelt. Vielmehr bleibt auch die Dialektik von Wahrheit und Unwahrheit, die gewisserma 103 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 117. 104 Ebd.

7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno

ßen Rücken an Rücken zur negativen Dialektik steht, nicht anders als jene, auf Sache oder Seiendes fokussiert, stecken, ohne letzte Rechenschaft darüber abzulegen, was ihre jeweilige Einsicht ermöglicht. Ist die Geschichte des Denkens, soweit sie sich zurückverfolgen lässt, Dialektik der Aufklärung, kann die Doppelbewegung von Kritik und Erneuerung des Geistes am Mythos eben nicht auf Kunst begrenzt sein – was Adorno so auch nicht behauptet –, sondern gründet im Materialen auch der Begriffe selbst. Kritisiert er, die ontologische Differenz beseitige sich, wenn das Wesen des Daseins, wie Heidegger sagt, in der Existenz liege, so träfe dies zu, wenn sich Existenz nicht erst in stofflichen Konstellationen ergäbe. Die Wahrheit des Seienden aber durchragt ein Riss, der den „Sinn von Sein“ als Wahrheit eines Bezugs – als Ex-istenz, als ekstatisch – begründet. Die Rede von der Verbegrifflichung des Nicht-Begrifflichen im Begriff der Nicht-Begrifflichkeit ist unsinnig, da jener erst aus seiner Gebrochenheit, vom Nicht-Begrifflichen an ihm her, verständlich ist. Jenseits dieser Differenz könnten weder Sprache noch Bilder, noch irgend sonst etwas als Medium ersichtlich sein. Das Verstehen fiele mit dem Verstandenen zusammen und wäre so keines. Hierin ist Adornos Beanstandung berechtigt. Alleiniges Haus des Seins wäre Sprache nur dem Begriff nach, in einem profanen Sinne, während auch in ihr Sein wohnt. Einen besonderen Status hätte sie damit gleichwohl, insofern in „Sein“ – so wie hier verstanden, als Bezug in Differenz aus vorgängiger Indifferenz – Mythos und Aufklärung zusammenfielen. Um dem Verdacht, hier werde der Jargon großer Denker zu kabbalistischem Geschwafel verquirlt, vorzubeugen, soll der Gedanke noch einmal möglichst prägnant verknappt werden. Es wird zur Diskussion gestellt, dass das, was ein „Stehen in der Lichtung des Seins“ ermöglicht und das, was die Dialektik von Mythos und Aufklärung – ihr flackerndes Licht sozusagen – bedingt,105 in einem gemeinsamen Moment fußen. Dieses hat nichts mit der Übertragung, Speicherung oder Prozessierung von etwa Daten oder Informationen zu tun, sondern der Kenntlichkeit von Verweisung als Voraussetzung, um so etwas wie etwa Speicherung überhaupt entdecken zu können. Von diesem Moment der Kenntlichkeit von Verweisungen ist hier als reflexiver Medialität die Rede. Wird angesichts der genannten Überlegungen noch einmal Horkheimer und Adorno, die Dialektik der Aufklärung gelesen, und hier zum Begriff der Aufklärung, vor allem aber den Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung, so lässt sich jenseits der reichlich strapazierten Kulturindustrie ein medientheoretischer Kern jener Auseinandersetzung ausmachen. Die List nämlich, die im Zentrum des zweiten Kapitels 105 Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klos­ termann. S. 15.

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7. Mediale Reflexivität

steht, „lebt von jenem zwischen Wort und Sache waltenden Prozess“,106 heißt es dort. Erst der Listige, Odysseus, ist demnach seines Schicksals mächtig. So wie von den Autoren gedeutet, konstituiert er sich als Selbst überhaupt nur, wo er die Naturgottheiten überlistet, letztlich betrügt. Fraglich, ob jenes Schicksal je „eins mit dem gesprochenen Wort“ der mythischen Erzählung war.107 Ein Sprechen jenseits einer „Allgemeinheit der Sprache“,108 des Unterschieds von Begriff und Begriffenem, ist eben kaum plausibel. Einem Kind bereits muss, Adorno zufolge, die Fragwürdigkeit dieser Differenz ausgetrieben werden. Es hat demnach früh ein Bewusstsein ihrer. Mehr noch, die Autoren geben an, dass die Erfahrung, dass „die symbolische Kommunikation mit der Gottheit durchs Opfer nicht real ist“, uralt sein müsse.109 Bereits im animistischen Glaube sei die „Urform“ dialektischen Denkens auszumachen. „Wenn der Baum nicht mehr bloß als Baum, sondern als Zeugnis für ein anderes, als Sitz des Mana angesprochen wird, drückt die Sprache den Widerspruch aus, dass nämlich etwas es selber und zugleich etwas anderes als es selber sei, identisch und nicht identisch. Durch die Gottheit wird die Sprache aus der Tautologie zur Sprache“.110

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Jener Widerspruch, Baum und Zeichen, selbst und Sitz von etwas Anderem zu sein, aber wird von Sprache eben nur benannt. Die Dialektik von Identität und Nicht-Identität, das Moment der Medialität, durchschneidet, so wie thematisiert, den Baum als Medium übernatürlicher Kraft, nicht seinen Begriff. In ihm, und nicht erst durch das Opfer, ist der Bezug zur Gottheit bereits der einer „unterbrochene[n] Kommunikation“.111 Abstraktion mag „das Werkzeug der Aufklärung“ sein,112 sie wäre aber nicht das sie ermöglichende Moment, sondern dasjenige, das Aufklärung fortwährend in Mythos zurückschlagen lässt; da immer nur Erzählung durch Erzählung ersetzt wird. Hier trifft das derridasche Bild der sich historisch lediglich erneuernden und vermehrenden Diskurse. Dass „die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, […] selbst schon deren eigenes Produkt“ waren,113 insofern sie etwa Erklärungen für die Kräfte der Natur anboten, ist einsichtig. Würde durch Mythen Unmittelbarkeit hergestellt, wären sie reinste Magie. Sie sind aber lediglich im Unmittelbaren 106 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 79. 107 Ebd. 108 Ebd. S. 61. 109 Ebd. S. 69. 110 Ebd. S. 32. 111 Ebd. S. 69. 112 Ebd. S. 29. 113 Ebd. S. 24.

7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno

mitgängig und als Erzählung an sich selbst kenntlich. „Dialektik offenbart […]“, heißt es im ersten Kapitel, „jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet“.114 Begriff und Sache können nur auseinander treten, weil Begriffe in sich kontradiktorisch sind. Der Keim der Aufklärung liegt im erzählt-Sein – im stimmlich-hervorgebracht- oder in Bildern wie Texten abgelegt-Sein etwa – des Mythos selbst. Der Fokus der Reflektion wendet sich von der bestimmten Negation, von einer negativen Dialektik weg hin zu einer negativen Medientheorie. Tatsächlich ist diese Wendung bei Horkheimer und Adorno bereits angelegt, wenn auch nicht ausgetragen. Die Wahrheitsfähigkeit des Bildes, die am Eingeständnis seiner Falschheit hängt – darin „nur“ ein Bild zu sein –, liegt im Bild selbst. Mythen sind aus dieser Perspektive nicht als Produkt, sondern ihre Medialität als Motor der Aufklärung zu thematisieren. Der Unterschied von Bild und Schrift wird im Anhang der Dialektik der Aufklärung zum Schema der Massenkultur, als Differenz von Auffassung und Betrachtung, von Absorption und immanenter Antithese, behandelt. Obwohl auch diese Figur eine dialektische Wendung erfährt, lässt sich sagen, dass demnach im Schrift-Sein der „Bildcharakter der Bilder“ sichtbar ist.115 Entsprechend wird zum Ende von Exkurs I erläutert, dass Subjektivität erst „in der Erkenntnis der Nichtigkeit der Bilder ihrer selbst mächtig wird“.116 Als das Wesen der Bilder wird der Schein erkannt. Wer sie betrachtet, ist ihrer Medialität gewahr und sich gegenwärtig. Geist, temporal gedeutet, macht sie zur Schrift, insofern er Spur, Einschreibung ist. „Sein Ort ist die Konfiguration von Erscheinendem. Er formt die Erscheinung wie diese ihn; Lichtquelle, durch welche das Phänomen erglüht, Phänomen im prägnanten Sinn überhaupt wird“.117 Von hier aus greift negative Dialektik. Wahr kann Sprache nur vermittels eines ihr immanent gegenläufigen Prozesses sein. Schreibt Adorno Kunst allgemein einen sprachähnlichen Charakter zu, dann insofern, als das „sprachähnliche Moment der Kunst […] ihr Mimetisches [ist]; beredt allgemein wird sie einzig in der spezifischen Regung, weg vom Allgemeinen“.118 Zurecht lässt sich darauf hinweisen, dass bei modernen Medientechnologien ihr selbst-etwas-Sein, um möglichst widerstandslos absorbiert zu werden, so unauffällig wie möglich gestaltet wird – die Passage zum Schema der Massenkultur läuft eben darauf hinaus, während ein Unterschied zu Kunst hieran festzumachen 114 Ebd. S. 41. 115 Ebd. S. 333. 116 Ebd. S. 95. 117 Adorno, T. W. (1997). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 135. 118 Ebd. S. 305.

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7. Mediale Reflexivität

wäre. An ihrer materialen Singularität im Moment der Rezeption kommen aber auch sie als Massenware nicht vorbei. Zum Begriff der Schrift in der bildenden Kunst heißt es in der Ästhetischen Theorie: „alle Kunstwerke sind Schriften, nicht erst die, die als solche auftreten, und zwar hieroglyphenhafte, zu denen der Code verloren ward und zu deren Gehalt nicht zuletzt beiträgt, dass er fehlt. Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift“.119 Was an Kunstwerken zum „Knistern“ gebracht wird, ist ihr antagonistisches, mediales Moment. Verweisung ist temporal in Objektivation verschlüsselt und der Widerspruch von Identität und Nichtidentität damit jedem Medium inhärent. Kunst in diesem Sinne trägt ihn aus. Die Konfiguration von Sprache, Mimesis und Schrift beschreibt den Ort des Erscheinens als einen aus doppelter Vergangenheit; die einer Einschreibung als Vergegenständlichung, als Spur oder Chiffre gesellschaftlicher Arbeit und die einer zu Mimesis begabenden Einschreibung in die Wahrnehmung. So ist „die Identität des Selbst [als] Funktion des Unidentischen“ zu begreifen.120 Die Rede davon, in den „Stoffschichten“ Homers hätten sich die Mythen niedergeschlagen, lässt sich gewissermaßen wörtlich nehmen. Anhand ihrer Stofflichkeit gelingt es dem Subjekt, den mythischen Mächten zu entfliehen – aus ihnen zu erwachsen. Sie ist gewissermaßen das Material des Weges des „im Selbstbewusstsein erst sich bildenden Selbst[s] durch die Mythen“.121 Die Thematisierung des Tausches als säkularisiertes Opfer – Tauschprinzip und Identifikation werden, wie gesagt, als verwandt gedacht –, erfährt noch eine tiefere Deutung. Entscheidend ist hier, dass erst da, wo eine Opferhandlung als symbolisch, ihr Medium als arbiträr, erkannt ist, ein listiger Umgang, letztlich eine Lüge, möglich wird. Medialität ist damit vorausgesetzt. „Das Moment des Betrugs im Opfer ist das Urbild der odysseischen List“,122 so wird erläutert. Nachvollziehbar ist, dass planmäßig betriebene Opferhandlungen den Gott, dem sie gelten, betrügen, insofern sie ihm ein menschliches Kalkül unterstellen und seine Macht aushöhlen. 226

„List jedoch besteht darin, den Unterschied [den zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem] auszunutzen. Man klammert sich ans Wort, um die Sache zu ändern. So entspringt das Bewusstsein der Intention: in seiner Not wird Odysseus des Dualismus inne, indem er erfährt, dass das identische Wort Verschiedenes zu bedeuten vermag“.123

119 Ebd. S. 189. 120 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 67. 121 Ebd. S. 46. 122 Ebd. S. 68. 123 Ebd. S. 79.

7.4 Die Lücke im Vertrag bei Horkheimer und Adorno

Tatsächlich lässt sich der Mensch ohne Lüge kaum denken und diese sich ohne ein distanziertes Verhältnis zum jeweiligen Medium des Betrugs nicht plausibilisieren. In dieser Hinsicht ist in der kindlichen Entwicklung der Moment elementar, wenn der Schrei im Puppentheater „Vorsicht, Kasper! Hinter Dir!“ ausbleibt. Es fällt auf, dass Horkheimer und Adorno die Genese des Bewusstseins zwar aus Bedrängnis geboren, aber letztlich als einen intentionalen Akt deuten. Intention aber setzt Bewusstsein voraus. Es würde sich demnach aus sich selbst schaffen. Es trotzt sich seiner Auflösung in Natur ab. Gleichzeitig wird der genannte Dualismus negativ dialektisch und nicht als medialer gedeutet. Dabei ist es die kenntliche Stellvertretung, die den Zusammenhang zur Natur durchschneidet. Bereits zuvor wird erläutert: „Die List ist nichts anderes als die subjektive Entfaltung solcher objektiven Unwahrheit des Opfers, das sie ablöst“.124 Das Argument von der Polysemie identischer Worte aber machte Aufklärung zu „Teekesselchen“. Tatsächlich durchkreuzt die Dialektik von Identität und Nicht-Identität die Worte selbst. Paradox formuliert, sind sie, was sie bedeuten und sind es – in ihrer Stofflichkeit – nicht. Medialität bestimmt sich anhand eines Medien immanenten alteritären, unidentischen Moments, das sie erst kenntlich werden lässt. „Das Organ des Selbst, […] ist die List“ und „List entspringt im Kultus“.125 Die „Lücke im Vertrag“, die Odysseus aufspürt,126 waltet als mediale in diesem. Aus ihr ist Sprache Bezeichnung. Jenseits dieses Bruchs wären Medien das Selbst desintegrierende Magie; anhand ihrer konstituiert sich seine dialektische Autonomie als niemals autonome. Die affirmative Thematisierung von Medien als magische Kanäle ist irrationalistisch. Das Selbst auf Selbstbesinnung zurückführen zu wollen, hieße, es mit der Genese seiner selbst zu überlasten. Tanz oder Gesang im reinen Vollzug sind Selbstvergessenheit. Die Möglichkeit des Innehaltens in der Erzählung ist nicht die Zäsur, sondern entspringt einer, Kraft derer ein Schein von Freiheit aufblitzt. Wird in der Vorrede der Dialektik der Aufklärung von der in „Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung“ gesprochen,127 stellt sich die Frage, vor welcher sie erstarrt sein sollte, wenn nicht ihrer immanenten medialen Unwahrheit? Was sonst wäre einer Theorie, die der Annahme geschichtlich unveränderlicher Wahrheiten entgegentritt, wie im Kommentar zu Neuausgabe erläutert,128 angemessen? Die Entzauberung der Welt beginnt mit der Entzauberung der Medien ihrer Darstellung 124 Ebd. S. 69 f. 125 Ebd. S. 67/69. 126 Ebd. S. 78. 127 Ebd. S. 14. 128 Ebd. S. 9 f.

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7. Mediale Reflexivität

oder Erzählung, jenseits derer sie als solche nicht ist. Vernunft speist sich aus den Mythen, die sie zerstört und lässt sich damit nur prozessual deuten. Was sie, wo sie sich als gegeben begreift, bedroht und ihren reaktionären Zug erklärt, ist ihre eigene reflexive Bodenlosigkeit, aus der sie zur Vernunft kommen müsste – aus der von Vernunft, nicht als Vermögen, sondern einem Verstehen, das sich in seinem Verstehen versteht, erst die Rede sein kann. 7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger Von Reflexivität ist in Soziale Systeme als von einem innerkommunikativen Sachverhalt, als von „Kommunikation über Kommunikation“ die Rede.129 „Reflexiv sind Prozesse, die auch auf sich selbst angewandt werden können“.130 Die These ist, dass erst Sprache die Reflexivität eines Kommunikationsprozesses sicherstellt. Grundlegend hierfür ist die Differenz von Information und Mitteilung. Sprache wird dabei als apriorisch für alle anderen nonverbalen Kommunikationsformen inklusive Kunst begriffen, denn erst Sprache soll die Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen aus einem Wahrnehmungskontext ermöglichen. Anhand der Differenz Mitteilung/Information kommuniziert demnach alle – zunächst einmal sprachliche, dann aber doch jegliche – Kommunikation, dass sie eine ist. Sie ist insofern reflexiv. Da aber jede Form, insofern sie sich selbst enthalten muss, selbstreferenziell ist, differenziert Luhmann die basale Selbstreferenz der Unterscheidung von Unterscheidung (dem, was er als Element begreift) und Relation von der Reflexivität als prozessualer Selbstreferenz. Hierfür ist das zeitliche Nacheinander, die Differenz vorher/nachher, die in der Prozessualität des Prozesses angelegt ist, grundlegend.

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„Von Reflexivität soll immer dann die Rede sein, wenn ein Prozess als das Selbst fungiert, auf das die ihm zugehörige Operation der Referenz sich bezieht. So kann im Vollzug eines Kommunikationsprozesses über den Kommunikationsprozess kommuniziert werden. Reflexivität nimmt also eine Einheitsbildung in Anspruch, die eine Mehrzahl von Elementen (oft unzählige) zusammenfasst und der die Selbstreferenz selbst sich zurechnet“.131

Bemerkenswert ist, dass Luhmanns Erläuterung dessen, was er als prozessuale Selbstreferenz verstanden sehen will, eben die Struktur aufweist, die sie erläutert. „Von … soll die Rede sein, wenn …“. Die Formulierung be 129 Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 199. 130 Ebd. S. 210. 131 Ebd. S. 601.

7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

nennt sogar das eigene Reden und ist insofern explizit metakommunikativ. Dabei heraus kommt jedoch etwas, das als basal selbstreferenziell zu begreifen wäre, eine Beobachtungskategorie, ein erläutertes Wort: „Reflexivität“. Die Erläuterung geht in die Relationen des Welthorizonts ein, aus dem und in Unterschied zu dem der Begriff bedeutet. Die beschriebene Operation ist eine der Abstraktion. Obwohl der konkrete Satzbau den Begriff an den Anfang stellt, gehört das, was ihn erläutert, dabei stets der Vergangenheit an. Aus der Zeitlichkeit des Prozesses resultiert ein Gefüge der Nachträglichkeit, in dem ein Prozess sich nie selbst meinen kann, seine Reflexivität insofern also ausschließt. So gedacht, verlangen reflexive Strukturen, um reflexiv zu sein, Gleichzeitigkeit. Das Nonverbale wird von Luhmann dabei, schon per Definition, aus einem Primat der Sprache gedacht, während der Mechanismus, nach dem gefragt wird, auch Sprache fundiert. Die Differenz von Information und Mitteilung setzt voraus, dass sich eine jeweilige Mitteilung immer schon aus einem sinnlichen Zusammenhang differenziert hat. Jenes, dies ermöglichende Moment muss gleichwohl sprachlichen wie nicht sprachlichen Mitteilungen zugrunde liegen. Die paradoxe Struktur der Form konkretisiert sich an der Mitteilung, die als wahrnehmungsmäßige Beobachtung zu denken ist, während die Information der Beobachtung nicht in der Selektion im Faktum der Mitteilung besteht. Mitteilung und Information erscheinen als auf das Eigenartigste aneinander befestigt. Sie ereignen sich zeitlich parallel, simultan. Die luhmannsche Argumentation aufgreifend, ließe sich versuchen vom ‚Zugleich‘ einer primären und einer sekundären Information zu sprechen. Die Schwierigkeit bestünde jedoch darin, dass das Sein der Mitteilung gerade darin besteht, eine Information zu haben. Ohne etwas Eigenständiges an der Mitteilung, etwas, dessen sich nicht erwehren lässt, ist diese nicht denkbar und dennoch ist sie nicht eigenständig. Sie erschließt sich als solche erst aus einer Welt. Form oder besser Beobachtung (ob der Formbegriff so noch trägt, muss hier offen bleiben) konstituiert sich demnach, wie eingangs gesagt, anhand der Verweisungen bzw. Erwartungen, die sich in ihr aktualisieren. Insofern ist sie erst aus einem responsiven Verhältnis informativ. Das positiv Eigenständige an ihr ist das Negative ihrer selbst, von dem her sie erst in Differenz kenntlich ist. Obwohl nur paradox zu formulieren, würde diese Figur die luhmannsche Form entparadoxieren, ohne sie zu vernachträglichen, ohne so zu beobachten, als „ob wir es von außen tun könnten“.132 Als reflexiv sind Strukturen also zu denken, die sich in sich von sich differenzieren. Die gemeinte Differenz legt sich quer zu den hergebrachten Dualismen von Subjekt und Objekt, Geist und Körper, aber auch Natur 132 Luhmann, N. (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 174; vgl. S. 98 f.

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7. Mediale Reflexivität

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und Kultur oder System und Umwelt. Sie durchschneidet sie gewissermaßen horizontal, wo gewöhnlich vertikal, in Richtung der deutenden Beobachtung gedacht wird. Welt wird genauso von der temporalen Fundierung des Daseins getragen wie von ihren positiven Artefakten. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Selbstreferenz setzt Reflexivität voraus. Der Gedanke, das Dasein sei entäußert und komme aus dieser Entäußerung auf sich, bleibt bestehen und konkretisiert sich. Beobachtungsprozesse können, Soziale Systeme zufolge, als Beobachtung von Beobachtung, selbst beobachtet werden. Sollen Kunstwerke als wahrgenommene Objekte einer Kommunikation verstanden werden, „ist dazu ein Wahrnehmen des Wahrnehmens erforderlich“.133 Kunst zeichne sich dadurch aus, „dass die Beobachtung zweiter Ordnung im Bereich des Wahrnehmbaren hergestellt wird“ und zwar durch die dingliche „Fixierung von Formen“.134 Vom Wahrnehmen des Wahrnehmens kann also nur in einem sehr metaphorischen Sinne die Rede sein. Nicht Wahrnehmungen werden wahrgenommen, sondern geformte Dinge im weitesten Sinne, aus deren immanenter Differenz wahrnehmbar ist, dass wahrgenommen wird. In diese sollen Formentscheidungen als Unterscheidungen bzw. Beobachtungen eingelassen sein. An solchen, anders als irgendwie von sich aus komplex eben kaum denkbaren, Entäußerungen (auch etwa Tanz beinhaltend) wären folglich „Beobachtungen zu beobachten“.135 Hier wird die Sache, wenn sie es nicht schon längst ist, kompliziert, denn nach Luhmann „sind Objekte wiederholbare Bezeichnungen, die keinen spezifischen Gegenbegriff haben, sondern gegen ‚alles andere‘ abgegrenzt sind“.136 Kunstwerke sollen sich demnach als eine Serie von ineinander verschlungenen Formen, Unterscheidungen oder Beobachtungen beobachtbar machen, wobei, und das ist entscheidend, „die jeweils andere Seite der Unterscheidung zu weiteren Unterscheidungen auffordert“.137 Das aber kollidiert mit der Auffassung, Objekte seien aus Unterscheidungen hervorgehende Bezeichnungen. Sinn sei nämlich, wie erläutert, die Aufforderung zur Bildung von Formen im Medium Sinn aus der Differenz von Medium und Form. Die Differenz von Aktualität und Potentialität generiert Erwartung und ist insofern sinngebend. Die Aufforderung zur Formbildung geht dabei von der anderen Seite aus. Diese andere Seite ist nun aber, wie gesagt, im Begriff des ‚unmarked space‘ doppelt belegt. Weil Welt einerseits nur als Verweisungsüberschuss gegeben ist, anderer 133 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 70. 134 Ebd. S. 124. 135 Ebd. 136 Ebd. S. 80. 137 Ebd. S. 123.

7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

seits aber den Ort der Formfixierung als mitgegenwärtige, andere Seite der Form verlangt. Temporal wie konkret wird auf die Komplexität einer sich gebenden, formbaren Welt verwiesen. Unweigerlich wirft sich doch die Frage nach der Materialität der Kommunikation auf, die nach der Eigenständigkeit des Dinglichen als dem Ort der fixierten Form – und das alle Arten von Kommunikation übergreifend. Ohne etwa in Laute eingelassen zu sein, ist auch keine Sprache. Obwohl Luhmann von in Objekten festgemachten Formentscheidungen aus argumentiert, schließt er „die materiellen Realisationen der Kunstwerke aus dem Kommunikationssystem Kunst“ aus.138 Er entscheidet sich, „jede Referenz auf die materiellen Bedingungen der Möglichkeit von Beobachtung“ beiseite zu lassen.139 Dabei thematisiert Die Kunst der Gesellschaft „das Material, aus dem das Kunstwerk gemacht ist“ durchaus als Medium.140 Dieses aber sei nur zugänglich, wenn es als Form benutzt werde, wenn es gelinge, dem Medium als Form selbst eine Differenzfunktion zu geben. Auf die Idee, Materialität als (mit-)gegenwärtige Unzugänglichkeit zu denken, kommt Luhmann nicht. Die Parallele zu Derrida, auf den sich auch wiederholt bezogen wird, drängt sich auf. Es kommt zu einer unabschließbaren Kette von Verschiebungen, zu einer unweigerlichen Vernachträglichung. Die Differenz zum ‚unmarked space‘ der Welt, in der sich diese objektiviert und gleichzeitig entzieht, ist nicht einzuholen, da was immer als Medium Informationswert gewinnt, als Form aufgefasst wird. Für diskursive Ökonomien ist diese Beobachtung auch zutreffend. Parallel argumentiert Luhmann jedoch, dass anders „als bei Naturdingen […] das Material, aus dem das Kunstwerk besteht, zur Mitwirkung am Formenspiel aufgerufen und so selbst als Form anerkannt [wird]. Es darf selbst erscheinen, ist also nicht nur Widerstand beim Aufprägen der Form. […] Aber dies heißt zugleich, dass die Emergenz anspruchsvollerer Formen vom Ausgangsmedium, und nicht zuletzt: vom Wahrnehmungsmedium, abhängig bleibt und nur so der Wahrnehmung eine Kommunikation bewirkende Form geben kann“.141

Die Materialität jeweiliger Mitteilungen wird also als eigenständige Bedingung, die künstlerische Kommunikation als abhängig von ihr anerkannt. Keine kommunikative Form ohne das, worin sie sich realisiert. Dabei muss das Material selbst als andere Seite, von der aus die Aufforderung zu weiteren Unterscheidungen ausgeht, fungieren. Dennoch gibt es Formen – und 138 Ebd. S. 131. 139 Ebd. S. 99. 140 Ebd. S. 176. 141 Ebd.

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7. Mediale Reflexivität

somit die Unterscheidung Medium/Form – weder in der Umwelt, noch repräsentieren Medium und Form „letztlich physikalische Sachverhalte im System“.142 Formen bzw. Beobachtungen, in denen sich Beobachter erst hervorbringen, sind systemrelative Sachverhalte. Es ergibt sich ein enger Zusammenhang zur Theorie des Gedächtnisses. Medien stehen im Kontext von Formbildungen als Reaktualisierung von Sinn und erfahren infolgedessen eine temporale Fundierung. „Das Medium selbst trägt die Verzögerungsfunktion (bezogen auf Wiederverwendung zur Formbildung), die allem Gedächtnis zu Grunde liegt, denn Gedächtnis ist nicht etwa Speicherung von etwas Vergangenem (wie sollte das gehen ?), sondern Hinausschieben der Wiederholung“.143

Eine Differenz zwischen Gedächtnis und Medium ist nicht auszumachen. Die Medium-Form-Differenz kann es nur in Hinblick auf Zeitlichkeit geben. Sinn, das allgemeinste Medium, ist von dem, was bei Heidegger Gewesenheit oder bei Derrida Spur heißt, kaum unterscheidbar. Verweisung und Materialität müssen aus einem Wechselverhältnis gedacht werden. In das Material sind Formen geprägt und es kann sie doch nicht tragen; das Gedächtnis holt wieder und kann doch nichts ablegen. Der dekomponierte Mensch erscheint als mit Medien verwachsen. Welt ist in Erde zurückgestellt. In einem Abschnitt am Ende von Der Weg zur Sprache, in dem sich gegen die Formalisierbarkeit der Sprache im Informationsbegriff gewendet wird, beruft sich Heidegger auf eine „anfängliche Natur der Sprache“ und bestimmt diese als Physis.144 Dies ist bemerkenswert, da Physis das bezeichnet, was in Der Ursprung des Kunstwerks Erde genannt wird:

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„Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die Φύσις [physis]. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde. […] Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt“.145

In ihr hat „das Lautende der Sprache“, das zumindest wäre die These, „seine gemäße Bestimmung“, auf die es Heidegger zufolge noch wartet.146 Die

142 Ebd. S. 166. 143 Ebd. S. 170 f. 144 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 264. 145 Ebd. S. 28. 146 Ebd. S. 252.

7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

Struktur des Zeigens ist in ein „Baugefüge“,147 dessen Verstrebungen das Zeigen trägt, eingelassen. Heidegger verbleibt in einer verwandten Metaphorik, wenn er die „Einheit des Sprachwesens“ entsprechend als „Aufriss“ charakterisiert.148 Der darstellenden Geometrie entlehnt, wäre die Ansicht dessen, auf das hin die Sprechenden im Sprechen ihr Anwesen haben, gemeint, während von „Grundriss“, etwa in Die Zeit des Weltbildes, als Aufsicht eines naturwissenschaftlich technischen Entwurfs auf Natur die Rede ist. Von Grund- und Aufriss ist jedoch gleichermaßen im Sinne eines Risses, einer „Fuge“, einer Differenz oder Lücke also, die Rede. Der Gedanke des Abstands wird zum Teil durch eine entsprechende Schreibweise als „Auf-Riss“ kenntlich gemacht,149 der das Ganze der Zeichnung der Sprache durchfügt. Die Bindestrichschreibungen Heideggers – „Ek-sistenz“, „ek-statisch“, „Hin-aus-stehen“ oder „Da-sein“,150 etwa in Über den Humanismus – plausibilisieren sich, so die hiesige These, in dieser medialen Lesart. In Der Weg zur Sprache wird diese Abständigkeit lediglich angedeutet, sie konkretisiert sich in den Kunstwerkaufsätzen:151 „Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der Gegenwendigkeit von Welt und Erde“.152 Jener Streit „ist Grundriss. Er ist Auf-riss, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung des Seienden zeichnet“.153 Dass was Heidegger als Lichtung des Seins charakterisiert, geschieht in reflexiver Gegenwendigkeit. Lediglich aus ihr lässt sich entdecken, was er als das „Freie der Sprache“ benennt.154 Im Wesen der Wahrheit selbst waltet die verbergende Verweigerung, die Gegenwendigkeit von Lichtung und Verbergung.155 Die weiter oben diagnostizierte Nähe zu Adorno und Hork 147 Ebd. S. 245. 148 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Spra­ che. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 251. 149 Ebd. S. 252. 150 Vgl. Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. 151 „Die Wahrheit richtet sich als Streit in ein hervorzubringendes Seiendes nur so ein, dass der Streit in diesem Seienden eröffnet, d. h. dieses selbst in den Riss gebracht wird. Der Riss ist das einheitliche Gezüge von Aufriss und Grundriss, Durch- und Umriss“. Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Kloster­ mann. S. 51. 152 Ebd. S. 50. 153 Ebd. S. 50 f. 154 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Spra­ che. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 252. 155 „Die Wahrheit west als solche im Gegeneinander von Lichtung und zwie­ facher Verbergung. Die Wahrheit ist der Urstreit, in dem je in einer Weise das Offene erstritten wird, in das alles hereinsteht und aus dem alles sich zurückhält, was als Seiendes sich zeigt und entzieht“. Jenes Wesen „ist das

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7. Mediale Reflexivität

heimer wird an einer weiteren Heidegger eigenen Schreibung evident. „In der Un-verborgenheit als Wahrheit west zugleich das andere ‚Un-‘ eines zwiefachen Verwehrens“.156 „Das Wesen der Wahrheit ist“, nicht im Grunde Falschheit, sondern dialektisch vorgestellt, niemals sie selbst, „die Un-Wahrheit“.157 Verbergung oder Verwehrung sind dabei zweifach, als sie zum einen auf das durch Welt erschlossene Seiende hin und zum anderen vom Seienden, in das jene zurückgestellt ist, her geschehen. Die Fuge oder der Abstand, von dem die Rede ist, ereignet sich zwischen Verweisung und Verwiesenheit. Und tatsächlich macht eine Notiz aus Heideggers Handexemplar den Urstreit selbst als „Ereignis“ kenntlich.158 Was damit zur Diskussion gestellt sein soll, ist, dass jenes „Zwischen“, das „Nichts“ meint, in das das Da-sein vor Angst und Langeweile noch, hineingehalten ist.159 Heideggers Ausführungen stützten durchaus eine derart materialistische Lesart. Wahrheit west nur, so erläutert er, „indem sie sich in ein Seiendes einrichtet“ (die Parallele zur luhmannschen FormMaterialität-Argumentation ist evident).160 Dabei meint Wahrheit Unverborgenheit, Lichtung, „ἀλήϑεια“ (alētheia), Durchgang zum Seienden, Wirklichkeit. Erst in diesem Spielraum, jenem Abstand des Gelichteten, kann das Seiende selbst verborgen sein. „Dieses Offene geschieht inmitten des Seienden“.161 Die Differenz, die einen Bezug des Seins erlaubt, entfaltet sich in Unzugänglichkeit. Nur wo es in das Gelichtete dieser Lichtung hereinragt, kann das Seiende als Seiendes sein. Die Unverborgenheit des Seienden ist das Ereignis des Seins. Das meint nicht nur, dass das Seiende als hineinragend sich zurückziehend gelichtet, nur in seiner Unerschließbarkeit erschlossen ist, sondern dass das Ereignis der Lichtung in dieser Doppelbewegung geschieht. Dieser Abstand wird nicht in imaginären Welten erstritten, sondern im Seienden, von ihm her, wie Heidegger sagt; „über das Seiende hinaus, aber nicht von ihm weg, sondern vor ihm her,

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Gegeneinander des ursprünglichen Streites. Das Wesen der Wahrheit ist in sich selbst der Urstreit, in dem jene offene Mitte erstritten wird, in die das Seiende hereinsteht und aus der es sich in sich selbst zurückstellt. […] Erde durchragt nur die Welt, Welt gründet sich nur auf die Erde, sofern die Wahr­ heit als der Urstreit von Lichtung und Verbergung geschieht“. Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frank­ furt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 48 u. 42. 156 Ebd. S. 48. 157 Ebd. S. 41. 158 Vgl. Ebd. S. 42. 159 Vgl. Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 42. u. Ders. (1998). Was ist Metaphysik? Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 38. 160 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 57. 161 Ebd. S. 42.

7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

geschieht noch ein Anderes“. Erneut benennen Heideggers Notizen dieses Geschehen als „Ereignis“. „Inmitten des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. Eine Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her gedacht, seiender als das Seiende“.162 „Dies alles geschieht jedoch inmitten des eigenwüchsig aufgehenden Seienden, der φύσις“ [physis].163 Physis oder Erde benennen das Seiende gewissermaßen von der Gegenseite seines „Als“. Einerseits im Sinne eines Nicht-Identischen in der Bestimmung und andererseits als negatives Moment medialer Reflexivität. An dieser Stelle interessiert offensichtlich vor allem jene Medialität, und zwar um eine Antwort auf die, durch die Lektüre Luhmanns aufgeworfene Frage nach dem, was sich die mediale Symbiose des Menschen nennen ließe, zu versuchen. Dasein ist Heidegger zufolge schließlich In-der-Weltsein und jene Welt nur insofern sie in Seiendem, in Medien ihres geschaffen-Seins, dinglich fixiert ist. Was bei Luhmann als Formentscheidung, in Objekten festgemacht, thematisiert wird, findet sich als Gestaltung bei Heidegger wieder. „Der in den Riss gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt. Sie ist das Gefüge, als welches der Riss sich fügt. Der gefügte Riss ist die Fuge des Scheinens der Wahrheit“.164

Wieder finden sich zahlreiche Stellen, in denen die Erde als Stätte, in der die Gestalt festgestellt ist, thematisiert wird, an der das Offene des Offenen gleichzeitig seinen höchsten Widerstand findet. Die Geschichtlichkeit unterschiedlicher Wahrheitsentwürfe thematisierend, schreibt Heidegger: „Jedesmal musste die Offenheit des Seienden durch die Fest-stellung der Wahrheit in die Gestalt, in das Seiende selbst eingerichtet werden“.165 Jenes schaffende Einrichten wird als „τέχνη“ (technē) gedeutet. Nicht als Fähigkeit, Kunstfertigkeit oder Handwerk, nicht als Tätigkeit des Machens, sondern als „eine Weise des Wissens. Wissen heißt: gesehen haben, in dem weiten Sinne von sehen, der besagt: vernehmen des Anwesenden als eines solchen“.166 Dieses als solches Vernehmen geschieht – anders ist es kaum einsichtig – als Begabung aus der Partizipation am Geschehen von Welt. Gesehen haben als Temporalisation, als Einschreibung in Verhalten und 162 Ebd. S. 39 f. 163 Ebd. S 47. Wobei das genannte Sich-Einrichten der Wahrheit – wie sich noch zeigen wird – durchaus als Hergestellt- oder Geschaffensein von Werken, als „Her-stellen“, als ein „Hervor-bringen“ dass das Seiende „in sein Anwesen vor-kommen lässt“, gedacht wird. 164 Ebd. S. 51. 165 Ebd. S. 65. 166 Ebd. S. 46.

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7. Mediale Reflexivität

Wahrnehmung. Beschrieben wird ein Wissen der gestalt- oder formgebenden Entäußerung, an der sich Widerfahrnisse reaktualisieren, aber auch in Konstellationen gebracht werden. Existenz unter dem Gesichtspunkt eines sich unentwegt in-die-WeltAbsonderns zu betrachten, ist vermutlich, nicht nur in Bezug auf Waren, Müll und Exkremente etwa, sondern eben auch von sprachlichen, tänzerischen oder bildnerischen Äußerungen, im Sinne des Wortes, nicht unplausibel. Es gäbe, nach Derrida, keine natürliche Ordnung, in der sich Klassen von Entäußerungen ausmachen ließen. Verwachsen mit Stofflichkeit aber soll mehr sagen: Das Dasein kommt aus seinen Äußerungen auf sich. Die Lektüreleistung, eine Form zu beobachten, liegt Luhmann zufolge auf Seiten des Beobachtenden. Dabei ist der, der eine Form hervorbringt, Beobachter seiner selbst. Denn „auch der Künstler kann nur sehen, was er gewollt hat, wenn er sieht, was er gemacht hat. Auch er ist primär Beobachter und nur sekundär als Entscheider oder rein körperlich als geschickter Händler an der Erstellung des Kunstwerks beteiligt“.167

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Eben diesen Gedanken weitet Luhmann auf die Sprache aus. „Auch ein Schriftsteller ist immer zugleich Leser – wie anders könnte er schreiben“?168 Mindestens zwei Aspekte fallen ins Auge. Zum einen muss, was für Autoren gilt für Sprecher allgemein, letztlich für jede Art von Äußerung, gelten. Generell verlangt, was immer sich als Kommunikation auffassen lässt, dass es (‚als‘ Mitteilung) hervorgebracht wird. Wer denkt oder spricht, weiß, was er meint letztlich erst, wenn er hört, was er sagt. „Jedes gesprochene Wort ist schon Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen“,169 erläutert Heidegger. Der Sprechende ist der Sprache hörig. Autor, Künstler oder Sprecher entäußern sich – ob nun in Form akustischen Verhaltens, tänzerischer Performanzen oder konkreter Objekte – und sind sich in ihrer Entäußerung selbst (erst) gegeben. Entsprechendes gilt für Vorstellungen. Zum anderen ist kein Standpunkt auszumachen, von dem aus dies geschieht. Wer sich mitteilt, teilt sich nicht nur Anderen, sondern auch sich selbst mit und das scheinbar von nirgendwo aus. Er tut dies nicht aus einer Position der Konstruktivität, ein solcher Subjekt-Ort lässt sich nicht ausmachen, sondern eben einer der Responsivität. „Alles Beobachten ist das Einsetzen einer Unterscheidung in einen unmarkiert bleibenden Raum,“ erläutert Die Kunst der Gesellschaft, „aus dem heraus der Beobachter 167 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 44. 168 Ebd. S. 68. 169 Heidegger, M. (2003). Der Weg zur Sprache. In: Ders. Unterwegs zur Sprache. (S. 239 – 268). Stuttgart: Klett-Cotta. S. 260.

7.5 Reflexivität bei Luhmann und Heidegger

das Unterscheiden vollzieht“.170 Der Raum, von dem aus unterschieden wird, ist unmarkiert, muss es notwendig bleiben und ist doch Ursprung der Unterscheidung. An der medialen Reflexivität der Äußerung konstituiert sich der sich Äußernde wie jeder eine Äußerung Verstehende.

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170 Luhmann, N. (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 92.

8. Schluss und Kehre Wie Medialität, den hiesigen Überlegungen zufolge, anhand der Negativfigur medialer Reflexivität, zu begreifen ist, wird deutlich geworden sein. Der Grundgedanke ist vergleichsweise einfach: Nicht bei einem mittelbaren Weltverhältnis, das Strukturen seiner Vermittlung immer schon impliziert, ist anzusetzen, sondern bei einem unmittelbaren, in dem sich Mittelbarkeit konstituiert. Die anfängliche Auseinandersetzung mit Kittler ergab, dass die Voraussetzung von Vermittlung, in seinem Fall durch technische Geräte, eine ganze Reihe unsinniger Annahmen bedingt. Aber auch die anschließende Lektüre von Heidegger, Derrida, Luhmann und Adorno zeigte, dass die jeweiligen Ansätze fundamentale vermittelnde Mechanismen voraussetzen, die wiederum zur Folge haben, dass jeder der Entwürfe, in der Bedingtheit seiner selbst durch die vorausgehenden Setzungen, auf ein Selbstbegründungsdefizit führt. Als konzeptioneller Ausgangspunkt wurde, anhand der Diskussion von Fundamentalontologie, Dekonstruktion, Systemtheorie und Negativer Dialektik, ein Zustand rezeptiver Entäußerung an ein sich-ereignende Welt hergeleitet. Die Frage, wie das Subjekt zum Objekt gelangt, wurde umgekehrt; und versucht eine, der Differenz beider, vorausgehende Situation des In-der-Welt-seins zu bestimmen: den radikalen Vorrang des Objekts; die Lage, in der Welt ihre Spur hinterlässt; ein systemisch nicht geschlossenes Bewusstsein. Die Fragestellung ist demnach, wie das Subjekt aus der Unmittelbarkeit seiner Entäußerung zu sich kommt. Schon die Gabe wahrzunehmen konstituiert sich, so wird weiter aufgezeigt, erst an einem sich-gebenden sie begebenden Geschehen, das sich in ihr artikuliert. Die Schwierigkeit bestand im Weiteren darin, dass Faktoren wie Sprache und Zeichen, die Aspekte von Welt als solche strukturieren in ihrer Strukturiertheit von den behandelten vier Autoren, immer schon vorausgesetzt wurden. Als Ausweg aus dieser Misere wurde ein unwillkürlich antwortendes Verhalten hergeleitet, das, wo es eine Materialiät-Verwiesenheit-Differenz aufweist, die Gegenwärtigkeit eines verhältnismäßigen Seinsbezugs mit sich führt. Das Gegen der Gegen-wart scheidet sich demnach aus der Indifferenz des Ereignens an der Reflexivität des Medialen ab. Die abschließenden Lektüren von Luhmann, Heideg-

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8. Schluss und Kehre

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ger sowie Adorno und Horkheimer konkretisieren das Konzept medialer Reflexivität, die Kenntlichkeit von Verweisung als Voraussetzung für ein Seinsverhältnis, für Verstehen und Bewusstsein. Die aufgeworfene Frage nach der Selbstbegründung von Theorie wäre demnach, in einem ersten Versuch, anhand einer doppelten Bewegung zurückzuweisen: einmal mit dem notwendigen Bezug aus einer widerfahrenden Welt und der gleichzeitigen Kenntlichkeit ihrer selbst als Teil dieser Welt. Das „Dass“ erlaubt unabschließbar „Wie“ und „Was“ zu fragen. Das Ereignen – es! – verlangt seine Deutung. Als in sich unidentische, mit ihm nicht Identische ist die Deutung unweigerlich Teil dieses Geschehens. In allem Sagen, wie es ist, west selbst etwas Nichts-Sagendes. Kein Begriff holt ein, was er begreifen möchte. In seiner antwortenden Deutung ist der Deutende sich erst gegeben. Dies wird an der Reflexivität des Medialen kenntlich und ist, insofern niemand – subjektiv und konkret – einen Ort angeben könnte, von dem aus er spricht, Erfahrung. Da die deutende Ausrichtung auf die widerfahrene Welt als Orientierung in ihr stattfindet, ist der Deutende über sich hinaus verwiesen und kann aus dem Ereignis, diesem überantwortet, mit ihm experimentieren: Theoretische Praxis in Selbstbeobachtung der Manipulation von in Materialität zurückgestellter Aufweisung. Das enthebt nicht der Kontingenz aller Antworten und führt auch nicht auf das Phantasma empirischer Objektivität, aber es können Konfigurationen des Medialen kenntlich werden; Experimente mit dem Offenen der Lichtung des Seins gewissermaßen. Von hier aus lässt sich nicht zuletzt versuchen, ein amorphes, kategorial letztlich nicht fassbares Feld von Medien zu beschreiben. Dieses Experiment, das Theorie schon immer ist, ist ein zutiefst intimes, das niemals jenseits individueller Erfahrung war. Mit Derrida – der in ihrer Dekonstruktion die Gegenwärtigkeit der Gegenwart voraussetzt, vor allem aber immer schon die des Textes – lässt sich resümieren: „Der Text der Metaphysik […] wird von seiner Grenze nicht umgeben, sondern durchzogen“.1 Diese Grenze wird jedoch anders als von Derrida gedacht. Nicht wie von ihm in einem Schema vertikaler Differenzen konstituiert, sich horizontal verräumlichender und verzeitlichender, anhand von Iteration und Alteration unendlich ausdehnender Verschiebungen. Sie lässt sich nicht, in Modifikation eines Heidegger Zitats, so darstellen: „Das Sein / spricht / überall und stets / durch / alle / Sprache / hindurch“.2 Die gemeinte Grenze ist die des Textes und sie ist es nicht. Derrida trifft etwas, während seine Deutungen das Sein, von dem Heidegger spricht, nach hiesiger Auffassung, nicht einmal berühren. Natürlich ist der Begriff des Seins in die beschriebene Ökonomie eingebun 1 Derrida, J. (1999). Die différance. In: Ders. Randgänge der Philosophie. (S. 31 – 56). Wien: Passagen. S. 53. 2 Ebd. S. 56.

8. Schluss und Kehre

den. Dass das Offene, die Lichtung selbst, Effekt der différance sei, ist dagegen nicht plausibel. An dieser Stelle geht es um bezügliche Abständigkeit. So kann in der Frage, was es heißt, dass etwas ist, die Aufmerksamkeit auf die Unfassbarkeit des Umstands selbst gerichtet werden. Ob das geschieht, kann keine noch so fundamentale Theorie sagen und noch weniger kann sie, da sie die Voraussetzungen ihrer Deutung nicht abschätzen kann, erzwingen, dass es geschieht. Aber das muss sie auch gar nicht. Dass sie ist, ist der Deutung nicht enthalten. Derrida geht gewissermaßen mit dem Heidegger von Sein und Zeit davon aus, das Dasein stehe in einem primär hermeneutischen Verhältnis zu seiner Welt. Das Deiktische des Da, das in Da-sein gedacht ist, hat seine Richtung jedoch umgekehrt. Was da ist, adressiert das aus Temporalität antwortende Dasein und nicht umgekehrt. Wir verstehen Welt nicht, sie widerfährt. Verstehen zündet überhaupt erst an der Reflexivität des Medialen. Tatsächlich lässt sich die Wendung weg von der Vorstellung eines ursprünglich verstehenden Weltverhältnisses bei Heidegger dort nachweisen, wo er durch Kittler medienwissenschaftliche Vereinahmung erfährt. In seinem Aufsatz Die Frage nach der Technik bestimmt Heidegger das Wesen der Technik bekanntermaßen als Ge-stell (meist mit Bindestrich geschrieben). Spricht er so von Technik, sind keine Dinge gemeint, sondern „eine Weise des Entbergens“;3 und zwar in stofflicher wie ideologischer Hinsicht. Es geht einfach gesagt um „das Aussehen und den Stoff “.4 „Gestell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist“.5 „Das Ge-stell ist eine geschickhafte Weise des Entbergens“.6 Gemeint ist also die Art wie oder die Form, in der Seiendes in seiner sozialen, kulturellen oder geschichtlichen Relativität – seiner Wahrheit – aufgefasst wird und so als dieses ist, aber auch seine manuelle wie maschinelle Verfertigung oder Hervorbringung aus dieser Weise der Auffassung. Heideggers Anliegen besteht darin, „das Wesende in der Technik [zu] erblicken, statt nur auf das Technische zu starren“.7 Die Ideologie des Technischen, so lässt sich rekonstruieren, reproduziert sich dabei anhand der aus ihr hervorgehenden Artefakte. Ge-stell meint einen kulturellen Wissensmodus und „nichts Technisches, nichts Maschinenartiges. Es ist die Weise, nach der sich das Wirkliche als Bestand entbirgt“.8 Wobei Bestand diese „Weise, wie alles anwest“

3 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 12. 4 Ebd. S. 13. 5 Ebd. S. 20. 6 Ebd. S. 29. 7 Ebd. S. 32. 8 Ebd. S. 23.

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8. Schluss und Kehre

selbst meint,9 nämlich in einer instrumentellen Zweck-Mittel-Logik. Das „Instrumentale selbst“ erscheint in Bezug auf die moderne Technik als ein Erschließen, Umformen, Speichern, Verteilen oder Umschalten.10 Was ist, ist in seinem Sein „unselbstständig“,11 ist, in hiesigem Kontext, aus Verwiesenheit, was es ist. Ein Verkehrsflugzeug ist, nicht anders als jede andere Maschine, jedes andere Gerät auch, sowohl in als auch aus einer Ökonomie der Zweckmäßigkeit, was es ist. Aber nicht nur das, auch der Fluss oder der Wald entbergen sich unter dem Gesichtspunkt der Brauchbarkeit als Energie oder Zellulose. Die Gegenstände selbst verschwinden, sind jenseits ihrer Funktion irrelevant, verlieren ihre Würde, während es gleichzeitig das aktuelle geschichtliche Geschick des Menschen ist, „das Wirkliche als Bestand zu bestellen“.12 Der Mensch weiß seine Welt aus Verhältnissen und Vollzügen, über die er nicht verfügt. Dieses Wissen aber ist nicht einfach ein ideales, sondern konkretisiert sich u. a. in „handwerkliche[m] Tun und Können“13 Wieder kommt der Begriff der téchne als einem ‚Sichauskennen in‘ bzw. ‚Sichverstehen auf ‘ ins Spiel. Das Entbergen konkretisiert sich im „Hervor-bringen“ von Dingen, aus einer Welt.14 Heidegger nennt als Beispiel einen Silberschmied, der eine kultische Schale herstellt. Obwohl die WeltErde-Dialektik hier keine explizite Rolle spielt, lässt sich sagen, dass dies als ein Zurückstellen von Welt in Erde – ins Stoffliche – als ein Gestaltgeben geschieht. Ausdrücklich, so erläutert Heidegger, sei im Titel Ge-stell auch ein Stellen als „Her- und Dar-stellen“, gemeint, das „das Anwesende in die Unverborgenheit hervorkommen lässt. Dieses hervorbringende Her-stellen, z. B. das Aufstellen eines Standbildes im Tempelbezirk und das jetzt bedachte herausfordernde Bestellen sind zwar grundverschieden und bleiben doch im Wesen verwandt. Beide sind Weisen des Entbergens, der ἀλήϑεια [Aletheia, Wahrheit]. Im Ge-stell ereignet sich die Unverborgenheit, dergemäß die Arbeit der modernen Technik das Wirkliche als Bestand entbirgt“.15

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Wird dieses Bild aufgegriffen, so ist die Gegenwart nicht einfach nur von Industrieanlagen als Kathedralen des Technischen oder Apparaten als dessen Schreinen durchsetzt, vielmehr wäre jedes einzelne Produkt, das diese Ökonomie ausspuckt, Reliquie eines Götzendienstes. Ob es um Fortbewe 9 Ebd. S. 16. 10 Ebd. S. 7. 11 Ebd. S. 17. 12 Ebd. S. 19. 13 Ebd. S. 12. 14 Ebd. S. 11 f, S. 42 ff. 15 Ebd. S. 20.

8. Schluss und Kehre

gung, Status, Attraktivität oder Gesundheit geht, alles – was immer sich vorstellen lässt – ist eingebunden in Vollzüge instrumenteller Vernunft. Alles verweist auf anderes und ist, was es ist, aus Verwiesenheit. Heidegger reformuliert Welt als eine Verweisungsganzheit der Dienlichkeit, wie bereits in Sein und Zeit thematisiert, nun jedoch unter industriellen Bedingungen. Medien im alltagssprachlichen Sinne werden an nur einer Stelle genannt. Zeitungen und illustrierte Magazine „stellen [demnach] die öffentliche Meinung daraufhin, das Gedruckte zu verschlingen, um für eine bestellte Meinungsherrichtung bestellbar zu werden“.16 In Die Kehre ist von jeweils uns als denen die Rede, „denen unter der Herrschaft der Technik Hören und Sehen durch Funk und Film vergeht“.17 Demnach wäre tatsächlich, wenn auch nur wenig prominent, von technischen Medien die Rede. Auch steht gleich zu Beginn der Frage nach der Technik die These, dass „die Technik der Herrschaft des Menschen zu entgleiten droht“.18 Es wird im Weiteren gefragt, ob der Mensch ein der Technik „Höriger“ sei, „in einem dumpfen Zwang einsperrt“.19 Ob er nicht „der Technik ohnmächtig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert“ ist, steht zur Diskussion. Und die möglicherweise überraschenden Antworten: „keineswegs“, „Nein“ und „das reine Gegenteil“.20 Das sich in der Dialektik des Ge-stells entbergende Seiende ist schließlich selbst seiend, während das Ge-stell nichts Technisches im Sinne von etwas Seiendem meint. Das „Gestell [ist] ein Wesensgeschick des Seins selbst“.21 Das Sein des Seienden entbirgt sich aus Zweckmäßigkeit. Heidegger spricht nun von Rettung in Gefahr – insofern aber die Gefahr das Wesen des Ge-stells als auch das Rettende meint, ist es nicht notwendig, sich hier mit diesen Begriffen zu belasten. Im Ge-stell, so wird letztlich erläutert, „verbirgt sich […] die Möglichkeit einer Kehre, in der die Vergessenheit des Wesens des Seins sich so wendet, dass mit dieser Kehre die Wahrheit des Wesens des Seins in das Seiende eigens einkehrt“.22

Diese Kehre charakterisiert sich als eine „der Vergessenheit des Seins zur Wahrnis des Wesens des Seins“.23

16 Ebd. S. 18. 17 Ebd. S. 46. 18 Ebd. S. 7. 19 Ebd. S. 24 u. 25. 20 Ebd. S. 25 u. 37. 21 Ebd. S. 37. 22 Ebd. S. 40. 23 Ebd.

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8. Schluss und Kehre

Um diese Kehre nachzuvollziehen, ist es hilfreich, sich zu erinnern, dass das im Begriff des Ge-stells gemeinte, sowohl eine Weise des Entbergens im Sinne einer geschichtlichen Auffassung, als auch eine Weise des Entbergens im Sinne von Dar- oder Herstellen ist – aus einer Welt, in Erde zurückgestellt. Das Wesen der Technik ist dem Wesen der Kunst somit verwandt.24 Auch in ihr – Heidegger sagt es so nicht, macht aber die Wesens­ parallele auf und entsprechend lässt sich folgern – wohnt die Dialektik von Welt und Erde als Dialektik von Verstellung und Verweigerung. Auch seine Wahrheit geschieht als zweifaches Verbergen.25 Der Streit von Welt und Erde richtet sich in die Gestalt ein und die Wahrheit oder Lichtung des Seins west als dieser Streit. Insofern dieser Streit weiter oben als Konstellation medialer Reflexivität gedeutet wurde, wird erkennbar, worauf die hiesige letzte Lektüre hinaus will. Im Ge-stell ist die Möglichkeit einer Kehre angelegt, in der das Wesen des Seins kenntlich wird, seine spezifische Wahrheit in das Seiende eigens einkehrt. An der Reflexivität des Medialen konstituiert sich Sein als Bezug, als ein selbst kenntliches Verhältnis zum Seienden. Im ersten Satz erläutert Heidegger in Die Kehre: „Das Wesen des Gestells ist das in sich gesammelte Stellen, das seiner eigenen Wesenswahrheit mit der Vergessenheit nachstellt, welches Nachstellen sich dadurch verstellt, dass es sich in das Bestellen alles Anwesenden als den Bestand entfaltet, sich in diesem einrichtet und als dieser herrscht“.26

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Die Wesenswahrheit des Ge-stells gerät aufgrund seines Wesens, seiner eigenen Ökonomie, in Vergessenheit. Was aus ihr hervorgeht, was her-gestellt wird, und aus ihr Auffassung erfährt, tut dies als Verweisendes in Verwiesenheit. An Kleidung in ihrer Zeichenhaftigkeit wäre zu denken; verliert sie ihre modische Funktion, ist sie gewissermaßen entwertet, obwohl das Ding selbst völlig in Ordnung ist. Das ist aber nur ein Beispiel. Alles ist in gewisser Weise Zeichen. Seine jeweilige Zweckmäßigkeit besteht in seiner Funktion, die nicht es selbst meint. Während seine Gegenständlichkeit, anders als bei einem Kunstwerk etwa, in den Hintergrund rückt. Das Instrumentelle verstellt sich in seinem Funktionieren qua Instrumentalität selbst. „[Aber, das] mit Vergessenheit sich nachstellende Sichverweigern der Wahrheit des Seins birgt die noch ungewährte Gunst, dass dieses Sichnachstellen sich kehrt, dass in solcher Kehre die Vergessenheit 24 Ebd. S. 35. 25 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 41. 26 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 37.

8. Schluss und Kehre

sich wendet und zur Wahrnis des Wesens des Seins wird, statt dieses Wesen in die Verstellung entfallen zu lassen. Im Wesen der Gefahr [die das Wesen des Gestells ist] west und wohnt eine Gunst, nämlich die Gunst der Kehre der Vergessenheit des Seins in die Wahrheit des Seins“.27

Diese Gunst meint eine „Verwindung“ oder Wendung der Achtsamkeit auf das Sein selbst. „In der Kehre lichtet sich jäh die Lichtung des Wesens des Seins“.28 Das Sein selbst gerät in den Fokus. Zeitungen und Magazine, Funk und Film wären Paradigmen des Gestells. Sie sind unter der Herrschaft der Technik daraufhin hergestellt, verschlungen zu werden, verbreiten die Ideologie des Technischen, da sie qua ihres Funktionierens gar nicht anders können, als was sie verfügbar machen, als Bestand zu behandeln und es vergeht einem Hören und Sehen, insofern sie selbst in den Hintergrund treten. Aber auch in ihnen, so muss angenommen werden, wohnt die Gunst der Kehre. „Die Technik [… ist – zumindest für den neuzeitlichen Menschen – das] Wesen das Sein selbst“ und dieses Sein muss „inmitten des Seienden gewahrt […] bleiben und so als das Sein zu wesen“.29 Dieses Wahren und resultierend Gewähren wird dabei ausdrücklich aus der Dialektik des Ge-stells gedacht. „Jedes Geschick eines Entbergens ereignet sich aus dem Gewähren und als ein solches“.30 Als Herstellen und hergestellt-Sein, als Auffassen und aufgefasst-Sein. Das Gewähren geschieht inmitten des Seienden. Aus dieser Dialektik ist das „Wesen der Technik […] in einem hohen Sinne zweideutig“. Und genau diese Zweideutigkeit, so Heidegger, „deutet in das Geheimnis aller Entbergung, d. h. der Wahrheit“; was wie erörtert der Un-Wahrheit meint. Einerseits verstellt das Ge-stell als verwiesen verweisend „jeden Blick in das Ereignis der Entbergung“ und gefährdet „so den Bezug zum Wesen der Wahrheit von Grund auf “. Andererseits „ereignet sich das Ge-stell seinerseits im Gewährenden“. Rettung und Gefahr gehen Hand in Hand und machen das Wesen des Ge-stells aus. „Die Frage nach der Technik ist die Frage nach der Konstellation, in der sich Entbergung und Verbergung, in der sich das Wesende der Wahrheit ereignet“.31 Heidegger thematisiert im Begriff der Kehre, so soll behauptet sein, was hier mediale Reflexivität genannt wurde – zumindest bewegt er sich in größter Nähe zu ihm. Freilich wendet er den Gedanken nicht explizit auf Text und Bild an oder auf die Interfaces audiovisueller oder gar di 27 Ebd. S. 42. 28 Ebd. S. 43. 29 Ebd. S. 38. 30 Ebd. S. 32; vgl. S. 31. 31 Ebd. S. 33.

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8. Schluss und Kehre

gitaler Medien. Aber er nennt die Kunst als einen Bereich, in dem Auseinandersetzungen in „der Konstellation der Wahrheit“ geschehen.32 Vor allem aber nennt er das „Ver-Hältnis, als welches die Wahrnis des Seins selbst dem Wesen des Menschen als dem von ihm gebrauchten vereignet ist“.33 Die Wahrnis des Seins ist als Ver-Hältnis – in einer reflexiven Konstellation – vereignet. Ohne dass der Begriff Verwendung fände, lässt sich behaupten, dass hier das Medium als Metaxy gedacht ist. Es sei die den Menschen „fügende Dimension“. Das Ver-Hältnis ergibt sich, so lässt sich aus Heideggers aufwendigen terminologischen Ableitungen ablesen, in der Konstellation des Ge-stells als Entbergung und Verbergung, als das der Wahrheit. „Diese Konstellation ist die Dimension, in der das Sein als die Gefahr west“.34 Was in dieser sichtbar wird, ist jedoch ernüchternd, ist „die Verwahrlosung des Dinges“.35 Das verweisende aus Verwiesenheit Seiende selbst ist entwürdigt. Wird der Gedanke ausgebaut, zeigt sich die Ökonomie der Zweckmäßigkeit als Entwertungsmaschinerie. Nichts zählt als es selbst, sondern bedeutet nur in Hinblick auf anderes. „[D]as Ereignis der Kehre im Sein, [… ist] Einblick in das was ist, ist das Ereignis selber, als welches die Wahrheit des Seins zum wahrlosen Sein sich verhält und steht. Einblick in das was ist, – dies nennt die Konstellation im Wesen des Seins“.36

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Die Nähe der Heideggerschen Deutung zu einigen Überlegungen Horkheimers und Adornos ist in ihrem gegenwartskritischen Motiv eines „technischen Bewusstsein“37 unverkennbar. Bei jenen ist von der entfremdeten Ratio einer kalkulierenden Vernunft die Rede, die im Dienste eines spezifischen Wissens mächtig ist: „Technik ist das Wesen dieses Wissens“38 Tatsächlich werden manche Untersuchungen etwa des KulturindustrieKapitels der Dialektik der Aufklärung erst anhand der Dialektik des Ge-stells in ihren Prämissen einsichtig, während Adorno und Horkheimer eindringlich die Konsequenzen jener Dialektik formulieren. Dies beginnt bei der Diagnose umfassender kultureller Ähnlichkeit, geht über den Zirkel von Manipulation und rückwirkenden Konsumentenbedürfnissen bis beispielsweise zur Unweigerlichkeit, mit der „jede einzelne Manifestation der Kulturindustrie die Menschen als das, wozu die ganze sie gemacht hat“ 32 Ebd. S. 35. 33 Ebd. S. 39. 34 Ebd. S. 44. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. S. 46. 38 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 20.

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reproduziert.39 Heidegger hingegen geht es um die Einsicht in das Sein selbst, die unvermittelt „einblitzt“ und die „Herrschaft des Gestells“ einsichtig werden lässt,40 während er außer Acht lässt, dass die Kehre, insofern der Mensch eben ein Ver-hältnis zu den Dingen hat, stets ein Mindestmaß an Verwahrlosung an ihnen impliziert. Das Seiende hört, auch wo es sich als verweisend erschließt, eben nicht auf zu sein. Auch ein – mit seiner Funktion erst seiendes anhand seiner Reflexivität erst bestimmbares – Medium ist. Insofern muss an allem, was aus der Ideologie des Instrumentellen hervorgeht und sich aus ihr erschließt, etwas sein, das ihr widerspricht. Ginge es in Verwiesenheit unter, wäre es nicht als solches seiend. Hierin liegt die Schwierigkeit pauschaler Diagnosen. Während alles potentiell Zeichen ist, geht doch nichts in seiner Funktion auf. Dieser Umstand macht die dialektische Dynamik dessen, was als Kulturindustrie beschrieben wird, erst plausibel. „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht“ und erzeugt so den Hunger nach immer mehr.41 Jedem Produkt ist sein Betrug, ist seine Würdelosigkeit, bei aller ästhetischen Hochrüstung, immanent, ohne dass seine Funktion deshalb ausgehebelt wäre. „Das Vergnügen befördert die Resignation, die sich in ihm vergessen will“,42 weil dieses Vergessen, wo es in Hergestelltem angestrebt wird, nicht gelingt. Der Einblick in das, was ist, ist elementarer Aspekt seiner Ökonomie. Daher auch der immer wieder zu beobachtende und keineswegs unberechtigte Reflex, sich nicht zum Objekt einer Kulturindustrie degradieren lassen zu wollen, sich die eigene Individualität nicht vollständig entwerten zu lassen. Wer Pseudoindividualität kritisiert, meint ohnehin meist andere. In dieser Anmaßung ist Kritische Theorie selbst Agent jenes Systems, das sie zurecht anklagt und provoziert gerade das Beharren der Einzelnen auf jene „Ideologie, durch die man sie versklavt“.43 Sich den eigenen Charakter zur Fiktion, zu einem bloßen „Verkehrsknotenpunkt[] der Tendenzen des Allgemeinen“ erklären zu lassen,44 ruft unweigerlich Ablehnung hervor. Was zutreffend an dieser Diagnose ist, verliert seine Brisanz im impliziten Wissen jedes Einzelnen um die Mechanismen seines Alltags, aus dem er ihn bewältigt und aus dem ihm die Diagnose selbst erst verständlich sein kann. Die Dialektik der Aufklärung ist den Mythen des Alltags, als Voraussetzung ihrer Reproduktion, innewohnend. 39 Ebd. S. 148. 40 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 44. 41 Adorno, T. W. / Horkheimer, M. (1997). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.S. 162. 42 Ebd. S. 165. 43 Ebd. S. 156. 44 Ebd. S. 178.

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Schreibt Heidegger in seiner Hermeneutik des technischen Wesens, er sehe von der „Situation der Zeit“ ab,45 um stattdessen das Sein als Konstellation, die sich uns zusagt, zu beschreiben, so liegt hierin eine erhebliche Verschiebung zu Sein und Zeit. Von Verstehen ist nicht mehr die Rede. Er selbst bereitet den Weg hin zu einer Posthermeneutik. Deshalb aber bleibt Zeitlichkeit trotzdem, insofern sich kulturelle Codes individuell temporalisieren müssen, nach wie vor unabweisbar. Das Subjekt hat allen Grund sich von der Autoren der Dialektik der Aufklärung, nicht auf die Mechanismen seiner Normierung (die mit der Auflösung gesellschaftlicher Milieus inzwischen ohnehin erheblichen Spielraum bieten) reduzieren zu lassen. Es weiß sich erst aus Differenz zu ihnen. Hierin wäre aber auch gleichzeitig seine Selbstüberschätzung zu suchen. Die Realität, und sei es auch nur die gesellschaftliche, zur Konstruktion theoretisieren zu wollen, widerspricht der zutreffenden Erfahrung, dass diese Realität in ihren Vollzügen wie in ihren materialen Manifestationen besteht. Ist es richtig, dass sich das Subjekt erst an der Reflexivität der Medialen konstituiert, sich erst in der Konstellation des Seins ein Ver-hältnis ergibt, wäre, was mitunter im Schlagwort der Mediengesellschaft benannt ist – selbst dort, wo vermeintlich vom Druck der Individuation entlastet wird – eine Konfigurationen oder Maschinerie der Subjektivierung. Gesellschaft reproduzierte sich nicht anhand des blinden Nachvollzugs ihrer symbolischen Funktionen und auch nicht etwa anhand von Attributionen, die der Einzelne fraglos erfährt, sondern aus der Diskrepanz zu ihnen. Integration durch Desintegration ist das Prinzip. Auch das wird in der Dialektik der Aufklärung gedacht, nicht zuletzt dort, wo das Individuum im Begriff der Person diffamiert wird. An dieser Stelle aber ist entscheidend, dass jeglicher Text, auch der theoretische – und eben nicht nur der in Zeitungen und Illustrierten abgedruckte –, nicht anders als aus der Dialektik des Entbergens zu begreifen ist. Denken, so ist bei Heidegger zu lesen, ist anders als sprachlich handelnd nicht möglich. „Dies sagt: dem Wesen des Seins inmitten des Seienden jene Stätte bereiten (bauen), in die es sich und sein Wesen zur Sprache bringt. Die Sprache gibt allem Überlegenwollen erst Weg und Steg“.46 Eine gebaute Stätte inmitten des Seienden. Was aber für das Heilige gilt, gilt nicht weniger für das Profane. Bereits in Über den Humanismus ist das Denken als einem Bauen am Haus des Seins benannt und Der Weg zur Sprache thematisiert die Verstrebungen der Sprache als ein Baugefüge, das das Zeigen bildet und trägt. Der Text ist dingliches Resultat eines Her-vor-bringens aus einem ‚sich-Auskennen in‘ oder ‚sichVerstehen auf ‘. Heißt es in der Negativen Dialektik, Denken dürfe in seinem Begriff nicht verabsolutiert werden, da es „als Verhalten, ein Stück 45 Heidegger, M. (2002). Die Technik und die Kehre. Stuttgart: Klett Cotta. S. 46. 46 Ebd. S. 40.

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Praxis [bleibt], sei diese sich selbst noch so sehr verborgen“,47 so ist herauszustellen, dass dieses denkende Verhalten sich erst im Text konkretisiert, jenseits dessen es keine philosophische Tradition gäbe, auf die sich beziehen ließe. Hierin ist es nicht verborgen. Von Bauen und Bilden oder Hervorbringen und Herstellen ist in den Aufsätzen, die nach dem Ursprung des Kunstwerkes fragen, wiederholt die Rede. Obwohl dort die Dichtung als Wesen aller Kunst ausgemacht wird und ebenfalls alles Sagen als dichterisch benannt ist, obwohl bereits in Sein und Zeit die Dichtung als Wesen der Wahrheit überhaupt ausgemacht wird und obwohl festgestellt wird, dass Wahrheit nur so geschieht, „dass sie in dem durch sie selbst sich öffnenden Streit und Spielraum sich einrichtet“, obwohl Wahrheit demnach nie zuvor oder aus dem Nichts ist und folglich die „Lichtung der Offenheit und Einrichtung in das Offene [zusammen] gehören“,48 scheut sich Heidegger gleichwohl, den Schritt zu gehen, explizit das in Laut und Text eingerichtet-Sein von Sprache zu thematisieren. Nirgends wird behauptet, sie sei unkörperlich. Das Baugefüge, das trägt, wird genannt, aber nicht explizit analysiert. Dabei würde zum Text gehören, dass er aus derselben Dialektik wie das Ge-stell und die Kunst hervorgeht. Was trivial erscheint, ist es keineswegs. Im Idealfall könnte der Text von hier aus selbst zur Schrift im Sinne Adornos, zur Chiffre einer stets unfertigen, sich fortwährend im Werden befindlichen Welt werden. Das der Negativen Dialektik zufolge gebrochene Versprechen der Philosophie, eins mit der Wirklichkeit zu sein, wird gewendet zu ihrem Imperativ. Was als ihre Einschränkung erscheint, nämlich die Abhängigkeit ihrer Wahrheiten von einer ereignishaften Realität als Aspekt dieser, ist ihr eigentliches und einziges Potential. Keine Erkenntnis hat irgendeinen Gegenstand inne. Vielmehr steht sie in Konstellationen, die sich erst mit ihrer Teilnahme für jeweiliges Dasein ergeben. Weder erfindet sie ihre Gegenstände, noch lässt sich ihre Identität mit ihnen behaupten. Worin sollte eine solche Übereinstimmung auch bestehen? Wenn es eine Affinität von Philosophie und Kunst gibt, so liegt diese auch im Gestalterischen, vor allem aber darin, niemals in einem Erkenntnisverhältnis zu stehen, das irgendeine Form von Zugriff gestattete. Es kann nicht primär um formalerkenntnistheoretische Akte gehen, weil Theorie geistige Erfahrung ist. Ihre Wechselwirkung zu fordern, wie es Adorno tut, hieße eine Differenz annehmen, die es so nicht gibt. Bräuchte es einen Beleg, so wären die Spuren seines eigenen Denkens Zeugnis dafür, dass Philosophie anders als in und aus Widerfahrnis nicht möglich ist. Was als geschichtlicher Primat der Phi 47 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 244. 48 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 49.

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losophie evident ist, hat sein Gegenstück in der intimen Historizität, der Temporalisierung individueller Welterfahrung, aus der beide ineinander verstrickt sind. Aus diesem Ineinander ist Tradition niemals gleich und Erkenntnis immanent. In dieser Figur unterscheidet sich Philosophie jedoch nicht prinzipiell von jeder anderen Welterfahrung. Eine solche Grenze lässt sich demnach eben nicht ziehen. Wie sehr dies so ist, davon legen nicht zuletzt die Meditationen zur Metaphysik Zeugnis ab. Im Angesicht von Auschwitz – als Synonym der unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus’ –, dem Einblick in die Schuld bürgerlicher Subjektivität und des Misslingens von Kultur – in dem Umstand, dass inmitten aller Tradition von Philosophie, Kunst und Wissenschaften der Völkermord möglich war –, verschiebt sich die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit metaphysischer Wahrheiten hin zu der, „ob metaphysische Erfahrung überhaupt noch möglich ist“.49 Dass Adorno – der Die Frage nach der Technik nie gelesen zu haben scheint – Heideggers Ausführungen, insofern bei jenem das Bedauern im Vordergrund steht, dass Schwarzwald und Rhein in der Ökonomie des Technischen nicht behütet werden, angesichts der industrialisierten Vernichtung menschlichen Lebens, inakzeptabel wären, ist unverkennbar. Und doch ergeben sich, wie gesehen, Anknüpfungspunkte. Der metaphysische Gedanke antwortet auf Geschehen aus Geschichtlichkeit und hat nur Bestand in Re-Lektüre an seiner dinglichen Manifestation. Als das Gesetz der Welt erscheint den Meditationen der universale individuelle Vorteil und die resultierende Schuld nicht zu schlichten, da sie sich bereits im puren Faktum des Lebens, das anderem Leben den Atem raubt, reproduziere. „Das, nichts anderes zwingt zur Philosophie“.50 Die ungebrochene Aktualität dieses Denkens ist dem privilegierten, in einer Industrienation lebenden Menschen – eingebettet in eine Welt, deren Gesamtbevölkerung auf bald acht Milliarden Individuen zusteuert – präsent. Mit jedem konsumierten Produkt, das ihm diese Ökonomie vorne herum bereitstellt, scheißt er sich in Form sozialer und ökologischer Folgen hintenrum selbst zu. Diese Folgen sind nicht geheim, sie werden täglich in Word und Bild vor Augen geführt, während er sich in Agonie abwendet und weiter konsumiert. Die Frage, ob die Erfahrung metaphysischer Wahrheit – Freiheit, Gerechtigkeit, mündend in der Idee einer Welt, in der Leid abgeschafft ist – möglich ist, ist keine rein theoretische, sondern wird (mit) über die Möglichkeit des Überlebens einer globalen, sich mit Selbstzerstörung bedrohenden Gesellschaft entscheiden. Die zynische Affirmation dessen, was sich als Gesetz der Welt gibt und ein ‚weiter so bis nichts mehr geht‘ legitimiert, scheint auf Konsequenzen zuzusteuern, die 49 Adorno, T. W. (1997). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 365. 50 Ebd. S. 357.

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nicht in ihrer Systematik, aber in ihren Folgen den Holocaust bei weitem in den Schatten stellen könnten. Die Konsequenzen eines umfassenden ökologischen und damit verbundenen wirtschaftlichen Kollaps sind unvorstellbar. Gleichzeitig kann schon jetzt niemand behaupten, nichts von den Menschenrechtsverbrechen, mit denen viele Formen des Konsums implizit einverstanden sind, wie der, von Heidegger zutreffend so genannten, Verwahrlosung der Erde zu wissen. „Dass das Unveränderliche Wahrheit sei und das Bewegte, Vergängliche Schein, […], ist nicht länger zu behaupten“.51 Daher ist es notwendig, Grundschichten freizulegen – was versucht wurde –, die einen solchen Grundsatz rechtfertigen. Dem Übergang hin zu einer materialistischen Metaphysik möchten sich die hiesigen Überlegungen ein- und unterordnen. Metaphysik zündet, angefangen bei jedem einzelnen nicht ableitbaren, sondern aus Indifferenz als konventionell sich temporalisierenden Begriff, ohne den Theorie nicht möglich wäre, in physischer Existenz. Die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ist, ausgehend von der Notwendigkeit, dass zeichenhafte Strukturen im Feld der Wahrnehmung erschlossen werden, zurückgewiesen. Die somatische Schicht des Lebendigen ist nicht sinnfern, sondern Fundament allen Sinns. Ein anderer Begriff von Wahrheit konkretisiert sich an der Reflexivität des Medialen. Ohne lebendige Erfahrung ist Erkenntnis ausgeschlossen. Sie ist nicht starr oder invariant. Erfahrung wisse von sich selbst, so Adorno, dass sie, je offener sie sei und je mehr sie sich artikuliere, immer auch ihre eigene Form verändere. Dieser Umstand lässt das Experiment Theorie zu. Mit ihm lässt sich experimentieren. Der elementare Widerspruch, an dem sich Transzendenz entfaltet, ist ein materialer, der die Möglichkeit zur Reflektion konstituiert. An jener Reflexivität ergibt sich, was sich als Selbstständigkeit des Geistes, als sein Nicht-Identisches mit dem Seienden, begreifen lässt. Wird es als Schein gefasst, so ist, was immer von endlichen Wesen gesagt werden kann, notwendig Schein. Einer jedoch, der sich, nicht zuletzt in der Reflektion seiner selbst, fortwährend verändert und darin, dass er sich verändert, beobachtbar ist. Hierin läge ein Moment transzendenter Objektivität. Die Rettung des Scheins als einem kenntlichen ist Adorno entsprechend von unvergleichlicher metaphysischer Relevanz. Und genau hier verortet sich die Wendung zur Ästhetik, deren Gegenstand er sei. Die Not der Metaphysik zeigt sich den Meditationen im Vergleich zur Theologie. Von jeglichem Stoffgehalt gereinigt, würde – und es klingt, als wolle Adorno der Dekonstruktion vorgreifen – jedes Symbol nur ein anderes, abermals begriffliches symbolisieren. Kunst aber antizipiere etwas davon, dass Metaphysik erst mit der Realisierung im Zeichen ihres Gedachten entstehe. Noch auf ihren höchsten Erhebungen sei sie Schein, die ihren Schein 51 Ebd. S. 354.

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jedoch vom Scheinlosen empfange. „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene“.52 Gegen die Welt des Tauschs verspreche sich im Schein das Scheinlose. Zuvor dient ein weiteres Mal das Kind als Beispiel. Jenem sei selbstverständlich, dass das, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzücke, „nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei“. Es irre sich zwar, „aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene“.53 Dieses Glück gewähre das Innere der Gegenstände als ein diesen zugleich entrücktes. Das sei es, was an metaphysischer Erfahrung mehr als nur ohnmächtiges Verlangen wäre. Subjektiv metaphysische Erfahrung. Zusammen mit dem Wahrheitsmoment am Dinghaften berührten sich die Extreme in der Idee der Wahrheit, die ohne das Subjekt so wenig wäre wie ohne das, was von ihm unabhängig sei. Es „könnte nichts als wahrhaft Lebendiges erfahren werden, was nicht auch ein dem Leben Transzendentes verhieße; darüber führt keine Anstrengung des Begriffs hinaus. Es ist und ist nicht“.54 So bleibt die Frage, ob gesagt werden darf, dass sich das Kind irrt, oder ob das „es ist und ist nicht“ nicht dem materialen wie temporalen Ineinander von Gegen-wart geschuldet ist. Diese Verquickung konstituiert in unfassbarer Verweisungskomplexität auch den philosophischen Text. Fragt sich Adorno, ob Metaphysik vielleicht „erst mit der Realisierung des in ihrem Zeichen Gedachten“ entsteht,55 so meinen die hiesigen Überlegungen, dies bestätigen zu können; ohne das Zeichen monokausal für die Realisierung des Gedachten haftbar zu machen.

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„Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als ein deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes. Genauso wenig kann sie nach dem Muster eines absolut Verschiedenen gedacht werden. Danach wäre sie möglich allein als lesbare Konstellation von Seiendem. Von diesem empfinge sie den Stoff, ohne den sie nicht wäre, verklärte aber nicht das Dasein ihrer Elemente, sondern brächte sie zu einer Konfiguration, in der die Elemente zur Schrift zusammentreten“.56

Metaphysik wäre möglich in ihrem Scheitern als eine lesbare mediale Konstellation, in der Wahrheit geschieht, und zu der ein Ver-Hältnis besteht, als welches die Wahrnis des Seins selbst vereignet ist. Ganz ohne Vermittlung, dadurch dass Elemente in Konfiguration treten. Der Text der Metaphysik 52 Ebd. S. 396. 53 Ebd. S. 366. 54 Ebd. S. 368. 55 Ebd. S. 396. 56 Ebd. S. 399.

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ist von seiner Grenze durchzogen. Die Konstellation im Wesen des Seins selbst ermöglicht Einblick in das, was ist. Auch von Texten ließe sich sagen, was die Ästhetische Theorie für Kunstwerke feststellt: „Wäre Transzendenz in ihnen zugegen, sie wären Mysterien“, das aber sind sie nicht, „weil sie als Abgebrochene dementieren, was sie doch sein [oder eben sagen] wollen“.57 Gelingt die Kehre aus medientheoretischer Perspektive, der Stoß, von dem Heidegger ebenfalls in Bezug auf Kunstwerke spricht, hinsichtlich des Textes als Schrift, gerät in den Fokus, dass solcher Text „ist und nicht vielmehr nicht ist“.58 Nicht mehr überspannt er das Seiende mit einem kategorialen Netz, sondern wird selbst fremd, zur Spur einer vertrauten Fremde, über die sich letztlich nur staunen lässt. Eine Art Notationssystem, das freilich nicht selbst klingt, aber in der Welt Welterfahrung zum Klingen bringt und so eigene Erfahrung ermöglicht.

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57 Adorno, T. W. (1997). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 191. 58 Heidegger, M. (2003). Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders. Holzwege. (S. 1 – 74). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. S. 53.

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9. Literatur

Schmidt, S. J. (2008). Der Medienkompaktbegriff. In: Münker, S. / Roesler, A. (Hrsg.). Was ist ein Medium? (S. 144 – 157). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Wiesing, L. (2008). Was sind Medien? In: Münker, S. / Roesler, A. (Hrsg.). Was ist ein Medium? (S. 235 – 248). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Stefanie Diekmann, Winfried Gerling (Hg.) Freeze Frames Zum Verhältnis von Fotografie und Film 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1363-6

Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.) Raumdeutung Zur Wiederkehr des 3D-Films 2012, 178 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1815-0

Arthur Engelbert Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1687-3

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung 2011, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1404-6

Michael Mayer Tarkowskijs Gehirn Über das Kino als Ort der Konversion 2012, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2070-2

Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.) Kraft der Alterität Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen Dezember 2014, ca. 228 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2355-0

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss

Brigitte Krüger, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Mythos und Kulturtransfer Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien

2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4

2013, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2530-1

Judith Coffey »The Power of Love« Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte

Dagmar Venohr medium macht mode Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift

2013, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2395-6

Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5

2010, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1451-0

Ulrich Ziemons Aufzeichnungen eines Storm Squatters George Kuchars »Weather Diaries« Juni 2014, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2685-8

Mira Fliescher Signaturen der Alterität Zur medialen Reflexivität der Kunst Yasumasa Morimuras 2013, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2345-1

Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2

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