Medienkunst als Nebenprodukt: Studien zur institutionellen Genealogie neuer künstlerischer Medien, Formen und Praktiken 9783839435731

How much influence do art institutions and cultural politics have on artistic production? A study on their complex impac

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Medienkunst als Nebenprodukt: Studien zur institutionellen Genealogie neuer künstlerischer Medien, Formen und Praktiken
 9783839435731

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I. Institutionen und Verwaltung Theoretischer Rahmen
Institutionskritik als Ressentiment Die Problemstellung
Institution versus Organisation Begriffshistorischer Exkurs
„Rassenkrieg“ als „Klassenkampf“ Zur sozialhistorischen Genese der Verwaltung
Philosophische Genealogie der Bürokratie Von der Verwaltung zum Management
Die Triebkräfte der Institutionskritik
Institutionalismen und Neo-Institutionalismen in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft
„Ehernes Gesetz der Oligarchie“ nach Robert Michels
Der Neue Institutionalismus im Kunstkontext. Die Taktiken des ewigen „Stellungskrieges“
Teil II. Medienkunst und das Problem der Institutionalisierung Diskurse und Praktiken
Medienkunst und soziologische Perspektive
Zur ewigen Krise
Institutionelles Projekt ‚Medienkunst‘: Gesellschaftliche Zusammenhänge und kulturpolitische Legitimation
Dead Media-Art-Institutions
Transformationen der transmediale
Die Entstehungsgeschichte des ZKM
Net Art und Institutionalisierung des Anti-Institutionellen
Spezifika der institutionellen Geschichte der Medienkunst in Russland
Das Konzept der Interaktivität und die diskursanalytische Perspektive
Theorie und Praxis der Art-Science Collaboration Einblicke in die Diskursgeschichte
Fallstudie: Leonardo. Journal of the International Society for the Arts, Sciences and Technology
Fazit
Bibliografie

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Lioudmila Voropai Medienkunst als Nebenprodukt

Edition Medienwissenschaft

Lioudmila Voropai (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe. Sie studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft und Medienkunst in Moskau, Köln und Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst- und Medientheorie, politischen Ästhetik, kritischen Theorie, Kunstsoziologie und Institutionskritik.

Lioudmila Voropai

Medienkunst als Nebenprodukt Studien zur institutionellen Genealogie neuer künstlerischer Medien, Formen und Praktiken

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Institutionalisierung der Medienkunst: Soziologische Perspektive und kulturpolitische Aspekte der Ausdifferenzierung neuer medialer Kunstformen« im Dezember 2012 an der Kunsthochschule für Medien Köln, Bereich Kunst- und Medienwissenschaften zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. vorgelegt. Im Rahmen der mündlichen Prüfung am 10. Juni 2013 in Köln wurde sie von der Promotionskommission als Dissertation angenommen. Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Hans Ulrich Reck (Kunsthochschule für Medien Köln, Erstgutachter) und Prof. Dr. Siegfried Zielinski (Universität der Künste Berlin, Zweitgutachter) betreut.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ryoji Ikeda, data.tron [8K enhanced version], audiovisuelle Installation, im Auftrag der Ars Electronica, 2008-09. © Ryoji Ikeda, Foto: Liz Hingley Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3573-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3573-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Einleitung | 13

TEIL I. I NSTITUTIONEN UND VERWALTUNG THEORETISCHER RAHMEN 1

Institutionskritik als Ressentiment Die Problemstellung | 33

2

Institution versus Organisation Begriffshistorischer Exkurs | 47

3

„Rassenkrieg“ als „Klassenkampf“ Zur sozialhistorischen Genese der Verwaltung | 55

4

Philosophische Genealogie der Bürokratie Von der Verwaltung zum Management | 61

4.1 Die Geburt der Bürokratie aus dem Absoluten Geist Die Gewaltenteilung in Hegels Staatslehre | 61 4.2 Von der „Illusion des Staates“ Der junge Marx und die Bürokratie | 65 4.3 „Der reinste Typus der legalen Herrschaft“ Die ideale Verwaltungsform nach Max Weber | 70 4.4 Die Vorbedingungen der verwalteten Welt in der Dialektik der Aufklärung | 74 4.5 Zur Antithese von Kunst und Wissenschaft in der verwalteten Welt | 78 4.6 „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht“ Adorno und die „gesellschaftlich unnaive Kulturpolitik“ | 83 4.7 Kritik als aufgeklärtes Gehorchen Michel Foucault und Implikationen der Gouvernementalität | 89 4.8 Gouvernementalität – irdische und himmlische Giorgio Agambens Angelologie | 100 4.9 Vom Nutzen des Nutzlosen | 108

5

Die Triebkräfte der Institutionskritik | 113

6

Institutionalismen und Neo-Institutionalismen in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft | 123

7

„Ehernes Gesetz der Oligarchie“ nach Robert Michels | 129

8

Der Neue Institutionalismus im Kunstkontext Die Taktiken des ewigen „Stellungskrieges“ | 135

8.1 Von ,guten‘ und ,bösen‘ Kunstinstitutionen Machtübernahme durch kuratorische Interventionen | 136 8.2 Theoretische Waffen: Hegemonietheorie von Antonio Gramsci und ihre Updates | 138 8.3 Die Documenta und die 100-tägigen Hegemoniekriege im Kunstfeld | 140 8.4 Die Utopie der „kritischen Kunstinstitutionen“ | 144

TEIL II. MEDIENKUNST UND DAS P ROBLEM DER I NSTITUTIONALISIERUNG DISKURSE UND P RAKTIKEN 9

Medienkunst und soziologische Perspektive | 153

10

Zur ewigen Krise | 157

11

Institutionelles Projekt ‚Medienkunst‘: Gesellschaftliche Zusammenhänge und kulturpolitische Legitimation | 165

12

Dead Media-Art-Institutions | 177

13

Transformationen der transmediale | 181

14

Die Entstehungsgeschichte des ZKM | 193

14.1 Das „Konzept ’88“ | 194 14.2 Von der Munitionsfabrik zur „Kunstfabrik“ Transformationen und Umsetzung des „Konzepts ’88“ | 202

15

Net Art und Institutionalisierung des Anti-Institutionellen | 209

16

Spezifika der institutionellen Geschichte der Medienkunst in Russland | 215

16.1 Institutionalisierung des Undergrounds | 215 16.2 Soros Centers for Contemporary Art: Intentionen und Rezeptionen | 227 16.3 Fallstudie: Galerie 21 | 237 16.4 Tendenzen der Entwicklung der Medienkunst in Russland in den nuller Jahren | 247 17

Das Konzept der Interaktivität und diskursanalytische Perspektive | 251

17.1 Medienkunstdiskurs: Begriffs- und Aufgabenklärung zur Einführung | 251 17.2 Die Neuen Medien: Technische Grundlagen ästhetischer Praxen, Begriffsangebot und Theorienachfrage | 253 17.3 Vom „Offenen Werk“ zum „Flottierenden Werk“ | 258 17.4 Konsumieren = Produzieren? Eine Prise Ideologiekritik | 263 18

Theorie und Praxis der Art-Science Collaboration Einblicke in die Diskursgeschichte | 267

18.1 Scientists, Künstler-Ingenieure und Techno-Art-Brut | 269 18.2 „The Two Cultures“, „The Third Culture“ und weitere Identitätssuche | 276 18.3 Kulturpolitische Voraussetzungen der Medienkunst in Westeuropa | 282 19

Fallstudie: Leonardo. Journal of the International Society for the Arts, Sciences and Technology | 287

19.1 „What is Leonardo?“ | 287 19.2 „Von Künstler zu Künstler“ Peer-to-peer-Romantik der Gründungsphase | 290 19.3 Leonardos „New Beginning“ | 298 19.4 „ArtScience“ als Trademark | 301

Fazit | 305 Bibliografie | 313

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Dezember 2012 vom Fachbereich Kunstund Medienwissenschaften der Kunsthochschule für Medien Köln als Dissertation angenommen. Bei der Vorbereitung der Druckfassung wurden einzelne Textstellen, vor allem stilistisch, leicht modifiziert. Die Fertigstellung und Veröffentlichung dieser Studie wäre ohne die Unterstützung und Hilfe mehrerer Menschen und Institutionen nicht möglich gewesen. So wurde die Entstehung dieser Arbeit über einen längeren Zeitraum von meinen beiden wissenschaftlichen Betreuern, Prof. Dr. Siegfried Zielinski und Prof. Dr. Hans Ulrich Reck, begleitet und gefördert. Für ihre engagierte inhaltliche und methodologische Unterstützung sowie für die wichtigen intellektuellen Impulse bei der Konzipierung und Umsetzung dieses Forschungsvorhabens möchte ich beiden herzlich danken. Von großer Bedeutung für die Fallstudien zur Geschichte einzelner medienkünstlerischer Institutionen waren die Interviews und Gespräche mit verschiedenen Institutionsvertretern, die ich während der Vorbereitung der entsprechenden Kapitel geführt habe. Wenngleich diese Konversationen in die Studie nicht in direkter Form integriert wurden, haben sie mir sehr geholfen, einen tieferen Einblick nicht nur in die Geschichte, sondern auch in die Gegenwart ihrer Einrichtungen zu gewinnen. Für überaus informative Gespräche danke ich dem Vorstand des ZKM, Prof. Dr. Peter Weibel, und der Leiterin der Abteilung Wissen des ZKM, Margit Rosen, dem derzeitigen künstlerischen Leiter des Berliner Festivals transmediale, Kristoffer Gansing, sowie dem künstlerischen Leiter der Ars Electronica, Gerfried Stocker. Für wichtige theoretisch-methodische Anstöße und die konstruktive Kritik bei der Konzipierung dieser Studie möchte ich an dieser Stelle auch Prof. Dr. Boris Groys herzlich danken.

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Die Kapitel über die Geschichte der Medienkunst in Russland wären ohne die vielfache Unterstützung meiner russischen Kollegen gar nicht möglich gewesen. Ihnen habe ich nicht nur für äußerst informative und anregende Gespräche zu danken, sondern auch für viele einzigartige Dokumentationsmaterialien aus ihren privaten und institutionellen Archiven, die sie mir während meiner Forschungsaufenthalte in Moskau und St. Petersburg zur Verfügung gestellt haben. Dafür bin ich vor allem den ehemaligen Leiterinnen der Galerie 21 in St. Petersburg, Irina Aktuganova und Alla Mitrofanova, zu großem Dank verpflichtet sowie der Kuratorin von MediaArtLab in Moskau, Olga Shishko, und den Pionieren der russischen Medienkunst, Olya Lyalina und Alexei Shulgin. Dr. Andrei Oleinikov sei gedankt für ganz essentielle intellektuelle Anregungen und Natalia Gomoyunova für ihre kontinuierliche Unterstützung meiner Forschungsaufenthalte in Moskau. Für intensive inhaltliche Besprechungen des Vorhabens als Ganzem, für das Lesen und Lektorieren einzelner Textabschnitte in verschiedenen Phasen der Arbeit, vom Entwurf des Exposés bis hin zur Vorbereitung der Publikation, sowie für hilfreiche Ratschläge inhaltlicher und methodologischer Natur bin ich meinen Freunden und Kollegen verbunden, besonders Monika Graus, Dr. Katherina Grohmann, Irene Krylov, Agnes MeyerBrandis, Ronja Perschbacher und Saskia Walker. Zu danken habe ich auch den Teilnehmern der Doktorandenkolloquien an der Kunsthochschule für Medien Köln und an der Universität der Künste Berlin, die mir ein wertvolles kritisches Feedback zu den Präsentationen meiner Forschungsergebnisse gegeben haben. Meinen Lektoren Dr. Roland Hoffmann und Dr. Anne KuhlmannSmirnov sei gedankt für ihre Zeit, ihr Engagement und die Mühe bei der Suche nach eleganten Lösungen für meine gelegentlich ‚uferlosen‘ Sprachkonstruktionen. Für die vielschichtige Unterstützung bei der Vorbereitung der Publikation dieser Studie bin ich meinem Kollegen an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Prof. Dr. Johan F. Hartle, sehr verbunden. Darüber hinaus danke ich in besonderer Weise Juliet Knapp und dem Künstler Ryoji Ikeda für die Möglichkeit, das Bild seiner Installation data.tron als Cover-Motiv für dieses Buch zu verwenden. Ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung sowie das Projektstipendium der Graduiertenschule für die Künste und die Wissenschaf-

V ORWORT | 11

ten an der Universität der Künste Berlin bot mir die Möglichkeit, mich über einen längeren Zeitraum auf meine Forschung zu konzentrieren und dieses Vorhaben umzusetzen. Die Veröffentlichung der Arbeit konnte mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften realisiert werden. Nicht zuletzt möchte ich auch meinen Eltern, meinem Bruder und Kotik danken, unter anderem auch dafür, dass ich eine gesunde Einstellung zu meiner Arbeit entwickeln und aufrechterhalten konnte, was für ihre Fertigstellung ganz essentiell war.

Einleitung

Die vorliegende Untersuchung ist gewiss nicht die erste, die sich mit der institutionellen Geschichte der Medienkunst befasst. Sie ist auch nicht die erste, die den durchaus kontroversen Charakter der als Medienkunst bezeichneten künstlerischen und institutionellen Phänomene und Praktiken untersucht. Die konzeptionelle Inkonsistenz des pauschalisierenden Begriffs Medienkunst wurde in einigen weit rezipierten kunst- und medientheoretischen Publikationen bereits kritisch analysiert.1 Es besteht auch kein Mangel an kunsthistorischen Aufarbeitungen der technologiebasierten künstlerischen Projekte, die in den akademischen Kunstwissenschaften unter der inzwischen etablierten Kategorie Medienkunst subsumiert werden. Was diese Arbeit von den meisten anderen Publikationen zur Geschichte der Medienkunst jedoch unterscheidet, ist die prinzipielle Fokussierung auf einen ganz bestimmten Aspekt der Medienkunstgeschichte, nämlich auf den Prozess der Entwicklung des institutionellen Umfelds, das die Entstehung des Konzeptes der Medienkunst selbst sowie die Ausdifferenzierung der als Medienkunst bezeichneten künstlerischen Formen und Praktiken überhaupt erst möglich machte. Medienkunst wird hier also primär als ein

1

Vgl. Reck, Hans Ulrich: Mythos Medienkunst, Köln: König 2002; vgl. auch Daniels, Dieter: „Was war die Medienkunst? Ein Resümee und ein Ausblick“, in: Pias, Claus (Hg.): Was waren Medien?, Zürich: Diaphanes 2011; sowie Gendolla, Peter/Schmitz, Norbert/Schneider, Irmela/Spangenberg, Peter (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.

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institutionelles Phänomen und somit auch als ein institutionelles Produkt untersucht. Gewiss haben die neuesten gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen das Konzept der Medienkunst2 grundsätzlich in Frage gestellt. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte haben die Neuen Medien ihren Status des Neuen endgültig verloren. Sie sind zu einem unabdingbaren Teil des Alltags sowie künstlerischer Praktiken jeglicher Art geworden und erfordern längst nicht mehr eine explizite ‚künstlerische Reflexion‘.3 Dies manifestierte sich im Diskurs der Medienkunst, in dem seit Ende der 1990er Jahre Begriffe wie Postmedia Condition, Post-Media Aesthetics u.ä. eine wichtige Stellung einnahmen.4 Die Geschichte der Medienkunst als eines künstlerischen Phänomens ist durchaus paradox: Seitdem die Medienkunst institutionell etabliert ist, wird sie für konzeptuell obsolet erklärt. Im Rahmen eines hermetischen und selbstreferentiellen Netzwerks der Medienkunstinstitutionen und medienkünstlerischen Events wird der Begriff Medienkunst bis heute aktiv verwendet; außerhalb dieses Rahmens kommt ihm jedoch kaum eine Relevanz oder eine strategische Funktion zu. In den aktuellen kunstkritischen und kunsttheoretischen Publikationen finden sich

2

Der Begriff der Medienkunst setzte sich in den 1990er Jahren als das deutsche Pendent zur englischen New Media Art durch, wobei das Adjektiv Neue und somit auch die Anknüpfung der Medienkunst an die Neuen Medien in der Rezeption allmählich verloren ging.

3

Vgl. die Konzeption der „Kunst nach den Medien“ in: Zielinski, Siegfried: [...nach den Medien], Berlin: Merve 2011, S. 124.

4

Während sich Rosalind Krauss in ihrem Buch „A Voyage in the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium Condition“ in erster Linie mit dem modernistischen Paradigma von „medium specificity“ im Sinne von Clement Greenberg kritisch auseinandersetzt, analysieren Autoren wie Peter Weibel die mediale Problematik künstlerischer Produktion im weitesten Sinne. Vgl. Krauss, Rosalind: A Voyage in the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson 1999; Weibel, Peter: „The Post-media Condition“, in: Postmedia Condition, Madrid: Centro Cultural Conde Duque 2006; zur Geschichte des Begriffs „Post-Media“ vgl. auch Quaranta, Domenico: „The Postmedia Perspective“, http://rhizome.org/editorial/2011/jan/12/the-postmediaperspective/ [letzter Zugriff: 15.04.2017].

E INLEITUNG | 15

immer häufiger Ausdrücke wie „the art formerly known as New Media Art“.5 Diese Entwicklung scheint jedoch nicht zuletzt durch die Geschichte des Begriffs Medienkunst selbst vorgegeben zu sein. Während Begriffe wie Computer Art, Electronic Art oder Digital Art vor allem eine bestimmte historische Reihenfolge der in der künstlerischen Praxis eingesetzten technischen Produktionsmittel registrierten, wurde die Medienkunst im Laufe der 1990er Jahre zur gebräuchlichsten allgemeinen Bezeichnung aller technologiebasierten Kunstformen und -praktiken, in anderen Worten, zu einem Inbegriff der Techno-Kunst per se. Dieser Vorgang ist vor allem der strategischen kulturpolitischen Funktion des Begriffs Medienkunst zu verdanken, die durch die Wirtschaftspolitik der neunziger Jahre zustande kam. Die Etablierung der Neuen Medien zu einem tragenden wirtschaftspolitischen Konzept der 1980er und 1990er Jahre setzte sich auch in der staatlichen Kulturpolitik der westeuropäischen Staaten fort, wo die Neuen Medien für etwa ein Jahrzehnt zum zentralen Begriff im kulturpolitischen Legitimationsdiskurs wurden. Dies ermöglichte den rasanten Aufbau eines institutionellen Umfelds für die mit den Neuen Medien assoziierten künstlerischen Formen und Praktiken. In dieser Hinsicht war die Medienkunst eine Art top-down-Konzept, das die Produkte und Aktivitäten dieses institutionellen Netzwerks bezeichnen sollte. Nachdem die mit den Neuen Medien verbundenen wirtschaftspolitischen Hoffnungen zum Teil realisiert wurden, zum Teil aber – vor allem nach dem großen Dotcoms-Crash Ende der 1990er Jahre – aufgegeben werden mussten, verloren auch die künstlerischen Anwendungen der Neuen Medien ihre primäre kulturpolitische Förderungswürdigkeit. Damit endete ein kurzes, jedoch ereignisintensives ‚Goldenes Zeitalter‘ der institutionellen Medienkunst. Diese politischen und ökonomischen Aspekte der Geschichte der Medienkunst stehen im Zentrum der Untersuchung. Wie oben bereits erwähnt, befasst sich die vorliegende Studie mit der Medienkunst in erster Linie als einem institutionellen und somit auch einem sozialen und kulturellen Phänomen. Sie konzentriert sich auf die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich die Entstehung, Zirkulation und Rezeption des Konzepts der Medienkunst sowie der künstlerischen Praktiken und Projek-

5

Vgl. Cook, Sarah/Graham, Beryl: Rethinking Curating: Art after New Media, Cambridge Mass: MIT Press 2010.

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te, die damit bezeichnet werden, vollziehen. Die Studie verfolgt weder kunsthistorisch deskriptive und klassifikatorische Ziele noch beabsichtigt sie, eine organisationssoziologische Beschreibung des ‚Medienkunstbetriebs‘ oder eine ethnomethodologisch fundierte Darstellung der ‚Medienkunstszene‘ zu bieten. Sie ist keine kunstsoziologische Untersuchung im gewöhnlichen Sinne, zumindest nicht in der Tradition einer empirischen, positivistisch orientierten und mit quantitativen Methoden ausgerüsteten Soziologie der Kunst oder der qualitativen Forschungsansätze im Stil des „symbolischen Interaktionismus“, wie diese beispielsweise von Howard S. Becker und seinen Nachfolgern6 praktiziert werden.7 Dennoch hat diese Studie, die sich als eine disziplinenübergreifende Untersuchung der Institutionalisierungsdiskurse und -praktiken im Kunstkontext versteht, eine deutliche kunstsoziologische Prägung. Sie sieht sich vor allem in der Tradition der kritischen Kunstsoziologie der Frankfurter Schule8 sowie in der Sozialgeschichte der Kunst verwurzelt, wie diese von Arnold Hauser, aber auch von einigen russischen Kunsthistorikern der 1920er und 1930er Jahre, darunter Alexei Fiodorov-Davydov, verstanden wurde.9 Auch die Feldtheorie von Pierre Bourdieu spielte für das analytische Instrumentarium dieser Untersuchung eine signifikante Rolle. Ein weiterer Bestandteil der methodologischen Apparatur der vorliegenden Untersuchung sind die ausführlichen diskurs- und begriffshistorischen Exkurse, die, wie Reinhart Koselleck es in seinen Aufsätzen darlegte,

6

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachformen verzichtet. Sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, gelten gleichwohl alle Personenbezeichnungen für beide Geschlechter.

7

Vgl. Becker, Howard S.: Art Worlds, Berkeley: University of California Press 1982.

8

Vgl. Adorno, Theodor. W.: „Thesen zur Kunstsoziologie“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 10.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 367–374.

9

Vgl. Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München: C. H. Beck Verlag 1973; Clark, Timothy J.: „Zur Sozialgeschichte der Kunst“, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 2 (März 1991), S. 39–52; sowie Фёдоров-Давыдов, Алексей: Русское искусство промышленного капитализма [FiodorovDavydov, Alexei: Russische Kunst des industriellen Kapitalismus], Moskau: G.A.H.N. 1929.

E INLEITUNG | 17

für die Sozialgeschichte unverzichtbar sind.10 Die Geschichte der institutionellen Problematik im Kunstkontext allgemein und der institutionskritischen Diskurse und Praktiken im Besonderen werden in dieser Arbeit als die bedeutendsten Aspekte der Sozialgeschichte der zeitgenössischen Kunst und der Medienkunst speziell behandelt. Am Beispiel der institutionellen Geschichte der Medienkunst soll der Einfluss der Kunstinstitutionen und damit auch der Kulturpolitik auf die künstlerische Produktion generell verdeutlicht werden. Deshalb beschränkt sich die Analyse im Wesentlichen auf die grundsätzlichen Funktionsprinzipien des institutionellen Umfelds und dessen Auswirkungen auf die medienkünstlerische Praxis. In diesem Zusammenhang werden mit der Medienkunst assoziierte Institutionen wie Festivals, Museen, Galerien etc. als vor allem im westeuropäischen Kontext zentrale Faktoren der Entwicklung der Medienkunst betrachtet, zum Teil sogar als Möglichkeitsbedingungen des Projektes „Medienkunst“ selbst. Aus diesem Grunde wird in dieser Untersuchung eine primär institutionsbezogene Definition der Medienkunst verwendet: Als Medienkunst wird die Kunst bezeichnet, die in diesem speziellen institutionellen Umfeld produziert oder präsentiert wird. Angesichts eines solchen Forschungsinteresses wird die Komplexität des Phänomens Medienkunst auf eine spezifische Dimension, und zwar auf ihr institutionelles Dasein, reduziert. Zu behaupten, dass eine solche Forschungsperspektive alle Fragen und Probleme der Medienkunst erläutern könnte, käme dem Anspruch gleich, einen Menschen allein mithilfe einer Röntgenaufnahme darstellen zu können. Doch können gerade Röntgenaufnahmen, um bei dieser Metapher zu bleiben, bei zweckmäßiger Anwendung bestimmte Probleme deutlicher aufzeigen als andere Darstellungsformen und -techniken. Die Untersuchung der institutionellen ‚Anatomie‘ der Medienkunst, ihres politisch-ökonomischen ‚Skeletts‘ unter dem wahrnehmbaren diskurstheoretischen und künstlerischen ‚Fleisch‘, könnte daher etwas Wesentliches über dieses ‚Fleisch‘ selbst verraten. Der ausgeklammerte und tendenziell theoretisch verdrängte ‚Knochen‘ der künstlerischen und geistigen

10 Vgl. das Kapitel „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“, in: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 107–130; vgl. auch ders.: Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.

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Produktion jeglicher Art – der gesellschaftliche Rahmen, in dem diese Produktion stattfindet – tritt also hier in den Fokus einer aus verschiedenen methodologischen Ansätzen konstruierten Forschungsapparatur, um einmal mehr den Wahrheitsgehalt der berühmten Hegelschen Aussage „Der Geist ist der Knochen“, freilich in einem ganz anderen Zusammenhang, zu belegen. Das Aufgreifen der institutionellen Problematik ist dabei nichts anderes als der Versuch, eine grundlegende Organisationsform dieses sozialen Rahmens in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Realität zu erfassen sowie ihre Wurzeln und Auswirkungen zu verfolgen. Entscheidend ist aus dieser Sicht die Rolle der Kultur- und Kunstinstitutionen, die heute diesen sozialen Rahmen strukturieren und reglementieren sowie ganz generell als Verkörperung einer grundlegenden Idee der Kunstund Kulturverwaltung erscheinen. Dabei weisen die Kunstinstitutionen eine hochkomplexe gesellschafts- und ideenhistorische Genealogie auf. Der erste Teil der Studie befasst sich daher mit der Geschichte und theoretischen Aufarbeitung der Institutions- und Verwaltungsproblematik in verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie mit ihrer Rezeption im zeitgenössischen Kunstdiskurs. Durch einen Exkurs in die philosophische Genealogie der Verwaltungsidee sowie durch interdisziplinäre begriffs- und diskurshistorische Untersuchungen zur Entwicklung verschiedener Institutionstheorien und Verwaltungsparadigmen werden im ersten Teil der Arbeit die grundsätzlichen theoretischen Modelle analysiert und Forschungsperspektiven dargestellt. Sie bilden die theoretische und methodologische Grundlage für die spätere Analyse der Institutionalisierungsprozesse in der Medienkunstgeschichte im zweiten Teil der Arbeit.11 Die wichtigsten Erkenntnisse des ersten Teils der Studie, die für die weitere Erforschung der institutionellen Geschichte der Medienkunst entscheidend sind, sollen hier in einigen Thesen kurz zusammengefasst werden. In der Philosophie und Soziologie bezeichnen Institutionen bestimmte Komplexe gesellschaftlich generierter Normen, Verhaltensregeln, kulturel-

11 Im Folgenden werden die wichtigsten Themen und Inhalte der Studie kurz dargestellt, die im Hauptteil der Arbeit ausführlich ausgearbeitet werden. Aus diesem Grunde werden hier zunächst keine Quellen und Referenzwerke angegeben.

E INLEITUNG | 19

ler Traditionen sowie Wertsysteme und Vorstellungen, die das individuelle Handeln bestimmen oder beeinflussen. Im Laufe der gesellschaftlichen Modernisierung – im Sinne von Max Weber – nahmen nicht-formalisierte Institutionen, die in Form von kulturellen Traditionen für die traditionelle Gesellschaft charakteristisch waren, einen zunehmend formellen Charakter an. In diesem Prozess spielte die Entstehung von bürokratischen Organisationen eine herausragende Rolle. Bürokratische Einrichtungen wurden, so Weber, als rationale Strukturen der Verwaltung unterschiedlicher Tätigkeitsfelder zur paradigmatischen Organisationform der modernen Gesellschaft. Deren Entstehung war für Weber die notwendige Folge der durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt wachsenden Arbeitsteilung. Solche Organisationen waren das Hauptinstrument der Strukturierung und Formalisierung von kulturellen und sozialen Institutionen. Diese Entwicklung spiegelt sich unter anderem in der heutigen Alltagsprache wider, in der das Wort Institution zu einem Synonym der formellen bürokratischen Organisation geworden ist. Diese Tendenz bestimmt auch den Gebrauch des Begriffs Institution im gegenwärtigen Kunstdiskurs, der funktionell differenzierte Organisationen wie etwa Museen, Galerien, Stiftungen, Akademien etc. bezeichnet. Aus systemtheoretischer Perspektive sind diese die tragenden strukturellen Einheiten des modernen Kunstsystems. Die ursprünglich revolutionär-emanzipatorischen künstlerischen Praktiken und Strömungen der 1960er Jahre führten zur struktur-organisatorischen Reform und Modernisierung des gesamten Systems der künstlerischen Produktion. Dieser Prozess hatte die endgültige Integration der zeitgenössischen Kunst in die institutionelle Matrix der spätkapitalistischen postindustriellen Gesellschaft zur Folge. Distributive Instanzen, wie z.B. Museen und Galerien, die eine Art ‚kommunikatives Interface‘ zwischen Künstler-Produzenten und Publikum-Konsumenten bilden, erlangten im Kunstsystem eine zentrale Rolle. In der zeitgenössischen Kunst, ähnlich wie in anderen Tätigkeitsbereichen der postindustriellen Gesellschaft, spielt der Distributionsprozess, der in diesem Fall vor allem die (Re-)Präsentation der Kunstwerke beinhaltet, eine viel wichtigere Rolle als der Prozess der künstlerischen Produktion selbst. In dieser Situation übernehmen die Distributionsinstanzen faktisch die Funktion der Sinn- und Wertproduktion eines Kunstwerks. Mit der Ausdifferenzierung des Kunstsystems als eines autonomen Feldes gesellschaftlicher Produktion wurden die Kunstinstitutionen in der

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zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig zu einer normativen Organisationsform künstlerischer Tätigkeit. Am Ende des 20. Jahrhunderts vollzog sich jedoch eine grundlegende Änderung der Ideologie, der sozialen Funktion und des Legitimationsdiskurses der Kunstinstitutionen: Der Neoliberalismus verwandelte die bürgerlichen Kulturinstitutionen des alten Typus, die durch die Ideale der Aufklärung ins Leben gerufen worden waren, in neuartige Business-Korporationen, die in ihren Handlungsstrategien und programmatischen Zielsetzungen in erster Linie profitorientiert wurden. Dies ist z.B. in der Politik solch bedeutender Institutionen wie des MoMA in New York, des Netzwerks der Guggenheim-Museen und vieler anderer zu beobachten. Im Rahmen der neoliberalen Kulturpolitik wird ökonomische Rentabilität zum entscheidenden Argument, das die gesellschaftliche Legitimität eines institutionellen Projektes gewährleistet. Seit den 1960er Jahren entwickelte sich die Institutionskritik als Reflexion der zunehmenden Machtstellung der Kunstinstitutionen, zunächst als künstlerische Praxis, die diese Tendenz problematisierte und sichtbar machte, und später als ein umfassender Teil des gegenwärtigen linksorientierten kunsttheoretischen Diskurses. Die Pioniere der Institutionskritik wie Michael Asher, Daniel Buren, Marcel Broodthaers thematisierten in ihren Arbeiten der 1960er und 70er Jahre die Bedeutung des institutionellen Kontextes für die Produktion, Repräsentation und Wahrnehmung der Kunstwerke oder untersuchten, wie beispielsweise Hans Haacke, die politischen und mikropolitischen Hintergründe der institutionellen Prozesse und Entscheidungen. Die Vertreter der sogenannten „zweiten Generation“ der Institutionskritik erweiterten die Auffassung der Kunstinstitution, indem sie das gesamte Feld der künstlerischen Produktion als eine Institution bzw. als ein „Betriebssystem“ ansahen. So kam es, wie bei Andrea Fraser, auch zur These einer Internalisierung dieser „Institution Kunst“, die sich dadurch ausweist, dass die institutionelle Logik im Wesentlichen die Zielsetzungen und Handlungsstrategien der Kunstschaffenden bestimmt. Eine derartige Expansion des institutionellen Denkens und der ‚Produktionsverhältnisse‘ in die künstlerische Tätigkeit ist das Ergebnis jenes Gesellschaftszustandes, der seit Adorno als „verwaltete Welt“ bezeichnet wird. In der „verwalteten Welt“, in der letzten Endes sogar die institutionskritische Aktivität zwangsläufig institutionalisiert wird, entwickelt sich auch die Institutionskritik zu einer etablierten künstlerischen Praxis mit einer gesicherten Nachfrage seitens des Kunstmarktes und vor allem seitens

E INLEITUNG | 21

der Kunstinstitutionen selbst. Die theoretische Reflexion dieses Entwicklungsgangs machte die institutionskritische Theorie zu einem intellektuellen Raum des Ressentiments und „linker Melancholie“. Heute manifestieren sich dieses Ressentiment und diese Melancholie in einer andauernden Praxis der Selbst-Viktimisierung, d.h. in einer Selbstdarstellung der Kulturschaffenden als Opfer des allmächtigen Systems, des Marktes und der Konsum- und Spektakelgesellschaft. Der sogenannte Neue Institutionalismus (nicht zu verwechseln mit dem soziologischen oder ökonomischen Neo-Institutionalismus) hat zu Beginn der nuller Jahre eine utopische Vorstellung von neuen „progressiven“ und „kritischen“ Kunstinstitutionen mit „offenen“ und „demokratischen“ Funktionsprinzipien geschaffen, die eine Alternative zur „defätistischen Haltung“ der Institutionskritik bieten sollte. In seinen programmatischen Texten wurde der Neue Institutionalismus als eine Strategie der Übernahme des vorhandenen institutionellen Apparats und einer Aneignung der Organisationsstruktur für die Realisierung „innovativer“ und „experimenteller“ Projekte aufgefasst. Diese Idee der institutionellen Machtübernahme hat im Wesentlichen ihren Ursprung in der Hegemonietheorie von Antonio Gramsci, die in den 1980er und 90er Jahren in den Cultural Studies neu aufgearbeitet und in den aktuellen kunsttheoretischen Diskurs eingeführt wurde. Gramsci vergleicht in seinen Texten die Zivilgesellschaft mit den Grabensystemen der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Das System gesellschaftlicher Institutionen lässt sich als ein solches Grabensystem darstellen, um dessen Übernahme die Kriegsparteien ihren Krieg führen. Mithilfe der Metapher der Kriegsführung beschreibt Gramsci diesen Prozess als einen „Stellungskrieg“, bei dem der eigentliche Kampf immer um die Verschiebungen der Frontlinie innerhalb dieses Grabensystems ausgefochten wird. Auf diese Art und Weise verstandene Institutionen sind nichts anderes als eine reine Form, eine leere Konstruktion, die sich durch verschiedene Inhalte füllen lässt. Eine Übernahme des Verwaltungsapparats ist also eine notwendige Voraussetzung für das Erkämpfen kultureller Hegemonie. Die Konzeption der „kritischen“ Kunstinstitutionen ignorierte jedoch grundsätzlich die Funktionslogik des institutionellen Systems, die durch die Organisationsform der Institutionen sowie durch den gesellschaftlichen Kontext generell vorbestimmt wird. Sogar die programmatisch „kritischen“ und „progressiven“ bzw. „transgressiven“ Kunstinstitutionen müssen sich entweder organisatorisch und strukturell an die soziale Umwelt anpassen,

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d.h. in der Sprache des soziologischen Neo-Institutionalismus „institutionell isomorph“ werden, oder sie werden in einer langfristigen Perspektive als Institutionen nicht überleben können. Dementsprechend haben auch die individuellen Handlungen der institutionellen Akteure dem System und seinen Funktionsprinzipien konform zu sein, um ihre institutionellen Positionen bewahren oder verbessern zu können. Diese Erkenntnisse aus dem ersten Teil der Arbeit werden im zweiten Teil der Studie zur theoretischen Grundlage der Erforschung der Medienkunst als eines sozialen und vor allem institutionellen Phänomens. Dabei liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Analyse der kulturpolitischen Bedingungen, die die Entstehung und Entwicklung dieses Phänomens ermöglicht und wesentlich geprägt haben. Aus dieser Sicht setzte sich das institutionelle Projekt „Medienkunst“ als Produkt einer bestimmten kulturpolitischen Konjunktur durch, die aus dem prinzipiellen wirtschaftspolitischen Interesse an den Neuen Medien in den 1980er und 90er Jahren resultierte. Der zweite Teil der Untersuchung verschafft einen allgemeinen Überblick über die institutionelle Struktur der Medienkunst und die wichtigsten Etappen ihrer Entwicklung. Es werden Institutionen untersucht, die hinsichtlich ihrer Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte für die Institutionalisierungsprozesse im Medienkunstkontext repräsentativ sind. Zunächst wird der Prozess des Ausbaus eines internationalen Netzwerks medienkünstlerischer Institutionen in den 1980er und 90er Jahren im Hinblick auf seine gesellschaftlichen Prämissen sowie auf die kulturpolitische Legitimation dieser Institutionen analysiert. Die zentrale politischökonomische Voraussetzung dieses Prozesses ist das wirtschaftspolitische Verständnis der Neuen Medien bzw. der Neuen Technologien als „neue Arbeitsfelder“ und „neue Märkte“, weshalb alle institutionellen Gründungen im Bereich der Neuen Technologien und Neuen Medien a priori als „Investitionen in die Zukunft“ geschaffen und legitimiert wurden. Eine strategische Verwendung der Neuen Medien in künstlerischen Projekten wird in diesem Zusammenhang als „kreative Erforschung“ der neuen Technologien interpretiert, die weit über die Grenzen einer rein künstlerischen Praxis hinausgeht. In den meisten früheren theoretischen Aufsätzen wurde Medienkunst in erster Linie als Avantgarde einer solchen „kreativen Erforschung“ der Neuen Medien und als ein wichtiger „Experimentierraum“ dargestellt, der dem Zweck einer besseren und sinnhafteren Gestal-

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tung der neuen Technologien dienen sollte. Im kulturpolitisch-institutionell initiierten Medienkunstdiskurs wurde so von Anfang an ein Sonderstatus der Medienkunst beansprucht: Sie sei „nicht nur Kunst“ oder „mehr als nur Kunst“ im Sinne der autonomen Schönen Künste, sondern eine für die gesamte Gesellschaft nützliche interdisziplinäre Tätigkeit, die „Kunst, Wissenschaft und Technologie“ in sich unmittelbar vereinen könne. Der Legitimationsdiskurs der medienkünstlerischen institutionellen Gründungen der 1980er und 1990er Jahre wird damit im Wesentlichen durch die Behauptung eines Mehrwerts an Nützlichkeit der Medienkunst im Vergleich zu traditionellen Kunstformen geprägt. Die Idee der Medienkunst als einer freien künstlerischen Tätigkeit in der Tradition der modernistischen Kunstautonomie ist in der Programmatik medienkünstlerischer Institutionen von vornherein nicht vorhanden. Die Neuen Medien und neuen Technologien werden zwar als künstlerische Werkzeuge und Ausdrucksmittel für Kreativität angesehen, die gesellschaftliche Aufgabe dieser Kreativität besteht jedoch in erster Linie darin, eine ästhetische Dimension der neuen Technologien für eine bessere Zukunftsgestaltung zu erschließen. Dieser kulturpolitische Hintergrund wird in der Arbeit vor allem diskursanalytisch untersucht, wofür charakteristische institutionelle Konzepte, Selbstdarstellungen und programmatische Zielsetzungen von Medienkunstinstitutionen wie dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe, dem Berliner Medienkunstfestival transmediale und einiger anderer analysiert werden. Die Fallstudien zur Geschichte der oben erwähnten medienkünstlerischen Institutionen bestätigen die These, dass der Ausbau eines institutionellen Netzwerks für die neuen künstlerischen Formen und Praktiken, die sich mit den Neuen Medien auseinandersetzen, in der Regel infolge politischer Entscheidungen ‚von oben‘ und viel seltener ‚von unten‘, als Ergebnis bereits existierender Künstlerinitiativen und Selbstorganisationsaktivitäten erfolgte. Viele medienkünstlerische Festivals, Museen und andere institutionelle Gründungen wurden ursprünglich als städtische oder staatliche kulturpolitische Projekte im Spannungsfeld unterschiedlicher sozialökonomischer und parteilicher Interessen der Bundes-, Landes- und Stadtregierungen sowie einzelner Politiker entwickelt und umgesetzt, wie die Gründungsgeschichten des ZKM in Karlsruhe und des Festivals Ars Electronica in Linz zeigen. Das in diesem Sinne entstandene Umfeld von programmatisch medien-

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künstlerisch profilierten Institutionen wie Festivals, Konferenzen, Museen, Galerien, Förderpreise etc. bildete eine entscheidende Grundlage für die Ausdifferenzierung der Medienkunst. Parallel zu den Beispielen einer Institutionalisierung ‚von oben‘, d.h. infolge politischer Entscheidungen auf staatlicher oder kommunaler Ebene, werden in der vorliegenden Studie auch Beispiele einer Institutionalisierung ‚von unten‘ analysiert, wie sich diese in der Geschichte der Festivals transmediale und Net Art manifestierte. Der Entwicklungsgang dieser ursprünglich anti-institutionell ausgerichteten Initiativen belegt die strukturell bedingte Notwendigkeit, von einem bestimmten Zeitpunkt an dennoch eine bestimmte institutionelle Form anzunehmen und im eigenen Handeln universellen institutionellen Verhaltensmustern zu folgen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der im zweiten Teil der Arbeit untersucht wird, ist die internationale Aufarbeitung des kulturpolitisch bedingten westeuropäischen institutionellen Medienkunstkonzepts. Ein Exkurs in die Geschichte der Verbreitung des Begriffs Medienkunst in Russland demonstriert den Prozess eines gewissen ‚Diskursimports‘, der in den 1990er Jahren parallel zu dem grundlegenden ‚Import‘ bestimmter institutioneller Formate und Strukturen des westlichen Kunstsystems in die exsozialistischen Länder Osteuropas verlief. Eine entscheidende Rolle in diesem ‚Import‘-Prozess spielten die Soros-Zentren für zeitgenössische Kunst (SCCA), die Anfang der 1990er Jahre in fast allen Hauptstädten der ehemaligen Sowjetrepubliken und anderen Ostblockländern eröffnet wurden. Das SCCA-Netzwerk sorgte im Wesentlichen für den Aufbau eines institutionellen Systems zeitgenössischer Kunst in diesen Ländern und für die Einführung neuer Finanzierungsformen und Vermarktungsmodelle in den postkommunistischen Kunstkontext. Die Verbreitung des top-down eingeführten Medienkunstkonzepts in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa war in vieler Hinsicht durch die westliche institutionelle Nachfrage sowie durch die damit verbundenen Fundraising-Optionen und Präsentationsmöglichkeiten initiiert. Viele künstlerische Praktiken und Projekte, die ohne diese spezifische institutionelle Konjunktur konzeptionell auch anders hätten aufgefasst werden können, wurden strategisch als Medienkunst positioniert. Das westeuropäische institutionelle Interesse, die internationale Medienkunst auf den eigenen Festivals, Ausstellungen und Konferenzen zu präsentieren, stimulierte in vielen anderen Ländern eine als Medienkunst sich begreifende künstlerische

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Produktion. Die Suche nach institutionellen Partnern und Vertretern der Medienkunst in Osteuropa sowie die Bereitschaft diese zu unterstützen, war eine wichtige Voraussetzung für deren Entstehung. Der programmatische medienkünstlerische Schwerpunkt in den Aktivitäten dieser Institutionen stand in einer vielfältigen Korrelation zum Wandel der strategischen Funktion des Begriffs der Medienkunst. Dieser komplexe Korrelationsmechanismus wird in der Fallstudie zur Geschichte der Galerie-21 in St. Petersburg sowie am Beispiel der neuesten Entwicklungen der Medienkunstszene in Russland analysiert. Die drei Schlusskapitel der Studie konzentrieren sich auf die Analyse solcher für den theoretischen Diskurs der Medienkunst zentralen Konzepte und Themen wie Interaktivität und Synthese von Kunst, Wissenschaft und Technologie, die für die konzeptionelle ‚Identitätsbildung‘ der Medienkunst grundlegend waren. Die Arbeit beabsichtigt nicht, eine detaillierte retrospektive inhaltliche Untersuchung des Medienkunstdiskurses zu bieten. Vielmehr stellt sie einen Versuch dar, die soziokulturellen Voraussetzungen bestimmter diskursiver Bildungen – insbesondere einiger Schlüsselkategorien und Konzepte der Medienkunst – aufzuzeigen und damit einen gleichsam ‚ideologiekritischen‘ Blick auf die im Medienkunstdiskurs erkennbaren Tendenzen zu werfen. Der in der Arbeit verwandte Diskursbegriff ist vor allem durch die Theorie der „diskursiven Formationen“ Michel Foucaults geprägt. Der Diskurs der Medienkunst wird zum einen als Produkt bestimmter theoretischer Anlehnungskontexte betrachtet, die durch die jeweiligen intellektuellen Moden und entsprechenden Rotationen im Kanon der ‚Meisterdenker‘ und Referenzwerke geprägt sind. Zum anderen stellt sich dieser Diskurs als Ergebnis der sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen seiner Entstehung und Weiterentwicklung dar. Die konkreten Themen und Inhalte sowie der konzeptuelle Apparat spiegeln den Prozess seiner historischen Entwicklung im Zusammenspiel diverser politischer, wirtschaftlicher, institutioneller und sonstiger Prämissen und Interessen wider. Die diskurshistorisch und diskursanalytisch ausgerichteten Untersuchungen des Interaktivitätskonzepts sowie des Themas der Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Technologie diskutieren die Mechanismen der Entstehung konzeptioneller ‚Konjunkturen‘ auf den ‚Diskursmärkten‘ als wichtige Faktoren im Feld der intellektuellen Produktion.

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Der Begriff der Interaktivität spielte für die theoretische Aufarbeitung und Konzeptualisierung der medienkünstlerischen Praktiken eine signifikante Rolle. Interaktivität etablierte sich als Bezeichnung einer Kernqualität, welche die Medienkunst von den ‚traditionellen Kunstformen‘ prinzipiell unterscheiden sollte. Interaktion mit dem Kunstwerk wurde als Erforschung des Kommunikationspotentials der neuen digitalen Medien und somit auch als Manifestation eines neuartigen „demokratischen“ Verhältnisses zwischen Kunst und Publikum dargestellt. Zunächst auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine begrenzt, d.h. auf die User-ComputerInteraktion, emanzipierte sich das Konzept der Interaktivität von seinem ursprünglichen technologiebezogenen Inhalt und wurde als ein Synonym der ‚hegemonialen‘ Konzepte der Kunsttheorie der 1980er und 1990er Jahre verwendet – der Partizipativität, Prozessualität und Performativität. Diskurshistorisch gesehen entwickelte sich das medienkünstlerisch bezogene Konzept der Interaktivität im Rahmen der spätmodernistischen und postmodernistischen Kunsttheorie, deren Wurzeln sich in zentralen strukturalistischen und poststrukturalistischen Konzeptionen erkennen lassen. Eine Akzentuierung der Rolle des Rezipienten im Prozess der Sinnkonstituierung der konsumierten Kulturprodukte ist ein entscheidender Aspekt dieser Konzeptionen. Die ökonomische Basis eines solchen theoretischen Überbaus ist die Verschmelzung der funktionellen Grenzen zwischen den Produktions- und Konsumprozessen in der Gesellschaft, die ihre Widerspiegelung auch im künstlerischen Kontext findet. Der unmittelbare politische Ausdruck dieser strukturellen sozialökonomischen Transformation ist der Wille zur ‚Demokratisierung‘ aller Formen der gesellschaftlichen Existenz, einschließlich des Kulturkonsums. In diesem Sinne lässt sich der Kampf gegen das traditionelle ‚autoritäre‘ Kunstwerk für das ‚offene‘, ‚demokratische‘ Kunstwerk, das durch den Betrachter im Akt der Wahrnehmung geschaffen wird, als eine Erscheinungsform des zugrunde liegenden politischökonomischen Dispositivs des postindustriellen Spätkapitalismus verstehen. Ein weiteres identitätsbildendes Motiv des Medienkunstdiskurses ist die Darstellung der Medienkunst als einer essentiellen Synthese von Kunst, Wissenschaft und Technologie, die weit über die Grenzen rein künstlerischer Praxis hinausgeht. In den letzten Jahren entwickelte sich das Thema der Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft zu einem neuen institutionellen Paradigma, das in seiner Dynamik das kulturpolitische Schicksal

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der Medienkunst selbst zu wiederholen scheint. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit die Tendenz einer zunehmenden kulturpolitischen Instrumentalisierung dieser Problematik analysiert. Ohne die lange Geschichte dieser Zusammenarbeit und ihre offensichtlichen Gewinne in Frage zu stellen, versucht die Studie die Gefahren anzudeuten, die diese Instrumentalisierung für die künstlerische Praxis mit sich bringt. Insbesondere konzentriert sich dieses Kapitel auf die Analyse der politischen, sozialökonomischen und ideologischen Voraussetzungen und Implikationen der Entstehung und Umsetzung der Art-Science Collaboration bzw. Art-Science Interaction als eines programmatischen institutionellen Trends. Zugleich werden in diesem Kapitel aus diskurshistorischer Perspektive Schlüsselthemen und -konzeptionen dargestellt, die für die theoretische und kulturelle Legitimation des Art-Science-Paradigmas eine bedeutende Rolle spielen. Zu den wichtigen theoretischen Referenzen zählen beispielsweise die Konzeptionen der Produktionskunst und des Künstler-Ingenieurs, die in den 1920er Jahren von russischen Konstruktivisten und Kunsttheoretikern, unter anderem von Boris Arvatov, Alexander Rodchenko, Warwara Stepanowa und Alexei Gan, entwickelt wurden. Die Produktionskunst sollte sich von der l’art pour l’art-Einstellung sowie vom formellen Ästhetizismus der Schönen Künste programmatisch verabschieden und dem Ziel einer besseren Gestaltung der materiellen Umwelt dienen. Ein neuer Künstlertypus – der Künstler-Ingenieur – hatte daher die Aufgabe, sich der Gestaltung und Produktion funktionaler Objekte zu widmen, auf traditionelle Kunstformen wie etwa Tafelmalerei etc. zu verzichten und „bewusst nützliche Sachen herzustellen“. Ähnlich wie im Bauhaus ging es den Verfechtern der Produktionskunst um einen instrumentellen Gebrauch wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse für künstlerische Zwecke. Ausführlicher befasst sich dieses Kapitel auch mit der Konzeption der Two Cultures des britischen Wissenschaftlers und Schriftstellers Charles Percy Snow sowie mit der Rezeption und späteren Auseinandersetzungen mit seiner Konzeption, z.B. mit dem Motiv der „dritten Kultur“ („The Third Culture“), die im aktuellen Art-Science-Diskurs einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt bildet. Basierend auf einem prinzipiellen Missverständnis der Position Snows verbreitete sich in den 1990er Jahren, vor allem dank einiger Publikationen in der Zeitschrift Leonardo, im Medienkunstdiskurs das Konzept einer „dritten Kultur“. Die Medienkunst wird in diesen Publikationen zur „dritten Kultur“ erklärt, d.h. zur Kultur der Vermittlung

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zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften und somit implizit auf die Rolle einer wissenschafts-popularisierenden aufklärerischen oder bloß illustrativen Aktivität reduziert. Durch eine solche programmatische Reduktion der Medienkunst auf Vermittlungsaufgaben wird versucht, die Medienkunst im akademischen System auf Kosten ihrer künstlerischen Autonomie zu legitimieren und institutionell zu etablieren. Der institutionelle Kontext der Entstehung der ersten medienkünstlerischen Arbeiten in den 1960er Jahren erweist sich in diesem Zusammenhang als die wichtigste Prämisse der für die Medienkunst grundlegenden Ideologie der Integration von Kunst, Wissenschaft und Technologie. Im Rüstungswettkampf des Kalten Krieges und im Kontext staatlich großzügig finanzierter Forschungsprojekte im Bereich der Computertechnologien wurden Universitäten und Forschungszentren in den USA zu einem optimalen Umfeld, in dem experimentelle technologiebasierte Kunstprojekte realisiert werden konnten. Aus sozialhistorischer Sicht bildeten vor allem technisch-wissenschaftliche Fachkräfte das berufliche Umfeld der Entstehung der technologie- und computerbasierten Kunst. Viele Protagonisten der frühen technologiebasierten Kunst und insbesondere der Neue-Medien-Kunst waren professionelle Ingenieure, Informatiker, Natur- und Computerwissenschaftler, die aus verschiedenen Gründen begonnen hatten, sich für eine künstlerische Anwendung der neuen Technologien zu interessieren. Mit ihren technischkünstlerischen Experimenten waren sie oft stricto sensu Hobby-Künstler, die, soziologisch gesehen, eine Art technologische Art-Brut produzierten. Nicht zuletzt daraus resultierte die neopositivistische Prägung der technologiebasierten Kunst, die vor allem in der amerikanischen Medienkunst zu beobachten war und die sich zum Teil auch im europäischen Medienkunstdiskurs durchsetzte. Die Zeitschrift Leonardo war eine der zentralen Instanzen der Artikulation eines solchen neopositivistischen Geistes im Kunstdiskurs. 1968 von Frank J. Malina, einem amerikanischen Ingenieurwissenschaftler, Kinetic Art-Enthusiasten und damaligem Leiter der Abteilung für Wissenschaftsforschung der UNESCO, gegründet, entwickelte sie sich mit der Zeit zu einer der wichtigsten institutionellen Adressen der Produktion und Vermittlung des Diskurses der Art-Science Collaboration. Mit der Geschichte dieser Zeitschrift, ihrer redaktionellen Politik sowie den in ihr präsentierten Themen und Inhalten befasst sich die letzte Fallstudie, in welcher der Wan-

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del der Ideologie der Art-Science Collaboration in den letzten fünfzig Jahren anhand der Leonardo-Publikationen untersucht wird. Das ursprüngliche Vorhaben des Leonardo-Gründers war es, eine neuartige Kunstzeitschrift nach dem Modell einer akademischen naturwissenschaftlichen Zeitschrift zu gestalten: Von Künstlern für Künstler, um praktische Erfahrungen, technische Kenntnisse, handwerkliche Fertigkeiten, Technologien und Knowhows mit den Kollegen auszutauschen. Nach Malinas Tod übernahm 1981 sein Sohn, der Astrophysiker Roger Malina, die Herausgabe der Zeitschrift. Die Redaktion der Zeitschrift zog von Paris nach den USA. 1982 wurde die International Society for the Arts, Sciences and Technology (Leonardo/ISAST) gegründet. Neben der Herausgabe der Zeitschrift wurden die Aktivitäten der neuen Gesellschaft durch die Organisation von thematisch auf die Interaktion von Kunst, Wissenschaft und Technologie ausgerichteten Konferenzen sowie auf Symposien, Festivals, Vorlesungsreihen und Kunstpreise erweitert. Die künstlerische Produktion, die sich der neuen Medien und Technologien strategisch bediente, geriet in den späten 1980er Jahren aus der Peripherie in das Zentrum des internationalen Kunstprozesses. Entsprechend wuchs auch der Bedarf, sie zu konzeptualisieren und theoretisch aufzuarbeiten. Dieser Zeitraum von der Mitte der 1980er bis zum Ende der 1990er Jahre wurde zur Sternstunde der Leonardo-Zeitschrift, die sich als eine der ersten periodischen Organe mit dieser Problematik programmatisch befasste und diesen Prozess vor allem aus der Perspektive der Künstler dokumentierte. In den letzten Jahren ist in den Leonardo-Publikationen jedoch eine neue Tendenz festzustellen. Artikel, die sich mit diversen praktischen und theoretischen Aspekten der New Media Art befassen, verlieren allmählich die zentrale Bedeutung, die sie noch bis zur Mitte der nuller Jahre hatten. Anstelle von Medienkunst-bezogenen Abhandlungen treten immer häufiger die Themen Art-Science Interaction, Artistic Research etc. in den Vordergrund. Die zum Teil relativ oberflächlichen, dafür aber sehr expliziten Bezüge auf die Art-Science-Problematik markieren einen signifikanten Wandel im kulturpolitischen bzw. kunstpolitischen Legitimationsdiskurs: ArtScience Collaboration bzw. Art-Science Interaction sind zu einem neuen ‚hegemonialen‘ Paradigma im Kunstfeld geworden und übernehmen in kulturpolitischer Hinsicht die gleiche strategische Funktion in der offiziellen

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institutionellen Programmatik wie die Medienkunst einige Jahrzehnte zuvor. Das abschließende Kapitel zu den programmatischen Verschiebungen im kulturpolitischen Legitimationsdiskurs akzentuiert die zentralen Fragestellungen der gesamten Arbeit. Diese beinhalten eine Untersuchung der grundlegenden Funktionsprinzipien des gegenwärtigen Kunstsystems, welche die Entstehung und Etablierung bestimmter künstlerischer Formen und Praktiken sowie Tendenzen ihrer theoretischen Aufarbeitung und Konzeptualisierung wesentlich beeinflussen. Die Geschichte der Medienkunst bietet in dieser Hinsicht in all ihrer Differenziertheit ein überaus exemplarisches Anschauungsmaterial dafür, welche Auswirkungen diese Prinzipien auf den künstlerischen Prozess haben können.

Teil I. Institutionen und Verwaltung Theoretischer Rahmen

Institutionskritik als Ressentiment Die Problemstellung Kapitel 1

In diesen aus allen Ecken und Enden hervorschießenden „Quellen“ wird die grundlegende Eigenschaft einer ideologischen Konfiguration vermittelt, ein Gefüge aus Worten, die gleichsam als Aufschreie der Extase oder

der

Entrüstung

fungieren,

und

uminterpretierten

halb-

wissenschaftlichen Themen, „spontanen“ Hervorbringungen individueller Erfindungsgabe, die, da auf der Orchestrierung der Habitusformen und der affektiven Übereinstimmung von wechselseitig geteilten Phantasmen gegründet, objektiv aufeinander abgestimmt sind und den Anschein ebenso der Einheit wie der grenzenlosen Originalität vermitteln. PIERRE BOURDIEU, DIE POLITISCHE ONTOLOGIE MARTIN HEIDEGGERS

Die institutionelle Problematik findet im kunsttheoretischen Diskurs seit Jahren höchste Aufmerksamkeit. Alle nur denkbaren Aspekte scheinen inzwischen vielfach thematisiert worden zu sein.1 Die Funktionsprinzipien

1

Vgl. Welchman, John C. (Hg.): Institutional Critique and After (SoCCAS Symposia, Bd. 2), Zürich: JRP|Ringier 2006; vgl. auch Möntmann, Nina (Hg.): Art and its Institutions – Current Conflicts, Critique and Collaborations, London: Black Dog Publishing 2006, und Gielen, Pascal (Hg.): Institutional Attitudes. Instituting Art in a Flat World, Amsterdam: Valiz 2013; sowie spezielle Ausgaben des Webjournals transversal: Do You Remember Institutional Critique?

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des institutionellen Betriebs und ihre Auswirkungen auf die künstlerische Praxis sind ein verlockendes Thema für kritische Reflexion, welches per se einen symbolischen intellektuellen Mehrwert des ‚Kritisch-Reflexiven‘ verspricht. Darüber hinaus bietet es ein lohnendes Feld für die Einbeziehung verschiedener theoretischer Kontexte aus den benachbarten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Es wäre jedoch allzu einseitig, dieses ausgeprägte Interesse für die institutionelle Problematik und die Institutionskritik lediglich als ein Beispiel der zirkulierenden thematischen Trends innerhalb des Kunstdiskurses zu betrachten. In der Tat hat die intensive Beschäftigung mit den institutionellen Rahmenbedingungen des künstlerischen Prozesses einen symptomatischen Charakter, indem sie angesichts der omnipräsenten Macht der Institutionen innerhalb der Kunstszene ein kollektives Gefühl der Hilflosigkeit zum Ausdruck bringt. Jeder Insider des Kunstbetriebs weiß, in welchem Ausmaß institutionelle Gegebenheiten und mikropolitische Zusammenhänge die künstlerische Produktion de facto beeinflussen. Die Produktionsbedingungen sowie die mitgedachten Distributionsmöglichkeiten sind in jedem Kunstwerk unvermeidlich enthalten. Das gilt sogar dann, wenn der Künstler sich bewusst ausschließlich mit formalästhetischen Problemen beschäftigen will. In dieser Hinsicht sind die schon fast ein Jahrhundert alten Erkenntnisse des ‚Vulgärmarxismus‘ kaum zu widerlegen. Der Inhalt und die Ästhetik künstlerischer Arbeiten werden derart deutlich durch den institutionellen Kontext geprägt, dass jegliche Analyse ohne Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen als unvollständig gelten muss. Die Kunstinstitutionen sind diejenigen strukturellen Einheiten des Kunstsystems, die das System als solches konstituieren und sein Funktionieren ermöglichen. Sie verfügen über ein Wertbildungsmonopol und über Definitionsmacht. Sie regeln und kontrollieren das gesamte Feld der professionellen künstlerischen Produktion. Die Sphären ihres Herrschaftsanspruchs haben sich in den letzten Jahrzehnten so erweitert, dass inzwischen kein ‚Außen‘ und kein ‚Außerhalb‘ des institutionellen Betriebs mehr gedacht werden kann. Selbst die künstlerische Tätigkeit an sich scheint mitt-

(01/2006),

Progressive

Institutions

(04/2007)

und

Monster-Institutions

(05/2008), die auf der Webseite des Journals unter http://eipcp.net/transversal zu finden sind.

I NSTITUTIONSKRITIK

ALS

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lerweile nur ein bloßer Nebeneffekt des selbstgenügsamen Funktionierens dieses Betriebs zu werden. In dieser Situation erweist sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem institutionellen Kontext und all seinen Organisations- und Funktionsprinzipien als das letzte noch denkbare Terrain einer freien und kritischen künstlerischen Aktivität, die sich der Wirkung institutioneller Determinierungsmechanismen entziehen oder sich diesen gar widersetzen will. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Institutionskritik als eine „Haltung in der Kunst“, die, laut einer im deutschsprachigen Raum häufig zitierten Definition, „künstlerische Arbeiten und Verfahrensweisen bezeichnet, welche die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Herstellung und des Gebrauchs von Kunst analytisch untersuchen“.2 Die gleiche Logik gilt auch für kunsttheoretische und kunstkritische Abhandlungen. Denn für den Fall, dass künstlerische Arbeiten sich ausschließlich durch ihren Produktionskontext erklären ließen, könnten diese für die Kunsttheorie nur in ihrer generalisierenden, repräsentativen Symptomatik interessant und relevant sein. So gesehen bestünde die Kunst des Kunsttheoretikers darin, hinter der formal-stilistischen und gegebenenfalls inhaltlichen ‚Oberfläche‘ eines einzelnen Kunstwerks oder auch eines ganzen Kunsttrends den komplexen institutionellen Apparat mit all seinen politischen, ökonomischen und ideologischen Hintergründen zu erkennen und diesen in den breiteren sozialhistorischen Kontext einzuschreiben. Kunsttheoretische Arbeiten, die nicht nur deskriptiv oder systematisierend bleiben wollen, sondern die Rolle einer erkenntnisgewinnenden Aufdeckung der Kausalitäten beanspruchen, beschäftigen sich nicht lediglich mit Fragen nach dem was und wie, sondern vor allem mit der Frage, warum das was und wie gerade in der gegebenen Form entstehen und existieren kann. Diese Warum-Frage ist jedoch nur durch die Analyse der Organisationsstrukturen und Funktionsmechanismen der Kunstinstitutionen zu beantworten. So reduziert sich die aktuelle ‚kritische‘ Kunsttheorie allmählich auf eine Art Institutionskritik in mehr oder weniger ausgeprägter Form. Dabei vermitteln die theoretische Elaboriertheit und philosophische Fundierung der institutionskritischen Publikationen eher den Eindruck einer Kom-

2

Meinhardt, Johannes: „Institutionskritik“, in: Hubertus Butin (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 126.

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pensierung der intellektuellen Leere und Aussagelosigkeit des Großteils der heutigen künstlerischen Produktion mit all ihren vermeintlichen, de facto jedoch völlig dekorativ-harmlosen, ‚politischen‘ und ‚sozialkritischen‘ Inhalten. Der Kunstbetrieb, verkörpert durch die Kunstinstitutionen, welche die künstlerische Tätigkeit und ihre Produkte verwalten, wird verständlicherweise dafür verantwortlich gemacht, dass die Kunst zum „business as usual“3 und die künstlerische Tätigkeit selbst zu einer banalen Erwerbstätigkeit wie jede andere verkommt. Der alte, für die Entwicklung des modernen Kunstsystems konstitutive romantische Mythos der Kunst als einer zweckfreien schöpferischen Aktivität des freien Geistes wird dadurch in seinem Kern gefährdet. Die noch bei Immanuel Kant und später bei Friedrich Schiller und Friedrich Schelling entwickelte Idee vom Kunstwerk als Produkt eines freien Schöpfungsakts – im Unterschied zum zweckgebundenen Handwerk – lässt sich wirtschaftlich wunderbar instrumentalisieren. Bereits im 19. Jahrhundert wurde diese Idee bei der Herausbildung des Wertes eines Kunstwerks auf dem Kunstmarkt als Legitimationsvorwand eingesetzt. Bei allen Erkenntnissen institutionskritischer Abhandlungen verbleibt diese, sich an die romantische Kunstphilosophie anlehnende Disposition dennoch konsistent und ohne weiteres erkennbar: Es ist das ‚böse‘ Kunstsystem in Form des Marktes und der Kunstinstitutionen, welches die per definitionem ‚gute‘ Kunst behindert und korrumpiert. Die Tatsache, dass in der neoliberalen Welt die Kritik des Systems schon längst ein wesentlicher und gut verkäuflicher Teil des Systems geworden ist, wird von vielen Diskursproduzenten und -vermittlern wohl beachtet. Doch führt dieses Bewusstsein paradoxerweise zu einer weiteren Verfestigung der ursprünglichen Rollenverteilung zwischen den ‚Guten‘ und ‚Bösen‘, die durch eine unaufhörliche (Selbst-) Viktimisierung der Kunstschaffenden immer weiter verstärkt wird: Die Künstler, wie alle anderen Menschen auf dieser Welt, sind die armen Opfer der „nihilistischen Weisheit“ des Marktes und der Konsum- und Spektakelgesellschaft, in anderen Worten, Opfer des allmächtigen und unwiderstehlichen kapitalistischen Monsters.

3

Vgl. Leslie, Ester: „Mehr Wert für die Inhalte: Die Verwertung der Kultur heute“, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia + Kant 2007, S. 56–66, hier S. 61.

I NSTITUTIONSKRITIK

ALS

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In dieser Einstellung spiegelt sich dasselbe Motiv der Allmächtigkeit des Marktes und des kapitalistischen Systems wider, das sich in der postmarxistischen und post-operaistischen Philosophie und Sozialtheorie manifestiert und das von Jacques Rancière in Anspielung auf Walter Benjamin als „left-wing melancholy“4 bezeichnet wird. Noch in dem Aufruf zu einem „Exodus aus dem Bauch des Monsters“ findet sich, so Rancière, „the melancholic view of the omnipotence of the beast, which puts its grip on the desire and the capacities of its potential enemies, as it offers them – at the best price – what is the most valuable commodity: the possibility of experimenting with their life as a field of infinite possibilities. […] So, cynical melancholy, like prophecy, thrives on its very impotence. It is enough that it can turn it into general impotence and insecure the subjective position of the ‚smart one’, who casts a disenchanted gaze on a world […]“.5

Denn in dieser Welt wird die Stärke des Systems durch die entfremdete Arbeit seiner potentiellen Gegner erschaffen. Dieses Hilflosigkeitsgefühl ist ein Nährboden für die Entfaltung eines schlecht verdeckten Ressentiments, welches im Grunde genommen ein triviales Klassenressentiment der heutigen intellektuellen und künstlerischen ‚prekären Eliten‘ ist. Kaum je zuvor war kulturelles Kapital so schwer in ein finanzielles zu konvertieren wie in der Zeit der heute proklamierten ‚Wissensökonomie‘. Eine wachsende ökonomische und damit zwangsläufig auch gesellschaftliche Entwertung der erworbenen akademischen Kenntnisse und Qualifikationen ist der Preis der Pseudo-Demokratisierung mancher Tätigkeitsfelder in den Wohlfahrtsstaaten, in denen die vormals durch das Ausbildungssystem geschaffenen Zugangsfilter nunmehr überwiegend dem Arbeitsmarkt überlassen werden. Creative Industries und Creative Economies, zu Beginn der nuller Jahre noch hoch gepriesen, erwiesen sich hinsichtlich der potentiellen Verbesserung der Beschäftigungschancen für die ‚freischwebende Intelligenz‘ als

4

Rancière, Jacques: „The Misadventures of Universality“, in: Joseph Backstein/Daniel Birnbaum/Sven-Olov Wallenstein (Hg.): Thinking Worlds. The Moscow Conference on Philosophy, Politics, and Art, Berlin: Sternberg Press 2008, S. 69–82, hier S. 74.

5

Ibid., S. 75.

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eine trügerische Hoffnung.6 In der Theorie konnten die Arbeitsbeschaffungskapazitäten der Kreativwirtschaft zwar unendlich expandieren, in der Praxis erreichten sie jedoch schnell ihre natürlichen Wachstumsgrenzen. Im Kreativwirtschaftsbereich konnte sich schließlich nur eine begrenzte Zahl von creative workers eine stabilere Position sichern. Die große Mehrheit hatte sich hingegen auf ein geringes bzw. unregelmäßiges Einkommen und/oder eine Unterstützung durch den Staat einzustellen. Der Begriff ‚Prekariat‘ wurde allmählich zu einer symptomatischen (Selbst-)Bezeichnung der sozialen Lage dieses wachsenden Heeres von Akademikern mit einem spürbaren „status-income disequilibrium“7, oder – in der nach wie vor im kunsttheoretischen Diskurs populären Terminologie Bourdieus – mit einer gravierenden Diskrepanz ihres kulturellen und finanziellen Kapitals. Die massenhafte Prekarisierung der Kulturschaffenden nahm insbesondere seit der Mitte der nuller Jahre an Bedeutung zu, nachdem die staatlichen Ausgaben für kulturpolitische Maßnahmen in den meisten westeuropäischen Ländern wesentlich gekürzt wurden. Von diesem Zeitpunkt an ist auch eine neue Welle des Interesses an der Institutionskritik zu beobachten, die noch kurz zuvor ein Gespenst aus den 1960er und 1970er Jahren zu sein schien. Diese Wiederbelebung lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass die Institutionskritik als künstlerische Praxis nach dreißig Jahren eine gewisse ‚Mündigkeit‘ erreicht hatte, um zu einem vollberechtigten Forschungsgegenstand der akademischen Kunstgeschichte zu werden. Sie resultiert auch nicht nur daraus, dass der Kunstmarkt auf den Klassiker-Status ihrer renommiertesten Vertreter wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Hans Haacke reagierte. Die Kunstinstitutionen als institutionelle Bildungen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontext entstehen, reproduzieren notwendigerweise die gleichen Organisationsstrukturen und Funktionsprinzipien wie alle anderen administrativen Einrichtungen ihrer Umgebung, was im soziologischen Neo-Institutionalismus als „institu-

6

Vgl. Hartley, John: Creative Industries, Malden, Mass.: Blackwell Publishing 2007, vgl. auch Florida, Richard: The Rise of the Creative Class, Cambridge/New York: Basic Books 2002.

7

Vgl. Brooks, David: Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There, New York: Simon and Schuster 2000.

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ALS

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tioneller Isomorphismus“8 bezeichnet wird. Da sich die Entwicklung der institutionellen Infrastruktur der zeitgenössischen Kunst parallel zur Expansion der neoliberalen Ideologie und Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen vollzieht, werden auch die Kunstinstitutionen in ihren Handlungsstrategien und latenten Zielsetzungen derselben Logik einer totalen Ökonomisierung aller Sozialverhältnisse unterworfen. Das deklarative und faktische Effizienzstreben, sei es in Form direkter Selbst-Verwirtschaftungsstrategien oder durch die Akzentuierung der makroökonomischen Auswirkungen eigener Tätigkeit, wird sogar für die staatlichen Kunstinstitutionen zum unabdingbaren Programm ihrer gesellschaftlichen Legitimitätsbeschaffung und -aufrechterhaltung. Die Existenz und Funktionstüchtigkeit des institutionellen Betriebs ist unter diesen Voraussetzungen nicht nur Sache der Verwaltung im Weberschen Sinne, sondern vielmehr eine Frage des Managements mit allen semantischen Wandlungen und wirtschaftlichen Implikationen dieses Begriffs. Deshalb werden die Kunstinstitutionen zwangsläufig als Einheiten der globalen kapitalistischen institutionellen Infrastruktur und damit auch als Agenten und Emanationen des globalen ‚kapitalistischen Monsters‘ in all seinen unzähligen Erscheinungsformen wahrgenommen. Aus diesem Grunde lassen sich die leidenschaftlichen Theoretisierungen zu den Themen Macht, Natur und Bedeutung der Institutionen und die Diskussionen über Strategien des Widerstands und Kampfes gegen ihre Herrschaft als Ausdruck eines melancholischen left-wing-Ressentiments verstehen, welches aus dem Gefühl der eigenen Hilflosigkeit gegenüber dem totalen Siegeszug der ‚faschistoiden neoliberalen Welt‘ und ihrer darwinistischen Gesetze der Selektion des Marktes resultiert. Dabei bewegt sich das Ressentiment als eine Triebkraft des institutionskritischen Diskurses „innerhalb der Grenzen der Zensur, die jedes kulturelle Produktionsfeld kraft seiner Struktur ausübt“.9 Dennoch ist die Autonomie des kunsttheoretischen ‚Produktionsfeldes‘ relativ und die

8

Vgl. DiMaggio, Paul J./Powell, Walter W. (Hg.): „The Iron Cage Revisited: The Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“, in: ders. (Hg.): New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago, IL: University of Chicago Press 1991, S. 63–82, hier S. 66.

9

Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 91.

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Wechselwirkung zwischen dem sozialen und dem damit korrespondierenden intellektuellen Raum der Textproduktion muss daher in die Analyse einer jeden Diskursbildung miteinbezogen werden. Es kann hier selbstverständlich keinesfalls darum gehen, den Text unmittelbar auf die allgemeinen politischen und sozialökonomischen Bedingungen seiner Produktion zu reduzieren. Diese Gefahr hat bereits Pierre Bourdieu in seinem Buch „Die politische Ontologie Martin Heideggers“ sehr klar benannt und vor einer Trennung „von politischer und philosophischer Lektüre“ gewarnt sowie für eine „gleichermaßen politische wie philosophische Doppellektüre“ plädiert. Als ein Beispiel für eine solche Trennung kritisierte Bourdieu Adornos Rezeption von Heideggers Philosophie. Diese Kritik kann, typologisch gesehen, als eine paradigmatische Darstellung der potentiellen Schwächen eines wissenssoziologischen Reduktionismus betrachtet werden: „Weil Adorno die relative Autonomie des philosophischen Feldes ignoriert, bezieht er zu unvermittelt die relevanten Merkmale von Heideggers Philosophie auf Besonderheiten der Klassenfraktion, der dieser angehört: Dieser „Kurzschluss“ verleitet ihn zwangsläufig dazu, diese archaisierende Ideologie zum Ausdruck einer Gruppe von Intellektuellen zu stempeln, die durch die Industriegesellschaft überholt und bar jeder Unabhängigkeit und wirtschaftlichen Macht sind. Es steht hier außer Frage, diesen Zusammenhang zu bestreiten, noch die Beziehung, die Adorno zwischen den Themen der Angst und der Sinnlosigkeit und der faktischen Ohnmacht der Produzenten dieser Themen herstellt – zumal nicht nach dem Buch Ringers, der die Hinwendung der von ihm so genannten „deutschen Mandarine“ zum reaktionären Konservatismus auf deren sinkende Stellung innerhalb der Struktur der herrschenden Klasse zurückführt. Doch da Adorno es unterlässt, die entscheidende Vermittlung, nämlich die bestimmenden Positionen des philosophischen Feldes und deren Beziehung zu den grundlegenden Gesetzen des philosophischen Systems, begrifflich zu fassen, entgeht ihm unausweichlich das Prinzip der Alchemie, die den philosophischen Diskurs vor der handgreiflichen Reduktion auf die Klassenposition seines Produzenten schützt, und zugleich verbaut er sich auch die Erklärung dessen, was als das Wesentliche zu gelten hat: der Effekt der philosophischen Formgebung.“10

An dieser Stelle fällt es nicht leicht der Versuchung zu widerstehen, in der zitierten Passage gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit der heutigen Situa-

10 Ibid., S. 11.

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tion zu sehen: Tauschte man solche Begriffe wie „archaisierende Ideologie“, „Industriegesellschaft“, „reaktionärer Konservatismus“ etc. gegen die strukturell entsprechenden, inhaltlich indes antithetischen Äquivalenzen der heutigen Realität aus, wie z.B. „linke Ideologie“, „postindustrielle/neoliberale Gesellschaft“, „Campus-Marxismus“ oder ähnliches, ergäbe sich eine treffende Beschreibung der aktuellen gesellschaftlichen Lage der Intellektuellen. Doch soll die feuilletonistisch-erkenntnisgewinnende Wirkung solcher Parallelen von der Kernaussage der Kritik Bourdieus nicht ablenken. „Das Prinzip der Alchemie, die den philosophischen Diskurs vor der handgreiflichen Reduktion auf die Klassenposition seines Produzenten schützt“ sowie „der Effekt der philosophischen Formgebung“ sind das Ergebnis einer Wechselwirkung vieler verschiedener Faktoren, unter denen die institutionellen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle spielen. Obwohl in Bourdieus Texten selten die Rede von „Institutionen“, „institutionellen Rahmenbedingungen“, „institutioneller Logik“ etc. ist, sondern eher von „Produktionsfeldern“ und ihren „immanenten Regeln“, „immanenten Notwendigkeiten“ usw., sind diese terminologischen Verschiebungen aus einer begriffshistorischen Perspektive und unter Berücksichtigung des intellektuellen Entstehungskontextes seiner Theorien unschwer zu erklären. Bourdieus „Produktionsfelder“ sind die Handlungsräume, die eben gerade durch das konstituiert werden, was in einer anderen soziologischen Sprache als „Institutionen“ bezeichnet werden könnte. Dementsprechend können seine Untersuchungen mit vollem Recht als präzise Analysen der institutionellen Funktionsprinzipien interpretiert werden. Die Schlussfolgerungen, die Bourdieu aus der Beobachtung der philosophischen Diskursproduktion zieht, dehnen ihren Geltungsanspruch weit über die Grenzen des philosophisch-akademischen „Produktionsfeldes“ hinaus. Sie können als eine Beschreibung der Produktionsmatrix jedes theoretischen Diskurses – des Diskurses der Institutionskritik eingeschlossen – angesehen werden: „Die philosophische Problematik als objektiv realisierter Raum von Möglichkeiten funktioniert wie ein potentieller Markt, der sich den verschiedenen Ausprägungen des expressiven Drangs gegenüber repressiv oder aber stimulierend auswirkt. Jeder Produzent hat mit dieser Problematik zu rechnen, wie auch seine gesellschaftlichen Phantasmen nur innerhalb der von ihr ausgehenden Zwänge ihren Ausdruck finden können. Dementsprechend lässt sich der gelehrte Diskurs als ‚Kompromissbildung‘

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im Sinne Freuds auffassen, das heißt als Produkt einer Transaktion zwischen Ausdrucksinteressen, die selbst durch die im Feld eingenommene Position bestimmt sind, und den strukturellen Zwängen des Feldes, in dem der Diskurs hervorgebracht wird und zirkuliert, und das als Zensur fungiert. Die gleichermaßen bewusste und unbewusste Arbeit der Euphemisierung und Sublimierung, die notwendig ist, um die bei einem gegebenen Stand der Zensur des Feldes nicht eingestehbaren Ausdrucksinteressen sagbar zu machen, besteht darin, im Akt der Formgebung die angemessene, gemäße Form hervorzubringen.“11

Diese differenzierten Ausführungen Bourdieus eröffneten zu seiner Zeit eine neue ‚dialektische‘ Komplexitätsdimension für einen ‚gesunden‘ Sozialdeterminismus, der sich in vielen Bereichen im Wesentlichen auf eine Art ‚institutionellen Determinismus‘ reduzieren lässt. Daher wird Bourdieus Terminologie häufig für die Beschreibung der institutionellen Funktionsmechanismen angewandt. Seine „Feldtheorie“ wurde – in einer oft eher vereinfachten Form – zu einer der wichtigsten theoretischen Referenzen für den gesamten Diskurs der Institutionskritik. Simplifizierungen dieser Art werden von den diskursinternen Kritikern jedoch penibel registriert und – zum großen Teil auch zu Recht – als „missbräuchliche Theorie-Importe ins Kunstfeld“12 abgestempelt. So schreibt beispielsweise Gerald Raunig in der Studie „Institutierende Praxen“: „Werden (Selbst-)Kanonisierungen, Auf- und Abwertungen im Kunstfeld – auch in der Debatte um institutionskritische Praxen – gern mit eklektischer, disparater, widersprüchlicher Auswahl an Theorie-Importen geschmückt, so hat dieser Import paradoxerweise oft die einzige Funktion, die Abschottung von einzelnen künstlerischen Positionen oder des Kunstfeldes als solchem zu betreiben. Eine aktuelle Variante dieser Funktionalisierung von Theorie-Versatzstücken besteht in der Vermischung von poststrukturalistischen Immanenz-Theorien mit Simplifizierungen und hermetischen Interpretationen Bourdieu’scher Feldtheorie. Die Thesen gegen ein Außen im Sinne einer etwa christlichen oder sozialistischen Tendenz einerseits und von der relativen Autonomie des Kunstfeldes anderseits verschwimmen hier zur

11 Ibid., S. 91. 12 Raunig, Gerald/Nowotny, Stefan: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia + Kant 2008, S. 23.

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ebenso simplifizierenden wie defätistischen Aussage: ‚We are trapped in our field‘ (Andrea Fraser).“13

Raunig setzt seine Kritik an Andrea Frasers Aussagen zur Institutionskritik fort und wirft ihr vor „mithilfe einer kurzen Begriffsgeschichte offensive Selbsthistorisierung“ zu treiben und kritisiert die Beschränkung „aller möglichen Formen der Institutionskritik auf eine Kritik der ‚Institution Kunst‘ (Peter Bürger) und ihrer Institutionen“.14 Es wäre jedoch seltsam, wollte man von der Künstlerin Andrea Fraser, einer der bekanntesten Vertreterinnen der „zweiten Generation der Institutionskritik“, eine Kritik der „Institution Wissenschaft“, der „Institution Wirtschaft“ oder ähnliches erwarten. Die Institutionskritik als künstlerische Praxis war von Anfang an auf das eigene Aktivitätsfeld bezogen und diese Selbstbezüglichkeit zeichnete die Institutionskritik von vornherein in ihrem Kern aus. Dies ist den beiden Autoren der „Instituierenden Praxen“ selbstverständlich wohl bewusst, weshalb Raunigs Kritik an Frasers Position eher rhetorischer Natur zu sein scheint. Für die schärfste Kritik sorgt dabei die folgende Aussage Frasers: „[...] just as art cannot exist outside the field of art, we cannot exist outside the field of art, at least not as artists, critics, curators, etc. [...] With each attempt to evade the limits of institutional determination, to embrace an outside, [...] we expand our frame and bring more of the world into it. But we never escape it.“15

Diese Auffassung ist kaum zu widerlegen und bietet noch keinen überzeugenden Grund für den Vorwurf des Defätismus sowie für die Unterstellung, dass Fraser nur „eine sehr alte Platte abspielt: Kunst ist und bleibt autonom, ihre Funktion beschränkt sich auf das Kunstfeld.“16 Die hier zitierten Aussagen Frasers implizieren an sich weder die Autonomie der Kunst noch die Begrenzung ihrer Funktion. Eine solche Behauptung von Raunig ist selbst eher als Ergebnis einer bestimmten zweckgebundenen Interpretation zu

13 Ibid., S. 23–24. 14 Ibid. 15 Fraser, Andrea: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, in: Artforum, September 2005, S. 282, zitiert nach: G. Raunig/S. Nowotny: Instituierende Praxen, S. 24–25. 16 G. Raunig/S. Nowotny: Instituierende Praxen, S. 25.

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verstehen. Die Aussagen Frasers zeigen hingegen nüchtern und desillusioniert die Handlungsgrenzen der Akteure in einer „totally administered society“ auf und verweisen auf eine performative Definitionsproblematik des institutionellen Kunstbetriebs. Die Ironie dieser Auseinandersetzung besteht darin, dass die oben geschilderte Kritik Raunigs an den Aussagen Frasers und an dem etablierten institutionskritischen Diskurs selbst eine Folge bestimmter institutioneller Notwendigkeiten oder, anders gesagt, der „strukturellen Zwänge des Feldes“ zu sein scheint, die in der kritisierten Abhandlung eben gerade diagnostiziert werden. Aus einer funktionalistischen Perspektive entlarvt sich diese Kritik als Produkt gewisser Ausdrucksinteressen, die, mit Bourdieu gesprochen, „durch die im Feld eingenommene Position [der Kritiker selbst] bestimmt sind“ und die gleichzeitig nur im Rahmen der „feldspezifischen Strukturen der Formgebung“ artikuliert werden können.17 Für die vorliegende Studie ist es selbstverständlich von großer Bedeutung aufzuzeigen, wie die institutionelle Problematik im kunstwissenschaftlichen Diskurs und in seinem theoretischen Umfeld, d.h. in den benachbarten akademischen Disziplinen, reflektiert wird. Jedoch wäre es in diesem Zusammenhang nicht weniger reizvoll zu untersuchen, wie sich die institutionellen Zwänge in den institutionskritischen Unternehmen selbst durchsetzen. Insbesondere, wenn es, wie im Falle von Projekten wie beispielsweise „transform“18, um den Anspruch geht, kritisch mit dem Erbe der inzwi-

17 P. Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 91. 18 Von 2005 bis 2008 entwickelte das European Institute for Progressive Cultural Policy (eipcp) das Projekt „transform“, das sich zur Aufgabe stellte, „Institutionskritik als spezifische Kunstpraxis“ sowie „kritische Kunstinstitutionen“ und „das Verhältnis von Institution und Kritik als sozialer Bewegung“ zu untersuchen. Im Rahmen dieses Projektes erschienen in dem vom eipcp-Team herausgegebenen Webjournal transversal die bereits erwähnten thematischen Ausgaben, die sich ebenfalls verschiedenen Aspekten institutionskritischer Problematik widmen: Do You Remember Institutional Critique? (01/2006), Progressive Institutions (04/2007) sowie Monster-Institutions (05/2008). Als weiteres Produkt des institutionskritischen Anliegens von eipcp entstand auch eine Reihe von Buchpublikationen, darunter das oben zitierte „Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik“, sowie Raunig, Gerald/Ray, Gene (Hg.): Art

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schen institutionalisierten Institutionskritik umzugehen. Die programmatischen theoretischen Bestrebungen ihrer Hauptakteure, „einen neuen Begriff von Institutionskritik“ zu entwickeln, der „über die kanonisierten Formen der institutionskritischen Kunst hinaus reicht“, müssen selbst notwendigerweise die Institutionsform des „Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik“ annehmen, um mit der entsprechenden Finanzierung realisiert werden zu können.19 Die Protagonisten der Erforschung der „aktuellen Entwicklung von radikalen Positionen kritischer Kunstinstitutionen“ sowie des „Verhältnisses von Institution und Kritik als sozialer Bewegung“20 kommen selber nicht umhin, mit den von ihnen kritisierten Institutionalisierungsformen umzugehen. In den eigenen Handlungsstrategien reproduzieren sie zwangsläufig die gleichen institutionellen Verhaltensmuster, die sie zum Hauptobjekt ihrer Kritik gemacht haben. Dieser evidente Widerspruch verrät über das Wesen der institutionellen Problematik wohl mehr als ihre theoretisch-spekulative Aufarbeitung und hilft, die immanente Logik der Institutionalisierungsprozesse sowie ihre Zwangsläufigkeit deutlicher auf dem Punkt zu bringen. Aus dieser Perspektive wird die Geschichte der Medienkunst zu einem kleinen Fragment im Prozess des Ausbaus einer globalen institutionellen Matrix. Alle Entwicklungsmöglichkeiten und -perspektiven der Medienkunst scheinen durch diesen Prozess von Anfang an programmiert zu sein.

and Contemporary Critical Practice. Reinventing Institutional Critique, London: Mayfly 2009. 19 In diesem Fall „mit der Unterstützung der Europäischen Union sowie der Stadt Wien, der Stadt Linz, des Landes Oberösterreich und des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur“, vgl. G. Raunig/S. Nowotny: Instituierende Praxen, S. 4. 20 Ibid., S. 7.

Institution versus Organisation Begriffshistorischer Exkurs Kapitel 2

Die Geschichte des Begriffs Institution im Kunstdiskurs unterscheidet sich von seinem konzeptuellen Werdegang in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Während der Gebrauch des Wortes Institution im Kunstdiskurs durch seine alltagssprachliche Verwendung im Sinne einer administrativen Einrichtung, die gewisse Verwaltungsaufgaben zu erfüllen hat, geprägt wurde, entwickelte sich in der Philosophie, Soziologie und anderen Disziplinen eine konzeptuell viel umfassendere und weniger auf ein konkretes soziales Substrat reduzierbare Auffassung von Institution. Die Geschichte des Begriffs beginnt in den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Enzyklopädien gewöhnlich mit dem spätrömischen Recht, nämlich mit einem Teil der Justinianischen Gesetzgebung Corpus juris civilis aus dem Jahre 533 n. Chr., in dem als institutiones bestimmte Normen, vor allem in Bezug auf das Eigentum und die Ehe, bezeichnet wurden.1 In der Theologie spielt der Begriff institutio eine wichtige Rolle erst im Zusammenhang mit dem Grundtext des Protestantismus, der Confessio Augustana. Institutio bezeichnet dort wie in der Theologie bis heute „das Potential nicht hinterfragter Grundannahmen, die die Auslegungsorientie-

1

Vgl. Art. „Institution“, in: Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 418–423.

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rung der Exegese darstellen“. Bezüglich des Konzeptes institutio bestand die Kernfrage der Auseinandersetzung der lutherischen mit der katholischen Theologie darin, ob „nur das institutionelle Autorität haben soll, was von Christus selbst eingesetzt wurde, oder ob – wie für die katholische Theologie – auch die von Christus nicht gestifteten Traditionen eine der ursprünglichen ‚institutio‘ entsprechende Verbindlichkeit beanspruchen können“.2 Die ersten systematischen Verwendungen des Begriffs Institution in der Soziologie sind mit den Namen Emil Durkheim und Herbert Spencer verbunden. In Durkheims Werk erscheint Institution im Zusammenhang mit dem Begriff des „soziologischen Tatbestands“. Der „soziologische Tatbestand“ wird für Durkheim durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „sein dem Individualbewusstsein externer Charakter“, „der Zwang, den er auf das Bewusstsein ausübt“ sowie „seine Unabhängigkeit von den individuellen Manifestationen“.3 In der zweiten Auflage seiner „Regeln der soziologischen Methode“ schlägt Durkheim vor, für die derartig charakterisierten sozialen Phänomene den Begriff der Institution zu verwenden: „Es gibt [...] ein Wort, das in geringer Erweiterung seiner gewöhnlichen Bedeutung diese ganz besondere Art des Seins ziemlich gut zum Ausdruck bringt, nämlich das Wort Institution. Tatsächlich kann man, ohne den Sinn dieses Ausdrucks zu entstellen, alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.“4

Die Institutionen haben also für Durkheim einen paradigmatischen Charakter: Sie reglementieren durch „kollektive Ideen“ individuelles Handeln und ermöglichen dadurch soziale Integration.

2

Ibid., S. 418. Vgl. auch Rendtorff, Trutz: „Das Problem der Institutionen in der neueren Christentumsgeschichte. Ein Diskussionsbeitrag“, in: Helmut Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution, Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1970, S. 141–153.

3

Durkheim, Emil: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1961, S. 105–115.

4

Ibid., S. 100.

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Herbert Spencer, der unter dem Einfluss des Darwinismus und der Evolutionstheorie das Modell des Organismus auf den sozialen Raum überträgt, versteht Gesellschaft als System, dessen Teile nach ihren Funktionen differenziert werden. Institutionen sind für Spencer die Systemteile, die er als „Organe“ der Gesellschaft bezeichnet. Er unterscheidet dabei in jeder Gesellschaft mindestens sechs Arten von Institutionen: familiäre, politische, kirchliche, industriell-ökonomische, zeremonielle und professionelle, die zentrale Funktionen der Befriedigung von „basic needs“ erfüllen. Dieser Ansatz findet seine Weiterentwicklung in der funktionalistischen Ethnologie von Bronislaw Malinowski, der Institutionen als „the concrete isolates of organized behaviour“ versteht, d.h. als soziale Einheiten, in denen die Befriedigung nicht nur organischer, sondern auch sozialer Bedürfnisse gesellschaftlich organisiert wird.5 Am Beispiel der kirchlichen Trauungszeremonie analysiert Malinowski die Struktur derjenigen sozialen Phänomene, die er als „Institutionen“ bezeichnet. Er unterscheidet dabei vier essentielle Elemente einer Institution: die Idee der Institution in dem Sinne, wie sie von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe anerkannt und festgelegt ist; ihren „Personalbestand“, d.h. die Gruppe von Menschen, die dabei die vorgesehenen Rollen spielen; die Regeln oder Normen des Umgangs miteinander im Rahmen der Institution; sowie den „materiellen Apparat“ der Institution, d.h. die Gegenstände und Räume, die in die Institution einbezogen sind.6 Mit seinen Untersuchungen der Funktionen der normierten gesellschaftlichen Verhaltensweisen leistet Malinowski einen wesentlichen Beitrag für die weitere Entwicklung des Begriffs der Institution als einer „Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert“.7 Dieses Verständnis von Institutionen als habitualisierten gesellschaftlichen Routinen und Handlungsgewohnheiten ist seit den 1960er Jahren in vielen soziologischen Werken zu finden, wie z.B. in dem Werk von Peter

5

Vgl. Malinowski, Bronislaw: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, London: Routledge 2002, S. 52.

6

Vgl. Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2002, S. 148.

7

Ibid., S. 146.

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L. Berger und Thomas Luckmann „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, um nur das bekannteste Beispiel zu nennen. In Anlehnung an die theoretische Soziologie und Kulturanthropologie findet sich auch in der philosophischen Anthropologie eine ähnliche Auffassung des Institutionsbegriffes, vor allem bei Arnold Gehlen. In der Tradition von Johann Gottfried Herder definiert auch Gehlen den Menschen hinsichtlich seiner Instinktausstattung im Vergleich zu Tieren als „Mängelwesen“. Als instinktreduziertes Wesen braucht der Mensch für das Überleben einen gewissen Instinkt-Ersatz, der durch bestimmte erlernte Verhaltensmuster erzeugt werden kann.8 Die Institutionen sorgen demnach für die Entstehung „eines solchen praktischen Gewohnheitsverhaltens“, das „beim Menschen an der Stelle steht, wo wir beim Tier die Instinktreaktionen finden“.9 Im Laufe der 1970er Jahre wird die Bedeutung des Begriffs Institution im soziologischen Diskurs immer allgemeiner und daher auch immer diffuser. Er wird nun zunehmend verwendet, um relativ weit verbreitete, umfassende und dauerhafte Praktiken zu bezeichnen. Die normativen Definitionen in den Fachwörterbüchern bieten seit dieser Zeit innerhalb eines vorhersehbaren Abweichungsspielraums Begriffsbestimmungen, die diese Tendenz sehr deutlich widerspiegeln: „Institution ist eine soziale Einrichtung, die soziales Handeln mit gesellschaftlicher Relevanz dauerhaft strukturiert, normativ regelt und über Sinn- und Wertbezüge legitimiert.“10 Dementsprechend bezeichnet man als Institutionalisierung den „Prozess der Verfestigung von regelmäßig praktizierten Verhaltensmustern, so dass diese generalisiert und typisiert werden können und als habitualisierte Verhaltensweisen allgemein handlungsleitend werden“.11 Mit der Verbreitung der Systemtheorie in den Sozialwissenschaften wird der Begriff Institution in konzeptueller Hinsicht immer stärker verallgemeinert und damit auch als Konzept weitgehend redundant, so dass er tendenziell durch den noch allgemeineren und abstrakteren Begriff des „so-

8 9

Vgl. ebd., S. 153. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden: Aula Verlag 1986, S. 23.

10 Reinhold, Gerd/Lamnek, Siegfried (Hg.): Soziologie-Lexikon, München: Oldenbourg 1991, S. 265. 11 Ibid., S. 268.

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zialen Systems“ ersetzt wird. So versteht Parsons beispielsweise Institutionen als Komplexe von Normen, die sich durch ihre Kompatibilität mit dem allgemeinen kulturell bestimmten Wertsystem legitimieren.12 Luhmann geht noch weiter und postuliert, dass „nicht der Begriff der Institution, sondern der Begriff des sozialen Systems den Gegenstandsbereich der Soziologie definiert“.13 Sein Verständnis von Institutionen sucht er in erster Linie von dem Parsons’ abzugrenzen, ohne andere Auffassungen von Institution zu berücksichtigen: „Soziale Systeme bestehen aus faktischen Handlungen verschiedener Personen, die durch ihren Sinn aufeinander bezogen und durch diesen Sinnzusammenhang abgrenzbar sind gegenüber einer Umwelt, die nicht zum System gehört. Soziale Systeme sind also empirisch aufweisbare Handlungszusammenhänge, nicht nur Muster, Typen, Normenkomplexe, wie der Institutionsbegriff sie meinte.“14

Dabei behält Luhmann den Begriff der Institutionalisierung als einen terminus technicus bei, bleibt aber gegenüber seinem Geltungsbereich kritisch: „Umformungen des Sprachgebrauchs, die sich scheinbar absichtslos verbreiten und einleben, verraten zuweilen ein sich wandelndes Interesse. Die hässliche Neubildung ‚Institutionalisierung‘ hat diesen symptomatischen Wert. Sie bringt nicht nur eine modische Variation der Terminologie zum Ausdruck und dient auch nicht nur dazu, alte Probleme beiseite zu schreiben, die sich am Begriff der Institutionalisierung kristallisiert hatten. Sie erbringt darüber hinaus einen besonderen Erkenntnisgewinn, indem sie diesen Begriff ins Prozeßhafte, Dynamische, Funktionelle übersetzt. [...] Der Begriff der Institutionalisierung erhält seinen Aussagewert im Rahmen der Theorie sozialer Systeme. Er kann zur Bezeichnung spezifischer Prozesse eingesetzt werden, die in solchen Systemen ablaufen und in ihnen angebbare Probleme lösen.

12 Vgl. K. Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 420–421. Vgl. auch Parsons, Talcott: Structure and Process in Modern Societies, New York: Free Press 1960. 13 Luhmann, Niklas: „Institutionalisierung – Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft“, in: H. Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution, S. 27–41, hier S. 28. 14 Ibid.

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In dieser systemfunktionalen Perspektive lassen sich die zu lösenden Probleme bestimmen, die dafür geeigneten Mechanismen abgrenzen und in ihrer Ersetzbarkeit bzw. Unersetzbarkeit beurteilen und gewisse Zusammenhänge des evolutionären Wandels dieser Mechanismen, und damit auch ihrer Produkte: der Institutionen, erkennen.“ 15

Einer der letzten expliziten Versuche, den Institutionsbegriff für die theoretische Soziologie zu retten, unternahm Helmut Schelsky in seinem 1970 erschienenen Aufsatz „Zur soziologischen Theorie der Institution“, in dem er erläuterte: „Der Grund dafür, dass wir den Begriff der Institution dem des ‚sozialen Systems‘ vorziehen, liegt darin, dass der Abstraktionsgrad des Begriffs der ‚Institution‘ geringer ist als der des ‚sozialen Systems‘ und daher für manche soziologischen Erkenntnisabsichten geeigneter bleibt als das höchst abstrakte ‚System‘-Denken der modernen soziologischen Theorie.“16

Seit der 1970er Jahren aber ging die Zeit der Institution als eines umfassenden theoretischen Konzepts der theoretischen Soziologie oder Philosophie zu Ende. Die Verwendung des Begriffs der Institution begann sich in seiner Bedeutung immer mehr dem anzunähern, was seit Weber in der Soziologie als Organisation bezeichnet wurde. Auch im sogenannten Neuen Institutionalismus, der in den folgenden Kapiteln behandelt wird, ist dieser Bedeutungswandel leicht zu verfolgen. Im Unterschied zum Begriff der Institution, der sich für die Reflexion sozialer „Tatbestände“ in jedem Gesellschaftstypus einschließlich traditioneller Gesellschaften eignete, entwickelte sich der Organisationsbegriff in erster Linie zur Beschreibung gesellschaftlicher Kooperationsformen, die sich in der modernen Industriegesellschaft bildeten. Gesellschaftliche Institution im Sinne von Spencer oder Durkheim war ein naturwüchsiges und selbstregulierendes Phänomen, das vor allem dem Allgemeinwohl dienen sollte und individuelle Bedürfnisse nur als Bestandteile der Bedürfnisse der Ge-

15 Ibid. 16 H. Schelsky, „Zur soziologischen Theorie der Institution“, in: ders. (Hg.): Zur Theorie der Institution, S. 9–26, hier S. 11.

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meinschaft befriedigen konnte. Die Gesellschaft selbst war dabei das Subjekt der Zielsetzung und Handlung. Freilich existierten bereits in den vormodernen Gesellschaften ausdifferenzierte Formen der Verwaltung der vorhandenen Institutionen. Diese Verwaltung war jedoch eher ein Nebeneffekt eines selbsterhaltenden Funktionierens der Institutionen. In anderen Worten, die Verwaltung war als solche für die Existenz der Institutionen noch nicht konstitutiv. Dagegen sind Organisationen in ihrem Wesen ein grundlegendes Gebilde der modernen Gesellschaft. Sie sind Produkt einer Gesellschaft, in der durch einen fundamentalen ideologischen Wandel, der seit Max Weber als Übergang von der traditionellen agrarischen zur modernen industriellen Gesellschaft bezeichnet wird, eine absolute Priorität der individuellen Interessen über die „Interessen der Gemeinschaft“ entsteht. Die kausale Reihenfolge ändert sich also mit dem Aufkommen der modernen Gesellschaft diametral: Nicht mehr das Allgemeinwohl (bonum commune) ist die Voraussetzung für das Wohl des einzelnen Gesellschaftsmitglieds, sondern das Wohl des Individuums ist Voraussetzung für das Allgemeinwohl. Die Behauptung eines absoluten Vorrangs des Einzelnen, der seine wesentliche Bindung an die Gemeinschaft leugnet, ist Folge einer traumatischen Auflösung der traditionellen Gemeinschaft im Zuge der Modernisierungsprozesse. Gesellschaftliche (Selbst-) Erhaltungs- und (Selbst-) Regulationsmechanismen in ihren vormodernen Formen verlieren ihre Relevanz für die Handlungsstrategien der neuzeitlichen Individuen, deren Verhalten nun par excellence durch das „Streben nach Eigennutz“ bestimmt wird. Denn im Unterschied zu Tieren sind Menschen bei der Befriedigung ihrer „sündhaften Bedürfnisse“ unersättlich. Auf eben dieser Grundannahme basiert – trotz des deklarierten ‚guten‘ Glaubens an die Vernunft des Individuums – die gesamte liberale Denktradition. Die daraus folgende Erwartung einer freiwilligen Anerkennung der Rechte des Mitmenschen soll das individuelle Streben nach Eigennutz begrenzen. Die Gesellschaft kann also nur als ein Zweckverband für den Ausgleich individueller Interessen funktionieren. Um einen bellum omnium contra omnes im Sinne von Thomas Hobbes im „Naturzustand“ gesellschaftlicher Umwälzungen der Frühen Neuzeit zu verhindern, muss zwischen den Individuen ein Sozialvertrag abgeschlossen werden, dessen Umsetzung durch die Gründung des Staates

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gewährleistet wird.17 Obwohl die Gründung des Staates für Hobbes immer noch eine Übertragung der Macht auf einen Souverän bedeutet, impliziert dies im Unterschied zur politischen Theologie des Mittelalters die Notwendigkeit eines „juristisch-philosophischen Diskurses“, welcher die Entscheidungsgewalt des Souveräns durch eine rational begründete Gesetzgebung und nicht allein durch theologische oder historische Argumentation legitimieren würde. Der Souverän wird für Hobbes und für die neue „juristischphilosophische“ Staatstheorie zu einem reinen Signifikanten des Staates. Der Staat entwickelt sich dabei als eine der Gesellschaft gegenüber äußere Instanz, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse reglementiert und kontrolliert.

17 Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan. Teil I und II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 162–167.

„Rassenkrieg“ als „Klassenkampf“ Zur sozialhistorischen Genese der Verwaltung Kapitel 3

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Analyse der historischen Genesе des modernen Staates sowie der modernen Gesellschaft an sich, die Foucault 1976 in seinem Vorlesungskurs „In Verteidigung der Gesellschaft“ unternimmt. Obwohl dieser Text, wie viele andere Werke Foucaults, aufgrund seines berüchtigten „Frankozentrismus“ und seiner selektiven historischen Bezüge unter Historikern umstritten bleibt, bietet er für die vorliegende Studie ein theoretisch sehr produktives typologisches Modell. Die Macht des Souveräns, in der die Wurzeln des modernen Staats liegen, entsteht im Feudalismus, um vor allem die Aneignung und Umverteilung von Landesbesitz durch die Gesetzgebung zu regulieren und zu kontrollieren. Im Kontext der französischen Geschichte steht dem König als Zentralinstanz der Macht die alte Feudalaristokratie mit ihren „historischpolitisch“ fundierten Rechten gegenüber, Privilegien und Landbesitz, die sie früheren Militärverdiensten ihrer Vorfahren verdankte (die sogenannte noblesse d’épée, der Schwertadel). Der Kampf des Feudaladels gegen die Zentralisierungs- und somit auch Entmachtungsversuche seitens des Königs war der Nährboden für die Entstehung „des ersten historisch-politischen Diskurses“ im Abendland, der ein vollkommen neuartiges Subjekt der Geschichte bildete – eine „als Zusammenschluss, Gruppe, Gesamtheit von durch ein Statut verbundenen Individuen verstandene Gesellschaft, die sich aus einer gewissen Zahl von

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Individuen zusammensetzt und besondere Sitten, Bräuche, und sogar ein eigenes Gesetz hat“.1 Dieser „historisch-politische Diskurs“ besitzt einen deutlichen antimonarchischen und geradezu antietatistischen Charakter; er „kann den Fürsten nur als Illusion, als Instrument oder bestenfalls als Feind betrachten“.2 Diese ursprüngliche Konfrontation impliziert einen ewigen „Krieg“, welchen der „Staat“, verkörpert durch den Souverän, gegen die „Gesellschaft“ sowie die „Gesellschaft“ gegen den „Staat“ führt,3 und der seit der Frühen Neuzeit die Geschichte des Abendlandes in ihrem Wesen kennzeichnet.4 Die Instrumente, sprich „Waffen“ dieser „Kriegsführung“ seitens des im Souverän personifizierten Staates sind Gesetze; die Akteure, „Soldaten“ oder in diesem Fall eher „Söldner“, sind Bedienstete des Souveräns, denen die Ausübung hoheitlicher Befugnisse als Aufgabe übertragen ist. Die Gesetze des Staates, d.h. des Souveräns, werden im Mittelalter theologisch, später in der Neuzeit rational-philosophisch begründet. Dennoch bleiben sie für die „Gesellschaft“ etwas Äußeres, Erzwungenes, sogar Feindliches, da die „Gesellschaft“ gemäß ihren Traditionen und ihrem historischen Gedächtnis lebt. Auch die Bediensteten, die für die Ausübung „feindlicher“ Gesetze sorgen, sind im Verständnis von Foucault, typologisch gesehen, für die „Gesellschaft“ ein Fremdkörper sowohl in sozialer als auch, wie noch zu zeigen sein wird, in ethnischer Hinsicht. Eine Eskalation dieser Konfrontation zwischen dem alten Feudaladel und der königlichen Macht findet am Anfang des 18. Jahrhunderts statt. Als Ausdruck dieser Eskalation analysiert Foucault die Werke des Grafen Henri

1

Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 157.

2 3

Ibid., S. 72. Der berühmte Hobbes’sche „Krieg aller gegen alle“ beginnt dann, wenn der Gegner der „Gesellschaft“ – der „Staat“ als „Souverän“ – wie es in der Zeit der Entstehung des „Leviathan“ geschah, aufgelöst wird. Die „Gesellschaft“ wird in ihrem Innersten antagonisiert: In Abwesenheit des Souveräns hat jedes Individuum den Anspruch auf die Position des Souveräns.

4

Auch später, als im 18. und 19. Jahrhundert die Souveränmacht durch Disziplinarmacht ersetzt wird, bleibt dieser grundlegende Widerstand des Staates und der Gesellschaft bestehen und nimmt neue Formen an, die Foucault später in seinen Analysen von Biopolitik und Gouvernementalität untersucht.

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de Boulainvilliers, eines französischen Historikers und Schriftstellers des 18. Jahrhunderts, der ihm als bedeutendster Vertreter des aristokratischen „historisch-politischen“ Diskurses gilt. Wie der russische Ideenhistoriker Andrei Oleinikov darlegt, der Foucaults Rekonstruktion dieses aristokratischen „historisch-politischen“ Diskurses kritisch untersucht, weist dessen Struktur zwei wichtige Merkmale auf: „1) Anti-Etatismus, d.h. eine Feindlichkeit gegen die Macht, die in den Institutionen des Staates konzentriert ist und sich in der Sprache des Rechts des Souveräns äußert (für die Vertreter dieses Diskurses ist diese Macht per definitionem ‚nicht unsere Macht‘); 2) Eine binäre Konzeption des sozialen Raums, die eine Teilung des Soziums in zwei gegnerische Lager, zwei miteinander kämpfende ‚Rassen‘ oder ‚Nationen‘ beinhaltet. In den Werken Boulainvilliers‘ sowie anderer Vertreter der aristokratischen Reaktion wird ein Typus der Gesellschaft dargestellt, der durch eine deutliche Distanzierung vom Staat gekennzeichnet ist. In ihrer gesamten Geschichte steht darin eine als von ‚frei geborenen Franken‘ abstammende ‚Nation‘ dem dritten Stand als einer ‚Nation‘ der von Franken eroberten romanisierten Gallier gegenüber. Die eroberte ‚Nation‘ versucht nun mithilfe der Institutionen der Staatsgewalt, eine politische Revanche für die ehemalige kriegerische Niederlage zu nehmen.“5

An dieser Stelle ist zu bemerken, dass der von Boulainvilliers beschriebene „Krieg der Rassen“ seinen sozialhistorischen Hintergrund in der Konfrontation zwischen dem alten Schwertadel (noblesse d’épée) und dem neuen französischen Amtsadel (noblesse de robe) hatte. Zu dieser sozialen Schicht zählten alle adeligen Angehörigen staatlicher Behörden, insbesondere im Finanz- und Rechtswesen.

5

Олейников, Андрей: „Аристократия как означающее. Анализ лекционного курса М. Фуко ‚Нужно защищать общество‘“, Сергей Зенкин (ред.): Интеллектуальный язык эпохи. История идей, история слов [Oleinikov, Andrei: „Aristokratie als Signifikant. Eine Analyse der Vorlesung ‚In Verteidigung der Gesellschaft‘ von Michel Foucault“, in: Sergei Zenkin (Hg.): Intellektuelle Sprache der Epoche. Geschichte der Ideen, Geschichte der Worte], Moskau: NLO 2011, S. 51–82, Übersetzung L. V.

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Die Entstehung der noblesse de robe war eng mit der Entwicklung der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft zum frühneuzeitlichen absolutistischen Staat verbunden. Noch bis Ende des 17. Jahrhunderts waren viele Vertreter der noblesse de robe bürgerlicher Herkunft und hatten ihren neuen gesellschaftlichen Status dank ihrer Ämter im staatlichen Finanz- und Rechtswesen erhalten. Die Formierung des Dienstadels beginnt in der nachrömischen westeuropäischen Geschichte zusammen mit den ersten Phasen der Staatsbildung, als die Landesherrscher dazu übergingen, neben den Stammesführern (Herzögen) stammesunabhängige Verwaltungsbevollmächtigte (Ministeriale) einzusetzen. Bereits seit dem 11. Jahrhundert stieg die Zahl der Ministerialen, da die Könige sie zunehmend auch als Verwalter ihrer Güter einsetzten. Mit der Entwicklung des Staates als Regierungsform und Ausdifferenzierung seiner Institutionen wurden die königlichen ‚Verwaltungskader‘ immer öfter aus dem „dritten Stand“ (Proto-Bourgeoisie) rekrutiert. Die Förderung der ‚Staatsfunktionäre‘ bürgerlicher Herkunft durch die Monarchie hatte klare politische Gründe und zielte auf die Festigung der absolutistischen Herrschaft. Die Könige Frankreichs, vor allem Ludwig XIV., verdrängten allmählich den alten Adel aus der geburtsrechtlichen Herrschaftsteilhabe und besetzten die meisten Ämter mit Personen, die ihre Position ausschließlich der „majestätischen Gnade“ zu verdanken hatten und deshalb dem König gegenüber zur Loyalität verpflichtet waren. Eine Ausdifferenzierung der Verwaltung als eines gesonderten Tätigkeitsbereichs vollzog sich in einem engen Zusammenhang mit dem Prozess der Staatsbildung und Entwicklung der Institutionen staatlicher Gewalt. Die soziale Besetzung des Verwaltungsstabs war dabei, von seltenen Ausnahmen abgesehen, ein Ergebnis der Delegierung oder, modern ausgedrückt, einer Art ‚Out-Sourcing‛ der mühsamen und monotonen untergeordneten Verwaltungsaufgaben an die niedrigeren sozialen Schichten. Historisch gesehen basiert dieser Prozess auf dem Prinzip der Arbeitsteilung zwischen denjenigen, die herrschen, und denen, die ihre Herrschaft verwalten oder, wie es in dem aus dem Lateinischen abgeleiteten Pendant dieses Verbs noch deutlicher zum Ausdruck kommt, ihre Herrschaft administrieren.6

6

Bekanntlich führt die Etymologie des Wortes Administration, welches in romanischen Sprachen sowie im Englischen und vielen anderen Sprachen unter-

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Die gesamte, mit dem Aufstieg des modernen Staats verbundene Geschichte der modernen Gesellschaft könnte aus dieser Sicht als eine Art grundlegende Transformation der historischen Matrix der Verteilung gesellschaftlicher Funktionen betrachtet werden, in der die Verwaltung sich nicht nur sozial emanzipierte, sondern auch die Rolle der Herrschaft übernahm und mit dieser allmählich gleichgesetzt wurde. Das Thema des „Rassenkrieges“ bei Boulainvilliers erweist sich dabei als eine der ersten diskursiv ausgearbeiteten historischen Reaktionen der ehemals ‚Herrschenden‘ auf das unaufhaltsame Eindringen der ‚Verwalter‘ in die Positionen der Macht. Im Diskurs des „Rassenkrieges“, der bei Boulainvilliers ein Kampf zwischen der von den germanischen Franken abstammenden Aristokratie – dem zweiten Stand – und dem von romanisierten Galliern abgeleiteten Bürgertum – dem dritten Stand – bedeutet, sieht Foucault eine Grundlage für die später von Marx entwickelte Konzeption des Klassenkampfs. Die Bourgeoisie, zumindest im Kontext der Geschichte Frankreichs, verdankt ihre gesellschaftliche Emanzipation vor allem dem König und damit der Staatsmacht des Souveräns. Diese Geschichte erinnert in ihrem narrativen Kern gewissermaßen an die Geschichte des Golem: Die Bourgeoisie wird vom Souverän geschaffen, um im Kampf gegen die Aristokratie eingesetzt zu werden. Danach aber wird der Souverän durch seine eigene Kreatur vernichtet. Sodann eignet sich die Bourgeoisie den Begriff des „Souveräns“ an und setzt ihn in seiner geänderten Bedeutung zu Selbstlegitimierungszwecken als Rechtssouveränität, Volkssouveränität etc. ein. Seit der Revolution verfügt der Souverän nicht mehr über einen menschlichen Körper. Der menschliche Körper des Königs wird geopfert, damit sein unsterblicher politischer Körper weiterleben kann. In seinem be-

schiedliche Formen staatlicher, öffentlicher und korporativer Verwaltung bezeichnet, auf das lateinische Verb ministrare zurück, das bedienen, darreichen, verschaffen bedeutet. Dieses hat etymologisch die gleiche Herkunft wie das Wort minister, das ursprünglich Diener, Gehilfe bedeutete. Dieses wurde wiederum aus dem lateinischen minor – kleiner, geringer – entlehnt und erhielt seine Bedeutung als Regierungsmitglied erst im 17. Jahrhundert (in merowingischer Zeit war das ministerium der Haus- und Hofdienst beim König), vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: de Gruyter 1995.

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rühmten Werk „The King’s Two Bodies“ untersuchte der deutschamerikanische Historiker Ernst Hartwig Kantorowicz die geistesgeschichtliche Entstehung des modernen Staates. Seiner These zufolge wurde in der politischen Theologie des Mittelalters dem König eine Doppelexistenz des natürlichen sterblichen und übernatürlichen unsterblichen Körpers zugestanden. Kantorowicz betrachtete dies als eine Voraussetzung für die Trennung von Person und Amt, was das Verständnis vom Staat als einem überpersönlichen Kollektivkörper ermöglichte.7 Die Konzeption der „zwei Körper des Königs“ kann in Bezug auf den modernen Staat jedoch weiterentwickelt werden: Der übernatürliche unsterbliche Körper des Königs wird durch die Idee des Staates ersetzt und sein physischer menschlicher Körper durch die Verwaltungsorgane der königlichen Macht, d.h. durch die staatliche Administration. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, noch längst vor der Französischen Revolution, diagnostizierten in Frankreich einige Historiker die Entstehung einer „administrativen Monarchie“8, die durch ihre Weiterentwicklung die Figur des Monarchen selbst schließlich redundant machte.

7

Vgl. Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, New Jersey: Princeton University Press 1957.

8

Vgl. Олейников: „Аристократия как означающее. Анализ лекционного курса М. Фуко ‚Нужно защищать общество‘“ [Oleinikov, Andrei: „Aristokratie als Signifikant. Eine Analyse der Vorlesung ‚In Verteidigung der Gesellschaft‘ von Michel Foucault“].

Philosophische Genealogie der Bürokratie Von der Verwaltung zum Management Kapitel 4

4.1 D IE G EBURT DER B ÜROKRATIE AUS DEM ABSOLUTEN G EIST . D IE G EWALTENTEILUNG IN H EGELS S TAATSLEHRE Die wachsende Macht des Verwaltungsapparats in der Genese des modernen Staates spiegelt sich in der Entstehung des Begriffs der Bürokratie wider. Dieser war noch im 17. Jahrhundert von Vincent de Gournay, einem der Begründer der Physiokratie und ‚Großvater‘ der berüchtigten liberalistischen Laissez faire-Konzeption, eingeführt worden. Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Bürokratie als eines differenzierten gesellschaftlichen Phänomens der Moderne spielte die staatliche Verwaltungspraxis des Gewaltenteilungsprinzips, das im 19. Jahrhundert in zahlreichen europäischen Staaten auch verfassungsrechtlich verfestigt wurde. Die Konzeption der Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Staatsorgane basiert auf der grundlegenden Idee von drei Gewalten – Gesetzgebung (Legislative), Gesetzesvollzug (Exekutive) und Recht-sprechung (Judikative). Sie wurde erstmals in den Schriften von John Locke angedeutet und etwas später von Charles de Montesquieu in seinem 1748 veröffentlichten Werk „De l’esprit des lois“ ausführlich ausgearbeitet.1

1

Vgl. Art. „Gewaltenteilung“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S.

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Die exekutive Gewalt, d.h. die Abtrennung der Funktion des Gesetzesvollzugs in einem gesonderten Organ, bezeichnete Montesquieu in seinen Schriften als puissance executrice. Die Idee der gesetzesvollziehenden Gewalt wurde von Immanuel Kant in der „Metaphysik der Sitten“ im Begriff der potestas executoria weiter entwickelt. Der Grundgedanke seiner Staatsphilosophie ist die Konzeption der Volkssouveränität. Die Souveränität selbst wird aber nur durch die Figur des Monarchen gewährleistet. Und obwohl der Monarch nach einer vom Gesamtinteresse des Staatsvolkes erlassenen Verfassung handeln sollte, also quasi im Auftrag des „Volkswillens“, besitzt der „Regierende“ die vollziehende Gewalt.2 Wenngleich die Staatslehre Kants einen stark normativen Charakter beansprucht, spiegelt sie im Grunde eine am Ende des 18. Jahrhunderts bereits existierende Verwaltungspraxis des preußischen Königsreiches wider. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte der preußische „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. in seinem Land den Beamtenberuf eingeführt, weshalb er auch von manchen Historikern als „Vater des Berufsbeamtentums“ bezeichnet wird. Sein Sohn, Friedrich der Große, der in der Geschichtsschreibung als der wichtigste Vertreter des aufgeklärten Absolutismus gilt, verstand sich selbst als „erster Diener seines Staates“ und setzte den Ausbau des Berufsbeamtentums fort. Die erste zusammenfassende gesetzliche Regelung des Beamtenberufs erfolgte aber erst unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm II. im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, in dem die Beamten nicht mehr als „Diener des Fürsten“, sondern als „Diener des Staates“ verstanden werden und in dem ihre Rechte und Pflichten kodifiziert sind.3 Die Entwicklung der Strukturen und Techniken der staatlichen Verwaltung in der preußischen Monarchie am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde auch von Hegel im Rahmen seines Modells des Verwaltungsstaats reflektiert. In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ befürwortet Hegel

570–574, sowie Art. „Verwaltung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 990–991. 2

Ibid., vgl. auch Kant, Immanuel: Werkausgabe, Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8: Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 139.

3

Vgl. Megner, Karl: Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien 1986.

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die konstitutionelle Monarchie als ideale Staatsform, in der es eine „fürstliche“ gesetzgebende sowie eine „Regierungsgewalt“ geben sollte. Die Regierungsgewalt hat die Aufgabe, „die Ausführung und Anwendung der fürstlichen Entscheidungen“ sowie „das Fortführen und Imstanderhalten des bereits Entschiedenen, der vorhandenen Gesetze, Einrichtungen, Anstalten für gemeinschaftliche Zwecke und dgl.“ zu gewährleisten.4 Für diesen Zweck hält Hegel „in dem Geschäfte der Regierung [...] die Teilung der Arbeit“ für notwendig, die sich durch die Organisation der Behörden sowie durch die dort tätigen exekutiven Staatsbeamten manifestiert.5 Die Herausbildung des Berufsbeamtentums sollte die „Festhaltung des allgemeinen Staatsinteresses und des Gesetzlichen“ sichern: „Im Benehmen und in der Bildung der Beamten liegt der Punkt, wo die Gesetze und Entscheidungen der Regierung die Einzelheit berühren und in der Wirklichkeit geltend gemacht werden. Dies ist somit die Stelle, von welcher die Zufriedenheit und das Zutrauen der Bürger zur Regierung sowie die Ausführung oder Schwächung und Vereitelung ihrer Absichten nach der Seite abhängt, dass die Art und Weise der Ausführung von der Empfindung und Gesinnung leicht so hoch angeschlagen wird als der Inhalt des Auszuführenden selbst, der schon für sich eine Last enthalten kann.“6

Interessanterweise findet sich bei Hegel das gleiche Muster sozialer Lokalisierung des Verwaltungsstabs im Bürgertum wieder und nicht in der Aristokratie, so wie dies auch im Kontext der französischen Bürokratiegeschichte der Fall war: „Die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten machen den Hauptteil des Mittelstandes aus [...]. Dass er nicht die isolierte Stellung einer Aristokratie nehme und Bildung und Geschicklichkeit nicht zu einem Mittel der Willkür und einer Herrenschaft werde, wird durch die Institutionen der Souveränität von oben herab und der Korporationsrechte von unten herauf bewirkt.“7

4

Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 457.

5

Ibid., S. 458–59.

6

Ibid., S. 463.

7

Ibid., S. 464.

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Die Tatsache, dass „der Geist des Staates“ in der „Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine unmittelbar“ enthalten ist, stellt bestimmte Anforderungen an die Persönlichkeit des Staatsbeamten, der dem Staat seine Bereitschaft, „sich dem allgemeinen Stande zu widmen“, sichern soll. Dies macht das objektive Moment der Anforderungen an den Staatsbeamten als Individuum aus. Seine persönlichen Merkmale werden dabei – strukturell gesehen – irrelevant und potentiell geradezu gefährlich für seine „Pflichterfüllung“. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der „Befreiung seiner äußeren Lage und Amtstätigkeit von sonstiger subjektiver Abhängigkeit und Einfluss“.8 In einer ausführlicheren Erklärung heißt es: „Die subjektive Seite, dass dieses Individuum aus Mehreren, deren es, da hier das Objektive nicht (wie z.B. bei der Kunst) in Genialität liegt, notwendig unbestimmt Mehrere gibt, unter denen der Vorzug nichts absolut Bestimmbares ist, zu einer Stelle gewählt und ernannt und zur Führung des öffentlichen Geschäfts bevollmächtigt wird, diese Verknüpfung des Individuums und des Amtes, als zweier für sich gegeneinander immer zufälliger Seiten, kommt der fürstlichen als der entscheidenden und souveränen Staatsgewalt zu.“9

Die in dieser Passage angedeutete inhaltliche Entleerung des Individuums und seine Reduktion auf eine rein formelle amtliche Funktion ist eine Folge, aber gleichzeitig auch eine Bedingung für die Entwicklung staatlicher Verwaltungsstrukturen. Da der Staat an sich nach Hegel ein notwendiges Ergebnis der Weltgeschichte ist, sind alle dem Ausbau des Staates dienenden Entwicklungen daher auch ein unerlässliches Moment im „objektiven“ Prozess der Selbstentfaltung der Idee und Verwirklichung des absoluten Geistes.

8

Ibid., S. 461.

9

Ibid.

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4.2 V ON DER „I LLUSION DES S TAATES “. D ER JUNGE M ARX UND DIE B ÜROKRATIE In einer späteren kritischen Rezeption wurde die gesamte Staatslehre Hegels oft als eine philosophische Begründung für die Herausbildung des modernen Nationalstaates mit all seinen Organisationsstrukturen und -mechanismen verstanden. So sah der junge Marx im Hegelschen Modell des Verwaltungsstaates eine offensichtliche Apologie der preußischen Monarchie. In seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ von 1843 setzte er die Hegelsche Konzeption der „Regierungsgewalt“ mit der „Bürokratie“ gleich: „Da Hegel die ‚polizeiliche‘ und die ‚richterliche‘ Gewalt schon der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft vindiziert hat, so ist die Regierungsgewalt nichts anderes als die Administration, die er als Bürokratie entwickelt.“10 Dabei findet Marx bei Hegel das bereits bekannte Motiv einer Unterscheidung und einer Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft: „Hegel geht von der Trennung des ‚Staats‘ und der ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft, den ‚besonderen Interessen‘ und dem ‚an und für sich seienden Allgemeinen‘ aus, und allerdings basiert die Bürokratie auf dieser Trennung.“11 Die Bürokratie entsteht also als ein Verteilungssystem der Staatsmacht, durch welches sich diese Macht erst überhaupt konstituiert, d.h. als ein materieller Apparat, in dem sich die Idee der Staatsmacht als solche manifestieren kann. Die Bürokratie ist ein leeres Gerüst, eine reine Form, die durch den Inhalt der Gesetze oder „fürstlicher Willkür“ gefüllt werden soll: „Hegel entwickelt keinen Inhalt der Bürokratie, sondern nur einige allgemeine Bestimmungen ihrer ‚formellen‘ Organisation, und allerdings ist die Bürokratie nur der ‚Formalismus‘ eines Inhaltes, der außerhalb derselben liegt.“12 Nicht zu übersehen ist, dass für Marx die „Bürokratie“ hier einfach „Administration“, d.h. die Gesamtheit der Strukturen der Staatsverwaltung bedeutet. Der Ausbau dieser Strukturen führt zu einer Verselbständigung

10 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW) in 39 Bänden, Bd. 1, Berlin: Dietz 1961, S. 246. 11 Ibid., S. 247. 12 Ibid.

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der Verwaltung, die inzwischen nicht nur als eine Verkörperung der Staatsidee erscheint, sondern für sich eine eigene, unabhängige Existenz verlangt: „Die ‚Bürokratie‘ ist der ‚Staatsformalismus‘ der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist das ‚Staatsbewusstsein‘, der ‚Staatswille‘, die ‚Staatsmacht‘ als eine Korporation [...], also eine besondere, geschlossene Gesellschaft im Staat. [...] Die Korporation ist der Versuch der bürgerlichen Gesellschaft, Staat zu werden; aber die Bürokratie ist der Staat, der sich wirklich zur bürgerlichen Gesellschaft gemacht hat. [...] Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus des Staates. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine reelle und eine bürokratische, wie das Wissen ein doppeltes ist, ein reelles und ein bürokratisches (so auch der Wille). Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen Wesen. Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt.“13

In einer für Marx typischen bildkräftigen Manier beschreibt er die Folgen einer praktischen Umsetzung des „ideellen“ Hegelschen VerwaltungsstaatProjektes. Die unvermeidlichen persönlichen Residuen der Amtsträger, ihre individuellen „menschlichen“ Eigenschaften steuern letztendlich die Prozesse der Amtsausübung an sich und führen somit zur Entstehung neuer Herrschaftsverhältnisse: „Der offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung. Innerhalb ihrer selbst aber wird der Spiritualismus zu einem krassen Materialismus, dem Materialismus des passiven Gehorsams, des Autoritätsglaubens, des Mechanismus eines fixen formellen Handelns, fixer Grundsätze, Anschauungen, Überlieferungen. Was den einzelnen Bürokraten betrifft, so wird der Staatszweck zu einem Privatzweck, zu einem Jagen nach höheren Posten, zu einem Machen von Karriere. Erstens betrachtet er das wirkliche Leben als ein materielles, denn der Geist dieses Lebens hat seine für sich abgesonderte Existenz in der Bürokratie. Die Bürokratie muss daher dahin gehen, das Leben so materiell wie möglich zu machen. Zweitens ist es für ihn selbst,

13 Ibid., S. 248–49.

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d.h. soweit es zum Gegenstand der bürokratischen Behandlung wird, materiell, denn sein Geist ist ihm vorgeschrieben, sein Zweck liegt außer ihm, sein Dasein ist das Dasein des Büros. Der Staat existiert nur mehr als verschiedene fixe Bürogeister, deren Zusammenhang die Subordination und der passive Gehorsam ist.“14

Eine solche Entwicklung der Bürokratie als eines für den modernen Staat spezifischen Verwaltungstypus ist schon in den Grundthesen der Hegelschen Lehre des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft quasi ‚einprogrammiert‘. Trotz der zahlreichen Einwände Hegels gegen die komplexen Verbindungen des „Besonderen“ und „Allgemeinen“ sind seine Grundannahmen jedoch deutlich genug: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts“15 und „der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“16. Wie Marx ganz am Anfang seiner Abhandlung über die Hegelsche Konzeption der Regierungsgewalt anmerkt: „Der Bürokratie sind zunächst vorausgesetzt die ‚Selbstverwaltung‘ der bürgerlichen Gesellschaft in Korporationen.“17 Die weitgehenden Implikationen dieser These bestehen darin, dass die „Bürokratie“ als solche ein für die „bürgerliche Gesellschaft“ spezifischer Verwaltungstypus ist und nur dadurch auch für den „modernen Staat“. Nicht der „moderne Staat“ bringt die „bürgerliche Gesellschaft“ hervor, sondern die Entstehung der „bürgerlichen Gesellschaft“ ist die Grundlage für die Herausbildung des „modernen Staates“. Die Bürokratie als immanente Form der „Selbstverwaltung“ der bürgerlichen Gesellschaft nutzt den Staat als einen Kokon für ihr Wachsen, für ihre Ausdifferenzierung und Emanzipation aus dem Bereich des ‚rein Politischen‘ sowie für ihre spätere Expansion in alle anderen Lebensbereiche. Nicht die Bürokratie dient dem Staat, sondern der Staat dient der Bürokratie, er verschafft ihr eine historische Legitimation, eine Daseinsberechtigung. Die Bürokratie, resümiert Marx, ist letztendlich „die Illusion des Staates“. Ähnlich wie die Institution der Kirche die Idee Gottes braucht, um ihre eigene Existenz zu begründen, bedarf die Bürokratie der Idee des Staates: „Der bürokratische Geist ist ein durch und durch jesuitischer, theologischer

14 Ibid., S. 249. 15 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 339. 16 Ibid., S. 406. 17 MEW, Bd. 1, S. 246.

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Geist. Die Bürokraten sind die Staatsjesuiten und Staatstheologen. Die Bürokratie ist la république prêtre. [...] Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats.“18 In seinem fast zehn Jahre später entstandenen Aufsatz „Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte“ von 1852 entwickelt Marx des Weiteren die Vorstellung von der Bürokratie als einer für die „bürgerliche“, d.h. „kapitalistische“ Gesellschaft immanenten Verwaltungsform und bezeichnet sie als „Mittel, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie vorzubereiten“.19 Diese Überlegungen von Marx deuten einen grundlegenden Wandel in der Stellung der „Bürokratie“, d.h. der Verwaltung eines bestimmten Typus in der modernen, für ihn also der „bürgerlichen kapitalistischen“ Gesellschaft an. Während in den vorkapitalistischen „gesellschaftlichen Formationen“ die Bürokratie vor allem als eine Form der Organisation des „politischen“ Lebens existierte, wurde sie in der Phase der entwickelten „kapitalistischen Verhältnisse“ auch zur Organisationsform der ökonomischen Tätigkeit. Die Entwicklung des „monopolistischen Kapitalismus“ wird in der marxistischen Literatur traditionell als ein Nährboden für die Entstehung der Bürokratie auch im ökonomischen Bereich betrachtet. So findet dieser Gedankengang einen komprimierten Ausdruck in dem Artikel über die Bürokratie in der dritten Ausgabe der Großen Sowjetischen Enzyklopädie: „Mit der Entwicklung des staatlich-monopolistischen Kapitalismus wird die Bürokratie zur Universalform der sozialen bürgerlichen Organisation, von den Monopolen bis zu unterschiedlichen freiwilligen Organisationen.“20 Diese kanonische dialektisch-materialistische Bürokratiekonzeption lässt offensichtlich die historische Genealogie der Bürokratie sowie ihre essentielle ‚Nabelschnur‘-Verbindung mit der Staatsmacht ganz bewusst außer Betracht, um die „kapitalistische Bürokratie“ von der „zentralistischdemokratischen Kaderverwaltung“, der Bürokratie des „sowjetischvolksdemokratischen Typus“ abzugrenzen. Dennoch wird das entscheidende Moment in der Geschichte der Bürokratie als eines spezifischen Verwaltungstypus vom Marxismus präzis aufgegriffen: Im Laufe des 19. Jahrhun-

18 MEW, Bd. 1, S. 248. 19 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW) in 39 Bänden, Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 197. 20 Большая Советская Энциклопедия [Große Sowjetische Enzyklopädie], 3. Auflage (1969-1978), Bd. 4, Moskau 1971, Übersetzung L. V.

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derts wird die Bürokratie in der Tat zur „Universalform der sozialen bürgerlichen Organisation“. In diesem Zusammenhang ist noch eine begriffsgeschichtliche Anmerkung erforderlich: Im 19. Jahrhundert waren „für die Beschreibung desselben Sachverhalts, nämlich der zentralisierten Koordinierung von Tätigkeiten, zwei unterschiedliche Begriffe im Umlauf, die je nach Wertgesichtspunkten entweder als Verwaltung oder als Bürokratie verwendet wurden“.21 Zum Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr der Begriff der „Organisation“ in der soziologischen Literatur eine zunehmende Verbreitung. Er sollte ein deutlich größeres Spektrum der bereits damals vorhandenen gesellschaftlichen Verwaltungspraxen umfassen als die früheren Begriffe „Verwaltung“ und „Bürokratie“, die etwas enger auf die in staatlichen Behörden praktizierten Formen der Regierungsgewaltausübung bezogen wurden. Der neue Begriff erwies sich insoweit als notwendig, da „es sich um 1900 in voller Deutlichkeit zeigte, dass die führenden, von der Regierungsverwaltung praktizierten Strukturmuster formaler Organisation sich auf sämtliche Subsysteme der Gesellschaft und dadurch in immer stärkerem Maße auch auf die Normen des Alltagshandelns ausdehnten“.22 Dies bedeutet freilich nicht, dass der Begriff der „Bürokratie“ durch den Begriff der „Organisation“ ersetzt wurde. Im Gegenteil, dank Max Weber erfuhr „Bürokratie“ eine vollkommen neuartige, gründliche konzeptuelle Ausarbeitung und geradewegs eine Art theoretischer ‚Veredelung‘. Der Begriff Bürokratie wird nun bei Weber ganz positiv besetzt: Er betrachtet die Bürokratie als eine „notwendige“ Form jeglicher sozialen Organisation; sie wird der formellen Organisierung aller gesellschaftlichen Tätigkeitsbereiche generell gleichgesetzt.

21 Kiss, Gabor: Evolution soziologischer Grundbegriffe. Zum Wandel ihrer Semantik, Stuttgart: Enke 1989, S. 108. 22 Ibid., S. 110.

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4.3 „D ER REINSTE T YPUS DER LEGALEN H ERRSCHAFT “. D IE IDEALE V ERWALTUNGSFORM NACH M AX W EBER In Max Webers Schriften findet das Verhältnis der Bürokratie zur Macht eine neue theoretische Begründung, obwohl er im Zusammenhang mit der Bürokratie nicht von „Macht“, sondern von „Herrschaft“ spricht. Die Unterscheidung zwischen „Macht“ und „Herrschaft“ ist für sein Werk insgesamt kennzeichnend. „Macht" definiert er als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.23 Da er jedoch Macht als „soziologisch amorph“ bezeichnet, führt Weber den Begriff der „Herrschaft“ ein, die er vor allem als „institutionalisierte Macht“ versteht. Dabei ist für die Definition von „Herrschaft“ die Kategorie des „Gehorsams“ von zentraler Bedeutung: „‚Herrschaft‘ soll, definitionsgemäß, die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Personengruppe von Menschen Gehorsam zu finden. [...] Jede Herrschaft über eine Vielzahl von Menschen bedarf normalerweise [...] eines Stabes von Menschen (Verwaltungsstab […]), d.h. der (normalerweise) verlässlichen Chance eines eigens auf Durchführung ihrer generellen Anordnungen und konkreten Befehle eingestellten Handelns angebbarer zuverlässig gehorchender Menschen. Dieser Verwaltungsstab kann an den Gehorsam gegenüber dem (oder: den) Herren rein durch Sitte oder rein affektuell oder durch materielle Interessenlage oder ideelle Motive (wertrational) gebunden sein. Die Art dieser Motive bestimmt weitgehend den Typus der Herrschaft.“24

Diese Motive bilden jedoch einen „relativ labilen Bestand“ für die „Verbundenheit zwischen Herrn und Verwaltungsstab“ und können daher keine wirklich „verlässlichen Grundlagen“ der Herrschaft darstellen. Das konstitutive Element, welches den Gehorsam sichern kann, sieht Weber im „Legitimitätsglauben“:

23 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1985, S. 28. 24 Ibid., S. 122.

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„Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen. Je nach der Art der beanspruchten Legitimität aber ist auch der Typus des Gehorchens, des zu dessen Garantie bestimmten Verwaltungsstabes und der Charakter der Ausübung der Herrschaft grundverschieden. Damit aber auch ihre Wirkung. Mithin ist es zweckmäßig, die Arten der Herrschaft je nach dem ihnen typischen Legitimitätsanspruch zu unterscheiden.“25

Von dieser Auffassung der „Herrschaft“ und ihren Bedingungen ausgehend, unterscheidet Weber „drei reine Typen legitimer Herrschaft“, deren „Legitimitätsgeltung nämlich primär sein kann: 1) rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legitimität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft), – oder 2) traditionalen Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen (traditionale Herrschaft), – oder endlich 3) charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person oder der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen [ruhen] (charismatische Herrschaft)“.26

Gerade die „legale Herrschaft“, die auf einem festgelegten Satz von Regeln, Gesetzen und berechenbaren Verhaltensweisen beruhen soll, ist für den modernen Rechtsstaat der charakteristische Herrschaftstypus. Dabei stellt Weber, ähnlich wie Marx, eine Art dialektische Beziehung zwischen der Herrschaft und Verwaltung fest: „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgendjemandes Hand gelegt sein.“27 Oder, an einer anderen Stelle auf den Punkt gebracht: „Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung.“28

25 Ibid. 26 Ibid., S. 124. 27 Ibid., S. 545. 28 Ibid., S. 126.

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Obwohl die legale Herrschaft, so Weber, verschiedene Formen annehmen kann, analysiert er „idealtypisch“ nur eine – „die am meisten rein herrschaftliche Struktur des Verwaltungsstabes: des Beamtentums, der Bürokratie“. Die Bürokratie bedeutet für ihn also eine nach bestimmten „rationalen“ Prinzipien organisierte Form der Verwaltung, die, wiederum idealtypisch betrachtet, „den reinsten Typus“ der legalen Herrschaft darstellen soll: „Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittelst bürokratischem Verwaltungsstabs.“29 Die rein bürokratische Verwaltung, die Weber auch „die bürokratischmonokratische aktenmäßige Verwaltung“ nennt, ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: „[...] nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung.“30

Eine solche Auffassung der Bürokratie hat einen ausdrücklich „idealtypischen“ Charakter, d.h. Weber schildert hier nicht die real auffindbaren Eigenschaften bürokratischer Verwaltungspraxen, sondern stellt die Bürokratie normativ als eine rein theoretische Konstruktion dar. Wie er mehrfach in seinen Werken unterstreicht, sind „idealtypologische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu unterscheidende Dinge“.31 Der Idealtypus, eines der zentralen Weberschen Konzepte, ist ein Produkt der „utopischen Rationalisierung“, das helfen soll, die soziale Realität besser zu verstehen, jedoch nicht, sie zu beschreiben. Die Idealtypen sind daher „theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen“.32

29 Ibid., S. 126. 30 Ibid., S. 128. 31 Ibid., S. 204. 32 Ibid., S. 205. Dieses wichtige Moment wurde in der späteren Rezeption von Webers Bürokratielehre durch die neopositivistisch geprägte und empirisch orientierte Soziologie häufig außer Acht gelassen.

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Unpersönliche Ordnung, Rationalität, Aktenmäßigkeit als Handeln nach formalen festgeschriebenen Regeln und Normen sowie Amtshierarchie und Amtsdisziplin sind demnach die wichtigsten Merkmale einer „idealen“ Organisation der Verwaltung. Die bürokratische Verwaltung als „formaltechnisch rationalste“ ist die „ideale“ Verwaltungsform, die den Bedürfnissen des modernen Staates und der Entstehung der Massengesellschaft am besten entspricht. Ihre Umsetzung in die Praxis und geradezu ihre Unentbehrlichkeit findet Weber auf allen Ebenen und in allen Erscheinungsformen des sozialen Lebens. Die „Zweckrationalität“ individuellen Handelns ist eine der wichtigsten Weberschen Grundannahmen, die seine Gesellschaftskonzeption von Anfang an in ihrem Kern bestimmt. Weber definiert Rationalität in Bezug auf den Sinn, den Handelnde mit ihrem Handeln verbinden. Der primäre Sinn des Handelns des notorischen bürgerlichen Individuums ist jedoch bekanntlich der Eigennutz, der in der modernen Gesellschaft in erster Linie einen wirtschaftlichen Gewinn impliziert. Das bürgerliche Individuum ist das Subjekt des rationalen Handelns per se, das in seinem unentbehrlichen Streben nach Eigennutz bzw. Gewinn sein Handeln immer mehr „rationalisieren“ muss. So ist „Rationalisierung“ die primäre Ursache für die Entstehung des Kapitalismus. Rationalität und Kapitalismus werden in Webers Werk quasi gleichgesetzt. Die rationale kapitalistische Gesellschaft braucht deshalb eine entsprechend rational organisierte und funktionierende Verwaltungsform. Diese schafft sie durch den Ausbau der Bürokratie und setzt sie für die Koordinierung des Handelns der Massen von in ihren Bedürfnissen grundsätzlich gleichartigen bürgerlichen Individuen ein: „Der Bedarf nach stetiger, straffer, intensiver und kalkulierbarer Verwaltung, wie ihn der Kapitalismus – nicht: nur er, aber allerdings und unleugbar: er vor allem – historisch geschaffen hat (er kann ohne sie nicht bestehen) [...], bedingt diese Schicksalhaftigkeit der Bürokratie als des Kerns jeder Massenverwaltung.“33

Die Verwaltung nach rationalen Prinzipien, d.h. die Bürokratie, entwickelt sich daher immer mehr zu einer Art Apparat, einer Maschine, welche in der Massengesellschaft die „Massenverwaltung“ der Massenbedürfnisse gewährleistet. Eine spezifische,

33 Ibid., S. 129.

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„dem Kapitalismus willkommene, Eigenart [der Bürokratie] entwickelt sie umso vollkommener, je mehr sie sich ‚entmenschlicht‘, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird: die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte, gelingt“.34

Die Webersche Idealform der Verwaltung ist also ein reibungslos funktionierender Mechanismus, in dem jegliche Spuren der „Empfindung“ als des nur begrenzt kalkulierbaren Residuums des „Menschlichen“ eliminiert werden sollen. Dieser Prozess, von Weber als Prozess der „Entmenschlichung“ verstanden, wird später jedoch vor allem in der marxistischen Sozialtheorie als Umgestaltung der menschlichen Natur an sich begriffen, die sich selbst nicht nur als eine verwaltungsgeeignete, sondern auch als eine verwaltungsbedürftige Substanz zur Verfügung stellt.

4.4 D IE V ORBEDINGUNGEN DER VERWALTETEN W ELT IN DER D IALEKTIK DER A UFKLÄRUNG Eine wirkungsmächtige kritische Aufarbeitung der Weberschen Thesen über die „Entmenschlichung“ der Verwaltung findet sich in der „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. In der Vorrede zur Neuausgabe von 1969 wird der Ausdruck „verwaltete Welt“ als Bezeichnung der vorhandenen Sozialordnung gebraucht. Der „Übergang zur verwalteten Welt“, so Adorno und Horkheimer, sei von ihnen schon 1947 bei der Erstausgabe des Buches als „nicht zu harmlos eingeschätzt“35 worden. In den darauf folgenden zwanzig Jahren erfuhr das Projekt der „verwalteten Welt“ seine logische Vollendung und stellte nunmehr neue theoretische Herausforderungen: „Dass es heute mehr darauf ankommt, Freiheit zu bewahren, sie auszubreiten und zu entfalten, anstatt, wie immer

34 Ibid., S. 563. 35 Adorno, Theodor/Horkheimer, Max: „Dialektik der Aufklärung“ (Theodor Adorno: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 9.

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mittelbar, den Lauf zur verwalteten Welt zu beschleunigen, haben wir auch in unseren späteren Schriften ausgedrückt.“36 Die Webersche Utopie einer nach rationalen Gesetzen gestalteten Verwaltung aller Bereiche menschlicher Aktivität findet in der „Dialektik der Aufklärung“ ihre antiutopische Wendung als Diktatur des bloßen mechanischen Kalküls, die keine Gnade und keine Ausnahmen mehr kennt und alle wesentlichen individuellen Differenzen nach dem bürgerlichen „Prinzip des Äquivalents“ zu nivellieren sucht. Deshalb birgt die „verwaltete Welt“ der modernen industriellen Massendemokratien a priori die Gefahr in sich, sich zu einer totalitären Gesellschaft zu entwickeln. Im Stil der Marxschen epischen Passagen zur gesamten Menschheitsgeschichte beschreiben Adorno und Horkheimer den Prozess der Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung, die den Geist selbst „zum Apparat der Herrschaft und Selbstbeherrschung“ macht. In der breiten sozialhistorischen Perspektive „verdinglicht“ sich auch die Herrschaft „zu Gesetz und Organisation“.37 Die „Verdinglichung“ der Herrschaft in der rational organisierten und durch Gesetze formell legitimierten Verwaltung hat im Grunde ihr ultimatives Ziel darin, die soziale Ungleichheit in einer angemessenen, für die neu entstandene Gesellschaftsform, die industrielle Massengesellschaft, im Rahmen des Nationalstaates als entsprechender politischer Regierungsform zu festigen. Mit einem gewissen gesellschaftshistorischen ‚Update‘ und mit einer weiteren theoretischen Ausarbeitung wiederholt sich in der „Dialektik der Aufklärung“ das bereits bekannte Marxsche Motiv: Die heutige rationale Organisation der Verwaltung, d.h. die Bürokratie, ist das Mittel, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie nicht mehr wie bei Marx „vorzubereiten“, sondern sie zu sichern. Die alte, noch von Hegel theoretisch ausgearbeitete Beziehungsdialektik von Herr und Knecht wird von Adorno und Horkheimer durch das Prisma des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts und der steigenden Mechanisierung der Arbeit betrachtet. Nachdem die Beherrschten in der Produktion durch Maschinen massenhaft ersetzt wurden, wird nun die öffentliche Verwaltung im Grunde zu einem neuen Ressort der kapitalistischen Ausbeutung:

36 Ibid., S. 10. 37 Ibid., S. 53–54.

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„Nachdem man den Lebensunterhalt derer, die zur Bedienung der Maschinen überhaupt noch gebraucht werden, mit einem minimalen Teil der Arbeitszeit verfertigen kann, die den Herren der Gesellschaft zur Verfügung steht, wird jetzt der überflüssige Rest, die ungeheure Masse der Bevölkerung als zusätzliche Garde fürs System gedrillt, um dessen großen Plänen heute und morgen als Material zu dienen. Sie werden durchgefüttert als Armee der Arbeitslosen. Ihre Herabsetzung zu bloßen Objekten des Verwaltungswesens, die jede Sparte des modernen Lebens bis in Sprache und Wahrnehmung präformiert, spiegelt ihnen die objektive Notwendigkeit vor, gegen die sie nichts zu vermögen glauben. Das Elend als Gegensatz von Macht und Ohnmacht wächst ins Ungemessene zusammen mit der Kapazität, alles Elend dauernd abzuschaffen. Undurchdringlich für jeden Einzelnen ist der Wald von Cliquen und Institutionen, die von den obersten Kommandohöhen der Wirtschaft bis zu den letzten professionellen Rackets für die grenzenlose Fortdauer des Status sorgen.“38

Dieser Prozess geht unaufhörlich weiter. Die Verwaltung wird zu einem selbstbezüglichen, aber gleichzeitig zu einem expandierenden und langsam auch zum allumfassenden Tätigkeitsbereich, in dem die traditionelle Differenzierung zwischen den Subjekten und Objekten der Verwaltung ihre Relevanz zu verlieren beginnt. Es geht dabei auch nicht nur um ein einfaches Verständnis der Dialektik von Herr und Knecht oder Verwaltenden und Verwalteten, und zwar in dem Sinne, dass der Herr den Knecht braucht, um als Herr weiter gelten zu können. Viel wichtiger ist hier der Gedanke, der in der „Dialektik der Aufklärung“ erst nur angedeutet wird und seine weitere Entwicklung etwas später bei Michel Foucault in der Konzeption der Gouvernementalität erfährt: Jedes einzelne Individuum der modernen Gesellschaft soll im Idealfall zum Subjekt der Selbst-, oder besser, der EigenVerwaltung werden. Der im Bewusstsein und daher auch im Verhalten eines jeden Individuums internalisierte rationale Verwaltungsapparat ist demnach allen Bürgern des modernen Staates eigen. Die Wurzeln dieser Einstellung finden sich bereits in der protestantischen Ethik, wie diese von Max Weber konzipiert wurde. Adorno und Horkheimer setzen den Akzent hingegen ganz im marxistischen Sinne auf die ökonomische Basis und betrachten die Transformatio-

38 Ibid., S. 56.

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nen im Verwaltungs-Wesen als eine Folge der sich entwickelnden Marktverhältnisse: „Indem die bürgerliche Wirtschaft die Gewalt durch die Vermittlung des Marktes vervielfachte, hat sie auch ihre Dinge und Kräfte so vervielfacht, daß es zu deren Verwaltung nicht bloß der Könige, sondern auch der Bürger nicht mehr bedarf: nur noch Aller.“39

Längst vor der Verbreitung der neoliberalen Doktrin wird in der „Dialektik der Aufklärung“ der weitere Entwicklungsgang des bürgerlichen Individuums vorgeahnt. Jeder Einzelne soll, unabhängig von seinem Tätigkeitsbereich – vom Geschäftsmann bis zum Wissenschaftler und Künstler – nicht nur zum Kleinunternehmer, zu einem inkorporierten Ich-AG-Projekt werden, sondern auch zum Verwalter dieses Projekts, zum Bürokraten seiner selbst. Die Verwandlung des bürgerlichen Individuums zum Kleinunternehmer war in ihren historischen Wurzeln durch den Prozess der Professionalisierung verschiedener Tätigkeitsbereiche vorprogrammiert und durch die protestantische Konzeption des „Berufs“ ideologisch begründet.40 Sobald eine Tätigkeit dem Zweck der Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts dienen soll, ist sie in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft der Notwendigkeit des Gewinnerzielens unterworfen, was a priori ein unternehmerisches Verhalten beinhaltet. So werden im Laufe der zunehmenden Professionalisierung menschlicher Aktivitäten auch solche Tätigkeitsfelder wie Wissenschaft und Künste nolens volens zu Opfern der omnipräsenten Marktverhältnisse und unternehmerischen Geistes. Diese strukturell bedingten Gründe einer Reduktion der freien Aktivität des Geistes auf unfreies, ökonomisch determiniertes Denken und Handeln spielen bei der Entwicklung der Konzeption der Kulturindustrie jedoch eine wichtige Rolle, auch wenn sie in der „Dialektik der Aufklärung“ selbst nur angedeutet sind. Ohne diese Konzeption hier detaillierter zu analysieren, sollen an dieser Stelle diejenigen Aspekte dargestellt werden, die für die theoretisch-philosophische Genealogie der Idee der Verwaltung im Hin-

39 Ibid., S. 59–60. 40 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München: Beck 2010.

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blick auf eine freie intellektuelle und künstlerische Tätigkeit von großer Bedeutung sind.

4.5 Z UR ANTITHESE VON K UNST UND W ISSENSCHAFT IN DER VERWALTETEN W ELT Die Wissenschaft, die in der „Dialektik der Aufklärung“ mit dem wissenschaftlichen Positivismus beinah gleichgesetzt wird, ist das erste und wichtigste Instrument der Aufklärung im Prozess des Durchsetzens der instrumentellen Vernunft. Diese bezweckt die Beherrschung der Natur, endet jedoch mit der Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt. Dagegen enthält für Adorno und Horkheimer die Kunst in ihrem Wesen – ganz im Einklang mit der alten romantischen Tradition – einen Wahrheitsanspruch, der sie zu einem Ort der utopischen Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen machen soll: „Es liegt im Sinn des Kunstwerkes, dem ästhetischen Schein, das zu sein, wozu in jenem Zauber des Primitiven das neue, schreckliche Geheimnis wurde: Erscheinung des Ganzen im Besonderen. Im Kunstwerk wird immer noch einmal die Verdoppelung vollzogen, durch die das Ding als Geistiges, als Äußerung des Mana erschien. Das macht seine Aura aus. Als Ausdruck der Totalität beansprucht Kunst die Würde des Absoluten. Die Philosophie ist dadurch zuweilen bewogen worden, ihr den Vorrang vor der begrifflichen Erkenntnis zuzusprechen.“41

Adorno und Horkheimer greifen dabei auf eine These von Schelling aus seinem „Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ zurück. Dieser zufolge setzt Kunst da ein, „wo das Wissen die Menschen im Stich lässt“. Sie gilt ihm, so Adorno und Horkheimer, als „das Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen. [...] Solchem Vertrauen in Kunst war die bürgerliche Welt nur selten offen“.42 Die Vorstellung vom Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes und dem damit verbundenen Befreiungspotential der Kunst entwickelt Adorno ausführlich

41 Th. Adorno/M. Horkheimer: „Dialektik der Aufklärung“, S. 35. 42 Ibid., S. 35–36.

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in seinen späteren Schriften, vor allem in der „Ästhetischen Theorie“. Obwohl er den Fetischcharakter der Kunst und ihre wirtschaftliche Instrumentalisierung in der kapitalistischen Gesellschaft präzis beobachtet, versucht er jedoch gleichzeitig, die alte romantische Auffassung von Kunst als letztem Ressort geistiger Freiheit zu retten. Die Kunst als Idee, und nicht als fait social mit all seinen Implikationen und Zwängen, wird für ihn letztendlich zum einzigen denkbaren Zufluchtsort für die Utopie und zur letzten Hoffnung auf eine andere Welt angesichts der Hoffnungslosigkeit der allumfassenden kapitalistischen Verhältnisse: „Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, dass Kunst Utopie sein muss und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut.“43 Mit seiner dialektischen Raffinesse konstruiert Adorno eine Art ‚platonistische Idee‘ von Kunst, die im Prozess ihrer Verkörperung durch die Materie des Sozialen kontaminiert wird. Diese Idee von Kunst erfüllt, ungeachtet der eigentlichen Intentionen Adornos, de facto eine sozialpsychotherapeutische Funktion: Die Welt ohne Aussicht auf eine utopische Freiheit individuellen Handelns von gesellschaftlich-ökonomischen Zwängen, auch wenn diese lediglich im Rahmen künstlerischer Aktivität gedacht werden könnte, wäre einfach unerträglich. Die in ihrem wahren Kern ‚gute‘ Kunst braucht ihre ‚bösen‘ Kontrahenten, welche die irdische Existenz der Kunst und ihre schöne himmlische Idee voneinander trennen. Adorno gelingt es indes in seiner Kunsttheorie nicht, trotz all seiner verwickelten dialektischen Einwände bezüglich einer immanenten Co-Existenz der Ideologie und Wahrheit in der Kunst, diese Hollywood-Logik zu vermeiden. Der wichtigste ‚böse‘ Kontrahent der Kunst ist dabei bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ ausgemacht – die Kulturindustrie. Diese ist das Prokrustes-Bett, die Maschine, welche das Kunstwerk zu einer marktkonformen Warenform komprimiert. Die individuelle schöpferische Kraft endet in der standardisierten Kulturproduktion der Massenkultur. Nur die „Reproduktion des Immergleichen“ wird in der Kulturindustrie gefordert und gefördert und besiegelt damit sowohl das Befreiungspotential als auch den Wahrheitsanspruch der Kunst. Die gesellschaftliche Existenz der Kul-

43 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 7), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 55.

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tur reduziert sich zur bloßen Kulturindustrie und benötigt – wie jegliche Form der Industrie – eine entsprechende Form der Verwaltung. Gerade in diesem Bedarf an Verwaltung sehen die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ eine funktionelle Verbindung von Kunst und Wissenschaft in ihrem gesellschaftlichen Dasein, welche zur Transformation ihres Wesens und hiermit letztendlich zur Degradierung beider führt: „Die gängige Antithese von Kunst und Wissenschaft, die beide als Kulturbereiche voneinander reißt, um sie als Kulturbereiche gemeinsam verwaltbar zu machen, lässt sie am Ende als genaue Gegensätze vermöge ihrer eigenen Tendenzen ineinander übergehen. Wissenschaft, in ihrer neopositivistischen Interpretation, wird zum Ästhetizismus, zum System abgelöster Zeichen, bar jeglicher Intention, die das System transzendierte: zu jenem Spiel, als welches die Mathematiker ihre Sache längst schon stolz deklarierten. Die Kunst der integralen Abbildlichkeit aber verschrieb sich bis in ihre Techniken der positivistischen Wissenschaft. Sie wird in der Tat zur Welt noch einmal, zur ideologischen Verdoppelung, zur fügsamen Reproduktion. Die Trennung von Zeichen und Bild ist unabwendbar. Wird sie jedoch ahnungslos selbstzufrieden nochmals hypostasiert, so treibt jedes der beiden isolierten Prinzipien zur Zerstörung der Wahrheit hin.“44

Diese von Adorno und Horkheimer diagnostizierte gesellschaftliche Notwendigkeit, Kunst und Wissenschaft „gemeinsam verwaltbar zu machen“, prägt im Wesentlichen die gesamte europäische Kulturpolitik, seitdem von „Kulturpolitik“ überhaupt die Rede ist. Dazu kommt die uralte, schon von Platon im 10. Buch seines „Staates“ ausformulierte utilitaristische Einstellung der Kunst gegenüber, wonach deren primäre Daseinsberechtigung vor allem in ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit besteht.45 Da die Nützlichkeit der Wissenschaft – mit Ausnahme der Geisteswissenschaften – in der Gesellschaft keinen Zweifel erweckt, soll Kunst, um ihre soziale Legitimität zu erlangen, versuchen, entweder Wissenschaft zu werden, oder sich als Wissenschaft zu vermarkten, oder, im äußersten Fall, das eigene, wahre oder inszenierte, Streben nach Wissenschaftswerden zu verkaufen.

44 Th. Adorno/M. Horkheimer: „Dialektik der Aufklärung“, S. 34. 45 Vgl. Plato: Werke, Bd. 4: Der Staat, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Emile Chambry, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971.

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Von Anfang an prägte diese Notwendigkeit die Selbstpositionierungsund Verhaltens-, d.h. Überlebensstrategien der auf Subventionen angewiesenen Künste, die sich am deutlichsten am Beispiel der Medienkunst beobachten lassen. Im Laufe der Neoliberalisierung der staatlichen Kultur- und Wissenschaftspolitik wurde die Forderung nach Nützlichkeit im Sinne einer potentiellen wirtschaftlichen Effizienz immer weiter gesteigert. Heute müssen auch die Geisteswissenschaften, die hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit sogar der Kunst den Vortritt lassen, ihren Wunsch und ihre Fähigkeit nachweisen, eine ‚richtige‘ Wissenschaft zu werden. Die zahlreichen interdisziplinären Kooperationen und Forschungsprojekte mit den Sozial-, Natur- und Computerwissenschaften sollen vermeintlich diesem Zwecke dienen. Auf das gleiche läuft auch die Umbenennungspolitik der klassischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen hinaus. Worte wie Kunst und Geschichte, die aus der Perspektive eines durchschnittlichen imaginären Bürgers kaum einen gesellschaftlichen Nutzen versprechen, müssen in der Benennung der Disziplinen durch (wiederum in Bezug auf einen vermeintlichen Nutzen) vertrauenswürdigere Bezeichnungen wie Forschung und Wissenschaft ersetzt werden. Dieses Verfahren wird zumeist noch mit der vorgespiegelten Überzeugung gerechtfertigt, wonach die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung sowie der Genetik zu unserem Verständnis der Produkte geistiger Aktivität tatsächlich etwas beitragen können. Dieses grundsätzliche Misstrauen und eine Art Feindlichkeit seitens der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Wissenschaften, die sich – wie die meisten Geisteswissenschaften – primär mit der eigenen Geschichte befassen, hat möglicherweise einen historischen Hintergrund, der sich auf den ersten Blick nicht sogleich erschließt. Es sei hier an das Motiv des „Rassenkrieges“ zwischen der alten Feudalaristokratie und der Bourgeoisie erinnert, welches Foucault in seinem Vorlesungszyklus „In Verteidigung der Gesellschaft“ untersuchte und als Metapher für einen überzeitlichen und paradigmatischen, strukturell-typologischen gesellschaftlichen Antagonismus betrachtete.46 In einem ausführlichen politisch- und sozialhistorischen Exkurs geht Foucault der Frage nach, „warum das Bürgertum entgegen den üblichen Behauptungen gegenüber der Geschichte am zurückhaltendsten, am widers-

46 Vgl. dazu das Kapitel „‚Rassenkrieg‘ als ‚Klassenkampf‘. Zur sozialhistorischen Genese der Verwaltung“.

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tändigsten war. Die Aristokratie war zutiefst historisch. [...] Aber das Bürgertum blieb lange Zeit anti-historistisch oder anti-historisch, wenn Sie so wollen.“47 Die Bourgeoisie hat nicht jenes historische Gedächtnis, welches es der Aristokratie ermöglicht, ihre Genealogie über Jahrhunderte zu verfolgen und durch die Geschichte des eigenen Adelsgeschlechts ihre Privilegien zu begründen. Aus dieser Sicht ist die Geschichte als solche für das bürgerliche Bewusstsein etwas prinzipiell Gefährliches, wenn nicht gar Feindliches. Deshalb muss die neue herrschende Klasse (vergessen sei dabei nicht, dass die Kategorie der „Klasse“ ihre typologischen Wurzeln auch in Boulainvilliers Idee der „Rasse“ hat) die Legitimität ihrer Herrschaft nicht historisch, sondern rein juristisch begründen, indem sie Gesetze verabschiedet, die ihre Interessen schützen. Die Gesetze – zitiert Foucault John Lilburne – „werden von den Eroberern gemacht“.48 Die Geschichte wird daher grundsätzlich als Gegenstand des müßigen aristokratischen Zeitvertreibs betrachtet, der keinen praktischen Nutzen in sich enthält. Nur die Aristokratie kann es sich, typologisch gesehen, leisten, Aktivitäten zu treiben, die an sich keinen wirtschaftlichen Gewinn versprechen, wohingegen die Sorgen der Bourgeoisie anderer Natur sind. Deshalb sind auch die historischen Ursprünge der modernen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht zuletzt gerade der Aristokratie zu verdanken. Der heutige Krieg, den neoliberale Verwaltungen gegen die Geisteswissenschaften führen, erscheint aus dieser Perspektive als letzter Widerhall dieses „Rassenkrieges“ der Bourgeoisie gegen die Aristokratie, der die gesamte abendländische Geschichte seit dem 17. Jahrhundert prägt. Die entsprechenden historischen Erscheinungsformen dieses typologischen „Rassenkrieges“ finden sich auch in der Geschichte der Philosophie: Bei Marx in seiner Idee des Klassenkampfes, bei dem das Proletariat, diese rein theoretische Konstruktion, in erster Linie als struktureller Platzhalter eines Gegners der Bourgeoise zu verstehen ist; bei Nietzsche in seinem berüchtigten „antimodernen Elitismus“, der Nietzsches Alter-Ego – den geistes-aristokratischen „Übermenschen“ – unter der Herrschaft der geistigen Mittelmäßigkeit seiner Zeitgenossen leiden lässt und Nietzsche selbst zum wahren Subjekt des Ressentiments macht; bei Adorno in seinem idiosynkratischen, schon wieder elitistisch verlockenden, im Kern freilich sehr au-

47 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 243. 48 Ibid., S. 126.

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toritären, ästhetischen Dogmatismus; bei Foucault in seiner „archäologischen“ und „genealogischen“ De-Ontologisierung der bestehenden Regierungs- und Verwaltungspraxen, die durch die Erforschung ihrer historischen Entstehungsprozesse geleistet wird; und sogar bei Agamben, wie noch zu zeigen ist, der jedoch nicht mehr mit dem heroischen Pathos seiner Vorgänger, sondern eher mit einem leicht ermüdeten defätistischen Ekelgefühl die theologischen, frühchristlichen Begründungen heutiger gesellschaftlicher Vorherrschaft der Ökonomie und Verwaltung aufdeckt.

4.6 „W ER K ULTUR SAGT ,

SAGT AUCH V ERWALTUNG , OB ER WILL ODER NICHT “. ADORNO UND DIE „ GESELLSCHAFTLICH UNNAIVE K ULTURPOLITIK “

Vor diesem Hintergrund ist Adorno der erste, der die Expansion der Verwaltungstechniken in die „Kulturgelegenheiten“, Kunst und Wissenschaft inklusive, sowie ihre Auswirkungen auf diese Bereiche konsequent problematisierte und zum Gegenstand gezielter Untersuchung machte. Sein berühmter Satz – „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht“49 – diagnostiziert den gesellschaftlichen Zustand, in dem der „administrative Blick“ die gesamte Vielfalt des „Ungleichnamigen“ wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten und sogar den objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur zusammenfasst und „all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert“.50 Die Verwaltung der Kultur betrachtet Adorno in seinem Artikel „Kultur und Verwaltung“ aus dem Jahr 1960 als eine Art Opferung, einen Preis, den Kultur zahlen muss, um überhaupt überleben zu können. Die Paradoxie der gesellschaftlichen Lage der Kultur besteht darin, dass „sie Schaden nehme, wenn sie geplant und verwaltet wird“, aber wenn sie sich selbst überlassen

49 Adorno, Theodor W.: Kultur und Verwaltung (Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 8), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 122. 50 Ibid.

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bleibt, droht Kultur „nicht nur die Möglichkeit der Wirkung, sondern die Existenz zu verlieren“.51 In der kapitalistischen Warengesellschaft befindet sich Kultur, deren Produkte nur begrenzt und bedingt auf dem Markt absetzbar sind, von vornherein in einer prekären Situation. Indem die kapitalistische Gesellschaft sich im Zuge der Moderne zu einer „verwalteten Welt“ entwickelte, blieb das Verwaltet-Sein die einzige Existenzperspektive für die Kultur. Als Bereich gesellschaftlicher Tätigkeit kann sie nur durch Verwaltung in die Strukturen des Marktes mit seiner Funktionslogik von Produktion und Konsum integriert werden. Dabei stellt sie sich auch als „Ablageraum“ für den temporären wirtschaftlichen Überfluss zur Verfügung: „Schwerlich erklärt die immanente Expansions- und Verselbständigungstendenz von Verwaltung als bloßer Herrschaftsform allein den Übergang von Verwaltungsapparaturen älteren Wortsinns in solche der verwalteten Welt; ihren Eintritt in früher nicht verwaltete Bereiche. Verantwortlich sein dürfte die Expansion des Tauschverhältnisses über das gesamte Leben bei zunehmender Monopolisierung. Denken in Äquivalenzen produziert von sich aus insofern eine der Verwaltungsrationalität prinzipiell verwandte [Rationalität], als es Kommensurabilität aller Gegenstände, ihre Subsumierbarkeit unter abstrakte Regeln herstellt. Qualitative Differenzen zwischen den Bereichen wie innerhalb jedes einzelnen Bereichs werden herabgesetzt, und damit vermindert sich ihr Widerstand gegen die Verwaltung.“52

Die fatalen Folgen dieser Sachlage für den kulturellen Prozess sind bereits im Wesen des bestehenden Verwaltungssystems begründet, das Weber als „bürokratische Verwaltung“ bezeichnete. Anhand einiger Beispiele aus der neuesten Geschichte verweist Adorno darauf, „wie sehr der von Weber unterstellte formale Rationalitätsbegriff, beschränkt auf die Zweck-MittelRelation, das Urteil über die Rationalität der Zwecke selbst behindert“.53 Diese in ihrem Wesen immer potentiell irrationale Zweckrationalität manifestiert sich in den „Zweckorganisationen“, die in der antagonistischen Gesellschaft ihre partikularen Zwecke notwendigerweise auf Kosten der Interessen anderer Gruppen verfolgen. Dabei bleibt die zweckrationale Ver-

51 Ibid., S. 123. 52 Ibid., S. 125. 53 Ibid., S. 124.

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waltung „dem Verwalteten äußerlich, subsumiert es, anstatt es zu begreifen.“54 „Zweckrationalität“ in ihrer gängigen Auffassung steht für Adorno in einem engen Zusammenhang mit der Nützlichkeit. Diese beiden Begriffe werden in seinem Artikel an manchen Stellen beinahe synonym verwendet. Genau so komplex und widersprüchlich wie die Unterscheidung zwischen dem Rationalen und Irrationalen ist auch das Verhältnis zwischen dem Nützlichen und dem Unnützen. Da Kultur sich bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts „gegen jene Zweckrationalität gesträubt hat“ und von den Künstlern selbst provokativ „das Nutzlose“ genannt wurde, ist der Platz der Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft gerade im Koordinatensystem vom „Nützlichen“ und „Nutzlosen“ zu suchen: „Der Nutzen des Nützlichen selber ist keineswegs über allem Zweifel, und das Unnütze okkupiert den Platz dessen, was nicht mehr vom Profit entstellt wäre.“55 Die vermeintliche „Nützlichkeit“ des gesellschaftlich anerkannten „Nützlichen“ ist selbst ein ziemlich künstliches ideologisches Produkt. In der modernen Gesellschaft lässt sie sich nicht mehr auf die unmittelbar biologische Reproduktion des Lebens reduzieren. Aus einer solchen Perspektive wären das heutige Finanzsystem und die Jurisprudenz noch nutzloser als Kunst und Kultur. Deshalb ist es auch „dem Apparat doppelt wichtig, sich als ein Nützliches, um der Konsumenten willen Ablaufendes zu präsentieren. Darum wird in der Ideologie die Demarkationslinie von Nützlichem und Unnützem so streng gezogen.“56 Indem Kultur sich im Laufe der Geschichte immer mehr von den realen Lebensprozessen „emanzipiert“ und eine eigene mögliche Beziehung auf Praxis „einbüßt“, macht sie sich selbst zum „Unnützen“ und delegiert damit dem vermeintlich „Nützlichen“ die Macht, über die eigene Existenz zu entscheiden: „das herausfordernd Unnütze daran wird zum toleriert Nichtigen oder gar zum schlechten Nützlichen, zum Schmieröl, zu einem für Anderes Seienden, zur Unwahrheit, den für Kunden kalkulierten Waren der Kulturindustrie“.57 Darin sieht Adorno den Grund für den „Verlust an Innenspan-

54 Ibid., S. 125–127. 55 Ibid., S. 129. 56 Ibid. 57 Ibid., S. 132.

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nung“, der an verschiedensten Stellen „auch der progressiven kulturellen Produktion“ zu beobachten sei. Seine Einschätzung ist eine leicht nachvollziehbare Reaktion auf die Entwicklung der kulturpolitischen Mechanismen und Verwaltungspraxen in der Bundesrepublik Deutschland und in Westeuropa generell in der Nachkriegszeit. Die zunehmende staatliche Organisation des kulturellen Betriebs sowie der weitere Ausbau der Strukturen der Kulturindustrie stehen für Adorno im Zeichen einer populistischen „Scheindemokratisierung“, die eine Gefahr für die Qualität der kulturellen Produktion birgt. Dabei wird das unabdingbare kritische Moment, das die Kultur als „das über das System der Selbsterhaltung der Gattung Hinausweisende“ allen Institutionen gegenüber beinhaltet, durch diesen Prozess vollkommen neutralisiert. Im System der Verwaltung des kulturellen Geschehens, das Adorno beobachtet, erblickt er eine essentielle Gefährdung für die Zukunft der Kultur selbst: „Was von sich aus autonom, kritisch, antithetisch zu sein beansprucht, und was freilich diesen Anspruch nie ganz rein bewähren kann, muss verkümmern, wenn seine Impulse in ein ihnen Heteronomes, von oben her Vorgedachtes bereits eingegliedert sind; wenn es womöglich den Raum zum Atmen von der Gnade dessen empfängt, wogegen sie [die Kultur] rebelliert.“58

Aber gerade diese Sachlage wird letztendlich zu einer grundlegenden Matrix der Kulturexistenz in den westlichen Wohlfahrtsstaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie verschärft sich sogar dadurch, dass dieses „Heteronome“ und „von oben her Vorgedachte“ nicht nur in die Handlungsstrategien, sondern auch in die Denkweisen der Kulturschaffenden selbst inkorporiert wird. Mit Adornos Worten gesprochen: „Verwaltung aber wird dem angeblich produktiven Menschen nicht bloß von außen angetan. Sie vervielfacht sich in ihm selbst.“59 Hier stößt man auf einen Gedankengang, der zehn Jahre später in der Foucaultschen Konzeption der Gouvernementalität seine Weiterentwicklung findet, die eine strukturelle Verstrickung zwischen den Verwaltungstechniken des Staates und den gesellschaftlichen Institutionen sowie zwi-

58 Ibid., S. 133. 59 Ibid., S. 137.

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schen den Techniken der Selbstverwaltung des Individuums in westlichen Gesellschaften analysiert. Obgleich Adorno den Begriff der Kultur sowie der Verwaltung in seiner Analyse stark substantialisiert, bringt er jedoch das Wesen der sozialen Zusammenhänge, die hinter diesen Begriffen stehen, sehr treffend zum Ausdruck. Da sich die gesellschaftlichen Strukturen der Wohlfahrtsstaaten in ihrem Kern seit den 1960er Jahren kaum geändert haben, bleiben seine damaligen Diagnosen auch heute noch relevant: „Verwaltung wiederholt an der Kultur nur, was diese selber gefrevelt hat, indem sie von je zu einem Stück Repräsentation, zur Betriebsamkeit, schließlich zu einem Sektor der Massenbehandlung, der Propaganda, des Fremdenverkehrs sich macht. [...] Kultur ist längst zu ihrem eigenen Widerspruch, zum geronnenen Inhalt des Bildungsprivilegs geworden; darum gliedert sie nun in den materiellen Produktionsprozess als dessen verwalteter Anhang sich ein.“60

Besonders interessant ist der Versuch Adornos, in seinem Artikel eine Art ‚konstruktiver Verbesserungsvorschläge‘ in Sachen der Kulturverwaltung vorzulegen. Einen der wichtigsten Mechanismen, welcher die Autonomie des immanenten Wertebildungssystems der Kultur vor der Einmischung der „scheindemokratisch“ populistischen Kulturpolitik und darauf basierenden Verwaltung schützen soll, sieht Adorno in der Herausbildung eines Expertentums, welches von der Verwaltung einigermaßen unabhängig wäre und die Herausarbeitung und Aufbewahrung der objektiven, nicht „korrumpierten“ Kriterien der Qualität leisten könnte. Freilich ist ihm die Gefahr bewusst, dass im Umfeld der öffentlichen Institutionen der Experte „selber notwendig Verwaltungsmann“ zu werden tendiert und dass es oft schwer fällt, „ihn vom Apparatschik zu scheiden“.61 Dennoch ist eine Verselbständigung des Expertentums die einzige Alternative einer „autoritären Verselbständigung“ der Marktstrukturen und Verwaltung: „Die Beziehung zwischen Verwaltungen und Experten ist Not nicht nur sondern auch Tugend. Sie eröffnet die Perspektive, kulturelle Dinge vorm Kontrollbereich des Marktes oder Pseudomarktes zu schützen, der sie heute unweigerlich fast ver-

60 Ibid., S. 140–141. 61 Ibid., S. 143.

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stümmelt. Geist, in seiner autonomen Gestalt, ist den gesteuerten und nachgerade eingefrorenen Bedürfnissen der Konsumenten nicht weniger entfremdet, als den Verwaltungen.“62

In diesem Zusammenhang plädiert Adorno für eine „gesellschaftlich unnaive Kulturpolitik“, die ohne scheindemokratische Angst „vorm Aufgebot von Mehrheiten“ gestaltet werden muss. Auf Kulturpolitik sei Walter Benjamins Definition vom Kritiker anzuwenden, „welcher die Interessen des Publikums gegen das Publikum zu vertreten habe.“63 Überraschenderweise entdeckt Adorno gerade in der Verselbständigung der exekutiven Instanzen, welche „das Potential des Besseren birgt“, eine Chance auf eine solche Umgestaltung der Kulturpolitik in den Gegebenheiten der verwalteten Welt: „[...] die Institutionen sind derart gekräftigt, dass sie, wenn sie und ihre Funktion sich selbst durchsichtig sind, das Prinzip des bloßen für Anderes Seins, die Anpassung an jene trügerisch plebiszitären Wünsche durchbrechen können, welche alles Kulturelle, indem sie es aus seiner vermeintlichen Isolierung herausholen, unerbittlich herunterdrücken.“64

In dieser Sachlage sieht Adorno auch die Hoffnung der „Verwaltenden“ auf ihre „kritische Unabhängigkeit von der Macht und dem Geist jener Konsumgesellschaft, die identisch ist mit der verwalteten Welt selbst“. Trotz der Verdinglichung der beiden Kategorien – Kultur und Verwaltung – weisen sie jedoch auf lebendige Subjekte zurück. Darum besteht auch die Möglichkeit, die Institutionen „immer wieder umzufunktionieren“. Etwas ungewöhnlich für seine Argumentation behauptet Adorno, dass in der liberaldemokratischen Ordnung das Individuum genügend Raum habe, um Institutionen mithilfe der Institutionen selber zu ändern: „Wer der Verwaltungsmittel und Institutionen unbeirrbar, kritisch bewusst sich bedient, vermag stets noch etwas von dem zu realisieren, was anders wäre, als bloß verwaltete Kultur.“65

62 Ibid., S. 144. 63 Ibid. 64 Ibid., S. 145. 65 Ibid., S. 146.

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Diese kleine Prise Hoffnung und Optimismus offeriert er ziemlich unerwartet am Ende seines kompromisslos-nüchternen Aufsatzes. Die Vertreter des sogenannten „Neuen Institutionalismus“66 könnten in dieser Passage einen höchst gewichtigen theoretischen Bezugspunkt für ihre heutigen Thesen finden. Die letzten Aussagen von „Kultur und Verwaltung“ werfen jedoch eine Frage auf, die unbeantwortet bleibt: Woher soll der gute Wille des Individuums kommen, sich kritisch bewusst der Verwaltungsmittel und Institutionen zu bedienen, wenn die gesamte Markt- und Verwaltungslogik diesen Willen nur als eine zweckrationale, d.h. eigennutzorientierte Handlungsmotivation zulassen kann? Geradezu unvermittelt unterstellt Adorno dem Individuum die Präsenz eines gewissen guten Willens – bonne volonté –, der von ihm noch einige Seiten zuvor als eine Erscheinung der bürgerlichen Hypokrisie sarkastisch belächelt wurde. Sein früheres Fazit, dass Verwaltung dem Individuum nicht nur vom Außen angetan, sondern auch vom Menschen in sich selbst reproduziert wird, stellt die Möglichkeit eines genuinen, von den Eigennutzinteressen befreiten ‚guten Willens‘ grundsätzlich in Frage.

4.7 K RITIK ALS AUFGEKLÄRTES G EHORCHEN . M ICHEL F OUCAULT UND I MPLIKATIONEN DER G OUVERNEMENTALITÄT Ein Jahrzehnt nach Adornos „Kultur und Verwaltung“ gewinnt das Thema der Selbstverwaltung des Individuums bei Michel Foucault eine zentrale Bedeutung. Gleichzeitig wird die Konzeption der Selbstverwaltung wesentlich erweitert. Diese besteht nicht nur aus den Praktiken der Selbstbeherrschung und Selbstdisziplinierung, deren Wurzeln noch auf die christliche Tradition der Enthaltsamkeit und vor allem auf die „protestantische Ethik“ zurückgehen. Die eigentliche „Selbstverwaltung“ beginnt erst dann, wenn das Individuum sein Leben als ein unternehmerisches Projekt zu begreifen und es dementsprechend zu gestalten anfängt. Die Ursprünge dieser Auf-

66 Zum „Neuen Institutionalismus“ siehe das Kapitel „Der Neue Institutionalismus im Kunstkontext. Die Taktiken des ewigen ‚Stellungskrieges‘“.

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fassung des Menschen als eines nach wirtschaftlichen Interessen rational handelnden Homo oeconomicus liegen noch in der klassischen politischen Ökonomie und im ökonomischen Liberalismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Erst mit der Durchsetzung der neoliberalen ökonomischen Politik in den 1970er Jahren wandelt sich jedoch das liberale Menschenbild von einer theoretischen Grundannahme zu einer massenhaften verwaltungsstrategischen Praxis. Die emanzipatorischen Bewegungen der 1960er Jahre erschufen unter anderem auch neue Märkte, die ihrerseits neue Verwaltungsformen verlangten. Die individuellen Identitäts- und Verhaltensstrategien des Homo oeconomicus zeigten sich für diese neuen Märkte am besten geeignet. Schon durch die damit entstandenen Marktstrukturen steht dem Individuum keine andere Wahl zur Verfügung als diese Strategien einzusetzen. Gerade diese neuen Marktformen und -mechanismen bereiten in den 1970er Jahren den Boden für die Expansion der bereits Jahrzehnte zuvor entwickelten neoliberalen Konzeption. Ihr rasanter und unaufhaltbarer Vormarsch war im Grunde eine Reaktion, gleichzeitig aber auch eine logische Fortsetzung der gesellschaftlichen Transformationen der 1960er Jahre. In seinem von 1977 bis 1978 am Collège de France gehaltenen Vorlesungszyklus „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“67 ist eine deutliche Verschiebung des intellektuellen Interesses Foucaults zu verzeichnen. Von der Analyse der Macht als „Techniken“ und „Technologien“, welche Individuen als Objekte staatlicher Machtausübung überhaupt erst konstituieren, richtet sich seine Forschungsperspektive auf die Analyse der Regierungspraktiken, durch welche die Macht die Verwaltungsaufgaben an die Individuen selbst – sowohl als Staatsbürger als auch als biologische Wesen – delegiert. Diese Delegierung geschieht jedoch in einer solchen Form, dass die Individuen ihr eigenes Verhalten als freies und autonomes und nicht als erzwungenes empfinden. Um diese Art der Regierung zu bezeichnen, führt Foucault den Begriff der gouvernementalité ein, der diese für die westliche Gesellschaft paradigmatische Verschmelzung der staatlichen Regierungspraktiken mit den Selbstverwaltungspraktiken der Individuen zum Ausdruck bringen soll.

67 Deutsche Ausgabe: Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

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Die Entwicklung der Konzeption der Gouvernementalität war nicht zuletzt das Ergebnis einer längeren Transformation von Foucaults persönlichen politischen Überzeugungen und insbesondere seiner immer kritischer werdenden Auseinandersetzung mit dem Marxismus. In der späteren akademischen Rezeption werden Foucaults Gouvernementalitäts-Studien oft als ein Versuch betrachtet, den Neoliberalismus als aktuelle politische Rationalität darzustellen, als ein im Unterschied zum „demokratischen Sozialismus“ ‚gelungenes‘ Verwaltungsprojekt, da der demokratische Sozialismus sich letztendlich nicht imstande zeigte, eine eigene Verwaltungsrationalität zu entwickeln.68 Die Verwaltungsrationalität der 1970er Jahre war jedoch zu komplex und zu vielfältig, um allein durch die Praktiken und Strukturen der Disziplinargesellschaft erklärt zu werden. So beschäftigt sich Foucault am Ende der 1970er Jahre immer häufiger mit dem Thema einer zunehmenden Krise der Disziplinargesellschaft und ihrer Regierungstechniken. In einem Interview aus dem Jahr 1978 mit dem vielsagenden Titel „La societe disciplinaire en crise“ betont Foucault, dass „Disziplin“ sich in erster Linie als eine für die industrielle Gesellschaft geeignete Form des Machterhalts entwickelt habe. Dennoch habe sich in den letzten Jahrzehnten die westliche Gesellschaft und die sie konstituierenden Individuen wesentlich geändert, so dass die alten disziplinären Techniken der Macht ihre Effizienz allmählich verlieren und deshalb durch effizientere Regierungstechniken ersetzt werden mussten. Dabei merkt Foucault jedoch an, dass die Disziplinartechniken nicht vollständig ersetzt werden können.69 Die enge historische Verbindung zwischen der Souverän-, Disziplinarund gouvernementalen Macht untersucht Foucault ausführlich in dem oben erwähnten Vorlesungszyklus „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ und betont, dass ihre Wechselwirkung auf keinen Fall als eine chronologische

68 Vgl. Donzelot, Jacques/Gordon, Colin: „Governing Liberal Societies – the Foucault Effect in the English-speaking World“, in: Foucault Studies, Nr. 5 (2008), S. 48–62. 69 Vgl. Фуко, Мишель: „Дисциплинарное общество в кризисе“, Фуко, Мишель, Интеллектуалы и власть: Избранные политические статьи, выступления и интервью [Foucault, Michel: „Disziplinargesellschaft in der Krise“, in: ders.: Die Intellektuellen und die Macht: Ausgewählte politische Aufsätze, Vorträge und Interviews], Moskau: Praxis 2002, S. 318–323.

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Reihenfolge betrachtet werden darf. Er gibt dabei der Gouvernementalität eine sehr umfassende und vielschichtige Definition: „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ‚Gouvernementalität‘ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen anderseits zur Folge gehabt hat.“70

Die Ursprünge der Gouvernementalität findet Foucault bereits in der Frühen Neuzeit. Die Gouvernementalität resultiert aus dem Vorgang, durch den „der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“.71 Der Verwaltungsstaat operiert in seiner Programmatik, im Unterschied zum mittelalterlichen Staat, mit der völlig neuen gesellschaftstheoretischen Kategorie der „Bevölkerung“. Die Entstehung dieser Kategorie spiegelt bestimmte demografische und historische Prozesse wider. Die Bevölkerung wird in der Staatslehre einerseits zum Subjekt der Bedürfnisse, andererseits zum Objekt der Regierung. In dieser Doppelrolle verlangt sie von den Machtinhabern neue Verwaltungsmechanismen oder, wie Foucault sagt, eine neue „Regierungskunst“. Sobald sich die Problematik der Bevölkerung stellt, ist das frühere Modell der Ökonomie als einer guten Familienhaushaltsführung nicht mehr ausreichend und relevant. Dies wird zur Geburtsstunde der politischen Ökonomie bzw. der Ökonomie in ihrem modernen Verständnis überhaupt. Paradoxerweise muss aber die moderne Ökonomie, welche die Bevöl-

70 Foucault, Michel: „Die Gouvernementalität“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 64–65. 71 Vgl. ebd.

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kerung als primäres Objekt der Regierung voraussetzt, zugleich das Individuum als Subjekt des ökonomischen Handelns per se konstituieren: „Das Interesse als Bewusstsein jedes einzelnen der Individuen, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung unabhängig von den individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerung sein.“72

Das Individuum als Homo oeconomicus, d.h. als Subjekt des ökonomischen Handelns, dem die Rationalität im Sinne einer Optimierung eigener Verhaltungsstrategien bei der Realisierung seiner wirtschaftlichen Interessen per definitionem zugeschrieben wird, kann jedoch vor allem durch den Prozess seiner ‚Interessenbildung‘ gesteuert werden, obwohl bei ihm auf der Handlungsebene eine totale Illusion der Autonomie des eigenen Handelns entstehen kann. Foucault spricht dabei gewiss nicht von der Ideologie und von ideologischer Manipulation, doch bietet sich gerade ideologische Manipulation im gewöhnlichen marxistischen Sinne als ultimativer Zweck der modernen Regierungskunst an: Der Begriff der gouvernementalité wird in der Reihenfolge seiner Bestandteile gouverner und mentalité wahrgenommen. Der homo oeconomicus ist also ein paradigmatisches Subjekt des rationalen ökonomischen Handelns, gleichzeitig aber auch ein wahres und unabdingbares Objekt der gouvernementalen Regierung. Er ist keine unabhängige und von der Macht freie Instanz, sondern ein bestimmter Typus des Subjekts, der es den Herrschenden ermöglicht, die Notwendigkeit der eigenen direkten Regierungsaktivitäten zu reduzieren, indem den Beherrschten in Form von Selbstregierung und Selbstorganisation die Regierungstätigkeit nach rein ökonomischen Prinzipien delegiert wird. Diese erweist sich als die effektivste Form der Regierung. Foucault bezeichnet sie als une manière de gouverner le moins possible, die im Rahmen des Liberalismus entwickelt wurde. Deshalb ist der Liberalismus nicht nur als eine ökonomische oder politische Theorie zu verstehen, sondern vor allem als eine bestimmte Form der Regierung, die den Markt zum ultimativen Wahrheitskriterium

72 Ibid., S. 61.

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sowie zum Instrument der Erkenntnis und gesellschaftlichen Anerkennung macht.73 Die liberalen Techniken der Machtausübung intensivieren sich insoweit, als die direkte physische Auswirkung der Staatsmacht auf die Individuen tendenziell durch eine Art ‚Fernsteuerung‘ in Form der individuellen Selbstregierung und -kontrolle ersetzt wird: Die Individuen agieren aus ‚eigenem‘ Willen in völligem Einklang mit den Interessen der Staatsmacht. Die Selbstverwaltung der Individuen wird also zum wichtigsten Instrument der staatlichen Regierung der Bevölkerung im Rahmen des gouvernementalen Machtdispositivs. Dabei können der Staat und die Zivilgesellschaft sowie die Macht und die Individuen voneinander nicht streng abgegrenzt werden. Die jahrhundertelange Geschichte der Gouvernementalität als einer zunehmenden strukturellen Verflechtung zwischen der Regierung des Staates und den Techniken der Selbstregierung der Individuen erreicht im Neoliberalismus ihren Höhepunkt. Der Entstehung der neoliberalen Doktrin und ihrer Regierungstechniken im weiteren Sinne widmet Foucault seinen am Collège de France 1978/79 gehaltenen Vorlesungskurs „Die Geburt der Biopolitik“.74 Zu diesem Zeitpunkt erweist sich immer deutlicher die Notwendigkeit, den Neoliberalismus nicht nur als ein wirtschaftliches Phänomen zu analysieren, sondern auch seine sozialpolitischen Implikationen sowie grundlegenden gesellschaftstheoretischen Annahmen zu untersuchen. Resümiert man die Studien zu diesem Thema, so basiert die gesellschaftliche Konzeption des Neoliberalismus auf der Interpretation aller Formen gesellschaftlicher Beziehungen als wirtschaftliche Interaktionen: Jeder Mensch wird als freier Unternehmer betrachtet, der das eigene Leben als ein Wirtschaftsunternehmen organisiert; jede gesellschaftliche Interaktion ist daher auch eine Art Kauf- und Verkaufsvertrag. Alle Formen der gesellschaftlichen Beziehungen – von den Beziehungen zwischen Kollegen bis hin zu denen zwischen Familienmitgliedern – werden als Sub-Formen der Marktkonkurrenz interpretiert. Auch die Nationen und Staaten agieren auf dem Welt-

73 Vgl. Lazzarato, Maurizio: „Biopolitique/Bioéconomie“, in: Multitudes, Nr. 22 (2005/3), S. 51–62. 74 Deutsche Ausgabe: Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

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markt als wirtschaftliche Unternehmen. Die Existenz und das Funktionieren des Marktes werden als bedingungsloser Selbstzweck angesehen und die Gesetze, nach denen die Marktstrukturen funktionieren, als fundamentale Grundlage der Ethik. Der Neoliberalismus macht keinen Unterschied zwischen der Marktwirtschaft und der Marktgesellschaft; seine ethische Konzeption geht im Grunde auf den Merkantilismus in seiner simplifizierten Auffassung zurück.75 Diese Merkmale werden auch von Foucault als gesellschaftspolitische Prämissen der zeitgenössischen Gouvernementalität betrachtet. Dabei versucht er, den Neoliberalismus jenseits seiner politischen Implikationen als Produkt einer stetigen Optimierung und Rationalisierung der Regierungstechniken zu interpretieren. Er beweist, dass in Wirklichkeit eine Optimierung und Rationalisierung der staatlichen Regierung nicht eine radikale Reduzierung der staatlichen Regierungsaktivitäten bedeutet, sondern im Gegenteil eine Expansion der Regierungstechniken auf neue Lebensbereiche nach sich zieht. Der vorgebliche Rückzug des Staates, der vermeintlich das Wesen des Liberalismus bildet, bringt in der Tat nur neue, effektivere Formen der Regierung mit sich. Eine Art Entstaatlichung der Regierung findet schließlich durch die Entstehung der neuen sozialen Technologien statt, mit deren Hilfe der Staat die Verantwortung für das Wohl der Individuen an andere autonome Einheiten wie Unternehmen, gesellschaftliche Organisationen, Interessenverbände und letzten Endes an die Individuen selbst übergibt. Indem die Individuen das eigene Leben als unternehmerisches Projekt realisieren, bilden sie durch ihre Entscheidungen, Risiken und ihre (Selbst-) Verantwortung, zu denen sie durch ein solches Lebenskonzept gezwungen werden, eine Gemeinschaft der ökonomischen Interessen, die de facto mit der bürgerlichen Gesellschaft und auch mit dem neoliberalen Staat gleichzusetzen ist. Die Bürger-Rolle der Individuen wird daher nicht nur auf ihre unmittelbaren Beziehungen zum Staat begrenzt, sondern sie weitet sich auf alle anderen öffentlichen, korporativen und privaten Lebenspraktiken aus, von der professionellen Tätigkeit bis hin zum Konsum. Der Bürger-

75 Vgl. Harvey, David: A Brief History of Neoliberalism, Oxford: Oxford University Press 2005.

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Konsument ist also ein aktiver Agent der Sicherheit, der Bürger-Produzent ein aktiver Agent der industriellen Modernisierung und so weiter.76 Ein wichtiges Fazit der Foucaultschen Analysen des Liberalismus und Neoliberalismus ist die Erkenntnis, dass die Kunst, besser zu regieren, in der Kunst besteht, weniger zu regieren. In diesem Sinne ist der Liberalismus eine auf Selbstkritik extrem angewiesene Form der Regierung und Regierungsrationalität. Die Gouvernementalität als Ergebnis liberalistischer Regierungsansätze entsteht und entwickelt sich durch permanente, aus der Kritik resultierende Selbstkorrekturen. Dabei bezieht sich Foucault auf seine eigene Konzeption der Kritik, die er in seinem Vortrag „Qu’est-ce que la critique?“ von 1978 akzentuierte. Dieser Konzeption zufolge entsteht die Kritik in ihrer modernen Auffassung zusammen mit der Erweiterung der gouvernementalen Regierungspraktiken im Westeuropa des 16. Jahrhunderts. Sie entwickelte sich dabei nicht als eine Form des Protestes gegen die Regierung und das RegiertWerden an sich, sondern als eine Manifestationsform der Unzufriedenheit mit konkreten Regierungspraktiken. Die Intensivierung der Regierung evoziert, so Foucault, nicht die Reaktion „Wir wollen nicht regiert werden und wir wollen rein gar nicht regiert werden!“, sondern „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“77 Die Kritik definiert er dementsprechend als „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ und teilt ihr im Prozess der Regierungsentfaltung eine wichtige Rolle zu: „Wenn man die Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen historisch angemessen einschätzt und einordnet, dann kann man ihr, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne. Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu misstrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu ver-

76 Mehr dazu vgl. Barry, Andrew/Osborne, Thomas/Rose, Nikolas S. (Hg.): Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism, and Rationalities of Government, Chicago: University of Chicago Press 1996. 77 Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1992, S. 11.

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schieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste [...].“78

Seine Auffassung der Kritik knüpft Foucault an Kants Definition der Aufklärung als der Überwindung der geistigen Unmündigkeit des Menschen im Sinne einer „Unfähigkeit, sich seines eigenen Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“.79 Aber in Bezug auf Kants eigenes Verständnis von Kritik in ihrem Verhältnis zur Aufklärung merkt Foucault an, dass das Gehorchen in einem engen Zusammenhang mit dem kritischen, d.h. reflexiven Denken steht, da dieses die Grenzen des eigenen autonomen Verhaltens sowie seiner Erkenntnis als eines solchen festsetzt. Deshalb „wird das ‚Gehorcht!‘ auf der Autonomie selbst gegründet sein“.80 Das bedeutet, dass die Notwendigkeit des Gehorchens dadurch nicht nur praktisch und pragmatisch (politisch, ökonomisch oder moralisch), sondern auch theoretisch (epistemologisch) fundiert wird. Die Kritik ist, zieht man die radikale Konsequenz aus Foucaults Gedankengang, demnach die aufgeklärteste Form des Gehorsams. Das gouvernementale Projekt erscheint in diesem Zusammenhang als die gelungenste und erfolgreichste Form der Herrschaft, die dem wichtigsten und ältesten Problem der Macht – dem ewigen Kampf der Beherrschten gegen den Herrschenden – eine vollkommen neuartige Wendung gibt. Auf Kosten von Foucaults Intentionen etwas frei, in Anbetracht ihrer weitgehenden politischen Implikationen jedoch korrekt übersetzt, heißt dies: Die Beherrschten akzeptieren die Herrschaft als solche und wollen grundsätzlich nicht selbst zu Herrschenden werden. Den Übergang vom Zustand „überhaupt nicht regiert zu werden“ zum Modus „nicht derartig regiert zu werden“, bedeutet schließlich, dass die Beherrschten besser regiert werden wollen. Das heißt: Die Herrschenden müssen die Beherrschten besser beherrschen. Darüber hinaus sind die Beherrschten bereit, den Herrschenden bei dieser Aufgabe voller Ergebenheit zu dienen. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zur Zeit Foucaults scheinen also nicht nur seine Konzeption der Gouvernementalität, sondern auch seine

78 Ibid., S. 12. 79 Ibid., S. 15. 80 Ibid., S. 17.

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Konzeption der Kritik geprägt zu haben. Die große ideologische Krise westlicher Intellektueller angesichts der neoliberalen „There is no alternative“-Politik war wohl die wichtigste treibende Kraft der Untersuchungen der Gouvernementalität durch Foucault und seine Nachfolger.81 Das nüchterne Bewusstsein der tatsächlichen Eingriffsmöglichkeiten der Kritik in das politische und ökonomische Geschehen ist dabei deutlich zu spüren. Die Kritik ist ein wichtiges funktionales Element des gouvernementalen Regierungssystems: Obwohl sie auf der Mikroebene dem Kritik übenden Subjekt einen möglichen taktischen (Schein-) Sieg verspricht, kann sie auf der Ebene des gesamten Systems jedoch keinen strategischen Gewinn erzielen. Letztlich dient sie nur der permanenten Steigerung der Regierungseffizienz und Verstärkung des Systems. Wollte man an dieser Stelle eine militärische Metapher bemühen, so wäre die Kritik eine Art Kriegspartei, die, je mehr einzelne Schlachten sie gewinnt, den Krieg in strategischer Hinsicht umso eindeutiger verliert. Denn alle ihre Verdienste und Erkenntnisse werden vom Gegner direkt übernommen und instrumentalisiert. Wenn man die neoliberale Gouvernementalität aus dieser Perspektive präzise analysiert, sind die unmittelbaren Ergebnisse einer solchen Instrumentalisierung der Kritik zu erkennen. Die neoliberalen Regierungsstrategien beinhalten eine Reduzierung der staatlichen Interventionen sowohl im ökonomischen Prozess als auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Anstatt direkte Eingriffe vorzunehmen, wird versucht, eine neue „Ökonomie der gesellschaftlichen Verhältnisse“ zu entwickeln, die eine Verflechtung der Verantwortung und Autonomie des Individuums auf verschiedenen Handlungsebenen voraussetzt. So entfaltete sich die neoliberale Gouvernementalität als Produkt der vielseitigen Kritik des Wohlfahrtsstaats der letzten vierzig Jahre: Linke Kritiker enthüllten die Intensivierung der Ordnungsmaßnahmen und staatlicher Kontrolle, die sich unter dem Vorwand einer Verstärkung der staatlichen Fürsorge parallel zu einer Reduzierung der individuellen Autonomie vollzog; die Kritiker aus dem rechten Lager sahen die Gefahr für die Gesellschaftsordnung hingegen in der Steigerung

81 Vor allem im englischsprachigen Raum, der früher und stärker durch die Neoliberalisierung betroffen wurde, entfalteten sich die sogenannten governmentality studies zu einer gesonderten Forschungsrichtung. Mehr dazu siehe z.B. Reichert, Ramón (Hg.): Governmentality Studies, Hamburg: Lit-Verlag 2003.

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der staatlichen Fürsorge, die ihrer Ansicht nach die individuelle Verantwortung der Bürger minderte. Daher mussten die Staatsregierungen diese beiden Formen der Kritik je nach politischer und ökonomischer Konjunktur ständig gegeneinander abwägen, um den Druck der Anforderungen an den Staat von allen Seiten zu reduzieren.82 Die Kritik als Praxis wurde im Rahmen der neoliberalen Gouvernementalität zum wirkungsvollen Instrument politischer und ökonomischer Manipulation sowie der Rationalisierung und Optimierung der Regierungsmechanismen. Dies betrifft nicht nur die Ebene der großen makroökonomischen Entscheidungen der Staatsregierungen oder der transnationalen Konzerne, sondern auch die Handlungsstrategien der kleineren gesellschaftlichen Institutionen und Individuen. Die Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Laufe der Neoliberalisierung stattfindet, macht sowohl das individuelle als auch das kollektive Subjekt der Kritik in erster Linie zum Subjekt des ökonomischen Handelns mit allen daraus entstehenden Folgen. Die Kritik, ähnlich wie Kunst, Wissenschaft und andere Aktivitäten, wird zum Geschäft per se, zum business as usual. Je nach Gegenstand der kritischen Anstrengung wird die Kritik institutionell eingeordnet. Der Kritiker ist nicht nur ein Produzent von Texten, die im ‚Genre‘ der Gesellschafts-, Literatur-, Musik-, Kunst- etc. -kritik gewöhnlich vermarktet werden, sondern auch der Autor nützlicher und entsprechend ihrer praktischen Effizienz verwertbarer kritischer Urteile und Bewertungen.83 Zudem sorgt die viel diskutierte „Ökonomisierung des Lebens“ dafür, dass das vermeintliche (gesellschafts-) kritische Potential bestimmter Arten der Lebensführung einen wirtschaftlichen Wert bekommt. Die Höchstleistung der gouvernementalen Biopolitik besteht darin, dass das Individuum im Rahmen des postindustriellen „kognitiven Kapitalismus“ sein gesamtes geistiges und körperliches Potential auf allen Ebenen als Produktionsmittel einzusetzen hat. Die Trennung von Arbeit und Leben wird damit nicht mehr möglich, da die beiden gleichermaßen wirtschaftlich verwertbar geworden sind. Jeglicher ‚alternativer Lebensstil‘ – was immer dies auch beinhalten mag –, der sich als gesell-

82 Vgl. J. Donzelot/C. Gordon: „Governing Liberal Societies – the Foucault Effect in the English-speaking World“. 83 Mehr hierzu siehe Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK Universitätsverlag 2003.

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schaftskritische Haltung geriert, ist bewusst oder unbewusst für diejenigen, die diesen Lebensstil wählen, ein Selbstpositionierungsspiel, um auf den einschlägigen Sub-Märkten symbolisches Kapital zu akkumulieren. Die vermeintlichen ‚Gesellschaftskritiker‘, die behaupten, eine Kritik der Gesellschaft durch ihren Lebensstil zu treiben – so vor allem Kulturproduzenten und weitere Vertreter der sogenannten „kreativen Klasse“ – sind letzten Endes ideale Objekte gouvernementaler Regierung. Dank dem Streben nach „Selbstverwirklichung“, die sich zum gelungensten Ideologem der neoliberalen Gouvernementalität entfaltete, beuten sich diese autonom handelnden Subjekte freiwillig weitaus effektiver aus, als es jeglicher Regierung je gelingen könnte.84 Im Rahmen der gegenwärtigen Gouvernementalität sind also Individuen nicht nur Objekte, sondern auch Instrumente der Regierung. Der Staat des ‚entwickelten Gouvernementalismus‘ delegiert in einer Art Out-Sourcing seine Regierungsaufgaben an die eigenen Bürger, da sie auf diese Weise für den Staat erheblich billiger und dazu noch wesentlich effektiver geleistet werden können. In dieser Situation, wenn alle gewöhnlichen Aktivitäten der Regierung den nach ihren eigenen ökonomischen oder paraökonomischen Interessen handelnden Individuen überlassen werden, reduziert sich der Aufgabenkreis der staatlichen Regierungsinstitutionen letztendlich auf die Verwaltung des eigenen Seins sowie auf die Bewahrung der eigenen Legitimität mithilfe permanenter Selbst-Glorifizierung.

4.8 G OUVERNEMENTALITÄT – IRDISCHE UND HIMMLISCHE . G IORGIO AGAMBENS A NGELOLOGIE Die Problematik der Selbst-Glorifizierung als der primären Regierungsaktivität im heutigen Europa wird von Giorgio Agamben im Teil II.2 seiner Homo Sacer-Trilogie „Das Reich und die Herrlichkeit. Zur theologischen

84 Vgl. Lorey, Isabell: „Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion: Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen“, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia + Kant 2007, S. 121–136.

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Genealogie von Ökonomie und Regierung“ aufgegriffen.85 In diesem Werk tritt Agamben, ähnlich wie in seinen früheren Homo Sacer-Schriften, in der Nachfolge von Foucaults Genealogie-Ansatz auf und versucht, die theologischen Wurzeln der Gouvernementalität aufzudecken. Die gegenwärtige Dominanz von Ökonomie und Regierung über alle anderen gesellschaftlichen Bereiche hat, so Agamben, ihren Ursprung in der frühchristlichen Theologie. Durch den Versuch, den Monotheismus mit dem Trinitätsdogma zu versöhnen, entsteht die Konzeption der „göttlichen Ökonomie“, die verständlich machen soll, wie Gott die von ihm erschaffene Welt regiert. In dem Aufsatz „Was ist ein Dispositiv?“, in dem die wichtigsten Thesen von „Das Reich und die Herrlichkeit“ kurz zusammengefasst sind, skizziert Agamben die Genese dieser Konzeption in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte, in denen dem griechischen Wort oikonomia in der Theologie eine entscheidende Funktion zukam. Dabei beziehen sich die Theologen auf die Bedeutung des griechischen Wortes oikonomia, das die Verwaltung des Hauses (oikos) und dessen Führung im weiteren Sinne oder, wie Agamben an dieser Stelle anmerkt, „management“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Aristotelische Auffassung der oikonomia, d.h. nicht um ein „epistemisches Paradigma“, sondern um eine Praxis, „eine praktische Tätigkeit, die sich jeweils einem spezifischen Problem oder einer konkreten Situation konfrontiert sieht“.86 Im Kontext der frühchristlichen theologischen Diskussionen über die Trinität erhält dieses klassische antike Verständnis von oikonomia aber eine neue Verwendung: Gott in seinem ewigen, allumfassenden Sein vertraut Christus die ‚Ökonomie‘, d.h. die Verwaltung und die Regierung der Menschengeschichte an. Um die weitgehenden theoretischen Folgen der damit implementierten Nicht-Substantialität von Ökonomie als Verwaltungspraxis aufzuzeigen, bezieht sich Agamben auf das Foucaultsche Konzept vom Dispositiv, welches die Macht als komplexes Zusammenspiel der Kräfteverhältnisse artikuliert, der Macht selbst jedoch keinen substanziellen Charakter zuschreibt. Wie viele andere Begrifflichkeiten Foucaults hat auch das Dispositiv keine

85 Agamben, Giorgio: Das Reich und die Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010. 86 Ders.: Was ist ein Dispositiv?, Berlin: Merve 2008, S. 19.

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eindeutige Definition. In einem 1977 geführten Gespräch äußerte sich Foucault zu diesem Konzept folgendermaßen: „Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.“87

Im Anschluss an diese Auffassung vom Dispositiv definiert Agamben oikonomia als „Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken.“88 So bezeichnet er oikonomia selbst als Dispositiv, „mittels dessen das Dogma der Trinität und die Idee einer providentiellen göttlichen Weltregierung in den christlichen Glauben eingeführt wurden“, was eine fundamentale Trennung von Sein und Handeln, Ontologie und Praxis im christlichen Verständnis Gottes nach sich zieht: „Dem Handeln (der Ökonomie, aber auch der Politik) fehlt jede Begründung im Sein: Dies ist die Schizophrenie, die die theologische Lehre der oikonomia der abendländischen Kultur hinterlassen hat.“89 Diese dem Sein und Handeln zugrunde liegende Spaltung bestimmt die gesamte Problematik des „Dispositivs“, welches für Agamben letzten Endes zum Inbegriff der Macht wird: „Die ‚Dispositive‘, von denen Foucault spricht, bleiben in gewisser Hinsicht diesem theologischen Erbe verbunden und können also auf jenen Bruch zurückgeführt werden, der in Gott Sein und Praxis, seine Natur oder sein Wesen und sein die Welt der Geschöpfe verwaltendes und regierendes Wirken zugleich teilt und artikuliert. Der

87 M. Foucault: Dits et Ecrits: Schriften, Bd. III, S. 392–395, zitiert nach: G. Agamben: Was ist ein Dispositiv?, S. 4. 88 G. Agamben: Was ist ein Dispositiv?, S. 24. 89 Ibid., S. 21.

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Terminus Dispositiv bezeichnet also etwas, in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird.“90

Die „Ontologie der Geschöpfe“ wird von Agamben der „oikonomia der Dispositive“ entgegengesetzt, was, abgesehen von den fraglichen metaphysischen Implikationen dieser Entgegensetzung, auch den ontologischen Status der Dispositive selbst, also der Macht, nicht mehr bestimmen lässt. Das Dispositiv entfaltet sich im Text als „eine Maschine, die Subjektivierungen produziert“ und ähnlich wie bei Foucault heißt es: „nur als solche ist es auch eine Regierungsmaschine“.91 Die Welt Agambens besteht im Grunde aus drei Komponenten – den Lebewesen (Substanzen), Dispositiven und Subjekten. Dabei ist Subjekt etwas, „was aus der Beziehung, sozusagen dem Nachkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.“92 Damit wird bei Agamben wiederum das Foucaultsche Modell sichtbar: das Subjekt als Produkt der Wechselwirkung von Machttechnologien und der Resistenz der biologischen Natur des Menschen. Der Unterschied zu Foucault besteht jedoch darin, dass Agamben das Ende des Gouvernementalisierungs-Prozesses quasi als einen endgültigen Sieg der oikonomia beobachtet, nach dem das „Subjekt“ als früheres zentrales Objekt des Regierungshandelns nun obsolet oder gar überflüssig wird: „Die zeitgenössischen Gesellschaften verhalten sich also wie träge Körper, die von gigantischen Prozessen der Desubjektivierung durchlaufen werden, denen jedoch keine wirkliche Subjektivierung mehr entspricht. Das erklärt den Niedergang der Politik, die Subjekte und wirkliche Identitäten (die Arbeiterbewegung, die Bourgeoisie usw.) voraussetzte, und den Siegeszug der oikonomia, das heißt eines reinen Regierungshandelns, das nichts anderes im Blick hat als die eigene Reproduktion.“93

Das selbstbezogene Regierungshandeln, das sich selbst unendlich reproduziert, braucht nicht mehr „den harmlosen Bürger der postindustriellen Demokratien“ zu regieren, denn dieser regiert sich im Auftrag und im Interesse der oikonomia bestens selbst.

90 Ibid., S. 23–24. 91 Ibid., S. 35. 92 Ibid., S. 27. 93 Ibid., S. 35.

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Das Motiv der Selbstreproduktion des Regierungshandelns und der Selbstbezüglichkeit der Ökonomie ist in der philosophischen Gesellschaftskritik des letzten Jahrzehnts sehr beliebt. Die Tatsache, dass Agamben gleich am Anfang seiner Abhandlung die oikonomia mit dem management gleichsetzt, deutet seine Intention klar an. Durch eine theoretische DeOntologisierung der oikonomia versucht Agamben, die Dominanz des Paradigmas ökonomischen Denkens und Handelns im neoliberalen Abendland philosophisch zu delegitimieren. Dieser Akt der Delegitimierung hat jedoch eine Kehrseite, und zwar eine ungewollte ‚Veredelung‘ der Formel oikonomia=management: Indem Gott Christus die oikonomia, d.h. die Verwaltung und die Regierung der Menschheitsgeschichte anvertraut, wird Christus im Grunde zum Manager der Welt als Unternehmen Gottes. In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage: In welchem Ausmaß spiegelt die Theologie die politischen Gegebenheiten ihrer Zeit wider? Man braucht kein großer Experte der Geschichte des Christentums zu sein, um zu verstehen, inwieweit die frühchristliche Theologie, ähnlich wie jede andere theologische Tradition, ihr jeweilig gegenwärtiges gesellschaftspolitisches System aufarbeitete, um dieses, je nach den politischen Interessen der Kirche, zu legitimieren oder nach Bedarf in Frage zu stellen. Theologische Argumente waren bei der Konzipierung politischer Regierungs- und Verwaltungsmodelle gewiss von einer großen Bedeutung, gleichzeitig aber spiegelte die Theologie selbst von Anfang an die bereits existierenden Regierungs- und Verwaltungspraxen wider. Die Rolle der Theologie als einer Magd der Politik ist dabei mehr als unverkennbar. An dieser Stelle drängt sich die marxistische Versuchung auf, das von Agamben dargestellte Problem der oikonomia im Sinne einer Trennung von Sein und Handeln sowie von Ontologie und Praxis auf einen bestimmten historischen Prozess zurückzuführen, und zwar auf die Entwicklung der Regierungsstrukturen und die damit verbundene Arbeitsteilung zwischen denjenigen, die etwas besitzen, und denjenigen, die ihr Besitztum verwalten. Es sei hier nur auf das historisch naheliegende Beispiel der spätrömischen Latifundien verwiesen. Die zunehmende Arbeitsteilung als charakteristische Tendenz gesellschaftlicher Entwicklung hatte einen steigenden Bedarf an einem differenzierten und klar strukturierten Verwaltungssystem zur Folge. Dieser äußerte sich in den immer komplexer werdenden Verwaltungshierarchien der königlichen Höfe, der Städte, Zünfte etc. und nicht zuletzt der Kirche selbst.

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Die Theologie wird in diesem Prozess zu einem wichtigen Hilfsmittel. Gerade aus dieser Perspektive untersucht Agamben die christliche Angelologie, wie sie in den Schriften des Pseudo-Dionysios Areopagita, vor allem aber bei Thomas von Aquin in der „Summa Theologica“ dargestellt ist. Im Kapitel „Angelologie und Bürokratie“ werden die Engel als Instrumente der göttlichen Regierung der Welt präsentiert, als eine Art Beamte im Dienste Gottes.94 Im christlichen Abendland, so Agamben, funktionierte Angelologie als Paradigma, als ein Vorbild für den Aufbau der ‚irdischen‘ Bürokratie. Die gesamte Konzeption der weltlichen sowie kirchlichen Verwaltungshierarchien war wesentlich durch die vertikale, klar aufgeteilte Machtstruktur der Hierarchie der Engel mit ihren Chören und Rängen beeinflusst. Diese Hierarchie ist ihrerseits eine Darstellung der Aufgaben und deren Rangordnung innerhalb eines Prozesses der Machtausübung, der politischen translatio dei, die für die säkulare sowie kirchliche Macht aus Legitimationsgründen eine große Bedeutung hatte. Ähnlich wie Engel providentielle Bestimmungen im Himmel und auf der Erde erfüllten, sollten auch Beamte und Kirchenfunktionäre den Willen des Königs oder Papstes umsetzen. Die Produktivität solcher Analogien für weitgehende sozialkritische Beobachtungen ist kaum zu bezweifeln. Sie machen das gesamte Unternehmen Agambens nicht nur intellektuell amüsant, sondern helfen auch, die gesellschaftspolitische Geschichte des Abendlandes und vor allem ihre gegenwärtige Entwicklung als eine „ungeheuerliche Parodie“ der theologisch aufgefassten himmlischen Ordnung darzustellen. Das Thema der „ungeheuerlichen Parodie“ erreicht seinen Höhepunkt in der Problematik der Herrlichkeit (gloria). Eine ironische Zuspitzung dieser Problematik bietet Agamben in seinem Artikel „Art, Inactivity, Politics“, in dem er sich mit der Frage befasst, wie das Ende der göttlichen Weltregierung in der christlichen Theologie dargestellt wird: „After the Last Judgment, when the history of the world and its creatures has come to an end and the elect have attained eternal bliss and the damned their eternal punishment, angels will no longer have anything to do. Whereas in hell devils are con-

94 Vgl. G. Agamben: Das Reich und die Herrlichkeit.

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stantly busy punishing the damned, in the kingdom of heaven – as in Europe today – the normal condition is unemployment.“95

Wie können sich aber, fragt Agamben, Theologen das Ende jeglicher göttlichen Aktivität, ein ewiges Nichtstun Gottes vorstellen, wenn ihr Hauptziel eigentlich darin besteht, die Aktivitäten Gottes und der Engel als eine perfekte providentielle Regierung der Welt zu begreifen? Ein vollkommen untätiger, müßiger Gott, der nicht mehr die Welt regiert, ist im Grunde machtlos und eben dies dürfen Theologen keineswegs akzeptieren. Deshalb, so argumentiert Agamben: „In order to avoid the total disappearance of all power, they separate power from its exercise and assert that power does not disappear but is merely no longer exercised and thus assumes the motionless and dazzling form of glory (or doxa in Greek). The angelic hierarchies, which have abandoned all activity of government, remain unchanged and now celebrate the glory of God. The uninterrupted governmental ministry of the angels is now followed by the eternal song of praise that the angels as well as the blessed intone to God. Power now coincides completely with that ceremonial and liturgical display that formerly accompanied government like an enigmatic shadow.“96

Die Herrlichkeit ist also die Form, in der die Macht das Ende eigener Regierungsaktivität überlebt. Durch sie bekommt die göttliche Untätigkeit aus theologischer Sicht einen Sinn. Diese These über den Sinn der Herrlichkeit beansprucht aber ihre Geltung weit über den theologischen Kontext hinaus und wird zu einer Schlüsselaussage über die Funktionsprinzipien der Macht an sich: „If we liken the machinery of power to a machine for producing government, as I have often had occasion to do, then glory is what ensures that in the last resort the machine continues to work. Glory, that is, assumes the position of that inconceivable

95 Agamben, Giorgio: „Art, Inactivity, Politics“, in: Joseph Backstein/Daniel Birnbaum/Sven-Olov Wallenstein (Hg.): Thinking Worlds. The Moscow Conference on Philosophy, Politics, and Art, Berlin: Sternberg Press 2008, S. 197–207, hier S. 197. 96 Ibid., S. 198.

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vacuum that is the inactivity of power; and yet precisely this unspeakable, ungovernable vacuum is what seems to fuel the machinery of power – it is what power needs so badly that it must capture and preserve it at its center at all costs in the form of glory.“97

Das Nichtstun ist der Zustand Gottes vor der Schöpfung der Welt und nach ihrem Ende. Das gilt in gewisser Weise auch für den Menschen: In seinem Wesen ist der Mensch „wholly devoid of activity, because he is a sabbatical animal par excellence“.98 Das Nichtstun des Menschen und Gottes ist für die Macht unerträglich und unstatthaft, da sie in diesem Moment vollkommen unnötig und überflüssig wird. Deshalb setzt die Macht dieses Nichtstun in Form der Herrlichkeit direkt in ihrem Zentrum fest. Sie okkupiert den Platz dieses essentiellen menschlichen und göttlichen Nichtstuns durch die stetige Selbst-Glorifizierung, welche letzten Endes zum Hauptprinzip des Funktionierens der Regierungsmaschine und gleichzeitig zu ihrer Hauptaufgabe wird. Die Anspielungen Agambens auf die gegenwärtige europäische Bürokratie auf allen ihren Ebenen – von der Ebene der Kommunen und Staaten bis zur Europäischen Union – sind für den Leser nicht zu übersehen. Hier erscheinen heutige Regierungsinstitutionen und ihre Verwaltungsstrukturen als Endprodukt des erfolgreichen Gouvernementalisierungs-Prozesses: Nachdem die Regierungsaufgaben von den Individuen selbst erfüllt werden, bleibt den Regierungsinstanzen nur die Eigenverwaltung und SelbstGlorifizierung als eine bloße Aktivität der Machterhaltung übrig. Die Regierungsinstitutionen, verkörpert durch die Bürokratie, simulieren eine Anwesenheit der Macht, die im Grunde nichts anderes ist als ein situatives Zusammenspiel verschiedener Interessenkonstellationen und daraus resultierender unfreiwilliger Handlungen. Die Macht ist ein Rahmen, eine Form ohne Inhalt, ein leerer Thron, um den herum das ganze Gerüst der Institutionen der Macht aufgebaut ist. Die Macht ist ein Signifikat, dessen Signifikant erst im Moment der vermeintlichen ‚Machtausübung‘ entsteht. Die Machtinstitutionen sind für das Konzept der Macht an sich also konstitutiv. Durch ihr Funktionieren produzieren sie nicht nur die eigene

97 Ibid., S. 200. 98 Ibid., S. 202.

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Macht, sondern die Macht per se, d.h. sie erschaffen einen leeren Thron als eine Projektionsfläche, auf welcher je nach Bedarf Gott, der Souverän, das Volk als Souverän, die demokratische Gesellschaft etc. als Subjekte der Macht projiziert werden. Dabei kann die Macht durch zwei unterschiedliche Modi produziert werden: durch das Regieren und durch das Glorifizieren. Sobald die Regierungsaktivität von den Institutionen der Macht an Individuen übergeben wird, werden diese im Prinzip selbst zu Instanzen der Produktion von Macht. „Der harmlose Bürger der postindustriellen Demokratien“, wie er von Agamben bezeichnet wird, scheint nicht mehr ganz so harmlos zu sein. Die alte linke philosophisch-humanistische Tradition – die Individuen als Opfer einer unmenschlichen Maschine der Macht darzustellen – gerät an dieser Stelle in Argumentationsschwierigkeiten, da im gouvernementalen Zeitalter die Individuen stärker als je zuvor aktive Mitgestalter und wesentliche Bestandteile dieser Maschine selbst werden. Als Mikroinstitutionen der Macht müssen die Individuen, unabhängig von ihren eigentlichen Tätigkeitsbereichen, dieselben Aktivitäten wie die traditionellen Machtinstitute betreiben: regieren und glorifizieren. Im Falle des Individuums bedeutet dies das allumfassende Selbstmanagement und die permanente Selbst-Glorifizierung als unabdingbares Element des erfolgreichen Selbstmanagement-Projektes.

4.9 V OM N UTZEN DES N UTZLOSEN Die Frage, was dieser Exkurs in die Philosophiegeschichte mit der institutionellen Problematik der Medienkunst zu tun hat, stellt sich zu Recht. Deshalb erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, die Relevanz eines solchen Exkurses für die weitere Auseinandersetzung mit den institutionsanalytischen und -kritischen Fragen zu erläutern. Die akademische Philosophie funktioniert trotz all ihrer Selbstbezüglichkeit als ein sensibler Barometer der gesellschaftlichen Entwicklungen, was sich nicht nur auf der Ebene ihrer Inhalte, sondern auch in den verwendeten Begriffen und Metaphern deutlich niederschlägt. Die Sache der Philosophen bleibt, trotz des berühmten Aufrufs von Marx, die Welt zu verändern, zunächst die Welt zu beschreiben und zu interpretieren. Zur Veränderung der Welt kommt es erst dann, wenn die Beschreibung und Interpretation zum Ausgangspunkt einer praktischen (Um-) Gestaltung der sozialpoli-

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tischen Wirklichkeit seitens der Machtinhaber werden. Die Wechselwirkungen zwischen den philosophischen Weltinterpretationen und der faktischen Veränderung der Welt sind letzten Endes durchaus dialektisch im Hegelschen Sinne des Wortes. Die Bedeutung der deutschen klassischen Philosophie, vor allem die Staatslehren von Kant und Hegel, für den Aufbau der Verwaltungsstrukturen des preußischen Königsreichs und des modernen Nationalstaats insgesamt war genauso beachtlich wie die Rolle der Philosophen der Aufklärung für die Französische Revolution, von der Wirkung der Lehre von Marx und Engels auf die Geschichte Russlands sowie zahlreicher anderer Länder ganz zu schweigen. Es geht hier jedoch nicht um eine Auflistung von Beispielen, sondern um die ganz einfache Erkenntnis, dass jedes bedeutende gesellschaftspolitische Phänomen nicht nur seine theoretisch-philosophischen Spuren hinterlässt, sondern auch selbst theoretisch-philosophischen Wurzeln hat. Die abstrakt-spekulativen philosophischen Abhandlungen über die Organisation und Verwaltung menschlicher Aktivitäten können deshalb deren ‚Wesen‘ besser ans Licht bringen, als es die umfangreiche Spezialliteratur zum Thema des Organisations- und Verwaltungswesens vermag, die sich gerade mit dem ‚Wesen‘ am wenigsten befasst. Die Reflexion dieser Problematik in philosophischen Abhandlungen verdeutlicht die Tatsache, dass die Entwicklung von Verwaltungsstrukturen eine notwendige Folge der zunehmenden Arbeitsteilung in den Produktionsprozessen war und dass diese Entwicklung mit der Entstehung des modernen Staates verbunden ist. Diese Reflexion zeigt aber auch, warum die rationale hierarchisierte Organisation der Tätigkeit mit einer differenzierten Aufgabenteilung seit der Frühen Neuzeit zu einem grundlegenden Paradigma des Denkens und Handelns der westlichen Gesellschaften geworden ist. Jegliche Form der Tätigkeit muss, um sich als solche überhaupt ausdifferenzieren und überleben zu können, nach dem gleichen Modell beschaffen sein, wie alle anderen gesellschaftlich etablierten, d.h. institutionalisierten Tätigkeitsformen. Sie muss sich in der Gesellschaft den eigenen Platz in vollem Einklang mit deren Funktionsprinzipien erringen. Die Änderung dieser Funktionsprinzipien ist im historischen Wandel der philosophischen Metaphern der Gesellschaftsbeschreibung wohl besser als in den Ereignissen der gesellschaftspolitischen Geschichte selbst zu beobachten. Das Verständnis von Gesellschaft als soma (corpus) bei Platon

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und Aristoteles, oder als „Leib Christi“ im christlichen Mittelalter, wird mit dem Aufkommen der frühneuzeitlichen Konzeption der Weltmaschine (machina mundi) konzeptionell entsprechend mechanisiert. Seit dem 17. Jahrhundert erfährt die sozial fokussierte Körper-Metaphorik ihre Wiederbelebung in der Metapher des „Organismus“, für welche eine funktionale Differenzierung der verschiedenen Organe, d.h. seiner Bestandteile, eine entscheidende Rolle spielt. Die Metapher des „gesellschaftlichen Organismus“ wird in ihrer operationalen Logik mit der Metapher des „gesellschaftlichen Mechanismus“ gleichgesetzt.99 Im 19. und 20. Jahrhundert durchläuft die Bezeichnung gesellschaftliches System in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften eine Karriere von der Metapher zum Begriff, da diese das Mechanizistische mit der notwendigen Renaturalisierung des Sozialen in sich vereinigt. Zudem hat die Metapher des „Systems“ einen universalistischen, holistischen Anspruch, der schließlich bedeutet, dass sich nichts „Menschliches“ per se – in dem Sinne, dass der Mensch seit Aristoteles als zoon politikon, als ein gesellschaftliches Lebewesen verstanden wird – außerhalb des „gesellschaftlichen Systems“ befinden kann. Die moderne Gesellschaft entfaltet sich in der Tat als ein „System“, d.h. als ein komplexes, funktional differenziertes Gebilde, dessen Differenzierung auf der Arbeitsteilung – verstanden als ein biologisches Prinzip – basiert. Je stärker sich die funktional-arbeitsteilige Differenzierung ausprägt, desto unvermeidlicher scheint die Notwendigkeit der homogenen Organisationsformen und Koordinationsprinzipien. Der Prozess der Professionalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Institutionalisierung der zunehmenden funktional-arbeitsteiligen Differenzierung der Gesellschaft.100 Die Professionalisierung unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche bedeutet auch, dass diese nach bestimmten Prinzipien organisiert werden müssen, um mit den anderen Bereichen interagieren zu können. Innerhalb jedes Aktivitätsfeldes bilden sich die Institutionen heraus als Gerüste, als Rahmen,

99

Vgl. Lüdemann, Susanne: „Körper, Organismus“, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 168–182.

100 Vgl. ebd.; sowie Art. „Gesellschaft“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, S. 459–466.

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welche die Umsetzung dieser Organisations- und Funktionsprinzipien gewährleisten und hiermit eine Aktivität in eine professionelle Tätigkeit umwandeln, indem sie diese mit den anderen professionellen Tätigkeiten strukturell konform machen. Weder die Kunst noch die Wissenschaft konnte diesem Schicksal entgehen. Sobald sie sich als Felder professioneller Aktivität ausgrenzen, ist ihre Entwicklung wesentlich durch die institutionell homogenen Organisations- und Funktionsprinzipien auf verschiedenen Ebenen beeinflusst. Die Geschichte der Medienkunst stellt in diesem Zusammenhang lediglich ein kleines Fragment dieser langen Institutionalisierungsgeschichte unterschiedlicher Aktivitätsfelder dar. Und nur wenn sie als ein Bestandteil dieses allgemeinen Prozesses betrachtet wird, können auch die Besonderheiten der Entwicklung von Medienkunst angemessen erklärt und verstanden werden.

Die Triebkräfte der Institutionskritik Kapitel 5

Die wachsende Bedeutung der institutionellen Fragen im Kunstdiskurs ist vor allem eine Folge der Notwendigkeit, die künstlerischen Praktiken der Institutionskritik theoretisch aufzuarbeiten. Die anfänglich rebellischemanzipatorischen Kunstströmungen der 1960er Jahre führten unter anderem zur institutionellen Modernisierung des Kunstbetriebs sowie zur Entstehung neuer Institutionsformen und -mechanismen, die seit den 1970er Jahren im internationalen Kunstgeschehen eine entscheidende Rolle spielen. Die ursprüngliche Befreiung durch die „Kunstrevolution“ endete gewöhnlich mit einer Diktatur der durch diese Revolution hervorgebrachten Einrichtungen. Die Determinierung des gesamten Feldes der künstlerischen Produktion durch den reformierten institutionellen Kontext wurde im Laufe der 1970er und 1980er Jahre immer spürbarer und unvermeidlicher, so dass schließlich kein ‚Außen‘ und kein ‚Außerhalb‘ des institutionellen Betriebs mehr gedacht werden konnte. Die Kunstinstitutionen wurden endgültig als wahre Subjekte der Macht im Kunstfeld rezipiert, welche neue Kraftlinien bildeten und das gesamte Kunstgeschehen strukturierten und regelten. In der Kunstsoziologie wurden diese Prozesse zumeist als Ergebnis grundlegender gesellschaftlicher Transformationen interpretiert: Wie die anderen Sektoren der gesellschaftlichen Produktion in den führenden kapitalistischen Staaten leidet auch die Kunst seit den 1970er Jahren unter systembedingter Überproduktion, d.h. unter dem permanenten Überwiegen des Angebots über die Nachfrage, so dass der Distribution der hergestellten ‚Waren‘ nunmehr eine entscheidende Rolle zukommt.

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Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beinhaltete eine massive Verschiebung des Schwerpunkts gesellschaftlicher Tätigkeit von der Warenproduktion zu ihrer Vermittlung, was sich im Kunstsystem durch die zunehmende Bedeutung der Kunstinstitutionen manifestierte. Denn gerade die Kunstinstitutionen erweisen sich als diejenigen Dienstleister-Vermittler, die eine kommunikative Schnittstelle zwischen Künstler-Produzenten und Publikum-Konsumenten bilden. Seitdem von der Autonomie der Kunst gesprochen wird, ist das Kunstwerk – gewollt oder ungewollt, explizit oder implizit – zwangsläufig auch Ware auf dem Kunstmarkt. Gerade durch die Rezeption der Öffentlichkeit wird das Kunstwerk in seiner Rolle als Markt-Ware vervollständigt, da seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Öffentlichkeit und ihre Meinung die wichtigsten Elemente für die Herausbildung von Marktregulativen geworden waren. Der moderne Künstlertypus, der von dem schweizerischen Kunsthistoriker Oskar Bätschmann als „Ausstellungskünstler“1 bezeichnet wird, arbeitet im Unterschied zum Hofkünstler nicht im direkten Auftrag seiner Patrone, sondern, typologisch gesehen, im indirekten Auftrag des Kunstmarktes, der sich in der vom Publikum-Konsumenten konstituierten Nachfrage manifestiert. Daher ist der Zugang zum Publikum, d.h. die Möglichkeit einer öffentlichen Präsentation seiner Werke, für den „Ausstellungskünstler“ absolut notwendig und unverzichtbar. Die Kunstinstitutionen, seien es die der privaten oder der öffentlichen Hand, die solche Möglichkeiten einer öffentlichen Kunstpräsentation bzw. Kunstrezeption bieten und damit diese auch kontrollieren, werden hiermit automatisch zu den bedeutendsten Akteuren des Kunstmarktes und zu indirekten, gelegentlich zu direkten Auftraggebern, welche die Nachfrage regulieren und zum großen Teil auch generieren. Durch dieses Monopol der Präsentation, d.h. der Distribution, erfüllen die Kunstinstitutionen eine weitere wichtige Funktion. Während die im ursprünglichen Sinne des Wortes ‚handwerkliche‘ Qualität des Kunstwerks sowie die damit implizierte Tradition der Kunstausbildung seit den 1960er Jahren für den öffentlichmedialen und somit auch kommerziellen Erfolg des Künstlers immer unbedeutender wird, entwickeln sich neue Formen und Mechanismen der Bewertung der künstlerischen Produktion. Um das gesamte System des

1

Vgl. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln: DuMont 1997.

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‚künstlerischen Wertes‘ vor einer systemgefährdenden Inflation zu schützen, muss das Feld der für die Bewertung relevanten distributiven Möglichkeiten neu konstruiert bzw. eingegrenzt werden. Der Wert eines Kunstwerks entsteht unter diesen Bedingungen dann, wenn dieses durch die Filter des distributiven Wertungssystems, verkörpert durch die Kunstinstitutionen, durchgelassen wird. Die institutionellen Vertreter, und insbesondere die Kuratoren, spielen dabei die Rolle von ‚Grenzkontrollbeamten‘, die diese Filtermechanismen des Kunstwertungssystems bedienen.2 Außerhalb des institutionellen Betriebs, d.h. außerhalb des Kunstsystems, hat jegliche künstlerische Tätigkeit keine ökonomische und damit auch kaum noch gesellschaftliche Relevanz. Die Rolle der Kunstinstitutionen wird somit nicht nur für die Künstlerkarriere entscheidend, sondern auch für die künstlerische Aktivität an sich. Die Erkenntnis aus diesem so evidenten Sachverhalt kann als die wichtigste Triebkraft der Institutionskritik sowohl in ihrer künstlerisch-praktischen als auch in ihrer kunsttheoretischen Dimension betrachtet werden. Der Gebrauch des Wortes Institution ähnelte im Kunstdiskurs ursprünglich seiner alltagssprachlichen Verwendung im Sinne einer Organisation, d.h. einer administrativen Formation. Die Deutung der Institutionen war in der Entstehungsphase der Institutionskritik zunächst auf die Kunstinstitutionen im engeren Sinne, vor allem auf Museen und Galerien, beschränkt. Diese Auffassung findet sich in den Arbeiten der Pioniere der Institutionskritik wie Michael Asher, Marcel Broodthaers, Daniel Buren und anderen. Insbesondere das Museum wurde als eine ultimative Kunstinstitution, als eine Verkörperung einer definitiven Entscheidungsmacht im Kunstbetrieb wahrgenommen, wie beispielsweise in dem Aufsatz von Daniel Buren „The Function of the Museum“ von 1970 deutlich wird.3 Gewiss spielte das Museum als Institution eine zentrale Rolle bei der Herausbildung des Systems der zeitgenössischen Kunst. Aus dieser Sicht handelte es sich jedoch um das neuartige Museum, das Museum der Modernen oder der Zeitgenös-

2

Damit zusammen hängt die viel besprochene, in den 1980er und vor allem in den 1990er Jahren wachsende Macht der Kuratoren, in der sich dieser strukturelle Wandel manifestiert.

3

Vgl. Graw, Isabelle: „Jenseits der Institutionskritik“, in: Texte zur Kunst, Heft 59 (September 2005), S. 40–53, hier S. 50.

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sischen Kunst, welches sich in einem wesentlichen Aspekt vom klassischen Kunstmuseum unterschied: Die primäre Aufgabe dieses neuen Museums war es, die aktuelle Kunst, d.h. Werke von Künstlern der Gegenwart zu präsentieren und für die Zukunft zu bewahren. Diese Aufgabe führte die Museen in den Bereich ganz anderer Produktionsverhältnisse als im Falle der Vertretung der Kunst bzw. der Künstler früherer historischer Epochen. Die Museen werden für die Künstler-Zeitgenossen die wichtigsten indirekten und gelegentlich direkten Auftraggeber; dementsprechend müssen auch die Kommunikations- und Handlungsstrategien zwischen den Museen und Künstlern neu gedacht werden. Ihre Beziehungen ähneln denen zwischen Business-Partnern, in denen, typologisch gesehen, die Museen die Rolle der Erwerber und die Künstler die Rolle der Warenhersteller und -lieferanten annehmen. Im Unterschied zu den Galerien, die weiterhin grundsätzlich als Vermittler und Zwischenhändler auftreten, sind die Museen in struktureller Hinsicht die ultimativen Käufer der künstlerischen Produktion. Die früheren Primärkäufer der autonomen Kunst, die Privatsammler – auch wenn sie in ihrer Funktion als Museumsratsmitglieder in die Ausstellungs- und Einkaufspolitik der Museen gelegentlich eingreifen – sind nun selbst in ihren Entscheidungen und Kaufstrategien durch eine museale Perspektive per se determiniert. Obwohl die Museen an sich keine Subjekte des ökonomischen Handelns par excellence sind, führen sie eine nach wirtschaftlichen Prinzipien aufgebaute Handlungslogik in das gesamte System der zeitgenössischen Kunst ein. Die eigentliche ideologische Funktion des Museums – Ort des Aufbewahrens ‚wirklich wertvoller‘ Kunst zu sein – wird im Rahmen des Kunstsystems ökonomisiert. Dies prägt entsprechend das Handeln der Museumsmitarbeiter, die in ihrer jeweiligen Funktion als normale Angestellte einer hierarchisch aufgebauten bürokratischen Organisation in vollem Einklang mit der institutionellen Logik agieren. Die damit aufgeworfene Problematik greift der prominente Vertreter der Institutionskritik Hans Haacke sehr präzis in einem Aufsatz von 1974 auf: „In principle, the decisions of museum officials, ideologically highly determined or receptive to deviations from the norm, follow the boundaries set by their employers. These boundaries need not be expressly stated in order to be operative. Frequently, museum officials have internalized the thinking of their superiors to such a degree

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that it becomes natural for them to make the ‚right‘ decision, and a congenial atmosphere reigns between employee and employer.“4

Haacke betrachtet – durchaus repräsentativ für die Institutionskritik generell – die zeitgenössische Kunst als ein Produkt des Zusammenspiels verschiedener gesellschaftspolitischer Faktoren in ihrer vor allem institutionellen Ausprägung, welche auch die vermeintliche ‚Individualität‘ des Künstlers bestimmt: „[...] in order to gain some insight into the forces that elevate certain products to the level of ‚works of art‘ it is helpful – among other investigations – to look into the economic and political underpinnings of the institutions, individuals, and groups who share in the control of cultural power. [...] Artists, as much as their supporters and their enemies, no matter of what ideological coloration, are unwitting partners in the art syndrome, and relate to each other dialectically. They participate jointly in the maintenance and/or development of the ideological make-up of their society. They work within that frame, set the frame, and are being framed.“5

Diese Diagnose kann als ein theoretischer Ausgangspunkt der späteren institutionskritischen Projekte von Hans Haacke sowie seiner ideologischen und methodologischen Nachfolger wie Andrea Fraser betrachtet werden.6 Die Gebundenheit des theoretischen Kunstdiskurses an die Philosophie sowie an andere geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen sorgte weiterhin dafür, dass das Verständnis von Institution mit der Zeit weniger „topologisch“ aufgefasst wurde. Sehr bezeichnend für die konzeptuelle Erweiterung und die wissenssoziologische Prägung des Institutionsbegriffs im Kunstkontext war das Buch „Theorie der Avantgarde“ des deutschen Lite-

4

Haacke, Hans: „All the Art That’s Fit to Show“ (1974), in: John C. Welchman (Hg.): Institutional Critique and After (SoCCAS Symposia, Bd. 2), Zürich: JRP|Ringier 2006, S. 53–56, hier S. 54.

5 6

Ibid., S. 54–55. Da kein Mangel an detaillierten kunsthistorischen Untersuchungen der institutionskritischen Praktiken besteht, wird hier im Weiteren hauptsächlich der begriffshistorische Aspekt dieser Problematik behandelt.

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raturwissenschaftlers Peter Bürger. In diesem Werk bezeichnete er die Kunst als „Institution“ und definierte ihre Merkmale folgendermaßen: „Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken bestimmen“.7 Zur theoretischen Erweiterung des Begriffs „Institution“ innerhalb der Kunstgemeinschaft trug schließlich die breite Rezeption der Werke Michel Foucaults sowie der kritischen soziologischen Ansätze Pierre Bourdieus bei. Im deutschsprachigen Segment des Kunstdiskurses spielte in diesem Prozess auch die Systemtheorie von Niklas Luhmann eine beachtliche Rolle. So verfolgt beispielsweise der deutsche Kunsthistoriker Johannes Meinhardt mithilfe der für die 1990er Jahre charakteristischen systemtheoretischen Sprache den Bedeutungswandel des Institutionsbegriffs von der Bezeichnung des Museums als der „entscheidenden Institution der Kunst“ in den 1960er Jahren zur Inklusion der anderen „Agenten und Instanzen“. Letztere regeln und definieren die Kunst „als ein geschlossenes, ausdifferenziertes System“. Zu diesen „Agenten und Instanzen“ zählen, so Meinhardt, „Museen, Galerien, Auktionshäuser, Privatsammlungen, Großausstellungen, Ateliers, Künstlerhäuser, Wirtschaftsunternehmen, Banken und Versicherungen, Kritikerschaft, Kunstzeitschriften, Informationsdienste, bis hin zur akademischen Kunstgeschichte, die sich immer weniger dem Druck dieses Systems Kunst entziehen konnte und kann.“8 Peter Bürgers Verständnis von Kunst als Institution vertritt auch die amerikanische Künstlerin Andrea Fraser in ihren Aufsätzen. In ihrem berühmten Text „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“ betont sie: „[...] the institution of art is not only ‚institutionalized‘ in organizations like museums and objectified in art objects. It is also internalized, embodied, and performed by people. It is internalized in the competencies, conceptual models, and modes of perception that allow us to produce, write about, and understand art, or simply to

7

Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 29.

8

J. Meinhardt: „Institutionskritik“, S. 128–29. Hervorhebung L. V.

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recognize art as art, whether as artists, critics, curators, art historians, dealers, collectors, or museum visitors.“9

Die „Internalisierung“ der „Institution Kunst“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die institutionelle Logik sich in den Verhaltensweisen der Individuen widerspiegelt und zu einem totalen Denkparadigma innerhalb des Kunstfeldes wird. Die Expansion des institutionellen Denkens und der institutionellen Produktionsverhältnisse in die künstlerische Tätigkeit ist letztlich das Ergebnis jenes Gesellschaftszustandes, den Fraser in Anlehnung an Adorno „totally administered society“ nennt. Aufgrund der Internalisierung des „Institutionellen“ führt jeglicher Versuch, die institutionellen Grenzen zu verlassen, zu ihrer bloßen Erweiterung.10 Diese Aussagen Frasers spiegeln zum einen nüchtern und illusionslos den heutigen status quo im Lager der zeitgenössischen „verwalteten“ Kunst. Zum anderen sind ihre Erkenntnisse, diskursanalytisch gesehen, durchaus repräsentativ für die aktuelle Verarbeitung der institutionellen Problematik im Kunstdiskurs. Von einem operationalen terminus technicus für die Bezeichnung bestimmter Strukturen gesellschaftlicher Organisation künstlerischer Tätigkeit entwickelt sich der Begriff der „Institution“ und des „Institutionellen“ in Richtung einer konzeptionellen Diffusität und Allumfassendheit, die diesen Begriff letzten Endes vollkommen substanzlos und somit auch theoretisch redundant macht. Durch diese extreme konzeptuelle Ausdehnung erfährt der Institutionsbegriff im Kunstdiskurs heute im Grunde das gleiche Schicksal, wie dies drei Jahrzehnte zuvor in der Philosophie und Soziologie geschehen ist. Symptomatisch für diesen Prozess ist auch die Involvierung in die theoretischen Erläuterungen der institutionellen Problematik solcher Referenzfiguren wie des bedeutenden analytischen Philosophen John R. Searle. So wurde sein 2005 im Journal of Institutional Economics veröffentlichter Artikel „What is an Institution?“ von den Herausgebern des berühmten Sammelbandes „Institutional Critique and After“ ausgewählt, um einen zentralen theoretischen Beitrag für die gesamte Publikation zu leisten.

9

Fraser, Andrea: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, in: John C. Welchman (Hg.): Institutional Critique and After (SoCCAS Symposia, Bd. 2), Zürich: JRP|Ringier 2006, S. 123–136, hier S. 130.

10 Vgl. ebd., S. 131.

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Aus verständlichen und nicht zuletzt aus der institutionellen Logik selbst resultierenden Gründen sollte der Aufsatz von Searle dabei der gesamten Publikation eine Art intellektuelle philosophische ‚Veredelung‘ verleihen. Searles Analyse der institutionellen Problematik erfolgt im herkömmlichen theoretischen Rahmen der analytischen Philosophie und lässt sich auf eine grundsätzliche Vorstellung von „language as the fundamental social institution“11 und Aussagen wie „instead of presupposing language and analysing institutions, we have to analyse the role of the language in the constitution of institutions“ und ähnliches reduzieren. Die philosophische Aufklärung der Tatsache, dass die soziale Wirklichkeit konstruiert ist oder dass „epistemically objective institutional reality of money, government, property, and so on, [...] is constituted by subjective feelings and attitudes and, thus, has a subjective ontology“, ist vielleicht im Kontext einer Institutional Economics-Konferenz notwendig, wirkt jedoch als theoretischpropädeutische Maßnahme im Rahmen einer Publikation zur Institutionskritik, für die solche Thesen grundlegend sind, etwas redundant. Searles Auffassung der Institution ähnelt im Prinzip ihrer sozialwissenschaftlichen Auslegung als einer Gesamtheit habitualisierter Formen des Handelns und sozialer Interaktion, deren Existenz die Gesellschaft sichert. Den Hauptakzent legt Searle jedoch auf die entscheidende Rolle der Sprache im Prozess der Herausbildung solcher Formen. Dieser Institutionsbegriff scheint indes zu allgemein und zu weit vom eigentlichen Problemkreis der Institutionskritik entfernt zu sein, um zu einem angemessenen Bezugspunkt und nicht nur zu einem theoretischen Dekor im institutionskritischen Diskurs zu werden. Ein solches Verständnis führt im Kunstdiskurs letztlich zu einer Spaltung des Institutionsbegriffes in Institutionen im philosophischen Sinne – als Bezeichnung jeglicher gesellschaftlicher Festlegungen – und in Institutionen im alltagssprachlichen Sinne – als konkrete Organisations- und Verwaltungsstrukturen im Kunstbetrieb. Die Institutionskritik als solche bleibt sinnvoll, wenn sie an dieser zweiten Auffassung und damit auch an ihrem eigentlichen Themenkreis – am Problem der Machtverhältnisse im Kunstsystem – festhält.

11 Searle, John R.: „What is an Institution?“, in: John C. Welchman (Hg.): Institutional Critique and After (SoCCAS Symposia, Bd. 2), Zürich: JRP|Ringier 2006, S. 21–51, hier S. 36.

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Wenn „What is an Institution?“ einen operationalen Wert für die institutionskritischen Arbeiten bieten kann, dann besteht dieser in Searles Analyse der Machtaspekte institutioneller Zusammenhänge: „The essential role of human institutions and the purpose of having institutions is not to constrain people as such but, rather, to create new sorts of power relationships. Human institutions are, above all, enabling, because they create power, but it is a special kind of power. It is the power that is marked by such terms as: rights, duties, obligations, authorizations, permissions, empowerments, requirements, and certifications. I call all of these deontic powers.“12

Diese „deontische Macht“ der Institutionen, sei es im Hinblick auf Institutionen im ‚hohen‘ philosophischen oder im alltagssprachlichen Sinne, ist eben das, was die Individuen zu unbewussten Institutionsagenten macht, die sich freiwillig so verhalten, als ob sie im direkten Auftrag dieser Institutionen handeln würden. Es ist gerade das, was Andrea Fraser „the institution inside of us“13 nennt. Im Kontext der Gouvernementalitätslehre würde man sagen, dass die Herausbildung von institutionskonformen individuellen Denkweisen und Zielsetzungen, also von „institutions inside of us“, das primäre Ziel der gouvernementalen Regierung darstellt. Im Hinblick auf die Frage, in welcher Form sich diese internalisierten „institutions inside of us“ in der sozialen, d.h. intersubjektiven ‚Außenwelt‘ externalisieren, gilt es zu beachten, dass die gouvernementale Regierung selbst die Kunst ist, „die Macht in der Form der Ökonomie auszuüben“.14

12 Ibid., S. 34. 13 A. Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, S. 130–131. 14 Foucault: „Die Gouvernementalität“, S. 50.

Institutionalismen und Neo-Institutionalismen in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft Kapitel 6

Ähnlich wie Institution gehören auch Institutionalismus und NeoInstitutionalismus zu den Begriffen, deren Bedeutung sich je nach dem theoretisch-disziplinären Kontext stark unterscheidet. Eine relative terminologische Autonomie und Selbstgenügsamkeit unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen sorgen dafür, dass ihre konzeptuellen Apparate und ihr Vokabular ohne besondere Rücksicht auf die terminologischen und konzeptionellen Traditionen anderer Wissenschaften entwickelt werden, was die gepriesenen interdisziplinären Anstrengungen häufig in eine intellektuelle Sackgasse führt. Ohne eine detaillierte komparatistische Untersuchung leisten zu wollen, soll hier, um inhaltliche Konfusionen zu vermeiden, versucht werden, die wichtigsten Interpretationen der Begriffe Institutionalismus und NeoInstitutionalismus in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft darzustellen sowie aufzuzeigen, welche Differenzierungen diese Interpretationen später im Kunstdiskurs finden. Unter Institutionalismus wird in der Wirtschaftswissenschaft zunächst ein Ansatz verstanden, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA vor allem von dem Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Thorstein Veblen

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entwickelt wurde.1 Im Kontext von institutional economics erweiterte Veblen das gewöhnliche Untersuchungsfeld der ökonomischen Theorie durch die Berücksichtigung außerökonomischer Faktoren. Die Institutionalisten analysierten die Wechselwirkungen von Wirtschaft und gesellschaftlichen Institutionen, wobei Institutionen sehr breit als sozial und kulturell geprägte Verhaltensnormen und Traditionen aufgefasst wurden. Im Unterschied zur Ausgangsposition der klassischen politischen Ökonomie, wonach die Interessen der Individuen die Interessen der Gesellschaft bestimmen, gehen die Institutionalisten von der These aus, dass Ziele und Präferenzen der Individuen a priori durch die Gesellschaft determiniert sind. Das Individuum verhält sich also nicht als ein imaginärer, durchaus rationaler homo oeconomicus, der sein Handeln ausschließlich nach den Prinzipien wirtschaftlicher Optimierung gestaltet, sondern als ein Produkt seiner sozialen Umgebung mit allen entsprechenden Normen, Werten und Traditionen. Der Begriff des Neo-Institutionalismus wird im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext in Bezug auf die sogenannte Neue Institutionenökonomik (new institutional economics) verwendet, die in ihren theoretischen Grundannahmen eher zur neoklassischen Richtung der gegenwärtigen Wirtschaftslehre gehört und vom ‚alten‘ ökonomischen Institutionalismus zu unterscheiden ist. Im Gegensatz zur neoklassischen Theorie führt der Neo-Institutionalismus mit Blick auf das Verhalten der ökonomischen Subjekte jedoch Einschränkungen ein. Diese Einschränkungen sind durch die institutionelle Struktur der Gesellschaft verursacht und begrenzen das Spektrum individueller Entscheidungen. Das 1937 erschienene Buch „The Nature of the Firm“ von Ronald Coase wird in der Geschichte der ökonomischen Theorie als Beginn der Neuen Institutionenökonomik angesehen. Der Begriff Neue Institutionenökonomik selbst wurde erst 1975 von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Oliver Williamson in die wissenschaftliche Terminologie eingeführt.2

1

Als weitere Begründer der institutional economics werden auch John Rogers Commons und Wesley Clair Mitchell genannt, vgl. Hodgson, Geoffrey M.: The Evolution of Institutional Economics. Agency, Structure and Darwinism in American Institutionalism, London/New York: Routledge 2004.

2

Vgl. Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G.: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen: Mohr Siebeck 2003.

I NSTITUTIONALISMEN UND NEO -I NSTITUTIONALISMEN | 125

Die Vertreter der Neuen Institutionenökonomik unterscheiden grundsätzlich zwischen Institutionen und Organisationen. Institutionen sind danach gewissermaßen die Spielregeln, die aus formalen Regeln und informellen sozialen Normen bestehen, welche das individuelle Verhalten steuern sowie soziale Interaktionen strukturieren. Dadurch entstandene Interaktionsfelder werden in der Literatur zur Neuen Institutionenökonomik als institutional frameworks bezeichnet. Organisationen sind hingegen Gruppen von Individuen sowie administrative Einrichtungen, welche die kollektiven Handlungen der Individuen koordinieren, z.B. Firmen, Universitäten, Vereine etc.3 Die Repräsentanten des ökonomischen Neo-Institutionalismus betonen die Bedeutung der Institutionen für ökonomische Prozesse (institutions matter-Prinzip) und versuchen, Institutionen mithilfe traditioneller Instrumente der ökonomischen Theorie zu analysieren. In der Soziologie und Politikwissenschaft finden sich ganz unterschiedliche Varianten und Konzeptionen des Neo-Institutionalismus, die jedoch durch eine gemeinsame sozialkonstruktivistische Grundannahme gekennzeichnet sind. Der soziale bzw. politische Akteur wird nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern als Produkt einer sozialen Konstruktion betrachtet. Der Institutionsbegriff wird tendenziell sehr breit definiert: von Institution als Regelsystem, das eine bestimmte Ordnung sichert, bis hin zu der Auffassung von Institution als einer Gesamtheit kognitiver Regeln des menschlichen Handelns generell. In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur werden je nach theoretischen Prämissen grundsätzlich vier Typen von neo-institutionalistischen Ansätzen unterschieden. Der sogenannte normative Institutionalismus geht davon aus, dass Normen und formelle Regeln der Institutionen das Handeln der Individuen determinieren, die innerhalb dieser Institutionen agieren. Dieser Ansatz wird dem Rational-Choice-Institutionalism gegenübergestellt: Während für diesen individuelle Handlungen durch rationales Kalkül zur Maximierung des vermeintlichen Eigengewinns verursacht sind, ist für den normativen Institutionalismus das individuelle Handeln durch institutionelle Normen bedingt und eingeschränkt. Das Effizienzkriterium hat für

3

Vgl. North, Douglass C.: Understanding the Process of Institutional Change, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2005.

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die Vertreter des normativen Institutionalismus nur einen begrenzten Einfluss auf die Ausgestaltung institutioneller Strukturen.4 Der Rational-Choice-Institutionalism (RCI) spiegelt in seinen Grundzügen die Rational-Choice-Theorie wider und betrachtet Individuen in erster Linie als rationale Egoisten. Im Unterschied zur Rational-ChoiceTheorie akzentuiert aber der RCI die Rolle der Institutionen im Prozess der Realisierung individueller Interessen. Institutionen beeinflussen demzufolge Handlungs- und Entscheidungsstrategien von Individuen, ohne ihre Zielsetzungen und Präferenzen zu verändern. Der RCI unterscheidet dabei wahre und vorgegebene Präferenzen. Institutionen spielen im Kontext des RCI eine relativ ambivalente Rolle: Zum einen schränken sie den Entscheidungsspielraum der Individuen beachtlich ein („bounded rationality“), zum anderen aber können die Individuen ihre Ziele am besten durch die Nutzung von Institutionen erreichen. Institutionen sind in diesem Zusammenhang als Systeme von Regeln und Verhaltensweisen zu verstehen, durch welche Individuen ihren Gewinn zu maximieren versuchen. Die Form und Struktur von Institutionen sind das kumulative Ergebnis individueller Entscheidungen.5 Der historische Institutionalismus setzt seinen Schwerpunkt auf die Untersuchung der historischen Entwicklung verschiedener Institutionen, deren Struktur und Politik im Wesentlichen durch eben diese Entwicklungsgeschichte zu erklären ist. Institutionen manifestieren sich in Form unterschiedlicher formeller, bürokratischer Organisationen bis hin zu bestimmten ideologischen Formationen bzw. kulturellen Routinen und Traditionen. Als Vertreter dieses Ansatzes werden so bedeutende Historiker wie Karl Polanyi, Perry Andersen und andere angesehen.6 Schließlich wurde in den akademischen politikwissenschaftlichen Untersuchungen der Begriff constructivist institutionalism oder discursive institutionalism eingeführt, um einen Forschungsansatz zu bezeichnen, der

4

Vgl. Preisendörfer, Peter: Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien, Problemstellungen, Wiesbaden: VS-Verlag 2005.

5 6

Vgl. ebd. Pierson, Paul/Skocpol, Theda: „Historical Institutionalism in Contemporary Political Science“, in: Ira Katznelson/Helen V. Milner (Hg): Political Science. State of the Discipline, New York: W.W. Norton Press 2002, S. 693–721.

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die Rolle der Diskurse und Ideologien in den institutionellen Wandelprozessen analysieren sollte.7 In der Soziologie erfuhr der neo-institutionalistische Ansatz seine Anwendung vor allem in der Organisationsanalyse. Im Unterschied zu den Mainstream-Forschungen der Organisationssoziologie werden die einzelnen Organisationen im Rahmen des Neo-Institutionalismus grundsätzlich als Produkt ihres Entstehungs- und Entwicklungskontextes betrachtet. Der soziologische Neo-Institutionalismus wurde in den 1980er und den 1990er Jahren vor allem in den Arbeiten der amerikanischen Soziologen Walter W. Powell und Paul Joseph DiMaggio entwickelt, die das Konzept von institutional isomorphism in die Organisationstheorie einführten. Dieser bezeichnet eine Angleichung von Strukturen und Prozessen in den verschiedenen Organisationen, die infolge einer Imitation oder einer unabhängigen Entwicklung unter den gleichen Bedingungen zustande kommt. Die Isomorphie wird als zentraler Ausdruck des Strebens von Organisationen nach Legitimität betrachtet. Organisationen sind stets auf Unterstützung und Anerkennung von außen angewiesen, da nur so ein Zufluss von Ressourcen – angefangen von Finanzen bis hin zu Arbeitskräften – gewährleistet werden kann. Sie müssen sich deshalb so positionieren bzw. präsentieren, dass sie in den Augen der ‚Außenwelt‘ Legitimität gewinnen. Die Herstellung und Aufrechterhaltung von Legitimität wird zu einer Frage ihres Überlebens und erfolgreichen Funktionierens als Organisationen. Da Effizienz in der gegenwärtigen Gesellschaft als ein ultimatives legitimitätsstiftendes Argument betrachtet wird, nehmen Organisationen – seien es private Stiftungen, Nonprofit-Vereine oder sogar staatliche Regierungsstrukturen – die Verwaltungsformen und -praktiken der umgebenden Businesswelt an. Zugleich machen sie sich die Sprache und Argumentationslogik der Businessstrukturen zu eigen. Das heißt, dass bestimmte politische Positionen, Managementmethoden, technische Innovationen etc. deshalb von Organisationen übernommen (oder zumindest vorgeblich beansprucht) werden, weil deren Implementierung von der Umwelt erwartet und gefordert wird. Powell und DiMaggio differenzieren drei Hauptmechanismen zur Herstellung der Isomorphie: Zwang („coercive isomorphism“, z.B. durch staat-

7

Hay, Colin: „Constructivist Institutionalism“, in: Sarah A. Binder/R. A. W. Rhodes/Bert A. Rockman (Hg.): The Oxford Handbook of Political Institutions, Oxford: Oxford University Press 2006, S. 56–74.

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liche Regelungen), Imitation („mimetic isomorphism“, durch Orientierung auf die Trendsetter-Organisationen) und normativer Druck („normative isomorphism“, „copy the best“-Prinzip durch Studienprogramme etc.). 8 Dank der Einführung einer mikrosoziologischen Perspektive in die Organisationsforschung dementiert der Neo-Institutionalismus im Wesentlichen die noch seit den Bürokratie-Studien von Max Weber in der Soziologie herrschende ‚klassische‘ Darstellung von Organisationen als durchaus rationale „stahlharte Gehäuse“. Für mikrosoziologische Analysen von Interaktionen zwischen Individuen innerhalb von Institutionen wird von den ‚Neo-Institutionalisten‘ häufig eine ethnographische Methodologie verwendet, die unter anderem eine Analyse der Verhandlungen benötigt, in denen Akteure die Bedeutung ihrer Interaktionen bestimmen. Dabei wird jedoch vorausgesetzt, dass die Makroebene der Institutionen und die Mikroebene der Akteure eng miteinander verknüpft sind. Institutionen werden generell als objektive und dauerhafte Strukturen verstanden, welche die Denk- und Glaubenssysteme der Individuen produzieren und dadurch dem individuellen Handeln Bedeutung verleihen sowie das Handeln selbst determinieren. In diesem Zusammenhang ist im soziologischen Neo-Institutionalismus auch die Rede von Institutionslogik (institutional logic) als „supraorganizational patterns of activity by which individuals and organizations produce and reproduce their material subsistence and organize time and space“.9

8

Vgl. P. Preisendörfer: Organisationssoziologie; vgl. auch DiMaggio, Paul J./Powell, Walter W. (Hg.): „The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“, in: P. DiMaggio/W. Powell (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis, S. 63–82.

9

Vgl. ebenda; vgl. auch Friedland, Roger/Alford, Robert R.: „Bringing Society Back in Symbols, Practices, and Institutional Contradictions“, in: P. DiMaggio/W. Powell (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis, S. 232–266, hier S. 243.

„Ehernes Gesetz der Oligarchie“ nach Robert Michels Kapitel 7

Die Erforschung der immanenten Funktionsprinzipien der Organisationen unter Berücksichtigung der mikrosoziologischen Perspektive einzelner Akteure ist freilich keine Erfindung des Neo-Institutionalismus. Aus diesem Ansatz resultierte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein solch wirkungsmächtiges Werk wie die 1911 erschienene grundlegende Untersuchung des deutsch-italienischen Soziologen Robert Michels, eines der Gründungsväter der modernen Politikwissenschaft und Parteiforschung, „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“. In dieser Studie, in der Michels die Entstehung und Verselbständigung der innerparteilichen Machtstrukturen am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland analysierte, formulierte er sein berühmtes „ehernes Gesetz der Oligarchie“, das als eine allgemeingültige Entwicklungsmatrix jeglicher sozialen Organisation betrachtet werden kann. In einer historischen Perspektive verfolgt Michels, wie sich innerhalb der deutschen sozialdemokratischen Partei eine bürokratische Oligarchie herausbildete. Die steigende Zahl der Parteimitglieder führte zur Ausdifferenzierung einer neuen Klasse professioneller Funktionäre in der Parteiführung, deren Aktivitäten letzten Endes mehr dem Schutz des so entstandenen bürokratischen Apparates dienten als den eigentlichen politischen Zielen und Programmen der Partei selbst. Die Klasse der Parteiführer entwickelte sich zu einer konsolidierten Elite, wobei die Verweise auf die ursprüngli-

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chen demokratischen Zielsetzungen der Partei allmählich zur gegenstandslosen rhetorischen Dekoration wurden. Nach Michels’ Beobachtungen ließen sich die bestehenden Praktiken der Selbsterhaltung der Elite allein durch den individuellen Opportunismus der Parteiführer nicht erklären. Eine wesentlich größere Rolle spielten in diesem Prozess unpersönliche Mechanismen, welche der Funktionsweise der Organisation selbst immanent waren. Gerade diese Mechanismen drängten die Parteiführung zu Entscheidungen, die eher der Sicherung des Apparats als der Verfolgung der Zwecke dienten, für die dieser Apparat ursprünglich geschaffen worden war.1 Michels selbst erklärte dieses Phänomen folgendermaßen: „Es ist ein unabänderliches Sozialgesetz, dass in jedem durch Arbeitsteilung entstandenen Organ der Gesamtheit, sobald es sich konsolidiert hat, ein Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und für sich selbst entsteht.“2

Innerhalb jeder Organisation, so Michels, entstehe zwangsläufig ihre eigene Oligarchie, ungeachtet dessen, ob diese Organisation sich als eine demokratische oder autokratische verstehe. Die Tendenz zur Herausbildung einer Oligarchie ist für ihn in die Natur der sozialen Organisation selbst eingeschrieben. Besonders deutlich prägt sich diese Tendenz im Falle von Massenorganisationen aus, die aufgrund ihrer Mitgliederzahl nicht nur auf eine Aufgabenteilung generell, sondern auch auf die Ausdifferenzierung einer speziellen Aufgabenkoordination innerhalb der Organisation angewiesen sind. Die Notwendigkeit einer internen Koordination führt schließlich zur Entstehung und Verselbständigung des Organisationsapparates. Eine ‚wahre‘ Demokratie im Sinne direkter Selbstregierung innerhalb einer komplexen Organisation, d.h. innerhalb einer größeren Gemeinschaft von Individuen, hält Michels deshalb für unmöglich. Die Verselbständigung des Organisationsapparates sowie seine anschließende Bürokratisierung und

1

Vgl. Bonazzi, Guiseppe: Geschichte des organisatorischen Denkens, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 205–206.

2

Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart: Kroner 1970, S. 366, zitiert nach: G. Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, S. 206.

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DER

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Selbstgenügsamkeit bilden daher das unweigerliche Entwicklungsszenario einer jeden gesellschaftlichen Organisation. Michels’ Thesen wurden in der späteren Organisationsforschung sehr ambivalent diskutiert. Obwohl er zweifellos als Klassiker der Organisationsanalyse gilt, werden seine Schlussfolgerungen vielfach als zu pauschal und vor allem als zu „pessimistisch“ betrachtet – eine in der Soziologie oder Politikwissenschaft potentiell karrieregefährdende Diagnose. Interessant ist in diesem Zusammenhang der theoretische Werdegang des USamerikanischen Soziologen Philip Selznick. In seinen früheren Arbeiten zur Organisationssoziologie, wie „An Approach to a Theory of Bureaucracy“, „Foundations of the Theory of Organization“ und „TVA and the Grass Roots: A Study in the Sociology of Formal Organization“, ist ein starker Einfluss von Michels’ Theorie zu erkennen. Die von Michels analysierten Entwicklungstendenzen der Organisationen versteht Selznick als Preis, den Organisationen zahlen müssen, um überleben zu können. Lange vor der Konzeption von social isomorphism postulierte Selznick, dass das Überleben für Organisationen nur durch ihre Anpassung an die sie umgebende Umwelt möglich sei. Der italienische Soziologe und Soziologiehistoriker Giuseppe Bonazzi schreibt in seiner „Geschichte des organisatorischen Denkens“: „Selznick geht von der Annahme aus, dass die aus der Tyrannei der Mittel resultierende allmähliche Entfernung von den ursprünglichen Zielen [der Organisation] eine universale Tendenz ist und nur teilweise abgewendet werden kann.“3 In seinen früheren Schriften analysiert Selznick die Grundbedürfnisse der Organisationen selbst und sieht in diesen Grundbedürfnissen einen Hauptfaktor ihrer Entwicklung. Er hält an dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ fest, weshalb Alvin Gouldner ihm in seinem 1955 publizierten Artikel „Metaphysical Pathos and the Theory of Bureaucracy“ ein „pessimistisches metaphysisches Pathos“ vorwirft.4 Bereits in seinem nächsten Buch „Leadership in Administration“ von 1957 führt Selznick das Konzept der kreativen Führung in den Organisationen ein, womit er in seine Theorie eine in die amerikanische Soziologiekonzeption passende ‚optimistische Note‘ einbringt.

3

Vgl. ebd.

4

Vgl. ebd.

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Wie der junge Selznick zu Recht behauptete, musste auch die akademische Organisationsforschung, um als Institution zu überleben, sich an die Umwelt der positivistisch orientierten und optimistisch einen Gewinn versprechenden soziologischen Subdisziplinen anpassen. Vielleicht gerade deswegen kamen die treffendsten und brisantesten Analysen der Organisationspraxis nicht aus der nach maximaler Objektivität strebenden und daher auch mit minimaler Aussagekraft ausgestatteten akademischen Organisationsforschung, sondern aus den humoristisch-publizistischen Beschreibungen und Beobachtungen des bürokratischen Alltags. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die berühmten „Parkinsonschen Gesetze“5 oder an das sogenannte „Peter-Prinzip“6 erinnert. In Anspielung an das „eherne Gesetz der Oligarchie“ bietet der amerikanische Publizist Jonathan Schwarz in seinem Blog „A Tiny Revolution“ eine Update-Version von Michels’ Gesetz – „The Iron Law of Institutions“: „The Iron Law of Institutions is: the people who control institutions care first and foremost about their power within the institution rather than the power of the institution itself. Thus, they would rather the institution ‚fail‘ while they remain in power

5

Vgl. die Beobachtungen des britischen Historikers und Publizisten Cyril Northcote Parkinson über die Funktionsprinzipien der öffentlichen Verwaltung, die er hauptsächlich während seiner Arbeitserfahrungen am British Civil Office sammelte und 1957 in seinem Buch „Parkinson’s Law“ humorvoll darstellte. Zu den bekanntesten „Parkinsonschen Gesetzen“ zählen: „Work expands so as to fill the time available for its completion“, „An official wants to multiply subordinates, not rivals“, „Officials make work for each other“ oder „The matters most debated in a deliberative body tend to be the minor ones where everybody understands the issues“ und andere, vgl. Parkinson, Cyril Northcote: Parkinsons Gesetz und andere Studien über die Verwaltung, München: Econ Taschenbücher 2001.

6

Das „Peter-Prinzip“ wurde von den kanadisch-amerikanischen Autoren Laurence J. Peter und Raymond Hull in ihrem Buch „The Peter Principle“ folgendermaßen formuliert: „In a hierarchy every employee tends to rise to his level of incompetence“, vgl. Peter, Laurence J./Hull, Raymond: The Peter Principle. Why Things Always Go Wrong, New York: William Morrow and Company 1969.

„E HERNES G ESETZ

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within the institution than for the institution to ‚succeed‘ if that requires them to lose power within the institution. This is true for all human institutions, from elementary schools up to the United States of America. If history shows anything, it’s that this cannot be changed. What can be done, sometimes, is to force the people running institutions to align their own interests with those of the institution itself and its members.“7

Dieses common sense-Fazit aus den alltäglichen Begegnungen mit den institutionellen Praxen fasst im Großen und Ganzen das zusammen, was der im Kunstdiskurs betriebene Neue Institutionalismus so hartnäckig, vielleicht aber auch ganz bewusst, zu ignorieren versucht.

7

http://www.tinyrevolution.com/mt/archives/001705.html [letzter Zugriff: 15.04. 2017].

Der Neue Institutionalismus im Kunstkontext. Die Taktiken des ewigen „Stellungskrieges“ Kapitel 8

Wie die Beherrschten sich einer bürokratischen Herrschaft normalerweise nur erwehren können durch Schaffung einer eigenen, ebenso der Bürokratisierung ausgesetzten Gegenorganisation, so ist auch der bürokratische Apparat selbst durch zwingende Interessen materieller und rein sachlicher, also: ideeller Art an sein eigenes Weiterfunktionieren gebunden: Ohne ihn würde in einer Gesellschaft mit Trennung des Beamten, Angestellten, Arbeiters, von den Verwaltungsmitteln und Unentbehrlichkeit der Disziplin und Geschultheit die moderne Existenzmöglichkeit für alle außer den noch im Besitz der Versorgungsmittel Befindlichen (den Bauern) aufhören. MAX WEBER, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

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8.1 V ON , GUTEN ‘ UND , BÖSEN ‘ K UNSTINSTITUTIONEN . M ACHTÜBERNAHME DURCH KURATORISCHE I NTERVENTIONEN In der Einführung zum Sammelband „New Institutionalism“, einer der ersten Publikationen zu diesem Thema im Kunstkontext, merkt der Herausgeber Jonas Ekeberg zur Auslegung des zentralen Begriffs des Bandes an: „Finally: ‚Institutionalism‘ is a term used in many fields of society, from economics and sociology to religion. ‚New Institutionalism‘ is specifically used in the field of social science, and denotes a new belief in the importance of institutions, combined with a broad definition of what constitutes an institution and a focus on institutional value. For some reason, neither ‚institutionalism‘ nor ‚New Institutionalism‘ is used in contemporary art theory. The use of these terms in this context is therefore purely speculative.“1

„Purely speculative“ ist eine sehr diskrete Bezeichnung für einen im systemtheoretischen Sinne äußerst ‚autonomen‘ Umgang mit der schon kurz geschilderten sozialwissenschaftlichen terminologischen Tradition. Ekeberg gibt dem Begriff des Neuen Institutionalismus eine praktischorientierte Interpretation, die für dessen Verwendung im Kunstdiskurs generell kennzeichnend ist. Der Neue Institutionalismus bedeutet im Kunstkontext nicht einen bestimmten theoretischen Forschungsansatz, sondern eher einen praktischen Umgang mit den Institutionen. Die ‚autonome‘ Begriffsverwendung beinhaltet aber auch zumindest die Berücksichtigung der terminologischen Tradition des eigenen Tätigkeitsfelds. Im Falle des künstlerischen und kuratorischen Neuen Institutionalismus werden, in Fortsetzung der institutionskritischen Tradition, unter Institutionen in erster Linie Kunstinstitutionen verstanden – tendenziell im engeren Sinne konkreter Organisationen als Koordinations- und Verwaltungsinstanzen künstlerischer Produktion. In der sozialökonomischen Realität werden die Kunstinstitutionen heute als eine unvermeidliche Form der Organisation künstlerischer Tätigkeit angesehen. Deshalb besteht das Haupt-

1

Ekeberg, Joans (Hg.): New Institutionalism, Verksted#1, Oslo: Office of Contemporary Art 2003, S. 15.

D ER NEUE I NSTITUTIONALISMUS IM K UNSTKONTEXT | 137

ziel der neo-institutionalistischen Anstrengungen darin, das institutionelle Umfeld mithilfe kuratorischer und sonstiger Interventionen in die Institutionspolitik zu ‚verbessern‘. Das ‚Verbesserungsprogramm‘ beinhaltet mehrere Schwerpunkte, wie z.B. die Arbeitsverhältnisse in den Kunstinstitutionen zu „demokratisieren“, neue „kreative Kunstinstitutionen“ zu gründen sowie „Partizipationsmöglichkeiten für die Künstler und das Publikum zu öffnen“ usw. Die traditionellen Kunstinstitutionen, so Ekeberg, sind durch rigide antidemokratische Hierarchien mit ihrer „top-down attitude of curators and directors“ und „links to certain (insider) audiences“ gekennzeichnet, die für aktuelle „experimentelle“ Kunstpraxen nicht mehr relevant sind. Denn „artists trained to operate in an ever-expanding art field now seem to require an institution that is as flexible and open as they are“.2 Beispiele solcher ‚offenen‘ und ‚kreativen‘ Kunstinstitutionen sind für Ekeberg das Rooseum in Malmö, das Palais de Tokyo in Paris, das Platform Garanti Contemporary Art Center in Istanbul, die Bergen Kunsthall sowie einige andere, die seiner Ansicht nach „seemed to be adopting, or at least experimenting with, the working methods of contemporary artists and their micro or temporary institutions, especially their flexible, temporal and processual ways of working.“3 Die Beschreibungen der Programme dieser Institutionen und ihre Veranstaltungen bestehen aus Aufrufen und Zielsetzungen „to establish an active space“, „to reflect on historical and actual models of art institutions and organizations that deal with production and circulation of art and ideas in an experimental and flexible way“ oder „to propose a more active and open condition for an art institution and to present different examples of artistic and curatorial work from various cultural and geographic contexts that manifest a more open and direct approach to the presentation of art and the exchange with the public“.4 Die üppige Rhetorik der „Offenheit“ und „Aktivität“ erweckt proportional zu ihrer Intensität die Frage, was eigentlich hinter Ausdrücken wie „an active space“, „deal in an experimental and flexible way“, „to propose a more active and open condition“ oder „manifest a more open and direct ap-

2

Ibid., S. 11.

3

Ibid., S. 9.

4

Ibid., S. 14–15.

138 | M EDIENKUNST ALS N EBENPRODUKT

proach“ in Wirklichkeit, d.h. in der realen institutionellen Praxis, steht, in anderen Worten, in welcher Hinsicht die Ansätze dieser Institutionen direkter und demokratischer und ihre Konditionen aktiver und offener sind. Die gesamte Konstruktion des künstlerisch-kuratorischen Neuen Institutionalismus funktioniert nur insoweit als man ein Monopol der bösen „autoritären“, „repressiv-regressiven“ und „korrumpierten“ traditionellen Kunstinstitutionen voraussetzt, das durch die Gründung der neuen guten „kreativen“, „demokratischen“ und „innovativ-progressiven“ Institutionen sowie durch organisatorische und kuratorische Machtübernahme in den alten Institutionen aufgebrochen werden muss. Neue gute Kunstinstitutionen würden demnach die durch die alten „repressiven“ Kunstinstitutionen unterdrückten und ausgebeuteten Künstler befreien.5 Sie sollen die Künstler in ihre vermeintlich genuine Stellung als „the ‚prime mover‘ of the art scene“6 einsetzen. Die meisten Künstler in der Rolle des Marxschen Proletariats scheinen dabei, ähnlich wie auch das historische Proletariat selbst, kaum etwas von diesem, in ihrem Namen geführten ‚Befreiungskampf‘, d.h. vom Kampf zwischen den ‚revolutionären‘ Kuratoren und der ‚Bourgeoisie‘ des institutionellen Establishments, mitbekommen zu haben. Für den Diskurs des Neuen Institutionalismus zeigt sich das archetypische Revolutions-Sujet jedoch als dramaturgisch konstitutiv.

8.2 T HEORETISCHE W AFFEN : D IE H EGEMONIETHEORIE VON ANTONIO G RAMSCI UND IHRE U PDATES Ausgesprochen symptomatisch ist in diesem Zusammenhang eine häufige Hinwendung der ‚Neuen Institutionalisten‘ zur Hegemonietheorie. In ihrer klassischen Variante wurde sie von Antonio Gramsci entwickelt, der ein bedeutender marxistischer politischer Denker und einer der Gründer der italienischen kommunistischen Partei war. In den letzten Jahrzehnten wurde die Hegemonietheorie dank der Cultural Studies wiederbelebt und im akademischen Kontext aktualisiert. Eine beachtliche Rolle in diesem Prozess

5

Vgl. ebd.

6

Ibid., S. 13.

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der Popularisierung von Gramscis intellektuellem Erbe spielten die postmarxistischen politischen Theoretiker Chantal Mouffe und Ernesto Laclau mit ihrem bekannten Buch „Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics“ aus dem Jahr 1985. In diesem weit rezipierten Werk interpretieren die Autoren Gramscis Hegemonietheorie neu und gründen darauf ihre eigene Konzeption einer „radikalen“ pluralen Demokratie.7 Während einer fast zehnjährigen Gefangenschaft zur Zeit der Diktatur Mussolinis verfasste Gramsci die berühmten Gefängnishefte8, in denen er seine politische Theorie entwickelte. Der kapitalistische Staat besteht Gramsci zufolge zum einen aus der politischen Gesellschaft mit ihren rechtlichen und exekutiven Strukturen und Institutionen, zum anderen aus der bürgerlichen bzw. Zivilgesellschaft. Zu letzterer gehört für Gramsci der gesamte Lebensbereich vom Privatleben bis hin zur Wirtschaft. Innerhalb der Zivilgesellschaft wird die Herrschaft nicht allein durch Zwang erzeugt, sondern sie benötigt einen gesellschaftlichen Konsens, der durch die „kulturelle Hegemonie“, d.h. durch die Herausbildung und Verbreitung gemeinsamer Wertsysteme, Weltbilder und Ideologien entsteht. Diese „kulturelle Hegemonie“9 wird in der Zivilgesellschaft durch Hegemonieapparate vermittelt, d.h. durch gesellschaftliche Institutionen wie Ausbildungs- und Kultureinrichtungen, Kirchen, Massenmedien etc. Die Macht in den industrialisierten westlichen Staaten ist somit laut Gramsci nicht lediglich im Staatsverwaltungsapparat, d.h. in der Regierung und ihren Strukturen konzentriert, sondern über die ganze Gesellschaft auf die miteinander verbundenen Institutionen verteilt. Deshalb kann eine wirk-

7

Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London: Verso 1985.

8

Deutsche Ausgabe: Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, hg. von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, 10 Bände, Hamburg: Argument-Verlag 19912002.

9

Gramscis Auffassung der Hegemonie unterscheidet sich deutlich von der orthodoxen marxistisch-leninistischen Auslegung dieses Begriffs. Lenin verwendete ihn, um die politische Führung des Proletariats in der demokratischen Revolution zu bezeichnen, was später im offiziösen Jargon der sowjetischen Propaganda zum feststehenden Ausdruck „Arbeiterklasse-Hegemon“ und umgangssprachlich zur ironischen Bezeichnung des Proletariers als „Hegemon“ wurde.

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liche Machtübernahme in einem industriell entwickelten Land allein durch den Sturz der jeweiligen Regierung und die sie verkörpernden Personen nicht erreicht werden. Sie setzt vielmehr einen langen Kampf um die „kulturelle Hegemonie“, d.h. um die ideologische Übernahme dieser Institutionen voraus.10 Für die Beschreibung gesellschaftspolitischer Strukturen und Prozesse verwendet Gramsci sehr intensiv Metaphern, die auf das militärische Vokabular des Ersten Weltkriegs zurückgehen. So vergleicht er die Zivilgesellschaft mit den Grabensystemen der Schlachtfelder dieses Krieges. Das System gesellschaftlicher Institutionen ist demzufolge eine Art Grabensystem, um dessen Besetzung die Kriegsparteien ihren Kampf führen. Mithilfe einer anderen militärischen Metapher beschreibt Gramsci diesen Prozess als einen „Stellungskrieg“, bei dem der eigentliche Kampf um minimale Verschiebungen der Frontlinie innerhalb dieses Grabensystems geht. Die neuen Geländegewinne können vom Gegner zudem immer wieder zurückgewonnen werden. Dem hegemonialen „Stellungskrieg“ stellt Gramsci das Modell des „Bewegungskrieges“ gegenüber. Im „Bewegungskrieg“ reicht es für die Machtübernahme aus, den Ort der Konzentration politischer Herrschaft zu erringen, wofür Gramsci als Beispiel den Sturm auf den Winterpalast während der Oktoberrevolution nennt.11

8.3 D IE D OCUMENTA UND DIE 100- TÄGIGEN H EGEMONIEKRIEGE IM K UNSTFELD Der Kampf um die kulturelle Hegemonie bedeutet für Gramsci inhaltlich eine allmähliche Ersetzung der herrschenden bürgerlichen Ideologie durch die neue Ideologie der Arbeiterklasse. Als ein typologisches Modell bietet die Hegemonietheorie jedoch einen offenen konzeptuellen Rahmen für die Interpretation verschiedener gesellschaftspolitischer Kontexte und Prozesse. So verwendet zum Beispiel Laclaus Schüler Oliver Marchart in seiner Studie „Hegemonie im Kunstfeld“ die Hegemonietheorie und -terminologie zur Beschreibung aktueller Entwicklungen im Bereich der zeitgenössischen

10 Vgl. Gramsci, Gefängnishefte, Heft 6, §88, Band 4. 11 Vgl. ebd., Heft 7, §16, Bd. 4.

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Kunst. Von seinen Erfahrungen als wissenschaftlicher Berater und Leiter des Education Project der Documenta11 ausgehend, zollt er der Documenta11 und ihrer Vorgängerin, der Documenta10, für die von ihnen geleistete „gegen-hegemoniale Kanonverschiebung“ hohes Lob und wirft dagegen der Documenta12 „Transformismus“ vor. Unter „Transformismus“ versteht er dabei in Anlehnung an die diskursanalytische Fassung der Hegemonietheorie, den „Versuch einer hegemonialen Formation […], gegenhegemoniale Diskurse zu integrieren und ihre disruptiven Effekte auf diese Weise zu neutralisieren“.12 Außer Transformismus wird der Documenta12 und ihrem künstlerischen Leiter, Roger M. Buergel, unter anderem Populismus, Antiamerikanismus, „Normalisierung deutscher Vergangenheit“, „Schleier aus Ästhetisierung und Formalisierung und Mystifizierung“, Depolitisierung sowie Ignoranz gegenüber den „Errungenschaften“ der dX und D11 vorgeworfen. Die Intensität dieser Vorwürfe wirft jedoch die Frage nach ihrer „latenten Funktion“ auf, wie der amerikanische Soziologieklassiker Robert K. Merton es bezeichnen würde.13 Marchart agiert in seiner Publikation als Vertreter der Institution Documenta11, der seine Institution in einer Art Selbstauftrag zu behaupten sucht. So zitiert er empört die ironische Beschreibung der Documenta11 durch den Kritiker Thomas Wagner, der diese in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als ein „von Ort zu Ort ziehendes Oberseminar“ bezeichnete, „in dem eine kleine Schar Wissender politisch korrekt Nachhilfeunterricht für all jene erteilt, die nicht aufgepasst haben, als die Cultural Studies auf dem Stundenplan standen, oder sich schlicht weigern, sich dem Machtanspruch dieses allgegenwärtigen Paradigmas zu unterwerfen“14. Als Reaktion bietet Marchart eine etwas überraschende Interpretation dieser Kritik: „Es geht also gar nicht so sehr darum, welche Theorie in das Kunstfeld einsickert, Theorie als solche ist schon verdächtig, da man im Kunstfeld, um nochmals Storr zu zitieren, mit dem Bauch zu denken hat

12 Marchart, Oliver: Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung. n.b.k.-Diskurs, Bd. 2, Köln: König 2008, S. 28. 13 Vgl. ebd. 14 T. Wagner: „Licht im Schacht von Babel“, zitiert nach: O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 71.

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und das Hirn dem Fühlen und Spüren überantworten muss.“15 Es ist schwer zu übersehen, dass der Kritiker der FAZ in der zitierten Passage eine völlig andere Botschaft vermitteln will, und es scheint wenigstens ungerechtfertigt, in Wagners Aussage eine pauschale Theoriefeindlichkeit zu suchen. Marchart geht jedoch noch einen Schritt weiter: „Dabei wird den gegen-hegemonialen Kräften unterstellt, sie wären schon längst allmächtig (während man selbst sich als ausgegrenzt und verfolgt porträtiert). So behauptet derselbe Kritiker, Enwezor folge ‚mit seinem Ansatz schlicht dem gegenwärtigen Mainstream. Und für den gilt nur das als zeitgemäße Kunst, was sich mit Themen verzahnen lässt, die in bestimmten Szenen und ihren Debatten zirkulieren. [...] Was dabei herauskommt, ist eine neue Form von Hegemonie. Es ist immer wieder erstaunlich, wie genau solche Mainstream-Diskurse, selbst wo sie nichts anderes als die organische Ideologie des Kunstfeldes reproduzieren, hegemoniale Verschiebungen registrieren und, in diesem Fall, sogar mit dem korrekten Vokabular benennen können. Nur dass eben die D11 keine neue Form von Hegemonie repräsentierte, sondern einem Bruch in der hegemonialen Formation der Dominanzkultur Ausdruck verlieh, an deren Verschiebung sie allerdings unbeirrt weiterarbeitete.“16

Die für sich selbst sprechende Aussage über „genau solche MainstreamDiskurse“, die „hegemoniale Verschiebungen registrieren“ und „mit dem korrekten Vokabular benennen können“ bedarf hier keines weiteren Kommentars. Weit interessanter scheint Marcharts hartnäckige Weigerung zuzugestehen, dass der von der Documenta11 repräsentierte Diskurs schon längst vor der Documenta11 im Kunstfeld hegemonial geworden war. Dieser Diskurs wäre im Rahmen einer solchen Institution wie der Documenta ansonsten nicht vertreten. Es gehört jedoch zu den Erkenntnissen der durch Laclau aktualisierten Fassung der Hegemonietheorie, dass es in jedem Tätigkeitsfeld in einem gegebenen Zeitraum immer eine hegemoniale Diskursformation gibt, die von den hegemonialen Institutionen dieses Feldes präsentiert und vermittelt wird. Dies trifft insbesondere zu, wenn diese Institutionen schon aus rein strukturellen Gründen und ungeachtet ihrer jeweiligen Inhalte hegemonial

15 Ibid. 16 Ibid.

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sind, wie eben die Institution der Documenta. Die Logik der ‚Hegemonialisierung‘ betrifft auch die Praktiken und Diskurse, die ursprünglich marginal, oppositionell oder unterdrückt sind oder zumindest ihre Identität daraus ableiten. Die Tatsache, dass sie sich nach wie vor als „marginal“, „oppositionell“ oder „unterdrückt“ verstehen und positionieren, heißt jedoch nicht, dass sie de facto nicht hegemonial werden können oder bereits geworden sind. Im Unterschied zu Lenin und den Bolschewiken, die sich die proletarische Hegemonie zum erklärten Ziel gesetzt hatten und ihr Erringen auch als Sieg feierten, können sich einige der gegenwärtigen, von ihrer Identität her „unterdrückten“ Praktiken und Diskurse bzw. ihre professionellen Vertreter einen solchen „Luxus der Ehrlichkeit“ nicht leisten. Die strukturell bedingte hegemoniale Stellung der Documenta als Institution ist dem Autor von „Hegemonie im Kunstfeld“ wohl bewusst, weshalb er die Aktivität des D11-Teams als ein neo-institutionalistisches Unternehmen darzustellen versucht, das „eine gegen-hegemoniale Kanonverschiebung“ im Kunstdiskurs anstrebt: „[...] die zentralen Apparate des Kunstfelds, und hier wiederum: die zentralen Apparate im Feld, zu denen zumeist Biennalen und die documenta zählen, sind von unschätzbarem Wert für die Reproduktion der hegemonialen Formation und können – ironischerweise – aus dem gleichen Grund auch in den Dienst gegen-hegemonialer Projekte gestellt werden. Die Kuratorinnen und Kuratoren der D11 nutzten die finanziellen und organisatorischen Mittel der Ausstellungsmaschine und die enorme mediale Aufmerksamkeit, die eine documenta mit sich bringt. Was ein solch zentraler Apparat des Biennalekomplexes vor allem zu leisten vermag, besteht in der Ausstattung marginalisierter Diskurse mit symbolischer Legitimität.“17

In Fortsetzung dieser Interpretation plädiert Marchart für einen „neuen Neuen Institutionalismus“. Dieser soll, wie im Falle der D11, im Unterschied zum ‚nicht-neuen‘ Neuen Institutionalismus „über ein klares inhaltliches Programm“ verfügen. Dies sei insoweit notwendig, weil „die Debatten um den Neuen Institutionalismus sich allzu oft auf Fragen der Strukturen beschränken und damit einem gewissen Apparatismus, wenn nicht sogar einer gewissen kunstfeldinternen Betriebsblindheit anheim fallen“.18

17 Ibid., S. 28. 18 Ibid., S. 29.

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Durch wen oder was genau dieser „betriebsblinde“ Neue Institutionalismus vertreten wird, bleibt jedoch ohne Konkretisierung. Das Konstruieren eines solchen abstrakten, „betriebsblinden“ Neuen Institutionalismus im Sinne Marcharts, der durch den „neuen Neuen Institutionalismus“ ergänzt und verbessert werden kann und – implizit – durch die D11 bereits verkörpert ist, erinnert an die Argumentationsstrategie der kommerziellen Werbung, in der die besonderen Qualitäten eines neuen Produkts im Kontrast zu den abstrakten und mangelhaften ‚anderen‘ Produkten der gleichen Kategorie dargestellt werden. Die Position des Autors von „Hegemonie im Kunstfeld“ ist freilich durchaus repräsentativ auch für den von ihm kritisierten ‚nicht-neuen‘ Neuen Institutionalismus: Einerseits wird dadurch eine angemessene und treffende kritische Analyse bestimmter machtpolitischer und ideologischer Gegebenheiten des Kunstfeldes geleistet. Anderseits besteht dabei die Gefahr, dass Autoren wie Pressesprecher oder Mitarbeiter von PR- und Werbeabteilungen der Institutionen agieren, die sie vertreten, und in dieser Rolle automatisch die Verhaltensschemata und Rhetorik reproduzieren, die sie eigentlich kritisieren.

8.4 D IE U TOPIE DER „ KRITISCHEN K UNSTINSTITUTIONEN “ Für den Neuen Institutionalismus ist eine in sich theoretisch widersprüchliche Position kennzeichnend, die auch von seinen Vertretern selbst reflektiert wurde. Ein charakteristisches Beispiel dafür findet sich in den Aufsätzen der Kunsthistorikerin und Kuratorin Nina Möntmann „Das Unternehmen Kunstinstitution im Spätkapitalismus“ und „Aufstieg und Fall des ‚New Institutionalism‘: Perspektiven einer möglichen Zukunft“, beide in dem bereits erwähnten Webjournal transversal in den thematischen Ausgaben „Do You Remember Institutional Critique?“ (1/2006) und „Progressive Institutions“ (8/2007) publiziert. Diese beiden Aufsätze bieten eine Art Zusammenfassung der neu-institutionalistischen theoretischen Ausgangspunkte und Programme. Die Autorin ist unter anderem auch als Herausgeberin des Sammelbandes „Art and its Institutions – Current Conflicts, Critique

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and Collaborations“19 hervorgetreten, eines umfangreichen Kompendiums neu-institutionalistischer Praktiken und ihrer diskursiven Aufarbeitungen. In dem Artikel „Das Unternehmen Kunstinstitution im Spätkapitalismus“ beschreibt Möntmann den Wandel des „klassisch bürgerlichen“ Institutionsmodels zu einer Art Wirtschaftsunternehmen unter dem Einfluss der neoliberalen „korporativen Institutionslogik“, der „spätkapitalistischen Unternehmenskultur“ und des „populistischen Öffentlichkeitsbegriffs“. Sie konstatiert die Änderung der faktischen kulturpolitischen Legitimationsprogrammatik vom „Bildungsauftrag zum Konsumtionsauftrag“. Als Beispiele einer „fortschreitenden Korporatisierung“ von Kunstinstitutionen führt sie die aktuellen Entwicklungen des Netzwerks der Guggenheim Museen, des MoMA und anderer vergleichbarer Institutionen an, die sich in ihrer Politik und ihren Handlungsstrategien kaum von gewöhnlichen gewinnorientierten Business-Korporationen unterscheiden. Dieser Form „des globalisierten korporativen Institutionalismus“ stellt Möntmann „die progressiveren Kunstinstitutionen“ gegenüber, die „einen demokratischen Ort der Vielstimmigkeit schaffen“.20 „Progressive Institutionen“ dieser Art sind aus der Sicht Möntmanns das Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA), das Rooseum in Malmö und einige andere. Das MACBA, so Möntmann, gehe „davon aus, dass das Publikum eine aktive Rolle als Produzent einnimmt, woraus dann auch neue soziale und künstlerische Strukturen innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen können“. Das Rooseum wiederum verfolge „einen konsequenten Ansatz der Arbeit mit multiplen Öffentlichkeiten“21. An dieser Stelle ist jedoch zu fragen, welche „aktive Rolle“ das Publikum als Produzent genau einnehmen kann, ohne dabei in das Schema des gewöhnlichen degenerierten Partizipations-/Interaktivitäts-Konzepts wie „Nimm ein Bonbon!“ oder „Drück den Knopf!“ eingepresst zu werden. Interessanterweise stellt sich keiner der Befürworter einer „aktiven Rolle“ des Publikums im institutionellen Kunstgeschehen die Frage, ob das Publikum diese „aktive Rolle“ überhaupt wahrnehmen will, es sei denn, es handelt

19 Vgl. N. Möntmann (Hg): „Art and its Institutions – Current Conflicts, Critique and Collaborations“. 20 Dies.: „Das Unternehmen Kunstinstitution im Spätkapitalismus“, http://eipcp.net/transversal/0106/moentmann/de [letzter Zugriff: 15.04.2017]. 21 Ibid.

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sich um einen ganz bestimmten Teil des Publikums, nämlich um Künstler, die im aktuellen Programm der entsprechenden Kunstinstitutionen keinen Platz erhalten haben. Mit den „multiplen Öffentlichkeiten“ ist ebenfalls vermutlich diese Gruppe gemeint. Die „progressiven“ Institutionen, zu denen nach Ansicht Möntmanns auch zahlreiche andere wie das Nordic Institute for Contemporary Art oder die Berliner Kunst-Werke gehören, geraten jedoch in einen „politischen Gegenwind“ von Seiten der „regionalen PolitikerInnen“. Dieser äußert sich dadurch, dass eine „Kursänderung“ gefordert wird, „die von der völligen Umstrukturierung über Personalentscheidungen und radikale Budgetkürzungen bis zur Schließung der Institution reicht“.22 In dem Aufsatz „Aufstieg und Fall des ‚New Institutionalism‘: Perspektiven einer möglichen Zukunft“, der etwa ein Jahr später im transversal erschien, schildert Möntmann das Schicksal der „progressiven“ Kunstinstitutionen noch dramatischer. Der Neue Institutionalismus erhält nun eine ausdifferenziertere Genre-Definition und wird als „neue, experimentelle und multifunktionale kuratorische Methode“ bezeichnet, die der „kritischen“ Zielsetzung dient: „Die KuratorInnen luden nicht mehr länger kritische KünstlerInnen nur ein, sondern veränderten selbst die institutionellen Strukturen, deren Hierarchien und Funktionen. Als Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen formulierten diese „Institutionen der Kritik“ seit der Mitte oder den späten 90er Jahren eine Kritik des globalisierten und korporativen Institutionalismus und dessen KosumentInnenpublikums.“23

Diese „kritischen Kulturinstitutionen“ erleiden später einen Niedergang, indem sie allmählich abgeschafft, unterfinanziert und „den Anforderungen einer neoliberalen Eventökonomie ausgesetzt“ werden. „Kurz gesagt“, resümiert Möntmann, „Kritikfähigkeit ist nicht gewünscht. Kritikfähigkeit hat die korporative Wende in der institutionellen Landschaft nicht überlebt.“24 Um das Problem zu lösen, schlägt sie vor, „transgressive Institutionen zu

22 Ibid. 23 Möntmann, Nina: „Aufstieg und Fall des ‚New Institutionalism‘. Perspektiven einer möglichen Zukunft“, http://eipcp.net/transversal/0407/moentmann/de [letzter Zugriff: 15.04.2017]. 24 Ibid.

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etablieren, die die gegenwärtige Entwicklung der Privatisierung in Frage stellen und unterbrechen, und die sich gleichzeitig an anderen Disziplinen und Bereichen neben dem korporativen Geschäft des globalisierten Kapitalismus orientieren.“25 Als Exempel solcher „transgressiven Institutionen“ nennt Möntmann die künstlerischen Selbstorganisationsinitiativen der „südlichen Hemisphäre“, die in Abwesenheit einer institutionellen Infrastruktur für zeitgenössische Kunst als rudimentäre Kunstinstitutionen entstehen: „Sie beginnen auf engem Raum und mit sehr lokaler Programmgestaltung, stellen ihre eigenen Arbeiten, oder die ihnen bekannter KünstlerInnen aus, oder sie benutzen ihre Räume für andere soziale Ereignisse, wie etwa Diskussionen oder Feste. Anfangs besteht daher eine Art von gesellschaftlichem Zentrum oder Treffpunkt für FreundInnen aus dem Kunstbereich. In den Gegenden, von denen ich spreche, übernehmen diese Aktivitäten einen quasi-institutionellen Status, der oft mit einer Ausweitung ihrer Tätigkeiten einhergeht. Dann beginnen sie, internationale Unterstützungen zu suchen, Residencies aufzubauen, bieten Forschungsmöglichkeiten an, laden ausländische KuratorInnen und KünstlerInnen ein, organisieren Filmprogramme, geben Magazine heraus, und so weiter.“26

Proto-institutionelle Bildungen dieser Art präsentiert Möntmann als Vorbild für die westlichen Kunstkollegen, da sie, ihrer Ansicht nach, von den Kontrollmechanismen des institutionalisierten Kunstbereichs mit seinen halb-öffentlichen Räumen unabhängig sind. Nur solche „unabhängigen“ Institutionen könnten sich, so Möntmann, „der vom Neo-Kapitalismus geschaffenen korporativen Globalisierung entgegenstellen, und stattdessen einen aktiven und unmittelbaren globalen Austausch von unterschiedlichen öffentlichen Gruppen und individuellen Stimmen und damit auch eine Kritik an der Form des Nationalstaats ermöglichen“.27 Sie verkörpern für die Autorin „vorstellbare kritische Institutionen“, welche „die Form eines international operierenden ‚organisierten Netzwerks‘ annehmen“ könnten, „das verschiedene kleinere, unabhängige Institutionen und Aktivitäten verstärkt – seien diese alternativ, von KünstlerInnen betrieben, oder auf For-

25 Ibid. 26 Ibid. 27 Ibid.

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schung gegründet – wie auch zeitlich begrenzte Plattformen innerhalb größerer Institutionen etablieren“ könnte.28 Im Fazit des Aufsatzes erfährt diese in ihren Intentionen und ideologischen Prämissen ziemlich widersprüchliche Argumentationslogik schließlich ihren Höhepunkt: „Hinsichtlich der Finanzierung sind Bahn brechende, neue private ebenso wie öffentliche Stiftungen gefordert, sich selbst erhaltende, unabhängige und machtvolle Alternativen zu schaffen – eine ‚Globalisierung von unten‘, wenn man will.“29

Wenn man dieses von Möntmann geschilderte Programm des Aufbaus „kritischer Kunstinstitutionen“ genauer betrachtet, ist zu erkennen, dass der Begriff des „Neuen Institutionalismus“ im Grunde ganz wörtlich verstanden werden muss. Letzten Endes geht es um den Vorschlag, ein „neues“, faktisch aber nicht neuartiges, sondern ‚paralleles‘ institutionelles Umfeld zu schaffen, das im Prinzip das bereits existierende teils verdoppeln, teils erweitern soll. In diesem Zusammenhang ist an die paradigmatische Stelle aus Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu erinnern, die am Anfang dieses Kapitels zitiert wurde, nämlich, dass „die Beherrschten sich einer bürokratischen Herrschaft normalerweise nur erwehren können durch Schaffung einer eigenen, ebenso der Bürokratisierung ausgesetzten Gegenorganisation“. Der Aufruf, solche proto-institutionelle Bildungen im westlichen Kunstkontext mit seiner institutionell höchst ausdifferenzierten und komplexen Organisationsstruktur zu errichten, manifestiert schließlich die Notwendigkeit, für die neue Generation der Kunstschaffenden und Kunstverwaltenden neue Arbeitsplätze im Kunstbetrieb zu generieren. Die entscheidende Frage bleibt jedoch nach wie vor: Wie und vor allem von wem soll das gesamte Unternehmen finanziert werden? Woher sollen die „bahnbrechenden, neuen privaten ebenso wie öffentlichen Stiftungen“ kommen, deren Entstehung Möntmann am Ende ihres Aufsatzes fordert? Und wie könnten diese „sich selbst erhaltenden, unabhängigen und machtvollen Alternativen“ in die Wirklichkeit umgesetzt werden?

28 Ibid. 29 Ibid.

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Im Fall des Neuen Institutionalismus handelt es sich um ein verständliches und natürliches Bestreben seitens seiner Vertreter nach einer Handlungs- und Programmautonomie, die durch Gründung eigener Institutionen sicherlich am einfachsten und effektivsten erreicht werden kann. Doch diese Handlungs- und Programmautonomie ist nicht die klassische Autonomie der Kunst im Sinne „freier Kunst für den freien Markt“, sondern im Gegenteil eine neuartige Kunstautonomie, die nichts anderes will als unabhängig vom Kunstmarkt zu werden. Die „multiplen Öffentlichkeiten“, für deren Rechte sich die ‚Neuen Institutionalisten‘ programmatisch einsetzen, ist in der neu-institutionalistischen Sprache letztendlich eine Bezeichnung bestimmter Kunstpraktiken, die auf dem heutigen Kunstmarkt (noch) nicht absetzbar sind. Die einzige finanzielle Überlebensmöglichkeit für diese Kunstpraktiken sowie für diejenigen, die sie verwalten wollen, besteht in der aktuellen kulturpolitischen Realität Westeuropas in der staatlichen öffentlichen Förderung mit ihrem „populistischen Öffentlichkeitsbegriff“ als einem unabdingbaren Legitimationskonzept der liberalen repräsentativen Demokratien. Diese Tatsache ist den Vertretern des Neuen Institutionalismus sicherlich bewusst. Das neu-institutionalistische Plädoyer für eine „fragmentierte Öffentlichkeit“ und die Erschaffung „demokratischer Orte“, an denen diese Art von Öffentlichkeit repräsentiert werden könnte, bewegt sich im Rahmen des gleichen ideologischen Paradigmas wie auch die Legitimationsrhetorik der kritisierten „monströsen“ MainstreamKunstinstitutionen. Der Begriff der Öffentlichkeit wird durch die Vorstellung ihrer „Fragmentiertheit“ und „Multiplität“ schlicht erweitert, statt seine Relevanz als legitimatorischen Bezugspunkt in der Kunst radikal in Frage zu stellen. Es sei an dieser Stelle an die von Adorno brisant formulierte Erkenntnis erinnert, wonach die Kunst im Kapitalismus nichts Weiteres als ein „Ablageraum für den temporären wirtschaftlichen Überfluss“ ist. Jeder Anspruch, autonom, kritisch, antithetisch zu sein, muss also verkümmern, weil die Impulse eines solchen Anspruchs „in ein ihnen Heteronomes, von oben her Vorgedachtes bereits eingegliedert sind“. Schließlich sei es so, betont Adorno, dass die Kunst „den Raum zum Atmen von der Gnade dessen empfängt, wogegen sie rebelliert.“30

30 Th. Adorno: Kultur und Verwaltung, S. 133.

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Seit der Zeit, als diese Aussagen vor etwa einem halben Jahrhundert formuliert wurden, hat sich in dieser Hinsicht kaum etwas grundsätzlich geändert. Die deklarativ „kritischen“ Kunstinstitutionen können ihre Handlungsautonomie nur so lange genießen, wie noch temporärer wirtschaftlicher Überfluss vorhanden und in den entsprechenden kulturpolitischen Etats einkalkuliert ist. Danach müssen sie entweder den klassischen bürgerlichen Bildungsauftrag oder den neoliberalen Konsumauftrag erfüllen, auch wenn der Unterschied zwischen beiden nicht so sehr prinzipieller Natur ist, wie es manchen Kunsttheoretikern erscheinen mag. Die kulturpolitische Konzeption „Kunst als Selbstzweck“, bei der die Kunst als freie, nichtentfremdete Tätigkeit des Individuums verstanden wird und keine weitere gesellschaftlich-nützliche und wirtschaftlich verwertbare Legitimation benötigt, findet sich lediglich in zwei gleichermaßen utopischen Fällen – im Kommunismus klassisch Marxscher Ausprägung und im idealtypisch aufgeklärten Absolutismus. In allen anderen existierenden Gesellschaftsformen muss von einer grundsätzlichen Funktionalität und Instrumentalisierbarkeit der Kunst ausgegangen werden. Auch die proto-/para-/quasi-institutionellen Bildungen sowie die programmatisch „kritischen“ und „progressiven“ bzw. „transgressiven“ Kunstinstitutionen sind gezwungen, sich entweder organisatorisch und strukturell an die soziale Umwelt anzupassen, d.h. in der Sprache des soziologischen Neo-Institutionalismus, „sozial isomorph“ zu werden, oder sie laufen Gefahr, mit der Zeit einfach aufgelöst zu werden. Ungeachtet dessen, welche Art von Institutionen sie vertreten, ob „kritische“ und „progressive“, traditionelle „bürgerliche“ oder neoliberal „korporative“, müssen die Repräsentanten dieser Institutionen gemäß den allgemeingültigen Regeln des institutionellen Karrieremanagements agieren. Die Geschichte des ‚kritischen‘ Neuen Institutionalismus scheint in dieser Hinsicht leider keine Widerlegung der üblichen ‚kulturpessimistischen‘ Schlussfolgerungen zu bieten.

Teil II. Medienkunst und das Problem der Institutionalisierung Diskurse und Praktiken

Medienkunst und soziologische Perspektive Kapitel 9

Der zweite Teil der Studie untersucht die Medienkunst als in erster Linie institutionelles Phänomen. Er konzentriert sich dabei auf die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung, Zirkulation und Rezeption sowohl des eigentlichen Konzepts der Medienkunst als auch der Projekte und Praktiken, die als „Medienkunst“ bezeichnet werden. Diese Untersuchung verfolgt weder organisationssoziologische Ziele, noch beabsichtigt sie eine sozialanthropologische Beschreibung der Medienkunstszene. Sie sieht sich vielmehr in der Tradition der Kritischen Theorie und der von ihr geprägten theoretischen Kunstsoziologie und begrenzt sich im Wesentlichen auf die Untersuchung der Funktionsprinzipien des institutionellen Umfeldes und ihrer Auswirkungen auf die medienkünstlerische Praxis selbst. In diesem Zusammenhang werden Institutionen der Medienkunst wie Festivals, Museen, Galerien, Förderpreise, einschlägige Konferenzen etc. als zentrale Faktoren für die Entwicklung medienbasierter Kunstformen betrachtet, zum Teil sogar – zumindest im westeuropäischen Kontext – als Möglichkeitsbedingungen überhaupt für die Entstehung der Medienkunst. Im Unterschied zu vielen institutionskritischen Studien geht es hier jedoch nicht darum, ein Narrativ der Viktimisierung zu konstruieren, in dem die Medienkunst mit all ihren Problemen und Schwachstellen als Opfer der a priori dämonisierten Institutionen dargestellt wird. Vielmehr handelt es sich um einen Versuch, die implizite ‚neoplatonische‘ Logik der Institutionskritik aufzuheben: Am Anfang steht nicht die per se gute Idee der Me-

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dienkunst, die später dann durch eine unvermeidlich böse soziale Materie der Institutionen kontaminiert wird. Es ist eher die soziale Materie der Institutionen, die die Idee der Medienkunst als solche erst hervorbringt. Außerdem werden in dieser Studie die Institutionen einschließlich ihrer Akteure und Repräsentanten nicht als autonome Subjekte zielrationalen Handelns verstanden, die nach den Prinzipien der Rational-Choice-Theorie im eigenen Interesse agieren. Sie sind eher in einer fast postoperaistischen Manier als Strukturelemente der globalen spätkapitalistischen Verwaltungsmatrix zu interpretieren, deren Handlungen durch die Regeln und Mechanismen der institutionellen Isomorphie reguliert sind.1 Die universelle institutionelle Logik ist vor diesem Hintergrund selbst als ein wahres Subjekt des Handelns zu verstehen. Im konzeptuellen Rahmen einer ganz anderen theoretischen Tradition – der in den letzten zwei Jahrzenten im Medienkunstdiskurs sehr einflussreich gewordenen Actor-Network Theory2 (ANT) – könnten die institutionelle Handlungslogik und Organisationsstruktur als die wichtigsten Handlungsagenten (Aktanten) in diesem Prozess aufgefasst werden. Diese terminologische Intervention impliziert nicht, dass die Ansätze und Methoden der Science and Technology Studies (STS) in dieser Arbeit für die Analyse der Institutionalisierungsgeschichte der Medienkunst eine konsequente Anwendung finden. Einige der theoretischen Grundannahmen und Begriffe der ANT könnten jedoch im Kontext dieser Untersuchung hilfreich werden. Denn im Rahmen der ANT wird die Geschichte der Medienkunst weniger als die Geschichte bestimmter künstlerischer Innovationen und Praxen infolge neuer technischer Erfindungen betrachtet, sondern vielmehr als Ergebnis einer vielfältigen Wechselwirkung diverser politischer, ökonomischer, sozialer, institutioneller und sonstiger Faktoren und Interessen. Im Unterschied zur traditionellen Soziologie und Sozialgeschichte der Kunst werden außerdem auch ganz neue Aktanten ins Spiel

1

Vgl. dazu das Kapitel „Institutionalismen und Neo-Institutionalismen in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft“ weiter oben.

2

Die Actor-Network Theory wurde Anfang der 1980er Jahre von den französischen Soziologen Bruno Latour und Michel Callon sowie ihrem britischen Kollegen John Low als ein neuer komplexer Ansatz zur Erforschung der Geschichte und Theorie der Technik und Wissenschaft entwickelt, vgl. Low, John (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell 1999.

S OZIOLOGISCHE P ERSPEKTIVE | 155

gebracht – nicht nur gewöhnliche individuelle und kollektive Subjekte zweckrationalen Handelns wie Menschen und Institutionen, sondern auch die sogenannten „non-humans“, d.h. alle Objekte, welche die jeweiligen Prozesse beeinflussen.3 Als eine „materiell-semiotische“ Methode beachtet die ANT die Wechselwirkung zwischen physischen Objekten und ihren ideologischen und theoretischen Inhalten, was sie für die Analyse der gegenwärtigen Institutionalisierungsprozesse sehr hilfreich macht. Zudem bietet die ANT einen nützlichen und relevanten konzeptuellen Apparat für eine vielseitige Beschreibung verschiedener Prozesse und Geschehnisse in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen.4 Mithilfe der ANT wird die Analyse der institutionellen Geschichte der Medienkunst durch die theoretische Einbindung der zumeist unbeachteten Handlungsagenten bereichert: Die traditionellen Handlungsagenten – Künstler, Kuratoren, Kritiker, Sammler, Galeristen, kulturpolitische Akteure verschiedener Ebenen sowie die Kunstinstitutionen selbst – würden durch neue Aktanten ergänzt, wie z.B. diverse technische Produktions- und Präsentationsmittel (etwa LCD-Monitore, 3-D-Drucker, verschiedene Softund Hardware, digitale Foto- und Videokameras, Programmiersprachen, Videoprojektoren, unterschiedliche Gadgets etc.), aber auch leerstehende Industriegebäude, aktuelle Tendenzen des Interieur-Designs, populäre phi-

3

Dies können beispielsweise im Kontext eines naturwissenschaftlichen Forschungsprojektes verschiedene wissenschaftliche Theorien, technisches Equipment, zur Verfügung stehende Fördermittel, untersuchte Bakterien, Versuchskaninchen und alles sein, was im Verlauf dieser Forschung eine Rolle spielt. Vgl. etwa Latour, Bruno: The Pasteurization of France, übers. von Alan Sheridan und John Law, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1988; sowie ders.: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills, Calif./London: Sage Publications 1979.

4

Dies hat die ANT weit über ihre ursprüngliche Anwendung im Rahmen der Science and Technology Studies populär gemacht. So verwendet Michel Callon, der zusammen mit Bruno Latour am Centre de Sociologie de l’Innovation (CSI) die ANT entwickelte, seit Ende der 1990er Jahre die ANT-Ansätze zur Untersuchung ökonomischer Bereiche, vor allem im Hinblick auf die Analyse des Funktionierens von Finanzmärkten und Business-Korporationen, vgl. Callon, Michel (Hg.): The Laws of the Markets, London: Blackwell Publishers 1998.

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losophische und ästhetische Theorien und so weiter. Auch solche Faktoren wie Organisationsprinzipien kultureller Institutionen und ihre Verwaltungspraxen könnten dabei als bedeutsame Aktanten verstanden werden. Die Rolle des institutionellen Betriebs, so bedeutend und evident sie sein mag, wird in der Regel sogar in den soziologisch orientierten Untersuchungen ausgeklammert. Ein Grund dafür ist, dass diese Problematik sehr komplex und methodologisch schwierig zu erfassen ist. Es gibt auch einen weiteren Grund, der eher in der kollegialen Ethik zu suchen ist. In einem derart kleinen und überschaubaren professionellen Umfeld wie der institutionellen Medienkunstszene würde eine präzise Analyse aktueller mikropolitischer Zusammenhänge und kulturpolitischer Hintergründe der konkreten institutionellen Entscheidungen notwendigerweise mit sehr subjektiven Positionen und Reaktionen ihrer Vertreter kollidieren. Nicht zuletzt deswegen hat die Auseinandersetzung mit dieser institutionsbetrieblichen Seite der Medienkunstgeschichte einen fragmentarischen und eher feuilletonistischen Charakter. Das Thema wird hauptsächlich in privaten Diskussionen besprochen und kaum auf den offiziellen Bühnen des Medienkunstbetriebs. Deshalb scheint es im Kontext dieser Studie von Bedeutung zu sein, sich mit dieser Problematik aus einer analytischsystematisierenden Perspektive zu befassen.

Zur ewigen Krise Kapitel 10

Eine repräsentative Studie, welche die kontroverse Rolle des medienkünstlerischen institutionellen Umfelds für die Entwicklung der Medienkunst als Kunstform explizit thematisiert, ist die Publikation „Zero Comments“ des niederländischen Medientheoretikers Geert Lovink.1 Im Kapitel „Das coole Obskure: Die Krise der Neue-Medien-Kunst“ analysiert er die Ursachen der diagnostizierten „Krise“ und erläutert, welche Aspekte der Neue-MedienKunst (NMK) davon betroffen sind: „Wenn ich über eine Krise der NeueMedien-Kunst spreche, beziehe ich mich nicht nur auf den Standard der künstlerischen Arbeit, sondern auf die prekäre Position dieser Kunstform an sich und ihre institutionelle Repräsentation im Besonderen.“2 Inhaltlich präzisiert Lovink diese Krise, indem er von einer „konzeptuellen Stagnation der Neue-Medien-Kunst“3 als einer Tendenz spricht. Dabei betont er den institutionellen Status, der eine offene Auseinandersetzung

1

Diese Problematik wurde auch in einigen anderen Publikationen besprochen. Allerdings stand sie nicht so stark im Mittelpunkt der Betrachtung wie in dem Aufsatz von Lovink. Unter diesen Publikationen sind in erster Linie folgende zu erwähnen: Daniels, Dieter: „Was war die Medienkunst? Ein Resümee und ein Ausblick“, in: Pias, Claus (Hg.): Was waren Medien?, Zürich: Diaphanes 2011. S. 57–81; auch Cook, Sarah/Graham, Beryl: Rethinking Curating: Art after New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2010.

2

Lovink, Geert: Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur, Bielefeld: Transcript Verlag 2008, S. 80–81.

3

Ibid., S. 81.

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mit dieser Problematik überhaupt erst ermöglicht: „Ich habe dieses Kapitel im schmerzlichen Bewusstsein geschrieben, dass ein relativer Außenseiter wie ich, weder Kurator, noch Künstler oder Verwalter, eher in der Position sein kann, Bedenken auszusprechen, die faktisch nicht allzu neu sind und auch von vielen geteilt werden.“4 Die Gründe, warum die MedienkunstInsider sich weder mit der „Krise“ noch mit der Rolle der Institutionen in diesem Prozess auseinandersetzen wollen, fasst Lovink folgendermaßen zusammen: „Es wird nicht gerne gesehen, wenn man offen über Krisenphänomene spricht, und das hat einen einfachen Grund: Düstere Stimmung könnte zukünftige Projekte, den nächsten Job oder eine kommende Bewerbung gefährden. [...] Es gibt nur wenige, die sich offen äußern, der Rest schweigt und macht weiter, um in die zeitgenössische Kunst hineinzukommen oder anderswo einen Job zu finden. [...] Aus der kollektiven diskursiven Armut in der Neue-Medien-Kunst erklärt sich auch, dass lebendige Debatten über Kunstwerke im Allgemeinen fast nicht stattfinden. Es gibt praktisch keine institutionalisierte Kritik. Während die MainstreamMedien kein Interesse zeigen, hat die Szene selbst vor möglicherweise verheerenden internen Debatten Angst. Rivalisierende akademische Disziplinen und Kulturpolitiker sind vielleicht auf der Suche nach Budgets, die noch gekürzt werden können. So herrscht eine diffuse Stammeskultur des Konsenses, die auf Gefälligkeit und SichAufeinander-Verlassen basiert. Um eine tatsächlich kritische Perspektive einnehmen zu können, muss man entweder von außerhalb kommen oder sich von der Szene entfernen und in ein gänzlich anderes Feld übertreten, etwa die kommerzielle Kunstwelt, Design, Popkultur oder die Clubszene.“5

Die strukturelle Redundanz der inhaltlichen Kritik für das Funktionieren des institutionellen Betriebs bringt Lovink mit diesen Beobachtungen auf den Punkt. Die gleichen Dispositionen sind freilich in der innerbetrieblichen Maschinerie fast jeder anderen professionellen Gemeinschaft zu beobachten. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang vor allem die Figur der „Krise“ in Bezug auf das Projekt der „Neue-Medien-Kunst“ selbst. Sie wird nur dann möglich, wenn man von einem blühenden Vorkrisenzustand

4

Ibid.

5

Ibid., S. 97–98.

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ausgeht oder eine Vorstellung von Medienkunst hat, die nicht in der Krise ist. Als jemand, der in den frühen 1990er Jahren in der aufkommenden Netzkunstszene sehr aktiv war und an solchen Projekten wie dem Medienkunstmagazin Medieamatic, den Online-Plattformen nettime, Fibreculture und vielen anderen als Redakteur oder Mitbegründer mitwirkte, weiß Lovink aus erster Hand, wie es zum Aufbau des medienkünstlerischen institutionellen Netzwerks kam. Seine Position ist für diese erste Generation der institutionalisierten Medienkunstaktivisten und -theoretiker repräsentativ und wird vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie eine nüchternkritische Stellung zur Entwicklung der Medienkunst mit dem romantischen Motiv eines vergangenen ‚Goldenen Zeitalters‘ verbindet, welches die Medienkunst in ihren Geburtsstunden durchlebte. Dieses Motiv ist heute im medienkunsthistorischen Diskurs sehr verbreitet und findet sich in vielen Publikationen. Die Grundannahmen dieses Motivs sind folgende: Es gibt eine Entstehungsphase der Medienkunst, in der die Neuen Medien die historische Bühne erstmals betreten und progressive Geister beginnen, mit dem ästhetischen Potential dieser Medien zu experimentieren und sich mit den Möglichkeiten ihrer Anwendung in künstlerischer Praxis „kritisch auseinanderzusetzen“. Nach einer gewissen Zeit ist das Potential „künstlerischer Erforschung“ der Neuen Medien im Wesentlichen ausgeschöpft und die Medienkunst endet in „konzeptueller Stagnation“. Die Medienkunst bleibt in einer ‚pubertären‘ Phase der ständigen Auseinandersetzung mit den eigenen ‚Produktionsmitteln‘ stecken. Dieser Vorgang wird noch dadurch verstärkt, dass im institutionellen Medienkunstkontext hauptsächlich solche Projekte am meisten gefördert, produziert und präsentiert werden, die in diesem ‚Loop‘ der unendlichen Beschäftigung mit den eigenen technischen Möglichkeiten gefangen sind. In Bezug auf diese Situation stellt Lovink die Frage, „wie man mit der unvermeidbaren Selbstreferenzialität [der Medienkunst] umgehen soll, die auftritt, sobald neue Medien nicht mehr neu sind und ein Prozess der Institutionalisierung einsetzt, in dem am Ende mehr Möglichkeiten verspielt als geschaffen werden.“6 Die Ursache der Krise der Medienkunst sieht Lovink nicht in der Institutionalisierung selbst, sondern in einem sowohl konzeptuellen als auch in-

6

Ibid., S. 86.

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stitutionellen Dazwischen-Sein der Medienkunst, die in einem ambivalenten, zum Teil fast ödipalen Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst steht und ihren gesellschaftlichen Platz immer noch zu finden hat: „Die Gattung der Neue-Medien-Kunst weiß selbst nicht, ob sie Underground oder urbane Subkultur ist.“7 Ähnlich ambivalent scheint jedoch die Position von Lovink selbst zu sein. So postuliert er zum einen, dass die meisten Neue-MedienKunstwerke „weder subversiv noch besonders konzeptuell oder kritisch“ sind und dass der digitalen Ästhetik „der kritische Rigorismus der meisten zeitgenössischen Kunst zu fehlen“ scheint.8 Zum anderen aber unternimmt er eine Art Heroisierung der ideal gesinnten „echten“ Medienkünstler, die den gewinnsüchtigen marktorientierten „zeitgenössischen Künstlern“ gegenübergestellt werden: „Echte NM-Künstler sind besessen davon, die ewigen Gesetze der neuen Materialien zu entziffern. Sogenannte kreative zeitgenössische Künstler dagegen konzentrieren sich auf den Markt. Sie müssen sich den Gesetzen von Ruhm und Prominenz anpassen und können ihre Zeit nicht an so uncoolen Orten wie Computerlaboren vergeuden. Für sie ist Technologie ein bloßes Werkzeug, sie sind die Letzten, die sich in das Manual vertiefen, geschweige denn eigene Software schreiben oder experimentelle Schnittstellen bauen würden. Für die Suche nach den Besonderheiten eines Mediums benötigt es aber eine langwierige Try-and-Error-Phase, bei der faszinierende Bilder oder Erfahrungen nicht garantiert werden können. Pop und Experiment gehen nicht gut zusammen.“9

Die Behauptung, dass für die „meiste zeitgenössische Kunst“ der kritische Rigorismus charakteristisch sei, ist allerdings ähnlich umstritten wie die Vorstellung, dass „sich in das Manual zu vertiefen“, „eigene Software zu schreiben“ oder „experimentelle Schnittstellen zu bauen“ für den Künstler eine Tugend ist, die per se der Kreation einer konzeptuell oder ästhetisch wertvollen Kunst dient. Es ist jedoch eher die Frage, ob nicht gerade diese exzessiven Zeitinvestitionen der Medienkünstler in das Schreiben der eigenen Software, das

7

Ibid., S. 97.

8

Ibid., S. 97–98.

9

Ibid., S. 93.

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Bauen experimenteller Schnittstellen und das Vertiefen in unzählige Manuals einer der Hauptgründe der „konzeptuellen Stagnation“ und der „kollektiven diskursiven Armut“ der Neue-Medien-Kunst sind. Denn letztlich geht es auch um die Zeitressourcen, die dem Medienkünstler aufgrund der programm bugs und zeitaufwändigen Manual-Studien verloren gehen, statt sie in die Konzeptentwicklung selbst investieren zu können. Interessant ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, wie in Lovinks 2007 erschienener Schrift mit einer gewissen Enttäuschung festgestellt wird, dass alle diese Anstrengungen der Medienkünstler nunmehr als bloße Zeitvergeudung an „so uncoolen Orten wie Computerlaboren“ wahrgenommen werden. Der Zeitgeist hat sich gewandelt, und Kompetenzen dieser Art verleihen dem Künstler keinen Image-Mehrwert mehr. Noch im Jahr 2002 zelebrierte der US-amerikanische Medientheoretiker Lev Manovich die Softwarekunst ganz hegelianisch als die höchste Entwicklungsstufe der Medienkunst: „Plötzlich ist Programmieren cool. [...] Ernsthafte junge Künstler müssen nicht mehr October und Wallpaper, sondern Flash- und Director-Handbücher lesen.“10 Nur fünf Jahre später sind diese Beobachtungen von Manovich genauso obsolet geworden wie das Computerprogramm Director und die dazu gehörigen Handbücher. Ernsthafte junge Künstler müssen nun wieder October lesen. Die inhaltliche Besetzung der heute gebräuchlichen ästhetischen Kategorien „cool/uncool“ hat sich inzwischen geändert und das Programmieren wird im Kunstkontext kaum mehr als „cool“ wahrgenommen. Die Medienkunst braucht jedoch, um sich konzeptionell und kulturpolitisch positionieren zu können, nach wie vor ihren prinzipiellen Kontrahenten – die marktorientierte zeitgenössische ‚Mainstream-Kunst‘. Im Unterschied zu den 1990er Jahren hat sich dabei die Tonart freilich geändert. Nicht mehr das heroische Pathos eines baldigen Sieges der freien, innovativen und demokratischen Medienkunst über die konservative, gewinnorientierte und hierarchisierte „traditionelle“ Kunst herrscht vor, sondern eine zurückhaltende Resignation angesichts der üblichen Verdächtigen: des Marktes, des Konsumspektakels, der Unterhaltungsindustrie, der korrumpierten Kunstinstitutionen, des Neoliberalismus und schließlich des Kapitalismus. Diese Tonart ist auch in Lovinks Aufsatz zu spüren; sie ist ein Bestandteil der dort aufge-

10 Manovich, Lev: Black Box – White Cube, Berlin: Merve 2005, S. 58–59.

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führten Kritik an der Medienkunst, die implizit als ein institutionelles Phänomen par excellence betrachtet wird. Sehr charakteristisch sind in diesem Zusammenhang die Debatten in der australischen Medienkunstszene über die Entscheidung des Australian Council, das New Media Arts Board aufzulösen. Eine online-Diskussion fand auf Fiberculture, einer australischen Mailingliste „für Neue Medien, Forschung und Kultur“ statt, nachdem diese Entscheidung des Councils im Dezember 2004 bekanntgegeben wurde. Die Positionen der australischen Medienkünstler und -theoretiker sind nicht überraschend. In der Auflösung des Boards sahen sie eine direkte Gefahr für die Weiterentwicklung der Medienkunst in Australien. Lovink zitiert dazu die Medientheoretikerin Anna Munster: „Der Punkt ist, dass eine Menge interessanter und außergewöhnlich experimenteller Kunst hier in Australien ohne das Board nicht entstanden wäre. [...] Das bisherige Board hat eine Reihe von Menschen unterstützt, die dadurch längere Zeitphasen hatten, um ihre Ideen durchdenken und verwirklichen zu können. Ohne Fördergelder findet man die Zeit dafür einfach nicht mehr.“11

Spezialisierte Förderstrukturen sind demnach die Voraussetzung einer qualitativen medienkünstlerischen Produktion. Dies ist das Leitmotiv auch weiterer Diskussionsbeiträge zu diesem Thema. Kennzeichnend ist dabei, dass die Medienkünstler, um die Notwendigkeit solcher Förderinstitutionen zu begründen, eine Argumentationslogik und -rhetorik einsetzten, die Anfang der 1990er Jahre auch von Kulturpolitikern verwandt wurde, um die Gründung medienkünstlerischer Institutionen und entsprechende Investitionen zu legitimieren. So schreibt der Medienkünstler Simon Biggs in einem offenen Brief an den Australian Council: „Die Entstehung der Neue-Medien-Kunst kann als wertvoller Beitrag zur Gesellschaft betrachtet werden, und das nicht nur wegen der Kunst, die sie hervorbringt. Australien ist ein Weltführer in den Neue-Medien-Industrien, und zum Teil ist dies dem gut dokumentierten Austausch zwischen der experimentellen kulturellen Praxis

11 G. Lovink: Zero Comments, S. 90.

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innerhalb der Neue-Medien-Kunst und der kommerziellen Verwertung dieser Entwicklungen zu verdanken.“12

Eine ähnliche Argumentation findet sich in den Gründungskonzepten des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM), des Ars ElectronicaZentrums und vieler anderer Medienkunstinstitutionen. Ihre Gründung sollte damals – als eine Art Image-Making-Aktion – die lokalen Ökonomien als marktführende Standorte der Neue-Medien-Industrie positionieren.13 Doch spielte die Neue-Medien-Kunst um das Jahr 2005 im Unterschied zum Anfang der 1990er Jahre in diesen Positionierungsprozessen kaum mehr eine Rolle. Nach der Zeit der großzügigen Investitionen in den Aufbau des institutionellen medienkünstlerischen Umfelds folgte eine Zeit der Kürzungen der Etats und der Schließung vieler Medienkunstinstitutionen. Andreas Broeckmann, der damalige künstlerische Leiter des Berliner transmediale-Festivals und Moderator der Spectre-Mailingliste, initiierte im August 2005 eine Diskussion über die institutionelle Zukunft der Medienkunst. Nach einer Auflistung der Medienkunstzentren, Festivals etc., die kurz zuvor geschlossen worden waren, wie z.B. das Radiator Festival in Kopenhagen oder das World Wide Video Festival in Amsterdam, resümierte Broeckmann: „Während bei all diesen Fällen bestimmte lokale, nationale oder auch persönliche Gründe eine Rolle spielen, ist es doch schwer, hier ein Muster zu übersehen, das zumindest teilweise die institutionelle Expansion der Medienkultur und Medienkunst der neunziger Jahre umkehrt.“14

Im Anschluss an diese Beobachtungen Broeckmanns stellte Lovink folgende grundsätzliche Fragen: „Hatten die Neuen Medien, als Modeerscheinung, ihr Verfallsdatum erreicht, und wenn ja, was passiert mit all denen, die ihre Identität und Karriere darauf aufgebaut

12 Ibid., S. 91. 13 Diese Problematik wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher erläutert. 14 A. Broeckmann, Spectre, 16. August 2005; unter: http://coredump.buug.de/piper mail/spectre, zitiert nach G. Lovink: Zero Comments, S. 95.

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haben? Wie kann man sich mit der Idee eines institutionellen Lebenszyklus anfreunden?“15

Diese Abhängigkeit der individuellen professionellen Identität von der kollektiven institutionellen Identität bildet möglicherweise den Kern der gesamten Institutionsproblematik im Medienkunstkontext. In gewissem Sinne war die institutionelle medienkünstlerische Identität für die Herausbildung der individuellen medienkünstlerischen Identität essentiell und konstitutiv. Doch um diese These historisch zu belegen und theoretisch aufzuarbeiten, ist die Institutionalisierungsgeschichte der Medienkunst aus einer für die Kunstgeschichtsschreibung eher unkonventionellen Perspektive zu betrachten: Die Medienkunstinstitutionen sind nicht nur ein wichtiger Faktor der medienkünstlerischen Praxis und Produktion, sondern geradezu eine Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung der Medienkunst als solcher überhaupt. Mit anderen Worten, die Neue-Medien-Kunst ist als Konzept und als Projekt ein Produkt – oder möglicherweise sogar ein Nebenprodukt – eines komplexen institutionellen Netzwerks, dessen Funktionieren an sich ein Selbstzweck ist. Wie alle anderen Institutionen in der „verwalteten Welt“, (re-) produzieren die Medienkunstinstitutionen vor allem die eigene Existenz und ihr Weiterbestehen. Alle anderen Produkte des institutionellen Betriebs sind kontingent und für das Weiterbestehen der Institutionen weniger relevant als die Erschaffung einer strukturellen und funktionellen Isomorphie mit den anderen Institutionen ihrer Umgebung.16 Von dieser Grundannahme ausgehend, soll hier der Versuch unternommen werden, die institutionelle Geschichte der Medienkunst mit Hilfe einiger exemplarisch-repräsentativer Studien zu skizzieren.

15 G. Lovink: Zero Comments, S. 95. 16 Vgl. das Kapitel „Institutionalismen und Neo-Institutionalismen in der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft“.

Institutionelles Projekt ‚Medienkunst‘: Gesellschaftliche Zusammenhänge und kulturpolitische Legitimation Kapitel 11

Die meisten Analysen von Institutionalisierungsprozessen im Kunstkontext gehen von einem impliziten Entwicklungsmodell aus: Künstlerische Tendenzen, Strömungen und Praktiken entstehen zunächst als naturwüchsige grassroots-Bewegungen. Danach werden sie durch externe Instanzen und Mechanismen, z.B. durch die Kunstinstitutionen, den Kunstmarkt etc. strukturiert, organisiert und verwaltet. Im Hinblick auf die institutionelle Geschichte der Medienkunst findet das oben beschriebene Modell jedoch nur selten eine faktische Grundlage. Nicht die bereits bestehenden naturwüchsigen künstlerischen Praktiken und Tendenzen werden durch die von außen aufgesetzten institutionellen Verwaltungsinstanzen geregelt und gesteuert, sondern der institutionelle Kontext selbst generiert diese Praktiken und Tendenzen und fördert ihre Weiterentwicklung. Dies betrifft insbesondere einige bedeutende Medienkunstinstitutionen, die eine strategische Verwendung des Begriffs Medienkunst ermöglicht haben. Charakteristische Beispiele dafür sind die Gründungsgeschichten solcher für die gesamte Entwicklung der Medienkunst entscheidenden Institutionen wie das Ars Electronica-Festival in Linz und das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Die beiden Gründungen stellen keineswegs ein Ergebnis bereits vorhandener Künstlerinitiativen und Selbstorganisationsaktivitäten dar. Von Anfang an wurden sie als staatliche

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bzw. städtische kulturpolitische Projekte im Spannungsfeld unterschiedlicher sozialökonomischer und parteilicher Interessen der Bundes-, Landesund Stadtregierungen entwickelt und umgesetzt, was in den nächsten Kapiteln ausführlicher untersucht werden soll. Im Gegensatz zu einer in der Medienkunstszene gängigen Vorstellung fiel die Medienkunst nicht einer politischen Instrumentalisierung zum Opfer, die ihren Grund in einem akuten Finanzierungs- bzw. Investitionsbedarf der ursprünglich kostenaufwendigen und technisch anspruchsvollen medienkünstlerischen Produktion hatte. Die Medienkunst war von Beginn an ein Produkt der politischen Instrumentalisierung und nur deshalb konnte sie unter der Sonne der öffentlichen Finanzierung gedeihen. Der Sammelbegriff Medienkunst selbst – eine Kurzform von Neue-Medien-Kunst oder New Media Art in der englischsprachigen Variante – gewann Ende der 1980er Jahre einen Vorrang vor seinen Vorläufern wie Computer Art oder Electronic Art. Der Begriff setzte sich gerade wegen der damaligen Institutionalisierungsprozesse durch, als die im Massenbewusstsein noch ziemlich abstrakten und mystifizierten Neuen Medien in makroökonomischer Perspektive als Heilmittel und Hoffnungsträger der Beschäftigung suchenden postindustriellen Gesellschaft aufgefasst wurden.1 Dieses Legitimationsmotiv stellt einen wichtigen Bestandteil der staatlich gesteuerten Ausgestaltung der Medienkunst dar, die sich in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in einigen westeuropäischen Ländern, vor allem in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, vollzog. Die rasche Entstehung des medienkünstlerischen Institutionsnetzwerks war darüber hinaus das Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener politischer, ökonomischer und kultureller Faktoren. Zu diesen Faktoren zählte unter anderem der Wandel der gesellschaftlichen Funktion der klassischen bürgerlichen Kulturinstitutionen, wie z.B. der Museen, der aus makrosoziologischer Perspektive ebenfalls mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft in Verbindung gebracht wird.

1

Dieser Hintergrund wird deutlich in der Argumentation der Gründungskonzepte und Programme der neu entstandenen Medienkunstinstitutionen, vgl. dazu das Kapitel „Die Entstehungsgeschichte des ZKM“.

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Der französische Soziologe Alain Touraine verwies in seinem 1969 in Paris erschienenen Werk „La société postindustrielle“2 als einer der ersten auf einen wichtigen Aspekt der „Postindustrialisierung“ der Gesellschaft, und zwar auf die signifikanten Veränderungen in der Sozialstruktur der Freizeit, in denen sich ein neues Verhältnis zwischen Individuum und Kultur manifestierte, indem Freizeit zunehmend ökonomisch instrumentalisiert und zum Konsumgut gemacht wurde.3 Zuvor hatte schon Adorno die Unterordnung der Kultur unter die Kulturindustrie diagnostiziert,4 die selbst nur als ein untergeordneter Teil der gesamten Unterhaltungs-, d.h. Freizeitgestaltungsindustrie agierte. Diese Unterordnung bekam nun eine neue Dimension und eine neue gesellschaftliche Funktion. Die Gestaltung der Freizeit bot sich als ein immenses und lohnendes Feld der sozialen und beruflichen Integration derjenigen an, die in der Folge von der industriellen Produktion ausgeschlossen wurden. So konzentrierte sich die staatliche Kulturpolitik in Westeuropa auf den Ausbau der institutionellen Infrastruktur für die sozial-ökonomisch stets bedeutender werdende Kulturindustrie mit ihrem ebenfalls wachsenden Potential, neue Arbeitsplätze bereitzustellen. Diese Ausgangslage war einer der wichtigsten Gründe für den viel besprochenen Museumsboom der 1980er Jahre, der zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung im kunstwissenschaftlichen Diskurs wurde.5 Der österreichische Künstler und Kunsttheoretiker Peter Weibel schrieb zu dieser Problematik: „Heute haben wir es mit Museen zu tun, die Teil der Tourismus-Industrie geworden sind. Der Boom an Museumsbauten, der in den 80er Jahren begann, hat versucht, für dieses neue kulturelle Verhalten der Massen, wo Kunst auch zu einer Form der Unterhaltung, zu einer Form der

2

Deutsche Ausgabe: Touraine, Alain: Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972.

3

Vgl. ebd.

4

Vgl. Th. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 32.

5

Vgl. Weibel, Peter (Hg.): Quantum Daemon. Institutionen der Kunstgemeinschaft, Wien: Passagen Verlag 1996.

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Freizeitgestaltung und spielerischen Kreativität, einem Kurs-Erlebnis am Wochenende wird, neue Räume zu schaffen“.6 Die Gründung neuer Museen oder der Umbau alter Einrichtungen sind jedoch nicht nur ein wichtiger Faktor der kommunalen Ökonomie geworden. Hinter derartigen Aktivitäten der „aufgeklärten Kulturschätzung“ stand auch ein Streben nach der Erzielung von symbolischem Kapital. Die Bandbreite der Motivationen der kulturpolitischen Entscheidungsträger reichte von den gewöhnlichen Zielen der Prestigegewinnung, Verewigung des eigenen Namens etc. bis hin zu kalkulierten taktischen Entscheidungen in der politischen Auseinandersetzung. Diese beiden Faktoren – die politisch programmatische Unterstützung aller Aktivitäten, die sich mit den Neuen Technologien befassen, und die Verstärkung der sozialökonomischen Bedeutung der Kulturindustrie – haben in Westeuropa im Wesentlichen jenen gesellschaftlichen Rahmen mitgestaltet, in dem nicht nur die Gründung solcher Institutionen wie der Ars Electronica in Linz und des ZKM in Karlsruhe, sondern die Entwicklung der Medienkunst als institutionelles Phänomen generell ermöglicht wurde. Die Logik der wirtschaftlichen Instrumentalisierung des Kulturkonsums betrifft gewiss nicht nur die Museumsgründungen, sondern auch Kulturinstitutionen mit einem programmatischen Eventcharakter wie Biennalen, Festivals, Preisvergaben etc. Die Geschichte dieser Institutionen ist durch die gesamte sozialökonomische Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt und spiegelt die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und sich wandelnden sozialen Bedürfnisse wider. Die urbanen Sozialstrukturen benötigen neue Treffpunkte und Formen kollektiver Erlebnisse, die traditionelle gemeinschaftliche Veranstaltungen funktionell ersetzen können. Der Kulturkonsum lässt sich durch die Eventprinzip-basierten Formate am besten strukturieren und steuern. Die steigende „Biennalisierung“ und „Festivalisierung“ des kulturellen Lebens, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten ist, findet gerade unter diesen gesellschaftspolitischen Prämissen statt. Mit den Neuen Medien gewinnen bereits etablierte Formate wie Festivals und Biennalen zusammen mit den neuen Themen und neuen

6

Weibel, Peter: „Museen in der postindustriellen Massengesellschaft. Gegen eine Metaphysik der Präsenz, für eine Physik der Massen“, in: ders. (Hg.): Quantum Daemon, S. 23–34, hier S. 27.

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Kunstformen auch das Potential und die inhaltliche Berechtigung für eine weitere institutionelle Expansion. Der Aufbau des institutionellen Umfelds der Medienkunst vollzieht sich im Kontext dieses programmatisch postulierten Wandels von der industriellen zur postindustriellen bzw. zur informations- und medienbasierten Gesellschaft. Eine strukturelle Integration des Expertentums in das politische System des gegenwärtigen Staates sorgt dafür, dass die sozialwissenschaftlichen Diagnosen vergleichsweise schnell in die offiziellen staatlichen Handlungsprogramme und in ihr Legitimationsvokabular eingearbeitet werden. Sobald die Neuen Medien bzw. neuen Technologien im öffentlichen politischen Diskurs als neue Arbeitsfelder und neue Märkte begriffen werden, sind dadurch auch alle institutionellen Gründungen im Bereich der neuen Technologien und Neuen Medien a priori als „Investitionen in die Zukunft“ legitimiert und nachgefragt. Die Etablierung der Neuen Medien zu einem tragenden wirtschaftspolitischen Konzept der 1980er und 1990er Jahre setzte sich auch in der staatlichen Kulturpolitik der westeuropäischen Staaten fort, wo die Neuen Medien für etwa ein Jahrzehnt zu einem zentralen Begriff im institutionellen Legitimationsdiskurs wurden. Eine strategische Verwendung der Neuen Medien in künstlerischen Projekten wurde in diesem Kontext als „kreative Erforschung“ der neuen Technologien interpretiert, die weit über die Grenzen einer rein künstlerischen Praxis hinausging. In den meisten früheren theoretischen Aufsätzen wurde Medienkunst in erster Linie als Avantgarde einer solchen „kreativen Erforschung“ der Neuen Medien und als ein wichtiger „Experimentierraum“ dargestellt, der dem Zweck einer besseren und sinnhafteren Gestaltung der neuen Technologien dienen sollte. In dem kulturpolitischinstitutionell initiierten Medienkunstdiskurs wurde von Anfang an ein Sonderstatus der Medienkunst beansprucht: Sie sei „nicht nur Kunst“ – im Sinne der klassischen „Schönen Künste“ –, sondern sie sei „mehr als nur Kunst“, d.h. eine für die gesamte Gesellschaft nützliche interdisziplinäre Tätigkeit, die in sich „Kunst, Wissenschaft und Technologie“ unmittelbar vereine. Die Behauptung eines ‚Mehrwerts‘ an Nützlichkeit der Medienkunst im Vergleich zu traditionellen Kunstformen und -praktiken sowie die Betonung ihrer hybriden Natur als einer Dreieinigkeit von „Kunst, Wissenschaft und Technologie“ prägte den gesamten Legitimationsdiskurs der medienkünstlerischen institutionellen Gründungen der 1980er und 1990er Jahre.

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Das Verständnis der Medienkunst als einer freien künstlerischen Tätigkeit in der Tradition der modernistischen Kunstautonomie war in der Programmatik medienkünstlerischer Institutionen von vornherein nicht vorhanden. Die Neuen Medien und neue Technologien wurden zwar als künstlerische Werkzeuge und Ausdrucksmittel für Kreativität angesehen, die gesellschaftliche Aufgabe dieser Kreativität bestand jedoch in erster Linie darin, eine ästhetische Dimension der neuen Technologien für eine bessere Zukunftsgestaltung zu erarbeiten. Eine solche programmatische Bereitschaft zur (Selbst-) Instrumentalisierung erweiterte den Kreis der involvierten kulturpolitischen Akteure und potentiellen Förderungsmöglichkeiten: Einerseits ließ sich die Medienkunst als Kunst in die bereits existierenden und etablierten Finanzierungsstrukturen und institutionellen Formate des Kunstbetriebs integrieren; andererseits ermöglichte die Akzentuierung ihrer hybriden interdisziplinären Natur als Dreieinigkeit von „Art, Science and Technology“ ein Andocken der Medienkunst an diverse Strukturen des Wissenschaftsbetriebs wie Forschungsinstitute und -labore etc. Zu den gewöhnlichen Finanzierungsmöglichkeiten durch Kulturministerien oder staatliche und private Kunst- und Kulturstiftungen kamen verschiedene Regierungskommissionen und Fachausschüsse aus den Wissenschafts-, Bildungs- oder sogar Wirtschaftsministerien hinzu, die unter der Agenda der Förderung technologischer Innovationen auch die Medienkunstinstitutionen unterstützten. Vor diesem Hintergrund entstanden zahlreiche multitasking-Einrichtungen wie die Media Art Centers, die Media Art Labs oder die Media Art Institutes, die sich im Allgemeinen als „Schnittstellen zwischen der wissenschaftlichen Forschung und künstlerischen Praxis“ positionierten. Derartige Einrichtungen suchten im Grunde die Funktionen eines Forschungslabors sowie Produktionszentrums und artist-in-residence-Programms in sich zu vereinen, um eine „experimentelle“ und „innovative“ medienkünstlerische Produktion herzustellen.7

7

Als Beispiele seien hier zunächst das MARS Lab (Media Arts and Research Studies) am Fraunhofer-Institut für Medienkommunikation, das Montevideo/Time Based Arts (The Netherlands Media Art Institute) in Amsterdam, Le Fresnoy (Studio national des arts contemporains) in Tourcoing (Frankreich), MIT Media Lab am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge genannt.

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Eine wichtige Rolle beim Aufbau des medienkünstlerischen institutionellen Netzwerks spielten auch korporative Sponsoren aus dem Bereich der NeueMedien-Industrie, die die Medienkunst vom Anfang an strategisch als eine Werbefläche für ihre Produkte einsetzten. Zahlreiche regionale wie große internationale Medienkunst-Festivals, Symposien etc. wurden maßgeblich durch bestimmte IT-, Software-, Hardware-, Kommunikations- und andere Firmen gefördert und als Teil ihrer Promotion-Kampagnen in die Unternehmensstrategien mit einbezogen.8 Ein bedeutendes Beispiel eines solchen korporativen Engagements ist das NTT InterCommunication Center [ICC] in Tokio, ein Medienkunstzentrum, das 1997 mit Unterstützung des großen japanischen Telekommunikationsunternehmens NTT (Nippon Telephone and Telegraph Corporation) eröffnet wurde. Neben den Ausstellungen und der Sammlung von Medienkunstwerken veranstaltet das ICC diverse Workshops, Performances, Symposien etc. und zählt zusammen mit dem IAMAS (The Institute of Advanced Media Arts and Sciences)9 in Gifu zu den bedeutendsten Medienkunstinstitutionen Japans. Das ICC sieht seine Aufgabe als Institution darin, „to encourage the dialogue between technology and the arts with a core theme of ‚communication,‘ thereby building an affluent society for the future. Through such dialogue, it also aims to become a network that links artists and scientists worldwide, as well as a center for information exchange.“10 In dieser Rhetorik der Zielsetzung wiederholt das ICC die gleichen Topoi von „the dialogue between technology and the arts“, „building an af-

8

So wurde zum Beispiel das Neue-Medien-Zentrum des ICA in London von der Firma Sun Microsystems gesponsert. Dieses Sponsoring-Programm beinhaltete nicht nur eine finanzielle Unterstützung, sondern auch die Versorgung des Zentrums mit Maschinen von Sun Microsystems selbst, die, laut dem Kurator des Programms Tom Holley, „kaum jemand bedienen konnte“, was verständlicherweise „in der Community für Verärgerung“ sorgte und die weitere Entwicklung des Zentrums maßgeblich beeinträchtigte. „Als die Vereinbarung nach ein paar Jahren auslief, zog Sun seine Unterstützung zurück, und seitdem ist das Projekt mausetot“, schilderte Holley die Situation in einer Spectre-Diskussion, vgl. G. Lovink: Zero Comments, S. 95.

9

http://www.iamas.ac.jp/E/about2.html [letzter Zugriff: 15.04.2017].

10 http://www.ntticc.or.jp/About/introduction.html [letzter Zugriff: 15.04.2017].

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fluent society for the future“, „linking artists and scientists worldwide“, die grundsätzlich in den meisten Selbstdarstellungen der Medienkunstinstitutionen weltweit zu finden sind und die in den kulturpolitischen Legitimationsdiskurs der Medienkunst fest eingeschrieben sind. Es ist allerdings eine Besonderheit Japans, dass die meisten Kunstförderprogramme und Initiativen generell aus dem unternehmerischkorporativen Umfeld kommen und der Staat kulturpolitisch relativ wenig agiert. Im Falle der Medienkunst erweist sich jedoch die Strategie einer Legitimationsbeschaffung durch die Akzentuierung einer vermeintlichen gesellschaftlichen Nützlichkeit medienkünstlerischer Praktiken als universell und länderübergreifend. Diese Argumentation wird ungeachtet dessen angewendet, ob diese Institutionen ursprünglich als staatliche, korporative oder grassroots-Künstlerinitiativen entstanden sind. In der institutionellen Geschichte der Medienkunst finden sich gewiss auch genügend Beispiele von Institutionen, die nicht infolge kulturpolitischer Entscheidungen ‚von oben‘, sondern auf der Basis von Aktivisten-Initiativen ‚von unten‘ gegründet wurden. Dies betrifft Festivals wie die Berliner transmediale oder das EMAF (European Media Art Festival) in Osnabrück sowie einige andere ursprünglich informelle Künstlerinitiativen wie das V2_ Institute for the Unstable Media (Interdisciplinary Center for Art and Media Technology)11 in Rotterdam. Im Laufe ihrer institutionellen Entwicklung mussten sie sich in ihrer Programmatik und legitimatorischen Rhetorik immer stärker an die sich rasant ändernden kulturpolitischen Konjunkturen anpassen, was in den nächsten Kapiteln ausführlicher erläutert werden soll. Parallel zu dieser Institutionalisierungstendenz fand auch eine steigende Aneignung der Medienkunst durch die etablierten Strukturen des Kunstbe-

11 V2_ war ursprünglich ein Künstlerkollektiv, das 1981 gegründet wurde. In einem Squat in der Vughterstraat 234 (kurz: V2_) in ’s-Hertogenbosch (Niederlande) veranstalteten Künstler aus verschiedenen Bereichen Konzerte, Performances und Experimente mit analogen Medien wie Fernsehen, Lautsprechern, Super-8-Filmen etc. Sie organisierten Ausstellungen mit Malerei, Installationen u.s.w. Seit Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich V2_ zu einem Zentrum für die Kunst mit den Neuen Medien, vgl. http://www.v2.nl/ [letzter Zugriff: 15.04.2017].

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triebs statt. Schon in den 1950er Jahren bekamen künstlerische Experimente mit den neuesten technischen Erfindungen wie Kinetic Art und Op Art einen Platz im Ausstellungsrepertoire der traditionellen Kunstinstitutionen wie Museen und Galerien. Im Jahre 1968, das vom kybernetischen Geist der Epoche geprägt war, wurde die berühmte Ausstellung „Cybernetic Serendipity“ im Institute of Contemporary Art (ICA) in London organisiert, auf der die frühen Werke der Computer Art präsentiert wurden.12 Das Los Angeles County Museum of Art (LACMA) präsentierte 1969 künstlerische Projekte, die im Rahmen des Art and Technology-Programms entstanden waren. Dieses Programm beinhaltete die Zusammenarbeit von Künstlern wie Robert Rauschenberg, Robert Irwin und Richard Serra mit den Technologie-Unternehmen bei der Umsetzung ihrer neuen Projekte.13 Eine große Bedeutung für die Entwicklung und Etablierung der technologiebasierten und insbesondere der computergenerierten Kunst spielte in Europa die Bewegung Neue Tendenzen, die 1961 in Zagreb mit der Unterstützung der dortigen Galerie für zeitgenössische Kunst (Galerija suvremene umjetnosti) entstanden war. Die von ihnen organisierten großen Ausstellungen und Konferenzen sowie die Herausgabe der mehrsprachigen Zeitschrift Bit International im Jahre 1968 trugen wesentlich dazu bei, dass der Computer zunehmend als eigenständiges künstlerisches Medium in der internationalen Kunstgemeinschaft wahrgenommen wurde.14 Die Einführung der technologiebasierten künstlerischen Produktionen in die Ausstellungsprogramme der Kunstinstitutionen hatte jedoch bis zum Anfang der 1990er Jahre einen eher punktuellen und sporadischen Charakter. Zusammen mit der Verbreitung der Neuen Medien im Alltag und mit der wachsenden Bedeutung dieses Themas im öffentlichen Diskurs und in der künstlerischen Praxis suchten auch die Kunstinstitutionen diesen allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungstrend immer aktiver in ihren Programmen widerzuspiegeln. Zu den ersten bedeutenden Events zählte die Ausstellung „Bay Area Media“, die 1990 am San Francisco Mu-

12 Vgl. Reichardt, Jasia (Hg.): Cybernetic Serendipity. The Computer and the Arts, London: Studio International 1968. 13 Vgl. Tribe, Mark/Jana, Reena: New Media Art, Köln: Taschen 2006, S. 21. 14 Vgl. Rosen, Margit (Hg.): A Little-Known Story about a Movement, a Magazine, and the Computer’s Arrival in Art. New Tendencies and Bit International, 1961-1973, Cambridge, Mass.: MIT Press 2011.

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seum of Modern Art (SFMoMA) veranstaltet wurde. 1993 zeigte das Guggenheim Museum in New York die vom Gastkurator Jon Ippolito organisierte Ausstellung „Virtual Reality: An Emerging Medium“.15 Aufgrund des New Media Art Trends der 1990er Jahre folgten, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, einige Änderungen und Ergänzungen in der Organisationsstruktur der Kunstinstitutionen selbst, wie z.B. die Einführung neuer Stellen, Departments, Bereiche etc.16 Ähnliche organisatorisch-strukturelle Änderungen waren auch im System der Kunstausbildung zu beobachten, wo nicht nur Professuren und Dozentenstellen für Medienkunst, sondern komplette medienkünstlerisch-bezogene Studiengänge eingeführt wurden. Die gleiche Entwicklungsdynamik betrifft auch die theoretische Aufarbeitung der neuen kulturellen und künstlerischen Praktiken. Zahlreiche akademische und künstlerische Symposien und Konferenzen mit begleitenden Publikationen, veranstaltet von Universitäten, Kunsthochschulen, Museen und anderen Kunstinstitutionen sowie Initiativgruppen von Medienaktivisten produzierten nicht nur den Diskurs der Medienkunst, sondern auch die Medienkunst als Tätigkeitsfeld und professionelle Identität schlechthin.17 Das Netzwerk der Institutionen wächst mit der Zahl der in die medienkünstlerische Produktion, Distribution und ihre diskursive Aufarbeitung beruflich Involvierten. Zum Ende der 1990er Jahre entwickelte sich die Medienkunstszene endgültig zu einer professionellen Gemeinschaft, die in ihrer Organisationsstruktur und ihren Funktionsweisen die bereits vorhandenen Organisationsmuster der anderen institutionalisierten Tätigkeitsbereiche reproduzierte.

15 Vgl. M. Tribe/R. Jana, New Media Art, S. 21–22. 16 Um nur einige Beispiele zu nennen, sei auf Christiane Paul hingewiesen, die im Januar 2000 Kuratorin für digitale Kunst am Whitney Museum wurde; das SFMoMA stellte Benjamin Weil, den Mitbegründer der Net Art Site äda, als Kurator für Medienkunst ein, vgl. ebd. 17 Einiger dieser Initiativen, wie z.B. das ISEA (International Symposium on Electronic Art, gegründet 1988), spielen bis heute eine konsolidierende Rolle in der internationalen Medienkunstszene, die sich erst durch solche spezialisierten Events ausdifferenzieren konnte, vgl. http://www.isea-web.org [letzter Zugriff: 15.04.2017].

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In seinem Artikel „Nomadisch und disziplinlos. Zur Identität von Medien-Wissenschaftlern im Transit“ schilderte der deutsche Medientheoretiker Siegfried Zielinski nicht ohne Ironie die Folgen einer solchen Entwicklung für die Medienkunstwelt sowie ihren unverkennbaren kulturpolitischen Hintergrund: „Zwischen den alten (integrationsorientierten) und neuen (profitorientierten) medialen Veranstaltern kreisen die Personalkarussells und Karriere-Achterbahnen. Mit den delirierenden Berg- und Talfahrten der Medien selbst sind auch die Ausbildungsinstitutionen in Bewegung geraten und vor allem: Es entstanden neue. Zwischen Potsdam-Babelsberg und München, Köln und Karlsruhe, Dessau und Weimar, Hamburg und München beginnt man in den letzten Jahren die Herausforderungen einer durchgreifenden Mediatisierung sozialer und kultureller Beziehungen anzunehmen und verschließt sich in der politischen Administration nicht länger vor dem sozioökonomischen und kulturellen Umbruch. Nun muss man sie sich leisten können: Es entstehen mehr oder weniger reiche Luna-Parks künstlerisch-handwerklicher und kommerzieller Erziehung der nächsten Kommunikatorengeneration(en). Was vor zwei Jahrzehnten noch als niedere Beschäftigung aus den akademischen Institutionen ausgegrenzt wurde und nur gegen den erbitterten Widerstand konservativer Professoren und Funktionäre durchgesetzt werden konnte, nämlich das intensive theoretische und auch praktische Studium der Medien, ist ins Zentrum gesellschaftlichen Interesses gerückt. Interaktivität, Kreativität und kommunikative Kompetenz sind nicht mehr in erster Linie Kampfbegriffe gegen verkrustete Strukturen, sondern Paradigmen einer Strategie geworden, die EU-Verwalter mit dem Terminus ‚Informations-Gesellschaft‘ versehen.“18

Dieses präzis erfasste paradigmatische Entwicklungsmuster scheint heute auch für alle späteren funktionalen Nachfolger der Medienkunst nicht zu vermeiden zu sein. Hinter der Fassade zeitspezifischer Schlagworte der kulturpolitischen Legitimationsrhetorik – sei es der „Informationsgesellschaft“, der „Kreativwirtschaft“, der „künstlerischen Forschung“, der „kritischen Wissensproduktion“ oder welcher Termini auch immer, die in Zu-

18 Zielinski, Siegfried: „Nomadisch und disziplinlos. Zur Identität von MedienWissenschaftlern im Transit“, in: Stephen Kovats (Hg.): Ost-West Internet = Media Revolution. Elektronische Medien im Transformationsprozess Ost- und Mitteleuropas, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1999, S. 120–124, hier S. 121.

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kunft noch geprägt werden mögen – verbergen sich die gleichen Mechanismen der Institutionalisierung, die sich mit den Gesetzen der gesellschaftlichen Isomorphie und mit den jeweils relevanten institutionellen Organisations- und Funktionsschemata in vollem Einklang befinden.

Dead Media-Art-Institutions Kapitel 12

Viele Gründungen der 1990er Jahre, die sich programmatisch der Medienkunst widmeten, erwiesen sich in der Praxis als vergleichsweise kurzlebige institutionelle Phänomene. Das betrifft vor allem zahlreiche festivalartige Events, die unter Berücksichtigung je aktueller Fördertrends konzipiert wurden und – direkt oder indirekt – politische Interessen der involvierten Akteure bedienen sollten. In Analogie zum „Dead Media Project“1 könnte man eine Art „Dead Media Art Institutions Project“ initiieren, das alle diese zahlreichen institutionellen Erscheinungen der Medienkunstgeschichte erfassen könnte. Ob die Multimediale in Karlsruhe, die Mediale in Hamburg, die NewMediaLogia in Moskau, die OSTranenie am Bauhaus in Dessau oder, etwas später, der Internationale Medienkunstpreis: Es sind Belege nicht nur für eine schnelle institutionelle Aneignung der neuen kulturellen Themen und Phänomene, sondern auch für die Abhängigkeit der Kulturpolitik von den gleichen trend setting-Mechanismen und lock-in-Effekten, die aus den Funktionsprinzipien der Warenmärkte bekannt sind. Der Image-Gewinn lokaler Politiker und Unternehmer als „progressive Mäzene“ und Wegbereiter

1

„The Dead Media Project“ wurde 1995 von dem US-amerikanischen Schriftsteller Bruce Sterling in seinem Manifest „The Dead Media Project — A Modest Proposal and a Public Appeal“ als Rückschau auf die veralteten und aus dem Gebrauch verschwundenen Kommunikationstechnologien und -instrumente konzipiert, vgl. http://www.alamut.com/subj/artiface/deadMedia/dM_Manifesto. html [letzter Zugriff: 15.04.2017].

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des „Neuen“ bzw. „Innovativen“ hängt natürlich im Wesentlichen davon ab, was in der Öffentlichkeit jeweils gerade als das „Progressive“, „Neue“ und „Innovative“ verstanden wird. Anfang der 1990er Jahre waren die Neuen Medien und neue Technologien im öffentlichen Diskurs gewiss die wichtigsten Erscheinungsformen des „Progressiven“ und „Innovativen“ per se. Diese zeitspezifische Begriffsdisposition wird auf verschiedenen Ebenen in die institutionellen Legitimationsdiskurse eingebracht und spiegelt sich in ihrer Argumentationsrhetorik wider. Ein symptomatisches Beispiel dafür bietet die Hamburger Mediale vom Jahr 1993, die von ihren Organisatoren als „das erste Festival für Medienkunst und Medienzukunft“ bezeichnet wurde. Der Initiator der Mediale, Thomas Wegner, spricht im Vorwort zum Festivalkatalog von der „Medienstadt Hamburg“ und verbindet so das Festival mit den Bestrebungen der Stadtregierung, Hamburg als Medienstadt zu positionieren. Dadurch erhält die Mediale auch eine zusätzliche kulturpolitische Legitimation.2 Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Henning Voscherau erweiterte in seinem Begrüßungswort diese Argumentationslinie: „Es kommt gewiss nicht von ungefähr, dass gerade in Hamburg das erste europaweite Medienfestival stattfindet.“ Denn dies, so Voscherau, knüpfe an „eine lange Tradition des Mäzenatentums in dieser Stadt“ an und fiele „auf den fruchtbaren Boden des führenden Medienzentrums in Deutschland.“ Am Ende des Aufsatzes wird die proklamierte Zielsetzung des Festivals noch pathetischer: „Die Mediale verfolgt den hohen Anspruch, alte Fragen nach der Herkunft des Menschen mit neuesten Mitteln auf neue Weise zu stellen.“3 Der Katalogbeitrag der Kultursenatorin Christina Weiß bringt die Logik der kulturpolitischen Legitimation der Medienkunst noch ausführlicher zum Ausdruck. Ganz im Einklang mit den Formulierungstopoi anderer Gründungskonzepte im institutionellen Medienkunstfeld, so vor allem mit dem ZKM-„Konzept ’88“, betont sie die Notwendigkeit, „unser Zusammenleben“ mit den Neuen Medien „menschlich zu gestalten und weiter zu humanisieren“ und schildert die Rolle der Medienkunst in diesem Prozess:

2

Wegner, Thomas: „Eine Zeit der Wunder“, in: Mediale: Das erste Festival für Medienkunst und Medienzukunft (Festivalkatalog), Hamburg: MacUP Verlag GmbH 1993, S. 3.

3

Voscherau, Henning: „Ein anspruchsvolles Wagnis“, in: Mediale: Das erste Festival für Medienkunst und Medienzukunft, S. 4.

D EAD M EDIA-A RT -I NSTITUTIONS | 179

„Ich glaube, in diesem Spannungsfeld – in dem sich entscheidet, ob wir Menschen Subjekte oder Objekte der Technologie sind – kommt dem Beitrag der Künstlerinnen und Künstler eine besondere Bedeutung zu. Denn der gestaltende Zugriff auf die neuen Technologien ist exemplarisch für die Selbstbehauptung des Individuums, für den subjekthaften Umgang mit den Technologien. In diesem Sinn kann die Medienkunst ein Vorbild sein: Die Künstlerinnen und Künstler lehren uns, mit den neuen Mitteln zu spielen, statt ihnen zu erlauben, dass sie uns mitspielen.“4

Auf dieser Argumentation basieren auch die Zielsetzung des Festivals sowie seine Bedeutung für die Kulturpolitik der Stadt: „Die Mediale wird ein Anlass sein, derlei kritische Fragen zu stellen und die Umgangsformen mit den modernen Technologien zu sichten. Die Mediale wird uns auf vieles aufmerksam machen, auf Bekanntes und Unbekanntes. Die vielen Veranstaltungsprojekte werden Gelegenheit zu spannenden Dialogen bieten – zu Dialogen, die ihrerseits auch die großen Chancen in der Nutzung der zeitgenössischen Medien versinnbildlichen. [...] Ich halte es für zukunftsweisend, wie so viele kulturelle Kräfte unserer Stadt hier zusammenspielen – zukunftsweisend für eine Kulturpolitik, die über die Grenzen des Institutsdenkens hinausgeht und auf inhaltlicher Kooperation und der Bündelung der finanziellen Ressourcen aufbaut.“5

Sehr bezeichnend ist auch das Programm der Mediale, das eine institutionelle Aneignung diverser künstlerischer Praktiken unter dem kulturpolitisch geprägten Begriff „Medienkunst“ deutlich macht. Auf der zentralen Ausstellung der Mediale in den Deichtorhallen waren Arbeiten von Künstlern zu sehen, die vor der Einführung und Verbreitung des Begriffes Medienkunst und vor der Entstehung der entsprechenden Präsentationskontexte in der zeitgenössischen Kunst gewöhnlich unter ganz anderen Kategorien subsumiert wurden, so unter Videokunst, Arte Povera, Institutionskritik etc. Die Mediale-Ausstellung stellte dagegen die Arbeiten von Nam June Paik, Bill Viola, Marie-Jo Lafontaine, Marina Abramovich, Klaus von Bruch, Pe-

4

Weiß, Christina: „Eine Einladung zum Dialog“, in: Mediale: Das erste Festival für Medienkunst und Medienzukunft, S. 6.

5

Ibid.

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ter Campus, Hans Haacke, Jannis Kounellis, Fabrizio Plessi und vielen anderen als Medienkunst schlechthin dar. Ein ähnlicher appropriativer Ansatz findet sich auch bei vielen anderen medienkünstlerisch profilierten Ausstellungen und Festivals. Die langen theoretischen Diskussionen darüber, welche künstlerische Formen und Praktiken genau als Medienkunst bezeichnet werden können, spielten dabei für die kulturpolitische ad hoc Instrumentalisierung des Begriffs keine prinzipielle Rolle. In diesem Zusammenhang stellt die Mediale ein charakteristisches Beispiel für die strategische Verwendung solcher termini constructi wie Medienkunst dar, deren Funktion auf dem kulturpolitischen Markt zunächst darin besteht, als ein neuer attraktiver ‚Brand‘ für Investitionen zu sorgen. Diese termini constructi werden so lange eingesetzt, wie sie in den Augen der potentiellen Geldgeber ihre Förderungswürdigkeit nicht verloren haben, die zunächst darin besteht, für den Geldgeber durch den Akt der Förderung einen Positionierungswert zu generieren. Aus kulturpolitischer Sicht sinkt die Förderungswürdigkeit der Medienkunst zusammen mit dem Verfall der Neuwertigkeit der Neuen Medien als eines Aushängeschildes für wirtschaftspolitische Investitionen. Der Begriffsapparat des kulturpolitischen Legitimationsdiskurses muss durch neuere relevantere Konzepte entsprechend stets aktualisiert werden, was sich vor allem in den institutionellen Programmen und ihren öffentlichen Selbstdarstellungen manifestiert. Die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Kunstinstitutionen haben langfristig gesehen nur dann eine Überlebenschance, wenn sie diese Funktionsprinzipien des kulturpolitischen Systems beachten und in ihre eigene Identitätspolitik und Handlungsstrategien einbringen, was am Beispiel des Berliner Festivals transmediale zu beobachten ist.

Transformationen der transmediale Kapitel 13

Das Festival transmediale wurde 1988 unter den Namen VideoFilmFest als Nebenprogramm zur Berlinale-Sektion Internationales Forum des Jungen Films von dem Videokünstler Micky Kwella gegründet. Nachdem die Sektionsleitung 1987 beschlossen hatte, die Videokunst aus ihrem Programm zu streichen, organisierte Micky Kwella eine alternative Präsentationsplattform für die Videokunst und andere künstlerische Projekte, die sich mit den elektronischen Medien befassten. Im Februar 1988 fand parallel zur Berlinale das erste VideoFilmFest statt. Bis 1990 wurden die Festivalvorführungen in den Räumen der MedienOperative – einer Gruppe unabhängiger Videomacher und Journalisten – veranstaltet. 1991 zog das Festival vor allem wegen der wachsenden Besucherzahlen in die Akademie der Künste der DDR um.1 Nach dem Zusammenschluss der beiden Berliner Akademien der Künste (Ost und West) und ihrer entsprechenden Umstrukturierung fand das Festival 1993 im historischen Berliner Palais Podewil neue Veranstaltungsräumlichkeiten. Nach der Schließung des DDR-Hauses der jungen Talente wurde das Palais Podewil von der Berliner KulturveranstaltungsGmbH als Veranstaltungsort sowie als Arbeits- und Produktionshaus für Künstler genutzt. Seit 1997 befindet sich dort auch das Festivalbüro.

1

Vgl. http://www.waidak.de/diewaidaks/mickykwella.html [letzter Zugriff: 15.04. 2017].

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1997 änderte das Festival seinen Namen zunächst von VideoFilmFest zu transmedia um, 1998 dann zu transmediale.2 Mit dieser Namensänderung reagierte das Organisationsteam des Festivals auf die wachsende Palette der künstlerisch-medialen Produktion, die im Jahr 1998 weit über die Grenzen des Videokunstfestivals hinausging und viele neue multimediale Kunstformen wie interaktive computergesteuerte Installationen, CD-ROMs, Internet-basierte Arbeiten etc. umfasste. 2001 übernahm der Kurator und Kunstwissenschaftler Andreas Broeckmann die künstlerische Leitung des Festivals. Von 1995 bis 2000 war er zuvor Kurator und Projektmanager für das Rotterdamer V2_ Institut für instabile Medien gewesen.3 Unter seiner Leitung erfolgte eine wesentliche Umstrukturierung der transmediale. Seit 2001 hat die transmediale ähnlich wie die Ars Electronica jedes Jahr einen bestimmten thematischen Schwerpunkt. Diese Schwerpunkte sind zum einen abstrakt genug, um ein breiteres Spektrum der Projekte im Programm zuzulassen, zum anderen aber sollen sie auf die gesellschaftspolitische Relevanz bzw. Reflexionsansprüche der Veranstaltung hinweisen. Seit 2001 hatte die transmediale die folgenden thematischen Schwerpunkte: • • • • • • • • • • • •

2

transmediale.01 : Do it Yourself! transmediale.02 : Go Public! transmediale.03 : Play Global! transmediale.04 : Fly Utopia! transmediale.05 : Basics transmediale.06 : Reality Addicts transmediale.07 : Unfinish! transmediale.08 : Conspire... transmediale.09 : Deep North transmediale.10 : Futurity Now! transmediale.11 : Response:ability transmediale.12 : in/compatible

Vgl. https://transmediale.de/de/content/die-geschichte-der-transmediale-0 [letzter Zugriff: 15.04.2017].

3

Andreas Broeckmann leitete die transmediale bis 2007, von 2008 bis 2011 war Stephen Kovats künstlerischer Leiter des Festivals. Im April 2011 übernahm Kristoffer Gansing die künstlerische Leitung der transmediale, vgl. ebd.

T RANSFORMATIONEN

• • •

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transmediale.13 : BWPWAP transmediale.14 : Afterglow transmediale.15 : CAPTURE ALL4

Auch der Veranstaltungsort wurde 2011 gewechselt und die transmediale zog in das Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) um.5 Das Programm des Festivals wurde ebenfalls erweitert. Seit 2002 werden im Rahmen der transmediale Festivalausstellungen organisiert, die „die Medienkunst sinnlich und räumlich erfahrbar“ machen sollen.6 2006 wurde der Untertitel des Festivals ein weiteres Mal geändert, und zwar von International Media Art Festival in Festival for Art and Digital Culture. Damit wurde „eine Abkehr von der reinen Medienkunst und die Öffnung hin zum Spannungsfeld von Kunst, Technologie und unserem digitalisierten Alltag“ beansprucht.7 Aus institutionsstrategischer Sicht sind die Gründe dieser Umbenennung deutlich genug: Die „reine Medienkunst“ wurde im Kontext der kulturpolitischen Agenda 2006 nicht mehr als bedingungslos förderungswürdig erachtet, wie es noch einige Jahre zuvor der Fall gewesen war. Der kulturpolitisch weniger relevant gewordene Brand New Media Art wurde durch das breitere und dafür gesellschaftlich ‚relevantere‘ Konzept der Digital Culture ersetzt. Damit beanspruchte das Festival ein gewisses Update seiner soziokulturellen Legitimität und folglich auch seiner Förderungswürdigkeit. Im Jahr 2004 entschied die Kulturstiftung des Bundes, „die transmediale (zusammen mit der documenta, der Berlin Biennale u.a.) als ‚Leuchtturmprojekt der Gegenwartskultur‘ zu fördern. 2010 wurde diese Förderung

4 5

https://transmediale.de/de/archive [letzter Zugriff: 15.04.2017]. In den Jahren 2002 bis 2005 fand die transmediale im HKW statt. 2006 wechselte das Festival für zwei Jahre in die Akademie der Künste am Hanseatenweg; seit 2008 wird sie wieder im HKW veranstaltet, vgl. https://transmedi ale.de/de/content/die-geschichte-der-transmediale-0

6

Dieses und ein weiteres Zitat stammen aus einer früheren Version der Wikipedia-Seite des Festivals, die noch bis 2015 online zu finden war, vgl. https:// de.wikipedia.org/wiki/Transmediale [letzter Zugriff: 15.04.2017].

7

Ibid.

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bis 2017 verlängert. Träger des Festivals ist die Kulturprojekte Berlin GmbH, die bis 2005 als Kulturveranstaltungs-GmbH firmierte.“8 Die Kulturprojekte Berlin GmbH ist laut ihrer offiziellen Webseite „eine gemeinnützige Landesgesellschaft zur Förderung, Vernetzung und Vermittlung von Kultur. Als kompetenter Partner für die Berliner Kultur und das Land Berlin konzipiert und organisiert die Gesellschaft komplexe kulturelle Projekte und Initiativen, übernimmt Serviceleistungen für Berliner Museen und Ausstellungen, entwickelt und betreut Programme der Kulturellen Bildung und ist Veranstalter und/oder Träger rechtlich unselbständiger Spielstätten und Festivals. [...] Kulturprojekte Berlin ist im Oktober 2006 aus dem Zusammengehen der Berliner Kulturveranstaltungs-GmbH (BKV) mit dem Museumspädagogischen Dienst Berlin (MD) entstanden und hat ihren Sitz im Podewil.“9 Die programmatischen Zielsetzungen und Handlungsstrategien des Festivals sind unter anderem durch die Trägerschaft der Kulturprojekte Berlin GmbH geprägt. Letztere, obwohl in erster Linie durch öffentliche Mittel finanziert, muss dennoch als eine GmbH agieren. Zum einen hat das Festival die Förderung aus öffentlichen Mitteln durch seine rhetorisch und begrifflich abgesicherte gesellschaftliche und kulturelle Relevanz zu rechtfertigen. Zum anderen ist damit eine Art unternehmerischen Handelns gefordert sowie die Erwartung minimaler Rentabilität involviert. Eine steigende Besucherzahl ist für beide Zwecke die ultimative Legitimationswaffe, sowohl aus Sicht der aus Steuergeldern finanzierten staatlichen kulturpolitischen Institute als auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive. Das Festivalprogramm muss aus diesem Grunde der Einschätzung der Publikumserwartungen entsprechend fortlaufend diversifiziert und erneuert werden, wobei diese Erwartungen – den Nachfrage-Prognosen in der Marktforschung vergleichbar – teilweise projiziert, teilweise konstruiert bleiben. Ein komplexes Zusammenspiel verschiedener finanzieller, verwaltungslogistischer, mikropolitisch-personeller und anderer Faktoren beeinflusst auch die künstlerischen und theoretischen Inhalte des Festivals, die die ak-

8 9

Ibid. http://www.kulturprojekte-berlin.de/kulturprojekte-berlin/ [die Seite wurde inzwischen aktualisiert – Teile des zitierten Textes finden sich im Wortlaut noch unter https://dasauge.de/-kulturprojekte-berlin-1/ und http://kultur-bildet.de/ akteur/kulturprojekte-berlin-gmbh, letzter Zugriff: 02.07.2017].

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tuellen Entwicklungen in der Medienkunst einerseits widerspiegeln, diese anderseits aber auch maßgeblich mitgestalten. Als eine aus öffentlicher Hand geförderte Kulturinstitution muss die transmediale sich an die ungeschriebenen und offiziell unausgesprochenen kulturpolitischen Regeln anpassen und einen offiziell ebenso unausgesprochenen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen. Dies zeigt sich sowohl in der Auswahl der Festivalthemen als auch in der Auswahl der Arbeiten, die in erster Linie wegen ihrer thematischen Bezüge in das Festivalprogramm aufgenommen werden. Gerade in Situationen, wenn das Festival trotz einer jährlichen Förderung seitens der Kulturstiftung des Bundes auf eine zusätzliche projektbezogene ad hoc-Finanzierung durch andere kulturpolitische Akteure angewiesen ist, wird die Auswahl der kulturpolitisch als ‚förderungswürdig‘ geltenden Festivalthemen zu einem wichtigen Bestandteil einer effektiven Fundraising-Strategie. Festivalthemen mit einer offensichtlichen gesellschaftspolitischen Relevanz und Aktualität helfen dabei, den Kreis der potentiellen Förderer wesentlich zu erweitern. Ein charakteristisches Beispiel einer solchen Themenauswahl bot die transmediale.09 Deep North, die sich mit der Problematik des Klimawandels und der globalen Erwärmung befasste. Das im öffentlichen Diskurs viel diskutierte Thema hatte nicht nur höchste gesellschaftliche und kulturelle Relevanz, sondern verlieh dem Festival auch in kulturpolitischer Hinsicht eine zusätzliche Legitimität. Die Zielsetzungen des Festivals wurden daher mithilfe der Argumentationstopoi über die Notwendigkeit „künstlerischer Reflexion“ ökologischer Fragen präsentiert. So erläuterte Stephen Kovats, der damalige Festivalleiter, die Mission der transmediale.09 im Vorwort zum Festivalkatalog: „Mit Deep North verfolgt die transmediale 2009 die kulturellen Konsequenzen eines Themas, das inzwischen nahezu alle Aspekte des Lebens beherrscht. Dennoch, und vielleicht sogar mit einer gewissen Ironie, wurden die düsteren Vorhersagen eines bevorstehenden, umwälzenden ökologischen Wendepunktes durch die aktuellen Erschütterungen der Weltwirtschaft zeitweise überlagert. Ob ökologisch, sozial oder ökonomisch, Deep North verweist auf die enorme Zerbrechlichkeit und inhärente Instabilität im menschlichen Umgang mit globalen Systemen. Vor dem Hintergrund des Klimawandels reflektiert die transmediale.09 dabei die Notwendigkeit, globale Ereignisse in diesem Kontext neu zu lesen und durch Entwicklung eines neuen kul-

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turellen Vokabulars die autonome und kritische Herangehensweise der Kunst in diese komplexen Verhältnisse mit einzubeziehen.“10

Daran schloss Kovats eine sorgfältige Benennung der wichtigsten Förderungs- und Partnerinstitutionen der transmediale an, von denen viele nicht zuletzt dank des Themas für das Festival gewonnen werden konnten: „Die Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht es der transmediale, ihr Ziel der Verbindung von Kunst und digitaler Kultur mit aktuellen Themen einer Gesellschaft im Wandel zu realisieren. Die Verlängerung der Förderung bis 2012 garantiert dabei die kontinuierliche Entwicklung des Festivals als eine der zentralen internationalen Veranstaltungen der Kulturprojekte Berlin GmbH. Durch die Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Bundeszentrale für politische Bildung, der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, der Heinrich Böll Stiftung und dem Auswärtigen Amt konnten Partner gewonnen werden, die das Programm der transmediale maßgeblich unterstützt haben. Der Rahmen, in dem das Festival zur Entwicklung von Kultur, Wirtschaft und Bildung im regionalen Kontext seinen Beitrag leisten kann, findet Ausdruck in seiner Zusammenarbeit mit dem Medienboard Berlin-Brandenburg, dem Offenen Kanal Berlin und der Medienanstalt Berlin-Brandenburg. Erweiterte Kooperation mit dem Marshall McLuhan Salon der kanadischen Botschaft, dem _Vilém_Flusser_Archiv der Universität der Künste und mit dem vor kurzem eröffneten Collegium Hungaricum Berlin betonen die diesjährigen Partnerschaften mit für die Berliner Medienkultur besonderen Einrichtungen.“11

Im Gegensatz zu dieser sachlich-reservierten institutionellen Etikette der Danksagung und Nennung von Kooperationspartnern im Vorwort gehen die Verfasser der Pressemitteilung mit dem rhetorischen Potential der Klimawandelproblematik viel malerischer und expressiver um: „The polar caps are melting away. The sea level rises. The desert grows. The aftermath of the climate change is unforseeable. With Deep North transmediale aims beyond the alarmist scenarios of environmental catastrophes and shifts the focus to the

10 Kovats, Stephen: „Willkommen zur transmediale 2009!“, in: transmediale.09. Deep North (Festivalkatalog), Berlin 2009, S. 2. 11 Ibid.

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cultural, social and philosophical consequences which will result from the collapse of the Arctic barriers. Are we missing a point of no return akin to the fall of the Berlin Wall 20 years ago? In various formats and programs transmediale.09 examines the mechanisms of the pending need for global change, with questions regarding territorial claims towards the polar regions, or environmental demands for sustainability.“12

Die Möglichkeiten einer praktisch-künstlerischen Umsetzung dieser „examine the mechanisms“-Agenda sollte vor allem die Festivalausstellung „Survival und Utopia: Visions of Balance in Transformation“ demonstrieren: „Die Ausstellung des transmediale award 2009 zeigt ein breites Spektrum von künstlerischen Positionen und Erkundungen auf die vielfältigen und häufig widersprüchlichen Szenarien des Klimawandels. [...] In Anspielung auf das Schmelzen der Polklappen und die wechselseitigen globalen Auswirkungen des Handelns – von der Erschließung neuer Territorien für geopolitischen Wettbewerb, über den Zerfall des Antarktisvertrags der gemeinsamen friedlichen Nutzung bis zur Ausbeutung geheimer Minen im Kongo – versucht die Ausstellung Strategien aufzuzeigen, die einem Gefühl von Machtlosigkeit angesichts eines gravierenden Wandels Visionen und Kritik für ein kulturelles Umdenken entgegensetzen.“13

„Examining the mechanisms“ gehört seit Jahrzehnten zu den unvermeidlichen rhetorischen Figuren des zeitgenössischen Kunstdiskurses und sollte daher nicht als ein ernsthaftes investigatives Versprechen missverstanden werden. Vor allem im Kontext der Zielsetzungsrhetorik der institutionellen Kunstevents wie Festivals, Ausstellungen etc. stellt diese rhetorische Figur nichts Weiteres als die kokette Bezeichnung einer state of the artMomentaufnahme dar, mit Andeutung eines eventuellen Erkenntnisgewinns. Die Diskrepanz zwischen den deklarierten Aufgaben der Veranstaltungen und ihren faktischen Inhalten ist ein unabdingbares Element des Funktionierens der institutionellen Maschinerie. Diese Diskrepanz ist von

12 „Deep North. transmediale.09 Highlights“, Auszug aus der Pressemitteilung des Festivals. 13 „Survival und Utopia: Visions of Balance in Transformation“, in: transmediale.09. Deep North, S. 38.

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der gleichen Natur wie die Diskrepanz zwischen den Beschreibungen der ausgestellten und an das Thema und den Kontext der Ausstellung angepassten Arbeiten und diesen Arbeiten selbst. Die Kunstinstitutionen haben sich auf die gleiche Art und Weise an der kulturpolitischen Konjunktur zu orientieren wie die Künstler ihre Projekte an die institutionelle Konjunktur anzupassen haben, hier durch das Versprechen einer ‚explorativen Leistung‘, die zur Lösung gesellschaftlicher Probleme genutzt werden könnte. Die Tatsache, dass viele kulturelle Praktiken eine solche Leistung kaum hervorbringen können, wird dabei, bewusst oder unbewusst, ausgeklammert. Das explizite Versprechen an sich reicht schon aus, um am kulturpolitischen Spiel teilnehmen zu können. Die Diskrepanz zwischen dem proklamierten Ziel „Mechanismen zu erforschen“ und der faktischen ‚explorativen Leistung‘ der präsentierten Projekte erweist sich in diesem Zusammenhang mehr als Folge der institutionellen Funktionslogik denn als Ergebnis individuellen kuratorischen oder künstlerischen Versagens. Das Spektrum der auf der Ausstellung gezeigten Arbeiten reichte von einer ästhetisch aufwendigen Darstellung der Forschungsergebnisse des investigativen Journalismus bis hin zu formalästhetisch angelegten künstlerischen Projekten, deren konzeptioneller Bezug auf die ökologische Problematik als eine Art forcierte ad hoc-Interpretation erschien. Einige der präsentierten Projekte konnten, ungeachtet der ursprünglichen Intention ihrer Autoren, als Produkte der Anpassung an die thematische Konjunktur der Kunstinstitutionen betrachtet werden, wobei diese Konjunktur selbst wiederum wesentlich durch die aktuellen kulturpolitischen Richtlinien gestaltet worden war. Ein symptomatisches Beispiel einer solchen thematischen Anpassung stellen die Arbeiten dar, die als „Chernobyl Art“ bezeichnet werden könnten. Der genuine Wunsch des Künstlers, sich mit dem größten Atom-GAU des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen, ist schwerlich zu bezweifeln. Doch ist gleichfalls kaum zu bestreiten, dass diese Katastrophe immer wieder stark politisch bzw. kulturpolitisch instrumentalisiert wurde. Schon allein der nominelle Bezug auf das Thema Tschernobyl macht ein Kunstprojekt in einem Festival- oder Biennale-Kontext sofort ausstellungstauglich, oft auch unabhängig vom künstlerischen Niveau des Projektes oder der konzeptuellen Intensität der Auseinandersetzung mit dem Thema. Das Wort „Tschernobyl“ im Titel einer Arbeit oder in der Projektbeschreibung hat

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gleichsam die Funktion eines ‚Türöffners‘, um in den institutionellen Kunstkontext aufgenommen zu werden. Dem Thema kommt damit per se ein ultimativer Legitimationswert zu, was nicht nur das kritische Urteilsvermögen der Kuratoren maßgeblich suspendiert, sondern oft auch eine gewisse konzeptionelle Oberflächlichkeit bei der Auseinandersetzung mit der Tschernobyl-Problematik seitens der Künstler zulässt. Selbstverständlich kann man in die inzwischen zur ErlebnistourismusAttraktion gewordene Zone von Tschernobyl fahren und dort etwas mit der Foto- oder Videokamera, dem DAT-Rekorder etc. aufnehmen oder die Geigerzähler-Daten auf verschiedene Arten und Weisen visualisieren, sonifizieren und sonst irgendwie verarbeiten und darstellen. Ob damit aber eine „künstlerische Reflexion“ dieser Katastrophe wirklich geleistet wird und ob das die Bedeutung dieser Tragödie für den Betrachter „erfahrbar macht“, scheint durchaus zweifelhaft. Gerade im Kontext solch ‚schwieriger‘, mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladener Themen manifestiert sich am offenkundigsten die gravierende Diskrepanz zwischen dem in den Begleittexten deklarierten Erkenntnisgewinn-Versprechen der Arbeiten und ihren faktisch rezipierbaren Inhalten. Verfasst mit dem Ziel, die Arbeit im Ausstellungskontext zu positionieren und zu legitimieren, wirken die Begleittexte für die Wahrnehmung der Kunstwerke im Gegenteil häufig äußerst kontraproduktiv, indem sie den Besuchern unangemessene Erwartungen suggerieren.14 Das Deep North-Programm wurde vom Publikum gerade deshalb kritisiert, weil der Bezug vieler auf dem Festival präsentierter Arbeiten zur ökologischen Problematik zu oberflächlich oder rein thematisch-dekorativ blieb, ohne eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit den ökologi-

14 So wurde beispielsweise die Videoinstallation „Inverse Square“ von Alice Miceli im Katalogtext folgendermaßen beschrieben: „Die Arbeit basiert auf Aufnahmen des explodierten Reaktors Nummer 4 des Atomkraftwerks in Chernobyl und thematisiert die sich exponentiell ausdehnende Dynamik, die durch radioaktive Verseuchung in der Sperrzone um Chernobyl herum entstanden ist. Das Material wurde in Belarus, an der Grenze zur Ukraine, fünf Kilometer von dem explodierten Reaktor entfernt, aufgenommen.“ Die angekündigte Thematisierung „der sich exponentiell ausdehnenden Dynamik“ wirkte dabei im Kontext des gezeigten Videos eher als ein leerer Platzhalter für einen imaginären Sinngewinn, vgl. ebd., S. 39.

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schen Fragen zu bieten. Gleichzeitig wurde der Interpretationsspielraum mancher Arbeiten durch eine solche plakative Kontextualisierung wesentlich verringert und ihr potentielles Spektrum von Aussagen auf eine einzige inhaltliche Wahrnehmungsperspektive reduziert. Die Erfüllung eines vermeintlichen ‚Gesellschaftsauftrags‘ durch das Festival manifestierte sich auch in der Vergabepolitik der jährlichen transmediale-Awards,15 wobei mindestens eine der nominierten Arbeiten in den ungeschriebenen Kanon der als politisch korrekt anerkannten Themen passen oder sich mit ‚brennenden‘ gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen musste. Dies beinhaltete auch die Vergabe von Festivalpreisen an Projekte mit expliziten thematischen Bezügen zur Problematik von Minderheiten, aktuellen Militärkonflikten, des internationalen Terrorismus, der dritten Welt etc. Ähnlich wie bei vielen anderen Kunst- und Filmfestivals sorgte dies für Vorwürfe an die transmediale, dass die Jury-Entscheidungen oft politisch motiviert seien und die ästhetischen und konzeptuellen Qualitäten der Festivalarbeiten nicht ausreichend berücksichtigten. Die Preisvergabepolitik eines Festivals, ungeachtet dessen, ob solche „politisch motivierten“ Entscheidungen seitens der Jurymitglieder bewusst oder unbewusst getroffen werden, zeigt unter anderem, dass sowohl die Institutionen als auch die Institutionsvertreter in einem seltsamen als obModus agieren: Sie handeln, als ob sie einen auf eigene Gefahr hin interpretierten und dadurch auch konstruierten ‚Gesellschaftsauftrag‘ ausführten. Die Ausführung dieses hypostasierten ‚Gesellschaftsauftrags‘ dient dabei dem gleichermaßen vermeintlichen Ziel, die Institution dadurch selbst kulturpolitisch zu legitimieren. So beruht die gesamte Handlungslogik der Kunstinstitutionen im kulturpolitischen Umfeld auf einem komplexen System vorwiegend unartikulierter Annahmen: zum einen auf der Behauptung der Existenz eines solchen ‚Auftrags‘ an sich, zum anderen auf der vermeintlichen Notwendigkeit, diesen behaupteten ‚Auftrag‘ auch auszuführen. Die Geschichte der transmediale bleibt in dieser Hinsicht der gleichen Verhaltensmatrix verhaftet wie auch die anderen, aus öffentlichen Mitteln geförderten Kulturinstitutionen, die permanent gezwungen sind, sich gesellschaftlich zu legitimieren. Im Kontext dieser Legitimitätsproduktion wird der individuelle Wille der einzelnen Institutionsvertreter durch die

15 Seit 2012 wird der transmediale-Award nicht mehr verliehen.

T RANSFORMATIONEN

DER TRANSMEDIALE

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Funktionslogik des gesamten kulturpolitischen Systems notwendigerweise mitgesteuert und transformiert. Der durch das kulturpolitische System produzierte institutionelle Handlungsdeterminismus kann im folgenden Kapitel am Beispiel einer so einflussreichen medienkünstlerischen Institution wie dem ZKM in Karlsruhe noch deutlicher dargestellt werden.

Die Entstehungsgeschichte des ZKM Kapitel 14

Die Gründungsgeschichte des Zentrums für Kunst und Medientechnologie1 (ZKM) in Karlsruhe umfasst vom ersten Entwurf der Institution im Mai 1985 bis zu seiner offiziellen Eröffnung im Oktober 1997 einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. Dieser lange Prozess stellt wohl das bekannteste Beispiel der Gründung einer großen medienkünstlerischen Institution in Deutschland dar, die im Spannungsfeld verschiedener landes- und stadtpolitischer Interessen entstand. Die Verschiedenheit dieser Interessen korrespondierte in diesem Fall nicht nur mit der gewöhnlichen Konkurrenz der unterschiedlichen politischen Kräfte, sondern resultierte auch aus der historisch tief verwurzelten kulturellen Rivalität der deutschen Länder und Städte, die sich bis in die frühe Geschichte der deutschen Feudalstaatlichkeit zurückverfolgen lässt.

1

Laut der neuen Satzung des ZKM, die mit ihrer Veröffentlichung im Gemeinsamen Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg am 28. Februar 2017 in Kraft trat, heißt das ZKM seitdem offiziell Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Vgl. „Bekanntmachung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst über die Neufassung der Stiftungssatzung des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe. Vom 18. November 2016 – Az.: 53-7958.50/193/2“, in: Gemeinsames Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg vom 28. Februar 2017, S. 94–97. Für diesen Hinweis habe ich der Leiterin der Abteilung Wissen – Sammlung, Archive und Forschung des ZKM Margit Rosen zu danken.

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Der berühmte deutsche „kooperative Kulturföderalismus“2 manifestiert sich unter anderem im permanenten Wettbewerb der Bundesländer und bestimmt auch gewissermaßen ihre Wissenschafts- und Kulturpolitik. Insbesondere im Kontext der institutionellen Geschichte der „Neuen Medien“ und „Neuen Technologien“ hat diese permanente Konkurrenz zur Gründung zahlreicher Institutionen geführt, da sich mehrere Länder und Städte als Orte der „technologischen Innovation, Forschung und Entwicklung“ positionieren wollten. Eines der wichtigsten Argumente hinsichtlich dieser Selbstpositionierung war für die Stadt Karlsruhe das Projekt des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, was sich auch in den programmatischen Dokumenten zur Gründung des Zentrums niederschlug.

14.1 D AS „K ONZEPT ’88“ Im Juni 1984 rief die Regierung des Landes Baden-Württemberg mit dem sogenannten „Stadtqualitätsprogramm“ einen Wettbewerb für Projekte der Zukunftssicherung der Städte aus.3 Für die Stadt Karlsruhe standen 60 Millionen DM zur Verfügung. Die Geburt des ZKM aus diesem Programm schilderte der damalige Karlsruher Oberbürgermeister Gerhard Seiler in seiner ZKM-Eröffnungsrede im Oktober 1997 folgendermaßen: „Wir sammelten Vorschläge für dieses Stadtqualitätsprogramm. Favorit für eine städtebauliche Aufwertung war zunächst das südliche Entree des Hauptbahnhofs. Dort sollte das ZKM ursprünglich seinen Platz finden. Im Mai 1985 ließ Oberbürgermeister Otto Dullenkopf den Kulturreferenten Dr. Michael Heck seine Gedanken für eine solche neue Kultureinrichtung südlich des Hauptbahnhofs vor dem städtischen Kulturausschuss vortragen.“4

2

Vgl. Wiesand, Andreas J.: „Kulturpolitik“, in: Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 5., aktual. Aufl., Opladen: Leske + Budrich 2003.

3

Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe: Konzept ’88, 24. März 1988, Karlsruhe 1988, S. 2.

4

Reden zur Eröffnung des ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe am 18. Oktober 1997, Karlsruhe 1998, S. 19.

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Im selben Jahr bildete der Gemeinderat eine Kunst- und Medienkommission und beauftragte im Oktober 1986 eine spezielle Projektgruppe mit der Entwicklung des ZKM-Konzepts.5 Im Laufe der nächsten zwei Jahre wurden für dieses Projekt weitere Fachkommissionen und „beängstigend umfangreiche Gründungs- und Beratungsgremien ins Leben gerufen“.6 Als Ergebnis erschien im März 1988 ein detaillierter und ähnlich „beängstigend umfangsreicher“ Projektentwurf, das „Konzept ’88“, in dem die Zielsetzungen, Inhalte und Arbeitsweisen des geplanten Zentrums dargestellt wurden. An der Ausarbeitung des Entwurfs waren in diesen Jahren insgesamt 64 Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen beteiligt; außerdem wurden fast drei Millionen DM Entwicklungsgelder in dieses Projekt investiert.7 Alle Schlüsselthemen und Begriffe, die im Laufe der 1980er Jahre in Bezug auf die „Entwicklung der Neuen Technologien“ für die kulturpolitische Legitimationsprogrammatik in Deutschland relevant waren, sind in diesem Dokument ausführlich ausgeführt. Bereits im Vorwort des Karlsruher Oberbürgermeisters zum „Konzept ’88“ findet sich eine charakteristische Auflistung dieser Themen: „Zweck der künftigen Einrichtung wird es sein, die Nutzungsmöglichkeiten neuer Technologien für Kunst und Wissenschaft in Forschung, künstlerischen Experimenten, Bildung und Lehre zu entwickeln und zu fördern. Und zwar nicht nur für die Fachleute, sondern ebenso für die Bürger. Mit dem geplanten Zentrum stellt sich die Aufgabe, sozialkulturelle Themen der Gegenwart und der Zukunft anzugehen. Dazu gehören beispielsweise Antworten auf die Frage, welche künstlerischen Ideen mit den neuen Technologien realisiert werden und welche ästhetischen Ansätze die technische Forschung und die wirtschaftliche Nutzung positiv beeinflussen können. Auch die Frage, wie die Entwicklung der Technologie durch künstlerische Gestaltung menschlicher und sinnhafter geplant werden kann, sollte eines der Anliegen sein. [...] Gleichwohl kann das Konzept ’88 Aussagen dazu treffen, welche institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um in einem ‚Zentrum für Kunst und Medientechnologie‘ die künstlerisch-kulturelle Dimension der Technologie für

5

Vgl. ZKM: Konzept ’88, S. 2.

6

Klotz, Heinrich: Weitergegeben: Erinnerungen, Köln: DuMont 1999, S. 131.

7

Vgl. ebd., S. 132.

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eine human gestaltete Gesellschaft der Zukunft zu erarbeiten, zu erforschen und wissenschaftlich zu begleiten.“8

Gleich am Anfang des Dokuments offerieren die Verfasser des „Konzepts ’88“ ein noch umfassenderes Spektrum aller mit der Gründung des geplanten Zentrums verbundenen „gesellschaftlich relevanten“ Aufgaben: „Mit dem vorliegenden Konzept werden im wesentlichen folgende Erwartungen verknüpft: [1] Nationale und internationale Forschung erhält über das Wechselverhältnis von Kunst und Technologie neue Impulse. Die Entwicklung neuer Arbeitsanwendungen und Ausbildungen gibt Hilfen für die Arbeitswelt. [2] Die Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern am ZKM erleichtert die Anwendung neuer Techniken in der Kunst. Neue künstlerische Ideen lassen sich verwirklichen. [3] Die Verbindung von Ton und Bild durch die neuen Geräte ergibt ein neues gestalterisches Betätigungsfeld. Der Computer ermöglicht neue künstlerische Anwendungen. [4] Bürgerinnen und Bürger bekommen Einsicht in die Zusammenhänge der neuen Medien und können sich kritisch mit den neuen Technologien auseinandersetzen. [5] Ein ‚aktives Museum‘ bietet Laien und Fachwelt ein neuartiges Experimentierund Bildungsfeld. [6] Die über Datennetze angebotenen Informationen dienen Bürgern, Wissenschaftlern, Künstlern, der Wirtschaft und der Verwaltung. [7] Veranstaltungen, Ausstellungen, Seminare fördern das Wissen und das kulturelle Leben weit über die Region hinaus. [8] Forschungs- und Entwicklungsprojekte, Schulungen und Expertenseminare erweitern die kulturellen und ökonomischen Möglichkeiten der Technologieregion Karlsruhe und darüber hinaus.“9

In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem jede kulturpolitische Entscheidung a priori unter dem leicht instrumentalisierbaren Verdacht der Verschwendung von Steuergeldern steht, erweist sich die Rechtfertigung der

8

ZKM: Konzept ’88, Vorwort, Hervorhebungen L. V.

9

Ibid., S.1. Die im Originaltext nicht enthaltene Nummerierung wurde hier zur Vereinfachung der weiteren Analyse eingefügt, Hervorhebungen L. V.

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Entscheidung durch das Motiv ihres allgemeinen Nutzens für alle „Bürgerinnen und Bürger“ als unvermeidlich, wie in den Punkten 1, 4, 6, 7 und 8 des oben zitierten zweiten Fragments deutlich zu ersehen ist. Das Motiv der allgemeinen sozialökonomischen Nützlichkeit per se (Punkt 1: „Die Entwicklung neuer Arbeitsanwendungen und Ausbildungen gibt Hilfen für die Arbeitswelt“) wird noch durch Aufklärungs- und Freizeitgestaltungszwecke erweitert (Punkt 5: „bieten ein neuartiges Experimentier- und Bildungsfeld“ und Punkt 7: „fördern das Wissen und das kulturelle Leben“). Für diese Untersuchung ist jedoch die programmatische Verbindung von Kunst und Technologie im kulturpolitischen Legitimationsdiskurs von besonderer Bedeutung (z.B. neue Impulse für die Forschung durch das „Wechselverhältnis von Kunst und Technologie“ in Punkt 1 oder durch „die Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern“ in Punkt 2). Das unmittelbar „Nützliche“ wie die Technologie, technische Forschung etc. wird mit dem an sich „Unnützen“ oder lediglich indirekt Nützlichen wie der Kunst in Verbindung gebracht. Die Fragestellung, „welche ästhetischen Ansätze die technische Forschung und die wirtschaftliche Nutzung positiv beeinflussen können“, wird durch den Import ‚humanistischer‘ Motive in die überwiegend pragmatisch orientierte kulturpolitische Argumentation ermöglicht, welche, wie der Joker im Kartenspiel, bei zusätzlichem Legitimationsbedarf immer wieder eingesetzt werden können. Die Frage, „wie die Entwicklung der Technologie durch künstlerische Gestaltung menschlicher und sinnhafter geplant werden kann“, oder die Aufgabe, „die künstlerisch-kulturelle Dimension der Technologie für eine human gestaltete Gesellschaft der Zukunft zu erarbeiten, zu erforschen und wissenschaftlich zu begleiten“, sind Belege dieser Verwendung der ‚humanistischen‘ Argumentation. Dennoch lässt sich in diesem Fall die ‚humanistische‘ Argumentation wieder auf einen recht pragmatischen Beweggrund zurückführen, und zwar auf die bereits damals im öffentlichen Diskurs erkennbaren Ängste vor dem rasanten Vormarsch der Neuen Technologien. Im Großen und Ganzen waren aber solche Ängste eher kleine Nebeneffekte einer grundsätzlichen Akzeptanz der neuen wirtschaftlichen Herausforderungen und der daraus resultierenden politischen Notwendigkeit, strategisch auf die Entwicklung gerade dieser „Neuen Technologien“ zu setzen. Die wichtigsten Überlegungen, die hinter einem solchen Verständnis standen, wurden von dem damaligen Kulturreferenten der Stadt Karlsruhe

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und Leiter des gesamten „Konzept ’88“-Projektes, Michael Heck, in einem seiner späteren Aufsätze auf den Punkt gebracht: „Wie der Chip, der eine immer größere Datenflut aufzunehmen imstande ist, stets kleiner wird, haben sich auch die Zeiträume des Fortschritts verkürzt. Der Wandel überschlägt sich und ist erbarmungslos mit Nachzüglern. Wer zu spät kommt, den bestraft das System. ‚Neue Arbeitsplätze entstehen nur durch Innovation.‘ Diese gewiss nicht neue Feststellung des Bundesforschungsministers Jürgen Rüttgers gewinnt vor dem Hintergrund des weltweiten technologischen Konkurrenzkampfs allerdings an dramatischer Aktualität. Die deutsche Maßarbeit hat mit der elektronischen Neuzeit in Übersee, sprich in den USA und Japan, nicht Schritt gehalten, und deshalb verkündete der Minister noch im Februar 1997: ‚Jetzt beginnt die Aufholjagd‘. Fachleute argwöhnen, dass der Standort Deutschland deutlich gegenüber den technologischen Spitzen der Welt im Rückstand liegt. Gefragt sind nun mehr denn je die Laboratorien der Zukunft, die Forschungsstätten mit dem gehörigen Jagdfieber für die Aufholjagd.“10

Denn die „Aufholjagd“ hatte im Jahr 1997 schon längst begonnen. Was das „Konzept ’88“ betrifft, so hatte das Team der Autoren im Frühjahr 1987 eine „Studienreise nach Nordamerika“ unternommen, deren Ergebnisse in Form eines Berichtes im Rahmen des Konzepts dargestellt wurden.11 Ziel der Reise war, die institutionellen Einrichtungen in den USA und Kanada zu untersuchen, deren Schwerpunkt auf der Erforschung der Neuen Medien und ihrer Anwendung in verschiedenen Bereichen der audiovisuellen Produktion lag. In diesem Zusammenhang wurden die Electro Acoustics Unit der Universität in Montreal, das Computer Systems Research Institute in Toronto, das Media Laboratory MIT in Boston, das Center for Computer Research in Music and Acoustics in Stanford sowie das Computer Audio Research Laboratory in San Diego besucht. Außerdem wurden andere Institutionen wie das Computer Museum in Boston, das Exploratorium in San Francisco, das Museum of Holography und The Kitchen: Center for Video,

10 Heck, Michael: „Kultur im Aufbruch“, in: Kunstfabrik im Hallenbau A: Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Städtische Galerie, Museum für Neue Kunst, Hochschule für Gestaltung (Hg.: Stadt Karlsruhe), Karlsruhe 1997, S. 18. 11 ZKM: Anlagen zum Konzept ’88, S. 89–120.

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Music, Dance, Performance and Film in New York einbezogen, deren Erfahrungen bei der Planung und beim künftigen Aufbau des ZKM als hilfreich angesehen wurden.12 Ähnlich breit wie das Funktionsspektrum der institutionellen Vorbilder aus Nordamerika war auch der angestrebte Tätigkeitsbereich des geplanten Zentrums gefasst: „Das ZKM ist in den drei Wirkungsfeldern – Forschen und Entwickeln, Lehren und Fördern, Veranstalten und Verbreiten – tätig.“13 In der Praxis bedeutete dies, dass das ZKM die Funktionen eines Forschungszentrums sowie eines Museums und eines Veranstaltungsortes in sich vereinen sollte. Inhaltlich sollte das Aufgabenfeld des ZKM auf folgende Arbeitsbereiche verteilt werden: „Arbeitsbereich ‚Bild‘ mit den Schwerpunkten Computergrafik und -animation, Holografie, Videokunst; Arbeitsbereich ‚Musik‘ mit Live-Elektronik + Elektroakustischer Aufführungs- und Aufnahmepraxis, digitale Klangsynthese, -analyse und umformung, elektronische u.a. Instrumente im Verbund; und Arbeitsbereich ‚Medien für den Bürger‘ mit den Schwerpunkten: Forum (Veranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen, Galerien), Dienstleistungen (Bildung + Information, Netzwerke, Kommunikationsservice) und Offenen Werkstätten (Experimentierräume, Seminarräume, Medienateliers) sowie der bei allen drei Arbeitsbereichen aufgezeigte Schwerpunkt ‚Begleitende Forschung‘.“14

Der Arbeitsbereich „Medien für den Bürger“, der dazu dienen sollte, „der Bürgerschaft die Verbindung der Kunst mit den neuen Medien zu verdeutlichen und nahe zu bringen sowie die Kenntnisse der Bürger über die neuen Medien zu fördern und den Umgang damit zu erleichtern“,15 stellte mit seiner ausgeprägten sozialpädagogisch-aufklärerischen Programmatik eines der wichtigsten Momente der Argumentationsrhetorik des Konzepts dar. Der schon erwähnte Legitimationstopos des „allgemeinen Nutzens“ der geplanten Einrichtung „für alle Bürger“ wird mehrfach eingesetzt und inhaltlich ausführlich in den Kapiteln „Arbeit, Bildung und Soziales und die

12 Vgl. ebd. 13 Ibid., S. 12. 14 Ibid., S. 15. 15 Ibid. S. 25.

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Neuen Medien“16 sowie „Wirtschaft und Standort. Das ZKM in der Technologieregion Karlsruhe: Wechselwirkungen mit Wirtschaft und Arbeit“17 erweitert. In diesen Kapiteln wird die wachsende Bedeutung der „Neuen Technologien“ bzw. „Informations- und Kommunikationstechnologien“ für die Arbeitswelt, Bildung und Freizeit sowie für die Entstehung neuer Arbeitsfelder und neuer Märkte im Zusammenhang mit regionalpolitischen Entwicklungsstrategien dargestellt.18 Der massive Einsatz der Neuen Technologien in allen wirtschaftlich bedeutenden Produktionsbereichen musste bei der Gestaltung der regionalen Entwicklungspolitik beachtet werden. Von staatlicher Seite wurde dies bereits seit Jahren deutlich signalisiert: „Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags ‚Neue Informations- und Kommunikationstechniken‘ hat für Ende der 1980er Jahre prognostiziert, dass 70% aller Berufe in irgendeiner Form vom Computer betroffen sein werden.“19 Im Kampf um neue Arbeitsfelder und Märkte hatten sich die Bundesländer, die Regionen und Städte entsprechend rechtzeitig zu positionieren. Eine potentielle oder sogar direkte ökonomische Konkurrenz trat unter anderem als eine Art ‚kulturelle Konkurrenz‘ in Erscheinung, die einen Image-Wettbewerb voraussetzte. Auf der Ebene der Regional- und Kommunalpolitik manifestierte diese sich hauptsächlich in Form von konkreten institutionellen Gründungen. Dieser Prozess wurde in einer einschlägigen Studie folgendermaßen beschrieben: „Repräsentative Kultureinrichtungen, z. T. auch schon die ‚soziokulturelle‘ Szene und profilierte kulturwirtschaftliche Betriebe, gelten Verwaltungen und Lokalpolitikern als so genannte ‚Standortfaktoren‘, die dem Image einer Stadt oder Region nach außen besonders gut tun und damit zugleich ihre Chance erhöhen sollen, Dienstleistungsfunktionen oder Industrieansiedlungen an sich zu binden.“20

16 Vgl. ZKM: Anlagen zum Konzept ’88, S. 1–8. 17 Ibid., S. 9–15. 18 Vgl. ebd. 19 Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken“: Zwischenbericht, Bundestagsdrucksache 1983, zitiert nach: ZKM: Anlagen zum Konzept ’88, S. 3. 20 A. Wiesand: „Kulturpolitik“.

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Auch im „Konzept ’88“ wird ausdrücklich thematisiert, dass die im Zusammenhang mit der Gründung des ZKM stehenden „Forschungs- und Entwicklungsprojekte, Schulungen und Expertenseminare“ die kulturellen und ökonomischen Möglichkeiten der „Technologieregion Karlsruhe“ erweitern. Die Stadt Karlsruhe hatte bereits zum Zeitpunkt der Entwicklung des „Konzepts ’88“ einige bedeutende Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen (so die älteste Technische Universität Deutschlands mit der größten Fakultät für Informatik in der BRD, die Fraunhofer-Institute für Informations- und Datenverarbeitung sowie für Systemtechnik und Innovationsforschung), die bei der Realisierung des Konzepts als „Standortfaktoren“ ins Spiel gebracht werden konnten. Die erforderlichen „Investitionen in die Zukunft der Stadt und Region“ durch die Gründung des ZKM überstiegen dennoch die finanziellen Möglichkeiten der Stadt: „Für ca. 17.000 qm Programmfläche ist nach derzeitigen Kostenindex und mittlerem Standard mit einem Baukostenaufwand von rund 100 Millionen DM zu rechnen. Von den verfügbaren Investitionsmitteln von insgesamt 120 Millionen DM stehen somit noch rund 20 Millionen DM für die Beschaffung des Equipments zur Verfügung.“21 Aus diesem Grunde bestand eines der Hauptziele der Stadt Karlsruhe darin, bei der Entwicklung und Verfassung des „Konzepts ’88“ die Landesregierung dafür zu gewinnen, das ZKM-Projekt zur Hälfte zu finanzieren, da eine solche Einrichtung „in ihrer Bedeutung und Größenordnung nur gemeinsam von der Stadt Karlsruhe und dem Land Baden-Württemberg getragen werden kann.“22 Auch der Oberbürgermeister äußerte die Hoffnung, dass „der vorliegende Entwurf [...] eine Grundlage bildet, auf der die jetzt anstehenden Entscheidungen der politischen Gremien getroffen werden können.“23 Mit der Fertigstellung des „Konzepts ’88“ begann aber die Arbeit an der Durchsetzung des ZKM-Projektes erst richtig.

21 ZKM: Konzept ’88, S. 33. 22 Ibid., S. 4. 23 Ibid.

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14.2 V ON DER M UNITIONSFABRIK ZUR „K UNSTFABRIK “. D IE T RANSFORMATIONEN UND DIE U MSETZUNG DES „K ONZEPTS ’88“ „Aber dieses Papier, dieses Konzept, kann man doch nicht dem Landtag vorlegen!“, war die Reaktion des damals amtierenden Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Lothar Späth auf das „Konzept ’88“, als er mit dem Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main und künftigen Gründungsdirektor des ZKM Heinrich Klotz sprach.24 Einige Monate zuvor hatte Klotz im Auftrag Späths einen Konzeptentwurf für das „Sammlermuseum“ in Stuttgart entwickelt. Sein Sammlermuseumskonzept erweiterte sich jedoch zum „Museum aller Gattungen“ inklusive der neu entstandenen Medienkunst. Während dieser Entwurf zunächst nicht weiterentwickelt wurde, empfahl der Ministerpräsident dem Karlsruher Oberbürgermeister Heinrich Klotz 1989 als potentiellen Leiter des ZKMProjekts.25 Standort In den folgenden Jahren wurde das ursprüngliche ZKM-Konzept aus unterschiedlichen innenpolitischen und finanziellen Gründen wesentlich geändert. In erster Linie wurde ein neuer Standort geplant: Anstelle eines Neubaus südlich des Hauptbahnhofs wurde nach langen Diskussionen die Entscheidung für den Umbau einer ehemaligen Fabrik getroffen. Der riesengroße Hallenbau mit mehr als 70000 qm Bruttofläche war in den Jahren 1915 bis 1918 als Produktionsstätte einer Waffen- und Munitionsfabrik erbaut worden, die später bis in die 1970er Jahre von den Industriewerken Karlsruhe-Augsburg (IWKA) für die zivile Maschinenbauproduktion genutzt wurde. Der Hallenbau wurde vom Denkmalamt unter Denkmalschutz gestellt und durfte entgegen der ursprünglichen Absicht der städtischen Gremien nicht abgerissen werden.26 Eine solche Situation war im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts symptomatisch für alle „entwickelten Industrieländer“: Seit dem Ende der

24 H. Klotz: Weitergegeben: Erinnerungen, S. 132. 25 Vgl. ebd. 26 Ibid., S. 137.

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1970er Jahre nahm das Problem der leer stehenden und leer werdenden Industriegelände in vielen westeuropäischen und nordamerikanischen Städten ein erhebliches Ausmaß an. Der massive Niedergang der industriellen Produktion stellte die städtische Planungs-, Verwaltungs- und Entwicklungspolitik vor neue Aufgaben. Viele der nicht mehr genutzten industriellen Bauten wurden unter architektur- und kulturhistorischen Gesichtspunkten zu Industriedenkmalen erklärt und mussten daher wiederbelebt und neu in die Stadtökonomie integriert werden. Eine strukturell bedingte Delegierung der ideologisch-theoretischen Fundierung politischer Entscheidungen an die Expertengemeinschaft sorgte für einen relativ schnellen Transfer der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, Themen und Begrifflichkeiten in die politische Legitimationsprogrammatik und Argumentationsrhetorik. Zusammen mit dem immer öfter diskutierten „Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft“ tauchten in politischen Reden auch Motive einer „schmelzenden Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit“ sowie das Motiv der „Kultur als Wirtschaftsfaktor“ auf. So wurde die Industrie in den leer stehenden Industriegeländen nicht nur metaphorisch, sondern auch physisch durch die Kulturindustrie ersetzt. Ehemalige Industriehallen wurden umgebaut und in Museen, Konzertsäle, Music Clubs, Ausstellungshallen etc. verwandelt. Die früheren Fabriken wurden zu „Kunstfabriken“. Seit den 1970er Jahren finden sich für diesen Prozess weltweit zahlreiche Beispiele, wie das Kunstzentrum The Kitchen in New York, das in einem ehemaligen Lagerhaus in Soho untergebracht wurde, oder The Exploratorium in San Francisco und viele andere. In diesem allgemeinen Kontext der historischen Stadtplanungsentwicklung nimmt auch die Baugeschichte des ZKM ihren Platz ein. „Solche riesigen Fabrikhallen waren einst die Kathedrale der Arbeit. Heute wird diese Fabrikhalle zu einer Kathedrale der Kunst“,27 sagte in seiner ZKMEröffnungsrede der Karlsruher Oberbürgermeister. Strukturelle Gliederung der Arbeitsbereiche Um als „Kathedrale der Kunst“ gelten zu können, sollte im „Konzept ’88“ noch eine wesentliche Änderung vorgenommen werden. Wie Heinrich Klotz in seinen Memoiren betont:

27 Reden zur Eröffnung des ZKM, S. 20.

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„Es war mir besonders wichtig, den im Namen des Zentrums enthaltenen Begriff ‚Kunst‘ in seiner Bedeutung zu stärken, also die traditionellen Künste gleichberechtigt neben die neuen Medienkünste zu setzen und durch das Miteinander die Bedeutung des Ästhetischen gegenüber dem Technischen zu stärken. [...] Ich war überzeugt, dass die Konzentration auf die technische Seite ebenso wie die Betonung der Medienkunst allein nicht nur die Durchsetzungsschwierigkeiten des Projektes steigern, sondern auch den Erkenntnisgewinn einschränken würde. [...] Die Notwendigkeit bestand, die neue Gattungen der Künste auf die klassischen Künste zu beziehen, also die elektronischen Methoden mit den konventionellen zu konfrontieren, [...] oder besser noch: miteinander zu verbinden.“28

Im „Konzept ’88“ wurde ein „produktiver Kern“ des ZKM in Form der Arbeitsbereiche „Bild“ und „Musik“ bereits angedeutet, dennoch war das Arbeitsprogramm dieser „Arbeitsbereiche“ zu allgemein und enthielt keine konkreten Vorschläge für die organisatorische Gestaltung ihrer Tätigkeit. Es wurde sogar vermutet, dass die „Konzept ’88“-Verfasser Organisationsfragen absichtlich ganz offen und unbenannt gelassen hatten, um mit den anderen institutionellen Gründungen ihres wichtigsten Adressaten, der Regierung des Landes Baden-Württemberg, nicht in Konkurrenz zu treten. Die dargestellten Arbeitsbereiche „Bild“ und „Musik“ werden von Klotz nun schon wesentlich selbstbewusster als „Institute“ bezeichnet, als „Institut für Bildmedien“ und „Institut für Musik und Akustik“, in denen Künstler, Wissenschaftler und Techniker gemeinsam an der Verwirklichung künstlerischer Projekte arbeiten. Außerdem sollte es im künftigen Zentrum neben den Einrichtungen für künstlerische Produktion auch Orte der Präsentation geben. So wurde das ZKM-Konzept durch das Medientheater, das Musikstudio mit eigenem Veranstaltungsprogramm und durch das „Museum für Gegenwartskunst“ erweitert. Das Museum sollte neben den „klassischen Künsten“ vor allem Werke der Medienkunst aufnehmen, wofür auch eine entsprechende Medienkunstsammlung angelegt werden sollte.29 Auch der im „Konzept ’88“ sehr abstrakt in deutlich ausgeprägter medienpädagogischer Legitimationsprogrammatik beschriebene Arbeitsbereich „Medien für den Bürger“ erfuhr durch das „Medienmuseum“ und die

28 H. Klotz: Weitergegeben: Erinnerungen, S. 141. 29 Vgl. ebd.

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„Mediathek“ eine konkrete Realisierung: „[...] denn hier werden dem Publikum die Möglichkeiten der Medientechnologie wie überhaupt der Medien verständlich gemacht“.30 Die Multimediale Ein weiterer „Ort der Präsentation“ wurde durch die 1989 erfolgte Gründung der Multimediale – des ZKM-Medienfestivals – geschaffen, für die das Festival Ars Electronica in Linz als Vorbild genommen wurde.31 Im Unterschied zum Linzer Festival sollten jedoch „die Ausstellungen der Multimediale überwiegend von Arbeiten aus den eigenen Studios und Instituten gespeist“ werden.32 Die Multimediale wurde von 1989 bis 1997 veranstaltet und sollte „einer interessierten Öffentlichkeit in zweijährigem Turnus einen Überblick über die vielfältigen Entwicklungen an der Schnittstelle von Kunst und Medientechnologie“33 geben. „Die Veranstaltungsorte und Themenstellungen wechselten von Jahr zu Jahr, das Spektrum umfasste neben Symposien, Vorträgen, Konzerten und Performances auch die Präsentation von Eigenproduktionen der Institute am ZKM und die Ausstellung erster Ankäufe für den musealen Bereich. Kooperationen mit Kultureinrichtungen der Stadt Karlsruhe und mit internationalen Institutionen deuteten das Netz der für das ZKM auch in der Phase seiner Konsolidierung tragfähigen Verbindungen an“34 – berichtet der offizielle ZKM-„Storyreader“. Historisch-retrospektiv gesehen stellte die Gründung der Multimediale im Jahre 1989 gewiss eine symptomatische Ausdrucksform der Ende der 1980er Jahre begonnenen und oben bereits beschriebenen „Festivalisierung“ und „Biennalisierung“ des internationalen künstlerischen und vor allem medienkünstlerischen Prozesses dar. Aus der Perspektive der institutionellen Zweckrationalität war die Einrichtung eines eigenen ZKMMedienkunstfestivals auch eine Fortsetzung der öffentlichen Aufklärungsarbeit im Sinne seines Arbeitsbereichs „Medien für den Bürger“. Es bildete

30 Ibid., S. 142. 31 Vgl. ebd., S. 143. 32 Ibid. 33 http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$967 [archivierte Seite, letzter Zugriff: 15.04.2017]. 34 Ibid.

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einen wichtigen Bestandteil der öffentlichen ZKM-Werbekampagne und somit auch einen bedeutenden taktischen Schritt im politischen Kampf für die Rechtfertigung und Realisierung des ZKM-Projekts. Die Hochschule für Gestaltung: „Eine neue Hochschule (für neue Künste)“ Die letzte essentielle Erweiterung des ursprünglichen ZKM-Konzepts beinhaltete den Vorschlag von Heinrich Klotz, eine Hochschule zu gründen, die in ihrem Programm eng an die Tätigkeit des geplanten Zentrums gebunden sein sollte: „Die Wirkungskraft des ZKM würde zu einem beträchtlichen Teil ins Leere zielen, wenn man nicht die junge Generation miteinbezöge und die Studenten und Professoren von dieser Einrichtung profitieren ließe. Ich könnte nicht denken, dass ein solcher Aufwand ohne pädagogischen Zweck gerechtfertigt wäre.“35 Eine solche Rechtfertigung hat, ähnlich wie bei anderen medienkünstlerischen Institutionsgründungen, nicht nur die Argumentationsrhetorik, sondern auch die Programmgestaltung auf der inhaltlichen Ebene wesentlich beeinflusst. Das Projekt der neuen Hochschule wurde von Klotz unter dem Namen der Hochschule für Gestaltung (HfG) in sein für den Landtag erarbeitetes ZKM-Konzept eingeschlossen. Schon durch den Namen sollte sich die neue Hochschule in ihrer Funktion und Zielsetzung von der seit über hundert Jahren bestehenden Karlsruher Kunstakademie unterscheiden, deren Schwerpunkte in den klassischen Fächern Malerei und Skulptur lagen. An der künftigen Hochschule sollten vor allem „die Designfächer, Grafikdesign (Visuelle Kommunikation), Produktdesign (Industriedesign) und Szenografie (Bühnenbild und Ausstellungsdesign) zu Hauptstudiengängen ausgebaut“ werden. „In allen Designfächern ist der Bezug zur Datenverarbeitung und Medientechnologie die Grundlage des Studiums.“36 Eine Einführung der „Neuen Medien“ bzw. neuen „Medientechnologien“ in das Studienprogramm der Designfächer schien für alle hochschulpolitischen Akteure verständlich und sinnvoll zu sein. Aber der Vorschlag, die Medienkunst als selbständiges künstlerisches Fach einzuführen, sorgte am Anfang für Widersprüche seitens einiger Mitglieder des Wissenschafts-

35 H. Klotz: Weitergegeben: Erinnerungen, S. 144, Hervorhebung L. V. 36 Klotz, Heinrich: Eine neue Hochschule (für neue Künste), Stuttgart: Cantz 1995, S. 27.

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rats, welche der Gründung der HfG zustimmen mussten, sowie seitens mancher Professoren der Karlsruher Kunstakademie. „Kaum einer der Akademieprofessoren hat sich mit dem Gedanken abfinden können, dass die Künste irgend etwas mit dem Computer zu schaffen haben sollten“,37 kommentierte Klotz diese Situation in seinen Memoiren. Doch wurde bereits einige wenige Jahre später im deutschen hochschulpolitischen Diskurs immer öfter die Notwendigkeit einer Einführung der „Neuen Medien“ und „neuen Technologien“ in die Kunstlehre thematisiert. Die Neuerungen auf der Diskursebene begleiteten eine Reihe weiterer institutioneller Gründungen und Änderungen im Bereich der künstlerischen Ausbildung. So wurde im Oktober 1990, drei Jahre nach dem Errichtungsbeschluss des nordrhein-westfälischen Landtages, die Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln eröffnet. Die Konzeption der KHM entstand aus einer ‚ideologisch‘ ähnlichen Grundannahme wie die Karlsruher HfG, in den Worten der damaligen Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes NRW Anke Brunn: „Moderne Technologien sind künstlerische Werkzeuge, Ausdruckmittel für Kreativität – aber auch Thema kritischer künstlerischer Auseinandersetzung.“38 Die inhaltlichen Schwerpunkte des Studienprogramms der KHM mussten jedoch die politisch-ökonomische Konjunktur des Landes NRW sowie der Stadt Köln widerspiegeln. Ähnlich wie die Stadt Karlsruhe, die sich als „Technologieregion“ positionieren wollte, positionierte sich die Stadt Köln als „Medienmetropole“. Dementsprechend spielte an der KHM neben den Studienfächern Medienkunst und Mediengestaltung auch das Fach Film und Fernsehen eine erhebliche Rolle, so dass die KHM der Öffentlichkeit unter anderem als eine Art ‚Kaderschmiede‘ für die zahlreichen Kölner Fernsehanstalten und Filmproduktionsfirmen dargestellt werden konnte. Dies wirkte als ein zusätzlicher Legitimationsfaktor für die Finanzierung der KHM durch die Landesregierung NRW. „Das Interesse der Studienbewerber an dieser künstlerisch-darstellenden Ausbildung ist groß“, schrieb Anke Brunn in ihrem Aufsatz für die erste Ausgabe des KHM-Magazins Lab:

37 Ders.: Weitergegeben: Erinnerungen,, S. 146. 38 Brunn, Anke: „Das Experiment ‚Kunsthochschule für Medien‘ ist erwachsen geworden“, in: Lab 1. Jahrbuch für Künste und Apparate der Kunsthochschule für Medien Köln, Bd. 1, Köln: KHM 1994, S. 3.

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„Ebenso groß ist auch das Interesse des Arbeitsmarktes an den Absolventen der Kunsthochschule für Medien. Dafür sorgt schon die unmittelbare Nachbarschaft der nordrhein-westfälischen Medienmetropole Köln. Dafür sorgt aber auch der große Bedarf der audiovisuellen Branche an gestalterischen Fähigkeiten.“39

Die Ausbildung der ‚Medienhandwerker‘ oder gar eines ‚Medienproletariats‘ wird sodann zur Aufgabe der vielen im Laufe der 1990er Jahre neu gegründeten Studiengänge an zahlreichen deutschen Fachhochschulen, wo ein praktisch orientierter und technisch fokussierter Umgang mit den „Neuen Medien“ und „Medientechnologien“ gelehrt wird. Hochschulen wie die KHM oder die HfG, die sich vor allem als Vorposten der freien künstlerischen Tätigkeit auf dem Feld der Neuen Technologien verstehen, mussten sich entsprechend „künstlerisch“ positionieren und sowohl von den anderen als auch voneinander abgrenzen, um sich in den Augen der für sie zuständigen kulturpolitischen Entscheidungsträger im Kontext des „kooperativen Kulturföderalismus“ eine Daseinsberechtigung zu sichern.

39 Ibid.

Net Art und Institutionalisierung des Anti-Institutionellen Kapitel 15

Nach der Entstehungsgeschichte des ZKM, die, ähnlich wie die Ars Electronica, ein charakteristisches Beispiel einer Institutionalisierung ‚von oben‘ darstellt, d.h. einer Gründung infolge einer staatlichen politischen Entscheidung, ist es notwendig, ein Exempel in Betracht zu ziehen, das ein anderes Institutionalisierungsmodell illustriert. Dieses Modell könnte man im Gegensatz zur oben beschriebenen Geschichte als Institutionalisierung ‚von unten‘ bezeichnen und untersuchen, wie und warum eine zu Beginn unabhängige und informelle grassroots-Künstlerbewegung oder -initiative ab einem bestimmten Zeitpunkt doch eine institutionelle Form annimmt. Ein solches kennzeichnendes Beispiel der Institutionalisierung ‚von unten‘ bietet in diesem Zusammenhang die Geschichte der Net Art. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde der Begriff Net Art verwendet, um Internetbasierte Projekte zu bezeichnen, in denen das Internet und seine ästhetischen und kommunikativen Eigenschaften zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung gemacht wurden. Die Net Art der 1990er Jahre war im Grunde eine selbstreferentielle künstlerische Praxis, die das eigene Medium – das Internet – in den besten Traditionen der modernistischen Kunst reflektierte. 1995 verwendeten Medientheoretiker wie Tilman Baumgärtel, Pit Schultz und einige andere Autoren den Begriff „net.art“, um jene Gruppe von Künstlern zu bezeichnen, die mit solchen medium-reflexiven Ansätzen

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arbeiteten.1 Zu den Hauptvertretern der net.art zählten Vuk Cosic, Alexei Shulgin, Olia Lialina, Heath Bunting, jodi.org (Dirk Paesmans and Joan Heemskerk) und andere Künstler. Typische Net Art-Praktiken beinhalteten Interventionen in das Funktionieren der Websites und Browser, Experimentieren mit der Ästhetik von „computer crashes and errors“2 oder mit dem narrativen Potential der Hyperlinks (z.B. Olia Lialina mit ihrer Arbeit „My Boyfriend Came Back from the War“); Parodien der Webdesignästhetik, die in den 1990er Jahren oft als „Dekonstruktion der visuellen Codes des Internets“ konzeptualisiert wurden; das Verschicken poetischer Texte als Spam (die sogenannte spam mail art von jodi.org) und viele mehr. Der kritische Umgang der Net Art mit dem Kunstmarkt und mit den Kunstinstitutionen machte viele Net Art-Projekte und ihre Interventionspraktiken der Institutionskritik ähnlich. So implementierte die Gruppe 0100101110101101.org die Ideen von art hacktivism in ihre Projekte und intervenierte mithilfe eines Computervirus in die offizielle Webseite der Biennale von Venedig (das Projekt „Biennale.py“ auf der 49. Biennale im Jahr 2001).3 Ähnlich wie im Falle der Institutionskritik wurde die ursprünglich antiinstitutionelle Haltung der Net Art durch die Kunstinstitutionen selbst jedoch sehr schnell und erfolgreich appropriiert. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das Projekt „Uncomfortable Proximity“ von Graham Harwood, Vertreter der Künstlergruppe Mongrel, der eine twin-site für die Tate Modern mit seinen eigenen Inhalten und Interpretationen der dort präsen-

1

Vgl. Baumgärtel, Tilman: net.art – Materialien zur Netzkunst, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 1999; auch Federspiel, Stefan: Net Art Guide, Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag 2000; Baumgärtel, Tilman: net.art 2.0 – Neue Materialien zur Netzkunst, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2001.

2

Zum Beispiel die Projekte der Gruppe jodi.org, in denen Internetnutzer, die eine bestimmte Website öffneten, mit unzähligen pop-up Fenstern bombardiert wurden, die zum Absturz des Browsers führten, vgl. http://www.unbestimmtes.de/ netzaktivismus/node5_fs.html [letzter Zugriff: 14.04.2017].

3

http://0100101110101101.org/biennale-py/ [letzter Zugriff: 14.04.2017].

N ET A RT | 211

tierten Arbeiten produzierte. Die Pointe der Geschichte bestand darin, dass das Projekt im Auftrag der Tate Modern selbst realisiert wurde.4 Ursprünglich waren die Internet-Foren und Mailinglisten die Hauptform der Organisation der Net Art-Community, da am Anfang die Kunstinstitutionen für die Herstellung und Präsentation der Net Art-Projekte rein technisch nicht unbedingt notwendig waren und ein Rechner und Internetzugang ausreichende Produktions- und Distributionsmittel darstellten. Die Net Art wurde von ihren Verfechtern daher als Verkörperung einer neuartigen Kunstgemeinschaft interpretiert – einer demokratischen Gemeinschaft unabhängiger Künstler jenseits der üblichen institutionellen Rahmen und Hierarchien, die allein durch die kommunikativen Möglichkeiten des Internets organisiert werden konnte. Die Net-Art-Künstler mussten jedoch bald erkennen, dass die Möglichkeit, Informationen über ihre Projekte an die potentiellen Zuschauer zu liefern, nicht weniger bedeutend war als der Prozess der Produktion und Präsentation ihrer Arbeiten im Internet. Da die Hauptkonsumenten der Net Art die Vertreter der Net Art-Community selbst waren, stellte sich unvermeidlich die Frage, wer die Kontrolle über die existierenden Informationsressourcen – Internet-Foren und Mailinglisten – de facto übernehmen würde. Dabei ist auch zu beachten, dass die wichtigsten Internetressourcen der Net Art wie z.B. nettime.org oder Rhizome.org dank einer vielseitigen institutionellen Unterstützung entstanden waren und in Gang gehalten wurden.5 Außerdem wurde die neu entstandene Net Art relativ schnell in die institutionellen Programme und Sammlungen der großen Kunstinstitutionen aufgenommen. So kaufte das Whitney Museum of American Art bereits 1995 die Net Art-Arbeit „The World’s First Collaborative Sentence“ von Douglas Davis.6 Im selben Jahr initiierte das Dia Center for the Arts in New York das Programm Artists’ Web Projects, bei dem sowohl bekannte zeitgenössische Künstler wie Tony Ousler, Francis Alys u.a. als auch jün-

4

Siehe http://www2.tate.org.uk/intermediaart/entry15266.shtm [letzter Zugriff: 14.04.2017].

5

Vgl. http://rhizome.org/about/; auch http://www.nettime.org/info.html [letzter Zugriff auf die Seiten: 14.04.2017]

6

http://whitney.org/Exhibitions/Artport/DouglasDavis [letzter Zugriff: 14.04. 2017].

212 | M EDIENKUNST ALS N EBENPRODUKT

gere Medienkünstler wie James Buckhouse oder Olia Lialina ihre Net ArtProjekte entwickeln sollten.7 Auch bedeutende Kunstevents wie die Documenta oder die Biennale in Venedig reagierten zeitnah auf den Net Art-Trend. So zeigte die Documenta X (1997) das Projekt „Hybrid Workspace“, in dem Arbeiten von Vuk Cosic und anderen Pionieren der Net Art präsentiert wurden.8 Im Jahr 1999 veranstaltete auch das ZKM eine umfassende Ausstellung Internet-basierter künstlerischer Projekte mit dem Titel „net_condition“.9 Die schnelle Reaktion der Kunstinstitutionen und die Einführung der Net Art in ihre Ausstellungsprogramme beinhaltete indes nur einen Teil des vielseitigen Aufbaus des institutionellen Netzwerks der Net Art in Form von spezialisierten Net Art-Festivals, -Konferenzen, -Zeitschriften, -Sammlungen etc. Die Entstehung der institutionellen Infrastruktur erwies sich auch im Falle der Net Art als eine unerlässliche Phase in der Entwicklung dieser sich ursprünglich anti-institutionell begreifenden Bewegung. Mitte der nuller Jahre schien die Net Art – nicht zuletzt aus Sicht ihrer eigenen Vertreter – das Potential einer konzeptuellen Weiterentwicklung im damaligen technologischen state of the art des Internets im Wesentlichen ausgeschöpft zu haben. Die Möglichkeiten der Reflexion des Internets als künstlerisches Medium per se erwiesen sich im Grunde als auf ein Dutzend konzeptioneller Ansätze begrenzt, deren medienanalytischer Wert in umgekehrter Proportion zu ihrer permanenten Wiederholung ständig sank, auch wenn dabei neue Inhalte und stilistische Lösungen generiert wurden. Die Website der Biennale von Venedig zu hacken ist konzeptuell nur das erste Mal richtig interessant; das Potential der Hyperlinks für den Aufbau eines Narrativs kann auch mithilfe einer gut gelungenen Arbeit bereits deutlich demonstriert werden. Die Net Art-Festivals und -Ausstellungen wurden allerdings weiterhin organisiert und die entsprechenden Online-Plattformen erhalten, solange die finanziellen Ressourcen dank einer gewissen Trägheit der kulturpolitischen Förderstrukturen noch beschafft werden konnten. Danach mussten die Net Art-bezogenen institutionellen Initiativen sich entweder konzeptio-

7

http://www.diaart.org/program/artistswebprojects [letzter Zugriff: 14.04.2017].

8

http://www.medialounge.net/lounge/workspace/ [letzter Zugriff: 20.05.2011].

9

Vgl. Weibel, Peter/Druckrey, Timothy (Hg.): net_condition – Art and Global Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2000.

N ET A RT | 213

nell neu profilieren oder sich der kunsthistorischen Konservierung und Archivierung der bereits existierenden – oft auch der eigenen – Net ArtProduktion widmen. Die institutionelle Geschichte der Net Art kann in diesem Zusammenhang als ein weiterer Beleg für die im ersten Teil der Arbeit formulierte These betrachtet werden: Die grassroots-Künstlerinitiativen, unabhängig davon, ob die von ihnen repräsentierten Kunstpraktiken „anarchistisch“, „avantgardistisch“ oder wie auch immer ausgerichtet waren, demonstrieren schließlich die existentielle Notwendigkeit einer institutionellen (Selbst-) Organisation künstlerischer Tätigkeit in der „verwalteten Welt“, in der sich das gouvernementale Paradigma des Selbst-Managements als die effizienteste Verwaltungspraxis durchsetzte.

Spezifika der institutionellen Geschichte der Medienkunst in Russland Kapitel 16

16.1 I NSTITUTIONALISIERUNG DES U NDERGROUNDS Die frühen Phasen der Medienkunstgeschichte in Russland wurden in vielerlei Hinsicht durch allgemeine Tendenzen der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in der Sowjetunion determiniert und können deswegen nur im Hinblick auf den breiteren künstlerischen und soziokulturellen Kontext analysiert werden. Die meisten bekannten Vertreter der russischen Medienkunst der 1990er Jahre hatten noch in der sowjetischen „Underground“Kunstszene der 1970er und 1980er Jahre ihre künstlerische Tätigkeit begonnen. Die wenigen kunsthistorischen Studien zur Geschichte der Medienkunst in Russland beschränken sich auf einen kleinen Kreis von Künstlern und Events, die wegen des Mangels an Dokumentationsmaterial der in Frage kommenden Aktionen und Projekte zumeist nur auf mündlichen Zeugnissen der Beteiligten basieren, also auf einer Art oral history.1 Dabei ist zu

1

Vgl. den Vortrag von Olga Shishko: „Die Entwicklungswege der Kunst der Neuen Technologien in Moskau im Laufe des letzten Jahrzehntes. Von Videoart zu Net-Art. Die Projekte vom Soros Zentrum für Zeitgenössische Kunst Moskau“, in: EVA’98 Conference: Electronic Imaging, the Visual Arts & Beyond, Moscow, The State Tretyakov Gallery, 26.10.-30.10.1998,

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beachten, dass der „medienkünstlerische“ Charakter vieler dieser Ereignisse oftmals eher als eine spätere Projektion der Geschichtsschreiber selbst zu verstehen ist. Bis Anfang der 1990er Jahre war der Begriff Medienkunst (russ.: медиа-искусство) sowie sein damaliger Doppelgänger, die Kunst der Neuen Technologien (russ.: искусство новых технологий), im russischsprachigen Gebrauch kaum anzutreffen. Diese Termini wurden in Russland erst um 1993 aufgrund der neu entstandenen kulturpolitischen Konjunktur verwendet, die im Weiteren ausführlicher analysiert wird. Diskurshistorisch gesehen war davor in Russland bzw. der Sowjetunion, sofern es um technisch-mediale Applikationen in der künstlerischen Praxis ging, hauptsächlich von der Videokunst die Rede. In den 1980er Jahren hatte sich in der UdSSR das Video als eigenständiges künstlerisches Medium einigermaßen durchgesetzt. Aus diesem Grund wurde in Russland auch in den 1990er Jahren das Wort „Medienkunst“ gelegentlich als Synonym für „Videokunst“ gebraucht. In Bezug auf die künstlerischen Aktivitäten in der sowjetischen Underground-Szene weitete sich jedoch der Begriff der „Videokunst“ über das gewöhnliche Verständnis von Videokunst im Westen aus. Da Videokameras im Privatbesitz in der Sowjetunion sehr selten waren, benutzten die Künstler zumeist Super-8- oder andere Filmkameras. Ihre Produktionen bezeichneten sie dennoch oftmals als „Videokunst“, nicht zuletzt deshalb, weil das Wort „Videokunst“ in der Kunstszene andere Konnotationen und konzeptuelle Bezugsmöglichkeiten hatte im Vergleich zu dem im offiziellen Kunstdiskurs verwandten Begriff des „experimentellen Films“. Die tatsächlich benutzten Produktionsmedien spielten für das künstlerische Selbstverständnis der ‚Produzierenden‘ eine viel geringere Rolle als deren konzeptueller Ansatz oder ästhetische Vorbilder. Viele bekannte Erscheinungen des spätsowjetischen inoffiziellen experimentellen Kinos, wie die berühmte Parallelkino-Bewegung – bekannt vor allem dank den Brüdern Igor und Gleb Aleinikov – oder die sogenannten Leningrader Nekrorealisten – u.a. Eugeniy Jufit, Eugeniy Kondratiev – spielten für den gesamten künstlerischen Prozess innerhalb der Underground-Szene eine signifikante

http://www.evarussia.ru/eva98/rus98exh/Doc/Event04/First/docl01.htm [letzter Zugriff: 14.04.2017].

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Rolle und werden heute von vielen Kunsthistorikern als ein wesentlicher Teil der russischen Video- bzw. Medienkunstgeschichte betrachtet.2 Die anderen Bestandteile der russischen medienkünstlerischen Vorgeschichte stammen aus der mittlerweile kunsthistorisch kanonisierten „inoffiziellen Kunstszene“ der 1970er bis 1980er Jahre. An dieser Stelle sind die Videoperformances und Mail-Art-Aktionen des Künstlerpaars Natalia Abalkina und Anatoli Zhigalov zu erwähnen sowie Videodokumentationen einiger Performances aus dem Umkreis des Moskauer Konzeptualismus. So haben Künstler wie Vadim Zakharov, Alexej Isaev, Tatiana Dober und Alexander Alekseev die Videodokumentationen ihrer Aktionen als ein selbständiges Präsentationselement in die Ausstellungspraxis der 1980er Jahre eingeführt.3 Anfang der 1990er Jahre wurden in Russland erste öffentliche Galerien und Kunstzentren für zeitgenössische Kunst im geläufigen ‚westlichen‘ Sinne gegründet, die in der Praxis jedoch oftmals nur formell einen öffentlichen Charakter hatten und faktisch die frühere Apt-Art-Tradition4 fortsetzten. Die Entstehung der institutionellen Infrastruktur der zeitgenössischen Kunst in Russland verlief in ihrer Anfangsphase ohne jeglichen staatlichen Eingriff in Form von Selbst-Organisationsinitiativen der Künstler selbst. Unter mehreren Faktoren, die zu diesem grassroots-artigen Institutionalisierungsverfahren beitrugen, ist im Kontext dieser Untersuchung der Einfluss von Vertretern des westlichen Kunstsystems wie Kuratoren, Galeristen etc. von besonderer Relevanz. Typologisch gesehen spielten diese die Rolle von ‚Missionaren‘ im Prozess der ‚ideologischen Kolonisierung‘ des ex-sowjetischen kulturellen Raums sowie bei der Institutionalisierung der russischen zeitgenössischen Kunst. Dank der „Perestroika-Kunst“-Mode, die seit Ende der 1980er und bis Mitte der 1990er Jahre das private Sammeln und den institutionellen westeuropäischen Kunstbetrieb dominierte, begriffen russische Künstler recht schnell, wie notwendig die öffentlichen institutionellen Schnittstellen wa-

2

Ibid.

3

Ibid.

4

Mit dem Begriff Apt-Art, d.h. Apartment Art, wird in der Regel eine Tradition der Ausstellungen in privaten Wohnungen und Künstlerateliers bezeichnet, die in den 1970er bis 1980er Jahren in der sowjetischen unabhängigen Kunstszene sehr verbreitet war.

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ren, um potentiellen Käufern die eigene künstlerische Existenz zu präsentieren. So entstanden in kürzester Zeit Kunstgalerien, die in Wirklichkeit keine gewöhnlichen kommerziellen Galerien waren, sondern de facto lediglich kleine Projekt- und Ausstellungsräume. Zu den bedeutendsten Gründungen dieser Zeit gehört das berühmte Zentrum für Zeitgenössische Kunst (russ.: Центр Современного Искусства) in der Bolshaya Yakimanka, das 1991 in einem leer stehenden Gebäudekomplex in der Innenstadt von Moskau eröffnet wurde. Das Zentrum war eine Art nicht-kommerzieller Ausstellungshalle, wo regelmäßig Ausstellungen, Kunstaktionen, Konzerte, Videovorführungen etc. stattfanden. Nach seiner Eröffnung wurden auf dem Zentrumsgelände Galerien wie die „Guelman Galerie“, die „Shkola“, „1.0“, „Studio 20“, „Laboratoria“, die „TV-Galerie“, „Dar“ und andere eröffnet. Mit der medienbasierten Kunst befassten sich insbesondere die Photogalerie „Shkola“ (Kuratorin Irina Piganova), die „TV-Galerie“ (Kuratorin Nina Zaretskaya) und das „1.0“ (Kurator Vladimir Levashov). Ganz im Sinne der damaligen Trends der grassroots-Institutionalisierung bezeichneten viele Künstler ihre privaten Initiativen oder Vereinigungen – nicht zuletzt zum Zweck von Fundraising – als „Institute“, „Assoziationen“ usw. So ist in den Katalogen und Artikeln der frühen 1990er Jahre häufig ein „Institut für Kunsttechnologien“ und eine „Assoziation der Neuen Bildschirm-Technologien“ zu finden. In Wirklichkeit standen hinter diesen Bezeichnungen konkrete individuelle Projekte, im Falle des „Instituts für Kunsttechnologien“ z.B. des Künstlers Sergei Shutov und der Kuratorin Tatiana Mogilevskaya, bei der „Assoziation der Neuen Bildschirm-Technologien“ die theoretischen Seminare des Computerwissenschaftlers Anatoli Prokhorov und seiner Kollegen.5 In den frühen 1990er Jahren breitete sich der globale Boom der Neuen Technologien auch in der vormaligen UdSSR aus. Immer mehr internationale Computer-, Kommunikations- und IT-Firmen versuchten sich auf dem wachsenden post-sowjetischen Absatzmarkt zu etablieren. Im Rahmen ihrer vielfältigen PR- und Werbekampagnen wurden mehrere Festivals und Ausstellungen sowie künstlerische Initiativen finanziert, die sich mit Computern und Neuen Medien beschäftigten. In einem solchen Kontext wurde

5

Siehe Shishko, Olga/Isaev, Alexei (Hg.): NewMediaLogia/NewMediaTopia, Moskau: SCCA 1994.

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beispielsweise 1993 die Ausstellung „Der virtuelle Garten“ als Rahmenprojekt des ersten Moskauer Festivals für Computeranimation Anigraph veranstaltet, auf der unterschiedliche Videoarbeiten russischer Künstler präsentiert wurden.6 Viele Projekte wurden dennoch ohne spezielle Sponsorenunterstützung realisiert, so das Festival für experimentelles Kino und Computeranimation, welches im selben Jahr das Moskauer „Studio Egozentrischer Besonderheiten“ („Студия эгоцентрических особенностей“) organisierte. Die Kuratoren des Festivals Vadim Koshkin und Alexei Isaev setzten der Veranstaltung das Ziel, „die Synthese der Künste zu demonstrieren und die Besonderheiten im Umgang mit dieser Fragestellung bei Videokünstlern, Musikern, Akteuren und Filmemachern aufzudecken“.7 Das Festivalprogramm beinhaltete vier thematische Schwerpunkte: „Video und Theater“, „Video und Musik“, „Video und TV-Art“, „Video und visuelle Künste“ sowie die Rahmenausstellung „Das Video-Drehbuch“.8 Diese Veranstaltungen waren kleine no-budget-Events, die in den Medien und der Öffentlichkeit keine große Resonanz fanden. In der Regel partizipierte an solchen Events nur ein enger Kreis von ein paar Dutzend Enthusiasten, die bereit waren, ohne ernsthafte institutionelle und finanzielle Unterstützung zu agieren. Dennoch hatten die Begriffe „Videokunst“ und etwas später „Medienkunst“ zu Beginn der 1990er Jahre eine große Attraktivität, insbesondere für das junge kunstinteressierte Publikum. Viele hatten von „Medienkunst“ zwar schon gehört, doch keiner wusste genau, was sich hinter diesen magischen Worten verbarg. Sie versprachen jedoch den imaginären coolen Lebensstil des erfolgreichen und konzeptuell fortgeschrittenen Künstlers sowie eine tiefe Vertrautheit mit den neuesten internationalen künstlerischen Trends.

6

Vgl. Olga Shishko: „Die Entwicklungswege der Kunst der Neuen Technologien in Moskau im Laufe des letzten Jahrzehntes“.

7

Vgl. ebd., zitiert nach http://www.evarussia.ru/eva98/rus98exh/Doc/Event04/

8

First/docl01.htm [letzter Zugriff: 18.04.2017]. Ibid.

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Für dieses Image von „Videokunst“ und „Medienkunst“ sorgten gewiss mehrere Faktoren, und nicht zuletzt die Tatsache, dass Video- und Computertechnik in der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre für den individuellen Nutzer immer noch sehr teuer und schwer zugänglich war. Allein die Möglichkeit, eine solche Technik für private künstlerische Zwecke zu nutzen, galt schon als Statussymbol. Außerdem war ein äußerst respektvoller Umgang mit den Begriffen „Videokunst“ bzw. „Medienkunst“ auch in bestimmten Massenmedien zu beobachten, was nicht das Ergebnis einer gezielten Medienpolitik war, sondern eher das Engagement der Medienautoren selbst enthüllte. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Fernsehsender „Die Stille #9“ („Тишина №9“), „TV-Galerie“ und „Exotica“ zu erwähnen. „Die Stille #9“ und „TV-Galerie“ ähnelten dem Format eines Kulturmagazins. Die Musikwissenschaftlerin Tatiana Didenko, Autorin des Programms „Die Stille #9“, setzte den Schwerpunkt ihrer Sendung auf experimentelle und Neue Musik. Die Autorin der Sendung „TV-Galerie“, die Kulturjournalistin Nina Zaretskaya, widmete ihr Programm hauptsächlich den visuellen Künsten. Parallel zu ihrer Journalistentätigkeit, war Nina Zaretskaya auch Direktorin der schon erwähnten „TV-Galerie“ am Zentrum für Zeitgenössische Kunst in der Bolshaya Yakimanka. Die beiden Sender trugen wesentlich dazu bei, das breite Fernsehpublikum mit künstlerischen Phänomenen wie der Videokunst bekannt zu machen und regelmäßig Videoarbeiten russischer und auch westlicher Künstler zu präsentieren. Das Musikprogramm „Exotica“ zeigte seit 1991 Musikvideos und Videodokumentationen diverser Musik- und Kunstaktionen, die von den Autoren dieser Videos aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion eingereicht wurden. Das Programm bot eine sehr seltene Gelegenheit, Videoarbeiten von Künstlern zu sehen, die nicht nur in den Metropolen, sondern auch in der Provinz tätig waren.9 Die Entstehung der elektronischen Musikszene und Klubkultur im Russland der frühen 1990er Jahre spielte für die Entwicklung der russischen Video- und Medienkunst ebenfalls eine bedeutende Rolle. Die Zusammenarbeit von Künstlern mit der wachsenden kommerziellen Klubsze-

9

Siehe Nikkilä, Anton/Taanila, Mika: „The Double: Russian Industrial Music and Low-Tech Videos“, Moskau-Helsinki 1993, http://www.nbresearchdigest.com/re sonance.htm [letzter Zugriff: 18.04.2017].

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ne eröffnete neue technische und finanzielle Möglichkeiten, künstlerische Projekte unabhängig von den üblichen Kunstfinanzierungsschemata zu realisieren. Dennoch wurden diese Aktivitäten im Rahmen von Partys und Klub-Events von vielen teilnehmenden Künstlern eher als Marginalien am Rande des ‚eigentlichen‘ künstlerischen Prozesses wahrgenommen, als Jobs oder angewandte künstlerische Tätigkeiten, die außerhalb der reinen ‚freien‘ Kunstaktivität lagen.10 Obwohl mit der Entwicklung des Kunstmarkts in Russland diese Hierarchie der freien und angewandten Kunst unter dem für die Undergroundszene nun neuen Vorwand der Kunstautonomie bestehen blieb, reduzierte sich im Laufe der 1990er Jahre die Zahl der ökonomisch zweckfreien und selbstgenügsamen künstlerischen Aktivitäten ganz erheblich, die noch am Ende der 1980er Jahre in der Kunstszene sehr üblich waren. Die zunehmende und zwangsläufige Involvierung von Underground-Künstlern in die Marktverhältnisse führte dazu, dass manche früher freie Kunstpraktiken allmählich ausstarben, was sich am Beispiel des Leningrader Projekts „Piraten-Fernsehen“ gut verfolgen lässt. Das Projekt „Piraten-Fernsehen“ (russ.: Пиратское Телевидение) oder „PTV“ entstand 1989 im Umkreis der Leningrader Künstlergruppe „Neue Künstler“ und wurde durch die Besonderheiten dieser Gruppe und durch die Leningrader Underground-Kunstszene generell geprägt. Die Gruppe war 1982 von Timur Novikov gegründet worden. Ihren Kern bildeten Ivan Sotnikov, Vadim Ovchinnikov, Oleg Kotelnikov, Sergei Bugaev (auch unter dem Künstlernamen „Afrika“ bekannt), Evgenij Kozlov, Georgij Gurianov und Cyrill Khasanovich.11 Im Unterschied zu anderen Künstlergruppen der Leningrader Underground-Kunstszene wie „Letopis“ von Boris Koshelokhov, den „Mitki“ (Dmitrij Shagin, Alexander Florensky) oder den „Ingenieuren der Kunst“ (Inal Savchenkov, Franz Rodwalt) wurden gerade die „Neuen Künstler“ in der Wahrnehmung des russischen und westlichen Publikums zur plakativen Verkörperung der Leningrader UndergroundKunst.

10 Vgl. Shishko, Olga/Isaev, Alexei: „Videoart und Klubkultur“, http://www.mediaartlab.ru/db/tekst.html?id=50 [letzter Zugriff: 14.04.2017]. 11 Vgl. Reuter, Jule: Gegenkunst in Leningrad. Zeitgenössische Bilder aus der inneren Emigration, München: Klinkhardt & Biermann 1990.

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Zum einen lässt sich das dadurch erklären, dass die „Neuen Künstler“ mit ihren neo-expressionistischen Bildern, Collagen, provokanten Kunst-, Musik- und Theateraktionen den Geist der internationalen Kunst der 1980er Jahre – der „Neuen Wilden“ in Deutschland, der „Transavanguardia“ in Italien usw. – perfekt widerspiegelten. Zum anderen ist die Popularität und der Erfolg der „Neuen Künstler“ nicht zuletzt der charismatischen Natur von Timur Novikov zu verdanken. In der neuesten russischen Kunstgeschichte gilt Novikov als der bedeutendste und einflussreichste Künstler der Leningrader bzw. St. Petersburger Kunstszene der 1980er und 1990er Jahre. Dem breiten internationalen Publikum ist er in erster Linie als Gründer und Leiter der Neuen Akademie der Schönen Künste bekannt. Für die „Neuen Künstler“ ist er gleichfalls eine Art Produzent und wegweisender Vordenker gewesen. In seinem programmatischen Artikel „Der PerestroikaProzess in der Kunst der ‚Neuen‘“ aus dem Jahre 1985, in dem er den Stil und die Rhetorik der russischen Avantgarde-Manifeste der 1920er Jahre sichtlich ironisch, zugleich aber auch strategisch imitiert, schilderte Novikov die Ausgangsposition seiner Künstlergruppe: „Die ‚Neuen Künstler‘ sind die Angriffsspitzen der sowjetischen Kunst. Am Anfang der 80er Jahre haben sie die Tradition der russischen Avantgarde wiederbelebt. Sie spüren die neuesten kreativen Bedürfnisse der Massen. [...] Die ‚Neuen Künstler‘ nehmen an allem teil. Der Revolutionsprozess im Land bringt ihnen Adrenalin ins Blut. Konzerte, Theateraufführungen, Dreharbeiten, Ausstellungen, Almanache, Versammlungen ziehen sie an. Die ‚Neuen‘ baden in der Perestroika. REAKTION. Die Reaktion ist nicht zu vermeiden. Es war gerade die Kraft von ‚LEF‘, die die Reaktion schuf und die später ‚LEF‘ zerstörte. Wie könnte der jetzige Prozess anders verlaufen? Wird die Farce durch eine Tragödie ersetzt? Die Geschichte der Kunst ist voll von den Leichen ihrer Wegbereiter. Welches Schicksal erwartet die ‚Neuen‘? Die ‚Neuen‘ warten. [...] MAFIA. Die ‚Neuen‘ haben eine eigene starke Kulturmafia organisiert: den ‚Klub der Freunde Majakowskijs‘, die ‚Neuen Künstler‘, die ‚Neuen Komponisten‘, das Filmstudio ‚Mzha-la-la Film‘, den ‚Klub der Freunde der Volkskunst‘, die Zeitschriften ‚Novost‘, ‚DP‘ und ‚Neue Literatur‘ etc., Filialen in anderen Städten und

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Ländern, brüderliche Organisationen. Sie sind bereit, mit wem auch immer zusammenzuarbeiten.“12

Zu Sowjetzeiten galt Leningrad als „zweite Hauptstadt“ oder sogar als die eigentliche „Kulturhauptstadt“ der UdSSR, genoss aber im Unterschied zu Moskau in Bezug auf alle aus Sicht der offiziellen Ideologie marginalen sozialen und kulturellen Erscheinungen eine deutlich größere Freiheit und Toleranz seitens der Behörden. Dementsprechend unterschied sich auch die Underground-Kunstszene in Leningrad von der in Moskau. Diese Unterschiede sind in kulturtheoretischen Abhandlungen schon häufig thematisiert worden.13 Kurz zusammengefasst besteht das Wesen dieser Gegenüberstellung darin, dass die Moskauer Kunst, die vor allem durch den Moskauer Konzeptualismus bekannt wurde, als eine hermetische, intellektuell komplexe und theoretisch anspruchsvolle Erscheinung betrachtet wird. Die Underground-Kunst in Leningrad wird hingegen als ein offenes, expressives, spielerisches und tendenziell eher plastisch als konzeptuell orientiertes künstlerisches Phänomen wahrgenommen. Noch deutlicher wird diese Gegenüberstellung der Moskauer und Leningrader Kunst in der westlichen Rezeption. Das Wesen dieser Unterscheidung wurde von der deutschen Kunsthistorikerin Katrin Becker, die in den 1990er Jahren an vielen Projekten Petersburger Künstler teilgenommen hatte, am Beispiel der „Neuen Künstler“ formuliert: „Wenn man die Bewegung der ‚Neuen Künstler‘ analysiert, wird ersichtlich, dass sie viel mehr in der westlichen als in der post-sowjetischen Tradition verwurzelt ist. Nicht nur weil die Werke der ‚Neuen Künstler‘ zur Tradition der amerikanischen Pop-Art und Neo-Pop-Art oder zu den deutschen neoexpressionistischen ‚Neuen Wilden‘ gehören, sondern weil sie auch einen bestimmten Lebensstil praktizieren,

12 Novikov, Timur: „Der Perestroika-Prozess in der Kunst der ‚Neuen‘“, in: Екатерина Андреева (ред.): Тимур. Врать только правду! [Ekaterina Andreeva (Hg.): Timur. Nur die Wahrheit lügen!], St. Petersburg: Amfora 2007, S. 129–131. 13 Vgl. Fomenko, Andrej: „Zwischen Alltäglichkeit und Avantgarde. Die Petersburger Kunst“, in: Boris Groys/Anne von der Heiden/Peter Weibel (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 567–616.

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der durch endlose Partys, elektronische Musik und homosexuelle Kultur gekennzeichnet wird. Die Bewegung ‚Neue Künstler‘ verkörpert die westlichen Erwartungen an die russische Kultur. Die Kunstauffassung der ‚Neuen Künstler‘ kontrastiert mit dem textbelasteten, kopflastigen heterosexuellen Moskauer Konzeptualismus. [...] In Perestroika-Zeiten gab es eine westliche Idee vom Osten als einer jungen brutalen burschikosen Gemeinschaft von Künstlern, Musikern etc., die die neue Freiheit verkörperten. Gerade in diesem Sinne waren die ‚Neuen Künstler‘ eine Verkörperung des ‚Wilden Ostens‘.“14

Von diesem Standpunkt aus könnte man auch die ersten Videoexperimente der „Neuen Künstler“ als eine Verkörperung des „Wilden Ostens“ betrachten, die sich ohne Weiteres als eine bunte Gemengelage der in den 1980er Jahren üblichen grotesken postmodernen Persiflagen und TransvestitenShows verstehen lassen. 1989 initiierte Timur Novikov gemeinsam mit Juris Lesnik, Vladislav Mamyshev und Georgij Gurianov das Projekt „Piraten-Fernsehen (PTV)“. Die Aktivitäten des PTV bestanden hauptsächlich aus Videodokumentationen der zahlreichen Performances und Aktionen des Performancekünstlers Vladislav Mamyshev (Künstlername: Monroe) sowie von Musikvideos und unterschiedlichen Film- und Fernsehparodien. Das PTV verfügte über sehr bescheidene technische Möglichkeiten. Die realisierten Projekte hatten einen no-budget-Charakter und wurden von den Künstlern selbst als ein absolut zweckfreies und selbstgenügsames Spiel wahrgenommen. So beschreibt Georgi Gurianov in einem Interview die Entstehungsgeschichte des „Piraten-Fernsehens“: „Juris hat in Paris von jemandem durch Tausch eine Videokamera bekommen und wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Ich versuchte ihm den Filmschnitt mit einem kleinen Striptease-Film beizubringen, der 1988 bei mir zuhause gedreht worden war. Ich war damals die ganze Zeit auf Reisen und habe nur ab und zu mitgemacht. Alles hat natürlich Timur organisiert: ‚Du machst das, er macht das, und das Ganze heißt ‚Piraten-Fernsehen‘. So ging es los. Die Sendungen haben wir uns im Laufe der

14 Becker, Kathrin: „Einmal wir mit Timur“, in: Екатерина Андреева (ред.): Тимур. Врать только правду! [Ekaterina Andreeva (Hg.): Timur. Nur die Wahrheit lügen!], St. Petersburg: Amfora 2007, S. 350–351.

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Arbeit als Reaktion auf damalige Ereignisse ausgedacht. So entstanden die ‚KulturNachrichten‘, ‚Musiknotizen‘, ‚Spartakus‘, die Fernsehfolge ‚Der Tod historischer Persönlichkeiten‘. Juris war Kameramann, Timur führte Regie, Monroe spielte fast alle Rollen.“15

Die Ästhetik der PTV-Produktion war hauptsächlich durch Trash und Groteske gekennzeichnet, die Inhalte entsprechend ausgewählt, wie z.B. das dreistündige Gay-Remake von Leni Riefenstahls „Olympia“ oder der Film über Adolf Hitler und Eva Braun (beide Rollen von Mamyshev-Monroe gespielt), in dem Eva Braun eine sowjetische Spionin ist.16 Zu den gelungensten und bekanntesten Aktionen des PTV zählten zwei Auftritte von Mamyshev-Monroe: Während des Besuchs von Jacques Derrida in St. Petersburg kam Mamyshev zu Derridas Vortrag an der Neuen Akademie der Schönen Künste in der Puschkinskaja-10. Er erschien als grauhaariger Herr zurechtgemacht, der Derrida sehr ähnlich sah, jedoch im Sportanzug und mit einer olympischen Medaille auf der Brust. Auch François Lyotard wurde, als er in St. Petersburg zu Besuch war, zum Opfer einer Performance von Mamyshev. Kurz nach Beginn von Lyotards Vorlesung erschien Mamyshev-Monroe in einem ideal-typischen ProfessorenOutfit und begann sich bei allen Anwesenden für seine Verspätung zu entschuldigen. Diese Aktionen, wie auch viele andere PTV Projekte, wurden nicht dokumentiert und sind in erster Linie aus Gesprächen und Interviews mit den

15 „Georgi Gurianov und Andrei Chlobystin über das Piraten-Fernsehen“, vgl. ebd., S. 218–219, Übersetzung L. V. 16 Die Selbstinszenierung war von Anfang an die zentrale künstlerische Methode von Vladislav Mamyshev. Er wurde international bekannt durch seine Selbstdarstellungen als Vladimir Lenin, Buddha, Jeanne d’Arc, der Papst, Vladimir Putin etc., vor allem aber als Marilyn Monroe. Für die größten Skandale sorgten seine provokanten öffentlichen Auftritte als Osama bin Laden auf einem Moskauer Markt kurz nach dem 11. September und sein Erscheinen als Adolf Hitler bei der Eröffnung der Ausstellung „Moskau-Berlin“ in Berlin, vgl. Andreeva, Ekaterina: „Fallobst vom Baum der großen russischen Literatur. Über Vladislav Iurevich Mamyshev“, in: Kathrin Becker (Hg.): Neues Moskau. Kunst aus Moskau und St. Petersburg, Berlin: Neuer Berliner Kunstverein 2000, S. 78–88.

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beteiligten Künstlern bekannt.17 Der Direktor des Petersburger Archivs für Neue Kunst, Andrei Chlobystin, hob in einem Interview über das „PiratenFernsehen“ hervor, dass es keine offizielle Version des PTV gäbe, sondern nur einzelne Arbeiten und Fragmente in verschiedenen privaten und institutionellen Archiven.18 Das PTV hat sich als Projekt 1993 allmählich aufgelöst, nicht zuletzt deshalb, weil es keine angemessenen Präsentationsmöglichkeiten für seine Produktionen gab. Die öffentlichen Vorführungen der PTV-Projekte fanden nur sehr unregelmäßig statt, so im „Männerklub“ („Mужской Клуб“) auf der Moika in St. Petersburg oder gelegentlich in der Fernsehsendung „Tichij Dom“(„Тихий Дом“) von Sergei Sholokhov.19 In dieser Situation konnte sich der ursprüngliche Enthusiasmus der PTV-Autoren langfristig schwerlich halten. Auch auf dem Höhepunkt der Mode der „Perestroika-Kunst“ waren Videoproduktionen russischer Künstler für den westlichen Kunstmarkt weniger interessant als ihre Bilder oder Objekte. Deshalb kehrten viele Künstler nach den ersten Videoexperimenten zur Herstellung traditioneller marktkonformer Kunstwaren zurück. Eine Nachfrage nach der video- und medienkünstlerischen Produktion russischer Künstler kam erst zu einem späteren Zeitpunkt auf, im Zusammenhang mit der institutionell bedingten Notwendigkeit, „Medienkunst aus Russland“ und „Medienkunst aus Osteuropa“ generell in den entsprechenden Ausstellungs- und Festivalkontexten zu präsentieren.

17 Weitere mündliche Überlieferungen berichten von den Montage-Experimenten Timur Novikovs, der Filme oder Filmfragmente wie „Life of Brian“, „Adams Family“ usw. neu zu schneiden versuchte und von ihm selbst gedrehte Szenen in Filme wie etwa „Der Tod in Venedig“ einfügte. Aus der Zeit seiner jugendlichen Jobs als Filmvorführer Mitte der 1970er Jahre besaß er ein Archiv von Szenen, die aus Zensurgründen aus den Filmen herausgeschnitten worden waren. Es waren vorwiegend Sex- oder Nacktszenen, aus denen er einen kleinen Film zusammenschnitt. Als er erkrankte, vernichtete Novikov sein Videoarchiv, vgl. „Georgi Gurianov und Andrei Chlobystin über das Piraten-Fernsehen“, S. 224. 18 Ibid., S. 220. 19 Ibid., S. 221.

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16.2 S OROS C ENTERS FOR C ONTEMPORARY A RT : I NTENTIONEN UND R EZEPTIONEN Eine zentrale Rolle für den Aufbau der neuen institutionellen Infrastruktur der zeitgenössischen Kunst in Russland sowie in anderen ex-sowjetischen Republiken spielten in den 1990er Jahren die Soros-Zentren für zeitgenössische Kunst – SCCA (Soros Centers for Contemporary Art). Die SCCA wurden von dem bekannten amerikanischen Unternehmer und Milliardär George Soros im Zeitraum von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre in 17 Ländern Mittel- und Osteuropas sowie der ehemaligen Sowjetunion gegründet. Das erste Zentrum eröffnete Soros 1985 in Budapest. Danach folgten Gründungen in Prag, Warschau und Moskau (1992), in Bratislava, Bukarest, Ljubljana, Riga, St. Petersburg, Tallinn, Vilnius, Zagreb und Belgrad (1993), in Kiev, Skopje und Sofia (1994) sowie 1995 schließlich in Minsk, Kishinev, Sarajevo und Tirana.20 Die SCCA waren Teil eines größeren Stiftungsnetzwerkes (dem Soros Foundations Network), welches von George Soros mit dem offiziell deklarierten Ziel aufgebaut wurde, „to help countries make the transition from communism“.21 In seinen Medienauftritten bekannte sich Soros immer als ein überzeugter Verfechter von Karl Poppers Konzeption der „Offenen Gesellschaft“. Mit seiner 1993 erfolgten Gründung des Open Society Institute (OSI) versah er das Stiftungsnetzwerk mit einem breiten Spektrum politisch unterlegter Zielsetzungen: „The Open Society Institute (OSI), a private operating and grant-making foundation, aims to shape public policy to promote democratic governance, human rights, and economic, legal, and social reform. On a local level, OSI implements a range of initiatives to support the rule of law, education, public health, and independent media. At the same time, OSI works to build alliances across borders and continents on issues such as combating corruption and rights abuses.“22

20 Vgl. The SCCA Bulletin 1991-1994, Budapest: SCCA 1994. 21 Vgl. „About OSI and the Soros Foundations Network“: http://www. soros. org/ab out/overview [letzter Zugriff: 18.04.2017]. 22 Ibid.

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Die zahlreichen Initiativen des Instituts und des Soros Foundations Network, die in den ex-kommunistischen Ländern und vor allem in der ehemaligen Sowjetunion bestimmte neoliberal und US-orientierte politische Kräfte unterstützten, führten dazu, dass die Soros-Stiftungen im Laufe der 1990er Jahre in den Medien der jeweiligen Länder zunehmend als ‚fünfte Kolonne‘ der US-amerikanischen Außenpolitik betrachtet wurden. Im gesamten Spektrum der diversen politisch engagierten OSI-Projekte spielten die Aktivitäten der SCCA eine eher bescheidende Rolle. Doch haben in Osteuropa und in der Ex-Sowjetunion die SCCA in den 1990er Jahren das weitgehend suspendierte System der staatlichen Kunstförderung de facto ersetzt.23 Da keine anderen westlichen oder einheimischen kulturpolitischen Akteure in einem solchen Ausmaß bei der Förderung der „ex-kommunistischen“ zeitgenössischen Kunst aktiv waren, gewannen die SorosZentren sehr schnell eine enorme Macht und eine fast monopolartige Stellung. Sie spielten im gesamten „ex-kommunistischen“ Raum beim Aufbau der institutionellen Strukturen zeitgenössischer Kunst eine wesentliche Rolle und führten die grundsätzlichen Funktionsprinzipien der neoliberalen Kulturpolitik in das sich transformierende „post-kommunistische“ Kunstsystem ein. Die allgemeinen Zielsetzungen der Soros-Zentren wurden in den öffentlichen SCCA-Berichten folgendermaßen zusammengefasst: „The SCCA is a network of offices devoted to contribute to the development of local art communities by organizing exhibitions, documenting the work of local artists, awarding small grants to visual artists, and promoting educational programs. Soros Centers for Contemporary Art also work with one another and with other arts organizations to promote contemporary art in Central and Eastern Europe and the Former Soviet Union.“24

Diese Pläne sollten in der Praxis durch eine Reihe konkreter Aktivitäten umgesetzt werden, wie die Unterstützung der Produktion von „computer

23 Eine ähnliche Situation war auch im Hochschulausbildungs- und Wissenschaftsbereich zu beobachten, in dem die Soros-Stiftung zahlreiche Förderprogramme zur Finanzierung diverser Forschungs- und Ausbildungsprojekte anbot. 24 The SCCA Bulletin 1991-1994, S. 9.

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databases, slide registry, individual artists’ documentation files, catalogues, audio-video library“, sowie die Organisation von „international exchange programs for artists and art students as well as programs, lectures, symposia dealing with international contemporary art topics and local educational, theoretical and practical issues“.25 Außerdem sollten die Soros-Zentren für alle Interessierten Informationen über „national and international study opportunities and fellowships concerning the visual, applied and performing arts, upcoming exhibitions, events, competitions, artist and art student exchanges“26 zugänglich machen. Ein wichtiger Teil der Tätigkeit der Soros-Zentren war die Vergabe von Fördermitteln für die Verwirklichung verschiedener künstlerischer Projekte. Die Fördergelder wurden hauptsächlich in Form von individuellen Projektförderungen (Grants) zur Verfügung gestellt: „Grants are made available to local artists and institutions in priority areas according to the local needs in each country. The scope of the grants is designed by the local SCCA Board. In general grants are made available for the production of catalogues including text in English, to assist with exhibition preparation, and to assist in the finance of an art event. The SCCA Board is responsible for selecting the grantees.“27

Diese grants waren in der Situation der andauernden Wirtschaftskrise der 1990er Jahre im sogenannten „post-sowjetischen Raum“ für viele Künstler oftmals die einzige Möglichkeit, nicht nur ihre künstlerischen Projekte, sondern gelegentlich auch ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Die individuellen Förderungen waren in der Regel bescheidende Summen in Höhe von 100 bis 1000 Dollar. In den ex-sowjetischen Republiken konnten in Zeiten der Hyperinflation 100 Dollar jedoch ein durchschnittliches Monatseinkommen übersteigen. In dieser Situation nutzten Künstler die SCCA-Förderungen oft für existenzielle Zwecke und reichten manchmal geradezu absichtlich anekdotische Projekte ein. Um nur das bekannteste Beispiel der unkonventionellen Nutzung von SCCA-Fördermitteln zu erwähnen: 1998 beantragte der

25 Ibid., S. 10. 26 Ibid., S. 11. 27 Ibid., S. 14.

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Künstler Alexander Shaburov, Mitglied der Künstlergruppe „Blaue Nasen“, eine Förderung für die Behandlung seiner Zähne mit der Begründung, dass der zeitgenössische russische Künstler gute Zähne benötige, um seine Kunst im Ausland erfolgreich präsentieren zu können. Zu seinem eigenen Erstaunen erhielt er dafür die SCCA-Förderung.28 Die Zusagen der Gremienmitglieder der Soros-Zentren, die in der Regel aus demselben Umfeld wie die Bewerber kamen, bewiesen dabei nicht nur einen gesunden Sinn für Humor und eine Vorliebe für die „Konzeptkunst à la russe“, sondern auch ein solidarisches Verständnis für die Lebensumstände ihrer Kollegen. Diese Herangehensweise wurde in ideeller Hinsicht noch dadurch verstärkt, dass die Tätigkeit der SCCA sowie der Soros-Stiftungen insgesamt zunehmend als ambivalent wahrgenommen und in der post-sowjetischen und vor allem der russischen Öffentlichkeit sogar mit einem gewissen Verdacht betrachtet wurde. Zusammen mit dem Einbruch der kapitalistischen Verhältnisse in alle Lebensbereiche, einschließlich der Kultur und Kunst, wuchs in der russischen intellektuellen und künstlerischen Gemeinschaft eine grundsätzliche Skepsis, ja ein Misstrauen gegenüber diesen nominell philanthropischen Aktivitäten. Diese Skepsis lässt sich im öffentlichen Diskurs der 1990er Jahre in Russland gut verfolgen. Diskussionen darüber, welche Rolle Kunst und Kultur in der kapitalistischen Gesellschaft spielen, fanden in der künstlerischen Gemeinschaft immer häufiger statt.29 Auch die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion wurden nun von einer immer größer werdenden Zahl Intellektueller in einem anderen Licht gesehen. Der Zerfall des kommunistischen Systems wurde nicht mehr als ein naturwüchsiger Vorgang verstanden, sondern eher als das Ergebnis gezielter strategischer Maßnahmen seitens eines kapitalistischen Gegners. So wandelte sich in der öffentlichen Wahrnehmung allmählich auch das Bild George Soros’ vom großzügigen Philanthropen zur Personifizierung zynischer und heuchlerischer neoliberaler Ideologie. Immer häufiger stellte sich die Frage, warum solche „Primadonnen der Weltbühne des Kapitals“ nun als großartige Mäzene und Wohltäter gefeiert werden mussten. Hatten

28 Siehe das Interview mit dem Künstler „Auf Soros Kosten die Zähne behandeln“, http://beliakov.net/shaburov.htm [letzter Zugriff: 20.05.2011]. 29 Vgl. Kovalev, Andrei: „Russen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“, in: Moscow Art Magazine, Nr. 2, 1992.

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sie doch, wenn auch auf indirekte Weise, wesentlich dazu beigetragen, die Sowjetbevölkerung in die Pleite zu treiben, und gaben nun, so die Kritiker, den Menschen nur noch Krümel von dem, was sie ihnen zuvor genommen hatten.30 Noch bitterer für diese Art ‚ideologisch bewusster‘ Wahrnehmung war die Erkenntnis, dass die ‚Krümel‘ vom Tisch des Börsenspekulanten dazu dienen sollten, nun faktisch die Funktion des suspendierten staatlichen Systems der Wissenschafts- und Kulturförderung zu erfüllen. Diese Fragestellungen führten zu noch tiefgreifenderen Zweifeln über die ‚wahren‘ Gründe und Quellen von Soros’ philanthropischen Aktivitäten. Äußerst prägnant formulierte diese Vermutungen bzw. expliziten Vorwürfe der Sankt Petersburger Künstler Alexander Medvedev in seinem im Juni 2000 in der Moskauer Zeitung „Zavtra“ publizierten provokanten Artikel: „Die USA haben die ganze Welt gezwungen, ihre Kulturauffassung zu akzeptieren, deren Grundwert die Fähigkeit ist, als Avantgarde im Kampf für die Absatzmärkte aufzutreten. Die amerikanische ‚Kultur‘ ist ein Missionar des ‚American Dream‘ und ein Handelsagent des amerikanischen ökonomischen Modells. Aber wie könnte es anders sein, da die amerikanische Kultur Europa durch die finanzielle und militärische Macht der USA aufgezwungen wurde? Man hat keine große Wahl, wenn hinter den Ohren von Micky Mouse und den Bildern Rauschenbergs amerikanische Raketen hervorragen. [...] Die ‚philanthropischen‘ Strategien von Soros sind nichts anders als eine Anwendung der in den USA üblichen Prinzipien, die Interessen des Kapitals mit Hilfe der Kunst zu ‚lobbyieren‘. [...] Indem er die Maßnahmen zur Vernichtung des Kommunismus subventionierte, finanzierte George Soros faktisch den Putsch in der UdSSR. Diese ‚Revolution‘, die Russland auf den Stand eines unterentwickelten Landes zurückwarf, fand nicht auf den Barrikaden, sondern in den Köpfen der Bürger statt. Er finanzierte einen graduellen Prozess der Degradierung Russlands; ein Teil davon sind die ‚kulturellen‘ Programme seiner Stiftungen. [...] Gelder der Kaplan-Stiftung, mit denen die ersten Ausstellungen amerikanischer Kunst in Europa finanziert wurden, waren, wie sich später herausstellte, in Wirklichkeit Gelder der US-amerikanischen Geheimdienste. Woher die gesamten Mittel für Soros’ Philanthropie kommen, werden wir vielleicht auch noch einmal erfahren [...].“31

30 Vgl. Medvedev, Alexander: „Das Soros Fleisch – Diät russischer Künstler“, in: Zavtra, Nr. 25 (342) vom 20.06.2000. 31 Ibid., Übersetzung L. V.

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Diese Perspektive folgte dem weitgehenden politischen und intellektuellen Ressentiment, das seit Mitte der 1990er Jahre auch in bestimmten Kunstkreisen zu beobachten war. Diese Einstellung gegenüber den Soros-Zentren wurde zum Thema einiger künstlerischer Projekte, die diese Haltung verschwörungstheoretisch persiflierten und ad absurdum führten. Gleichzeitig enthüllten diese Projekte unter dem Deckmantel der Ironie das „politische Unbewusste“ und den Zynismus der Soros-abhängigen Kunstszene. Bereits 1995 veranstaltete der Moskauer Künstler Andrei Velikanov eine Reihe von Kunstaktionen unter dem Titel „Der dreitägige Krieg namens Semyon Budenny∗“. Der „Krieg“ bestand in einem am 31. März 1995 unter dem Motto „Soros ist ein amerikanischer Spion“ zum Moskauer Soros-Zentrum unternommenen Protestmarsch und einem am nächsten Tag folgenden „Sturm“ auf das Zentrum für Zeitgenössische Kunst. Bezeichnend sind die Reden, die der Künstler während dieser Aktionen hielt und die – ähnlich wie zuvor bei Timur Novikov – ironisch auf den Stil der Revolutionsreden der 1920er Jahre anspielten: „Bürger des freien Russlands! Meine Damen und Herren! Brüder und Schwestern! In diesem entscheidenden Moment sind wir hier hergekommen, um George Soros zu tadeln, der unter dem Vorwand der Finanzierung der russischen Kultur seine lange Nase in unsere inneren Angelegenheiten steckt und für die amerikanischen Geheimdienste spioniert; dabei werden seine Gelder für subversive Zwecke genutzt, um Russland in ein mieses Rohstofflager des Westens zu verwandeln. Einige sagen, Soros sei gut. Dies ist von unverantwortlicher und schädlicher Kurzsichtigkeit. Soros ist ein fieser, widerlicher Schurke; sein Geld ist das Produkt kapitalistischer Ungerechtigkeit und von Finanzspekulationen. Wie lange noch werden diese miesen Ausländer uns schikanieren: ‚Für das gebe ich das Geld, für das aber nicht!‘ Wir werden kommen und uns das Geld selbst nehmen, wenn wir es brauchen werden! [...] Mitbürger, ich rufe euch auf, ein revolutionäres Bewusstsein zu zeigen und diesen Appell zu unterschreiben, in dem wir fordern, die Soros-Stiftung zu schließen, ihn selbst vor Gericht zu stellen und seine Gelder für die Unterstützung einer patrio-



Semyon Budenny (1883-1973), Marschall der Roten Armee, Kommandeur der Roten Kavallerie und Held des russischen Bürgerkriegs (1918-1922), war zudem der Großvater des Künstlers Andrei Velikanov.

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tischen Kunst zu nutzen. Kopien dieses Appells werden an den russischen Präsidenten Boris Jelzin, das Staatsparlament, den russischen föderalen SpionageAbwehrdienst, Russlands Patriarchen Alexius II. und den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton weitergeleitet.“32

Besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass die Rhetorik und das Vokabular – zu Beginn der 1990er Jahre von konservativen nationalistischen und „contemporary art“-fernen Kreisen benutzt – im Laufe der 1990er Jahre immer öfter und ernsthafter auch bei den neuen russischen Linken, und unter anderem auch bei den russischen linksradikalen Künstlern Verwendung fand.33 Zu Anfang des neuen Millenniums kam es in Russland zu einer symptomatischen inhaltlichen Überlappung rechts-konservativer und linksradikaler Diskurse und zu einer gewissen intellektuellen ‚Einigung‘ der Vertreter der beiden Parteien in ihrer gemeinsamen Aversion gegen den „triumphierenden Einmarsch des globalen Kapitals und der in seinem Dienste stehenden neoliberalen Ideologie“.34 So wurden auch in Russland markante Verkörperungen der neoliberalen Kulturpolitik wie die SorosZentren zum beliebten Ziel ideologischer Angriffe sowohl von Seiten der Rechten als auch von den Linken. Abgesehen von solchen ideologischen und para-ideologischen Hintergründen führte auch das praktische Verfahren der ‚Krümelvergabe‘, d.h. der Verteilung von Fördermitteln, zu einer weiteren Verstärkung der Kritik an

32 Velikanov, Andrei: „Soros ist ein amerikanischer Spion“, zitiert nach: http://velikanov.ru/antiutopia_war.asp?A=2&B=2&C=8 (Übersetzung L. V.) [letzter Zugriff: 20.05.2017]. 33 Vgl. Osmolowskij, Anatolij: „Die radikale Kunst der neunziger Jahre in Russland“, in: Boris Groys/Anne von der Heiden/Peter Weibel (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 675–709. 34 Vgl. das Interview von Andrei Oleinikov und Lioudmila Voropai mit Slavoj Žižek: „Левые снова должны открыть для себя подлинно героический консервативный подход“ [„Die Linken müssen ihre wahrhaft heroische konservative Einstellung wiederentdecken“], in: Russkij Zhurnal vom 6. März 2007, http://www.russ.ru/pole/Levye-dolzhny-vnov-otkryt-dlya-sebya-podlinno-geroi cheskij-konservativnyj-podhod [letzter Zugriff: 20.05.2017].

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den Soros-Zentren. Die Verteilung von Fördermitteln stand sicherlich in einem engen Zusammenhang mit der faktischen Personalpolitik der SorosStiftungen. Diese beiden Momente – sowohl die Verteilung als auch die Personalpolitik – unterschieden sich deutlich von den offiziell deklarierten Prinzipien der Transparenz und Offenheit. Ironischerweise wurde das Open Society Institute, das die Strukturen der „offenen Gesellschaft“ in den ehemaligen ex-kommunistischen Ländern programmatisch entwickeln und unterstützen wollte, in Wirklichkeit selbst zu einer Art „geschlossener Gesellschaft“. So schilderte der ungarische Journalist John Horvath, der sich in mehreren seiner Artikel mit dem Thema der Soros-Stiftungen befasste, die Voraussetzungen für eine Karriere innerhalb des Stiftungsnetzwerkes folgendermaßen: „Wenn man für Soros arbeiten möchte, dann muss man überdies anscheinend zum Mitglied einer Clique werden. Die Menschen im Soros-Netzwerk scheinen von Organisation zu Organisation nicht nur im selben Land, sondern auch international zu wandern. Jobs werden auf der Grundlage dessen vergeben, wen man kennt, und nicht auf der, was man weiß. Obgleich die meisten Organisationen Verfahren wie die Ausschreibung von Stellen und das Führen von Vorstellungsgesprächen einhalten, sind sie oft doch nur Formalitäten. Viele, die in Soros-Organisationen arbeiten, bekamen ihre Jobs, weil sie Monate, bevor sie öffentlich bekannt gegeben wurden, über freie Stellen Bescheid wussten. [...] Damit in Verbindung steht, dass es Angestellte in den Stiftungen und anderen Organisationen gibt, die ganz klar unterqualifiziert oder überhaupt nicht qualifiziert sind.“35

Der rumänische Kurator und ehemalige Direktor des SCCA in Bukarest, Calin Dan, vermittelt einen noch tieferen Einblick in die Arbeitsmethoden der Soros-Stiftungen. In seinem Artikel „The Dictatorship of Good Will“ beschreibt er ein Arbeitsteam von einigen Frauen, „who’ve adopted courtship intrigue as a working style.“36

35 Horvath, John: „Das Soros-Netzwerk“, in: Telepolis vom 20.12.1996, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1095/1.html [letzter Zugriff: 20.05.2017]. 36 Dan, Calin: „The Dictatorship of Good Will“, in: Nettime 10.5.1997, http:// www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-9705/msg00050.html griff: 20.05.2017].

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Diese Problematik war an sich – im Hinblick auf die übliche internationale Praxis der Vergabe von Arbeitsstellen im institutionellen Kulturbetrieb – selbstverständlich nicht neu oder außergewöhnlich. Im Kontext der damaligen Vorstellungen in den post-kommunistischen Ländern über eine faire, ausschließlich leistungsbasierte Personalpolitik im ‚Realkapitalismus‘ wurde dies jedoch zum Anlass für ernsthafte Auseinandersetzungen in- und außerhalb des Stiftungsnetzwerkes. Dieselben Vorwürfe galten gewiss auch für die Soros-Zentren, die als Struktureinheiten des OSI die gleichen Arbeitsweisen wie die anderen OSIEinrichtungen praktizierten. Das Problem wurde durch soziale Spezifika der Kunstszene in den post-sozialistischen Ländern noch verstärkt. Die lokalen „contemporary art communities“ bildeten relativ kompakte und hermetische Gemeinschaften, in denen fast alle Beteiligten einander gut kannten oder gar miteinander befreundet waren. Da die Mitarbeiter der nationalen Soros-Zentren hauptsächlich aus der art community vor Ort rekrutiert wurden, war deren Verhältnis zu den anderen Repräsentanten der lokalen Kunstszene durch frühere Kontakte und Beziehungen beeinflusst. Fast jede Entscheidung konnte unter diesen Umständen als a priori nicht objektiv kritisiert werden, was immer wieder für die Verschärfung bestehender Interessenkonflikte innerhalb der Szene sorgte. Für viele Betroffene auf beiden Seiten des SCCA-Betriebs war diese Situation ebenso unangenehm wie in der Tat unvermeidbar. Der holländische Medientheoretiker Geert Lovink resümierte in seinem Beitrag zu der Konferenz „Beauty and the East“ im Mai 1997 in Ljubljana die Konsequenzen dieser Situation für den Kunstprozess in Osteuropa: „Turning your efforts into a corporation has some advantages, in terms of the possible redistribution of wealth, but it is also producing envy, anger and resentment (for those who have to do it, and for those surrounding it), mainly because there is no acceptable alternative in sight. Friends turn into clients or employees. There is no radical critique on cultural companies, only jealousy, bad feelings and old friendships being destroyed. The price of switching to other scales and circles, and possible ‚success‘ (and some very temporary and virtual influence) is high. In most East Eu-

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ropean countries there is little to choose or contemplate about. There is still only one choice: Soros.“37

Das Nichtvorhandensein von realen Alternativen der Kunstförderung und die Konzentration der faktischen Macht im Bereich der zeitgenössischen Kunst in den Soros-Zentren führten zu einer paradoxen Situation: Institutionen, die laut eigener Zielsetzung zu dem Zweck gegründet worden waren, die zeitgenössische Kunst in den ehemaligen sozialistischen Ländern zu fördern und das entsprechende institutionelle Netzwerk aufzubauen, trugen in Wirklichkeit dazu bei, Vorstellungen vom hermetischen Charakter der zeitgenössischen Kunst in der öffentlichen Wahrnehmung noch zu verstärken. Gleichzeitig übertrugen sie die bereits bestehenden, nicht formalisierten Machtverhältnisse innerhalb der Kunstszene auf eine institutionelle Ebene. Der zuvor eher psychologisch fundierte Machtkampf zwischen den verschiedenen Kunstgruppierungen und einzelnen Persönlichkeiten erhielt aufgrund der konkreten Fördersummen eine neue Dimension. Der Prozess der Konvertierung von symbolischem und kulturellem in finanzielles Kapital verlief nach dem üblichen Muster: Persönliche Bekanntschaften mit den Mitarbeitern der Soros-Zentren und den Gremienmitgliedern steigerten die Chancen der Bewerber auf eine Förderung um ein Vielfaches. Die Entscheidungen der lokalen Soros-Zentren bedurften in der Regel keiner besonderen Legitimationsdarlegungen, da auf der Ebene der inneren institutionellen Politik die SCCA-Filialen eine beträchtliche Handlungsautonomie genossen. Doch wurden die nationalen Filialen von den SCCAZentralen in Budapest und New York regelmäßig kontrolliert. In den Zentralen wurden die offiziellen strategischen Richtlinien sowie die allgemeine Stiftungspolitik bestimmt, was manchmal zu gewissen inhaltlichen Spannungen zwischen den nationalen ‚exekutiven‘ SCCA-Einrichtungen und den zentralen ‚legislativen‘ Stiftungsinstanzen führte. Mit Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins änderten sich Ende der 1990er Jahre die Handlungsstrategien der Soros-Zentren im gesamten postsowjetischen Raum deutlich. Die Finanzierung der OSI-Einrichtungen in

37 Lovink, Geert: „The Art of Being Independent: On NGOs and the Soros debate“,

zitiert

nach:

Zugriff: 20.05.2017].

http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4/11.htm

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Russland wurde in der Folge stark reduziert. Die offizielle Begründung des OSI lautete: „In 1999 and 2000, following the restructuring of the Soros foundations, all Soros Centers for Contemporary Art started to become independent and ultimately transformed into non-governmental organizations.“38 Der Prozess der Umstrukturierung hatte in der Praxis oft die faktische Schließung von SCCA-Filialen zur Folge und markiert den Beginn der sogenannten „Post-Soros Ära“ in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst in Russland. Die sechs Jahre aktiver Tätigkeit der Soros-Zentren von 1993 bis 1999 haben für die Entstehung der medienkünstlerischen Institutionen in Russland dennoch eine entscheidende Rolle gespielt. Die konkreten Auswirkungen der Initiativen der Soros-Zentren auf diesen Prozess werden im nächsten Kapitel detaillierter untersucht.

16.3 F ALLSTUDIE : G ALERIE 21 Ein kennzeichnendes Beispiel für die Institutionalisierungsgeschichte der Medienkunst im Russland der 1990er Jahre ist die St. Petersburger Galerie 21, die im März 1994 im Kunstzentrum Puschkinskaja-10 eröffnet wurde. Die Galerie 2139 wurde ursprünglich von ihren Gründerinnen, der Kuratorin Irina Aktuganova und der Kunstwissenschaftlerin Alla Mitrofanova, als eine nichtkommerzielle Galerie konzipiert, die sich mit experimentellen künstlerischen und interdisziplinären theoretischen Projekten beschäftigen sollte. 1995 wurde auf der Basis der Galerie 21 das Techno-Art-Centre (TAC) eröffnet, welches sich der „Umsetzung von Kultur- und Bildungsprogrammen, die sich mit den neuen Informations- und Medientechnolo-

38 „Arts and Culture Program History“, http://www.soros.org/initiatives/arts /about/history_full [letzter Zugriff: 15.05.2011]. 39 Das Kunstzentrum Puschkinskaja-10 war ursprünglich ein von Künstlern besetztes Haus im Zentrum von St. Petersburg auf der Puschkinskaja Straße Nr. 10. Die Galerie 21 erhielt ihren Namen nach der Nummer der Wohnung in diesem Haus, in der sie anfangs ihren Standort hatte. Obwohl die Galerie nach der Gebäudesanierung in andere Räume des Zentrums Puschkinskaja-10 umzog, blieb sie in der Petersburger Kunstszene weiter hauptsächlich als Galerie 21 bekannt.

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gien befassen“, sowie der „Erforschung, Entwicklung und Propaganda der elektronischen Kunst“ widmete.40 1998 erweiterte die Galerie 21/TAC ihre Aktivitäten durch die Eröffnung des Cyber-Femin-Club mit thematischem Schwerpunkt auf dem Cyberfeminismus und der Gender-Problematik im Kontext der Neuen Medien. Die letzte Umwandlung der Galerie 21/TAC stellte die 1999 gegründete Galereja Experimentalnogo Zvuka (Galerie für Experimentellen Klang GEZ 21) dar, die sich hauptsächlich mit der Veranstaltung von Konzerten experimenteller Musik verschiedenster Richtungen beschäftigte. Im Zeitraum von 1994 bis 2001 war die Galerie 21/TAC in der Petersburger Kunstszene sehr aktiv und organisierte mehr als 200 Ausstellungen, zahlreiche Präsentationen, Seminare, Vortragsreihen, Workshops etc.41 Beim Ausstellungsprogramm handelte es sich um die Präsentation medialer Arbeiten russischer Künstler, vor allem aus St. Petersburg und Moskau. Parallel dazu agierte die Galerie 21/TAC als Produzentin eigener, überwiegend Internet- und CD-ROM-basierter Projekte, die jedoch einen eher kompilatorisch-repräsentativen als rein künstlerischen Charakter hatten. Laut einem Bericht des TAC produzierte die Galerie 21/TAC im Januar 1997 das erste künstlerische CD-ROM-Projekt Russlands, „Spiel ohne Regeln. Digest der unabhängigen Petersburger Kultur“ („Игра без правил. Дайджест независимой петербургской культуры“), sowie weitere multimediale Kompilationen von Projekten Petersburger Künstler wie im Jahr 2000 die CD-ROM „Vom Neoakademismus bis zum Cyberfeminismus: Petersburger aktuelle Kunst an der Jahrtausendwende“ („От НеоАкадемизма к киберфеминизму: петербургское актуальное искусство на рубеже тысячелетий“) und 2001 „Zeitgenössische Petersburger Photographie“ („Современная петербургская фотография“).42 Einige multimediale Präsentationen der russischen bzw. Petersburger Kunst wurden durch die Galerie auch für Ausstellungen, Festivals und Konferenzen vorbereitet. Obwohl die Galerie 21/TAC nur über bescheidene technische Möglichkeiten verfügte, bot sie sich als technische Produktionsbasis für die

40 http://www.p-10.ru/guide/tac/ [letzter Zugriff: 15.05.2011]. 41 Vgl. „Вспомнить все [Total Recall]“. Interner Bericht über die Aktivitäten der Galerie 21/TAC vom März 1994 bis zum Mai 2001, unveröffentlichtes Manuskript. 42 Ibid.

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Herstellung medialer Projekte Petersburger Künstler an. Hier entstand z.B. die erste künstlerische Internetarbeit St. Petersburgs, „Zeitzeugen der Epoche“ („Свидетели эпохи“) von Dmitrij Pilikin (Dezember 1995), das ebenfalls Netz-basierte Projekt „Un.Di.Na“ von Konstantin Mitenev (1996) und andere. Die eigene künstlerische Produktion stand jedoch nicht im Mittepunkt der Tätigkeit der Galerie 21/TAC, die sich, nicht zuletzt aus BudgetGründen, stärker auf theoretisch-kuratorische und vermittelnde Aktivitäten konzentrierte.43 Das Veranstaltungsprogramm der Galerie 21/TAC zeichnete sich durch einen deutlichen aufklärerischen Ansatz aus. Die Mitarbeiter der Galerie und die eingeladenen Gäste berichteten regelmäßig über bedeutsame Ereignisse und Tendenzen in der westlichen Kunst. Im Rahmen dieser Vorträge wurden hauptsächlich Projekte berühmter westlicher Künstler und Arbeiten vorgestellt, die auf der Ars Electronica, beim EMAF und bei anderen großen Kunstfestivals präsentiert wurden.44 Durch die Teilnahme der Galerie an einigen in St. Petersburg durchgeführten internationalen Projekten, wie 1994 der „Stubnitz Tour“45, entstanden erste Kontakte mit westlichen Künstlern und Kuratoren und eröffneten weitere Perspektiven. Im Zeitraum vom 1996 bis 2000 nahm die Galerie 21/TAC an zahlreichen Projekten des internationalen kulturellen Austausches in Österreich, Finnland, USA, Holland etc. teil.46 Als einer der sehr wenigen institutionellen Vertreter der Medienkunst in Russland fand die Galerie 21/TAC relativ schnell ihren Platz im internationalen Netzwerk der medienkünstlerischen Institutionen und wurde zu einer wichtigen Adresse für viele internationale Ausstellungs- und Festivalprojekte, bei denen ‚russische Medienkunst‘ präsentiert werden sollte.

43 Seit 1996 fungierte die Galerie auch als Herausgeber der literarischphilosophischen Online-Zeitschrift „Virtuelle Anatomie“

[„Виртуальная

анатомия“]. 44 Vgl. Вспомнить все [Total Recall]. 45 Von Mai bis August 1994 diente die Galerie als eine Art St. Petersburger Pressebüro des Stubnitz-Projektes und organisierte eine Reihe von kultur- und kunsttheoretischen Seminaren, vgl. ebd. 46 Vgl. ebd.

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Im Januar 1996 nahmen die Mitarbeiter der Galerie 21/TAC an der Konferenz The Next 5 Minutes (Tactical Media Conference) in Amsterdam teil,47 im September folgte die Teilnahme an der V2_East MeetingKonferenz im Rahmen des Dutch Electronic Arts Festival (DEAF 96) in Rotterdam.48 1997 wurden die Vertreter der Galerie 21/TAC zu weiteren internationalen medienkünstlerischen Events mit osteuropäischem Bezug eingeladen, wie zur Konferenz Beauty & The East in Ljubljana und zum Medienkunstfestival Ostranenie (Bauhaus Dessau) sowie Interstanding in Tallinn. In finanzieller Hinsicht wurden diese Partizipationen durch projektbezogene Förderungen verschiedener Stiftungen ermöglicht. Die Galerie 21/TAC hatte kein festgelegtes Jahresbudget. Alle Aktivitäten wurden in erster Linie durch Förderungen des Soros-Zentrums (SCCA) in St. Petersburg finanziert. Einige Galeriemitarbeiter waren von Zeit zu Zeit als Gremienmitglieder des Petersburger SCCA tätig, was die Galeriepolitik besonders für aktuelle kulturpolitische Trends und Förderungsrichtlinien des SCCA-Netzwerkes und des Open Society Institute (OSI) offen machte. Mit der Zeit wurde das Spektrum der Fundraising-Möglichkeiten für die Galerie durch Kooperationen mit westeuropäischen Institutionen wesentlich erweitert. So wurde die Teilnahme an der V2_East Meeting-Konferenz und später an einigen anderen Konferenzen durch die finanzielle Unterstützung der Apex Foundation ermöglicht; das Projekt Post-Information Utopia am V2_ in Rotterdam wurde im Rahmen der offiziellen Veranstaltungen zum 300jährigen Jubiläum der „Botschaft Peters des Großen“ in den Niederlanden finanziert.49 Das dem damaligen Zeitgeist entsprechende cyberfeministische Engagement der Galerie 21/TAC fand nicht nur bei ihren Hauptförderern, der

47 http://www.n5m.org/n5m2/conference/program.html [letzter Zugriff: 15.05. 2011]. 48 Zu dieser Konferenz vgl. Arns, Inke: V2_East Meeting on Documentation and Archives of Media Art in Central, Eastern and South-Eastern Europe, Dutch Electronic Arts Festival (DEAF 96), Rotterdam, 18. u. 20. September 1996, http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/oeinfo.htm [letzter Zugriff: 15.05. 2011]. 49 http://framework.v2.nl/archive/archive/node/event/.xslt/nodenr-1647 [letzter Zugriff: 15.05.2011].

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SCCA/OSI Unterstützung, sondern auch bei der niederländischen FrauenStiftung Mama Cash, die für die Herausgabe der Online-Zeitschrift Cyberfeminismus (1997) und die Einrichtung des Cyber-Femin-Clubs (1998) aufkamen. 1998 wurde am Cyber-Femin-Club ein Internet-Zentrum für Frauen mit öffentlichem Internetzugang eingerichtet. Dort wurden unter anderem verschiedene Seminare und Workshops zu Themen wie Internetnutzung, Webdesign, Frauennetzwerke und Netz-Aktivismus, cyberfeministische Theorie etc. angeboten.50 Gender-betonte Bildungs- und Aufklärungsarbeit mit Bezug zum Internet und den Neuen Medien gewährleistete im Kontext der allgemeinen „Gender Mainstreaming“-Förderrichtlinien des SCCA/OSI-Netzwerkes und anderer westlicher Stiftungen weitere Möglichkeiten eines finanziellen Überlebens für diese kleine, nichtkommerzielle Galerie, die ihre Tätigkeit nur durch projektbezogene Fördergelder finanzieren konnte. Obwohl es sich um denselben Kreis von Akteuren und den gleichen physischen Raum handelte, waren die mehrfachen institutionellen Metamorphosen der Galerie 21 zunächst in das Techno-Art-Centre, sodann in den Cyber-Femin-Club und später in die Galerie für Experimentellen Klang nicht zuletzt die Folge eines strategischen Spiels der Galerievertreter mit den existierenden kulturpolitischen Gegebenheiten. Dank diesem Spiel konnte die Galerie 21/TAC eine äußerst wichtige Popularisierungsarbeit zum Thema „Neue Medienkunst“ in der russischen Kunstszene leisten. Doch die bescheidenen finanziellen und technischen Möglichkeiten hinderten die Galerie daran, zu einer weiteren Entwicklung der Medienkunst in Russland wesentlich beizutragen. Die Galerie konnte lediglich die Produktion von no-budget-NetzkunstProjekten unterstützen, jedoch nicht die Herstellung von komplexen interaktiven Arbeiten, die damals noch eine ziemlich teure technische Basis voraussetzten. Zudem hatte die Netzkunst, wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits ausgeführt, gegen Ende der 1990er Jahre ihren ursprünglichen intellektuellen Anreiz zum großen Teil ausgeschöpft. Der damalige institutionelle Mainstream der Medienkunst in Westeuropa hatte sich tendenziell in Richtung technisch avancierter und finanziell anspruchsvoller Produktionen entwickelt. Das anfänglich rebellische und aktivistische Pathos, das das Projekt ‚Medienkunst‘ für viele Künstler und Intellektuelle in den

50 Vgl. Вспомнить все [Total Recall].

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1990er Jahren so attraktiv gemacht hatte, hatte sich im Laufe der Institutionalisierungsprozesse deutlich geändert. Diese Tatsache war den Vertretern der Galerie 21/TAC schnell bewusst geworden, sodass sie sich vom historischen Entwicklungsgang der Medienkunst ausgeschlossen sahen. In einem Interview schilderte die Kuratorin der Galerie Irina Aktuganova 1997 ihren Eindruck von den neuesten Tendenzen in der Medienkunstszene, den sie nach ihren Besuchen einiger Medienkunstfestivals in Westeuropa gewonnen hatte: „I had the feeling that the ‚electronic‘ scene had changed a great deal. The intellectual freedom had vanished; hierarchies and, consequently, careerists had emerged. The pragmatists and businessmen had arrived. The establishment had caught up with us. Besides, when I saw what Western cultural organizations do with the powerful support of various foundations, I became miserable. It’s senseless for us to compete with them in terms of technical potentials - yeah, in general there’s no reason to do so.“51

Von diesen Erkenntnissen ausgehend resümiert Aktuganova die Lage der Galerie 21/TAC im damaligen russischen künstlerischen und kulturpolitischen Kontext: „The previous, event-based policy, in which something had to happen in the gallery every week, has exhausted itself. [...] Since after a number of big projects we ran up against the fact there is no cultural infrastructure, it became clear that in order to exist in a civilized manner and turn out, at [the] very least, some kind of artefacts, one needs money. But there isn’t any money, and the elementary problem of survival arises. And so it’s already not the organization of exhibitions that you’re busy with, but the search for funds, foundations; you engage in politics, public relations, you ‚get chummy‘ with somebody. The fact of the matter is that we live quite richly. Nobody in Russia gets their paychecks, there’s no money in [the] city, but we continue to plan, to write projects and cherish the bright hope of having a constant budget.“52

51 Aktuganova, Irina: „Post-Information Utopia“ (Dokumentation einer Diskussion mit Irina Aktuganova, Alla Mitrofanova und Dmitry Pilikin), http:// www.ljudmila.org/~vuk/nettime/zkp4/47.htm [letzter Zugriff: 20.04.2017]. 52 Ibid.

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Die Hoffnung auf ein festes Budget blieb jedoch unerfüllt. Im Laufe der nächsten beiden Jahre wurde es für die Galerie immer schwieriger, auch nur den früheren projektbezogenen Finanzierungsmodus auf bisherigem Niveau zu halten. Im Jahr 2000 erhielt die Galerie 21/TAC vom Soros-Zentrum für die Entwicklung der Galerie für Experimentellen Klang (GEZ-21) ihre letzten Förderungen. Nachdem George Soros 1999/2000 eine grundsätzliche „Restrukturierung“ seines Stiftungsnetzwerks eingeleitet hatte, wurden die SCCA in Russland „in unabhängige NGOs umgewandelt“.53 In der Praxis hieß dies, dass die Finanzierung des Soros-Zentrums in St. Petersburg, welches die größte und wichtigste Förderquelle für die Aktivitäten der Galerie 21/TAC war, faktisch eingestellt wurde. So musste die Galerie neue Finanzierungsstrategien entwickeln und ihr Arbeitsprogramm entsprechend umgestalten. Seit dem September 2002 konzentrierten sich Irina Aktuganova und der Kurator der Galerie für Experimentellen Klang (GEZ-21) Sergei Busov auf die Umsetzung eines neuen Arbeitsprogramms, das sie als „das neue kulturelle Projekt GEZ-21“ bezeichneten. Dabei blieb aber, aus einer institutionellen Perspektive betrachtet, die Galerie für Experimentellen Klang nur ein weiteres Projekt des Techno-Art-Centre, eine Art neues ‚Tochterunternehmen‘: „Im Rahmen der allgemeinen Konzeption des Kunstzentrums Puschkinskaja-10, das sich der Propagierung alternativer, nicht-kommerzieller Kultur widmet, präsentiert das Projekt GEZ-21 lebendige öffentliche Formen der nicht-kommerziellen Kunst, die auf einer historischen Tradition des kulturellen Widerstands basiert. Das Projekt hat das Ziel: 1. Durch eine deutliche Positionierung und Aufbau des Kontextes eine etablierte Nische für die Existenz der alternativen Kultur zu schaffen. 2. Alternative Kultur durch Konzerte, Filme, thematische Events, Vorträge etc. zu propagieren. 3. Die Finanzierungsstruktur der alternativen Kultur zu ändern und diese auf 70% Selbstfinanzierung zu bringen.“54

53 http://www.soros.org/initiatives/arts/about/history_full [letzter Zugriff: 15.05. 2011]. 54 http://www.p-10.ru/guide/tac/ [letzter Zugriff: 15.05.2011].

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Die Notwendigkeit, das Projekt auf „70% Selbstfinanzierung zu bringen“ verwandelte die GEZ-21 faktisch in eine Art Musikklub mit einem vielfältigen Konzert- und Eventprogramm. Dabei wurde diese Transformation als eine rein formelle Anpassung an den Zeitgeist dargestellt: „Die Arbeitsformen der Galerie haben nur äußerlich Ähnlichkeit mit einem Klub, da das Klubformat durch die Forderungen der Zeit vorgegeben ist“.55 Außer dem intensiven Konzertprogramm der GEZ-21 wurden am TAC weitere Ausstellungen, Vorträge und „thematische künstlerische Partys, die unterschiedliche subkulturelle Phänomene präsentieren“, veranstaltet. Faktisch aber wurde das TAC, ähnlich wie das gesamte Kunstzentrum Puschkinskaja-10, schließlich zu einem eigenartigen Relikt der „wilden und bunten“ Petersburger Underground-Szene der 1980er und 1990er Jahre. „Durch die Forderungen der Zeit“ verwandelte sich das Zentrum allmählich von einem anarchistischen Künstler-Squat in einen gewöhnlichen Veranstaltungsort, der in der städtischen Kulturindustrielandschaft eine allzeit gefragte Funktion der Freizeitgestaltung für bestimmte Zielgruppen leistet, in diesem Fall für die nostalgierende Underground-Garde der 1980er und der 1990er Jahre sowie für den zugelaufenen Nachwuchs verschiedener subkultureller Varianten. Das betrifft auch die institutionellen Einrichtungen des Puschkinskaja-10-Zentrums, einschließlich des TAC/GEZ-21. Der Wandel spiegelte sich in den öffentlichen Selbstdarstellungen dieser Institutionen wider. So findet man auf der offiziellen Website des TAC/GEZ-21 folgende Beschreibung: „Unser ‚Assemblage Point‘ ist das Art-Café. Es ist ein Ort der Kommunikation und der Verbreitung unseres kulturellen Produkts. Wir haben es geschafft, dass die Menschen hierher kommen, um ihre Freizeit zu verbringen. Sie sitzen im Café, lesen Bücher und Zeitschriften unserer Bibliothek, nehmen an den Sitzungen des ‚Philosophischen Cafés‘ teil, kommen zu unserem Konzerten, Lesungen und Filmvorführungen.“56

„Durch die Forderungen der Zeit“ musste die Galerie auch die Zielgruppe erweitern. Das heutige Publikum der GEZ-21 ist „unterschiedlichen Alters und sozialer Zugehörigkeit“, bestehend aus „Studenten, Künstlern, Musi-

55 Ibid. 56 Ibid.

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kern, Journalisten, Ehepaaren, wohlhabenden Menschen, die auf der Suche nach neuen Erlebnissen sind (Manager, Kleinunternehmer)“.57 Der offensichtlich selbstironische Ton dieser Präsentation scheint hier eher Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts des Zwangs zur Selbstvermarktung zu sein: „Die Schlüsselwörter zum Verständnis der Kulturpolitik der GEZ-21 sind: Die Vielfältigkeit der kulturellen Landschaft, Post- und Neomarxismus, Feminismus, Radikalismus sowie weitere -ismen, Vielstimmigkeiten und Oppositionen. Historische Nachfolge der Traditionen des kulturellen Widerstands. Der Stil: Kulturelle Opposition gegen den bürgerlichen Mainstream, der zivilisierte Underground. Das Zielpublikum: Junge und alte Neunmalkluge, radikal denkende Geistesschaffende, die übersättigte und neugierige Bourgeoisie, progressive Demokraten.“58

Die Vollendung des Umwandlungsprozesses der unabhängigen und ursprünglich nicht-kommerziell konzipierten Galerien und Kunstzentren in faktische Klein- und Mittelunternehmen beeinflusst nicht nur ihre Handlungsstrategien, sondern auch die Strategien ihrer diskursiven Positionierung im künstlerisch-institutionellen Umfeld. So wird das Wort „Medienkunst“ in den öffentlichen Selbstdarstellungen des TAC/GEZ-21 nicht mehr direkt verwendet, sondern ersetzt durch naheliegende, jedoch etwas anders besetzte Bezeichnungen wie „Kultur- und Ausbildungsprogramme der Neuen Informations- und Medientechnologien“, da der Begriff „Medienkunst“ im aktuellen kulturpolitischen Kontext kaum noch einen Imagegewinn verspricht. Projekte und Aktivitäten, die in einer anderen institutionellen Umgebung durchaus als „medienkünstlerisch“ bezeichnet werden könnten, werden in diesem Kontext nun terminologisch anders etikettiert. Die Kompetenzen und Erfahrungen aus der Zeit des früheren, explizit „medienkünstlerischen“ Engagements des Techno-Art-Centre sind in den aktuellen kulturpolitischen Gegebenheiten Russlands zwar nachgefragt, werden aber unter einem neu zugeschnittenen Begriffsmantel als „Vorbereitung von Multimedia- und Internetpräsentationen künstlerischer, sozialer, wissenschaftlicher und kommerzieller Projekte“ oder „Umsetzung von Projekten im Informations- und Kommunikationsbereich“ präsentiert.

57 Ibid. 58 Ibid.

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So leitete seit 2006 die Mitgründerin des TAC Irina Aktuganova neben ihrer fortlaufenden kuratorischen Tätigkeit am TAC/GEZ-21 das Förderprogramm „Das Wissenschaftliche Museum im 21. Jahrhundert“, das von der russischen Stiftung Dynasty finanziert wurde.59 Die Stiftung Dynasty wurde 2001 als eine der ersten privaten Stiftungen im postsowjetischen Russland von dem damaligen Leiter des größten russischen Telekommunikationskonzerns Vympelcom, Dmitry Zimin, gegründet. Neben der Förderung von Grundlagenforschung und entsprechenden Ausbildungsprogrammen erklärte Dmitry Zimin, zu Sowjetzeiten ein habilitierter Ingenieurwissenschaftler, die Popularisierung von neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen zu einer der Prioritäten seiner Stiftung.60 Diese Popularisierungsmaßnahmen beinhalteten unter anderem die Unterstützung von russischen wissenschaftlichen Museen und Ausstellungen. Die inhaltlichen Schwerpunkte des Förderprogramms „Das Wissenschaftliche Museum im 21. Jahrhundert“ waren: „Modernisierung der Expositionen der technischen und naturwissenschaftlichen Museen“ und „Herstellung interaktiver Exponate, die das Wesen wissenschaftlicher Entdeckungen, physikalische Gesetze, Funktionsprinzipien technischer Erfindungen und lebendiger Organismen und Systeme erklären und audiovisuell darstellen“.61 Die Projekte mussten „originell und künstlerisch ausdrucksvoll“ sein.62 Die Herstellung von „originellen und künstlerisch ausdrucksvollen“ interaktiven Exponaten bot ein zusätzliches Aktivitätsfeld für verschiedene medienkünstlerische Ansätze, die dann als eine Art ‚angewandter‘ Medienkunst realisiert werden konnten. In gewissem Sinne spielte dabei die Galerie die Rolle eines Outsource-Verwaltungsoffices für die Vorbereitung und Umsetzung von Förderprogrammen sowie anderen mediengestalterischen und organisatorischen Aufträgen. Dies machte die Galerie faktisch zu einem Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Neuen Medien.

59 Vgl.

http://www.dynastyfdn.com/grants/museums. Dieses

Förderprogramm

wurde 2014 beendet. 60 http://www.dynastyfdn.com/programs [letzter Zugriff: 15.11.2012]. 61 http://www.dynastyfdn.com/grants/museums [letzter Zugriff: 15.11.2012]. 62 Ibid.

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16.4 T ENDENZEN DER E NTWICKLUNG DER M EDIENKUNST IN R USSLAND IN DEN NULLER J AHREN Das Schicksal der Medienkunst in Russland wurde in den nuller Jahren durch Faktoren wie den Ausbau des inländischen Kunstmarktes und die Entstehung neuer kulturpolitischer Strukturen durch staatliche, private und korporative Akteure zunehmend beeinflusst. Ein charakteristisches Beispiel der Einarbeitung neuer Vermarktungsoptionen im medienkünstlerischen Kontext ist die Tätigkeit der Künstlergruppe „Electroboutique“, die von den Pionieren der russischen Medienkunstszene Alexei Shulgin und Aristarkh Chernyshov 2004 gegründet wurde. Mit der Parodie-Bezeichnung dieses Unternehmens als „Media Art 2.0“ oder als „Crititainment“ (Critic plus Entertainment) verfolgen die Künstler das Ziel, die „marktfreundliche kritische Kunst mit Hilfe der neuesten technologischen Formen“ zu produzieren. Dabei versuchen sie strategisch-demonstrativ, die beiden für ihre Produktion relevanten „Absatzmärkte“ zu besetzen: Sie verkaufen ihre „retrofuturistischen“ Infoskulpturen und Medienobjekte an die russischen neuen Reichen, gleichzeitig präsentieren Shulgin und Chernyshov ihre Werke jedoch unter dem selbstironischen diskursiven Vorwand einer „subversiven Kapitalismuskritik“ im westlichen institutionellen medienkünstlerischen Betrieb, z.B. auf der transmediale in Berlin oder beim iMAL in Brüssel. Durch solche künstlerischen Doppelstrategien machen sie die ideologischen Verwicklungen eines „kreativen Kapitalismus“ noch sichtbarer: Die „Subversivität“ des Kunstwerkes wird von Anfang an in seinen Marktwert einkalkuliert und „Kritik durch Konsum“ entpuppt sich letztendlich als „Konsum durch Kritik“.63 Einen anderen wichtigen Aspekt aktueller künstlerischer Prozesse in Russland stellt die Umstrukturierung des gesamten kulturpolitischen Umfeldes dar. In den letzten Jahren spielt der Staat im Bereich der zeitgenössischen Kunst eine immer wichtigere Rolle und versucht diese für seine Image-Politik als Zeichen kultureller „Fortschrittlichkeit“ zu nutzen. Durch staatliche Mittel werden nicht nur neue staatliche Einrichtungen wie das

63 Vgl. http://electroboutique.com/ [letzter Zugriff: 21.11.2012].

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Staatliche Zentrum für Zeitgenössische Kunst (GCSI) in Moskau und seine Filialen in anderen russischen Städten (Jekaterinburg, Kaliningrad etc.) gegründet, sondern, vor allem durch das Kulturministerium, auch große und umfangreiche Kunstevents wie die Moskauer Biennale gefördert. Der gegenwärtige, programmatisch neoliberal orientierte russische Staat sucht nun auch die zeitgenössische Kunst als einen Bestandteil der Kulturökonomie und als eine Option der Freizeitgestaltung für die Mittelschicht zu instrumentalisieren. Seitdem die zeitgenössische Kunst zur Mode und zum Statussymbol der russischen nouveaux riches wurde, entwickelte sich auch eine entsprechende institutionelle Infrastruktur. So entstanden seit Mitte der nuller Jahre zahlreiche private Galerien, Kunstzentren, Museen und Stiftungen wie Ära, Ekaterina u.a., die unterschiedliche Kunstevents finanzieren und eigene Sammlungen gründen. Während die westlichen Stiftungen ihre Förderprogramme in Russland im Kulturbereich drastisch kürzten, spielten in diesem Bereich russische private und korporative Stiftungen eine zunehmende Rolle. Medienkünstlerische Institutionen wie das MediaArtLab und die Galerie 21, die früher hauptsächlich durch die Soros-Zentren gefördert wurden, finanzierten sich in den nuller Jahren durch ihre mediengestalterischen Leistungen sowie durch Förderungen, die sie von den sogenannten ‚Oligarchen-Stiftungen‘ erhalten. MediaArtLab finanzierte das Projekt „Das Media Museum“ beispielsweise durch das Förderprogramm „Das sich ändernde Museum in der sich ändernden Welt“ der Privatstiftung des Mitbesitzers des Nickel-Konzerns Nornikel, Vladimir Potanin.64 Im Kontext dieser neuen Finanzierungsmöglichkeiten durch Anpassung der medienkünstlerischen Projekte an die konkreten Förderprogramme der neuen russischen privaten Stiftungen ist auch die Tätigkeit des Künstlers Dmitrij Bulatov zu erwähnen, der als Kurator an der GCSI-Filiale in Kaliningrad wirkt. Im Rahmen seiner Arbeit organisierte er zahlreiche Ausstellungen zum Thema der Wechselwirkung von Kunst und Naturwissenschaften. In sowohl künstlerischen als auch kuratorischen Projekten wie „Senses Alert“ (2004-2007) widmet er sich „der kritischen Reflexion neuester Technologien wie den Gen-, Robo- und Nanotechnologien, ihrer Entwicklung und Verwendung in der heutigen Gesellschaft und zeitgenös-

64 Vgl. http://www.mediaartlab.ru/ [letzter Zugriff: 15.11.2012].

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sischen Kunst“. Die große internationale Gruppenausstellung „Evolution Haute Couture. Art and Science in the Post-Biological Age“,65 die 2008 in Kaliningrad stattfand, organisierte Bulatov mit der großzügigen finanziellen Unterstützung der bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnten Dynasty Foundation. Dank der programmatischen Unterstützung der wissenschaftlichen Museen und Ausstellungen durch diese Stiftung konnten auch solche medienkünstlerischen Ausstellungen wie „Evolution Haute Couture“ im Rahmen der Förderungsagenda „Popularisierung der Wissenschaft“ realisiert werden.

65 http://www.ncca.ru/en/programs.text?filial=4&id=32 [letzter Zugriff: 15.11. 2012].

Das Konzept der Interaktivität und die diskursanalytische Perspektive Kapitel 17

17.1 D ER M EDIENKUNSTDISKURS : B EGRIFFS - UND AUFGABENKLÄRUNG ZUR E INFÜHRUNG Es gibt in der Sprache der Geisteswissenschaften heute kaum einen Begriff, der angesichts seiner zahlreichen und oft einander ausschließenden Definitionen weniger problematisch wäre als der des „Diskurses“. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungen und Interpretationen dieses Begriffs würde weit über die Grenzen der Problemstellung dieser Untersuchung hinausgehen. Doch könnte man hinsichtlich der unterschiedlichen Auffassungen zwei Hauptströmungen differenzieren. Zum einen handelt es sich um eine sprachwissenschaftlich geprägte Tradition, in welcher der Diskursbegriff für die Bezeichnung von Bedeutungssystemen verwendet wird, die sich durch Sprachpraktiken herausbilden.1 Zum anderen fand seit den 1980er Jahren der von Foucault und seiner Theorie der „diskursiven Formationen“ geprägte Diskursbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine große Verbreitung. Mithilfe der historischen Analyse verfolgte Foucault die Wechselwirkungen zwischen der Macht und den dominierenden Wissenssystemen, wie sie sich in den gesellschaftlichen Institutionen, kulturellen Praktiken und Techniken manifestieren. Der Diskursbegriff beinhaltet aus dieser Sicht die gesamte Vielfalt der Praktiken,

1

Vgl. z.B. Johnstone, Barbara: Discourse Analysis, Oxford: Blackwell 2002.

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Institutionen und Technologien, die eine spezifische Wissensform ausmachen.2 In dieser Arbeit wird eine Art Synthese aus diesen beiden Ansätzen hergestellt und der Diskursbegriff auf sein kontextuell und operational komprimiertes Verständnis begrenzt: Unter dem Diskurs der Medienkunst wird im Weiteren der gesamte Komplex von institutionell vermittelten Aussagen über die medienbasierten künstlerischen Arbeiten und Praktiken sowie ihre Rezeption und Auswirkung im breiteren gesellschaftlichen Kontext verstanden. Dieser Komplex beinhaltet eine große Bandbreite unterschiedlicher Textarten, von Beschreibungen einzelner künstlerischer Projekte oder programmatischer Statements von Künstlern, Kuratoren, Kulturpolitikern u.s.w. bis hin zu theoretischen Konzeptualisierungen der allgemeinen Entwicklungstendenzen medienbasierter Kunstformen. Ein so verstandener Diskurs der Medienkunst wird zum einen als Produkt bestimmter theoretischer Anlehnungskontexte betrachtet, die durch die jeweiligen intellektuellen Moden und entsprechenden Rotationen im Referenzwerk- und Meisterdenkerkanon geprägt werden. Zum anderen stellt er das Ergebnis der sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen seiner Entstehung und Weiterentwicklung dar. Daher spiegeln die konkreten Themen und Inhalte sowie der konzeptuelle Apparat und das Vokabular, wie sie sich im Medienkunstdiskurs finden, den Prozess seiner historischen Entwicklung als eines Zusammenspiels diverser politischer, wirtschaftlicher, institutioneller und sonstiger Prämissen und Interessen wider. Die vorliegende Studie hat nicht zum Ziel, eine detaillierte retrospektive Untersuchung des Medienkunstdiskurses anzubieten. Sie stellt eher einen Versuch dar, die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen bestimmter diskursiver Bildungen – insbesondere einiger Schlüsselkategorien und -konzepte der Medienkunst – aufzuzeigen und damit einen gleichsam ‚ideologiekritischen‘ Blick auf einige im Medienkunstdiskurs erkennbare Tendenzen zu werfen.

2

Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Fischer 1991.

D AS K ONZEPT

DER I NTERAKTIVITÄT

| 253

17.2 D IE N EUEN M EDIEN : T ECHNISCHE G RUNDLAGEN ÄSTHETISCHER P RAXEN , B EGRIFFSANGEBOT UND T HEORIENACHFRAGE Seit dem Ende der 1980er Jahre setzte sich Interaktivität als bedeutender Bestandteil der theoretischen ‚Identitätsbildung‘ der Medienkunst durch, als Bezeichnung einer Kernqualität, welche die Medienkunst von den traditionellen Kunstformen prinzipiell unterscheiden sollte. Interaktion mit dem Kunstwerk wurde als Erforschung des Kommunikationspotentials der neuen digitalen Medien und daher auch als Manifestation eines neuartigen ‚demokratischen‘ Verhältnisses zwischen Kunst und Publikum zelebriert. Dieses Interaktivitätsverständnis setzte im Grunde den umfassenderen Interpretationstrend fort, die Neuen Medien als eine Verwirklichung früherer Ideen partizipatorischer Nutzung der Massenmedien wie etwa der Radiotheorie von Bertolt Brecht darzustellen.3 Ursprünglich wurde mit dem Interaktivitätsbegriff im Kunstkontext eine dem Betrachter gebotene Möglichkeit bezeichnet, durch eine technisch zugelassene bzw. aufgeforderte Interaktion mit dem Kunstwerk den Inhalt des Rezipierten zu ändern oder sogar zu generieren. Eine solchermaßen aufgefasste Interaktivität war in erster Linie für die computerbasierten multimedialen Installationen kennzeichnend, in denen die Interaktion zwischen dem Betrachter und dem rezipierten Kunstwerk lediglich eine Erscheinungsform der zugrunde liegenden Interaktion zwischen dem Computer und seinem Benutzer war. Die Umsetzung gerade dieser Interaktivitätsform findet sich in den bekannten Pionierarbeiten interaktiver Medienkunst wie z.B. in „Videoplace“ von Myron Krueger, „Very Nervous System“ von David Rokeby, „The Legible City“ von Jeffry Shaw und vielen anderen.4 Bei der weiteren Entwicklung der interaktiven Medienkunst setzte sich vor allem diese Tendenz fort: Die Interaktion Betrachter-Kunstwerk reduzierte sich generell auf eine konzeptuell begrenzte und technisch determi-

3

Vgl. Brecht, Bertold: „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 127–134.

4

Vgl. Dinkla, Söke: Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute, Ostfildern/Ruit: Hatje Cantz Verlag 1997.

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nierte Reihe von Interaktionsmöglichkeiten, die durch den Künstler vorbestimmt wurden. In den meisten interaktiven Installationen der 1990er Jahre zeigte sich dies beispielsweise in der Verwendung der verfügbaren Sensorenarten (Fotoelemente u.ä.), die auf eine Bewegung oder auf eine andere Form der Betrachterpräsenz im Installationsraum reagierten. Als Folge einer solchen Betrachter-Einwirkung auf die Sensoren wurden z.B. Audiooder Videosequenzen aus einer im Voraus zusammengestellten Datenbank in der einen oder anderen Reihenfolge vorgespielt, was als eine unmittelbare physische Einwirkung des Betrachters auf die Entstehung des Werkinhaltes interpretiert wurde.5 Eine derartige Interaktion brachte in vielen Fällen keinen inhaltlichen oder ästhetischen ‚Mehrwert‘ mit sich. Trotzdem wurde sie zu einer geradezu unvermeidlichen Programmnummer für den Großteil der medienkünstlerischen Produktion der 1990er Jahre, die unter dem faktischen Legitimationsdruck einer Interaktivität um der Interaktivität willen stand. Die Expansion der Interaktivität aus dem Installationsraum in digitale screen-based-Kunstformen war, aus einer technologisch-deterministischen Perspektive gesehen, eine Folge der Verbreitung der neuen, leicht zugänglichen und bedienbaren HCI-Interfaces (HCI: Human-Computer Interaction). Interaktive CD- und DVD-ROM-Arbeiten bildeten einen weiteren wichtigen Bestandteil der medienkünstlerischen Produktion der 1990er Jahre. Sie wurden tendenziell als ein ‚Experimentieren‘ mit non-linearen narrativen Formen und als praktische ‚Erforschung‘ ihres künstlerischen Potentials verstanden. In Wirklichkeit äußerte sich diese ‚Erforschung‘ hauptsächlich durch die Zusammensetzung eines Makro-Narrativs aus kleineren Inhaltsmodulen, die selbst nichts anderes als lineare Mikro-Narrative darstellten. Die Wahl der Module wurde vom Betrachter im Prozess der Interaktion mit dem konsumierten Werk getroffen, d.h. der Betrachter konnte beispielsweise das bevorzugte Ende der Geschichte aus den zur Verfügung stehenden Varianten selbst wählen, die Reihenfolge der Ereignisse ändern und so weiter. Diese Praxis knüpfte konzeptionell an die früheren Versuche im Bereich des interaktiven Fernsehens an, wie sie in Projekten wie „Piazza

5

Als Variante wurden die Daten durch technisch vorgegebene Interventionsmöglichkeiten aus dem Internet direkt oder mit gewissen Abwandlungen übertragen.

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virtuale“ von Ponton/Van Gogh TV (präsentiert unter anderem auf der Documenta IX) umgesetzt wurden.6 Eine solche Interaktivität unterschied sich in ihrem Wesen kaum von der ‚Interaktivität‘ eines gewöhnlichen Wunschkonzerts des frühen Radios. Dennoch wurde sie im Medienkunstdiskurs maßgeblich als eine medienkunstspezifische Realisierung der operationalen Eigenschaften der neuen digitalen Medien gefeiert, künstlerische Interventionen seitens des Betrachters zu ermöglichen. Mit der Zeit wurde jedoch der Interaktivitätsbegriff im Kunstdiskurs von seinen ursprünglichen computer-technologischen Implikationen befreit und de facto als Synonym für Partizipativität, Prozessualität und Performativität verwendet.7 Durch diese semantische Gleichsetzung des Interaktivitätsbegriffs mit den anderen Schlüsselideologemen der Kunst der 1980er und 1990er Jahre wurde die damals programmatisch ‚interaktive‘ Medienkunst in den breiteren theoretischen Rahmen der zeitgenössischen Kunst eingeschrieben. Die Ausdehnung des Interaktivitätsbegriffes führte dann letztendlich zu seinem weitgehend „inflationären Gebrauch“.8 Die Begriffsinflation war jedoch bereits durch die Organisationsstruktur des medienkünstlerischen Distributionsapparates vorbestimmt. Dank der Einführung der Preiskategorien für Interaktive Kunst (z.B. bei der Ars Electronica 1990) oder durch die Eröffnung neuer Studiengänge (wie z.B. 1994 am CAiiA, Centre for Advanced Inquiry in the Interactive Arts, University of Wales) wurde die Notwendigkeit einer – zumindest nominell – ‚interaktiven‘ Kunstproduktion im institutionellen medienkünstlerischen Umfeld allmählich zu einer strukturell konditionierten Forderung. Die Zahl der interaktiven Medienkunstwerke in Ausstellungen, die aufgrund technischer Probleme entweder ständig out of order sind oder deren Interaktivität komplett oder teilweise ein fake ist, bringt diese Sachlage deutlich zum Aus-

6

Vgl. Medosch, Armin: „Van Gogh TV – Worlds Within“, http://www .heise .de/tp/ artikel/3/3030/1.html [letzter Zugriff: 15.11.2012].

7

Vgl. beispielsweise Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Paris: Les presses du réel 2002.

8

Vgl. Dinkla, Söke: „Das flottierende Werk. Zum Entstehen einer neuen künstlerischen Organisationsform“, in: P. Gendolla et al. (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst, S. 64–91, hier S. 68; vgl. auch Paul, Christiane: Digital Art, London: Thames & Hudson 2003.

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druck. Ein anfänglich genuiner Wunsch, die Interaktivität „künstlerisch zu erforschen“, endete üblicherweise mit dem institutionellen Zwang, sie „künstlerisch erforschen“ zu müssen. Dieser Zwang ist in Analogie mit den Zwängen der Marktwirtschaft zu verstehen, d.h. als ein selbst auferlegter Zwang, sich den Konjunkturen des jeweiligen Marktes anzupassen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang unvermeidlich stellt, ist: Wie können bestimmte konzeptionelle Konjunkturen auf den ‚Diskursmärkten‘ überhaupt entstehen, und wie geschah dies gerade im Fall der Interaktivität auf dem institutionellen Medienkunstmarkt? Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, die gesamte theoretische Komplexität dieser Problematik nach Art des vulgärmarxistischen Soziologismus allein auf den sozialökonomischen Kontext der Entstehung und Entwicklung des Medienkunstdiskurses zu reduzieren. Vielmehr sollen klassische politischökonomische und sozialhistorische Perspektiven in das diskursanalytische Unternehmen einbezogen werden. Seit den 1980er Jahren bot sich die Medienkunst sowohl in ästhetischer als auch in institutioneller Hinsicht als eine Alternative zum System der ‚traditionellen‘, Kunstmarkt-gebundenen zeitgenössischen Kunst an. Die Medienkunst wurde von vielen Künstlern in erster Linie als ein neuer Raum utopischer künstlerischer Freiheit angesehen. Sie galt als ein Gegenentwurf zu einer faktischen Reduzierung der Kunst auf ein bloßes Funktionieren des Kunstbetriebes und zu ihrer zunehmenden Kommerzialisierung und Bürokratisierung. Während diese Entwicklungen als ein Verrat an den Idealen der klassischen Avantgarde verstanden wurden, wurde die Medienkunst selbst zur neuen künstlerischen Avantgarde erklärt. So umriss Peter Weibel diese Sonderstellung der Medienkunst in seinem Aufsatz „Transformation der Techno-Ästhetik“: „Im folgenden soll die Auffassung ergründet werden, dass die durch die technischen Medien hervorgebrachte Kunst eine in vieler Hinsicht radikal andere ist als die Kunst davor. Die Medienkunst ist eine Transformation, wenn nicht sogar Transgression, eine Überschreibung der klassischen Künste. [...] Statt auf einem statischen Seinsbegriff baut die Techno-Kunst auf einem dynamischen (interaktiven) Zustandsbegriff auf.“9

9

Weibel, Peter: „Transformation der Techno-Ästhetik“, in: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 205–246, hier S. 205.

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Anschließend listet Weibel eine Reihe von Begriffsoppositionen auf, die das Wesen der Medienkunst im Gegensatz zu den „klassischen Künsten“ verdeutlichen sollten: „Die Transformationen der Kunst durch die technischen Medien setzen genau bei den Schlüsselbegriffen dieser Ästhetiken an: Originalität, Werk, Autor, Schöpfer, Wahrheit, Ding, Sein etc. Jeder dieser Begriffe wird in der technischen Medienkunst aufgehoben, negiert, und durch einen anderen ersetzt: Statt Statik Dynamik, statt Sein Prozess, statt absolut relativ und statt allgemein partikulär. Statt Originalität technische Reproduzierbarkeit, Appropriation und Simulation, statt Autor Kollektiv, Maschine, Text, statt Wahrheit Verifikation und Virtualität, statt Ding Medium, statt Material Immaterialität, statt Realität Fiktion. Statt Sein und Realität nur Zeichen, Fiktion, Simulation.“10

Diese Rhetorik der Negierung und Aufhebung sowie der „Charme des Aufbruchs“ gehören zur Tradition der klassischen Avantgarde. Auch die aufgeführten Kategorien behandeln Schlüsselthemen modernistischer Kunst wie Reflexivität des eigenen Mediums, Prozessualität, Thematisierung des Entstehungs- und Ausstellungskontextes etc. Diese waren fester Bestandteil des theoretischen Repertoires auch der nicht medien- und technobasierten zeitgenössischen Kunst der 1980er und 1990er Jahre. Insofern bietet die Medienkunst keine „radikale Transformation der klassischen Künste“, sondern eine Art neuer ‚Einkleidung‘ der grundlegenden modernistischen Ideologie mithilfe neuer technischer Produktionsmittel. „Der Begriff ‚Medienkunst‘“, so der Kunst- und Medientheoretiker Hans Ulrich Reck in seiner Untersuchung „Mythos Medienkunst“, „besteht eigentlich in nichts anderem als in diesem wechselseitigen Umtauschverhältnis oder einer, wie gesagt, starren und unaufgelösten Verwechslung von Avantgarde-Funktion und Produktionstechnologie“.11 Die Grundkonzepte der Medienkunst entwickeln sich aus dem gleichen theoretischen Cluster wie der gesamte konzeptuelle Apparat zeitgenössischer Kunst. Wissenssoziologisch gesehen ist eine solche Entwicklungsgeschichte durch ihren sozialhistorischen Entstehungskontext wesentlich bedingt: Für die Produktion und Vermittlung des theoretischen Medienkunst-

10 Ibid., S. 242. 11 H. U. Reck: Mythos Medienkunst, S. 14.

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diskurses sorgen überwiegend Geisteswissenschaftler (mit einem großen Anteil an studierten Kunsthistorikern) sowie reflektierende Künstler, die mit den aktuellen kunsttheoretischen Trends intellektuell sozialisiert wurden. Jede neuartige künstlerische Praxis und jedes neue Kunstphänomen wird dementsprechend mithilfe der im akademischen Umfeld gerade populären theoretischen Anlehnungskontexte und Begrifflichkeiten beschrieben und interpretiert. Der institutionelle Medienkunstdiskurs entstand in den 1980er Jahren in einem intellektuellen Milieu, das überwiegend durch den französischen Poststrukturalismus und die Postmodernismus-Debatten geprägt war. Dies führte dazu, dass die Neuen Medien und ihre Eigenschaften tendenziell mithilfe simplifizierter poststrukturalistischer Konzepte theoretisch dargestellt wurden. Diese Konzepte waren jedoch zum Großteil selbst philosophisch instrumentalisierte Verständnismetaphern, die ursprünglich zur Beschreibung von sozialen Prozessen und neuesten technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften gewählt wurden. Aus diesem ‚dialektischen‘ Verhältnis zwischen menschlicher Umwelt und ihrer theoretisch-konzeptionellen Aufarbeitung entstanden auch die charakteristischen Topoi der Theorie der Neuen Medien und der Medienkunst. Gewiss haben Computernetzwerke eine „rhizomatische Struktur“. Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelten das Rhizom-Konzept jedoch nicht zuletzt unter dem Einfluss der in den 1960er Jahren populären kybernetischen und soziologischen Studien, die eine strukturelle Reorganisation der zentralisierten Wissensund Machtsysteme prognostizierten, um nur das bekannteste Beispiel zu nennen.

17.3 V OM „O FFENEN W ERK “ ZUM „F LOTTIERENDEN W ERK “ In ähnlicher Weise ließ sich auch Interaktivität in einen bereits vorhandenen theoretischen Interpretationsraum deponieren. So entwickelte Umberto Eco in seinem 1962 erschienenen Werk „Opera aperta“, von den literarischen, musikalischen und künstlerischen Praxen der Nachkriegszeit ausgehend und lange vor den ersten interaktiven Installationen, die Konzeption

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vom „offenen Kunstwerk“.12 Dieses setzte einen am Prozess der „Sinnkonstitution“ aktiv teilnehmenden Rezipienten voraus. Dabei unterschied Eco Werke mit an sich „geschlossener“ Struktur, deren „Offenheit“ (apertura) allein von der Interpretationsfähigkeit und vom Willen des Rezipienten abhängt („Offenheit ersten Grades“), von Werken, bei denen die „Offenheit“ von Anfang an in der Struktur des Werkes angelegt ist („Offenheit zweiten Grades“). Letztere zieht zwangsläufig eine Vielzahl von Interpretationen nach sich. In den visuellen Künsten bezog sich Eco dabei auf die abstrakte Malerei und auf kinetische Skulpturen, die den Betrachter „zu einem aktiven Eingreifen, zu einer motorischen Entscheidung für eine Facettenhaftigkeit des ursprünglich Gegebenen“ einladen.13 Bei der „Offenheit zweiten Grades“ geht es also nicht um eine grundsätzliche „Polysemie“ des Kunstwerkes aus einer primär rezeptionsästhetischen Perspektive, sondern vielmehr um eine bewusste künstlerische Strategie, welche die „Polysemie“ des Kunstwerkes konzeptionell konstruiert. In einer durch die mittelalterliche Hermeneutik geprägten Terminologie des „Offenen Kunstwerkes“ könnte man sagen, dass die Offenheit des Werkes in diesem Falle weit mehr ein Ergebnis der intentio auctoris als das der intentio lectoris ist. Eine solchermaßen aufgefasste Kategorie der „Offenheit“ und vor allem der „Offenheit zweiten Grades“ bot sich in idealer Weise zur Beschreibung von medienkünstlerischen interaktiven Werken an, die als perfekte Umsetzung der opera aperta-Konzeption erschienen. Diskurshistorisch gesehen verschaffte die Konzeption des „offenen Kunstwerkes“ späteren theoretischen Aufarbeitungen der Interaktivitätsproblematik sowie ihrer konzeptuellen Updates angesichts technischer und formal-ästhetischer Modifikationen eine sichere Grundlage. Als ein solches Update ist unter anderem die Konzeption vom „flottierenden Werk“ zu betrachten, wie sie von der Kunsthistorikerin und Kuratorin Söke Dinkla in ihrem Beitrag zum Sammelband „Formen interaktiver Medienkunst“ entworfen wurde:

12 Deutsche Ausgabe: Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. 13 Ibid., S. 156.

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„Zu den Hauptmerkmalen des flottierenden Werks gehört, dass es sich in einem Prozess der ständigen Veränderung befindet. Dabei hält es sowohl die Grenzen zwischen den Gattungen als auch zwischen den herkömmlichen Kategorien eines Kunstwerks in kontinuierlicher Bewegung. Das flottierende Werk hat seismographische Funktion. Es zeigt einen paradigmatischen Wandel der Strategien an, mit denen wir unserer Selbstbild konstruieren.“14

Der Begriff des „flottierenden Werks“ erweitert de facto die gängige Bezeichnung „interaktive Kunst“, die von Dinkla „lediglich als terminus technicus“ charakterisiert wird. Denn im Unterschied zur Bezeichnung „interaktive Kunst“ kann der Begriff „flottierendes Werk“, so Dinkla, auch „die ästhetischen Qualitäten [eines Werkes] zum Ausdruck“ bringen. Im Grunde genommen wird der Begriff des „flottierendes Werks“ jedoch zu einem weiteren terminus technicus, der sich in erster Linie auf die charakteristischen kommunikationsstrategischen Merkmale der künstlerischen Praxen der 1980er und 1990er Jahre bezieht: „Das flottierende Werk steht in der Tradition der Postmoderne, wobei es Strategien der Dekonstruktion mit der digitalen Kulturtechnik entwickelt. Obwohl das flottierende Werk im digitalen Medium in seiner radikalsten Form vorkommt, ist es nicht nur ein Phänomen der digitalen Kunst. Einige seiner zentralen Eigenschaften finden sich auch in den darstellenden Künsten wie im Tanz und im Theater wieder.“15

Die historische Anknüpfung der Interaktivität an die darstellenden Künste, insbesondere an die Performance-Praktiken der 1960er Jahre, wird bei Dinkla, so wie in vielen anderen kunsthistorischen Studien zur interaktiven Kunst, ausführlich dargestellt.16 Die zahlreichen intermedialen Experimente im Rahmen der New Yorker Art-&-Technology-Bewegung oder FluxusHappenings werden dabei prinzipiell als Ursprünge der interaktiven Kunst angesehen. Dies legitimiert die gängige Anwendung von in den 1960er Jahren aufgekommenen Kategorien wie Partizipativität oder Prozessualität auf die im eigentlichen technischen Sinne interaktiven Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre. Diese auf den ersten Blick offensichtliche genealogische

14 S. Dinkla: „Das flottierende Werk“, S. 65–66. 15 Ibid., S. 69. 16 S. Dinkla: Pioniere Interaktiver Kunst, S. 33–36.

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Verwandtschaft der interaktiven Kunst mit den Performance-Praktiken der 1960er und 1970er Jahre ist jedoch nicht zuletzt eine Folge der zugrunde liegenden institutionellen und konzeptionellen Aneignung interaktiver Arbeiten, die als eine künstlerische Praxis per se interpretiert werden.17 Die wichtigsten Momente einer solchen konzeptionellen Aneignung der medienkünstlerischen Interaktivität werden in Dinklas Aufsatz deutlich zum Ausdruck gebracht. So ist das Verhältnis zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachter ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Positionierung bzw. Ausgrenzung interaktiver Arbeiten im etablierten kunsttheoretischen Bezugsrahmen: „Während Kunstformen wie Aktionismus, Body Art, Performance und auch die Videokunst den Körper des Künstlers und seine Biografie als künstlerisches Material in das Werk integrieren, beziehen die computergesteuerten Environments den Körper des Betrachters und dessen Biografie in das Werk ein. Anders als bei Happenings geht es nun darum, im Dialog mit einer programmierten Umgebung das eigene Ich neu zu formulieren.“18

Die Behauptung, dass die Einwirkung des Betrachters auf Foto-Elemente oder andere Arten von Sensoren das „eigene Ich neu formulieren“ könne, ist dabei eher als Symptom eines grundsätzlichen strukturellen Problems zu verstehen, und zwar das einer Verselbständigung der Interpretationstopoi von der Gegebenheit der real existierenden Kunstwerke. Wirklich bedeutsam ist hier jedoch der Versuch, die Körperlichkeit des Betrachters als ein entscheidendes Element interaktiver Kunst zu begreifen, um dadurch die medienkünstlerische Interaktivität von den rein rezeptionsästhetischen Lesarten wie der „Betrachter im Bild“19 und Ähnlichem abzugrenzen:

17 Zur Problematik einer inflationären Anwendung des Kunstbegriffs auf diverse mediale und technologische Experimentierpraktiken vgl. H. U. Reck, Mythos Medienkunst, S. 7–11. 18 S. Dinkla: „Das flottierende Werk“, S. 71, Hervorhebungen L. V. 19 Vgl. Kemp, Wolfgang: „Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik“, in: ders. (Hg.): Der Betrachter im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln: DuMont 1985.

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„Der Betrachter wird zum bewegten User, der durch seine Entscheidungen den Text/Raum neu strukturiert. [...] Das flottierende Werk entwirft den Raum als Möglichkeitsform, in der Handlungsalternativen körperlich erprobt werden können. Der User bewegt sich dabei durch das Werk hindurch. Er befindet sich zugleich außerhalb und innerhalb des Werkes. [...] Es wird nicht nur imaginiert, sondern durch körperliche Bewegung verursacht und physisch erlebt. Dadurch ist das flottierende Werk in der Lage, zwischen körperlicher Erfahrung und intellektueller Erkenntnis zu vermitteln.“20

Die körperliche Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk ist gewiss eine ältere Denkfigur, die in vielen früheren theoretischen Aufsätzen über die Performance- und Happening-Praktiken in der zeitgenössischen Kunst zu finden ist.21 Charakteristisch für Dinklas Interpretation der interaktiven Kunst ist die Gleichsetzung des Betrachters mit dem User und die Auffassung des ästhetischen Erfahrungsraums als „programmierter Umgebung“. Der Computer konstruiert und reglementiert die ästhetische Erfahrung des Rezipienten eines medienkünstlerischen interaktiven Werks. Die Interventionen seitens eines „ehemaligen Betrachters“, des „heutigen Users“ führen „zu einer kontinuierlichen Neukombination der Bedeutungsfelder“. Deshalb wird der Computer selbst als ein Werkzeug dargestellt, durch das im Rahmen des interaktiven Werks eine „Kritik der Logik“ ausgeübt wird: „Das flottierende Werk erlaubt es, die Logik der Sprache zu verräumlichen. [...] Anders als surrealistische Kombinationsspiele zielt das flottierende Werk nicht auf eine Auflösung der Logik, sondern auf seine Dekonstruktion. Es erlaubt das Navigieren durch Bedeutungsfelder, in denen es kein zeitliches Nacheinander und nur momentane Hierarchien gibt. Die Kritik der Logik im flottierenden Werk äußert sich zunächst als Kritik der Sprache, sie ist aber gleichzeitig als fundamentale Kritik an der Logik-Maschine Computer zu verstehen, der jede Semantik fremd ist.“22

20 S. Dinkla: „Das flottierende Werk“, S. 75–76. 21 Vgl. Goldberg, RoseLee: Performance. Live Art, 1909 to the Present, New York: Abrams 1979; siehe auch Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München: Wilhelm Fink Verlag 2001. 22 S. Dinkla: „Das flottierende Werk“, S. 79.

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Die Logik, nach welcher das „flottierende“, also interaktive Werk „als fundamentale Kritik an der Logik-Maschine Computer zu verstehen“ wäre, erschließt sich dabei nicht wirklich. Die Neigung der Kunstkritik und -theorie der letzten dreißig Jahre, jegliches Experimentieren mit den neuen technischen Möglichkeiten sogleich als „Kritik“ (und bis Ende der 1990er Jahre auch als „Dekonstruktion“) der „Sprache“ oder „Logik“ der Neuen Medien aufzufassen, zeigt lediglich die innerbetriebliche Notwendigkeit, für die im Betrieb hergestellte künstlerische Produktion einen konzeptuellen ‚Mehrwert‘ zu schaffen. Da im Rahmen des hegemonialen spät- bzw. postmodernistischen Wertsystems gerade die „kritische Haltung“ und das Adjektiv „kritisch“ per se das Prädikat „besonders lukrativ“ versprechen, wird der semantisch devaluierte Begriff des „Kritischen“ zu einem leeren Signifikanten, einem Platzhalter, der dem Zweck einer Sinnsimulation als einer unabdingbaren Daseinsberechtigung eines Kunstwerks dienen soll. So wurde in den 1990er Jahren jede Anwendung des ZufallsgeneratorPrinzips (im Grunde einer computerbasierten Inkarnation der Aleatorik) in einem interaktiven Kunstwerk, sei es programmierungsbedingt oder in Form einer „Intervention des Betrachters als Zufallsfaktor“, tendenziell sofort als eine „Kritik“ (gegebenenfalls „Dekonstruktion“) der linearen narrativen Strukturen, der Kategorie der Autorschaft, des Logozentrismus etc. begriffen. Im Prinzip waren es die gleichen Interpretationstopoi, die seit dem Fluxus im Kunstdiskurs in Umlauf waren, und die nun mit entsprechenden Updates für neues medienkünstlerisches Material angewendet wurden.

17.4 K ONSUMIEREN = P RODUZIEREN ? E INE P RISE I DEOLOGIEKRITIK Seit der Einführung des Interaktivitätsbegriffs in den Kunstkontext Ende der 1970er Jahre wird Interaktivität zuerst als eine User-Computer-, d.h. als eine Mensch-Maschine-Interaktion verstanden. In den 1990er Jahren wurde der Gebrauch des Begriffs der Interaktivität jedoch von seinem computerbasierten technischen Substrat befreit und als Bezeichnung für zwischen-

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menschliche Interaktionen eingesetzt.23 Der Terminus interaktiv erlebte somit eine Art semantischer Expansion, die in erster Linie durch die Mechanismen der Diskursproduktion zu erklären ist: Die Vielfalt der vorhandenen künstlerischen Praktiken wird permanent in die zum gegebenen Zeitpunkt aktuelle ‚hegemoniale‘ Begriffssprache der diskursproduzierenden Gemeinschaft neu übersetzt und an die konventionellen Interpretationsschemata angepasst. Die ‚Übersetzung‘ der Interaktivität in die ‚hegemoniale‘ Sprache der Kunsttheorie der 1980er und 1990er Jahre heißt Partizipativität, Prozessualität und Performativität. Diskurshistorisch gesehen entwickelt sich also Interaktivität als eine weitere terminologische Emanation einer grundlegenden ideologischen und intellektuellen Matrix der spätmodernistischen bzw. postmodernistischen Kunsttheorie. Deren theoretische Wurzeln lassen sich ohne Weiteres in den zentralen strukturalistischen und poststrukturalistischen Konzeptionen sowie in der philosophischen Hermeneutik und der daraus entstandenen Rezeptionsästhetik aufdecken. In diesem Zusammenhang ist neben dem bereits erwähnten offenen Kunstwerk Umberto Ecos auch an andere theoretische ‚Hilfsmittel‘ zu erinnern, wie beispielsweise die Gegenüberstellung des Werkes, das als solches immer schon vollendet ist, mit dem Text, der per definitionem nie vollendet werden kann, bei Roland Barthes24 oder an die Konzepte der Dekonstruktion und différance bei Jacques Derrida. Der gemeinsame theoretische Nenner dieser und vieler anderer poststrukturalistischer Konzeptionen könnte dabei als eine Hervorhebung der Rolle des Rezipienten im Prozess der Sinnkonstituierung des konsumierten Kulturproduktes verstanden werden.

23 Die Geschichte des Interaktionsbegriffs verlief in einer interdisziplinären Perspektive eher umgekehrt. Denn der Begriff der Interaktion wurde ursprünglich in der Sozialtheorie und Soziologie (z.B. bei Jürgen Habermas) verwendet, gerade um zwischenmenschliche Handlungen zu bezeichnen. Später wurde er als Bezeichnung der Kommunikation zwischen Computer und Benutzer in den Kontext der Informatik und Computerwissenschaften importiert, was eine paradigmatische Etablierung der Maschine als Kommunikationspartner des Menschen beinhaltete, vgl. ebd. 24 Vgl. Barthes, Roland: „Vom Werk zum Text“, in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a. M.: edition Suhrkamp 2005, S. 64– 73.

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Aus Sicht der historischen marxistischen Analyse ist die ‚ökonomische Basis‘ dieser theoretischen Einstellung ganz offensichtlich. Es ist eine Diffusion der funktionellen Grenzen zwischen den Produktions- und Konsumprozessen im breiteren gesellschaftlichen Kontext, welche sich auch im künstlerischen Kontext widerspiegelt. Der unmittelbare politische Ausdruck dieser strukturellen sozialökonomischen Transformation ist der Wille zur „Demokratisierung“ aller Formen der gesellschaftlichen Existenz, inklusive des Kulturkonsums, der seinen Höhepunkt in der 1968er Bewegung erreichte. In diesem Sinne ist der Kampf gegen das traditionelle „autoritäre“ Kunstwerk und für das „offene“, „demokratische“ Kunstwerk, welches durch den Betrachter im Akt der Wahrnehmung geschaffen wird, unbeabsichtigt zu einem ideellen Vorläufer der späteren Wirtschaftsstrategien geworden, welche die Produktion der Inhalte kultureller Güter an ihre Konsumenten selbst delegieren. Aus einer imaginierten Sicht Adornos wäre die oben beschriebene Konzeption der Interaktivität – von ihrem computer-technologischen Substrat befreit und im Kunstdiskurs der 1990er Jahre als Synonym für Partizipativität, Prozessualität und Performativität pauschal verwendet – als ein weiterer Ausdruck des konzeptuellen und ästhetischen Kleinmuts der Kunst der ‚Hohen Postmoderne‘ zu betrachten. Ängstlich delegierte diese dem Betrachter die volle Verantwortung für die Konstitution von Sinn und Inhalt des Wahrgenommenen und verdeckte hinter devaluierten Interpretationstopoi die eigene Unfähigkeit, ein klares künstlerisches Statement abzugeben. Aus diesem Grunde erscheinen heute ehemals sinnvolle und attraktive Parolen wie „ironische Selbsteliminierung des Autors“, „unmittelbare Integration des Publikums in den kreativen Prozess“, „Demokratisierung ästhetischer Regime“, „Dekonstruktion der institutionell vorgegebenen Rollen und Hierarchien“ etc. als aus früheren Zeiten übriggebliebener theoretischer Dekor, der von den Schwachstellen der aktuellen Produktion ablenken soll.

Theorie und Praxis der Art-Science Collaboration Einblicke in die Diskursgeschichte Kapitel 18

In den letzten Jahren scheint im Kunstdiskurs kaum ein anderes Thema so viel Aufmerksamkeit genossen zu haben wie die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft und die künstlerische Forschung. Suchbegriffe wie Artistic Research und Art-Science Collaboration (als Variante auch ArtScience Interaction) bringen allein bei einer Kurzrecherche im Internet mehrere Tausende Ergebnisse, unter denen diverse Konferenzen, Studiengänge, institutionelle Gründungen, Ausstellungen und zahlreiche Publikationen zu finden sind.1 Die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft hat gewiss eine lange und reiche Geschichte, deren Erkenntnisse und Gewinne keinesfalls in Frage gestellt werden sollen. Es geht hier in erster Linie darum, eine zunehmende Tendenz der kulturpolitischen Instrumentalisierung dieser Problematik zu erforschen und die Gefahren anzudeuten, die diese Tendenz mit sich bringt. Denn die aufdringliche Behauptung der Notwendigkeit dieser „Zusammenarbeit“ droht nicht nur mit einer faktischen, sondern auch mit einer diskursiven Eliminierung der mit dem Modernismus erkämpften Autonomie der Kunst. Die in Westeuropa sich gegenwärtig vollziehenden

1

Für einen ausführlicheren Überblick über die Publikationen und institutionellen Initiativen in diesem Bereich vgl. Holert, Tom: „Künstlerische Forschung: Anatomie einer Konjunktur“, in: Texte zur Kunst, Heft 82 (Juni 2011), S. 39–63.

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Prozesse der Akademisierung und (Pseudo-) Verwissenschaftlichung sowohl des Systems der Kunstausbildung als auch der Kunstpraxis selbst sind nicht nur Folge des berüchtigten und massiv kritisierten Bologna-Prozesses. Sie sind vielmehr die Manifestation eines viel älteren und tiefer liegenden strukturellen Problems, das aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Positionierung der zeitgenössischen Kunst resultiert. Je deutlicher ihre prekärparasitäre Stellung durch die wachsende Knappheit öffentlicher Fördermittel in Erscheinung tritt, desto unvermeidlicher wird auch in der Kunstszene das euphorische Hohelied auf die wechselseitige Bereicherung der Kunst und Wissenschaft durch ihre Zusammenarbeit und desto farbenprächtiger werden die Perspektiven dieser erstrebten symbiotischen Zukunft dargestellt. Die Funktionsprinzipien des heutigen Ideologiemechanismus basieren schon längst nicht mehr auf der klassischen Marxschen Naivitäts-Figur des „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“, sondern, wie es Sloterdijk und Žižek beschrieben haben, auf der Maxime der „zynischen Vernunft“: „Sie wissen ganz genau, was sie tun, und trotzdem tun sie es“.2 Natürlich werden Kritik und Skepsis im Hinblick auf die übermäßig betriebene Verwissenschaftlichung der Kunst auf Konferenzen und in Fachpublikationen gelegentlich zum Ausdruck gebracht. Doch lieber würde man darüber schweigen. „Wir wissen ganz genau, dass eine Verwissenschaftlichung der Kunst nur sehr bedingt sinnvoll ist, und trotzdem machen wir diese zu unserer offiziellen Agenda...“ – so könnte die Einstellung im institutionellen Kunstund vor allem Medienkunstbereich beschrieben werden. Denn eine Integration der medienkünstlerischen Praxis und Theorie in die Strukturen des wissenschaftlichen Betriebs verspricht zumindest eine begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen und Lehrstellen, während in diesem Punkt Skepsis und kritisches Hinterfragen in der Regel mit einem in jeder Hinsicht unproduktiven und unprofitablen Ressentiment endet. Vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen sollte jedoch die Effizienz der Verdrängungsmechanismen im Dienste des Ideologieapparats nicht unterschätzt werden, da gerade diese die Erkenntnis des eigenen Zynismus verarbeiten und zu einer Art rettenden ‚Neuen Naivität‘ führen, die

2

Siehe Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, London/New York: Verso Books 1989; auch Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983.

T HEORIE UND P RAXIS DER A RT -S CIENCE C OLLABORATION | 269

den heutigen Diskurs der Art-Science Collaboration wesentlich prägt und ihn durch ideologiekritische Ansätze wieder erfassbar macht.

18.1 S CIENTISTS , K ÜNSTLER -I NGENIEURE , T ECHNO -A RT -B RUT Bevor in den nächsten Kapiteln einige konkrete Beispiele der institutionellen Produktion und Vermittlung des Diskurses von Art-Science Collaboration betrachtet werden, soll hier zunächst die theoretische Vorgeschichte dieses Diskurses skizziert werden, d.h. dessen historische Verankerung und theoretische Legitimierung. Die Karriere des Künstlers vom Handwerker zum Menschen universellen Wissens in der Renaissance ist häufig zum Sujet kunsthistorischer Monografien geworden. Die noch von Platon und Aristoteles stammende funktionelle Arbeitsteilung zwischen der Kunst als herstellender techne und Wissenschaft als analytisch-betrachtender theoria wird gerne als in der Frühen Neuzeit überwunden dargestellt. Die gesamte Geschichte der bildenden Künste, angefangen von den ZentralperspektivTraktaten der Spätrenaissance bis hin zur Verwendung der genetischen Manipulationen in heutigen bio-art-Projekten, soll weitere Beweise einer andauernden Verwissenschaftlichung der Kunst liefern. Dies bestätigt freilich die Tatsache, dass eine grundlegende, auf Platon zurückführende Hierarchie, in welcher wissenschaftliche Tätigkeit einen höheren gesellschaftlichen Status als künstlerische Aktivität beansprucht, nach wie vor unverändert blieb. Was sich inzwischen jedoch geändert hat, sind die Ursachen für dieses höhere gesellschaftliche Ansehen der Wissenschaft sowie die praktischen Inhalte der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst. Die Wissenschaft ist heute längst keine reine und selbstgenügsame, reflexiv-kontemplative theoria mehr, sondern ein auf ein konkretes praktisches Ergebnis zielender Komplex strategisch-zielrational ausgeübter Aktivitäten und Vorgehensweisen, ähnlich wie alle anderen aktuellen Formen gesellschaftlicher Produktion. Als ein auf praktische Problemlösung ausgerichtetes System nehmen die heutigen Naturwissenschaften in ökonomischer Hinsicht einen völlig anderen Platz ein als die Schönen Künste mit ihrem identitätsbildenden Autonomieanspruch, der ihren wirtschaftlichen Sinn gewöhnlich in der Kategorie der Luxus- bzw. Statussymbolwaren sieht. Die Naturwissenschaften sind unmittelbar gesellschaftlich nützlich

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und, wenn auch gelegentlich in einer langfristigeren Perspektive, wirtschaftlich effizient. Die Schönen Künste hingegen sind, mit Adorno zu sprechen, als „Ablageraum“ für einen temporären ökonomischen Überfluss nur begrenzt einsetzbar. Dieser reichlich unsichere Ablageraum kann außerdem nur dann funktionieren, wenn sein wirklicher wirtschaftlicher Sinn hinter der Fassade der Schlüsselideologeme des bürgerlichen Kunstkonzepts wie „schöpferischer Geist“, „Genialität“, „Selbstausdruck“, „Kreativität“ etc. verdeckt wird. Die historische Grundlage für die Entwicklung dieser wirtschaftlich fundierten Demarkation ist der Beginn einer unmittelbaren Verwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für technische Innovationen im Rahmen der industriellen Revolution. In seinem frühen Aufsatz „Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt“ verwies Jürgen Habermas darauf, dass vorindustrielle Formen der praktischen beruflichen Tätigkeit keine Verknüpfung mit Theorie voraussetzten.3 Erst mit der Industrialisierung kommt es zu einer gezielten systematischen Umsetzung wissenschaftlicher Errungenschaften in der Praxis. Die Naturwissenschaften werden zur Quelle neuer Technologien und Einnahmen, die aus ihrer Anwendung resultieren. Es vollzog sich ein Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung der Naturwissenschaften selbst, der sich in der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Disziplinen sowie in der Etablierung bestimmter Institute wie der Akademien der Wissenschaften manifestierte. So entstand die neue Schicht der professionellen Wissenschaftler, die in ihren wissenschaftlichen Aktivitäten nicht nur von Wissbegierde getrieben wurden, sondern aus ihnen auch ein Einkommen erzielen und somit ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Dies zeigt unter anderem im englischsprachigen Kontext die Einführung des Begriffs scientist, der zuvor verwendete Bezeichnungen wie natural philosopher oder man of science allmählich ersetzte. Der englische Mathematiker, Philosoph, Wissenschaftshistoriker und „Universalgelehrte“ William Whewell hatte den Begriff scientist 1834 in einer anonym in der Quartely Review publizierten Rezension eingebracht.4 Der Begriff hatte zu-

3

Vgl. Habermas, Jürgen: „Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt“, in: ders.: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968.

4

Die Rezension bezog sich auf Mary Somervilles „On the Connexion of the Physical Sciences“, vgl. Holmes, Richard: The Age of Wonder. How the Ro-

T HEORIE UND P RAXIS DER A RT -S CIENCE C OLLABORATION | 271

nächst einen leicht satirischen Charakter im Sinne einer Reaktion auf die Veränderung der Auffassung der Naturwissenschaften selbst und auf ihre zunehmende Aufteilung in verschiedene Disziplinen, in deren Folge Bezeichnungen wie Chemiker, Mathematiker etc. eingeführt wurden. Die frühere allgemeine Bezeichnung eines Naturwissenschaftlers im englischsprachigen Raum als philosopher schien daher nicht mehr ausreichend, da sie die Spezifika der einzelnen Tätigkeiten nicht mehr widerspiegelte. Die Notwendigkeit einer neuen treffenden Bezeichnung wurde auch von den Mitgliedern der British Association for the Advancement of Science in ihren Sitzungen besprochen. „By analogy with artist“, so Whewell, „they might form [the word] scientist, and added that there could be no scruple in making free with this term since we already have such words as economist and atheist“.5 Whewell schlug später die Bezeichnung scientist ein weiteres Mal vor, diesmal nicht mehr ironisch und anonym, und zwar in seinem 1840 veröffentlichten Werk „The Philosophy of the Inductive Sciences“: „We need very much a name to describe a cultivator of science in general. I should incline to call him a Scientist. Thus we might say, that as an Artist is a Musician, Painter, or Poet, a Scientist is a Mathematician, Physicist, or Naturalist“.6 Seine Weiterverbreitung hat der Begriff scientist jedoch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefunden. Im Unterschied zum deutschen Begriff Wissenschaft, zur französischen science oder zur russischen наука wurde der Gebrauch des Wortes science im englischsprachigen Raum ausschließlich für naturwissenschaftliche Aktivitäten reserviert, während den Geisteswissenschaften unter dem Namen humanities nicht der Status einer wissenschaftlichen Tätigkeit zugeschrieben wurde.7 Seit Francis Bacon waren britische men of science überwiegend

mantic Generation Discovered the Beauty and Terror of Science, London: Harper Press 2008, S. 449. 5

Zitiert nach: ebd.

6

Ibid.

7

Im Gegensatz zum Begriff science entwickelte sich der Begriff humanities historisch in Richtung auf eine wachsende Entfernung von der Praxis und Steigerung der theoretischen Reflexion eigener Themen und Inhalte. Das Studium der artes liberales, das im Spätmittelalter aus dem klassischen antiken trivium

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empirisch und praktisch-experimentell orientiert, im Gegensatz zu ihren kontinentalen Kollegen mit Neigung zu weitgehenden metaphysischen Spekulationen. Der notorisch pragmatische angelsächsische Geist grenzte hellsichtig die praktisch nutzlosen und unprofitablen humanities wie auch die Fine Arts als einen verschwenderischen und harmlosen Zeitvertrieb für gentlemen of leisure mit old money und old privileges ein. Wenn im 19. Jahrhundert daher das Thema einer Verbindung von art und science, d.h. von Kunst und Naturwissenschaften, in Erscheinung tritt, dann ging es hier allenfalls darum, was die Schönen Künste von den Naturwissenschaften lernen können, um gleichsam noch ‚schöner‘ zu werden. Eine theoretisch ausgearbeitete programmatische Annäherung der Kunst an die Naturwissenschaften, d.h. an die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden, hatte zunächst einen rein instrumentellen Charakter. So sprach John Ruskin in seinen „Lectures of Art“ (1870) und in „The Eagle’s Nest. Ten Lectures on the Relation of Natural Science to Art“ (1872) von der Notwendigkeit für künftige Landschaftsmaler, sich mit der Biologie und Geologie zu befassen sowie wissenschaftlich fundierte Zeichenmethoden anzuwenden, um die Natur getreu wiederzugeben. Für die Kunsttheorie Ruskins stellte die Naturtreue eine der größten Tugenden der bildenden Kunst dar.8 Eine wesentliche Weiterentwicklung des instrumentellen Ansatzes zur Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden für künstlerische Zwecke findet sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Theorie und Praxis des russischen Konstruktivismus der 1920er Jahre sowie in den Studienprogrammen des Bauhauses.9 Die berühmte konstruktivistische Konzeption

(Grammatik, Rhetorik und Logik) und quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) bestand, hatte das Erlernen von praktischen Kenntnissen und Fertigkeiten zum Ziel. In der Renaissance konzentrierte sich die studia humanitatis, die auf dem Curriculum der artes liberales basierte, nicht mehr auf die praktische Verwendung der studierten Fächer, sondern zunehmend auf deren Geschichte sowie Philosophie und Literatur, vgl. beispielsweise Bod, Rens: A New History of the Humanities, Oxford: Oxford University Press 2014. 8

Vgl. Ruskin, John: Lectures of Art, New York: Allworth 1996.

9

Vgl. Kandinsky, Wassily: „Farbkurs und Seminar“, in: Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, Weimar-München 1923.

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des „Künstler-Ingenieurs“ sollte jedoch nicht als ein ‚Pilot-Projekt‘ der heutigen Art-Science Collaboration missverstanden werden: Die wichtigsten Vertreter und Theoretiker des russischen Konstruktivismus wie Alexander Rodchenko, Warwara Stepanowa oder Alexei Gan sprachen von einer „Produktionskunst“ (russ.: производственное искусство), die sich von der l’art pour l’art-Einstellung sowie vom formellen Ästhetizismus der Schönen Künste verabschieden und dem Ziel einer besseren Gestaltung der menschlichen materiellen Lebenswelt dienen sollte. Der neue Künstlertypus – der „Künstler-Ingenieur“ – sollte daher auf traditionelle Kunstformen verzichten und „bewusst nützliche Sachen herstellen“, d.h. sich der Gestaltung und Produktion funktionaler Objekte widmen. Der bedeutende LEFTheoretiker Boris Arvatov schrieb in einem seiner Aufsätze, dass die Aufgabe des Künstlers nunmehr darin bestünde, „den Alltag nicht abzubilden und zu dekorieren, sondern diesen zu bauen“.10 An anderer Stelle betont er, dass sich die neuen revolutionären Künstler nicht zum Ziel setzten „Raritäten und Luxusobjekte“ herzustellen, sondern „mit dem Denken von Ingenieuren die gesamte Kunst in den Prozess des Aufbaus einer materiellen Kultur für die Gesellschaft umzuwandeln“.11 Das Konzept der „Produktionskunst“ brach in seiner Grundeinstellung mit der Ideologie der freien autonomen Kunst. Die „Produktionskunst“ war insofern ein wichtiger theoretischer Vorläufer des modernen Verständnisses von Design; dementsprechend ist der „Künstler-Ingenieur“ eher als Designer und nicht als freier Künstler im gewöhnlichen Sinne zu verstehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezogen sich die Künstler häufig nicht nur inhaltlich auf aktuelle wissenschaftliche Themen und Theorien, sondern verwendeten in der künstlerischen Praxis auch neue Technologien wie Film, Radio, Elektromechanik etc. Diese Hinwendung zur Technologie und Wissenschaft hatte jedoch sowohl kunsthistorisch als auch diskurshistorisch gesehen keinen programmatischen, strategischen Charakter. Die programmatisch deklarierte Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft sowie die Verwissenschaftlichung der Kunst wurde erst in den

10 Арватов, Борис: Искусство и производство [Arvatov, Boris: „Kunst und Produktion“], Moskau: Proletkult 1926. S. 117. 11 Ibid., S. 90. Vgl. auch Арватов, Борис: „Утопия или наука“ [Arvatov, Boris: „Utopie oder Wissenschaft“], in: LEF 1923, Nr. 4, S. 16–21.

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1960er Jahren zur Agenda, nicht zuletzt als Reaktion auf die kulturpolitischen Entwicklungen in den USA. Im Rüstungswettkampf des Kalten Krieges und im Kontext staatlich großzügig finanzierter Forschungsprojekte im Bereich der Computertechnologien wurden US-amerikanische Universitäten und Forschungszentren zu einem optimalen Umfeld, in dem experimentelle technologiebasierte Kunstprojekte realisiert werden konnten.12 Aus dem massiven spätmodernistischen Impetus der Nachkriegszeit entwickelten sich zahlreiche neue Kunstformen, Kunstpraxen und -ismen, welche das konzeptuelle Erbe der frühmodernistischen Kunst – von Dada und dem Suprematismus bis hin zum Konstruktivismus und Bauhaus – in einer sich verändernden gesellschaftlichen und technisch-materiellen Umwelt verarbeiteten und neu umsetzten. Die unaufhörlichen Begriffsschöpfungen, oft mit minimalen semantischen Unterschieden der Signifikanten und großen Überlappungen der Signifikate, repräsentieren diese breite Palette künstlerischen Experimentierens mit den neuen Technologien, Materialien und wissenschaftlichen Konzeptionen: Computer Art, Algorithmic Art, Generative Art, Information Art, Evolutionary Art, Process Art, Systemic Art, Cybernetic Art, Kinetic Art, Fractal Art und so weiter. Dieses Experimentieren benötigte jedoch eine Produktionsbasis, die weit über die Grenzen der gewöhnlichen Künstlerateliers hinausging. Die Kunstinstitutionen der 1960er und 1970er Jahre konnten allenfalls Präsentationsmöglichkeiten, vor allem Ausstellungsräume, anbieten. Die angemessene Produktionsumgebung fand sich hingegen weit außerhalb der damaligen Strukturen des Kunstbetriebs. Das akademische Umfeld und Universitätslaboratorien boten nicht nur eine technisch-materielle Basis, sondern darüber hinaus auch eine Unterstützung bei der Realisierung künstlerischer Vorhaben seitens der ingenieur-wissenschaftlichen Fachkräfte.13 Es ist kein

12 Vgl. Born, Georgina: Rationalizing Culture. IRCAM, Boulez, and the Institutionalization of the Musical Avant-Garde, Berkeley: University of California Press 1995. 13 Die Ursprünge der Computermusik finden sich ebenfalls im universitären Bereich der USA, vor allem am Stanford University’s Center for Computer Research in Music and Acustics (CCRMA), das aus dem Stanford Artificial Intelligence Laboratory (SAIL) entstand, einem der bedeutendsten Artificial Intelli-

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Zufall, dass viele Pioniere dieser computer- und technologiebasierten Kunst gerade aus diesem Umfeld kamen und selbst einen Hintergrund als Wissenschaftler, Ingenieure oder Informatiker hatten. Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen, war Myron Krueger – renommierter Vertreter der Frühphase interaktiver Kunst sowie von Experimenten mit virtual reality und augmented reality – ein promovierter Computerwissenschaftler, der in den 1970er Jahren an Forschungsprojekten zur Computergrafik am Space Science and Engineering Center der University of Wisconsin-Madison tätig war und deshalb auch eine institutionelle Unterstützung seiner künstlerischen Projekte genoss. Ein promovierter Ingenieurwissenschaftler und Aeronautik-Forscher war auch der Gründer der Zeitschrift Leonardo, Frank J. Malina. Auch viele europäische Techno-Kunst-Aktivisten kamen aus dem technischen und naturwissenschaftlichen Bereich, wie z.B. der österreichische Verfechter der Computerkunst und Computergrafik Herbert W. Franke, der vor seiner Beschäftigung mit der Computergrafik einen Doktorgrad in theoretischer Physik erworben hatte. In diesem Zusammenhang ist auch Roy Ascott zu erwähnen, der vor seiner künstlerischen Laufbahn als Offizier der britischen Royal Air Force Radarsysteme bediente. Sozialhistorisch gesehen war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade die ,technisch-wissenschaftliche Intelligenzija‘ eine Art Kaderschmiede für die technologiebasierte Kunst, was einige ästhetische und konzeptionelle Besonderheiten ihrer historischen Entwicklung beeinflusst hat. Viele Protagonisten der frühen technologiebasierten Kunst und insbesondere der Neue-Medien-Kunst waren professionelle Ingenieure, Informatiker, Natur- und Computerwissenschaftler, die aus verschiedenen Gründen begonnen hatten, sich für eine künstlerische Anwendung der neuen Technologien zu interessieren. Mit ihren technisch-künstlerischen Experimenten waren sie oft stricto sensu Hobby-Künstler, die, soziologisch gesehen, eine Art technologische Art-Brut produzierten. Nicht zuletzt daraus resultiert auch die offenkundig neopositivistische Prägung der Techno-Kunst, die bis heute vor allem in der US-amerikanischen Medienkunst zu beobachten ist und sich zunehmend auch im europäischen Medienkunstdiskurs durchsetzt.

gence-Zentren, welches hauptsächlich durch das US-Verteidigungsministerium finanziert wurde, vgl. ebd., S. 66.

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Die technologiebasierte Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sei es Kinetic Art, Holografie, Computer Art, Interactive Art, Virtual Reality und vieles andere, was später mit dem Sammelbegriff der New Media Art bezeichnet wurde, war so gesehen ursprünglich ein Nebenprodukt der technisch-wissenschaftlichen Institute, eine Art experimentelle Funktionsabweichung in der Betriebsroutine. Erst später konnten diese Kreativitätsprodukte angesichts der geänderten kultur- und wissenschaftspolitischen Konjunktur als Kunstformen anerkannt und als Erweiterungen und Weiterentwicklungen des modernistischen Kunstkonzepts interpretiert werden.

18.2 „T HE T WO C ULTURES “, „T HE T HIRD C ULTURE “ UND WEITERE I DENTITÄTSSUCHE Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Genealogie der technologiebasierten Kunst scheint die häufige Bezugnahme auf den berühmten Essay „The Two Cultures“ des britischen Wissenschaftlers und Schriftstellers Charles Percy Snow, die sich in vielen diskurshistorischen Untersuchungen zum Thema der Art-Science Collaboration findet, eher gewagt zu sein.14 Snow geht es im Wesentlichen darum, den Unterschied zwischen der Kultur der sciences und der Kultur der humanities aufzuzeigen, also zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften und damit auch zwischen den Arbeitsweisen, Wertesystemen und Wissenskanons von scientists und literary intellectuals, wie er die Vertreter der humanities bezeichnet. Ungeachtet dessen, dass dieses Werk Snows in seinem Kern wie eine Abrechnung mit der vermeintlichen intellektuellen Arroganz der Geisteswissenschaftler anmutet, bleibt auch unverständlich, was die Techno-Künste mit der Gegenüberstellung dieser zwei Kulturen zu tun haben sollen. Denn wenn sie zumindest mit einer von diesen two cultures eine gewisse Verbindung aufweisen sollten, dann ist es eher ihre historische Verwandtschaft – als téchne verstanden – mit den sciences und nicht mit den humanities, wie in vielen Publikationen zu diesem Thema behauptet wird.

14 Snow, Charles Percy: The Two Cultures. A Second Look, Cambridge, Mass.: Cambridge University Press 1963.

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Das „Dritte Kultur“-Motiv, das im Medienkunstdiskurs seit den 1990er Jahren immer wieder in Erscheinung tritt, basiert daher auf einem grundsätzlichen Missverständnis sowohl der Position Snows als auch der Hauptthesen des über zwei Jahrzehnte später erschienenen Sammelbandes „The Third Culture: Beyond the Scientific Revolution“. Das Buch wurde 1995 von dem auf wissenschaftspopuläre Literatur spezialisierten Literaturagenten John Brockman herausgegeben und bestand aus über zwanzig Beiträgen von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen. Im Anschluss an die Idee einer „dritten Kultur“, die Snow in der zweiten Ausgabe seines Werkes „The Two Cultures: A Second Look“ (1963) entwickelt hatte, propagierte Brockman seine eigene Vorstellung einer third culture. Snow sprach optimistisch von der Möglichkeit einer „dritten Kultur“, in der durch Kommunikation zwischen den Vertretern von science und humanities die drastischen Unterschiede zwischen diesen beiden Kulturen beseitigt werden könnten. Brockman hingegen verstand „the third culture“ als eine Kultur der Naturwissenschaftler, die die Wissenschaftsentwicklungen selbst, ohne Vermittlung durch literary intellectuals, in einem populärwissenschaftlichen Stil einem breitem Publikum präsentieren: „Although I borrow Snow’s phrase, it does not describe the third culture he predicted. Literary intellectuals are not communicating with scientists. Scientists are communicating directly with the general public. Traditional intellectual media played a vertical game: journalists wrote up and professors wrote down. Today, third-culture thinkers tend to avoid the middleman and endeavor to express their deepest thoughts in a manner accessible to the intelligent reading public.“15

Eine Appropriation dieser Art von Snows bekanntem Begriff und sein in gewisser Weise inhaltlicher Missbrauch dient dem verständlichen Ziel, Brockmans Projekt „Edge Foundation“ theoretische Legitimität zu verleihen und the third culture zu einem in vielfacher Hinsicht gewinnbringenden ‚Brand‘ zu machen. Zu diesem Zweck wird die gängige, leicht pathetische Sprache von Werbeslogans eingesetzt: „The third culture consists of those scientists and other thinkers in the empirical world who, through their work and expository writing, are taking the place of the

15 http://edge.org/about-edgeorg [letzter Zugriff: 30.04.2011].

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traditional intellectual in rendering visible the deeper meanings of our lives, redefining who and what we are.“16

Die „Edge Foundation“ erscheint auf ihrer offiziellen Webseite als eine weitere Plattform für wissenschaftspopuläre Literatur, der Brockmans third culture-Konzeption eine Art ideeller Daseinsberechtigung verschaffen soll. Über die Stiftung selbst ist auf der Webseite folgendes zu erfahren: „Edge Foundation, Inc., was established in 1988 as an outgrowth of a group known as The Reality Club. Its informal membership includes of some of the most interesting minds in the world. The mandate of Edge Foundation is to promote inquiry into and discussion of intellectual, philosophical, artistic, and literary issues, as well as to work for the intellectual and social achievement of society. Edge Foundation, Inc. is a nonprofit private operating foundation under Section 501(c)(3) of the Internal Revenue Code.“17

Die Geschichte und Zielsetzungen dieses Reality Club werden ebenfalls ausführlich dargestellt: „From 1981 through 1996, The Reality Club held its meetings in Chinese restaurants, artists lofts, the Board Rooms of Rockefeller University, The New York Academy of Sciences, and investment banking firms, ballrooms, museums, and living rooms, among other venues. In January, 1997, The Reality Club has now migrated to the Internet on Edge. Here you will find a number of today’s sharpest minds taking their ideas into the bull ring knowing they will be challenged. The ethic is thinking smart vs. the anesthesiology of wisdom.“18

Durch solche Selbstdarstellungen erscheint die „dritte Kultur“ als die Kultur simulierter geheimer Gesellschaften, der Erwartungen von Spenden von „investment banking firms“, als Kultur des technokratischen Geists und neopositivistischen Pathos sowie der zugrunde liegenden fragwürdigen metaphysischen Grundannahmen. Es ist eine Kultur der üblichen „exclusive membership“-Business-Strategien, bei denen die versprochene Zugehö-

16 Ibid. 17 Ibid. 18 Ibid.

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rigkeit zu den „elitären“ Kreisen über den Statussymbol-Bonus hinaus weitere geschäftliche Kontakte zu knüpfen hilft: „The Reality Club is different from The Algonquin, The Apostles, The Bloomsbury Group, or The Club, but it offers the same quality of intellectual adventure. Perhaps the closest resemblance is to the early nineteenth-century Lunar Society of Birmingham, an informal club of the leading cultural figures of the new industrial age — James Watt, Erasmus Darwin, Josiah Wedgewood, Joseph Priestly, Benjamin Franklin. In a similar fashion, The Reality Club is an attempt to gather together those who are exploring the themes of the post-industrial age. The Reality Club is not just a group of people. I see it as the constant shifting of metaphors, the advancement of ideas, the agreement on, and the invention of, reality. Intellectual life is The Reality Club.“19

Danach präsentiert die Edge-Webseite noch die geheimnisvollen „Digerati“ mit der Vorankündigung: „Who are the ‚digerati‘ and why are they ‚the cyber elite‘? They are the doers, thinkers, and writers who have tremendous influence on the emerging communication revolution. They are not on the frontier, they are the frontier“.20 Es stellt sich in der Tat eine wichtige Frage: Warum sind diese Digerati „the cyber elite“? Man wünscht sich letzten Endes, es wäre bloß eine spielerische und ironische Form der institutionellen Selbstdarstellung. Auch unabhängig von Brockman wird der Begriff der „dritten Kultur“ immer wieder neu belebt und mit neuen Interpretationen aufgeladen, die weit über seine ursprüngliche Bedeutung bei Snow hinausgehen. So bietet die Künstlerin und Dozentin am Department of Design/Media Arts der University of California LA Victoria Vesna in ihrem Leonardo-Artikel „Toward a Third Culture: Being In Between“ eine eigene Version der „dritten Kultur“, die für die Auseinandersetzung mit dieser Problematik im Medienkunstdiskurs durchaus repräsentativ ist. Die „dritte Kultur“, so Vesna, „will emerge out of triangulation of the arts, sciences and humanities“.21 Medienkünstler

19 Ibid. 20 Ibid. 21 Vesna, Victoria: „Toward a Third Culture. Being In Between“, in: Leonardo, Bd. 34, Nr. 2 (2001), S. 121–125, hier S. 121.

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sollen dabei im Prozess der Überbrückung der kulturellen und sprachlichen Unterschiede eine wichtige Rolle spielen: „Artists working with computer and other technologies from the scientific world are also often informed and inspired by the exciting innovations and discoveries taking place in science. We are also keenly interested in what cultural critics and commentators in the humanities have to say about the meaning of these discoveries and innovations and their impact on culture and society. Scientists can relate to and understand our work easily primarily because we use the same tools – computers. Because our work and tools are in constant flux, we are forced to articulate the reasoning and meaning informing the art we produce, which has traditionally been the role of art critics and historians. This creates room for an active dialogue with both humanists and scientists.“22

Obgleich eine solche Argumentation an manchen Stellen – absichtlich oder aus schlichter Argumentationssparsamkeit – etwas naiv und sogar problematisch wirkt,23 scheinen die Intention dieses Artikels und die in ihm enthaltenen Implikationen deutlich zu sein: Die Kunst, die sich der Technologien bedient, d.h. – in der gängigen Sprache der 1990er Jahre – die Medienkunst schlechthin, sollte sich in einer Vermittlerrolle zwischen den beiden anderen, durch die akademische Organisationsstruktur institutionell etablierten und gesellschaftlich-legitimierten Tätigkeitsbereichen gleichfalls institutionell etablieren und gesellschaftlich legitimieren. In den USA, wo aufgrund der kulturpolitischen Tradition nicht viele staatlich subventionierte medienkünstlerische Institutionen gegründet wurden und die Medienkunst selbst keinen ernst zu nehmenden Platz auf dem Kunstmarkt beanspruchen konnte, war die Medienkunst von Anfang an eine Art disziplinär deplatziertes Element, welches nur unter der institutionellen Obhut der Universitäten und sonstiger akademischer Einrichtungen eine Überlebenschance erhalten konnte. Davon ist nicht nur der Produktionsaspekt der medienkünstlerischen Praxis betroffen, da mit der Verbreitung der bezahlbaren digitalen Technologien in den 1990er Jahren zahlreiche Formen der medienkünstlerischen Produktion auch ohne institutionelle

22 Ibid. 23 Dies betrifft vor allem die Behauptung, Wissenschaftler könnten die Medienkunst allein schon wegen der Verwendung des Computers besser verstehen.

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Unterstützung möglich geworden waren. Vielmehr geht es um ein existenzielles Überleben derjenigen, die sich als professionelle Medienkünstler und nicht als Wochenend-Künstler verstehen wollen. Die Lehr- und Forschungsstellen im akademischen Umfeld stellen daher fast die einzige Option für die Realisierung eines solchen Vorhabens dar. Indem sich die Medienkunst zu einer solchermaßen aufgefassten „dritten Kultur“ erklärt, reduziert sie sich im Grunde auf die Rolle einer wissenschafts-popularisierenden, aufklärerischen oder bloß illustrativen Aktivität. Der Verzicht auf Autonomie und funktionelle Selbstgenügsamkeit scheint in der aktuellen sozialökonomischen Realität einen sicheren Platz zu versprechen. Doch wirft eine solche Strategie die grundsätzliche Frage auf, warum die Medienkunst bei einer solchen Selbstpositionierung immer noch des strittigen Labels der „Kunst“ bedarf, das so viele konzeptionelle Widersprüche mit sich bringt? Warum benennt die Medienkunst sich nicht gleich als audio-visuell-räumliche-etc. Gestaltung und Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischer Möglichkeiten, was sie de facto eigentlich meistens betreibt? Dies ist doch ein altes Motiv in der Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stellte angesichts des mit dem Aufkommen der neuen technischen Mittel einhergehenden Verlusts des Bildproduktionsmonopols nicht schon die „Produktionskunst“ des russischen Konstruktivismus die erste nüchterne Perspektive im Hinblick auf die kommenden Aufgaben der Kunst dar? Oder wurde nicht schon in den 1960er Jahren von Gene Youngblood im „Expanded Cinema“ mit romantischer und kybernetisch geprägter Technik-Euphorie prognostiziert, dass der Künstler nun zum „design scientist“ werden und „aesthetic application of technology“ praktizieren sollte?24 Diese grundsätzliche Fragestellung ist in Bezug auf die Medienkunst gewiss nicht neu. Bereits 2002 stellte Hans Ulrich Reck in seiner Studie „Mythos Medienkunst“ den Anspruch vieler nominell und institutionell als ‚Medienkunst‘ bezeichneter Projekte und Praktiken auf den Status von ‚Kunst‘ im Sinne der traditionellen modernistischen Kunstkonzeption in Frage. Vor allem im US-amerikanischen Kontext diagnostizierte Reck hinsichtlich mancher neuen medialen Unterhaltungsphänomene wie z.B. VRenvironments und cyberspace in den 1990er Jahren eine Tendenz der „Ade-

24 Vgl. Youngblood, Gene: Expanded Cinema, New York: E.P. Dutton & Co. 1970, S. 189.

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lung durch Kunstansprüche“: „Das fällt der US-amerikanischen Mythologie besonders leicht, da dort jeder, der irgendwas tut, als kreativ gilt und alles, was kreativ ist, als Kunst behauptet wird; Kunst als very creative art ist deshalb zu einer Behauptungsstrategie in der Massenkommunikation geworden, oder genauer: verkommen [...]“.25 Diese Strategie einer „Adelung“ der neuen medialen Praktiken und Aktivitäten durch den Kunstanspruch spielte für die institutionelle Etablierung dieser Praktiken nicht nur in den USA eine beachtliche Rolle. Aber vor allem in den USA kam dieser Herangehensweise noch eine zusätzliche Funktion zu: Das ‚Kunst‘-Label sollte für diese Aktivitäten in dem stark effizienzorientierten US-amerikanischen akademischen Umfeld noch einen gewissen Handlungsspielraum bewahren. In der Massenrezeption wird der Begriff ‚Kunst‘ jedoch nach wie vor mit einem romantischen Raum der angeblichen Freiheit des individuellen ‚Selbstausdrucks‘ assoziiert, womit für diesen Aktivitäts- und Ausbildungsbereich permanent neue Kräfte zu rekrutieren sind.

18.3 K ULTURPOLITISCHE V ORAUSSETZUNGEN DER M EDIENKUNST IN W ESTEUROPA Im Unterschied zur Medienkunst in den USA entwickelte sich die westeuropäische Medienkunst unter anderen sozialökonomischen und kulturpolitischen Prämissen. Während die staatliche amerikanische Kulturpolitik nach den Prinzipien eines marktbasierten „Kulturdarwinismus“26 gestaltet wird, gehen die historisch-typologischen Wurzeln europäischer Kulturförderung aus der Tradition aristokratischer Kunstpatronage hervor, nach der die Kunst als etwas Schutz- und Unterstützungsbedürftiges per se betrachtet und behandelt wird. Die Idee der staatlichen Kulturpolitik hat sich aus der Hofkultur des europäischen Absolutismus herauskristallisiert. Die nüchterne Einschätzung, dass die einzige Überlebenschance der Hochkultur in

25 H. U. Reck, Mythos Medienkunst, S. 57. 26 Vgl. Mulcahy, Kevin V.: „The State Arts Agency: An Overview of Cultural Federalism in the United States“, in: Journal of Arts Management, Law and Society, Bd. 32 (2003), S. 67–80.

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ihrer Förderung durch die Macht besteht, wurde auch in der Grundeinstellung zur Kulturpolitik des modernen nationalbürgerlichen Staates beibehalten, der sich aus den absolutistischen Verwaltungsstrukturen entfaltet hatte. Beim Übergang zu neuen Staatsformen wird jedoch auch die Kunst vor neue gesellschaftliche Aufgaben gestellt, die im Kontext repräsentativer Demokratien aus einem populistisch determinierten Bedarf an Legitimation resultieren. Bis heute bleibt beispielsweise der Bildungsauftrag der Kunst der bedeutendste Programmpunkt ihrer öffentlichen Legitimierung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die westeuropäische Kulturpolitik noch von einer weiteren Leitidee geprägt. In der Nachkriegszeit waren die durch den Zweiten Weltkrieg ruinierten und geschwächten Länder Westeuropas in eine militärische, ökonomische, technologische und zum Großteil auch ideologische und kulturelle Abhängigkeit von den USA geraten. Erst in den 1960er Jahren suchten sich einige Länder, vor allem Frankreich, aus dieser Abhängigkeit zu emanzipieren. Als 1959 Charles de Gaulle französischer Präsident wurde, leitete er ein Modernisierungsprogramm ein, das nicht nur die militärische und ökonomische Unabhängigkeit von den USA bezweckte, sondern Frankreich auch im Bereich der innovativen Technologien eine führende Position verschaffen sollte. Im Laufe der 1960er Jahre initiierte die französische Regierung zahlreiche Forschungsprojekte und -programme im High-Tech-Bereich. Diese Prioritätensetzung auf eine technologisch avancierte ökonomische Entwicklung des Landes wurde auch später in den 1970er Jahren von den rechts-zentristischen Regierungen sowie in den 1980er Jahren von der sozialistischen Regierung Mitterrands fortgeführt. Die allgemeine staatliche Entwicklungsagenda beeinflusste auch die Kulturpolitik, was sich unter anderem in der Gründung künstlerischer Institutionen manifestierte, die sich ebenfalls mit den neuen Technologien befassten. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist das berühmte IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique), das von Pierre Boulez nach einer Initiative und mit ausdrücklicher Unterstützung durch den damaligen Präsidenten Frankreichs, Georges Pompidou, in den 1970er Jahren in Paris errichtet wurde.27 Wenn auch in der Bundesrepublik Deutschland das Motiv „Amerika einholen und überholen!“ von den westdeutschen Politikern nie im Klartext artikuliert wurde, spielte es auf der Praxisebene für die technologische

27 Vgl. dazu G. Born: Rationalizing Culture.

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Entwicklung des Landes doch eine bedeutende Rolle. So wurden bei der Konzipierung von künstlerischen Institutionen mit einem expliziten Technologiebezug bekannte US-amerikanische Einrichtungen wie das Media Laboratory MIT in Boston, das Center for Computer Research in Music and Acoustics in Stanford sowie das Computer Audio Research Laboratory in San Diego als Vorbilder für die deutschen Gründungen genannt.28 Der wesentlichste Unterschied zum amerikanischen Kontext bestand darin, dass die meisten westeuropäischen Institutionen, die sich programmatisch mit der Techno-Kunst befassen sollten, von Anfang an als Kunstinstitutionen per se konzipiert waren, was auch eine stärkere Einbettung der europäischen Techno-Kunst in die intellektuelle Tradition der zeitgenössischen Kunst beinhaltete. Diese Tatsache manifestierte sich nicht nur in der Ideologie der Medienkunst als „Neuer Avantgarde“, „Zweiter Moderne“ etc.,29 sondern auch in der Personalpolitik der Medienkunstinstitutionen, die ihre ‚Kader‘ in erster Linie aus dem Kunstbetrieb und geisteswissenschaftlichen Umfeld rekrutierten. Diese Genealogie beinhaltete in der Geschichte der Techno- bzw. Medienkunst eine klare Alternative zur neopositivistisch geprägten Umgebung der naturwissenschaftlichen, technischen und korporativen „hi-tech research and development programs“, in der man sich prinzipiell weit stärker für praktische Möglichkeiten der Verwendung der Neuen Technologien in der künstlerischen Praxis als für rein formelle und konzeptuelle Probleme neuer Kunstformen interessierte. Der nicht nur für die konzeptionelle, sondern auch für die institutionelle Ausdifferenzierung der Medienkunst entscheidende Diskurs der „Einheit von Kunst, Wissenschaft und Technologie“ entwickelte sich somit in zwei unterschiedlichen professionellen Kontexten, die jeweils die entsprechende legitimatorische Argumentation prägten. In der geisteswissenschaftlichen Tradition lässt sich das Motiv der Kollaboration von Kunst und Wissenschaft aus diskurshistorischer Perspektive auf die Ideen der Klassiker des utopischen Sozialismus, vor allem Henri de Saint-Simons zurückführen. In seinem frühen Werk „Lettres d’un habitant

28 Vgl. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe: Konzept ’88, S. 89– 120. Mehr dazu vgl. das Kapitel „Die Entstehungsgeschichte des ZKM“. 29 Vgl. Klotz, Heinrich (Hg.): Die Zweite Moderne – Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München: Verlag C. H. Beck 1996.

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de Genève“ aus dem Jahr 1802 forderte er für Kunst und Wissenschaft eine unbeschränkte Macht, mit der die beiden Bereiche die Gesellschaft gemeinsam neu organisieren sollten. Die Künstler, so Saint-Simon, müssten in der neuen Gesellschaft gemeinsam mit den Wissenschaftlern das Zentrum der geistigen Macht bilden.30 Saint-Simons fast irrationaler Glaube an die Allmacht der Wissenschaft und wissenschaftlichen Methoden machte die Wissenschaft in seiner Utopie zu einer Art neuer Religion. Eine solchermaßen idealistische Vorstellung von der Wissenschaft, insbesondere von Seiten eines begeisterten, aufgeklärten Laien-Wissenschaftlers wie Saint-Simon, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus verbreitet. Aufgrund derartiger Vorstellungen entwickelte sich das gesellschaftliche Bild von Wissenschaft zu einem Mythos, der angesichts der wachsenden Professionalisierung wissenschaftlicher Tätigkeit immer weniger mit der Realität der naturwissenschaftlichen Praxis zu tun hatte. Die Wissenschaft als Ersatzreligion wurde zunehmend zu einem imaginären Hoffnungsträger aufgebaut, der mit der Zeit alle Probleme der Menschheit lösen sollte. Eine systematische Idealisierung der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Methoden und Arbeitsweisen ist noch bis heute im öffentlichen Diskurs zu beobachten. Paradoxerweise schlug sich diese szientistische Einstellung auch in Bereichen nieder, in denen diese am wenigsten zu erwarten gewesen wäre. Trotz der massiven Kritik am Wissenschaftsmythos – von der Frankfurter Schule bis hin zu den jüngsten Analysen des Wissenschaftsbetriebs durch die Science and Technology Studies – ist die formelle Verwissenschaftlichung vieler Disziplinen und professioneller Aktivitätsfelder, unter anderem der künstlerischen Praxis selbst, zu deren deklariertem Ziel geworden. Ein idealisiertes und mystifiziertes Bild der Naturwissenschaften, in denen angeblich alles nach klaren, logischen Regeln funktioniert, bietet gegenüber den tatsächlichen, den mikropolitischen Interessenkonstellationen ausgesetzten Funktionsprinzipien des Kunstbetriebs eine imaginäre Alternative. Der gesamte Diskurs der Zusammenarbeit von Kunst und Wis-

30 Vgl.

Сен-Симон,

Анри

де:

„Письма

жителя

Женевы

своим

современникам“, Анри де Сен-Симон: Избранные сочинения в 2-х томах [Saint-Simons, Henri de: „Briefe eines Einwohners von Genf an seine Zeitgenossen“, in: ders.: Ausgewählte Werke in 2 Bänden], Bd. 1, Moskau-Leningrad: Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1948.

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senschaft wird bis heute wesentlich von diesem utopistischen Pathos getragen, in dem das Wort „Wissenschaft“ nicht die aktuelle Praxis der wissenschaftlichen Institute bezeichnet, sondern eher die Illusion eines idealen, ‚sauberen‘ Aktivitätsraumes darstellt. Diese Illusion scheint dabei als ein klassischer ideologischer Operator zu fungieren, der die Diskursproduzenten selbst vor der einfachen Feststellung der existenziellen Notwendigkeit schützen soll, sich der aktuellen kulturpolitischen Konjunktur anzupassen.

Fallstudie: Leonardo. Journal of the International Society for the Arts, Sciences and Technology Kapitel 19

„Let x=art and y=mathematics, then the proposition: some x contains some y is easily ‚illustrated‘ by a Venn diagram. While clear enough at that level, it is far from clear just who is supposed to follow this through to the stage of a quantitative model – the expert in art, the expert in mathematics or the expert in mathematics and art, assuming that the text is a study for an ‚expert‘.“ 1 AUS DER REZENSION ZU MATHEMATICS IN ART, LEONARDO, VOL. 4, 1971

19.1 „W HAT

IS

L EONARDO ?“

Die Zeitschrift Leonardo erscheint, zunächst als International Journal of the Contemporary Artist, seit 1968. Frank J. Malina, Gründer und Herausgeber der Zeitschrift, war ein US-amerikanischer Ingenieurwissenschaftler und Aeronautik-Forscher, der sich nach dem Ende seiner akademischen

1

Aus der Rezension von Anthony Hill zu dem Buch „Mathematics in Art“ von Michael Holt (New York: Van Nostrand Reinhold Co. 1971), vgl. Hill, Anthony: „Mathematics in Art“, in: Leonardo, Bd. 4 (1971), S. 395–397, hier S. 395.

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Karriere bei der UNESCO in Paris als Leiter der Abteilung für Wissenschaftsforschung engagierte und zu einem enthusiastischen Propagandisten der Kinetic Art wurde.2 Nach Malinas Tod übernahm 1981 sein Sohn, der Astrophysiker Roger Malina, die Herausgabe der Zeitschrift, die damit von Paris nach Kalifornien umzog, wo Roger Malina an der Berkeley University arbeitete. 1982 wurde mit Unterstützung der Gründungs- und Vorstandsmitglieder Frank Oppenheimer und Robert Maxwell die „International Society for the Arts, Sciences and Technology“ (Leonardo/ISAST) gegründet. Neben der Herausgabe der Zeitschrift wurden die Aktivitäten der neuen Gesellschaft durch die Organisation von thematisch auf die Interaktion von „Arts, Sciences and Technology“ ausgerichteten Konferenzen sowie von Symposien, Festivals, Vorlesungsreihen und Kunstpreisen erweitert. 1993 bekam die Zeitschrift mit der MIT Press einen neuen Herausgeber.3 Heute ist Leonardo aus organisationstechnischer Perspektive ein komplexer institutioneller Körper, der aus verschiedenen und eher formell miteinander verbundenen Organen besteht. Auf die Frage „What is Leonardo?“ findet sich auf der offiziellen Leonardo/ISAST Webseite folgende Antwort: „Leonardo is many things – first, it is the name of the Journal of the International Society for the Arts, Sciences and Technology (ISAST), which focuses on artists working with science- and technology-based media and which has been in publication for over 40 years. Leonardo is also a trademark of the not-for-profit organization of the International Society for the Arts, Sciences and Technology, and so is used in conjunction with all of our projects, including Leonardo Music Journal, our web site Leonardo On-Line, the web journal Leonardo Electronic Almanac, the Leonardo Book Series, the French Leonardo web site OLATS and the Leonardo Network, an international group of collaborating individuals and organizations with common goals and interests. Join and enjoy the benefits of becoming part of this dynamic community.“4

2

Vgl. die Biografie Malinas auf https://www.leonardo.info/about-frank-malina [letzter Zugriff: 15.04.2017].

3

Die bis 1971 englisch-französisch bilinguale Zeitschrift wurde ursprünglich vom britischen Verlag Pergamon Press herausgegeben.

4

http://www.leonardo.info/isast/faq.html [letzter Zugriff: 15.04.2017].

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Wie jedes ordnungsgemäß aufgebaute und „well-managed enterprise“ im heutigen US-akademischen Bereich, das nach dem globalisierten Muster des business-as-usual organisiert ist, positioniert sich auch die Zeitschrift Leonardo möglichst flächendeckend und wirbt neue Mitglieder nicht nur durch das Angebot inhaltlichen Erkenntnisgewinns und der Entwicklung kollegialer Netzwerke: „Our Mission: The critical challenges of the 21st century require mobilization and cross-fertilization among the domains of art, science and technology. Leonardo/ISAST fosters collaborative explorations both nationally and internationally by facilitating interdisciplinary projects and documenting and disseminating information about interdisciplinary practice. Vision Statement: Leonardo creates opportunities for the powerful exchange of ideas between practitioners in art, science and technology. Through publications, initiatives and public forums, Leonardo/ISAST facilitates cross-disciplinary research in these fields, seeking to catalyze fruitful solutions for the challenges of the 21st century. Among the challenges requiring cross-disciplinary approaches are establishing sustainable environmental practices, spreading global scientific and artistic literacy, creating technological equity, and encouraging freedom of thought and imagination. By enhancing communication between scientists, artists, and engineers, Leonardo supports experimental projects and interacts with established institutions of art and science to transform their research and educational practices.“5

Leonardo führt auch ganz pragmatische Gründe an, das Projekt zu unterstützen und dadurch einen Image-Gewinn zu erzielen: „Leonardo/ISAST is a 501(c)(3) non-profit organization. The activities of Leonardo/ISAST are supported by grants and donations from organizations and individuals. Donations are tax-deductible in the U.S.“6 Mit einer gewissen Regelmäßigkeit werden im Leonardo Journal Danksagungen an private und institutionelle Unterstützer sowie eine Auflistung der gespendeten Summen mit den Namen der jeweiligen Spender publiziert, mit dem Hinweis, dass deren Unterstützung für die Zeitschrift essentiell sei. Für diejenigen, denen weniger am Image-Gewinn liegt, werden andere, pragmatische „Benefits of Membership“ in Aussicht gestellt: „Benefits include reduced rates for Leonar-

5

http://www.leonardo.info/isast/isastinfo.html [letzter Zugriff: 15.04.2017].

6

Ibid.

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do/ISAST publications, eligibility to participate in Leonardo working groups and special invitations to Leonardo sponsored events.“7 Im Großen und Ganzen ist Leonardo/ISAST durch das systemtypische Event- und Publikationsmanagement – regelmäßige Konferenzen, Workshops, Publikationsreihen etc. – in die Organisationsstrukturen des akademischen Betriebs gut integriert und arbeitet mit institutionellen Partnern wie MIT Press, College Art Association, verschiedenen Universitäten und Stiftungen sowie Festivals etc. zusammen. Seit ihrer Gründung 1968 entwickelte sich die Zeitschrift Leonardo zu einer der wichtigsten institutionellen Adressen der Produktion und Verbreitung des Diskurses der „Art-Science Collaboration“. In seinen Inhalten bleibt Leonardo dem ursprünglichen Konzept seines Gründers treu: Es ist eine Zeitschrift, in der Künstler, die sich in ihrer künstlerischen Praxis mit bestimmten wissenschaftlichen Themen und Methoden oder mit technologischen Neuerungen beschäftigen, ihre Ideen, Projekte und Erfahrungen präsentieren und austauschen können. Sowohl in den publizierten Materialien als auch im Hinblick auf die Politik der Zeitschrift sind jedoch gewisse feine Unterschiede zu beobachten, die den Wandel der Ideologie der „Art-Science Collaboration“ in den letzten fünfzig Jahren deutlich widerspiegeln. Diese Unterschiede lassen sich anhand der Geschichte des Leonardo-Projektes mit ihren Zäsuren anschaulich verfolgen.

19.2 „V ON K ÜNSTLER ZU K ÜNSTLER “. P EER - TO PEER -R OMANTIK DER G RÜNDUNGSPHASE Die erste Ausgabe von Leonardo: International Journal of the Contemporary Artist vom Januar 1968 wurde durch das folgende Zitat von Leonardo da Vinci eingeleitet: „I am fully conscious that, not being a literary man, certain presumptuous persons will think that they may reasonably blame me; alleging that I am not a man of letters. Foolish folks! Do they not know that I might retort as Marius did to the Roman

7

Leonardo, Bd. 44, Nr. 1 (2011), S. 96.

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Patricians by saying: that they, who deck themselves out in the labours of others will not allow me my own. They will say that I, having no literary skill, cannot properly express that which I desire to treat of; but they do not know that my subjects are to be dealt with by experience rather than by words; and (experience) has been the mistress of those who wrote well. And so, as mistress, I will cite her in all cases.“8

Die Wahl dieses Fragments als Epigraph, oder wie es in der Zeitschrift hieß, als „Introduction“, weist nicht nur darauf hin, was der Gründer der Zeitschrift Frank J. Malina mit diesem Projekt bezwecken wollte, sondern auch darauf, wie er sich selbst in der für ihn neuen Künstlerrolle empfand. Seit Anfang der 1950er Jahre interessierte sich Malina für Kinetic Art und beschäftigte sich insbesondere mit der Kinetic Painting-Technik.9 Sein Umgang mit der Kinetic Art war dabei überwiegend praktischhandwerklich orientiert und von seinem beruflichen ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund geprägt. In erster Linie suchte Malina als Künstler konkrete Lösungen für konkrete technische Probleme, die bei der Realisierung seiner künstlerischen Ideen auftauchten und entwickelte hierfür optimale technische Knowhows.10 Die für die zeitgenössische Kunst typischen konzeptionellen oder formal-ästhetischen Fragen standen für Malina – zumindest in seinen Texten – nicht im Vordergrund. Die Figur des Künstler-Machers, des Künstler-Handwerkers Leonardo da Vinci, der sich der Arroganz der Gelehrten-Theoretiker seiner Zeit, d.h.

8

Seit der dritten Leonardo-Nummer wurde das Zitat mit der Anmerkung versehen: „Reprinted with permission from The Literary works of Leonardo da Vinci, Jean Paul Richter, 2nd ed., p. 116, Oxford University Press (1939)“.

9

Vgl. Malina, Frank J.: „Kinetic Painting: The Lumidyne System“, in: Leonardo, Bd. 1, Nr. 1 (1968), S. 25–33.

10 Vgl. ibid.: „The paper discusses briefly kinetic painting systems that have been devised for producing a pictorial composition on a translucent flat surface that changes with time without resorting to the projection of light through film in a darkened room. The Lumidyne system developed by the author in 1956 is described in detail. Basic principles of its design, together with variations of the system, are given as well as the method of painting used by the author. Examples of several works are shown. [...] The author concludes that the Lumidyne system, after ten years of experience with it, is a practical, controllable and economical artistic medium“ (Abstract).

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in heutiger Sprache des offiziellen Kunst-Expertentums, entgegenstellte, bot sich für Malinas Selbstpositionierung in der Kunstwelt als Vorbild an. Sein Pathos, als Macher-Praktiker den kunsthandwerkfernen „man of letters“-Theoretikern entgegenzutreten, erweist sich in der Frühphase des Leonardo-Projekts als bedeutende Triebkraft: Die Gründung der Zeitschrift stellte unter anderem auch – bewusst oder nicht – den Versuch dar, innerhalb des Kunstsystems eine Machtposition zu gewinnen, in welchem sich Malina als Laie und Quereinsteiger mit seinem faktischen Status als Hobby-Künstler abfinden musste. In der Einleitung zur ersten Ausgabe „Aims and Scope of Leonardo“ erläutert Malina ausführlich seine eigene Wahrnehmung dieses Problems sowie die grundlegenden Zielsetzungen der Zeitschrift: „Although visual or plastic fine art is one of the oldest fields of human endeavor, there are no journals of international origin that are by and for the artists themselves. There are numerous journals for aestheticians, for historians of art and for the general public. This situation, as regards the failure of artists to write on aspects of their own work, is partly due to the highly individual character of artistic expression, but also because a strong opinion has held sway that artists should leave verbal description and analysis of their works to other professions. When we look at the basic and applied sciences we find that workers in these fields, who are no more skilled than artists with the written word, are expected to write about original aspects of their work. These writings are of benefit to their colleagues, and help to expand and to improve man’s understanding of nature and to advance the use of this understanding for man’s purposes.“11

Malinas Vorhaben war es, eine neuartige Kunstzeitschrift zu gestalten, und zwar nach dem Modell einer akademischen naturwissenschaftlichen Zeitschrift: von Künstlern für Künstler, um praktische Erfahrungen, technische Kenntnisse, handwerkliche Knowhows und Technologien mit Kollegen auszutauschen und auf diese Weise bei der Realisierung künstlerischer Vorhaben eventuelle Zeitverluste zu vermeiden sowie die damit suggerierte Effizienz des künstlerischen Schaffens zu erhöhen: „Needless re-discovery and repetition of errors can only be minimized by the free disclosure and

11 Malina, Frank J.: „Aims and Scope of Leonardo“, in: Leonardo, Bd. 1, Nr. 1 (1968), S. 1–2, hier S. 1.

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exchange of information and experience gained by the practitioners of art and of science.“12 Dahinter verbarg sich ein recht ungewöhnliches Verständnis von Kunst, das aus der Sicht der „men of letters“ geradezu erbarmungslos naiv erscheinen mochte und genauso erbarmungslos den Einbruch der neuen pragmatischen Ideologie in die künstlerische Praxis ankündigte. Es ist kaum vorstellbar, dass Marcel Duchamp seinen Kollegen ernsthaft praktische Ratschläge erteilt hätte, wie das passendste Pissoir auszuwählen wäre oder welches Rad sich am besten an einem Stuhl anschrauben ließe. Malina versuchte hingegen, seine Erfahrungen mit der von ihm entwickelten Technologie des Lumidyne Systems mit anderen Künstlern zu teilen, um die eigenen Herangehensweisen sowie die künstlerische Praxis an sich zu optimieren und zu rationalisieren. Diese Einstellung, welche die gesamte Ideologie der modernen Kunst beneidenswert unbekümmert ignorierte, birgt in sich etwas Vormodernes und, paradoxerweise, zugleich etwas ‚Industriell-Kapitalistisches‘: Etwas Vormodernes insofern, als sie in ihren epistemischen Grundannahmen – im Sinne Foucaults – von einer vormodernen Nicht-Differenzierbarkeit von „Art, Science & Technology“ ausging, in der die Kunst noch ein Handwerk wie jedes andere war; etwas ‚Industriell-Kapitalistisches‘, weil der künstlerische Prozess durch technische Innovationen und Rationalisierungsmethoden ‚optimiert‘ werden sollte. Frank Malina agierte in diesem Sinne als ein romantischer old schoolWissenschaftler, der in seinem Tun durch die eigene Neugier sowie durch den Geist der Aufklärung weit mehr als durch Karriere- und Geschäftsinteressen getrieben wurde. Sozialhistorisch gesehen gehörte Malina noch zur Generation jener Naturwissenschaftler, die in einer bürgerlichen Ideologie der Aufklärung mit Respekt vor kultureller Bildung sozialisiert wurden. Sie hatten in der Regel eine klassische gymnasiale Ausbildung genossen und ihre Freizeit mit Aktivitäten musischer Natur gestaltet. Diese generationsspezifischen Faktoren lassen, trotz ihres scheinbar vulgärsoziologischen Beigeschmacks, bestimmte Merkmale der ideologischen Einstellung des Leonardo-Gründers und somit auch seiner Zeitschrift besser verstehen. In vergleichbarer Weise erklärt sich auch die Struktur und der Stil der Leonardo-Zeitschrift durch Malinas professionellen naturwissenschaftlichen Hintergrund.

12 Ibid.

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Die inhaltliche Gestaltung der Leonardo-Zeitschrift ist ganz offensichtlich dem Vorbild naturwissenschaftlicher Periodika zu verdanken: Die eingereichten Artikel werden mithilfe einer „peer-to-peer review procedure“ ausgewertet; sie müssen durch „abstracts“ begleitet sein; es werden neue, thematisch relevante Bucherscheinungen rezensiert und Leserbriefe zu den veröffentlichten Artikeln publiziert und so weiter. In seiner Einleitung zur ersten Ausgabe betonte Malina ausdrücklich die programmatische „peer-to-peer“-Haltung der Zeitschrift und ihre prinzipielle inhaltliche Offenheit: „Leonardo is intended to be primarily a channel of communication between artists. The editors of the journal will consider for publication manuscripts by artists from any country dealing with their work in any branch of visual fine art [...]. Each issue of Leonardo will have invited articles reviewing new developments in the fine arts; on new materials and scientific techniques of possible use to artists; or on subjects in the fields of physics, psychology, cinema, theatre, aesthetics, philosophy, architecture, etc.“13

Von großer Bedeutung war für ihn auch der internationale Charakter der Zeitschrift, die einen weltweiten Einfluss der Kunst auf die Menschheit belegen sollte: „The editors and the publisher of Leonardo wish to emphasise the international character of the journal. It will reflect the developing world-wide impact of contemporary works of art on mankind on a planet made small by modern means of communication and transportation, and where the diversity of community life is being given a unifying basis by the universality of scientific and technological achievements.“14

Auch wenn die Frage offen bleibt, ob es sich in dieser Passage um den ehrlichen Glauben Malinas an die wundersame Wirkung der Kunst auf die Entwicklung der Menschheit handelt oder nur um eine genrespezifische Einleitungsrhetorik, tritt hier doch die szientistische Grundeinstellung der Zeitschrift zutage.

13 Ibid., S. 1–2. 14 Ibid.

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Das Programm einer faktischen Verwissenschaftlichung der Kunst zeigte sich auch in einigen weiteren inhaltlichen Innovationen des Leonardo Journals. So wurde, für eine Kunstzeitschrift äußerst ungewöhnlich, eine Terminologie-Sektion eingeführt, in der die verwendeten Begrifflichkeiten erläutert wurden. In der ersten Ausgabe wurden z.B. Definitionen von „visual or plastic fine art“ publiziert, die entweder aus den verschiedenen Wörterbüchern und Enzyklopädien wie der Encyclopaedia Britannica, aus dem Webster, dem Pergamon Dictionary of Art u.ä. stammten oder von den Autoren der Zeitschrift sowie von Mitgliedern des Editorial Advisory Board etc. verfasst wurden. Sehr bezeichnend ist die Definition von Kunst, wie sie Malina selbst formuliert: „the discipline that has purpose, by means of artifacts, of stimulating human emotions, and of deepening emotional perception of selected portions of man’s environment“.15 Diese Auffassung von Kunst als eine auf eine emotionsstimulierende Funktion reduzierte Disziplin verwies, ähnlich wie die Ausführungen seiner Leonardo-Kollegen, was ihr Verständnis von Kunst anbetraf,16 auf einen eher marginalen Platz der Leonardo-Zeitschrift in der kunsttheoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts. Dennoch hat diese konzeptionelle Marginalität die Zeitschrift nicht daran gehindert, in der Folgezeit in der institutionellen Medienkunstszene faktisch eine Machtposition zu erringen. Der Einfluss akademischer wissenschaftlicher Zeitschriften zeigte sich auch in der Sektion „International Opportunities for Artists“, in der aktuelle Stipendienausschreibungen, Studienprogramme, Preise sowie weitere Förderungsmöglichkeiten für bildende Künstler weltweit verzeichnet wurden. In den weiteren Ausgaben gewann Leonardo ein immer deutlicheres Profil. Den inhaltlichen Kern einer jeden neuen Ausgabe der Zeitschrift stellte die Sektion „Articles by Artists“ dar. Diese enthielt Beschreibungen der künstlerischen Projekte von den Künstlern selbst sowie deren „Artistic Statements“ und Theoretisierungen der eigenen Werke und verschiedener kunstund wissenschaftsbezogener Themen. Die Sektion könnte durchaus als „My

15 Ibid., S. 86. 16 Vgl. ebd.: „a spiritual activity committing body and spirit together“, „the discipline which makes visual formulations“, „the activity whose aim is to create objects which are suitable to act only through their sensora aspect“ und so weiter.

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Art“ bezeichnet werden, da viele Artikel Titel wie „On my paintings and collage sculptures“, „On my work with verbal-visual puns and assemblages“, „On literality in my drawings“ trugen. In diesem Zusammenhang bietet die Sektion „Articles by Artists“ eine unschätzbare Sammlung von Zeitdokumenten, die nicht nur zahlreiche Wege jenseits der kanonischen Kunstgeschichte aufzeigen, sondern auch demonstrieren, was in Anlehnung an Frederik Jamesons Konzept des „political unconsciousness“ als „artistic unconsiousness“ bezeichnet werden könnte. Diese unzensierten, durch den peer-to-peer review-Filter durchgelassenen und aus heutiger Sicht oft naiv scheinenden Überlegungen zu unterschiedlichsten kunsttheoretischen und wissenschaftlichen Fragen bieten ein einzigartiges Material zur Erforschung der Geschichte des Paradigmas der „Art-Science Collaboration“ als einer „diskursiven Formation“. Eine weitere, mit „General Articles“ betitelte Sektion sowie die darauf folgenden „Notes“ präsentierten eine inhaltlich und konzeptionell bunte Mischung von – zumindest der Form und dem Stil nach – wissenschaftlichen Artikeln zu unterschiedlichen Themen und Disziplinen. Sie reichten von gewissermaßen kunstbezogenen natur- und computerwissenschaftlichen Beiträgen bis hin zu konventionellen kunsthistorischen Studien. Gleichzeitig enthielten diese beiden Sektionen zum Teil eher marginale para- und pseudowissenschaftliche Abhandlungen graphomanischer Natur, die vor allem aus kultur- und sozialgeschichtlicher Perspektive interessant sind. Die von Physikprofessoren verschiedener Universitäten der ganzen Welt verfassten zahlreichen Traktate „On creativity“ sowie Meditationen zum Thema struktureller und sonstiger Verwandtschaft von Kunst und Wissenschaft fanden sich schon in den 1960er und 1970er Jahren in fast jeder Ausgabe des Leonardo. Ab dem vierten Band (1971) erschien die Liaison „Art & Science“ als Untertitel der Zeitschrift. Auf den Seiten der Leonardo-Zeitschrift finden sich regelmäßig auch Artikel wie „The Mechanics of Creativity of a Painter“ oder „Creativity in Technology and the Arts“.17 Einen guten Eindruck vom inhaltlichen Spek-

17 Symptomatisch für derartige Artikel sind Statements wie: „In this larger sense, creativity in technology and creativity in the arts are but different manifestations of invention“, vgl. Coler, Myron A.: „Creativity in Technology and the Arts“, in: Leonardo, Bd. 1, Nr. 3 (1968), S. 265.

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trum der Beiträge vermitteln allein schon die Titel der publizierten Artikel. So enthält der dritte Band von 1970 folgende Aufsätze: „My Plexiglas and Light Sculptures“, „Dance in My Sculpture“, „My Geometrical Painting“, „Imagery, Light and Motion in My Sculptures“ etc.; mit wissenschaftlichtheoretischem Anspruch: „The Aesthetic Potential of the Sensory Modes“, „Art, Aesthetics, and Physics: The Contribution of Physics to Modern Art“, „On the Rhetoric of Vision“, „Visual Dialogue through ‚Conversational‘ Drawings“, „The Shape of Things Seen: The Interpretation of Form in Biology“, „Polymorphism in Painting through the Use of a Labyrinth“ und so weiter. Fünf Jahre später bot der neunte Band von 1976 Beiträge wie: „Painting: The Impact of Astronautics and Science Fiction on My Work“, „A Mathematical Approach to Nonfigurative Modular Pictures“, „On Conditions for Creativity and Innovation“, „Kalcinat Prints and Relief Sculpture from Lame-treated Plastic Sheet“, „An Approach to Teaching Visual Fine Art to Engineers“, „Examples of the Microscopic World through the Scanning Electron Microscope“, „A Code for Representing the Occidental Musical Notation in Pictorial Art“, „Characteristic of Ideas: A Triangle of Their Interactions“ und viele andere. Eine solche inhaltliche Heterogenität und thematische Buntheit der publizierten Artikel macht Leonardo zu einer Art Ansammlung von Kuriositäten und Marginalien, die aus einer historischen wissenssoziologischen Perspektive von höchstem Interesse sind. Das Niveau mancher der publizierten ‚wissenschaftlichen‘ Artikel vermittelt den Eindruck einer außerordentlichen Offenheit und extremen Toleranz der Redaktion gegenüber der inhaltlichen Qualität der eingereichten Materialien. Eine derartige Redaktionspolitik scheint der Popularität der Zeitschrift jedoch nicht geschadet zu haben, da gerade die Chance, Produkte der eigenen künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Tätigkeit unzensiert öffentlich darstellen zu können, für die meisten Autoren von größter Bedeutung war. Während den Wissenschaftlern ein breites und etabliertes Netzwerk akademischer Zeitschriften zur Verfügung stand, hatten die Künstler im System der Kunstperiodika weitaus weniger Möglichkeiten, das eigene künstlerische Dasein sowie eigene Überlegungen zu verschiedensten Themen ohne die Vermittlung durch Kunsthistoriker, Kritiker etc. präsentieren zu können. In dieser Hinsicht dienten Publikationen in einer internationalen Zeitschrift dem für den modernen Künstler unverzichtbaren

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Zweck der self-promotion sogar effektiver als die gewöhnliche und mit Blick auf die erreichte Öffentlichkeit oft lokal begrenzte Ausstellungsaktivität.

19.3 L EONARDOS „N EW B EGINNING “ Die Politik der Zeitschrift als einer Schaubühne der Diversität künstlerischer und wissenschaftlicher Inhalte und Ansätze blieb bis zum Beginn der 1980er Jahre ohne große Veränderungen. Nach dem Tod Frank J. Malinas im Jahre 1981 und der Übernahme der Chefredaktion durch seinen Sohn Roger Malina erfolgten 1983 in der Organisation der redaktionellen Arbeit einige strukturelle Änderungen. Zunächst wurde die International Society for the Arts, Sciences and Technology (ISAST) gegründet. „Leonardo is now the official Journal of the ISAST“, hieß es in der redaktionellen Einleitung zur ersten Ausgabe der reformierten Zeitschrift.18 Außerdem zog das Redaktionsbüro von Paris nach Kalifornien um.19 Darüber hinaus wurden programmatische Änderungen der Agenda angekündigt, die eine in der Tat bereits stattgefundene mediale Diversifizierung der künstlerischen Praxen widerspiegelten: „[...] we will expand the scope of the Journal to match the broader needs of contemporary artists and the science/technology community affiliated with the arts. We will increasingly address – while continuing to focus on the visual arts – various forms of contemporary artistic expression. These forms include music, media, performance, language, environmental and conceptual arts – especially as they relate to the visual arts, or interact significantly with tools, materials and ideas of contemporary science and technology. […] Believing that the need for Leonardo is more critical than ever, we intend to produce a journal with increasing relevance for the contemporary art community. In

18 Editorial „Leonardo: A New Beginning“, in: Leonardo, Bd. 16, Nr. 1 (1983), S. i. 19 Vgl. ebd.: „The Art Department at the San Francisco State University has generously provided a new editorial home base, which promises to be a supportive environment.“

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many ways analysis was the paradigm of the preceding epoch; however, we believe that our era demands synthesis – searching for common threads in the artistic, scientific and technological aspects of our fragmented cultural fabric.“20

Die vorhandene Struktur der Leonardo-Zeitschrift wurde im Wesentlichen beibehalten und zum Teil durch neue Sektionen erweitert (z.B. „Historical Perspectives on the Arts, Sciences and Technology“). Die Glossar-Sektion wurde dagegen endgültig aufgehoben. Die redaktionellen Richtlinien sollten nach dem angekündigten Neubeginn jedoch deutlicher werden. Jede neue Ausgabe begann nun mit einem „Editorial“, in dem ein thematisches oder konzeptionelles Statement der Redaktion oder eines der Redaktionsmitglieder publiziert wurde. Immer öfter folgte Leonardo der in der Kunstperiodik üblichen Praxis von Themenheften, für die auch Gastredakteure eingeladen wurden. Der Umzug der Redaktion in die USA stellte die Zeitschrift vor neue finanzielle Herausforderungen. In der mit „Economic Aspects of Leonardo“ betitelten redaktionellen Einleitung zur 4. Ausgabe im Jahr 1983 (Band 16) betonte Bryan Rogers, eines der Redaktionsmitglieder, die Abhängigkeit der Zeitschrift von der Unterstützung durch „institutional benefactors“ wie die Pergamon Press Ltd., San Francisco State University, das U.S. National Endowment for the Arts sowie die Apple Computer, Inc. Dabei unterstrich er auch die Rolle der individuellen „contributors“, die hauptsächlich ehrenamtlich für die Zeitschrift arbeiteten.21 Rogers beschreibt Leonardo als ein Hybrid aus einer teils wissenschaftlichen Zeitschrift, teils populären Kunstzeitschrift („part scholarly journal, part popular art magazine“). Gerade in dieser Hybridität sieht er die größte Schwierigkeit für die wirtschaftliche Existenz der Zeitschrift. Dieses Dazwischen-Sein hindere Leonardo daran, Vermarktungsstrategien einzusetzen, die entweder für wissenschaftliche Zeitschriften oder in der populären Kunstperiodik üblich seien. Eine finanzielle Unterstützung seitens der traditionellen kulturpolitischen Spieler hielt er in den USA für problematisch:

20 Ibid. 21 „Most of the editorial staff, editorial board, manuscript and book reviewers, and international co-editors serve without pay“, vgl. Rogers, Bryan: „Economic Aspects of Leonardo“, in: Leonardo, Bd. 16, Nr. 4 (1983), S. 257–258, hier S. 257.

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„support of the arts – at all levels of government – is weak compared with state support in other industrialized countries. Consequently, competition is keen for the limited funds that are available. The limited funds offered by private foundations also heighten rivalry.“22

Eine Lösung der finanziellen Probleme sah Rogers zunächst in der erstrebten Erweiterung der Zahl der Subskribenten, die jedoch nur durch eine wachsende Popularität der Zeitschrift allmählich möglich wäre. Ideen, wie dies zu erreichen sei, bat er die Leser der Redaktion mitzuteilen. Ein redaktioneller Gestus dieser Art belegt die Ernsthaftigkeit der finanziellen Probleme der Zeitschrift sowie die Notwendigkeit, sich in diesem neuen wirtschaftlichen Kontext zu profilieren. Die neuesten technologischen Entwicklungen der 1980er Jahre und die Verbreitung der Neuen Medien trugen wesentlich zu einer weiteren Etablierung Leonardos bei. Die Verwendung von Computertechnologien in der künstlerischen Praxis nahm erheblich zu und die technologiebasierte Kunst spielte im allgemeinen Kunstkontext der 1980er Jahre eine völlig andere Rolle als Kinetic Art oder Cybernetic Art in den 1960er oder 1970er Jahren. Es fanden immer mehr Ausstellungen statt, die technologiebasierte Kunst präsentierten und eine größere Kunstöffentlichkeit erreichten. Hier seien nur einige bekannte Beispiele angeführt: Im Jahr 1983 wurde im Musée d’art moderne de la ville de Paris die Ausstellung „Electra: Electricity and Electronics in the Art of the XXth Century“ organisiert, 1984 folgte in Bonn „Kunst und Technologie: Aufbruch in neue Wirklichkeiten“. 1985 wurde im Centre Georges Pompidou die berühmte, durch Lyotard mit kuratierte Ausstellung „Les immatériaux“ gezeigt und 1986 widmete sich auch die 42. Biennale in Venedig dem Thema „Art and Science“. Parallel dazu wurden zahlreiche weitere Institutionen gegründet, die sich programmatisch mit der technologiebasierten Kunst befassten, wie z.B. die Ars Electronica: Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft sowie viele andere. Die künstlerische Produktion, die sich der neuen Medien und Technologien strategisch bediente, geriet aus der Peripherie in das Zentrum des internationalen Kunstprozesses. Dementsprechend wuchs auch der Bedarf nach ihrer Konzeptualisierung und theoretischen Aufarbeitung. Gleichzeitig zeigten Computer- und Software-Firmen zunehmend aktiv ihre Bereit-

22 Ibid., S. 258.

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schaft, als Sponsoren derartiger Kunstprojekte, Veranstaltungen und Institutionen zu agieren. Der Zeitraum von der Mitte der 1980er bis zum Ende der 1990er Jahre wurde daher auch in inhaltlicher Hinsicht zur Sternstunde der Leonardo-Zeitschrift, die sich als eine der ersten periodischen Organe mit dieser Problematik programmatisch befasste und diesen Prozess vor allem aus der Perspektive der Künstler dokumentierte.

19.4 „ART S CIENCE “

ALS

T RADEMARK

In ihrer der Rentabilität unterworfenen redaktionellen Politik erwies sich Leonardo in den letzten beiden Jahrzehnten als ein gut funktionierender „Trend-Registrator“, der sich stets als ein „Trend-Setter“ zu positionieren suchte. Die publizierten Artikel spiegeln die komplexe dynamische Wechselwirkung zwischen der institutionellen thematischen Nachfrage und dem individuellen Angebot der Autoren wider, ungeachtet dessen, ob dieses Angebot durch die Antizipation der Nachfrage beeinflusst ist oder nicht. Die Artikel manifestieren nicht nur die jeweiligen Künstler- oder Forschungspositionen, sondern auch die strategischen Selbstpositionierungen der Autoren in ihren jeweiligen Themenbereichen und Aktivitätsfeldern. Im Spannungsfeld zwischen all diesen individuellen und institutionellen Interessen, Nachfragen, Nachfrageantizipationen und Selbstpositionierungsstrategien formieren sich thematische Trends und Entwicklungstendenzen, die bei Erreichen einer kritischen Masse zu einem Paradigmenwechsel führen können. Dies zeigt sich am deutlichsten in quantitativer Hinsicht, indem bestimmte Themen und Begrifflichkeiten immer seltener ihren Platz auf den Zeitschriftseiten fanden und durch andere, ‚aktuellere‘ oder ‚relevantere‘ Themen und Begriffe ersetzt wurden. Wenn man die Veröffentlichungen in der Leonardo-Zeitschrift in den letzten fünfzehn Jahren aus dieser Perspektive betrachtet, offenbart sich folgende Tendenz: Aufsätze, die sich mit diversen praktischen und theoretischen Aspekten der „New Media Art“ befassen, verlieren allmählich jene ‚hegemoniale‘ Stellung, die noch bis zur Mitte der nuller Jahre in den Publikationen der Zeitschrift zu beobachten war. Anstelle von Medienkunst-bezogenen Abhandlungen erscheint immer häufiger die Themen „Art-Science Interaction“ und „Artistic Research“.

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Allein im Jahre 2011 wurden zwei Ausgaben der Vierteljahresschrift Leonardo durch die programmatischen Editorials „Alt.Art-Sci: We Need New Ways of Linking Arts and Sciences“23 und „ArtScience: Integrative Collaboration to Create a Sustainable Future“24 eingeleitet. Dementsprechend fielen in den Leonardo-Ausgaben der letzten Jahre auch die Themen der einzelnen publizierten Artikel, der „Special Sections“ und der angekündigten „Calls for Papers“ aus: „The ArtScience Programm for Realizing Human Potential“,25 „Nanotechnology, Nanoscale Science and Art“, „ArtScience: The Essential Connection“ und viele andere. In inhaltlicher Hinsicht gehen jedoch viele von diesen Veröffentlichungen kaum über eine proklamativ-enthusiastische Rhetorik hinaus, die in der Lage wäre, eine gehaltvolle Vorstellung über den Sinn und das Wesen der propagierten Interaktion oder sogar „Integration“ von Kunst und Wissenschaft zu vermitteln. So schreiben beispielsweise Bob Root-Bernstein, Todd Siler, Adam Brown und Kenneth Shelson in ihrem für den gesamten Trend rhetorisch und konzeptionell durchaus repräsentativen „ArtScience Manifesto“: „14. The vision of ArtScience is the re-humanisation of all knowledge. 15. The mission of ArtScience is the re-integration of all knowledge. 16. The goal of ArtScience is to cultivate a New Renaissance. 17. The objective of ArtScience is to inspire open-mindedness, curiosity, creativity, imagination, critical thinking and problem solving through innovation and collaboration!“26

In einer der folgenden Ausgaben von Leonardo führt Todd Siler, einer der Autoren dieses Manifesto, der sich als „visual artist, author, inventor, consultant“ präsentiert, den Begriff der „ArtScience“ ein. Er lässt diesen sogar als Trademark registrieren und grenzt ihn ab von anderen Bezeichnungen

23 Vgl. Leonardo, Bd. 44, Nr. 1 (2011). 24 Vgl. Leonardo, Bd. 44, Nr. 3 (2011). 25 Siler, Todd: „The ArtScience Program for Realizing Human Potential“, in: Leonardo, Bd. 44, Nr. 5 (2011), S. 417–424. 26 Root-Bernstein, Bob/Siler, Todd/Brown, Adam/Snelson, Kenneth: „ArtScience: Integrative Collaboration to Create a Sustainable Future“, in: Leonardo, Bd. 44, Nr. 3 (2011), S. 192.

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wie „Art and Science“, „Art-Science“, „Sci-Art“, „Art-Science-Technology“ und ähnlichen Kombinationen.27 Denn, so Siler, „the ArtScience process emphasizes integrative thinking, whereas ‚Art and Science‘ deals with interdisciplinary thinking“.28 Der gesamte Artikel zielt letzten Endes darauf ab, für das von Siler entwickelte „ArtScience Program“ zu werben und dies institutionell langfristiger anzudocken. Das Wesen und die Zielsetzung des Programms fasst Siler folgendermaßen zusammen: „Established in 1994, the ArtScience Program integrates the arts and sciences, applying their methods of creative inquiry, critical thinking, real-world problem solving and collaboration skills for meeting today’s challenges. Using arts-based learning tools and facilitated hands-on workshops, individuals learn to make and explore symbolic models through Metaphorming. This process connects and transforms information in personally meaningful, purposeful and useful ways. The symbolic models serve as a global common language to help improve communication by fostering understanding.“29

Dass sich hinter dieser Rhetorik der Problemlösung und dem Angebot einer globalen gemeinsamen Sprache konkrete praktisch-handwerklich basierte Lernmethoden verbergen, lässt sich unschwer erkennen. Die Begriffe „Kunst“ und „Wissenschaft“ werden in derartigen Aufsätzen zu dem Zweck eingesetzt, heterogene Grenz-Praktiken und -Produktionen in der Kunst oder im Design zu rechtfertigen und in der vorgegebenen disziplinärinstitutionellen Landschaft zu positionieren. Die Auseinandersetzung mit der Problematik von „Art-Science“ entpuppt sich dabei in zahlreichen Leonardo-Artikeln der letzten Jahre als eine vergleichsweise oberflächliche Anbindung der traditionellen kunsthistorischen und praktischen Fragestellungen sowie Probleme der technologiebasierten künstlerischen Praktiken an das Thema, das von der Zeitschrift jeweils gerade ausdrücklich nachgefragt wird.30 Eine derartige dekorative

27 „ArtScience® is a federally registered trademark of Todd Siler“, vgl. T. Siler, „The ArtScience Program for Realizing Human Potential“, S. 424. 28 Ibid., S. 418. 29 Ibid., S. 417. 30 Vgl. z.B. die Aufsätze: Dacamous, Gabriell: „Nuclear Activities and Modern Catastrophes: Art Faces the Radioactive Waves“, in: Leonardo, Bd. 44, Nr. 2

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Einfügung der „Art-Science“-Problematik in manche der LeonardoAufsätze erinnert häufig an die obligatorischen Marx- und Lenin-Zitate in der sowjetischen akademischen Literatur. Eine bizarre strukturellfunktionale Ähnlichkeit zwischen unausgesprochenen inhaltlichen und thematischen Selbstverpflichtungen deutet letztendlich darauf hin, dass „Art-Science Collaboration“ und „Art-Science Integration“ inzwischen zu einem neuen ‚hegemonialen Paradigma‘ im Kunstfeld geworden sind.

(2011), S. 124–132; Chatterjee, Anjan et al.: „Artist Production Following Brain Damage: A Study of Three Artists“, in: Leonardo, Bd. 44, Nr. 5 (2011), S. 405– 410; Minissale, Gregory: „Conceptual Art: A Blind Spot for Neuroaesthetics“, in: Leonardo, Bd. 45, Nr. 1 (2012), S. 43–48 sowie viele andere.

Fazit

Die Intention und Methode der vorliegenden Studie sollen zum Schluss noch mit einigen prinzipiellen Anmerkungen akzentuiert werden. Das ursprüngliche Vorhaben bestand vor allem darin, den Einfluss des institutionellen Kontexts und der kulturpolitischen Gegebenheiten auf die künstlerische Produktion zu untersuchen, und dies sowohl in inhaltlicher als auch in ästhetischer Hinsicht. Die Medienkunst wurde als ein exemplarisches Untersuchungsobjekt deshalb gewählt, weil ihre Entstehung und Entwicklung jene Formen und Mechanismen erkennen lassen, in denen sich dieser Einfluss sehr deutlich ausprägt. Daher beinhaltete die Studie zunächst eine Reihe von Fallstudien zur Geschichte und Programmatik unterschiedlicher medienkünstlerischer Institutionen, die einen Überblick über relevante institutionelle Organisationsformen und deren kulturpolitische Prämissen verschaffen sollten. Im Verlauf der Recherchen stellten sich jedoch zahlreiche neue Fragen, die weit über die Grenzen einer vergleichenden institutionshistorischen Studie hinausgingen. Sie erforderten eine theoretische Aufarbeitung der gesamten institutionellen Problematik mit dem Ziel, eine Meta-Perspektive auf den Prozess der Institutionalisierung der Medienkunst sowie generell auf die Ausdifferenzierung und institutionelle Etablierung der neuen künstlerischen Formen und Praktiken zu eröffnen. Im Zentrum stand vor allem die Frage, warum den Kunstinstitutionen im gegenwärtigen künstlerischen Prozess eine solch entscheidende Rolle zukam und welche gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge diese Entwicklung verursachten. Die Auswirkungen der Kunstinstitutionen auf die künstlerische Tätigkeit wurden sowohl im kunsttheoretischen Diskurs als auch in der künstlerischen Praxis seit den 1960er Jahren mehrfach thematisiert. Diese Ausei-

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nandersetzung mit dem institutionellen Kontext gehört unter der Bezeichnung Institutionskritik bereits seit fünfzig Jahren zum festen Repertoire der zeitgenössischen Kunstwissenschaft. Doch weder die Institutionskritik noch ihre zahlreichen theoretischen Reflexionen haben nach den prinzipiellen Ursachen des gegenwärtigen institutionellen Status quo gefragt. Mit anderen Worten, im institutionskritischen Diskurs fehlte eine allgemeine gesellschaftliche, politisch-ökonomische sowie ideengeschichtliche Genealogie der Kunst- und Kulturinstitutionen in dem Sinne, in dem die Genealogie als Forschungsansatz aus den späten Werken Michel Foucaults bekannt ist. Eine Genealogie dieser Art impliziert die Frage, warum und auf welche Weise die institutionelle Organisation verschiedener Aktivitätsfelder zu einem paradigmatischen Verwaltungsmodell und daher auch zu einem unerlässlichen Funktionsprinzip der modernen gesellschaftlichen Systeme wurde. Diese Problematik wurde zwar in den anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem in der Soziologie und Philosophie, vielfältig analysiert. Ganz im Einklang mit der Ironie der institutionellen Logik blieb sie jedoch nur innerhalb der Grenzen der eigenen Disziplinen relevant. Im Kunstdiskurs wurden diese Analysen in der Regel nur marginal und sporadisch rezipiert. Deshalb war es hinsichtlich der grundlegenden Fragestellungen dieser Arbeit wichtig, einen kurzen Überblick über verschiedene Konzepte, Theorien und Ansätze zur institutionellen Problematik in unterschiedlichen Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft darzustellen. Dies betraf zunächst die begriffsgeschichtlichen Exkurse, die einer Klärung des eigenen kategorialen Apparats dienten und vor terminologischen Missverständnissen schützen sollten. Auch die in diesen Disziplinen beschriebenen Strukturen und Funktionsmechanismen des institutionellen Systems sowie relevante theoretische Konzeptionen (wie z.B. die Konzeption der institutionellen Isomorphie) erwiesen sich als hilfreiche Instrumente für die darauffolgende Analyse der Institutionalisierungsprozesse im Medienkunstfeld und im Kunstfeld generell. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Exkurs zur Geschichte der kritischen philosophischen Reflexion der modernen Verwaltungs- und Organisationspraktiken zu, der im Kapitel „Philosophische Genealogie der Bürokratie. Von der Verwaltung zum Management“ abgehandelt wird. In einem Parcours durch die Philosophiegeschichte wird in diesem Kapitel eine gewisse ‚Evolution‘ der Verwaltungsidee seit dem

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Beginn der Moderne bis hin zur Gegenwart nachgezeichnet. Die wichtigsten Momente dieser Evolution sind demzufolge Hegels Begründung der Notwendigkeit der Bürokratie für den modernen Nationalstaat, die Kritik des jungen Marx an der Bürokratie als „Universalform der sozialen bürgerlichen Organisation“, Max Webers pragmatische Auffassung von der bürokratischen Verwaltung als „des reinsten Typus der legalen Herrschaft“, Horkheimers und Adornos schonungslose Diagnosen der Entwicklungen in der „verwalteten Welt“ mit Blick auf die zunehmende Invasion der Verwaltung in den Kunst- und Kulturbereich und schließlich die Transformationen des Verwaltungsdiskurses durch die Verbreitung der gouvernementalen Regierungspraktiken im Neoliberalismus und Wissenskapitalismus, wie sie von Michel Foucault und etwas später von Giorgio Agamben beschrieben wurden. Der chronologische Aufbau dieser Studie resultiert aus der historischen Entwicklung der philosophischen Reflexion der Verwaltungsproblematik, die ihrerseits den sozialhistorischen Wandel der modernen Regierungspraktiken widerspiegelt. Dieses philosophiehistorische Intermezzo bietet die theoretische Grundlage für die Analyse der institutionellen Phänomene im Kunstbetrieb. In den weiteren Kapiteln des ersten Teils wurde der Diskurs der Institutionskritik selbst diskursanalytisch untersucht, um seine theoretischen Wurzeln und ideologischen Implikationen und damit auch die Grenzen seiner Anwendbarkeit aufzuzeigen. Der zweite Teil der Arbeit setzte sich ganz unmittelbar mit der Geschichte der Medienkunst aus institutionskritischer Sicht auseinander. Gezielt wurden medienkünstlerische Institutionen untersucht, die für die Organisationsformen bzw. Institutionalisierungsmodelle im Kontext der Medienkunstgeschichte repräsentativ sind. So stellt, strukturell gesehen, die Entstehungsgeschichte des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe ein Modell der Institutionalisierung ‚von oben‘ dar, und zwar als Folge einer wirtschaftspolitisch motivierten Entscheidung seitens der staatlichen kulturpolitischen Akteure. Im Wesentlichen demonstriert die Geschichte des ZKM einen ähnlichen Mechanismus der Institutionalisierung wie er sich auch im Falle des Festivals Ars Electronica beobachten lässt. Die Geschichte des Festivals transmediale präsentiert dagegen ein Modell der Institutionalisierung ‚von unten‘, d.h. als Ergebnis einer grassrootsKünstlerinitiative. Dies hat die transmediale als Institution jedoch nicht da-

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von enthoben, den gleichen Funktionsprinzipien zu folgen wie die ‚von oben‘ gegründeten Institutionen und auch nicht davon, sich der stets verändernden kulturpolitischen Konjunktur anzupassen. Die Fallstudien zur institutionellen Geschichte der Medienkunst belegen im Großen und Ganzen eine der grundlegenden Hypothesen dieser Studie, wonach die Medienkunst von Anfang an ein institutionelles Projekt bzw. Produkt war, das seine Entstehung einer kulturpolitischen Konjunktur verdankte, die selbst wiederum aus einem strategischen wirtschaftspolitischen Interesse an den Neuen Medien resultierte. Die in den späten 1980er und in den 1990er Jahren erfolgte kulturpolitisch forcierte Gründung zahlreicher Institutionen, die sich programmatisch der Medienkunst widmeten, verfestigte die Medienkunst in ihrer Position eines top-down Konzepts, dessen künstlerischer Inhalt, strukturell gesehen, erst aufgrund einer institutionellen Nachfrage ‚geliefert‘ wurde. Diese Nachfrage stimulierte das Angebot nicht nur in seiner materiellen Produktform der konkreten Werke, sondern vor allem in der Konzeptualisierung einer derartigen Produktion als Medienkunst. Solange die Positionierung eines künstlerischen Produkts als Medienkunst auf dem institutionellen ‚Markt‘ einen erkennbaren ‚AbsatzBonus‘ versprach, konnte von einer strategischen kulturpolitischen Funktion dieses Konzepts gesprochen werden. Zu Beginn der nuller Jahre verlor die Medienkunst als Konzept im Kontext der staatlichen Kulturpolitik der westeuropäischen Länder allmählich ihre bisherige legitimatorische Funktion im Sinne ihrer prioritären Förderungswürdigkeit, was nicht zuletzt auf den Wandel der allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen und auf die bereits erfolgte Integration der Neuen Medien in alle Produktionsbereiche zurückzuführen war. Seit Mitte der nuller Jahre wird der westeuropäische kulturpolitische Legitimationsdiskurs zunehmend von anderen Trends beherrscht, die per se als förderungswürdig eingestuft werden. Dazu zählen vor allem die künstlerische Forschung und die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft in ihren zahlreichen Variationen wie Science-Art, Art-Science-Interaction etc. Suchbegriffe wie Artistic Research und Art-Science-Interaction bringen schon bei einer Kurzrecherche im Internet mehrere Tausend Ergebnisse, unter denen eine Vielzahl von Konferenzen, Studiengängen, institutionellen Gründungen, Ausstellungen sowie zahlreiche Publikationen zu finden

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sind.1 Vor allem im kunstakademischen Kontext entfalten sich künstlerische Forschung und das Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft zu einem neuen institutionellen Paradigma, das sich mithilfe der aktuellen hochschulpolitischen Richtlinien und im Windschatten des notorischen Bologna-Prozesses durchsetzt. Eine solche Entwicklung lässt sich gewiss nicht allein durch den derzeitigen wirtschaftspolitischen Diskurs der Governance der Wissenschaft erklären. Bei der Ausdifferenzierung dieser Tendenz spielen selbstverständlich auch andere Faktoren eine gewichtige Rolle, unter denen in erster Linie der fortlaufende Ausbau der Weiterbildungszyklen im gegenwärtigen System der Kunstausbildung zu erwähnen ist. Die politisch-ökonomische Funktion dieses Ausbaus – Erweiterung des Arbeitsmarktes und Ausdehnung der Beschäftigungsfelder für Kunstschaffende sowohl auf der Seite der Lehrenden als auch auf der der Lernenden – lässt sich nicht verkennen. Die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens von Kunst und Wissenschaft wird desto nachdrücklicher thematisiert, je deutlicher die prekäre Stellung der Kunst durch die zunehmende Knappheit öffentlicher Fördermittel in Erscheinung tritt. Neben einem genuinen Interesse an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, Forschungsmethoden und -apparaturen offenbart sich ein gesunder Pragmatismus. Eine Integration der künstlerischen Praxis und Theorie in die Förderstrukturen des akademischen Betriebs verspricht zumindest eine begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen, während Skepsis und kritisches Hinterfragen in einem in jeglicher Hinsicht unprofitablen Ressentiment zu enden drohen. Im kunsttheoretischen Diskurs besteht selbstverständlich kein Mangel an kritischen Analysen der politisch-ökonomischen und ideologischen Prämissen und Implikationen dieses neuen institutionellen Paradigmas. Dieser Trend wird in erster Linie als Erscheinungsform einer forcierten Eingliederung der Kunst in das operative Feld des Wissenskapitalismus gesehen, die in einer ausgeprägten Konjunktur auf dem neoliberalisierten Markt der Hochschulausbildung resultiert.2 Eine solche Kritik gilt unter anderem auch als eine Art Vorwarnung einer endgültigen Instrumentalisie-

1

Für einen ausführlicheren Überblick über die Publikationen institutioneller Initiativen in diesem Bereich vgl. T. Holert: „Künstlerische Forschung: Anatomie einer Konjunktur“.

2

Vgl. ebd.

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rung der künstlerischen Praktiken und deutet die Gefahr sowohl einer faktischen, als auch einer diskursiven Eliminierung der Kunstautonomie an. Diese kultur- und hochschulpolitische Konjunktur erzwingt eine formelle bzw. formale (Pseudo-) Verwissenschaftlichung der künstlerischen Praxis und führt zu häufig unreflektierten Theorie-Importen und zur Adoption konventioneller akademischer Formen und Regeln der Textproduktion. Publikationen wie James Elkins’ „Artists with PhDs“ weisen deutlich darauf hin, dass die Etablierung des Artistic Research-Konzepts unmittelbar mit der Einführung der Doktorandenprogramme für Künstler (der sogenannten Artistic PhDs) verbunden war. Dies hatte zunächst das rein taktische, verwaltungstechnische Ziel, diese Programme mit den akademischen Forderungen an Doktorarbeiten kompatibel zu machen.3 In diesem Zusammenhang erweist sich die Aktualität der im ersten Teil der vorliegenden Studie bereits dargestellten These der „Dialektik der Aufklärung“ von der gesellschaftlichen Notwendigkeit, Kunst und Wissenschaft „gemeinsam verwaltbar zu machen“.4 Der Bedarf an gemeinsamer Verwaltung prägt im Wesentlichen die gesamte europäische Kulturpolitik, seitdem von „Kulturpolitik“ überhaupt die Rede ist. Kulturpolitik manifestiert sich primär in den Aktivitäten der Instanzen der Kulturverwaltung, d.h. in den Aktivitäten der Kunstinstitutionen par excellence. So entsteht ein Feedbacksystem, in dem ein ‚Input‘ in Form kulturpolitischer Förderrichtlinien zu einem vorhersehbaren ‚Output‘ aus dem Umfeld der Kunstinstitutionen führt. Dieses Funktionsschema beweist trotz seines offensichtlich reduktionistischen Charakters eine grundsätzliche Relevanz, wenn man die neuesten institutionellen Entwicklungen im Medienkunstfeld untersucht. Institutionen wie die Ars Electronica, die sich gestern noch programmatisch der Medienkunst widmeten, sind heute zu wichtigen Schauplätzen der Science-Art-Produktion geworden. Ein Großteil der Medienkunstszene ist ebenfalls im neu gegründeten oder bloß reprofilierten institutionellen Science-Art-Umfeld zuhause, wie dies etwa im Förderungs- und Ausstellungsprogramm der Schering Stiftung zu beobachten ist.

3

Vgl. Elkins, James: Artists with PhDs. On the New Doctoral Degree in Studio Art, New York: New Academia Press 2009.

4

Vgl. das Kapitel „Zur Antithese von Kunst und Wissenschaft in der verwalteten Welt“.

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Abgesehen von einigen künstlerisch und konzeptuell avancierten Arbeiten, die im Art-Science-Kontext präsentiert werden, besteht jedoch der Mainstream der Art-Science-Produktion aus oftmals epistemologisch naiven, illustrativen gestalterischen Leistungen, die bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungen audio-visuell darstellen oder auf andere Weise „ästhetisch erfahrbar“ machen sollen. Im Grunde genommen stehen solche Arbeiten de facto in der Tradition der Wissenschaftspopularisierung, obwohl ihre Legitimationsrhetorik den Schwerpunkt auf einen „Erkenntnisgewinn“ und „Wissensproduktion“ durch einen „künstlerischen Forschungsprozess“ setzt. Im Gegensatz zur Frühphase der Medienkunst, deren Hauptprotagonisten zum Großteil professionelle Wissenschaftler waren, die, soziologisch gesehen, als Hobby-Künstler technologisches Art-Brut herstellten, sind viele heutige Vertreter der Science-Art-Szene professionelle Künstler, die als Hobby-Wissenschaftler agieren und eine Art Science-Brute produzieren. Eine mögliche optimistische Einstellung in dieser Hinsicht wäre, die derzeit institutionell willkommen geheißene Science-Brute-Produktion als einen Nährboden für manche in der Tat erkenntnisgewinnende und künstlerisch ernstzunehmende Ergebnisse des Zusammenwirkens von Kunst und Wissenschaft zu betrachten, die trotz und zugleich dank dem heutigen institutionellen System entstehen könnten. Trotz des Systems deshalb, weil im Rahmen der institutionellen Funktionslogik ‚Qualität‘ zunehmend quantitativ gemessen wird und die nichtquantifizierbaren Kriterien der ‚Qualitätsmessung‘ für das reibungslose Funktionieren des Systems irrelevant werden. Dank dem System, weil die Kunst, wie noch Adorno in „Kultur und Verwaltung“ resümierte, nach wie vor mithilfe der Kunstinstitutionen und ihrer Förderstrukturen „den Raum zum Atmen von der Gnade dessen empfängt, wogegen sie rebelliert“5. Das gegenwärtige institutionelle Kunstsystem als „der Raum zum Atmen“ entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa auf der ideologischen Basis der bürgerlichen Aufklärungsideale, die in den 1960er Jahren durch die egalitaristische sozialdemokratische Maxime der „Kultur für Alle“ erweitert wurden. Die ökonomischen Kapazitäten der westeuropäischen Wohlfahrtstaaten der 1970er bis 1990er Jahre ließen es zu, die aus dieser Maxime resultierenden kulturpolitischen Programme in die Praxis

5

Th. Adorno: Kultur und Verwaltung, S. 133.

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der Kulturinstitutionen umzusetzen. In eben diesem Kontext hat sich die institutionelle Geschichte der Medienkunst abgespielt. Das institutionelle Kunstsystem war und ist gewiss zu keinem Zeitpunkt statisch. Es befindet sich, ähnlich wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme, in einem steten Wandel und sein Funktionieren ist nicht reibungsfrei. Jedoch war es für die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit wichtig, dieses System in seinen grundsätzlichen Funktionsprinzipien im Zusammenhang mit deren Auswirkungen auf die künstlerische Praxis zu reflektieren. Aus diesem Grunde konnte eine Reihe gleichfalls wesentlicher Aspekte dieser Problematik im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden. Um die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Systems erfassen zu können und um eine historische Perspektive auf die künstlerischen Prozesse der letzten drei Jahrzehnte zu ermöglichen, mussten gewisse innere Widersprüche sowohl des Systems als auch dieser Prozesse ausgeklammert bleiben. Doch scheint gerade eine solche generalisierende historisch-soziologische Analyse dafür geeignet, den Raum für präzisere Studien der Wechselwirkungen zwischen Kulturpolitik, Kunstinstitutionen und künstlerischer Praxis zu öffnen.

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Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6

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Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

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Medienwissenschaft Thilo Hagendorff

Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3

Carolin Wiedemann

Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2

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