welt[stadt]raum: Mediale Inszenierungen [1. Aufl.] 9783839404195

Techniken medialer Inszenierungen sind konstituierend für die Wahrnehmung, Konstruktion und die Gestaltung von Raum. Die

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welt[stadt]raum: Mediale Inszenierungen [1. Aufl.]
 9783839404195

Table of contents :
Inhalt
welt[stadt]raum. mediale inszenierungen
Schöner leben. Weltraumkolonien als Wille und Vorstellung
Luftraum. Das Labyrinth der Welt im Blick von oben
Glücklicher Unsinn. Es gibt ein wahres Leben im falschen
Der Raum des Cyberspace
Digitale Städte, Information Cities und andere Datenräume
Environments. Mediale Inszenierungen in und zum Werk Anna Oppermanns
Virtuelle Räume. Interview mit Gero Gries

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Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum

Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum. Mediale Inszenierungen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: arc map created by visualization researchers at Bell Laboratories-Lucent Technologies; (c) Stephen Eick, Bell Labs/Visual Insight Lektorat & Satz: Annett Zinsmeister, Claus Pias Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-419-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

welt[stadt]raum. mediale inszenierungen Annett Zinsmeister 7 Schöner leben. Weltraumkolonien als Wille und Vorstellung Claus Pias 25 Luftraum. Das Labyrinth der Welt im Blick von oben Peter Bexte 53 Glücklicher Unsinn. Es gibt ein wahres Leben im falschen Eckhart Bauer 67 Der Raum des Cyberspace Martin Warnke 81 Digitale Städte, Information Cities und andere Datenräume Kirsten Wagner 105 Environments. Mediale Inszenierungen in und zum Werk Anna Oppermanns Carmen Wedemeyer 129 Virtuelle Räume. Interview mit Gero Gries Annett Zinsmeister 147

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Mediale Inszenierung Mit dem Begriff der »medialen Inszenierung« wird ein problematisches Zusammenspiel von Fiktion und Wirklichkeit adressiert. Mediale Inszenierung steht hier für technische Konstruktionen von Wahrnehmbarkeit, vorrangig von Sichtbarkeit, in der die Grenzen zwischen Realität und Simulation, zwischen Lesbarkeit und Interpretation, zwischen Affekten und Effekten technischer Bilder unscharf werden. Mit der seriellen Fotografie und später der Filmtechnik konnten Räume, Objekte und Bewegungen sichtbar gemacht und simuliert werden. Die erste bewegte Projektion mit einer Laterna Magica inszenierte der Feldmarschallleutnant Franz von Uchatius 1845 vor seinen Kadetten. Mit einer Kombination von Stroboskopeffekt und Plateauschen Lebensrad1 gelang es ihm, den Flug von selbst gezeichneten Geschossen an die Wand des Hörsaales zu projizieren und so die Illusion bewegter Bilder zu erzeugen2. Dank der Erfindung perforierter Celluloidfilmrollen wurde ein nahezu reibungsloser und kontinuierlicher Lauf des Filmstreifens bei der Aufnahme und der Vorführung möglich. Mit der Taktung von Einzelbildfolgen über 16 Bilder pro Sekunde wird das menschli1

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1829 und 1832/33 entwickelten Joseph F. Plateau und Simon Stampfer unabhängig voneinander eine drehbare Scheibe, die (kreisförmig) bebildert war. Am Innenrand befand sich eine umlaufenden Reihe von Sehschlitzen. Ließ man die Scheibe vor einem Spiegel kreisen und blickte durch die inneren Sehschlitze, schienen sich die am äußeren Rand aufgemalten Bilder zu bewegen. Projektions-Phenakistiskop

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che Auge optimal getäuscht und reale Situationen scheinbar perfekt wiedergegeben. Eine der frühesten (und bis heute unbelegt kursierende) Anekdote beschreibt die Zuschauerreaktion auf eine der ersten Filmvorführungen überaus dramatisch: Der von den Gebrüdern Lumière 1895 in Paris gezeigte ca. einminütige SchwarzweißFilm L’Arrivée du train à la Ciotat, der das Einfahren einer Dampflok in einen Bahnhof dokumentiert. Die Szene erschien dem damaligen Publikum so real, dass es – so die Legende – in Panik ausbrach und den Kinosaal fluchtartig verließ. Aus heutiger Sicht, und gemäß der Gewöhnung unserer Wahrnehmung an eine immer perfektere Illusionstechnik, ist eine solche Zuschauerreaktion kaum vorstellbar. Wie immer es um den Hintergründe bestellt sein mag3 – historisch belegt ist, dass schon die ersten öffentlichen Filmaufführungen ein Massenpublikum anzogen. Die Filmtechnik erwies sich insbesondere dann als vielseitiges Medium für die Dokumentation und Inszenierung von Ereignissen, wenn diese sich der Öffentlichkeit entzogen. Der Film vermochte es, eine Gegenwärtigkeit von unzugänglichen Ereignissen zu erzeugen, die die Begehrlichkeit an gefährlichen Frontberichterstattungen und an der Zuschaustellung von überaus privaten, intimen Situationen in den Anfängen der Filmtechnik erklären könnte, sowie heute die Begehrlichkeit an Bildern ferner Planeten, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen. Filminszenierungen waren von Anbeginn hybride Kunstformen, die zwischen Dokumentation und Fiktion oszillierten. Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte der Kriegsdokumentation demonstriert den Versuch, mit fiktiven Frontberichten aus unsichtbaren Begebenheiten sichtbare bzw. filmbare Ereignisse zu generieren. Der Optiker Oskar Meester, der ab 1896 das erste Kino in Berlin betrieb, erhielt im Ersten Weltkrieg den Auftrag, Kriegswochenschauen an der Front zu drehen und sah sich, jenseits der Gefahr für Leib und Leben, noch einem anderem Problem gegenüber gestellt: der Unsichtbarkeit des Krieges. Die Soldaten verschwanden in den Schützengräben und versuchten mit zweidimensionalen Camouflagetechniken die Luftaufklärung zu täuschen. Da es an der Front also faktisch »nichts« zu sehen und folglich nichts zu filmen gab, behalf sich Meester mit einem Trick: Er inszenierte das Kriegs-

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Vgl. auch Stephen Bottomore, »The panicking audience? Early cinema and the ›train effect‹«, in: Historical Journal of Film, Radio, and Television, 19/2 (1999), S. 177-216.

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geschehen, in dem er die Front als künstliches Schlachtfeld im Filmstudio nachstellte.4 Fotografie und Film sind künstlerische Darstellungstechniken, die Vorhandenes und Imaginiertes ins Bild setzen. »Die Kamera kann sowohl einem relativ passiven, unselektiven Sehen entsprechen als auch dem hochgradig selektiven (durch Schnitte gekennzeichneten) Sehen, an das gemeinhin gedacht wird, wenn vom Filmen die Rede ist; der Film ist ebenso sehr Medium wie Kunst, und zwar insofern als er jedes Werk der darstellenden Kunst aufgreifen und reproduzieren kann.«5 Lange Zeit waren in der Kinematografie aufwendig gebaute Filmarchitekturen notwendig, um räumliche Wiedergaben und Visionen »realistisch« in Szene zu setzen. Bereits in den ersten Jahren der Kinematographie wurde aber auch mit speziellen Effekten experimentiert um illusorische Räume zu erzeugen. Der Filmraum als fragmentierter und restrukturierter Wahrnehmungsraum konstituierte durch künstlerisch-technische Bearbeitung neue Formen der Sinnlichkeit, der Leibwahrnehmung und sogar neue Formen sozialen Verhaltens.6 Das experimentelle Spiel mit Zeit und Raum ist der Technik des Filmes inhärent: Verdopplung und Vervielfachung als surreale Effekte, die Kombination von Vor- und Rücklauf, sequentielle Auslassungen (Bildsprünge), Endlosschleifen und die optische Simulation von Räumen, waren Darstellungsmodi, die nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Technik erschlossen, sondern auch deren ästhetisches und künstlerisches Potential. Das Genre des Science-Fiction-Films ist fast so alt wie die Filmtechnik selbst und zeigt, dass fiktionale Erzählungen und futuristische Visionen ebenso wichtige Sujets des Filmes sind wie die Dokumentation realer Ereignisse. Die Reise zum Mond hieß der erste SF-Film von George Méliès (1902).7 Die Exploration und Eroberung exterrestrischer Welten, der Kampf und die Verteidigung der eigenen Spezie mittels avancierter Technik, aber auch die Freundschaft 4

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Die ähnlich fragwürdigen Kriegsberichterstattungen im Zweiten Weltkrieg, die zahlreichen Bildaufnahmen eines nun wieder sichtbar gewordenen Krieges ergaben, forderten eine wendige und portable Filmtechnik: Die Schrumpfung von 35mm auf ein Filmformat von 16 mm hatte zur Folge, dass sich dieses Format auch im Profibereich etablieren konnte. Zu Meester vgl. Kintop 3: Oskar Meester – Erfinder und Geschäftsmann, hrsg. von Frank Kessler, Frankfurt a.M. 1994. Susan Sonntag, »Theater und Film« in: Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur, Leipzig/Weimar 2. Aufl. 1990, S. 87. Ute Holl, »Kinematographische Räume« in, constructing utopia – Konstruktionen künstlicher Welten, hrsg. von Annett Zinsmeister, Berlin/Zürich 2005. Vgl. Kintop 2: George Méliès – Magier der Filmkunst, hrsg. von Frank Kessler, Frankfurt a.M. 1993.

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mit dem Fremden und Anderen, sind seit jeher zentrale Topoi des SF-Genres. George Lucas’ Film Star Wars und Steven Spielbergs E.T. waren lange die größten kommerziellen Erfolge in der Filmgeschichte – nicht zuletzt weil gerade die »unmittelbare Vergegenwärtigung« einer bildgewaltigen Inszenierung, die »physische Difformität und Veränderung« von Kampfszenen, vielgestaltige Technik, Geschosse, Explosione, Einstürzen etc. den Film etwas bieten lassen, »was der Roman niemals bieten könnte: den vollkommenen sinnlichen Eindruck« (Susan Sontag).

welt[stadt]raum Die Imagination und fiktiven Szenarien von Erkundungen des Weltalls sind bereits in der griechischen und römischen Antike zu finden und sind ein tradierter Bestandteil unserer Zivilisationsgeschichte.8 Und ein genauerer Blick auf die vergleichsweise kurz zeitige Entwicklung der Weltraumtechnologie mit ihren vielseitigen Wechselbeziehungen zur Kunst zeigt, dass Visionen und Fiktionen aus Philosophie, Literatur, Architektur, Film und Bildender Kunst zahlreichen Hypothesen, Entwürfen und Realisationen in der Weltraumforschung bis heute den Boden bereiten und vice versa. Der Start des ersten russischen Weltraum-Satelliten Sputnik I am 4.10.1957 bewegte als unerwarteter technischer Erfolg des sowjetischen Weltraumprogramms und mediales Ereignis die Weltöffentlichkeit. »At the moment of Sputnik, the planet became a global theater in which there are no spectators but only actors«, schrieb Marshall McLuhan damals. Sputnik I war der erste Flugkörper, der die Erdumlaufbahn erreichte und von dort 21 Tage lang über einen Kurzwellensender Signale zur Erde sandte. Sputnik war aber nicht nur rund um den Erdball hörbar9 sondern (trotz seines geringen Durchmessers von nur 58 cm) angeblich auch mit einem Fernglas sichtbar. Von der Schulsternwarte Rodewisch in Sachsen aus, wurde Sputnik I am 08.10.1957 mit 8

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Z.B. Aristophanes, Die Vögel, 414 v. Chr.; Lukian von Samosata, Der wahren Geschichte. Erstes und zweites Buch, ca. 160 v. Chr.; Plutarch, »Über das Gesicht des Mondes«, ca. 100 v. Chr. (ca.) in: Somnium, seu opus posthumum de astronomia lunari, 1634; siehe auch constructing utopia. Konstruktionen künstlicher Welten , hrsg. von Annett Zinsmeister, Zürich/Berlin 2005, S. 18 ff. Die Kurzwellensignale konnte weltweit empfangen werden. In Westeuropa wurden die Signale erstmalig in Deutschland von Heinz Kaminski in der Volkssternwarte Bochum registriert.

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Abb. 1: Erste Bahnspuraufnahme von Sputnik 1 der Schulsternwarte Rodewisch in Sachsen (1957)

Hilfe eines Fernglases erstmals gesehen und demnach die Bahnspur aufgezeichnet. Lediglich mit einem Thermometer und einem Funksender ausgestattet, konnte Sputnik diesen »Blick« nicht erwidern. Die Umkehrung des kameratechnischen Ausblickes vom Weltall zur Erde hatte bereits vor dem Flug des »blinden« Satelliten stattgefunden: Die ersten Fotografien aus dem Weltall entstanden bei einem Testflug einer in Deutschland erbeuteten V2-Rakete, die die U.S. Air Force 1946 in den Orbit schickte. Forscher hatten die Rakete mit unterschiedlichen Messgeräten und einer 35-Millimeter-Filmkamera bestückt. Alle eineinhalb Sekunden wurde, ähnlich der militärischen Luftaufklärung, ein Bild belichtet. Diese ersten Fotos der Erde gelten erstaunlicherweise als in einer falschen Aktenablage verschollen, so dass die ersten auffindbaren Fotografien erst aus dem Jahr 1947 stammen. Der Ingenieur Clyde Holliday, Entwickler der Kamera, berichtete 1950 in der Zeitschrift National Geographic, die V2-Fotos hätten zum ersten Mal gezeigt, »wie unsere Erde für Besucher in einem Raumschiff von einem anderen Planeten aussehen würde […] Die Ergebnisse dieser Tests weisen auf eine Zeit hin, in der Kameras auf Lenkraketen zur Aufklärung im Krieg montiert werden, in Friedenszeiten könnten unzugängliche Gegenden erforscht werden und sogar Wolken, Sturmfronten und Niederschlagsgebiete über ganzen Kontinenten binnen Stunden fotografiert werden.« Und er prognostizierte, dass »die gesamte Landmasse des Planeten auf diese Art kartiert werden kann«.10 Das erdumkreisende Ereignis Sputnik löste bekanntlich nicht nur Begeisterung, sondern auch einen fundamentalen politischen 10

Clyde T. Holliday, »Seeing earth from 80 miles up«, in: The National Geographic Magazine, XCVIII (4.10.1950), S.511-528.

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Abb. 2: Bilder der Erdoberflaeche (1947)

Schock aus, der weit reichende Konsequenzen haben sollte. Die unerwartete technische Überlegenheit seitens der Sowjetunion, vor allem aber die demonstrierte Reichweite der sowjetischen Interkontinentalträgerrakete wurde als unmittelbare Bedrohung des amerikanischen Kontinents empfunden und markierte den Beginn des sogenannten »space race« – eines Wettlaufs um militärische Überlegenheit und um die Eroberung des Weltalls. Am 7. Januar 1958 gründete der U.S.-Präsident Dwight D. Eisenhower die Advanced Research Projects Agency (ARPA, seit 1972 D[efense]ARPA) als Agentur des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten. Diese Forschungseinrichtung sollte u.a. ein Programm zur Stärkung der Kooperation und zur Vernetzung der Kommunikation befördern. Als erfolgreichstes Projekt wurde 1962 - 69 das sog. ARPANET entwickelt. Mit der Verbindung von anfangs vier Rechnerknoten amerikanischer Universitäten wurde erstmalig ein computerbasiertes dezentrales Kommunikationsnetzwerk geschaffen, das als der Vorläufer des heutigen Internets gilt.11 Wenige Monate später (am 29.7.58) unterzeichnete Eisenhower den »National Aeronautics and Space Act«. Die neue Behörde NASA nahm im Oktober mit ca. 8000 Mitarbeitern12 die Arbeit in vier Laboratorien auf und konzentrierte sich zunächst auf die Forschung der bemannten Raumfahrt. Seit ihrer Gründung stand die NASA unter dem Druck der Weltöffentlichkeit. Der Wettlauf um die bemannte Raumfahrt bzw. zur 11

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Siehe u.a.: P. H. Salus, Casting the Net: From ARPANET to INTERNET and beyond, Reading, Mass. 1995, und J. Abbate, Inventing the Internet, Cambridge, Mass. 1999. Weitere bekannte Errungenschaften der DARPA sind u.a. die Tarnkappentechnologie (Have Blue/F-117) und das GPS-System. Zu Raumkonzeptionen im Internet in diesem Band siehe Martin Warnke, »Der Raum des Cyberspace« S. 81ff. und Kirsten Wagner, »Digitale Städte, Information Cities und andere Datenräume« S. 105ff. Des ehemaligen »National Advisory Committee for Aeronautics« (NACA).

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Abb. 3: Erste bemannte Flüge – Basierend auf der deutschen V2-Technik wurde die Redstone zur ersten Mittelstreckenrakete der USA. Nach dem Sputnik-Schock des Jahres 1957 wurde die Rakete so verändert, dass sie den ersten US-Astronauten Alan Shepard an Bord einer Mercury-Kapsel ins All tragen konnte

Erschließung des exterrestrischen Raumes war politisch brisant und erforderte eine gezielte Vermarktung. Dem Mercury- und Gemini- Programm folgte das Apollo-Programm mit dem von J. F. Kennedy erklärten Ziel, bis 1970 einen Menschen auf dem Mond abzusetzen und sicher wieder zur Erde zurück zu bringen. Die Mission der NASA lautet: »To advance and communicate scientific knowledge and understanding of the earth, the solar system, and the universe. To advance human exploration, use, and development of space. To research, develop, verify, and transfer advanced aeronautics and space technologies. […] NASA is an investment in America’s future. As explorers, pioneers, and innovators, we boldly expand frontiers in air and space to inspire and serve America and to benefit the quality of life on Earth.«13 Am 20.7.1969 wurde die Mondlandung der amerikanischen Landefähre Eagle und die ersten Schritte des Astronauten Louis Armstrong als eine der ersten Live-Übertragungen im Fernsehen ausgestrahlt. Gerade weil die Mondlandung als globales medienhistorisches Spektakel mit dem Gestus der Überlegenheit inszeniert wurde und doch zugleich etwas konstitutiv Verborgenes darstellte, wurde sie von Verschwörungstheorien begleitet. Viele der kursierenden Gerüchte, dass die Mondlandung gar nicht stattgefunden habe, son13

http://naccenter.arc.nasa.gov/NASAMission.html. Im Februar 2006 strich die NASA den Schutz der Erde als erklärtes Ziel aus ihrem mission statement, um einen Abgleich mit dem von Präsident Bush verkündeten Raumflugprogramm zu erwirken, vgl. Andrew C. Revkin, »Nasa’s Goals delete mention of Home Planet«, New York Times, 22.7.2006.

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dern auf der Erde inszeniert worden sei, gehen auf den Autor Bill Kaysing zurück und fanden mit seinem 1976 erschienenen Buch We Never Went to The Moon Verbreitung.14 Der Autor und Regisseur William Karel nahm in seinem Film Kubrick, Nixon und der Mann im Mond (2002) diese Gerüchte auf und »entlarvt« die Filmübertragung der Mondlandung als ein in Studios inszeniertes Propagandaspektakel. Stanley Kubrick sei der von Präsident Nixon beauftragte Regisseur, der mit der verfügbaren Kommunikations- und Fernsehtechnik eine nahezu perfekte Simulation des Ereignisses in Szene setze. Karels glaubwürdig fingierte Dokumentation entpuppt sich erst gegen Ende des Filmes als Fiktion. Im Zusammenschnitt von Hypothese, Erfindung und historischen Fakten zeigt Karel in seiner Doku-Lüge (»docu–menteur«) das Verschwinden wahrnehmbarer Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion im Medium und Format des Dokumentarfilms: »Ich fand es interessant zu zeigen, welche Rolle das Bild oder das nicht vorhandene Bild bei der Konstituierung eines Ereignisses spielt.«15 Kubrick, Nixon und der Mann im Mond beschreibt eine enge Zusammenarbeit von Filmindustrie und NASA, die realiter bis heute währt16. Stanley Kubrick hatte anlässlich seines Filmes 2001 – Odyssee im Weltraum drei Jahre lang mit Weltraum-Experten der NASA zusammengearbeitet, um für die technische Ausstattung und das Design von Raumfahrtschiffen und Raumstationen ein möglichst authentisches Bild im Filmset widergeben zu können. Die NASA wiederum ließ sich (z.B. in der Gestaltung der Apollo-Raumfahrtanzüge) vom Design der Filmausstattung inspirieren. 14 15

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Kaysing arbeitete mehrere Jahre für die NASA Zulieferfirma Rocketdyne, die u.a. Triebwerke für Saturn V-Raketen herstellte und behauptete demnach Einblicke in die Raumfahrtprogramme der NASA erhalten zu haben. »Die Idee war, den Sinn der Interviews zu entstellen, und wir haben keinen der Zeugen ins Vertrauen gezogen, weder die NASA-Leute und Aldrin, noch Kubricks Frau und deren Bruder. Es treten nur sieben Schauspieler auf, denen wir allerdings einen Text gaben; sie spielen einige Zeugen. (Die Bilder der Nixon-Berater stammen aus dem Film Die Unbestechlichen [All the President’s Men]). Durch die Entstellung ihrer Aussagen reicht ein »falscher« Zeuge, hier die Sekretärin von Nixon, um die Geschichte logisch und glaubwürdig zu machen. Den »wahren« Zeugen sagten wir, dass wir einen Film über Kubrick drehen, über seinen Film, über den Mond oder über die NASA, und wir stellten ihnen ziemlich vage Fragen […] Ohne Bilder von der Mondlandung hätte es das Ereignis nicht gegeben!« William Karel in einem Interview mit dem ARTE Magazin, http://www.arte.tv/de/385478.html. »The Space Act Agreement allows filmmakers to consult astronauts, design experts and scientists – and even use NASA launch facilities – depending on the individual contract. While NASA has given advice on past space movies like Apollo 13 (1996), Mission is one of the first projects to sign the pact, giving the film’s creators access to the space agency‘s expert advice from scriptwriting through final editing.« Alex Canizares, »Mars Movie Looks to NASA for Help« in, http://www.space.com/sciencefiction/movies/mars_film_nasa_991203.html.

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Abb. 4: Wernher von Braun mit V2-Modell (links); Walt Disney zu Besuch bei Dr. Wernher von Braun 1954 in der Army Ballistic Missile Agency (ABMA) in Redstone Arsenal, Alabama (rechts). Im Hintergrund das Modell einer V-2 Rakete (Quelle: NACA)

Die Zusammenarbeit von Filmindustrie und NASA, ist so alt wie die NASA selbst. Walt Disneys Kooperation und Rückgriff auf das Expertenwissen der U.S.-Raumfahrtforschung wurde bereits 1955, also drei Jahre vor der Gründung der NASA, mit seinen TV-Sendungen zur Raumfahrt öffentlich und hat Bestand.17 Zusammen mit dem deutschen Ingenieur Wernher von Braun entwickelte Walt Disney eine Sendung zur Unterstützung der Raumfahrtforschung. Wernher von Braun zeichnete sich als technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde für die Entwicklung der bereits erwähnten V2-Rakete im Auftrage Hitlers verantwortlich. Direkt nach dem Krieg siedelte von Braun nach Amerika, wo er zum Berater und Leiter des U.S.-amerikanischen Raketenprogramms avancierte. 1959 wurde von Braun offiziell der NASA überstellt und 1960 zum Direktor des damals neu eingerichteten Marshall Space Flight Center in Huntsville ernannt. Mit Walt Disney verband Wernher von Braun eine (u.a. von Jules Verne geprägte) Faszination für die Exploration 17

Ein interessanter Beleg hierfür ist der NASA/Disney Technology Workshop, der vom 15.–17.Januar 1985 in Disney World, Florida stattfand und Wissenschaftler der NASA mit Vertretern von WED Enterprises, der Ingenieurs- und Designabteilung der Walt Disney Productions zusammenführte: »The objective of these discussions was to identify opportunities to transfer innovative NASA technologies to appropriate settings within and outside of Epcot Center. Consistent with the goals of NASA to achieve broader public awareness of the benefits of space exploration, and the commitment of Disney to present promising new technologies to Epcot Center guests the meeting represented an exciting and logical step for both organizations«.

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ferner Welten und die Raumfahrt. In der von Disney produzierten Fernsehsendung Man in Space und Man and the Moon traten sie 1955 unter der Regie von Ward Kimball gemeinsam vor die Kamera. Es kursiert die Anekdote, dass im März 1955 Präsident Eisenhower mit Walt Disney telefoniert habe, um Kopien von Man in Space auszuleihen, die im Pentagon gezeigt werden sollten. Nach Aussage von David R. Smith, des Archivleiters der Walt Disney-Publikationen, hat »Wernher von Braun niemals vergessen, welchen Auftrieb [die Disney-Filme] seinen Bemühungen gegeben haben. »An dem Tag des Jahres 1968, an dem Apollo den Mond zum ersten Mal umrundete, rief er Ward Kimball, den Produzenten der Filme, an und sagte: ›Also, Ward, offenbar hält man sich an unser Drehbuch.‹«18 Um sein neues und groß angelegtes Unterhaltungskonzept einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen und zu vermarkten, nutzte Walt Disney früh die weitreichenden Sendemöglichkeiten des aufkommenden Fernsehens. Mit Disneyland gründete er seine Filmfantasien auf realem Boden: In skaliertem Maßstab wurden Filmszenen und Sets in Architektur übersetzt. Für die Planung und Realisierung von Disneyland mit seinen differenzierten Funktions- und Themenbereichen wurden Designer, Architekten und Ingenieure im Sinne Disneys in der eigens gegründeten Firma WED-Entreprises geschult und ausgewiesene Fachkräfte aus den Bereichen der Kunst und Raumfahrt angestellt. Walt Disney: »The theme park would include four major sections: Fantasyland, Frontierland, Adventureland and Tomorrowland. Disney producers would incorporate ideas from Disney fantasy films like Snow White, Pinocchio, and others to promote the first area of the park. The second and third areas would be built around Davy Crockett and other adventure films.« Das futuristische Themenfeld Tomorrowland realisierte Disney wenige Monate nach der Erstausstrahlung von Man in Space: »Tomorrow can be a wonderful age. Our scientists today are opening the doors of the Space Age to achievements that will benefit our children and generations to come. The Tomorrowland attractions have been designed to give you an opportunity to participate in adventures that are a living blueprint of our future.«19 In der Verschmelzung von technischen Gegeben18 19

David R. Smith, »They are following our script. Walt Disney’s Trip to Tomorrowland«, in: Future, Nr. 2 (Mai 1978), S.54-63; zit. nach Eugene S. Ferguson, Das innere Auge. Von der Kunst des Ingenieurs, Basel/Boston/Berlin 1993, S. 14. Seine Vision von EPCOT, stellte Walt Disney in Florida Film – A 24 Minute Preview to EPCOT, recorded on October 27, 1966, wenige Wochen vor seinem Tod der Öffentlichkeit vor. Es ist Walts letzter Fernsehauftritt: »But the most exciting, by far the most important part of our Florida project—in fact, the heart of everything well

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Abb. 5 Disneyland Anaheim, Californien (seit 1955)

heiten und zukünftigen Möglichkeiten schuf Disney eine »science factual«, eine Dokumentation von individuellen, technischen und politischen Zukunftsvisionen. »The objective was to combine the tools of our trade with the knowledge of the scientists to give a factual picture of the latest plans for man’s newest adventure.« Disney entwickelte unter dem Seriennamen Disneyland und Tomorrowland eigene Fernsehshows, die neben seinen ökonomischen Interessen eine überaus unterhaltsame Experimentierfreudigkeit mit einem neuen Sende- und Filmformat beweisen. Walt Disney selbst trat als Moderator auf, der – ganz im Sinne eines historisch begründeten Bildungsauftrages des Fernsehens – dem amerikanischen Publikum mit einer Vielzahl an Simulations- und Animationstechniken »die Welt erklärte«, z.B. die Welt der Raumfahrt und der Atomenergie, und die Welt der Disney- und Tomorrowlands. Das kommerzielle Konzept der TV Serie Disneyland (1954) prägte die Sendungen nachhaltig: Information und Werbung gehen in den vermeintlichen be doing in Disney World – will be our experimental prototype city of tomorrow. We call it EPCOT [...]: Experimental Prototype Community of Tomorrow. [...] EPCOT will take its cue from the new ideas and new technologies that are now emerging from the creative centers of American industry. It will be a community of tomorrow that will never be completed, but will always be introducing, and testing, and demonstrating new materials and new systems. And EPCOT will always be a showcase to the world of the ingenuity and imagination of American free enterprise.«

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Abb. 6: Zeichentrickszenen aus Man in Space (1955)

Bildungsformaten eine problematische Allianz ein. Was als Self-Promotion für die Disneyproduktionen begann, entwickelte sich schon früh zu Kooperations- oder gar Auftragsarbeiten für Politik, Militär und Industrie. Man in Space (1955), Man and the Moon (1955) und Mars and Beyond (1957)20 sind interessante Beispiele für diese Form der Allianz, der Experimentierfreude und der Entwicklung innovativer Sendungsformate. Obwohl die Sendereihe aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungspotentiale der bemannten Raumfahrt dokumentiert, ist der Disney-Stil unverkennbar. Im Zusammenschnitt unterschiedlicher Darstellungstechniken beginnt Man and the Moon mit einem variantenreichen Set an literarisch, historisch und parodistisch aufbereiteten Zeichentrickanimationen, um das Publikum humorvoll auf die nachfolgenden wissenschaftlichen Inhalte einzustimmen. Wernher von Braun gibt einen Einblick in die aktuelle Raketentechnologie und erklärt deren Möglichkeiten für eine bemannte Raumfahrt und die Erkundung des Mondes. Die Sendung endet mit einer »live action«-Simulation an einer Rakete und bietet nicht nur umfassende Informationen und visionäre Ausblicke, sondern auch eine Bandbreite an aktuellen Simulations- und Animationstechniken. Die letzte dieser Raumfahrttrilogie, Mars and Beyond, wurde zwei Jahre später ausgestrahlt (4.12.1957). Zum Auftakt werden historische Welterklärungsmodelle u.a. von Kopernikus vorgestellt, gefolgt von Exkursen zu fremden Planeten insbesondere dem Mars. Fantastische Szenarien zu exterrestrischen Besiedelungen u.a. von H.G. Wells und Edgar Rice Burroughs werden in animierten Zeichentrickepisoden visualisiert und parodiert. Als 20

Wernher von Braun inspirierte mit seinem Buch Das Marsprojekt den Regisseur George Pal zu seinem Science-Fiction-Film Die Eroberung des Weltalls (1955). Sogar von Brauns Lebensgeschichte wurde bereits 1960 unter dem Titel Wernher von Braun: Ich greife nach den Sternen als amerikanisch – deutsche Co-Produktion mit Curd Jürgens in der Titelrolle verfilmt.

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Abb. 7: Filmszenen aus Mars and Beyond (1957) Walt Disney mit Roboter (links) und Marssiedlung (rechts)

dramaturgischer Höhepunkt tritt auch hier wieder ein Experte auf den Plan21, diesmal Dr. E. C. Slipher, der über die Möglichkeit einer bemannten Marsexploration und über ein zukünftiges Leben auf dem Mars spekuliert. Genau 50 Jahre später, ist die Exploration Planeten Mars ein überaus aktuelles Forschungsprojekt der NASA. Derzeit bereitet sie in der Mars Desert Research Station, einer Simulationsstation in der Wüste von Utah, einen bemannten Flug zum Mars vor. 2002 haben die amerikanische Raumfahrtbehörde, die Moon Society und die Mars Society zur Simulation von Mond- und Mars-Missionen einen zweigeschossigen Zylinder erbaut, in dem Wissenschaftler leben und arbeiten. »In 10 bis 20 Jahren wird es die erste dauerhafte Besiedlung des Mondes geben. Ich sehe zum Beispiel irgendwo in einem Mondkrater Astronauten und Kosmonauten, die ein BasisCamp als Test für eine Mars-Misson betreiben. Wohnen werden sie, ganz komfortabel, in einem Hilton-Hotel. Dort wohnen auch Astronomen, die riesige Teleskope und Observatorien auf der Rückseite des Mondes betreuen, die den Himmel nach Signalen außerirdischer Zivilisationen absuchen. Auf einer anderen Etage schließlich wohnen Besucher und Touristen, die zur Erholung auf den Mond gekommen sind.«22 So jedenfalls liest sich die Überzeugung von Rick Tumlinson, Präsident der Space Frontier Foundation, deren erklärtes 21

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Ein weiterer Experte aus Disneys TV-Shows war der deutsche Physiker Heinz Haber, der in den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland als populärwissenschaftlicher Fernsehmoderator und Autor Karriere machte, die in Anaheim ihren Anfang nahm: 1956 wurde er Chief Science Consultant von Walt Disney und begann mit der Moderation der Fernsehsendung Unser Freund Das Atom, die Disney im Auftrag der US-Regierung produzierte, um der Atomenergie eine besseres Image zu verschaffen. Zitat nach Guido Meyer, Deutschlandradio Kulturbeitrag, gesendet 24.2.2006 Zu Siedlungsvisionen im Weltraum in diesem Band, siehe Claus Pias: »Schöner leben. Weltraumkolonien als Wille und Vorstellung« S. 25ff.

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Abb. 8: Historische Karte der Marsoberfläche nach Giovanni Schiaparelli, 1888

Ziel es ist, die »Grenze« des bewohnbaren Weltalls hinauszuschieben. »Terraforming« nennt sich die wenig bescheidene Vision eines Re-Design des Mars. Mit Hilfe von Spiegeln in der Umlaufbahn soll das Klima aufgeheizt und durch Pflanzenimport von der Erde die Atmosphäre mit Sauerstoff angereichert werden, um den Mars zu einem bewohnbaren Planeten umzugestalten.23 Mit der Entdeckung der vermeintlichen Marskanäle durch den italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli 1877 mutierte die Marsoberfläche vom Forschungsgegenstand zur Projektionsfläche für Fantasien von exterrestrischen Kreaturen und Lebensformen. Die Übersetzung des italienischen Begriffs »canali« (allg. für Rillen, Rinnen) ins Englische »canals« (künstlich erschaffene Kanäle), scheint die Verbreitung der Hypothese von intelligenten Marsbewohnern zu verantworten.24 Ende des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche sog. Planetenromane; H.G. Wells verarbeitete z.B. diese »aktuelle Entdeckung« in seinem berühmten Roman Krieg der Welten, der zwölf Jahre später erschien und 1953 von Georges Pal verfilmt wurde.25 Am 14.7.1965 gelangen der U.S.-Raumsonde Mariner 4 im Vorbeiflug die ersten 21 fotografischen Aufnahmen der 23 24 25

Vgl. Christopher P. McKay/James F. Kasting/Owen B. Toon, »Making Mars Habitable«, in: Nature, 352 (1991), S. 489-496; sowie einführend die Seite der German Space Society (http://www.drg-gss.org/index.php?page=easy§ion=9904) Vgl. Albert Kümmel, »Marskanäle«, in: Medien in Medien, hrsg. von C. Liebrand/I. Schneider, Köln 2002, S. 67-88. Die wohl spektakulärste Resonanz erhielt eine fiktive Reportage von Orson Wells über die Ankunft vom Marsbewohnern, die 1938 über amerikanische Radiosender ausgestrahlt wurde und eine Massenhysterie auslöste.

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Marsoberfläche. 1969 brachten Mariner 6 und Mariner 7 200 weitere Fotografien zurück zu Erde. Die beiden Marsexplorationsrover Spirit und Opportunity lieferten 2004 bereits 128 000 hoch aufgelöste Bilder von der Marsoberfläche. Die spektakulären Ausblicke durch die Kamera-Augen der beiden Mars-Roboter, die die NASA teilweise im Internet veröffentlichte, gaben virtuell Einblick in die aktuelle exterrestrische Forschung und Anlass zu zahlreichen Interpretationen und Spekulationen in internationalen Diskussionsforen.26 Die Landung der beiden Marsroboter war ein mediales Ereignis: Als sich der Rover Spirit zwei Wochen nach seiner Landung am 3.1.2004 auf dem Roten Planeten verabschiedete, schien die U.S.-Mission zur Erforschung des Mars gescheitert. Der Transfer der ersehnten Signale in Bild und Ton war unterbrochen, der erste visuelle Raumeindruck der Marsoberfläche verschwand in weißem Rauschen und schwarzem Nichts. Sechsundsechzig Mal versuchte sich Spirit kraft seiner Programmierung für den Fall einer Übertragungsstörung neu zu starten – vergeblich. Nach fieberhafter Problemsuche unter permanenter Beobachtung der Öffentlichkeit, gelang es den Wissenschaftlern den Computer in seinem »Überlebenskampf« zu unterstützen und mit einem von der Erde ausgelösten Neustart die Kommunikationsfähigkeit des Roboters wieder herzustellen. Wenige Tage später landete auch die Sonde Opportunity wohlbehalten auf der anderen Seite des Mars. Beide Sonden schickten funktionsgemäß telemetrische Daten zur Erde bis fehlendes Sonnenlicht die Solarbatterien zum erwarteten Erliegen brachte.27 Wenige Jahre zuvor hatte Brian de Palma mit der Disney Corporation den Science-Fiction Film Mission to Mars (2000) produziert. »›While real-life NASA scientists search for water on Mars, astronauts in Hollywood’s Mission to Mars have already found it. […] Everything in the movie is based on what NASA is planning on doing,‹ said the film’s publicist, Warren Betts. ›[NASA] was on our set every day giving us instructions and making sure our technology was exact. Many aspects of the script are based on NASA science theory and how they would actually plan a mission,‹ Mission producer Tom Jacobson said«28

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http://mars.jpl.nasa.gov/newsroom/pressreleases/20070810a.html Willkommen auf dem Mars, Filmdokumentation über die Raumsonden Spirit und Opportunity von Mark Davis, USA 2004. Alex Canizares, »Mars Movie Looks to NASA for Help«, http://www.space.com/sciencefiction/movies/mars_film_nasa_991203.html

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Abb. 9: Mariner 4 (links) und Fotografie der Marsoberfläche von 15.7.1965 (rechts)

Dass ein amerikanisches Astronautenteam im Jahr 2020 erfolgreich auf dem Mars landen wird, ist ein erklärtes Ziel der NASA und nach hundert Jahren Geschichte des SF-Films ein mehr als vertrauter Plot.29 Mission to Mars wartet mit einem unglaublichen und kitschigen Höhepunkt auf, der auf einer »realen Entdeckung« der NASA basiert: Am 25. Juli 1976, fotografierte der Orbiter der Raumsonde Viking I aus 1873 km Höhe eine mindestens drei Millionen Jahre alte Formation, einem Tafelberg ähnlich, die an ein menschliches Gesicht erinnert. Sechs Tage später wurden die Aufnahmen der Öffentlichkeit vorgestellt und machten Schlagzeilen. In der NASA-Pressemitteilung vom 31. Juli 1976 wurde das Gebiet cydonia mensea als »einem menschlichen Kopf ähnlich« beschrieben, die Presse verlieh der ungewöhnlichen Topographie den Namen »Marsgesicht«. Gleichwohl in der verblüffenden Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gesicht in Wissenschaftskreisen eine optische Täuschung aufgrund einer Summe von Darstellungsungenauigkeiten vermutet wurde, gab das Marsgesicht Anlass zu zahlreichen und vielfältigen Spekulationen über die Hintergründe dieser Formation, die – wie bereits die Marskanäle von Schiapirelli – als Zeichen einer exterrestrischen Zivilisa29

1977, ein Jahr nach der ersten erfolgreichen Landung der U.S. Raumsonde Viking auf dem Mars, verfasste u.a. der Regisseur Peter Hyams, ehem. CBS Direktor und Kriegsberichterstatter in Vietnam, das Drehbuch zum Film: Unternehmen Capricorn. Der Film erzählt von der Erkundung des Roten Planeten und erinnert in Teilen an Kaysings We never went to the Moon, das ein Jahr zuvor erschienen war: Wegen eines technischen Defekts muss die erste Marslandefähre unbemannt starten. Um das Scheitern des Projektes zu verhindern, wird in einem TV-Studio der bemannte Flug zum Mars vor Kameras in Szene gesetzt und ausgestrahlt. Doch als die unbemannt gestartete Raumkapsel bei der Rückkehr in die Erdatmosphäre verglüht, gilt es die vermeintlich toten und realiter sehr lebendigen Astronauten verschwinden zu lassen. Der Film wurde ein großer kommerzieller Erfolg und entsprechend ließ Hyams weitere Filme über exterrestrische Lebenswelten drehen u.a. Outland – Planet der Verdammten (1980), 2010 – Das Jahr, in dem wir wieder Kontakt aufnehmen (1984).

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Abb. 10: Viking I, Fotografie des Gebietes Cydonia, Mars 25.7.1976 (links); Isamu Noguchi, Sculpture to be seen from Mars, 1947 (Mitte); Mars Global Surveyor, Fotografie des Gebietes Cydonia, Mars (1998)

tion gedeutet wurde und die Fantasien von Marsbewohnern erneut beflügelte.30 Bemerkenswert ist, dass das Marsgesicht lange vor seiner »wissenschaftlichen Entdeckung« als Kunstprojekt in Erscheinung getreten war. 1947 entwickelte der amerikanische Bildhauer Isamu Noguchi ein Landart-Projekt auf dem Mars: Diese künstlerische Vision einer exterrestrischen Skulptur in der Form eines Gesichtes hatte vergleichbare Ausmaße mit dem Jahre später entdeckten Cydonia Hochland. Höher aufgelöste Bildaufnahmen der Sonde Mars Global Surveyor aus dem Jahre 1998 belegen bildlich, dass es sich bei dem vermeintlichen Gesicht nicht um ein Kunstwerk, sondern um eine stark verwitterte Felsformation handelt, die durch natürliche Prozesse erodierte; die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Antlitz kam vermutlich durch das Zusammenspiel von Licht und Schatten zum Zeitpunkt der Aufnahme zustande, sowie durch Übertragungsfehler (z.B. Schwarze Punkte, die als Nasenlöcher interpretiert wurden). Die Erforschung des Weltraumes ist angesichts seiner unvorstellbaren Ausdehnung eine Erforschung jenseits unserer Wahrneh30

Interessanterweise wurde das Marsgesicht genau zu jener Zeit zum populären Thema als sich das SETI Programm (Search for Extraterrestrial Intelligence) beim Ames Research Center der NASA und dem Jet Propulsion Laboratory (JPL) etablierte und ein Großprojekt vorbereitete, das systematisch den Himmel nach akustischen Signalen abtasten sollte. 1988 übernahm das NASA Hauptquartier die Finanzierung des Programms. 1993 entzog der amerikanische Kongress nach einjähriger Beobachtung die Geldmittel für dieses Programm, das sich daraufhin um neue Finanzierungsmöglichkeiten bemühen musste. Carl Sagan, der über die Möglichkeit exterrestrischen Lebens promovierte, verhalf dem SETI Programm, das nach Jahren der Suche keinerlei Hinweise für ihre Notwendigkeit erbringen konnte, mittels eines Hollywoodfilms zu einem fiktiven Erfolg; Der Film Contact (1997) mit Jodie Foster in der Hauptrolle zeigt reale Hintergründe des SETI Programms, das mit der erfolgreichen Kontaktaufnahme mit Außerirdischen zumindest im Film seine Bestätigung findet. Das »glückliche Ende« des Filmes beschreibt die wirtschaftliche Rettung und der Fortbestand des SETI Programms.

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mungsgrenzen, für die wir spezifische Sehapparaturen und Aufzeichnungstechniken benötigen. Wenn die Sehapparatur sich vom menschlichen Auge abkoppelt, ist der Betrachter in der Ermangelung eines empirischen Wissens um den fokussierten Raum oder Gegenstand gefordert, die unbekannten Bilder »richtig« zu lesen. Mit den ersten Bildern vom Mars begannen die Bilddeutungen, Interpretationen und wilden Spekulationen von der Beschaffenheit der Mars- oder anderer Planetenoberflächen. Es sind Spekulationen über Räume, die nur mittels spezifischer Technik überhaupt »gesehen« werden können.31 Die Bilder der Marsrover Spirit und Opportunity konnten bspw. dank eines eingebauten Spektrometers spezifisch eingefärbt werden, um auch optisch nicht erkennbare technische Daten, wie die physikalische Konstitution des Gesteins, visuell zu differenzieren. Die Bildbeispiele und deren Deutungsversuche verweisen auf ein generelles Problem Bild gebender Verfahren: Der individuelle Beobachter oder die Sehapparatur sehen, verarbeiten und speichern immer nur das, was sie sehen, verarbeiten und speichern können. Das Maß der Präzision wird durch die Grenzen der Technik und von der Auslegung der Betrachter bestimmt. Diese Bedingungen medialer Inszenierungen, werden im Folgenden nicht nur am Beispiel des Weltraumes als ausnahmslos technisch erschlossener, d.h. virtueller Wahrnehmungsraum und »umfassende« räumliche und thematische Kategorie illustriert: Vom Raum zur Stadt zur Welt wird das Thema der medialen Inszenierung und deren Bedeutung für die Wahrnehmung, Konstruktion und die Gestaltung von Raum in den Beiträgen künstlerisch und wissenschaftlich hinterfragt. Die Inszenierung von lokalen, globalen und virtuellen Räumen könnte man auch als reale Fiktionen oder ideale Realitäten beschreiben: Von virtuellen Räumen32 und hypertextförmigen Rauminstallationen33 in der Kunst, vermeintlich idealen Stadträumen im Internet, über Filmwelten von Walt Disney, Repräsentationen globaler Räume im Internet bis hin zur Inszenierung von Weltraumarchitektur reicht das facettenreiche Themenspektrum der Beiträge.

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Zum Thema siehe in diesem Band der Beitrag von Peter Bexte: »Luftraum. Das Labyrinth der Welt im Blick von oben«, S. 53ff. Siehe der Beitrag in diesem Band »Virtuelle Räume. Gero Gries im Interview mit Annett Zinsmeister«, S. 147ff. Siehe der Beitrag in diesem Band von Carmen Wedemeyer: »Mediale Inszenierungen in und am Werk Anna Oppermanns«, S. 129ff.

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Schöner leben. Weltraumkolonien als Wille und Vorstellung1 Claus Pias

I. »Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll.« (Heiner Müller)

Hans Blumenberg, der wie kaum ein anderer die Raumfahrtunternehmungen seiner Zeit verfolgt hat, der sie wissenshistorisch eingeordnet, ›astronoetisch‹ kritisiert und mit hartnäckiger phänomenologischer Insistenz beobachtet hat, und der zuletzt nie vergaß, auf ihre eschatologischen Unterströme zu verweisen, wunderte sich einmal über eine Metapher. »›Raumschiff Erde‹«, so schreibt er, »ist eine Verleumdung. Erde heißt es gerade dort, wohin alle Raumschiffe zurückkehren, sofern sie nicht bloße Roboter oder Sonden sind. Die Erde ist das Gegenteil des Raumschiffs. Sie ist der Nullpunkt aller Koordinatensysteme, in denen sich bewusste Raumfahrten bewegen können.«2 Anlass der Kritik bot das, an Buckminster Fuller inspirierte und unter Ray Bradbury’s Beratung erbaute, kugelförmige Spaceship Earth in Walt Disneys EPCOT in Orlando. Seit Oktober 1982 konnte man dort in einer gut viertelstündigen »Weltkreuzfahrt« die Menschheitsgeschichte von der Höhle über die sixitinische Kapelle bis ins Satellitenkontrollzentrum verfolgen, um mit der mahnenden Stimme Vic Perrins3 entlassen zu werden: »Now our Future World draws near […] and we face the challenge of tomorrow. We must return and take command of our Spaceship Earth […] to become captains of our own destiny […] to reach out and fulfill our dreams.«4 So etwas kann für Blumenberg – erst recht in einem Ver1 2 3 4

Ich danke Annett Zinsmeister für die Idee und das Material zu diesem Thema. Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a. M. 1997, S. 539. Perrin war nicht nur Sprecher diverser TV-Serien wie Hulk, Spiderman, Spiderwoman oder Fantastic Four, sondern auch Nebendarsteller einiger Star Trek-Folgen. Nachzulesen unter http://www.intercot.com/edc/SpaceshipEarth/index.html. Der Satz wurde in den nachfolgenden Versionen mit Walter Cronkite (1986-94) und

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gnügungspark – nur auf falsche Versöhnung hinauslaufen: »In den eschatologischen Szenarien des ausgehenden zweiten Jahrtausends sieht es nicht so aus, als gäbe es hintendrein etwas zu lachen.«5 Zu eben jenen ›Szenarien‹, die zum poetischen Kernbestand einer damals noch blühenden Futurologie gehörten, zählen Herman Kahns legendäre Hochrechnungen über die Millionen von Toten, die bei verschiedenen nuklearen Erst- und Zweitschlagstrategien in Kauf zu nehmen wären, ebenso, wie die aus Jay Forresters Computersimulationen abgeleiteten Prophezeiungen des Club of Rome zu Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Hunger und Ressourcenknappheit.6 Der Ruf nach Kapitänen aus Disneyworld an den Rest der Welt referierte mithin auf einen kollektiv höchst präsenten und als existenziell empfundenen Kontrollverlust, auf den die zeitgenössische Antwort eben nicht nur ›ökologisches Bewusstsein‹ oder ›Nachhaltigkeit‹, sondern auch ›High Tech‹ lauten konnte. Denn während Herman Kahn immer wieder auf die Unvorgreiflichkeit historischer Kontingenz und das Feedback jeder Prognose mit ihrem Gegenstand verwies, vertrauten so unterschiedliche Autoren wie Jay Forrester, Stafford Beer oder Pierre Bertaux auf staatliche machines à gouverner (alias Computer) die allein noch in der Lage seien, die Komplexität globaler Zusammenhänge zu verwalten und zu beherrschen.7 Das »Raumschiff Erde« erscheint im Horizont einer Krise des Regierens, die Gefahr und Rettendes zugleich im kybernetischen und systemtheoretischen Begriffen zu denken sucht. Bekanntlich hat der Umweltschutz sein Emblem in jener blauen Kugel gefunden, deren Foto 1969 von Apollo 11 an die Erde gefunkt wurde und anschließend zahllose Buchcover zierte. Sucht man nach einer ähnlichen Funktion für das »Raumschiff Erde«, so geraten

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Jeremy Irons (seit 1994) gestrichen. Inzwischen werden die kaum veränderten Exponate (passend zum Sponsor AT&T) als »the amazing story of human communication« erzählt. Blumenberg, S. 539f. Kahns Hauptwerke On Thermonuclear War und Thinking about the Unthinkable wurden nie ins Deutsche übersetzt, stattdessen jedoch zahlreiche seiner Kritiken des Club of Rome. Vgl. Dennis Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums, Reinbek 1973, versus Herman Kahn, Vor uns die guten Jahre, Wien / München 1976; Herman Kahn / Julian L. Simon (Ed.), The Resourceful Earth, Oxford 1981; ein Überblick über Kahns Oeuvre erscheint demnächst als Herman Kahn – Szenarien für den Kalten Krieg, Hg. C. Pias, Zürich / Berlin 2006. Vgl. Jay Forrester, Der teuflische Regelkreis. Kann die Menschheit überleben?, Stuttgart 1972; zu Stafford Beer: Claus Pias, »Der Auftrag. Kybernetik und Revolution in Chile«, in: Politiken der Medien, Hg. D. Gethmann / M. Stauff, Zürich / Berlin 2005, S. 131-154; sowie Pierre Bertaux, Maschine – Denkmaschine – Staatsmaschine. Entwicklungstendenzen der modernen Industriegesellschaft, Protokoll des 9. Bergedorfer Gesprächskreis, 25. Februar 1963 (Typoskript).

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mindestens zwei Ereignisse in den Blick, die Blumenberg seltsamerweise nicht erwähnt. Den einen Hinweis gibt die unglückselige Apollo 13-Mission von 1970. Die Begebenheiten nach der Explosion am 13. April bilden nicht nur eine der atemberaubendsten (weil medientauglichsten) Rettungsaktionen des Jahrhunderts, sondern verleiten in nahezu jedem Detail zum Analogieschluss. Die Überbevölkerung der Landefähre, in die die Astronauten flüchten mussten, die Umweltverschmutzung durch menschliche und technische Abfälle wie Urin und Plutonium, die Energiekrise des schnell zu Ende gehenden Treibstoffs und zuletzt (auf Seiten der Beobachter) die zumindest oberflächliche Unterbrechung des Kalten Krieges durch das Hilfsangebot aller Nationen – all dies machte aus dem einsamen, vom Untergang bedrohten und vor allem unentrinnbar geschlossenen System der Apollo 13 eine Welt en miniature, deren Bild die Erde als Raumschiff zu denken aufgab. Während Apollo 13 somit zu verstehen gab, dass im Himmel wie auf Erden während der Fahrt kein Ausstieg mehr möglich ist, wurde im Verlauf der 70er Jahre – und dies wäre der zweite Hinweis – ein solcher Ausstieg in Form von Gedankenexperimenten und Machbarkeitsstudien massenhaft geprobt. Gerard O’Neill, Teilchenphysiker in Princeton und Meisterdenker sogenannter Space Colonies kommt gegen Ende seines einflussreichen Buches The High Frontier zu dem ebenso simplen wie erschreckenden Schluß, dass es weniger Dreck mache, einen Menschen in den Weltraum zu befördern, als ihn auf der Erde zu lassen.8 Der maximale Umweltschutz besteht darin, die Erde vom Menschen zu reinigen. Deportation wird zur Rettung einer bedrohten natura naturans, die nur als totalmusealisierte natura naturata überleben kann. Wenn die Menschheit nämlich erst einmal weitgehend in extraterrestrische Kolonien verbracht wäre, erschiene die Erde »far more beautiful than it is now«.9 Mit einem Rest von einer Milliarde Menschen, der weitgehend mit der Pflege und Rekonstruktion der historischer Monumente beschäftigt wäre, sollten sich Flora, Fauna und Klima erholen können. Diese künstlich-na8

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Gerard O’Neill, The High Frontier. Human Colonies in Space, New York 1977, S. 223. Weiterführend: R. D. Johnson / C. Holbrow (Ed.), Space Settlements: A Design Study [1975], Washington 1977 (NASA SP-413); John Billingham / William Gilbreath, Space Resources and Space Settlement [1977], Washington 1979 (NASA SP-428). Das von O’Neill gegründete Space Studies Institute veranstaltet bis heute Konferenzen zu diesem Thema (http://ssi.org). Vgl. auch die »Space Settlements«-Seite der NASA unter: http://www.nas.nasa.gov/About/Education/SpaceSettlement/index.html. O’Neill, S. 224.

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türliche »industry-free, pastoral earth«10 könnte dann zum bevorzugten Ausflugsziel von Touristen aus dem All werden. Auch damit jedenfalls hätte die Erde eine Dezentrierung kopernikanischen Ausmaßes erfahren. Um eben jene Weltraumkolonien, die das ›Raumschiff Erde‹ ermöglichen würden, soll es im Folgenden gehen. Sie bilden als Ort, den es für die Menschheit aufzusuchen gilt, das Gegenstück zu jenen Versuchen einer Kontaktaufnahme mit Außerirdischen, von denen sich die Menschheit aufgesucht zu werden erhoffte. Derartige Unternehmungen hatten mit der Sendung der Voyager 1977 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden, die in ihrer visuellen und akustischen Arche terrestrischer Kultur auch die berühmten Sätze Jimmy Carters in die stummen Weiten des Alls schickte: »Wir Menschen sind zwar noch in nationale Staaten unterteilt, aber diese Staaten werden bald eine einzige, globale Zivilisation sein […] Wir versuchen, unsere Zeit zu überleben, so dass wir in eurer leben können. Wir hoffen, nach der Lösung unserer gegenwärtigen Probleme einmal einer Gemeinschaft von Milchstraßen-Zivilisationen beizutreten.«11 Als Parallelaktion zu diesem Wunsch, erlöst zu werden, und dem Versprechen, sich dafür auch zu bessern, empfahlen die Vertreter der Kolonien, die Erlösung lieber selbst in die Hand zu nehmen.12 Weltraumkolonien sind die Mission, sich nicht missionieren lassen zu müssen. Kein Funkspruch eines höheren Wesen, dem Wissen unterstellt wird, soll die Erde retten, sondern jene Ingenieure mitten unter uns, die es zumindest besser wissen. In der Weltraumkolonie als technischer Infrastruktur des Neuen Menschen erscheint eine Option, selbst einmal zu jenen Außerirdischen werden, die eine Botschaft vom besseren Leben ganz aus der Nähe, von irgendwo zwischen Mond und Erde senden.13 In Bezug auf Welt stellen die kolonialen Ambitionen der 1970er eine Art »ultimate machine fantasy« dar,14 indem sie eine gesamte Lebenswelt (als größtmögliche aller Maschinen) noch einmal zu machen anstreben. In Bezug auf Stadt treiben sie die Wohnmaschinen der Moderne (die ja nicht umsonst in Satellitenstädten ihre Aufgabe 10 11 12 13 14

O’Neill, S. 225. Dazu auch Leo Marx, The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Idea in America, Oxford 1964. Carl Sagan, Signale der Erde. Unser Planet stellt sich vor, München / Zürich 1980, S. 33. O’Neill, S. 168ff. Vgl. Claus Pias, »Contact – Die Welt des (Außer-)Irdischen«, in: Constructing Utopia. Konstruktionen künstlicher Welten, Hg. A. Zinsmeister, Berlin /Zürich 2005, S. 157172. Stewart Brand, Space Colonies, Harmondsworth 1977, S. 47.

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fanden) auf die Spitze,15 um in ihrem Inneren die Phantasmagorie einer vorindustriellen Idylle zu bergen. Und in Bezug auf Raum verweisen sie auf jenen neuen Platonismus einer ›Unvergänglichkeit des Gemachten‹ (Blumenberg), der nur in vollständiger Leere und Unmarkiertheit produktiv werden kann. Im Folgenden werden daher zwei unterschiedliche »mediale Inszenierungen« von Weltraumkolonien in den Blick genommen: Einerseits jene populären Sachbücher, die im Zwischenreich von Ingenieursallmacht und Counterculture erscheinen und nicht müde werden, mit allerhand technischen Details, artistischen Impressionen und humanistischem Pathos zu inszenieren, dass und wie Weltraumkolonien machbar sind. Andererseits aber die Studien Herman Kahns, des wohl einflussreichsten Militär- und Politikberaters des Kalten Krieges und notorischen ›Denker des Undenkbaren‹, dessen Inszenierungen die Möglichkeitsbedingungen von Weltraumkolonien explorieren und damit auf den mentalitätsgeschichtlichen Ort ihrer Apologeten verweisen.

II. »Since Sputnik there is no Nature.« (Marshall McLuhan)

Das Leben in Weltraumkolonien wäre – darin sind sich seine Visionäre einig – schlichtweg paradiesisch und damit vermutlich langweilig.16 In einem künstlich erzeugten und kontrollierten »Hawaiian climate« mit »indoor outdoor life all year« ließe es sich aushalten.17 Kein Autoverkehr würde die Luft verunreinigen und die Anwohner mit Lärm belästigen, so dass »man sich seinen Gedanken hingeben [könnte], wenn man nicht die Blumen oder den Rasen betrachtet.«18 »[I]t must be as earth-like as possible, rich in green growing plants, animals, birds, and the other desirable features of attractive regions on earth.«19 Die Städte würden wieder ein ›humanes‹ Maß annehmen: gerade bevölkerungsreich genug, um den Betrieb von Schulen und Geschäften zu erlauben und gerade so groß, dass eine mensch15 16 17 18 19

Brand, S. 44f. So zumindest die Vermutung des Benediktinermönches David Steindl-Rast (vgl. Brand, S. 56). O’Neill, S. 177. T. A. Heppenheimer, Eine Arche auf dem Sternenmeer. Besiedlung des Weltraums [1977], Zürich 1980, S. 171. Brand, S. 14.

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Inneres einer Weltraumkolonie (Zylinder), Ölgemälde, 1975 (NASA AC75-1086)

liche Stimme notfalls noch bis an ihre Grenzen dringen kann. Die Kleidung der Bewohner würde schlicht und sachlich sein, begründet im Gebrauchswert und fernab der kurzlebigen Eitelkeiten der Mode.20 Die Ernährung wäre ausgewogen und unbelastet von Schadstoffen wie in glücklicheren Tagen: »With a varied diet including all the corn, cereals, breads, and pastries that many of us enjoy, and with plenty of poultry and pork, the space colonists will have good reason to follow our pilgrim ancestors, and celebrate thanksgiving with a feast of turkey, and christmas with a savory ham.«21 Die Anlage der Dörfer würde dem strukturellen Vorbild der Gartenstädte folgen und mit den stilistischen Mitteln der klassischen Moderne arbeiten, deren Materialien sich schon deshalb als weltraumgerecht erweisen, weil nur sie dort in großer Menge verfügbar sind. Stark durchgrünte Siedlungen von Ein- und Zweifamilienhäusern bestimmen das Bild, modular gebaut aus Glas, Metall und Beton. »Der amerikanische Kongress sollte ein besonderes Gesetz verabschieden, das den Kolonieerbauern den Wunschtraum des Amerikaners erfüllt, nämlich ein schuldenloses Eigenheim, ein Haus in der Weltraumkolonie. Diese Maßnahmen werden die Kolonisierung des Weltraums fördern, und zwar nicht durch Glücksjäger und Spekulanten, sondern durch solide Familien in Eigenheimen.«22 Neben allerhand unentfremdeter Arbeit und extraterrestrischem Kunsthandwerk, würde es neue, unschuldige Freizeitvergnügen ge20 21 22

Heppenheimer, S. 76. O’Neill, S. 91. Heppenheimer, S. 131.

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Inneres einer Weltraumkolonie (Stanford-Torus), Ölgemälde von Donald E. Davis, 1975 (NASA AC75-2621)

ben, wie 3-D-Fußball, schwebende Schwimmbäder, meditative Weltraumausflüge oder Sex bei zero-gravity.23 Offener Raum und Toleranz würden es unterschiedlichen Gemeinschaften erlauben, »[to] ›do their own thing‹ and build small worlds of their own, independent of the rest of the population«24 Denn »[a]uf der Erde ist es schwierig […], neue Nationen zu gründen oder wenigstens eigenes Land für [… eine] Gemeinde zu finden. Indianerreservate, die Forderung der Schwarzen, dass ihnen einige der US-Staaten zum Eigengebrauch abgetreten würden, die Gründung des Staates Israel unter gleichzeitiger Vertreibung der einheimischen Palästinenser: Das sind einige Beispiele von Problemen unserer Erde. Im Weltraum dagegen wird es für irgendwelche rassische oder religiöse Gruppen, wie auch für viele andere, keine Schwierigkeiten bereiten, ihre eigenen Kolonien zu gründen. […] Wer […] neuartige, experimentelle Gemeinschaften gründen will, um neue Gesellschaftsformen und Verhaltensnormen auszuprobieren, hat Gelegenheit, ins interstellare ›Neuland‹ aufzubrechen und seine Ideale in den neu zu gründenden Weltraumstädten zu realisieren.«25 Der Auszug ins All erweist sich mithin als Star Trek im besten Sinne: Als Eroberung eines unmarkierten Raums durch entschlossene Männer und Frauen, die ihn friedvoll, bescheiden und notfalls gottesfürchtig besiedeln. High Tech erscheint als Königsweg zu einer besseren Vergangenheit in der Zukunft. Der Weltraum als »High Frontier« (O’Neill), das ist die einstmals Neue 23 24 25

O’Neill, S. 106; Heppenheimer, S. 168, 180. O’Neill, S. 201. Heppenheimer, S. 241.

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Der Mondstützpunkt mit seinem Massebeschleuniger, der die Baumaterialien in den Weltraum katapultieren soll (Bild: Pierre Mion, National Geographic)

Welt in der fehlerbereinigten Version 2.0 – Geschichte, noch einmal gemacht, aber diesmal richtig und daher notwendig als Farce. Die Bedingungen für ein gelingendes Remake liegen dabei im grenzenlosen Reichtum der Gegend, an dem man sich bedienen kann, ohne ein schlechtes Gewissen bekommen zu müssen. So würde das nahezu unerschöpfliche Material für den Bau der Kolonien vom Mond bereitgestellt. Wie bei Computer-Betriebssystemen soll alles im bootstrap beginnen,26 d.h. mit einem ersten (und allemal problematischen) Prozess, der nur dazu dient, weitere Prozesse aufzurufen. Lunare Förderanlagen, Transporter und Stromgeneratoren erlauben den Bau weiterer Förderanlagen, Transporter und Stromgeneratoren. Auf einer Magnetschienenbahn würden die Baumaterialien dann, zu kleinen Päckchen von 20 kg portioniert, vom Mond zur 65 000 km entfernten Baustelle an Lagrange 5 geschossen, um in einer Art überdimensioniertem Basketballkorb gefangen und weiterverarbeitet zu werden.27 Nur auf dem Mond, so scheint es, ist das Transrapid-Konzept wirklich sinnvoll zu verwirklichen, denn nur dort lassen sich ausreichend lange, gerade Strecken bauen, auf denen bis zur Fluchtgeschwindigkeit von 2,4 km/s beschleunigt werden kann. Sind dann die ersten 3,6 Millionen Tonnen Material für die erste Station verarbeitet, soll sich das Ganze rasch in »something very like a small patch of farmland in springtime« verwandeln.28 Und auch das Handelsgut der Kolonien wäre ein unbegrenztes, nämlich Energie. Riesige Sonnenkollektoren würden Energie 26 27 28

O’Neill, S. 137. Nach einer Idee des Science Fiction-Autors Arthur C. Clarke, »Electromagnetic Launching as a Major Contributor to Space Flight«, in: Journal of the British Interplanetary Society, 9(1950), S. 261-267. O’Neill, S. 148.

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Konzept eines Energiesatelliten von Peter Glaser. Sonnenkollektoren von mehreren Quadratkilometern Größe sollen ihre Elektrizität an eine ca. 1000 Meter große Sendeantenne abgeben, die diese in Mikrowellen umwandelt und zu einem Leitstrahl gebündelt an die Erde sendet (Bild: Arthur D. Little, Inc.)

erzeugen, die über gebündelte Mikrowellenbeams an terrestrische Empfangsstationen in unbesiedelten Wüstengebieten übermittelt würde.29 Angesichts der Ölkrise verband sich damit die schöne Hoffnung, dass »[w]e can put the Middle-East out of business«, 30 und ließ Befürchtungen, dass dadurch die Erdatmosphäre erheblich erwärmt würde, gar nicht erst aufkommen31 – ganz zu schweigen von gewollten militärischen Anwendungen oder ungewollten Defekten im Leitsystem. Zu verlockend war die Aussicht einer ›sauberen‹ und nie versiegenden Energiequelle, d.h. einer solaren Ökonomie, die nicht mehr durch Mangel gekennzeichnet sein müsste. Weltraumkolonien sind nicht nur der Ort, an dem ein paradiesisches Leben möglich ist, sondern auch derjenige, der Leben auf der Erde in Zukunft wird ermöglichen können. Kurzgefaßt erscheinen die Weltraumkolonien als ideale Kolonien, weil sie alle Vorteile der historischen vereinen ohne an ihren Nachteilen zu kranken: Sie bieten »unlimited lowcost energy«, »unlimited new lands« und »unlimited materials source, available without stealing, or killing, or polluting«.32

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P. F. Glaser, »Power from the Sun: Its Future«, in: Science Magazine, 162 (1968), S. 857866; eine Idee, die (zumindest im Labormaßstab) noch in den 1990ern verfolgt wurde (http://spss.isas.ac.jp/) O’Neill, S. 18. Dieser Effekt sollte eher mit Spiegelreflektoren produktiv gemacht werden; vgl. Krafft A. Ehricke, »Contributions of Space Reflector Technology to Food Production, Local Weather Manipulation and Energy Supply«, in: American Astronautical Society, Space in the 1980‘s and Beyond, Science and Technology Series, 53 (1981). O’Neill, S. 38.

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Erstaunlich bleibt dabei allemal, dass die Apologeten der Auswanderung sich selbst nicht in jenen utopischen Traditionen wahrgenommen wissen wollen, für die nicht zuletzt Kolonien eine maßgebliche Rolle spielten.33 »[H]umanization of space«, so O’Neill, »is quite contrary in spirit to any of the classical Utopian concepts«34, denn diese erkauften sich ihre Abschottung nach außen durch totalitäre Organisation im Inneren. Während die klassischen Utopien von der Konstruktion einer neuen Sozialität ausgingen und diese notdürftig mit unzulänglicher Technik zu implementieren suchten, böten die Weltraumkolonien erst einmal nur eine technische Infrastruktur als Möglichkeitsbedingung für Isolation und Stabilität. Ihr Inneres bliebe dagegen ›ungekerbt‹: »In my opinion […] there can only be, in any healthy situation, the opinions of diversity and of experimentation«.35 Weltraumkolonien, das sind »social laboratories« für die Erprobung möglicher Regierungs- und Organisationsformen, für kleinere oder größere Gemeinschaften, für heterogene Lebensentwürfe und unterschiedlichste soziale Bindemittel unter konstanten Versuchsbedingungen. »[T]he opening of new social possibilities [has] to be determined by the inhabitants, with the help of a basically new technological methodology«.36 Im Inneren einer technischen Totalorganisation, die schon aus Überlebensgründen nichts dem Zufall überlassen darf, haust gewissermaßen der Luxus einer sozialen Selbstorganisation, den erst und nur sie gewährt. Gewiss ist dies bestenfalls naiv und verdient die Kritik, die rasch folgte. So insistierte etwa der Schriftsteller und Ökologe Wendell Berry in einem langen Brief an Stewart Brand darauf, dass die vermeintliche Befreiung kaum ohne extrem erhöhte staatliche Kontrolle und konzentrierte Firmenmacht zu haben sei und dass Technologie und Soziales nicht einfach getrennt werden könnten. »Like utopians before, you envision a clean break with all human precendent: history, heredity, character. Thanks to grandiose technological scheme, nothing is going to happen from now on that is not going to improve everything«.37 In den Phantasien künstlicher Welten hause ein »fundamental totalitarian impulse«.38

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Annett Zinsmeister, »Constructing Utopia. Eine kurze Geschichte idealer Konstruktionen«, in: Zinsmeister, S. 7-43. O’Neill, S. 198. O’Neill, S. 199. O’Neill, S. 200f. Brand, S. 82. Brand, S. 83.

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Gerard O’Neill erläutert die Weltraumkolonien vor dem Committee on Science and Technology, United States House of Representatives, 23. Juli 1975 (Bild: Eleanor Crow)

Doch so sehr diese Kritik zutreffen mag, und so sehr man sie bis tief in die technischen Details hinein verlängern könnte, so notwendig scheint es doch zugleich zu fragen, an welchem historischen Ort und in welchem Kontext sich die Konjunktur solcher Überlegungen überhaupt ereignen konnte und welche systematische Bedeutung dem Weltraum dabei zukommt. Gleichwohl nämlich die Vorstellungen von Weltraumkolonien weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen,39 ist ihre erneute Aktualität sehr konkreten Umständen der 70er Jahre geschuldet und überschreitet die Fiktionen der Literatur schon deshalb, weil ihre Autoren Positionen besetzten, an denen Literatur und Machbarkeitsstudie ineinander übergehen, weil sie ihre Appelle an Institutionen wie die NASA adressierten, die Machbarkeitsstudien in Baustellen verwandeln könnten und weil sie – etwa in Form von Kongressanhörungen40 – ein notfalls entscheidungsbefugtes Auditorium voraussetzen konnten. Einer der einflussreichsten Umstände ist sicherlich der Umweltschutz, der (nach Hans Blumenbergs schöner Beobachtung) seit dem Jahr der Mondlandung die Welt »als Drumherum zu denken vermag«.41 Nicht umsonst zierte kurz darauf das Bild des ›blauen Planeten‹ die Cover fast aller Ausgaben der Grenzen des Wachstums; nur vom Mond oder aus dem All erscheint die Welt als Ganzes beobachtbar und als sensibles System beschreibbar. Nichts anderes versuchten die Algorithmen der Simulationsprogramme Jay Forresters zu leisten, deren Sourcecode (sehr zu seinem Leidwesen) nicht in den Bestseller aufgenommen wurde. Und nach deren Ratio schien diese Welt kaum mehr zu retten, und schon gar nicht durch den Menschen allein. Was an den zitternd eskalierenden Funktionen 39 40 41

Vgl. Johnson / Holbrow, Kapitel 1. Vgl. Brand, S. 12-21. Blumenberg, S. 439.

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von Rohstoffreserven und Bevölkerungszahl, Verschmutzung und Lebensqualität nämlich aufstieß, war eine Unvorhersagbarkeit, wie sie nichtlinearen, dynamischen Systemen eben eigen ist. Entscheidungen aufgrund politischer Erfahrung oder auch nur aufgrund von gutmenschlichem common sense erschienen in ihren Konsequenzen chaotisch und im schlimmsten Fall kontraproduktiv zu den erhofften Zielen. Innerhalb einer endlichen, aber hochkomplexen Welt konnte die Folgerung eines ehemaligen Ingenieurs von technischen Frühwarnsystemen nur lauten, ein ebensolches auch für die globalisierte Welt zu installieren. »Intuition, Urteilskraft und Argumente sind unzureichend, um die Konsequenzen zu erkennen, die der Eingriff in ein komplexes System nach sich ziehen kann.«42 »Meine Hauptthese lautet [daher], dass das menschliche Denken nicht geeignet ist, das Verhalten sozialer Systeme zu erklären.«43 Oder anders gesagt: Die Welt ist zu kompliziert, um sie Politikern zu überlassen. Allenfalls Computer sind in der Lage sie zu stabilisieren, d.h. die Kurven zu bändigen, die unzähligen Feedbacks zu dämpfen und die Welt in einem dynamischen Gleichgewichtszustand zu halten, der vielleicht auch eine Art ›Ende der Geschichte‹ wäre. Die Diskussion um Weltraumkolonien erscheint damit als entschlossenes Gegenprogramm zu den verheerenden Prognosen des Club of Rome und zu Forresters Stabilisierungsvorschlag,44 und kaum einer ihrer Protagonisten spart folglich mit Vorwürfen des Neo-Malthusianismus und Beschwörungen historisch-technischer Unvorgreiflichkeiten. Mit dem Weltraum nämlich hätte – entsprechende Technologien vorausgesetzt – die Knappheit ein Ende: die Sonne liefert unendliche Energie, der Mond enorme Rohstoffmengen, und der leere Raum ist nicht nur grenzenlos besiedelbar, sondern auch eine grenzenlos geduldige Mülldeponie.45 Wenn die Welt schon nicht zu retten ist, gibt es wenigstens einen Ort, an dem man sie neu machen kann. Für O’Neill beispielsweise ist Forresters computerbalancierte »›steady-state‹ civilization« eine kulturelle 42 43 44

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Jay Forrester, S. 89. Jay Forrester, Testimony before the Subcommittee on Urban Growth of the Committee on Banking and Currency of the United States House of Representatives, Washington D.C., 7. Oktober 1970, Zweite Kongreßsitzung, III, S. 205-265 (Übers. Udo Rennert). Legendärerweise hob O’Neills Beschäftigung mit der Seminarfrage an: »Ist die Oberfläche eines Planeten wirklich der richtige Ort für eine expandierende, technisch hochentwickelte Zivilisation?« Sie wurde offensichtlich kurz nach Erscheinen der Limits of Growth gestellt, denn die erste Antwort erschien als Gerard O’Neill, »The Colonization of Space«, in: Physics Today, 27 / 9 (1974), S. 32-40, und landete wenig später auf der Titelseite der New York Times (vgl. Heppenheimer S. 32). Heppenheimer, S. 67ff.

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Kapitulationserklärung und ein Rückfall ins primitive »living out […] timeless histories«. Jede stabile Kultur sei notwendig repressiv gegenüber »new ideas«, so dass mit den Weltraumkolonien der »freedom of thought« und »the search for scientific knowledge, the delight in intellectual heresy, the freedom to order one’s life as one pleases« auf dem Spiel stehe.46 Doch so sehr die Fraktionen sich anscheinend voneinander unterscheiden, so sehr sind sie durch ein gemeinsames historisches Dispositiv verbunden. Beide nämlich sind der Systemanalyse und dem Systemdesign verpflichtet, das wiederum seine medientechnische Basis in Digitalrechner und Computersimulation fand. Als Wissenschaft mit hohen Erfolgsversprechen in verschiedensten Wissensbereichen war die Systems Analysis ein Abkömmling der Kybernetik und beschäftigte sich mit der Untersuchung industrieller, biologischer, sozialer, politischer und nicht zuletzt ökologischer Systeme.47 Forrester war mit seinen seit den frühen 60er Jahren am MIT entwickelten System Dynamics und seiner Programmiersprache DYNAMO einer der Pioniere solcher Methoden.48 Und geradezu lehrbuchhaft vollziehen seine Arbeiten für den Club of Rome die Schritte von Elementarisierung (units), Verknüpfung (structures) und Verzeitlichung (processes), um die Eigenschaften des so modellierten und simulierten Systems ›Erde‹ zu beobachten. Erkennen und Machen jedoch sind seit der Kybernetik zwei Seiten einer Medaille, und die Analyse von Systemen impliziert zugleich ihre grundsätzliche Machbarkeit – wie viele Modellrevisionen dieser auch immer vorgelagert sein mögen.49 Systeme sind machbar, lautete die Botschaft einer noch jungen Disziplin, die in den meisten Fällen mit gehörigem Erwartungsvorschuss belohnt wurde. »I am describing a kind of ›existence proof‹ – an illustration that a consistent solution does exist for the design of the islands in space«, 46 47

O’Neill, S. 32, 208. Nur für letzteres sei eine direkte Spur erwähnt: Howard T. Odum hatte bei Evelyn Hutchinson, einem Teilnehmer der Macy Conferences on Cybernetics studiert, der 1948 mit »Circular Casual Systems in Ecology«, in: Annals of the New York Academy of Sciences, 50 (1948), S. 221-246, das Thema eröffnete. Gemeinsam mit seinem Bruder Eugene publizierte er das Grundlagenwerk Fundamentals of Ecology, Philadelphia 1953, mit dem dann eine kybernetische Theorie des Ökosystems vorlag. In der dritten Auflage (1971) war ein Kapitel »Ecology of Space Travel« von G. Dennis Cooke beigegeben. Zum Zusammenhang von Ökosystem-Theorien und Kybernetik vgl. Bill Bryant, »Nature and Culture in the Age of Cybernetic Systems«, paper zum ASA Annual Meeting, Detroit 12.-15. Oktober 2000. 48 Jay Forrester, Industrial Dynamics, Cambridge, Mass. 1962; Urban Dynamics, Cambridge, Mass. 1969; World Dynamics, Cambridge, Mass. 1971, alle seitdem in zahlreichen Neuauflagen. 49 Brand, S. 92.

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Flussdiagramm des Weltsystems von Jay Forrester

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Öko-System für eine Weltraumkolonie nach Harry Jebens. In einem Computermodell konnte der Materialfluß zwischen den verschiedenen Subsystemen simuliert werden, um festzustellen, ob sich das System im Gleichgewicht befindet oder nicht, und ob es stabil ist oder leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen ist (Bild: NASA)

schreibt O’Neill.50 Deutlicher bringt es die eigens für Weltraumkolonieforschung gegründete Zeitschrift L5News auf den Punkt, die in der Oktober-Ausgabe von 1975 schlicht von »System Dynamics applied to Space Communities« spricht. Und das hat seine Berechtigung, denn nichts könnte die Kompetenz von Systemdesign besser beweisen, als eine bevölkerte, überlebensfähige Welt im Kleinen, und kein Ort könnte dafür besser geeignet sein als der Weltraum. Nur der Weltraum nämlich zeichnet sich dadurch aus, dass er per se ein steriler Raum ist, ein Raum, der wie ein Labor die Kontrolle über idealerweise alle Variablen erlaubt. Nicht umsonst zogen die Entwürfe von Weltraumkolonien immer wieder die Kritik an, sie wechselten in unzulässiger Weise den Maßstab vom Laborexperiment zur Überlebensgröße.51 Im Vakuum lässt sich gut experimentieren. Und mehr noch: Gerade weil das Weltall ein Überleben so unmöglich macht, kann alles, was dieses Überleben bestimmt, neu gemacht und darum selbst bestimmt werden. Nicht-Lebensbedingungen sind der Aufruf, ex nihilo welche zu schaffen. »[W]e will achieve what has never been possible on Earth: independent control of the best climates for living, for agriculture and for industry all 50 51

O’Neill, S. 60 (Hervorh. C.P.). z.B. John Holt in Brand, S. 63.

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within a few miles from each other.«52 Wir sind nicht mehr »gravitationally disadvantaged«53 wie in einer terrestrischen Umwelt, und gleichgültig ob Flora oder Fauna, Temperatur oder Feuchtigkeit, Tages- und Nachtzeiten, Sonnenschein und Regen54 – alles erlaubt der Weltraum als konstruier- und kontrollierbar zu denken. Freiheiten von denen Künstler auf Erden nur zu phantasieren vermögen55, sind im Weltraum immer schon Möglichkeitsbedingung. Die Leere des Raums ist eine Option, frei von Rücksichten zu sein.56 Und in der Rücksichtslosigkeit wird sich zeigen, ob eine technische Vernunft zu leisten vermag, was bislang nur die Evolution bewerkstelligte: »The proposal is […] to build a new meta-stable ecosystem, complete with biotic resources and closed cycles for other essential ressources, and capable of supporting man over long periods. No such system has ever been constructed on earth.«57 Worauf ein malthusianischer Populationsbiologe wie Paul Ehrlich allerdings nur schulterzuckend antworten konnten: »We simply have no idea how to create a large stable artificial ecosystem.«58 Die Bestrebungen eines Auszugs aus dieser Welt und die Hoffnungen auf die Machbarkeit einer künstlichen haben jedoch noch einen breiteren kulturhistorischen Hintergrund, denn sie verweisen auf zwei typische Spielarten des Verhältnisses zur Technik, die im amerikanischen Kontext nicht unbedingt in Opposition stehen, sondern oft verschlungene Beziehungen unterhalten. Denn die Zeit der Weltraumkolonien ist, das sollte nicht unterschlagen werden, auch die Zeit der Counterculture, der Hippies und Beatniks, der Drogenexperimente und Kommunen. Im Schmollwinkel des technischen Fortschritts entstehen ökologische Nischen der Verweigerung, die oft genug Formen annehmen, die einer Weltraumkolonie nicht unähnlich sind – wenngleich auch mit anderen Mitteln. Als berühmtestes Beispiel mag man an The Farm denken, die von Ste52 53 54 55 56 57 58

O’Neill, S. 63. O’Neill, S. 40. Heppenheimer, S. 156; Brand, S. 106. Vgl. Thomas Kellein, Sputnik-Schock und Mondlandung. Künstlerische Großprojekte von Yves Klein bis Christo, Stuttgart 1989. Blumenberg, S. 84, zitiert dazu Kant: »Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen würde.« Brand, S. 92. Brand, S. 43. Womit er vorerst Recht behalten sollte: Versuche, zumindest auf der Erde ein stabiles künstliches Ökosystem einzurichten, wie es etwa in Biosphere 2 seit den späten 1980er Jahren versucht wurde, scheiterten. Nach Investitionen von etwa 150 Millionen Dollar steht die Anlage seit 2005 zum Verkauf (http://www.bio2. com/). Vgl. auch Ehrlichs Bestseller The Population Bomb, New York 1968.

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phen Gaskin 1971 gegründet wurde und mit einer Erstbesetzung von über 300 Leuten den Ausstieg aus der Gesellschaft probte, um in unberührter Gegend als autarke, landwirtschaftliche Gemeinschaft zu leben.59 Was sich nämlich die sogenannten »Ecovillages« als Agenda setzen – »organic gardening and composting; biological waste management; reuse, recycle, rebuild; renewable power systems; egalitarian and open democratic governance«60 – sollte Punkt für Punkt auch für die Weltraumkolonien gelten. Gäbe es von letzteren ein Foto, wäre der an Langrange 5 im All schwebende ÖkoBauernhof von dem in Tennessee wohl kaum zu unterscheiden. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass die einen diese Ziele ohne, die anderen aber gerade durch Technik zu erreichen suchten. Im Zeichen atomarer Bedrohung und der Grenzen des Wachstums gilt es die eigene Epoche schnellstmöglich zu verlassen, aber auf unterschiedlichen Wegen. Technikapologeten wie Zivilisationskritiker (deren politische Lager nicht auf ›links‹ und ›rechts‹ reduzibel sind) verweisen zu ihrer Rechtfertigung gleichermaßen auf eine ›Humanität‹, die es zu gewinnen und zu entfalten gelte.61 Dabei sind Konversionen zwischen den Lagern nicht ausgeschlossen, wie das berühmte Beispiel von Timothy Leary zeigt, der von chemischen zu elektronischen Drogen und von Roadtrips zu Spacetrips wechselte.62 Kaum aus dem Gefängnis entlassen, predigte er S.M.I2.L.E. (Space Migration, Intelligence Increase, and Lifespan Extension) und gab Ende 1976 ein Interview für L5News. Nach der Lektüre von O’Neill sei er sicher, »that we are not basically terrestrial« und schließt sich (bis hin zur eigenen Beerdigung) begeistert dem »extraterrestrischen Imperativ« an.63 »It is our evolution or destiny«, so Leary weiter, »to migrate from the planet as it was our destiny to leave the water and become amphibian, and then later land creatures. I believe the sequence from sea to shoreline to land to air to space is built into our DNA blueprint. […] Dr. Leary, […] Who wants to go to a [space] colony? Well, it’s like a 59

Albert Bates, »Post-Communal Experiments at The Farm in the Context of Developmental Communalism,« in: Green Revolution, 50 (1993 / 94). 60 http://www.thefarm.org. 61 In Europa mit aller Klarheit ausgedrückt bei Max Bense: »Nur antizipierbare Welten sind programmierbar, nur programmierbare sind konstruierbar und human bewohnbar« (zit. nach Mihai Nadin, in: Zukünfte des Computers, Hg. Claus Pias, Berlin / Zürich 2004, S. 43). 62 Zu solchen Bewegungen demnächst Fred Turner, Counterculture into Cyberculture, erscheint Chicago 2006. 63 Krafft Ehricke, »The Extraterrestial Imperative: Why Mankind must Colonize Space«, in: Fusion, Dezember 1982, S. 18-24.

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butterfly … a caterpillar becoming a butterfly and learning how to fly … like a bird in the nest just getting ready to flap its wings and soar out over the air.«64 Oder kurzum: Erst durch die NASA wird die Weltseele flügge.

III. »Es gibt zweifellos eine geheime Moralistik der Astronautik, zumal ihrer Visionäre, von der man nur nicht genau weiß, wieviel Werbeeffekt für überteuerte Projekte darin stecken mag.« (Hans Blumenberg)

Die Strategien der medialen Inszenierung von Weltraumkolonien basieren auf einer Mischung, die sattsam bekannt ist und insbesondere die Raumfahrt schon lange begleitete. Da wäre die Science Fiction-Literatur, die seit den Tagen eines Jules Verne oder H.G. Wells intime Beziehungen zu den populären Sachbüchern naturwissenschaftlich ausgebildeter ›Visionäre‹ unterhält.65 Da wären die Bastler und Tüftler, Amateure und Liebhaber, die allzu gerne vom Kleinen aufs Größte schließen und selten die Diskretion aufbringen, ihre Folgerungen nicht aller Welt als baldige Machbarkeit zu verkünden. Und da wäre zuletzt die visuelle Argumentation, die vom gründerzeitlichen Kupferstich der plüschigen Raumkapsel bis zum farbenprächtigen Acrylgemälde blühender Kolonielandschaften wortwörtlich ausmalt und verspricht, was genau so sein könnte, nur leider noch nicht so ist – den Film nicht zu vergessen.66 Die Adresse solcher Strategien bilden jedoch nicht nur staunende Laien und interessierte Kollegen, sondern auch potentielle Geldgeber. Schon aus diesem Grund gilt es die Schriften der O’Neills und Heppenheimers um die Würdigung eines Dokuments zu ergänzen, das nicht für die Öffentlichkeit, sondern ausschließlich für die Augen von NASA-Verantwortlichen entstand und von diesen wahrscheinlich teuer bezahlt wurde.67 Etwa auf dem konjunkturel64 L5News, December 1975, o.S. 65 Die Einleitung zu Heppenheimers Buch lieferte beispielsweise Ray Bradbury. 66 James Bond 007 – Moonraker, der den Diskussionen um Weltraumkolonien nicht nur seinen ikonographischen Kernbestand verdankt, sondern auch ihren Totalitarismus auf die Frage einer Neuen Rasse zuspitzt, erschien passenderweise 1979. 67 So beantragte Kahn etwa für eine Forschungsprojekt über das Leben unter der Erde nach einem Atomkrieg die exorbitante Fördersumme von 200 Millionen Dollar – wohlgemerkt nur für die erste Projektphase (Some Specific Suggestions for Achieving Early Non-Military Defense Capabilities and Initiating Long-Range Programs, RAND RM-2206-RC, 2. Januar 1958).

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len Gipfel der Weltraumkolonisierungs-Diskussionen nämlich verfassten Herman Kahn und sein Co-Autor William M. Brown einen 300-seitigen Bericht mit dem eher sachlichen Titel Long-Term Prospects for Developments in Space.68 Die Autoren waren mit der Literatur bestens vertraut, kannten die Vordenker in Science und Fiction wie Tsiolkowsky oder Noordung, von Braun oder Krafft Ehricke, die jüngsten Arbeiten von O’Neill, Heppenheimer oder Vaijk und natürlich die Studien und Entwicklungspläne der NASA selbst,69 geben ihrer Untersuchung jedoch eine völlig andere Richtung. Mit dem Hinweis A Scenario Approach ist markiert, dass es hier nicht um die Frage technischer und ökonomischer Machbarkeiten geht, sondern darum, was überhaupt die Möglichkeitsbedingungen des Machens sein könnten. Das Szenario als Methode, die Kahn seit den 50er Jahren bei der RAND Corporation entwickelte und später an seinem Hudson Institute verfeinerte, versteht sich dabei weder als Prognose dessen, was passieren wird, noch als Organisationsplan für Ereignisse, von denen man wünscht, dass sie passieren mögen. Stattdessen entfaltet das Szenario, ausgehend von einer bestimmten Situation, alternative und gleichmögliche Ereignisserien.70 Es ist eine Form experimentellen Erzählens – eines Erzählens, dessen Motor das Experiment ist und eines Experiments, das nicht ohne die Erzählung auskommen kann. Ziel dieses Experiments ist es nicht, die eine oder andere Möglichkeit als wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher auszumachen, sondern die Bedingungen unterschiedlicher Ereignisfolgen selbst zu markieren. »Ein Szenarium […] möchte […] darauf hinweisen, wie es dazu kommen könnte.«71 Es adressiert sich an Entscheidungsträger, in dem es Entscheidungsbäume durcherzählt oder in der Gruppe, als Rollenspiel, durchspielen lässt, zielt dabei jedoch nicht vornehmlich auf die Inhalte der Folgen, sondern auf die Form 68 William M. Brown / Herman Kahn, Long-Term Prospects For Developments in Space (A Scenario Approach), HI-2638-RR, 30. Oktober 1977, NASA-Contract NASW-2924. Ich danke Helmut Müller-Sievers (Northwestern University) für seine Hilfe bei der Beschaffung dieses entlegenen Dokuments. 69 Vgl. z.B. Herman Kahn / William M. Brown, The Next 200 Years in Space (NASA Bicentennial Planning), HI-2352-RR, 23. Oktober 1975; Jesco von Puttkamer, »Developing Space Occupancy: Perspectives on NASA Future Space Programme Planning«, in: Journal of the British Interplanetary Socitety, 29 (1976), S. 147-173; National Aeronautics and Space Administration (NASA), Outlook for Space, SP-386, Washington, Januar 1976. Zur Tradition bei RAND vgl. Preliminary Design of an Experimental WorldCircling Spaceship, SM-11827, 2. Mai 1946. 70 Zur Methodologie vgl. Herman Kahn / Irwin Mann, Ten Common Pitfalls, RAND RM1937, 17. Juli 1957. 71 Herman Kahn, »Wendepunkte – Ein Debakel in Vietnam«, erscheint in: Herman Kahn – Szenarien.

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der Folgerung. Geradezu lehrbuchhaft ist dazu Kahns Szenario der Explosion einer nuklearen Waffe auf einer SAC-Basis im Jahr 1960, deren Konsequenzen er in mehreren alternativen Erzählsträngen entwickelt, und die entweder die USA oder die UdSSR als ›Verlierer‹ dastehen lassen.72 Trotzdem wird man, so Kahn, nicht wissen, ob diese oder jene (poetische) Wirklichkeit darum eine ›bessere‹ oder ›schlechtere‹ wäre. Was interessiert ist nur, dass die mehreren Erzählungen zusammen (und nur zusammen) unser Verständnis »of bizarre actions«73 vertiefen. Geschichte als ›einziges Wunder‹ (Kosellek) oder ›Undenkbares‹ (Kahn) ist das, was in Szenarien künstlich, als ›synthetic history‹ hergestellt und exploriert werden soll. Szenarien inszenieren nicht, indem sie etwas Vorgängiges für ein Publikum darstellen, sondern sie erfinden etwas im Experiment der Darstellung. In diesem Sinne jedenfalls unterscheiden sich Kahns Aussichten für eine Kolonisierung des Weltraums erheblich von denen seiner Zeitgenossen. Die Frage lautet nicht, wie solche Kolonien aussehen oder warum sie erstrebenswert sein könnten, sondern (vorausgesetzt, dass alle technischen Probleme irgendwie gelöst werden) unter welchen Bedingungen sie in welcher Form realisierbar oder nicht realisierbar wären. Entlang einer »12-point optimism-pessimism scale« entwirft Kahn dazu 14 mögliche politisch-ökonomische Kontexte (von begeisterter Unterstützung bis zu technophober Verdammung), innerhalb derer sich Projekte der Space Industrialization und des Space Settlement (so die offizielle NASA-Diktion, die mit Begriffen wie ›Kolonien‹ lieber vorsichtig hantiert) legitimieren müssen.74 So sehr sich die dann folgenden, breit ausgestalteten Erzählungen auch unterscheiden mögen, so unverrückbar sind einige Grundannahmen. Sicher ist erstens, dass die Grenzen des Wachstums jene Krise markieren, aus der eine gut beratene NASA Kapital schlagen sollte. Wider den neo-malthusianischen Pessimismus überraschungsfreier Projektionen müsste sie den Weltraum als einen »locus of dynamism, initiative, and entrepreneurship«75 zu inszenieren wissen, an dem »inexhaustible supplies«76 warten. Der Sprung zu ›super-‹ oder ›postindustriellen‹ Ökonomien, die nicht mehr mit »materials« son72 73 74 75 76

Herman Kahn, Thinking About the Unthinkable, New York 1962, Kapitel 5. Thinking About the Unthinkable, S. 165. Long Term Prospects, S. 16-31; vgl. Brand, S. 5; erstaunlicherweise decken sich die Pläne zu Weltraumkolonien mit dem Beginn der »postcolonial studies«, was einige Überlegungen wert wäre. Long Term Prospects, S. 36. Long Term Prospects, S. 65.

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dern mit »organizations« arbeiten, könnte gewissermaßen dadurch gelingen, dass man die immer noch notwendige Industrie im Weltall ›aufhebt‹.77 Sicher ist zweitens, dass Projekte dieser Art nur über die Macht der Gefühle zu finanzieren sind. Frieden und Ökologie, nationaler Enthusiasmus und Wettbewerbsgeist, Völkerverständigung und nicht zuletzt Abenteuerlust geben erst jenen emotionalen Kredit, auf den man im Weltraum wird bauen können.78 Und sicher ist drittens, dass nur massenhafte Partizipation in Form von Weltraumtourismus einen rentablen Betrieb gewährleistet, womit die Transportkosten pro Kilogramm zum zentralen Regulator und zugleich Meßinstrument des Erfolgs werden.79 Vor diesem Hintergrund entwickelt Kahn nun drei Szenarien und bedient sich literarisch bei Autoren wie Edgar Allan Poe oder Edward Bellamy, indem er rückblickend aus dem Jahr 2076 berichtet.80 Aus der Sicht eines Politikberaters von eher halbseidener Prominenz und enfant terribles des Systemanalyse hört sich dies – und zwar dezidiert vor dem Hintergrund des Wettrüstens und der Konkurrenz der Blöcke – etwa wiefolgt an: Das optimistische Szenario. Mit der zweiten Generation von Space Shuttles und neuen Schwerlastraketen sinken die Transportkosten seit Ende der 1980er Jahre exponentiell. Etwa zu dieser Zeit werden die ersten Politiker und Filmstars als Werbeträger für den kommenden Weltraumtourismus ins All befördert und International Space Tours, Inc. gegründet. Die erste Mondstation wird 1993 eröffnet und Future Space Developments als Schulfach eingeführt. Kooperationsverträge mit der UdSSR verhindern einen ruinösen Wettlauf von Parallelentwicklungen und deklarieren den Weltraum als waffenfreie Zone. So oder so ähnlich beginnt jedenfalls die Zeit des »Great Awakening« zwischen 2000-2025. Die erste L-5-Kolonie entsteht 2020 für symbolische 2020 »true pioneers«, die (entsprechende mediale Inszenierung vorausgesetzt) kaum minder bewundert werden als Astronauten, die in die Nähe von »high priests« rücken. Der Tourismus steigt derweil um den Faktor 200 auf 100 000 Flüge pro Jahr, und als man entdeckt, dass Weltraumgeborene »physically and emotionally more healthy« sind, »that their natural longevity is […] expected to increase by about 30 years, and that their mental 77

Long Term Prospects, S. 31, 33. Vgl. Daniel Bells Nachwort zu Herman Kahn / Anthony J. Wiener, Ihr werdet es erleben, Wien / München 1968, S. 411-419; sowie Herman Kahn (Hg.), Die Zukunft des Unternehmens, München 1974, S. 195-207. 78 Long Term Prospects, S. 97. 79 Long Term Prospects, S. 89. 80 Ein Stilmittel, das übrigens auch O’Neill als Einleitung benutzt (vgl. O’Neill, S. 13ff.).

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capability, on average, appears to be substantially greater as well«, beginnt ein »remarkable ›exodus‹ into space«.81 Die »Space Community« überwindet plötzlich die »earth centered-cultures« mit ihren nationalen Chauvinismen: »The space culture was not planned, it just happened.«82 So verschwinden zwischen 2025-2075, in der Zeit der »Maturity of Space Development«, die Nationalstaaten und ein post-territoriales Zeitalter nimmt seinen Anfang. Alle Ressourcen werden zum Wohl der »Solar Cilivization« eingesetzt, Übersetzungscomputer haben die Sprachbarrieren verschwinden lassen, Computernetze die Wissensgesellschaft fast bis zum Chardin’schen »Universal Brain« ausgebaut. 200 Millionen Touristen fliegen jährlich in den Weltraum, und die erste Marskolonie ist bereits eingeweiht. Körperliche und geistige Behinderungen sind verschwunden und die Lebenserwartung auf 120 Jahre gestiegen. Das pessimistische Szenario geht vom Erfolg dessen aus, was Kahn die ›Neue Klasse‹ nennt.83 Diese rekrutiere sich aus Intellektuellen (vornehmlich aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften), Künstlern, Bürokraten und Medienschaffenden aus der upper middle class und stehe für eine ideologische Gemengelage aus Risikoangst und Umweltschutz, Pazifismus und Technikfeindlichkeit, Wohlfahrtsstaat und Hedonismus, Globalisierungskritik und Werterelativismus. Seit diese die Überwindung der Energiekrise in den 1990ern als ihren Triumph feiert, sinken nicht nur die Budgets der NASA, sondern entsteht ein innovationsfeindliches Klima, und ein »Brain Drain« setzt ein. Erfolgreich sind fortan nurmehr jene Nationen, die nicht (wie übrigens auch Europa und Japan) von der Ideologie der ›Neuen Klasse‹ angekränkelt sind, und das heißt: die UdSSR, China und Brasilien. Alles entscheidet sich auch hier im mittleren, »adolescent quarter« zwischen 2000 und 2025. Brasilien, das einen atemberaubenden Aufschwung und ein eigenes Weltraumprogramm hinlegte, geht an seiner Verschuldung zugrunde. Die UdSSR, die noch vor dem Jahr 2000 geosynchrone Raumstationen, Weltraumfrachter, Energieversorgungssatelliten und eine Mondstation gebaut hatten, sind durch ihre Planwirtschaft unfähig, mit ihren eigenen Innovationen schrittzuhalten. Und während die Macht der ›Neuen Klasse‹ in den USA nachlässt und einer allge81 82 83

Long Term Prospects, S. 130 Long Term Prospects, S. 128. Long Term Prospects, Anhang. Nebenbei ist ein Hauptfehler der ›Neuen Klasse‹, nicht an die Kahn’schen Methoden zu glauben, sondern an die »surprise free prediction« von der Art des Club of Rome (Long Term Prospects, S. 209).

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meinen Ratlosigkeit weicht, erwacht der »sleeper« China. Mit dem Selbstwertgefühl einer »inherently superior culture«84 wird China ab 2025 weltführend in Wissenschaft und Technologie, baut Weltraumkolonien, übernimmt 2030 erfolgreich das gescheiterte Space Tourism-Programm Brasiliens und baut ein Großlabor auf dem Mars. Um 2050 gibt es keinen Wettbewerb mehr: China ist die alleinstehende Weltmacht, die alle anderen Staaten alimentiert. Seitdem passt die Welt sich dem ›chinesischen Modell‹ an, und die ›egozentrischen Kulturen‹ gehen unter – nicht ohne China zuletzt noch ein wenig mit ihrem Individualismus zu infizieren. Das moderate Szenario zuletzt beginnt in der Zeit zwischen 1976 und 2000 unter ähnlichen Bedingungen. ›Neue Klasse‹ und Neo-Malthusianismus führen zu Inflation und Wachstumsrückgang, und allein die »electronic revolution« boomt. Immerhin gelingen der NASA einige Wetraumunternehmungen wie Navigations- und Wettersatelliten, Space Shuttle, Weltraumteleskope und eine Machbarkeitsstudie für eine Raumstation. Aufgrund mangelnder Rüstungskontrolle in den 1990ern erweitert sich jedoch die Rüstungsspirale in den Weltraum, wobei ebenfalls China ›erwacht‹. So entsteht eine »3-way cold war paranoia« mit drei Blöcken, die im »Great Space War« von 2019 endet – einen Krieg, dessen Anfang nie aufgeklärt wird, der nur einen Tag dauert und im leeren Raum »like a chess game« gespielt wird und nahezu alle Satelliten und Weltraumstationen zerstört. Erst danach, in den Friedensjahren zwischen 2025-2076 beginnt eine friedliche Kolonisierung des Weltraums, die hauptsächlich von USamerikanischen Privatfirmen durchgeführt wird.85 Es braucht dann allerdings noch eine Reise des Papstes in den Weltraum und eine vollständige Steuerbefreiung für alle Weltraumaktivitäten, um ab 2076 zu einer neuen Phase wirtschaftlichen Aufschwungs zu gelangen, zu »high morale« und einem »sense of unity« innerhalb dessen das Leben im Weltraum zuletzt autark von der Erde wird. So phantastisch und zugleich naiv sich all dies – im Original über gut 200 Seiten entwickelt – anhört und so sehr die Grenzen zu den billigeren Formen der Science Fiction geöffnet scheinen, so wenig zählen letzthin die Details. Nicht die Wahrscheinlichkeit einzelner möglicher Ereignisse ist Ziel des Szenarien-Schreibers, sondern der Versuch, in der vergleichenden Darstellung poetischer Notwendig84 Long Term Prospects, S. 193. 85 Kahn erfindet dazu den Politikertypus »George Lincoln« (George Washington + Abraham Lincoln) und den Unternehmertypus »Henry Geneen« (Henry Ford + Harold Geneen), Long Term Prospects, S. 227, 234.

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keiten auf jene Logik zu verweisen, mit der Entscheidungen andere Entscheidungen nach sich ziehen können. Die Überzeugungskraft von Szenarien besteht in der Drastik, mit der kleine Unterschiede der Ausgangs- und Randbedingungen große Wirkungen im Ergebnis machen. Darin zumindest sind sie der Computersimulation verwandt, obgleich Kahn dieser nur eine beschränkte, werkzeughafte Rolle zugesteht und (s)einer systematisch gesteuerten, literarischen Einbildungskraft weit mehr vertraut. Fragt man sich also, was es für die NASA aus den Szenarien zu lernen gibt, dann kann die Antwort nur lauten: nichts Konkretes. Zu lernen gibt es allenfalls, dass eine »systematic formulation and dissemitation of appropriate images of the future«86 stattfinden muss, wenn die Gelder fließen sollen. Oder genauer: »NASA should try, in a low-key manner, to formulate and promulgate a concept of future space development as part of the manifest destiny of humanity, and as an obvious next phase in an historical process which started in the 15th century with the age of exploration and which has led to today’s modern world.«87 Humanität ist, anders als die aufrichtigen Verfechter von Kolonien, die doch immer nur das Gute woll(t)en, es sich träumen lassen, kein Wert für den man ins All geht, sondern eine PR-Maßnahme, dank derer man hoffentlich die Macht bekommt, ins All gehen zu lassen. Und um das Schicksal der Menschheit, für das man sich als zuständig anbietet, auch für ein amerikanisches Massenpublikum verständlich zu machen, gibt es mindestens drei Möglichkeiten: Nationalstolz, Geld und Religion. Der Weltraum (und das sollte die NASA notfalls auch durch Unterlaufen gewisser Peinlichkeitsschwellen bewerkstelligen) muss die Stelle des ›wilden‹ Westens besetzen und als neue »frontier« wiedererstehen, deren Eroberung die amerikanische Kultur schon einmal mit Werten wie Gleichheit, Unabhängigkeit, Offenheit, Beweglichkeit und Demokratie zu imprägnieren vermochte.88 Was andererseits das Geld betrifft, so müsse man eben »expectations« wecken, dass im Weltraum so etwas wie »Middle East oil or Klondike gold« schlummere.89 Selbst überzogen optimistische Aussichten seien »still useful as part of a social process«,90 wobei auch in noch so pessimistischen »images« immer gewisse »unexpected treasures« 86 87 88 89 90

Long Term Prospects, S. 257. Long Term Prospects, S. 257. Long Term Prospects, S. 257. Long Term Prospects, S. 258, 260. Long Term Prospects, S. 258.

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versteckt werden sollten. Dabei sind populäre Sachbuchautoren und Science Fiction-Schreiber allemal willkommen, erst recht, wenn sie noch eine akademische Sozialisierung vorweisen können: »It is clear that publicists have been very instrumental in spreading particular concepts (such as Professor O’Neill, for space colonies). But much more can be done.«91 Und zuletzt gibt es auch im Bereich der Religionen und Sekten noch erhebliche Potentiale. Sicher würden sich Gemeinschaften wie Mormonen oder Black Muslims bereitwillig bei Weltraumkolonie-Fonds einkaufen, wenn sie nur »sufficiently motivated« wären.92 Eine ausreichende »relgious connotation« der Weltraumprojekte vorausgesetzt, könnten die Kirchen das Vermögen ihrer Mitglieder abschöpfen und als steuerbegünstigte Investition in ihr je gelobtes Land einsetzen. Ein Jahresbeitrag von $ 2500 auf 1 Million Familien würde schon nach 40 Jahren für deren eigene Weltraumkolonie ausreichen, wie Kahn überschläglich vorrechnet. Was erstaunte Beobachter wie Hans Blumenberg nur nachträglich auslesen können, nämlich eine »Affinität zur Eschatologie«93, sollten gut beratene Institutionen längst schon gewusst und genutzt haben – auch wenn sie sich vielleicht nicht trauten, mit Kahns radikalen Vorschlägen Ernst zu machen. Immerhin einer der führenden Köpfe der NASA jedoch, Jesco von Puttkamer, der noch heute zu ihren ›Visionären‹ gezählt wird, hatte genau zugehört. Damals zuständig für die NASA-Planungen bis zum Jahr 2000 und damit auch für die Finanzierung von Weltraumkolonien, ließ er es sich nicht nehmen, zumindest die Gemeinde der Star Trek-Fans zu verpflichten.94 Als Keynote-Speaker diverser Conventions predigte er die Zukunft von Weltraumkolonien vor überfüllten Sälen und konnte zumindest eine Afro-Amerikanerin namens Nichelle Nichols (alias Lt. Uhura) rekrutieren. »Humankind«, so ließ diese sich beeindruckt vernehmen, »is going into space whether we like it or not. And when we colonize space, we [the black people] don’t want to be there as chauffeurs and tap dancers.«95 Die NASA wiederum revanchierte sich bei der Einweihung des ersten Space Shuttle im September 1976, das nicht umsonst den Namen »Enterprise« trug und das »Fundament 91 92 93 94

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Long Term Prospects, S. 258. Long Term Prospects, S. 270. Blumenberg, S. 465. Brand, S. 80; Heppenheimer, S. 36. Das Bündnis mit dem Walt Disney-Konzern war natürlich schon älter und hatte unter anderem in den 1950ern Wernher von Braun und Walt Disney gemeinsam zu Science Factual Shows vor die Kamera geführt, die Präsident Eisenhower umgehend zur Vorführung ins Pentagon bestellte. In: Space Age Review, 1977 (zit. nach Brand, S. 129).

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für jegliche Kolonialisierungsunternehmung im Weltraum«96 bilden sollte, indem man die Star Trek-Titelmelodie erklingen ließ.

IV. »The Arms Race is a big bore. Nothing ever happens.« (Stewart Brand)

Was durch den Vergleich zwischen Kahn und den Kolonisierern noch markanter hervortritt, ist ein Sendungsbewusstsein der letzteren, das ihnen kaum zum Vorteil gereicht. ›Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir den Weltraum kolonisieren‹, schrieb Krafft Ehricke einmal, ›hätte er uns keinen Mond gegeben.‹97 Man braucht nur die Platzhalter ›Weltraum‹ und ›Mond‹ gegen andere Beispiele aus Geschichte und Gegenwart ersetzen, die der absoluten Legitimation bedürfen, um klarer zu sehen. Das Gemisch aus Science und Pop, aus Bildern von glücklichen Öko-Bauern im Weltall und Versprechungen selbstverwirklichender Gemeinschaften, aus futuristischem High-Tech und arkadischem Low-Life hat mindestens so viel Sprengkraft wie die Atombombe.98 Die Kolonisierer sind Vertreter dessen, was Hans Blumenberg wohl eine »starke Philosophie« der Raumfahrt nennen würde – einer Philosophie, die sich nicht in einem »Wettstreit in immer neuen Runden« erschöpft, sondern eine »Epochenmarke«99 zu setzen in der Lage wäre, und folglich nur eine Geschichtsphilosophie sein kann. Zwar sahen Sympathisanten wie Margaret Mead darin eine Chance zur Diversität,100 doch wird man schwerlich den Verdacht abweisen können, dass hinter der versprochenen menschenfreundlichen Pluralität immer schon ein (sich selbst ideologiefrei wähnender) Ingenieur herrscht. So oft und unverblümt das Wort »humanity« im Schrifttum der Kolonisierer fällt, so wenig Vertrauen scheinen sie in dieselbe investieren zu wollen.

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Heppenheimer, S. 84. Nach: http://www.astronomy.com/ASY/CS/forums/2/278645/ShowPost.aspx. Brand, S. 72. Blumenberg, S. 417. »I’ve been interested in them [space colonies], because of the possibilities of diversity. You see, I’ve always lived the Pacific islands, because they have such high degrees of diversity. When John Stroud first told me about space colonies, the picture was that you could have an area about the size of Los Angeles, and they would be undisturbed for 1500 years, so they could vary.« (»›For God’s Sake, Margaret.‹ Conversation with Gregory Bateson and Margaret Mead«, in: CoEvolutionary Quarterly, 10 (1976), S. 32-44).

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Demgegenüber darf man angesichts der »schwachen Philosophie« Herman Kahns eher staunen, zumal sein Ruf anderes erwarten lässt. Der legendäre Verfechter unnachgiebiger Positionen, pokergesichtiger Abschreckung und entschlossener Aufrüstung, der großräumig denkende Spengler-Leser und kühle Jongleur virtueller Todesmillionen, dem Kubrick in der Figur des Dr. Strangelove ein ebenso brillantes wie zweifelhaftes Denkmal setzte, ist hauptsächlich beherrscht vom alltäglichen Wettlauf der Nationen und Blöcke, bei dem man sich keinen Fehltritt erlauben darf. Bei Kahn rutscht das Projekt einer Weltraumbesiedlung in die Funktionale, was im Vergleich zu den Kolonisierern kein Nachteil sein muss. Denn der kühle Blick auf die Operationalität von Texten und Bildern, Gefühlen und Entscheidungen erlaubt immerhin die Distanz zu ihnen. Medienconsulting kommt auch ohne Gottes Willen aus, kann dessen Darstellung aber aus strategischen Gründen anempfehlen. Nicht Weltverbesserung, sondern Metakritik macht das Arbeitsgebiet des Seznario-Schreibers aus. Nicht die Behauptung zu wissen, was zu tun ist, entscheidet, sondern was unter welchen Bedingungen überhaupt getan werden könnte. Und als wahrer Zyniker war Kahn möglicherweise humaner als die Kolonisierer im Namen ihres Humanismus. Oder mit den Worten Robert A. Wilsons: »Cynics regarded everybody as equally corrupt. Idealists regarded everybody as equally corrupt, except themselves.«

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Luftraum. Das Labyrinth der Welt im Blick von oben Peter Bexte

Nazi-General Werner von Fritsch fiel 1938 in Ungnade beim Führer und wurde im Zuge der so genannten Fritsch-Krise demissioniert. Kurz vor seinem Tod am 22.9.1939 bei Warschau sagte er angeblich, dass diejenige Armee den Krieg gewinnen würde, welche die beste Fotoaufklärung hätte.1 Dieser Ausspruch ist eines der Lieblingszitate in der englischsprachigen Literatur zum Thema Aerial Photography in World War II. In dem Standardwerk von Constance Babington-Smith findet es sich gleich zweimal: am Anfang und am Ende, es rahmt den ganzen Text. »›Old von Fritsch was right when he said that the side with the best photographic reconnaissance would win the war‹, commented Kendall.«2 Wenn britische Offiziere Nazi-Generalen recht geben, so mag dies Grund genug sein, genauer hinzuschauen und das Thema zugleich schärfer und weiter in den Blick zu fassen. Der Vietnam-Krieg in den 60er Jahren ist häufig als erster Krieg der Bilder bezeichnet worden. Diese Annahme ist zweifelhaft. Sie geht allein von Pressefotos aus und unterschätzt daher die Rolle von Fotos als Intelligence Service in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Wie an der Entwicklung der Aufklärungsflieger zu sehen, ist spätestens seit 1914 Aufklärung der Auszug aus der selbst verschuldeten Bildlosigkeit. Schon im ersten Weltkrieg wurde vorbereitet, was im zweiten Krieg völlig durchschlug – technische Bilder wurden produktive Teile der Waffensysteme. Und dies hat eine gänzlich andere Dimension als Fotos in der Zeitung, von denen eine zugleich naive und abgebrühte Öffentlichkeit sich schockiert zeigt.

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Constance Babington-Smith, Air Spy. The Story of Photo Intelligence in World War II [engl.: Evidence in Camera], New York 1957, S. 6. Babington-Smith, a.a.O., S. 259.

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MG-Zielbildner Wer die Zusammenschaltung von Bildmaschinen und Waffensystemen in ihren Anfängen anschauen möchte, gehe in das Berliner Filmmuseum. Zwischen Modellen, Stills, Kostümen und allerlei Marlene-Dietrich-Glamour findet sich dort ein veritables Maschinengewehr, ein so genannter »MG-Zielbildner«. Damit wurde kein Star gefilmt, sondern das Fleisch gewordene Phantasma aller Western-, Action- usw. -Filme: der Feind am Ende der Geschossbahn. Es war eine Filmkamera, neben dem Gewehrlauf angebracht, und jeder Schuss löste zugleich ein Foto aus: »to shoot a photo« im wahrsten Sinn des Wortes. Der MG-Zielbildner war ein Produkt der Seeflugzeugversuchsanstalt Warnemünde von 1915 und kam in Flugzeug-MGs zum Einsatz. Er steht im Film-Museum, weil er von Guido Seeber erfunden wurde. Seeber (1879–1940) war vor dem ersten Weltkrieg ein Pionier des Kinemathografen; und nach dem Krieg wurde er der wichtigste Kameramann in den Babelsberger Studios.3 Schon 1897 hatte er in einem Chemnitzer Varieté namens Mosella Kurzfilme vorgeführt.4 Im Jahre 1904 erfand er eine Multimedia-Maschine, für die er mit folgenden Worten Werbung machte: »Das Seeberophon. Lebende, singende, sprechende, musicierende Photographien. Das Seeberophon ist eine Maschine! welche die Sprache durch ein Grammophon, das Bild durch den Seeberograph, das synchrone Zusammenwirken durch eine besondere Konstruktion erhält.«5 Die Kombination von Schallplatte und Film schuf bereits im Jahre 1904 die Vorstellung des Tonfilms. Es zeigte sich dabei, welch neue Dimensionen sich ergeben, wenn bekannte Technologien zusammengeschlossen und zeitlich aufeinander abgestimmt werden: »das synchrone Zusammenwirken durch eine besondere Konstruktion«. Synchronie der Zeit ist der Bedingungsrahmen verschalteter Technologien. Dass die zeitliche Taktung verschiedener Techniken bedeutsam ist, hat auch den Militärs eingeleuchtet. Und so ließen sie von Seeber Kamera und MG für den beginnenden Luftkrieg synchronisieren, d.h. Bild und Kugel auf einen Zeittakt bringen. Eben

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Guido Seeber, Der praktische Kameramann. Arbeits-Gerät und Arbeits-Stätten des Kameramannes, mit 227 Abb., Berlin 1927. Das wandernde Bild. Der Filmpionier Guido Seeber, Kat. Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin 1979, S. 35. Ebenda, S. 38f.

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Abb. 1: Maschinengewehr mit Filmkamera: der MG-Zielbildner von Guido Seeber (ca. 1915)

das hieß ab 1914: Zusammenschaltung von Bildmaschinen und Waffensystemen.6 Guido Seeber leitete ab 1915 die zentrale Photo- und Filmbildstelle in der Seeflugzeugversuchsanstalt Warnemünde. Es war ein Massentest: »[…] von 1915 bis 1918 werden 933 000 Meter Film alleine in den Luftbildkameras verbraucht. Der Aufschwung, den die Filmindustrie nach 1918 nahm, beruht auch auf den produktionstechnischen Erfahrungen, die im I. Weltkrieg gesammelt wurden.«7 Der Krieg mag nicht der Vater aller Dinge sein, doch ist er zumindest der Ziehvater aller Medien, der ihre Entwicklung sprunghaft vorantreibt. Dies lässt sich insbesondere an der Luftfotografie zeigen. Die Entwicklung von Rollfilmen mit automatischem Transport, die Optimierung der Linsen für Aufnahmen aus großer Höhe – all diese Dinge sind unter dem Druck des Krieges in kürzester Zeit entwickelt worden und haben technische Möglichkeiten geschaffen, von denen die nachfolgende Unterhaltungsindustrie zehren konnte. Im Übrigen haben nicht nur die Deutschen damals fotografiert: Auf britischer Seite wurden im letzten Kriegsjahr 6.500.000 Luftfotos gemacht; 1 300 000 Aufnahmen wurden in fünf Monaten aus amerikanischen Flugzeugen geschossen.8

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Die heutigen Visualisierungstechniken, wie sie in War-Rooms zur Entscheidungsfindung auf dem Schlachtfeld eingesetzt und als Command Post of the Future von der Rüstungsfirma Gruman weiter entwickelt werden, sind demgegenüber selbstredend um Lichtjahre weiter. Das wandernde Bild, a.a.O., S. 72. Beaumont Newhall, Airborne Camera. The world from the air and outer space, New York 1969, S. 55.

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Götterperspektiven Zwei Weltkriege haben den Blick von oben systematisch erproben lassen. Was sieht man auf solchen Bildern? Man sieht zunächst einmal Abstand als solchen, Abstand zum Erdboden und damit auch zu Blut, Schweiß und Tränen. Constance Babington-Smith notierte dazu: »I sometimes used to think that photographic interpretation was a nice clean job, as even after the heaviest attacks, and even with the largest scale, you never saw any blood.«9 Distanz ist Schönheit, hat Helmut Heißenbüttel in einem seiner Gedichte gesagt und damit einen Hinweis auf die ästhetische Anmutung gegeben, die Luftfotografien eignet. Sie bieten eine Synthesis des Mannigfaltigen zu einem Bild der Welt, einem Welt-Bild, das ästhetischer Welt-Anschauung im wörtlichen Sinne durchaus entgegenkommt. Luftaufklärungsfotos haben etwas Doppelbödiges aus Ästhetik und Information an sich. Niemand hat dies deutlicher ausgesprochen als der wohl bekannteste Aufklärungspilot des II. Weltkriegs, nämlich Antoine de Saint-Exupéry: »The airplane has unveiled for us the true face of the earth.« Das Diktum des Franzosen ist in englischer Übersetzung durch Beaumont Newhall, nämlich als Motto seines Buch »Airborne Camera« überliefert worden. Die Wahrheit, welche Saint-Exupéry als Dichter suchte, war die einer idealistischen Einheit des Menschengeschlechtes. Die andere Wahrheit aber, die der Aufklärungsflieger Saint-Exupéry am 23. Mai 1940 materialiter aus dem Kessel von Arras heimbrachte, zielte nicht etwa auf Einheit sondern auf Differenz: Auf Unterschiede in den feindlichen Stellungen gestern und heute; auf veränderte Schutzgräben, Fabriken, Angriffsziele aller Art usw. Luftbilder auszuwerten gleicht dem Korrekturlesen – wer sich dabei im Sinnzusammenhang verfängt, sieht keine Abweichung mehr. Was hat man um 1915 im Einzelnen gesehen? Nicht viel zunächst – schräg gestellte Landschaften mit Schützengräben, in denen noch die Landser mit den Pickelhelmen sich zu bergen suchten, schutzlos unter dem Raubvogelblick von oben, unter diesem Einblick und Überblick, auf den die alten Strategien mit dem Feldherrnhügel als dem höchsten Punkt noch nicht bezogen waren. Der Wechsel des Blicks aus der Horizontalen in die Vertikale hat das Schlachtfeld verändert.

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Babington-Smith, a.a.O., S. 101.

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Abb. 2: System von Schützengräben mit »Jump-off trenches« (Erster Weltkrieg)

Was sah man noch in diesem neuen Blick von oben? Man sah zerschossene Dörfer, wie sie sukzessive vom Erdboden getilgt wurden, Tag für Tag kleiner werdend auf den Fotos, bis nichts mehr zu erkennen war – als hätte der Krieg den Film ihrer Entstehung rückwärts laufen lassen. Zwar sind die Bomberschwärme des nächsten Krieges noch nicht über die Städte hinweg gegangen, doch auch mit Artillerie lassen sich Gebäude vernichten. Zwischen 1914 und 1918 ist dies erstmals aus der Luft fotografiert worden. Und täuschen wir uns nicht: Diese Fotos dienten keineswegs allein der Dokumentation, sondern auch als Anleitung zum Handeln: Zerstöre diese Brükke, diese Straße, dies Gebäude. Im Blick von oben gerinnt die Landschaft zum Gelände, zum militärischen Kartenbild ihrer selbst. Vor allem aber sah man an den Luftaufnahmen, dass man das Sehen neu erlernen musste. Den Luftbildauswertern der Militärs ging es wie Kunsthistorikern: Sie mussten eine neue Wahrnehmung entwickeln und nach dem Modell der Spurensicherung durch Details den Informationsgehalt des Bildes sich erschließen. Denn hier lag ein neuer Bildtypus vor. Die Beziehung auf den Horizont hatte Weltbild und Bildwelt der Neuzeit von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert hinein strukturiert. Die jeweils Neue Welt lag hinter dem Horizont, nicht über oder unter ihm. Der Fluchtpunkt perspektivischer Ansichten führte ins Weite, nicht in Höhe oder Tiefe. Einzig im Barock ist es schon einmal zum Umklappen des Blicks aus der Horizontalen in die Ver57

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Abb. 3: Nordafrikanischer Landeplatz: von Rommels Truppen umgepflügt, um ihn unbrauchbar zu machen

tikale gekommen, wie jede Nackenstarre nach der Betrachtung illusionistischer Deckengemälde beweist. Dies aber war die Ausnahme. Die Regel war der zumindest leicht erhöhte Blick ins Weite, hin zum niemals einholbaren Horizont. Alois Riegl hat diesen Blick 1899 mit den Worten »Ruhe und Fernsicht« charakterisiert und ihn als Inhalt moderner Gestimmtheit in der Kunst beschrieben.10 In solch fernsichtigen Fluchtungen des Raumes wurde Landschaft als ästhetisches Gebilde allererst konstituiert. Jahrhundertelang hatte sich der Blick daran erprobt und im horizontalen Perspektivraum seine symbolische Ausdrucksform (Panofsky) gefunden. Alles andere dagegen schien barock oder aber literarische Fantasie von homerischen Göttern über dem Schlachtfeld von Troja, wie sie von oben auf das Gewimmel da unten herunterblicken und ihr unauslöschliches Göttergelächter anstimmen, ihren »gelos asbestos« (Ilias I/599, XXI/389). Götter sind keine Humanisten. Mit den Aufklärungsflugzeugen des I. Weltkriegs sind die senkrechten, homerischen Götterblicke zurückgekehrt. Die Fotos, welche dabei entstanden, hat Walter Benjamin kurz vor dem II. Weltkrieg mit einem melancholischen Diktum benannt: »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden.«11 Man lese vor diesem Hintergrund die Flugbeschreibung eines Piloten, die Karl Kraus überliefert hat: »Und dann denkt man an die Soldaten, die da unten kämpfen und sich jeden Meter blutig er10 11

Alois Riegl, »Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst«, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Berlin 1995, S. 28ff. Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Nachwort), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, Frankfurt a. M. 1980, S. 508.

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Abb. 4: Flakscheinwerfer über Berlin im 2. Weltkrieg, fotografiert von einem britischen Flugzeug

obern müssen, und an die Verluste! – und ich? Wie ein Gott schwebt man über all diesen Schauern und schleudert seine Blitze auf den Feind.«12 Die fliegerische Erhebung über den Feind äußert sich als Überheblichkeit und Allmachtsfantasie des unpersönlichen »man«, als dem typischen Bediener von Maschinen: User und deus ex machina zugleich. Wenn aber Götter erstens dadurch ausgezeichnet sind, dass sie keine Verluste haben und zweitens dadurch, dass sie über die Differenz von »Schauen« und »Schauern« verfügen, dann ist ihre Macht eine des Blicks. Sie erfüllt sich gegenüber einer Menschheit, die zum Schauobjekt wurde: für Piloten ebenso wie für MG-Zielbildner. In deren Blicken liegt die Welt nicht mehr unter den Füßen, sondern vor Augen. Und dadurch sind die Städte bodenlos geworden.

Automatisch sehen Technische Bildspeicherung am Himmel hat die Menschheit in ein katastrophengeschütteltes Schauobjekt ihrer selbst verwandelt. Entsprechend groß war die narzisstische Begeisterung euphorisierter Piloten, zunächst des I. Weltkriegs, dann auch des italienischen Äthiopien-Feldzuges, den die futuristischen Künstler begeistert gefeiert hatten.13 Während aber futuristisch gestimmte Piloten sich in Götterfantasien ergingen, klickten unter ihren Sitzen bereits automatisierte Kameras leise vor sich hin. Ihre mechanischen Objektive 12 13

Cit. Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik, Basel 1978, S. 227. Vgl. Bernhard Siegert, »Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 1911-1921«, in: Fotogeschichte, 45/46(1992), S. 41-54.

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unten registrierten mit kühlerer Optik als die euphorisierten Blicke oben. Seit 1915 verfügten deutsche Aufklärungsflugzeuge über eine von Oskar Messter (einem weiteren Pionier des Kinos) entwickelte halbautomatische Rollfilmkamera mit 250 Negativen.14 Rollfilmtechnik ist im Zusammenspiel von Film und Luftkrieg entwickelt worden, schlicht und einfach deshalb, weil Piloten keine Zeit hatten, Glasplatten auszutauschen, wie es die britischen Kriegspiloten 1914 noch hatten tun müssen. In der automatisierten Kamera emanzipierte sich das Bild vom Blick. »Ruhe und Fernsicht« – um nochmals Riegl zu zitieren – wurden abgeschafft. Was den Auswertern vor Augen kam, war verwirrend. Denn wer Luftaufnahmen nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern als Informationsträger zu entziffern sucht, gerät in Probleme. Schlichte Zuordnungen zu den Himmelsrichtungen erwiesen sich nur allzu häufig als ein fundamentales Problem. In welche Richtung sieht man hier? Genau genommen in gar keine, denn im Blick von oben ist das horizontale Gefüge der Himmelsrichtungen außer Kraft gesetzt. Um dieses Problem zu lösen, schrieb der Franzose Louis Philippe Clerc 1914 das erste Handbuch zur Interpretation von Luftaufnahmen. Es verlangte exakte Angaben zum Zeitpunkt der Aufnahme, um auf dieser Basis und anhand der Schattenwürfe auf die Himmelsrichtungen zu schließen.15 Räumliche Orientierung wird eine Funktion der Zeit. Weitere Irritationen treten auf: Manches Bild erschließt sich nur als Teil einer Serie. »Häufig machte man im Weltkrieg eine Luftaufnahme, bevor man mit dem Beschuss eines Ziels begann, eine weitere nach einigen Salven, um das Resultat zu überprüfen, und so fort bis zur vollständigen Vernichtung des Ziels. Gleicht die Lektüre eines einzelnen Luftfotos noch dem Entziffern eines beschriebenen Blattes, so führt die Betrachtung solcher Serien zu einer kinematografischen Perzeption der Veränderung sichtbarer Objekte in der Zeit.«16 Der französische Historiker Marc Bloch zählte damals zu den Bildauswertern, die mit solchem Bildmaterial zu tun hatten. Er bemerkte, dass man auf Luftaufnahmen Spuren einer langen Dauer sieht: auf verschütteten Ruinen bis zurück zur Römerzeit wachsen andere Pflanzen als ansonsten. Dies sieht man jedoch nur aus der Luft. Luftfotografie ist ein Mittel der Archäologie und der Ge14 15 16

Newhall, a.a.O., S. 55. Newhall, a.a.O., S. 52. Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert – Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, S. 107.

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Abb. 5: Ballonfoto des Eiffel-Turms, ca. 1909

schichtsschreibung.17 Die Idee der longue durée entsprang dem Blick von oben. Für die Praxis der informationstechnischen Bildauswertung ergaben sich vielfältige Probleme. Zahlreiche Handbücher zur Lektüre dieser Bilder sind ab 1914 erschienen; das Verständnis dieser neuen Sichtbarkeit wollte erlernt sein. Die Einführung der mathematischen Perspektive in der Renaissance hatte den Raumtrichter auf eine gewisse Art berechenbar gemacht. Diese Art der Berechenbarkeit aber setzte hier aus, die neue Berechenbarkeit war erst noch zu entwikkeln. Was vormals strukturierte Tiefe war, ist ornamentale Fläche geworden, in welcher sich der erste Blick so orientierungslos verliert wie in den zeitgenössischen Seerosen-Bildern eines Claude Monet. Wie in einer Parallelaktion zum Luftbild ist auch in der Malerei eines Monet der Blick aus der Horizontalen in die Vertikale gekippt. Neue Malerei und Luftfotografie haben die Perspektive abgeschafft und das Problem einer neuen Rechnung des Raumes aufgeworfen. Darin liegt ihre systematische Nähe, die von Architekten wie Le Corbusier und von bildenden Künstlern wie Kasimir Malewitsch, Laszlo Moholy-Nagy u.a. aufgegriffen wurde.18

17 18

Marc Bloch, »Les Plans parcellaires: l’avion au service de l’histoire agraire en Angleterre«, in: Annales d’Histoire économique et sociale (1929-38), Bd. II (1930), S. 557f. Vgl. Andreas Haus, »Luftbild – Raumbild – Neues Sehen«, in: Fotogeschichte, 45/46(1992), S. 74-90.

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Labyrinth / Ornament der Stadt Es ist mit Stadträumen anders zu rechnen, sobald man sie von oben sieht – nicht nur bei der Destruktion, sondern auch bei der Konstruktion. Die frühen, noch zivilen Luftbilder hatten diese Sichten an der Stadt Paris versucht. Schon Nadar war 1867 im Ballon aufgestiegen und hatte z.B. Arc de Triomphe von oben fotografiert. Im Jahre 1909 wurde der Eiffelturm von einem Ballon aus fotografiert.19 Dieses Bild sollte zu Berühmtheit kommen – zwanzig Jahre lang ist es von europäischen Avantgardekünstlern tradiert worden. Die schroffe Verkürzung des Baukörpers im Blick von oben führte zu zweierlei: Ersten stellte sie vor das Problem, wie man die Höhe eines Baus aus dieser Sicht bestimmt; zweitens aber sollten Ansichten eben dieser Art das Konzept eines »Neuen Sehens« in den 20er Jahren inspirieren. Dass es der Eiffelturm gewesen ist, dessen Luftbild eine längere Faszination hervorrief, ist gewiss kein Zufall. Seit seiner Erbauung 1885-89 durch Gustave Eiffel hat er als ein sehr besonderer Zeichenträger in der Stadt Paris gestanden – wie ein technisches Manifest der Moderne. Bezeichnenderweise haben auf diesem Turm frühe Funkexperimente stattgefunden. Er ragt also in die Mediengeschichte hinein, ebenso wie in die Kunstgeschichte. Der Maler Robert Delaunay (1885–1941) hat eine Vielzahl von Ansichten des Eiffelturms gemalt, darunter eine Ansicht, der das alte Foto von 1909 als Vorlage diente.20 Im Jahre 1925 publizierte der Architekt Le Corbusier (1887– 1965) eine programmatische Schrift in der Buchreihe »Collection de ›L’Esprit Nouveau‹«. Der hier aufgerufene »Esprit Nouveau«, dieser »Neue Geist« sprach sich in einer radikalen Wendung gegen das alte Kunsthandwerk aus und formulierte Ansprüche einer neuen »Art Decoratif«. Als Titelbild diente wiederum das Ballonfoto von 1909. Es taucht innerhalb des Buchtextes noch ein zweites Mal auf, und zwar als Eingangsbild des Kapitels »Témoins«. Dort wird es zum Zeugen für das aufgerufen, was die erste Zeile dieses Kapitels anspricht: »1914: l’événement bouleversant«.21 Das umwälzende Ereignis ist selbstredend der Ausbruch des I. Weltkrieges. Für dieses 19 20 21

Abb. in Newhall, a.a.O., S. 104. Abb. in Newhall, a.a.O, S. 105. – Man beachte die Ornamentalisierung der Flächen und Weg um den Turm herum. Le Corbusier, L’Art Décoratif d’Aujourdhui (Collection de »L’Esprit Nouveau«), Paris 1925, S. 143.

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Abb. 6: »Stadt von oben mit Turm Babel«: Architekturentwurf von Erich Kettelhut für Fritz Langs Film Metropolis (1925/26)

Ereignis wusste Le Corbusier um 1925 keine bessere Illustration zu zeigen, als eben das bekannte Ballonfoto des Eiffelturms von 1909, dass der kriegerischen Luftaufklärung vorausgegangen war. Luftfotografie beförderte den Krieg und produzierte zugleich die Vorbilder der Avantgarde – sie wurde das gemeinsame Medium von Destruktion und Konstruktion der Städte. Eine weitere Tradierung des Fotos von 1909 innerhalb der künstlerischen Avantgarde der 20er Jahre findet sich bei Laszlo Moholy-Nagy (1895–1946). Dieser publizierte 1929 eine Summe seiner Lehrerfahrungen am Bauhaus.22 Auf verschiedenen Stufen finden sich darin Einübungen in den »Blick von oben«, den Moholy-Nagy immer wieder erprobte, beispielsweise in einer berühmten Fotoserie auf dem Berliner Funkturm. Der schwindelanfällige Künstler, der niemals ein Flugzeug freiwillig bestieg, hat sowohl im Sommer als auch im Winter senkrecht vom Funkturm herab fotografiert.23 Moholy-Nagy war einer der Propheten des »Neuen Sehens« in Verbindung mit Luftfotografie. Auch hier findet sich das uns bekannte Ballonfoto des Eiffelturms von 1909.24 Es hat im Laufe der Jahre einen breiten Streifen am unteren Bildrand verloren. Nichts desto weniger ist es bemerkenswert, dass dieses Foto 20 Jahre lang innerhalb der künstlerischen Avantgarde zirkulierte. Dieser Blick auf die Stadt 22 23 24

Laszlo Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur [1929], Mainz 1968. Vgl. Andreas Haus, Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, München 1978 (mit 150 Tafeln). – Ferner: Andreas Haus, »Luftbild – Raumbild – Neues Sehen«, in: Fotogeschichte, 45/46(1992), S. 75-90. Moholy-Nagy, a.a.O., Abb. 175, S. 201.

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eröffnete für Maholy-Nagy ein neues Verständnis von Architektur: »vom aeroplan aus tun sich neue sichten auf / ebenso von der tiefe in die höhe / aber das wesentlichste für uns ist die flugzeugsicht, das vollere raumerlebnis, weil es alle gestrigen architekturvorstellungen verändert.«25 Man beachte, dass die Veränderung der Architekturvorstellungen sich nicht nur durch den Blick von oben nach unten, sondern auch umgekehrt von unten nach oben ergeben sollte. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den italienischen Futuristen, die immer »obenauf sein« wollten und zu diesem Zweck erstens fliegen lernten wie Gabriele d’Annuncio und zweitens dem Duce an den Hals flogen (ebenfalls wie d’Annuncio). In Maholy-Nagys oben genanntem Buch von 1929 sieht man ferner das Bild einer von oben fotografierten New Yorker Straßenkreuzung. Dazu schrieb er die folgende Bildunterschrift: »für den flugzeugführer ist heute die vogelperspektive der landschaft eine orientierungsmöglichkeit. in der nächsten zukunft werden die sichten von oben in darstellung und natur einem jeden geläufig sein müssen.«26

Blitzkrieg und Neues Sehen Nazi-General von Fritsch scheint einer der wenigen gewesen zu sein, bei denen das Konzept des »Neuen Sehens« (gegen alle Künstlerintentionen) angekommen ist. »in der nächsten zukunft werden die sichten von oben in darstellung und natur einem jeden geläufig sein müssen« – dieses Wort von Moholy-Nagy fügt sich rückblickend fatal zu seiner Ansicht, dass der nächste Krieg durch diejenige Armee gewonnen werden würde, die die beste Luftaufklärung hätte (s.o.). Der beschränkte Kunstmaler Hitler und seine restlichen Nazis aber hatten keinen Sinn für Neues Sehen. Nur so ist eine Episode zu erklären, die sich am 28. Juli 1939 in Frankfurt am Main zutrug. Es fand dort eine Luftfahrtmesse statt, zu welcher auch der Brite Sydney Cotton mit einer neuen Lockheed einflog. In verborgenen Schächten trug sie insgeheim Luftbildkameras. Die deutschen Militärs haben sich sogleich für die neue Lockheed interessiert; tagelang hat Cotton Nazi-Generäle den Rhein hinaufund hinuntergeflogen. Die Herren waren angetan von dem avancier25 26

Moholy-Nagy, a.a.O., S. 222. Moholy-Nagy, a.a.O., Abb. 194, S. 223.

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ten Flugzeug – ohne zu bemerken, dass unter ihren Sitzen Kameras klickten. Als wenige Wochen später der Weltkrieg ausbrach, hatte die britische Aufklärung also bereits erste Bilder der deutschen Rüstungsindustrieanlagen entlang des Rheins.

Bild und Zahl Es ist nun an der Zeit genauer zu sagen, was mit dem Wort »Bilder« hier gemeint sein soll. Es sind zum einen Serienbilder. Luftaufklärung muss immer wieder dasselbe Terrain fotografieren, um Veränderungen bemerkbar zu machen. Die Aufnahmen sind ferner Messbilder, denen Abmessungen entnommen werden sollen. Möglichst präzise Daten und Zahlen sollen dabei herauskommen. Um es in den Worten von Constance Babington-Smith zu sagen: »As new interpreters are taught, a vertical air photograph is not a picture but a precise mathematical document.«27 Für die Geschichte des Verhältnisses von Bild und Zahl ist es ein bemerkenswerter Satz: Diese Bilder sind gar keine, sondern es sind mathematische Dokumente. Zu deren Entzifferung bedarf es der Fotogrammetrie als der Wissenschaft von der Vermessung des Bildraumes. Die britische Luftaufklärung des II. Weltkriegs benutzte dazu ein Vermessungsgerät der Schweizer Firma Wild: die so genannte »Wild Machine«. Dem automatisierten Blick von oben bot eine automatisierte Entzifferung Paroli. Ohne zwischengeschaltetes Medium ist aus Fotos keine Photo Intelligence zu machen. Denn das »Intelligente« liegt hier stets in der Zahl, welche den Durchgriff auf die Welt ermöglicht. »Images are not just representations but weapons of war,« hat W. J. T. Mitchell gesagt.28 Es ist ein historischer Satz. Er umfasst das ganze 20. Jahrhundert.

27 28

Babington-Smith, a.a.O., S. 101. W. J. T. Mitchell, »The remains of the day. The war of images«, in: The University of Chicago Magazine, Dec 2001.

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Glücklicher Unsinn. Es gibt ein wahres Leben im falschen Eckhart Bauer

Disneyland? Die kindliche Lust am bunten Vergnügen und eine oft rigide Aversion von Intellektuellen und Bildungsbürgern binden sich hier in der Dialektik mit dem Populären zusammen: Im Vorfeld der Eröffnung des europäischen Disneyland bei Paris Anfang der 90er Jahre wurde dieses Ereignis für die einen zur Vorfreude auf einen lustvollen Spaß, – die Begegnung mit Mickey Mouse, Donald und Anhang, der hier in greifbare Nähe rückte. Für die anderen, wie für die französische Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine, wurde das, was sich dort in bislang ländlicher Geruhsamkeit im Lande stolzen Kulturbewußtseins am Rande der Hauptstadt festzusetzen drohte, schlicht zum »kulturellen Tschernobyl«. Jetzt ist dieser bunte Vorposten Disneyscher Welt-Vorstellungen in Europa schon seit zwölf Jahren zum kurzweiligen Glücksversprechen für jährlich über 12 Millionen Besucher geworden, und deshalb hat Frankreichs Kulturszene mit der Zeit diese vulgäre Kröte an der östlichen Peripherie von Paris schlucken müssen. Schließlich hat auch der französische Staat größtes Interesse an der gedeihlichen Entwicklung des Königreichs der Mickey Mouse, denn es sichert mehr als 12 000 Arbeitsplätze. Und die Region Paris ist um eine für viele Besucher magische Attraktion reicher; denn es ist Europas meist besuchtester touristischer Ort. In Deutschland jedoch überdauert »Disneyland« immer noch als Schreckensmetapher für das Unechte, als Super-Zeichen für medialen Kitsch schlechthin. Überall lauert hinter rekonstruierter architektonischer Historie für die Hüter einer geradlinigen Moderne ein Stückchen imaginäres Disneyland. »Bloß kein Disneyland!«. Nicht mehr Potemkin, sondern »Disneyland« wird jetzt zur moder67

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nern Metapher für »unehrliche Architektur«, für architektonisches Blendwerk mit aufgehübschten Fassaden. Die Linie ist vorgegeben, denn in Deutschland liebt man die klaren Verhältnisse. Disneyland trägt hartnäckig das Stigma einer negativ besetzten Welt, auch wenn die wenigsten das reale Disneyland kaum leibhaftig gesehen haben. Deshalb muß die Heimstatt von Mickey, Donald Duck & Co als Projektionsfläche für das Uneigentliche dienen, um einer oft eng begriffenen Moderne in der Architektur das Terrain freizuhalten. Disneyland wird bei dieser meist vordergründigen Metaphernzuweisung zum unbetretbaren Unort, – synthetisch, unhistorisch, grell, kitschig, billig, pappig, infantil, amerikanisch, und ein Synonym für gelebte Oberfläche, für die durchstilisierte Lüge, – ein Topos also für das falsche Leben schlechthin. Kann es aber in Zeiten populärkultureller Durchdringung der Lebenszusammenhänge »ein wahres Leben im falschen« geben, um damit in Umkehrung der bekannten Adornoschen Aussage anzuknüpfen? Vertragen sich Amusement und Reflexion, gebunden im emotionalen Erleben? In ihrer »Dialektik der Aufklärung« gingen Horkheimer und Adorno bekanntlich hart mit der »Kulturindustrie« – in den 40er Jahren vor allem der Film, aber auch das Radio, der Jazz und die Revuen – ins Gericht. Kulturindustrie, das meinte hier Kultur, die im Sinne kapitalistischer Verwertung ausschließlich an Gewinn orientiert ist und ihr Publikum durch entsprechende Strukturen von Bildabläufen, Tönen, Reizen, Ereignissen abrichtet. Daher könnten die Produkte der Kulturindustrie »darauf rechnen, selbst im Zustand der Zerstreuung alert konsumiert zu werden.«1 Damit war innerhalb dieses dialektischen Verhältnisses die Seite des Genusses, das Erleben, der gedankenlose Spaß gemeint. Untrennbar gebunden war sie jedoch für die Autoren an »ein Modell der ökonomischen Riesenmaschinerie, die alle von Anfang an, bei der Arbeit und der ihr ähnlichen Erholung, in Atem hält.«2 Die Autoren sahen im Amusement eine Zurichtungsstrategie der Kulturindustrie als der »Kathedrale des Vergnügens«3 und klagten vor allem das Stillstellen vom Denken im Amusement ein. Vergnügen heiße allemal: »nicht daran denken

1 2 3

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 152. Ebd., S. 152. Ebd., S. 170.

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müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zugrunde.«4 Die Zerstreuung sei keine Verfallsform. Dennoch lauerte für die Autoren hinter Zerstreuung und Amusement durch »leichte Kunst« immer noch eine Art von Eskapismus, jedoch nicht, wie gängigerweise gedacht werde, als »Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übrig gelassen hat«5. Kulturindustrie arbeite daher ständig daran, Gedanken an Leiden und Widerstand beim Zuschauer auszulöschen. Jeder sei dann nur «wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar.«6 Jahrzehnte später, nachdem Fernsehen längst wirklichkeitsprägend den Alltag bestimmt und Populärkultur zunehmend zur Identität der Lebensformen der Jüngeren gehört, sieht John Fiske, Vertreter der Cultural Studies, hingegen bei »den Leuten« auch Formen von Widerständigkeit in der Rezeption der »kulturellen Waren« des Fernsehens – trotz und wegen der kulturindustriellen Vereinnahmung.7 Zu klären bleibt jedoch, ob und in welcher Weise Widerständigkeit, eingebunden in Genuß und Amusement zugleich, in populärkulturellen Kontexten aufzuscheinen oder gar strukturell möglich zu werden vermag. Zweifelsohne erscheinen Disneyland und der Disney-Konzern geradezu als markante Zeichen der Kulturindustrie im neuen Sinne, und es bleibt zu fragen, in welcher Weise die Dialektik des Populären hier sich Geltung verschafft oder das vermeintlich Unechte sich nur als pure Oberfläche erweist. Für Millionen Menschen unterschiedlichster Kulturen bleiben die Disneylands, mittlerweile in mehrere Erdteile vorgedrungen, auch als buntes, synthetisches Etwas offensichtlich ein nahezu magischer Anziehungspunkt: Jetzt feiert das erste Disneyland in Kalifornien sein 50-jähriges Bestehen. Über 500 Millionen Menschen haben es seit 1955 bis heute besucht. Walt Disneys erster realisierter Traum wurde trotz großer Risiken im Vorfeld zu einem damals kaum erwarteten Erfolg. Deshalb bereitete der neue Park nach vielen finanziellen Rückschlägen für Disney den Weg zum medialen Weltkonzern von heute:

4 5 6 7

Ebd., S. 172. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. John Fiske, »Die populäre Ökonomie«, in: Rainer Winkler/Lothar Mikos (Hrsg.): Die Fabrikation des Populären, Bielefeld 2001, S. 111.

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In Florida eröffnete zunächst das »Magic Kingdom« (1971) als Teilbereich der später größeren »Walt Disney World«, dazu 1982 das ausgedehnte »EPCOT-Center«, 1989 die »Disney-MGM Studios«. Dieser größte Disney-Komplex wurde noch von Walt Disney entworfen. Aber durch seinen frühen Tod 1966 konnte er die Realisierung nicht mehr erleben. 1983 eröffnete das »Tokyo Disney Resort«, und im Frühjahr 1992 das »Disneyland Resort Paris«, dem 2002 noch ein Filmpark zugefügt wurde. Disney-Kreuzfahrtschiffe mit einem Interieur im Mickey–Design8 stachen von Florida aus in die Karibik in See, wo 2600 Passagiere zwischenzeitlich auf Disney-eigenen Inseln in Disney-Luxus-Hotels Urlaub machen können. Los Angeles bekam 2003 seine eigene Disney-Concert Hall für klassische Konzerte vom Star-Architekten Frank Gehry entworfen. Und ab September 2005 möchte das neue »Hong Kong Disneyland« die Asiaten ins amerikanische Vergnügen locken. Daneben gibt es weltweit Disney-Fernsehkanäle, Filmproduktionen, Merchandising-Lizenzen, Musicals, – Disney. Disney wurde zum einzigen globalen Medienkonzern, der Identität und Erfolg einigen harmlos-witzigen, aber wirkungsmächtigen Comic-Figuren verdankt, die schon lange nicht mehr »sterben« können. Sie sind zum ewigen Leben verdammt, das auch immer wieder neu generierte Figuren nicht beenden können. Allen voran die genial entworfene Mickey Mouse, die zum Firmen-Logo wurde und immer noch als heimlicher König von Disneyland angesehen wird.9 Walt Disney gab dem visionären Gebilde Disneyland nicht nur seinen Namen, sondern war auch emphatischer Ideengeber und Verwirklicher eines – seines – Traums. Daher ist das schillernd bunte Universum kaum verstehbar ohne Disneys Biographie und Persönlichkeit. Einmal entstandene Ideen verfolgte Disney mit Emphase, oft ohne Rücksicht auf die Kosten, über die sein Bruder Roy jedoch kaufmännisch wachte. Schon früh übernahm er mehr die Rolle des kreativen Anregers, der seinen Mitarbeitern immer alles abverlangte. Lob war für ihn ein Fremdwort. Sein Verhalten pendelte, getrieben von seinen Obsessionen Ideen zu verwirklichen, zwischen dem eines gelegentlich schlechtgelaunten Patriarchen, eines pionierhaften Kumpels und eines Güte ausstrahlenden Kinderfreundes. Immer 8 9

Das Design, außen wie innen, stammt vom bekannten deutschen Design-Büro »Frog-Design«, das inzwischen aufgelöst wurde. Vgl. auch Bob Thomas, Walt Disney, München 1986; Richard Schickel, The Disney Version, New York 1968 (deutsch: Berlin 2001); Andreas Platthaus, Die Welt des Walt Disney, Berlin 2001.

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aber blieb er Instinktmensch, der schon früh ein sicheres Gespür für das Populäre, für die Wünsche und Sehnsüchte der Massen entwickelte. Für intellektuelle Kritik an seinen Produktionen hatte er nur Spott übrig, und auch mit der Kunst verband ihn, amerikanisch pragmatisch, ein eher naiv-ironisches Verhältnis. »Was ist Kunst schon? Kunst ist das, was die Leute mögen. Also gebt Ihnen, was sie mögen.«10 Disneyland, der neue Erlebnispark, bedeutete für ihn keinesfalls etwas Künstliches, vielmehr etwas, «das niemals beendet sein wird, etwas, das ich immer weiterentwickeln, dem ich immer etwas hinzufügen kann. Er lebt. Er wird ein lebendiges, atmendes Wesen sein, das Veränderungen braucht.«11 Dieses »Wesen« wurde zur Summe all seiner Erfahrungen, Wünsche, Emotionen und zur Umsetzung seiner imaginativen Residuen aus der Kindheit, die hier aspekthaft ihre Widerspiegelung erfuhren. Nur Walt Disney mit seinem Drang neue Ideen umzusetzen, vermochte daher diese neue Form von populärem Vergnügen Wirklichkeit werden zu lassen. Selbst eine noch so große Investmentfirma, die damals mit weit üppigeren Finanzmitteln einen Freizeitpark dieser Größenordnung hätte errichten wollen, wäre sicherlich konzeptionell gescheitert. Ein kurzer Blick nach Disneyland: In allen Disneylands gibt es gleich eingangs eine einladende Geste in Mickeys Universum, das hier seinen Anfang nimmt: eine gepflegte Parkanlage mit dem Kopf von Mickey Mouse in einem großen Blumenbeet. Dann der »Town Square« mit Bahnhof und die »US Main Street« im Stil einer amerikanischen Kleinstadt Ende des 19. Jahrhunderts. Axial in der Ferne das Dornröschen/Cinderella-Schloß, der visuell-ästhetische und auch räumliche Mittelpunkt des Parks. Um ihn herum in weitläufigen Arealen vier größere, thematisch unterschiedliche Erlebnisbereiche. Hinter dem Schloß eine märchenbezogene Welt, das »Fantasyland«. In den seitlich davon durchgrünten Arealen inszenierte Mythen der amerikanischen Geschichte (»Frontierland«, »Adventureland«) und auf Technik und Science Fiction ausgerichete Attraktionen (»Discoveryland«). All dies ist durchzogen von penibel gepflegten Grünanlagen, angepasst an den Stil der jeweiligen Attraktionen. Anstelle von Billigmaterialien oder kulissenhafter Pappigkeit der Häuserfassaden (wie man sie aus der Filmbranche erwarten würde) finden sich hier hochwertige und aufwendig verarbeitete Materialien, denn 10 11

Thomas, Walt Disney, a.a.O., S. 287. Ebd., S. 250.

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Disney – versessen auf Details – war überzeugt »die Leute« würden die Billigkeit spüren. Disneyland vereint: Stadt, gezähmte Landschaft, illusionierter Raum, in Bildern erzähltes Märchen, Animation, wachgehaltene amerikanische Mythen, Volksfest und seelischer Abdruck seines visionären Gründers. Millionenfach lebendig gehalten wird das emotionale Erleben der Besucher durch mehrfach miteinander verwobene, medial vorgeprägte Wirkungsstränge, die in keiner kulturellen Institution sonst in dieser Weise sich entfalten konnten. Disneyland wird wie ein dreidimensionaler, bunter, spaßvoller Film erlebt. Dahinter steht auch ein bewusstes filmisches Konzept. Denn auf Grund seiner langen Erfahrung mit Animationsfilmen hatte Disney erkannt, dass ein Park wie ein Film von Szene zu Szene fließen müsse, die Übergänge von einem Erlebnisbereich zum anderen sanft sein müssten. So sollte der Besucher ohne plötzlichen Anpassungszwang von einer Attraktion zur anderen geführt werden und sich an alles erinnern können, was er gesehen hatte.12 Entsprechend erleben die Besucher die meisten Attraktionen in kleinen Wagen oder Booten, geleitet durch inszenierte, sich windende, längliche Räume hindurch, manchmal wie eine Zeitreise szenisch organisiert und der Erzählform im Film ähnlich, nur dass die Erfahrung hier eine räumliche und sinnlich-wirkliche ist. Es mag bei dieser Filmanalogie auch ein amerikanisches Selbstverständnis der Lebenswelten hineinspielen. Jean Baudrillard glaubte jedenfalls während einer längeren Amerikareise beobachtet zu haben, »dass das ganze Land außerhalb der Kinosäle kinematographisch ist. Man durchläuft die Wüste wie einen Western, die Metropolen wie einen Bildschirm voller Zeichen und Formeln. Man hat dasselbe Gefühl, als träte man aus einem italienischen oder holländischen Museum in eine Stadt, die das Ebenbild der Malerei ist, als sei sie aus ihr herausgetreten und nicht umgekehrt. Die amerikanische Stadt scheint dem Kino lebend entsprungen zu sein. Man darf also nicht von der Stadt zum Bildschirm, sondern muß vom Bildschirm zur Stadt gehen, um ihr Geheimnis kennenzulernen.«13 In Disneyland erfährt das filmische Prinzip zweifellos seine lebbare Verdichtung. Anfangs galt Walt Disneys Uridee eher der Verwirklichung einer Stadt, in der sich die Menschen fröhlich bewegen können und nicht 12 13

Ebd., S. 259. Jean Baudrillard, Amerika, München 1987, S. 81.

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bedroht sind von Kriminalität, Schmutz oder anderen Lebenskatastrophen. Später mischten sich in seine Vision einer friedvollen Stadt neue Formen von Volksvergnügen; das Erinnern an amerikanische Mythen und Traditionen, sowie Träume von der Realisierung technischer Innovationen. «Disneyland wird etwas von einem Jahrmarkt haben, etwas von einer Ausstellung, einem Spielplatz, einem Gemeindezentrum, einem Museum lebendig dargestellter Tatsachen und einem Ort der Schönheit und der Magie.«14 Über diese Vergegenständlichung seiner Ideen hinaus schwangen auch ideologisch besetzte Wertvorstellungen mit. Einen Weltentwurf sollte Disneyland in sich bergen, »erfüllt [sein] mit den Prophezeiungen, den Freuden und Hoffnungen der Welt, in der wir leben. Und es wird uns daran erinnern und uns zeigen, wie wir diese Wunder zu einem Teil unseres Lebens machen können.«15 Für die Millionen Besucher ist dieser Ort zwar staunenswert, die Freuden und Hoffnungen jedoch verlieren sich im ausgelebten Vergnügen. Disneys anspruchsvoller Überbau erscheint im Trubel übertönt, lauert im Stillen jedoch latent hinter all der Buntheit. Ein zur komplexen Gestalt gewordenes Psychogramm seiner Persönlichkeit spiegelt sich hier nahezu sinnlich wider: sein Denken in den Kategorien des Filmischen, seine Visionen von einem friedlichen Gemeinwesen, orientiert an konservativen amerikanischen Werten. Zudem Erinnerungen an seine Kindheit, ein nachgelebtes Stück amerikanischer Kleinstadtwelt, die Landschaft, die elterliche Farm, die Eisenbahn. Die unzähligen, technisch animierten Tiere, die Mythen amerikanischer Geschichte, die hier dauerhaft wiederbelebt und weltweit von Millionen anschaulich nacherlebt werden. Auch Disneys Drang zu immer neuen, ungewöhnlichen Techniken nicht nur in der Filmproduktion, findet sich im Discoveryland und im Studio-Park nebenan mit dem Ziel, den Menschen an diesem Ort »ein Lächeln abzugewinnen«. Disneyland hatte nicht nur als Freizeitpark neue Maßstäbe gesetzt, selbst auf Architekten und Designer bleibt bis heute dieses zusammen gemischte collagierte Stück Amerika nicht ohne Anziehung. Als der amerikanische Designer James Rouse seine Antrittsrede an der – immerhin – Harvard School of Design hielt, verwies er auf Disneyland als » das größte Stück Design-Arbeit, das wir heute in den Vereinigten Staaten haben, […], – auch wenn es für die hier anwe14 15

Thomas, Disney, a.a.O., S. 253. Ebd., S. 253.

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sende kultivierte Zuhörerschaft schockierend klingen mag.«16 Diese Vorwarnung galt seiner Hauptthese, die er im folgenden ausführte: « Wenn Sie über Disneyland nachdenken – die Ausführung in Relation zu seinem Zweck, seine Bedeutung für den Menschen noch mehr als seine Bedeutung für den Prozeß der Entwicklung –, werden Sie feststellen, dass es ein herausragendes Beispiel der Städteplanung in den USA ist.«17 Es habe den Vergnügungspark auf einen Standard gehoben, »der in der Durchführung und in seinem Respekt für den Menschen wirklich etwas vollkommen Neues wurde. […] In dem Standard, der gesetzt wurde, und in den Zielen, die erreicht wurden, können wir von Disneyland mehr lernen, als von irgendeiner anderen baulichen Entwicklung des Landes.«18 Das Königreich der Mickey Mouse ist längst Teil amerikanischer kultureller Identität geworden, in dem »High« und »Low« ineinanderzufließen scheinen. Wie lässt sich der über Jahrzehnte andauernde Erfolg Disneylands als einem Teil amerikanisch geprägter, inszenierter Populärkultur erklären? In einem Volksfest der besonderen Art werden hier Emotionen hochgereizt, die sich durch medial vermittelte Geschichten und Figuren bei Erwachsenen im Kindesalter, bei Kindern noch frisch und gegenwärtig, als zumeist tief eingeprägte Bilder im Unbewussten festgesetzt haben und hier assoziativ wieder aufleben. Disneyland ist eine emotionalisierende Stimulierungsmaschinerie der Sinne, die durch mediale Verknüpfungen und Begegnung mit der Erinnerung unermüdlich in Gang gehalten wird. Ein Millionenpublikum vermag sich dem kaum zu entziehen, hat doch die mediale Vernetzung der Disney-Produkte im Lebensalltag seit Kindheitstagen vorgewirkt: Zunächst erinnern wir Mickey Mouse, das ist Disney schlechthin,– prägnante Gestalt, klare Farbigkeit, zugleich aber auch Abstraktion, Kindchenschema: naiv, liebevoll kindlich, aber gewitzt, – wirkungsmächtig über Generationen. Dann vor allem Donald Duck und das Universum von Entenhausen und später die unzähligen anderen Figuren aus vielen Filmen. Allweihnachtlich kommen neue Animationsfilme hinzu: neue Geschichten, Charaktere, Figuren und modernisierte Ästhetiken. Hierbei durchlaufen Märchen wie »Schneewittchen« eine Transferbewegung eigener Art, – eigentlich europäischen Ursprungs, erscheint es als Disney-Metamorphose im Trickfilm witzig und keck, die Geschichte selbst wirkt dynami16 17 18

Ebd., S. 370. Ebd., S. 370. Ebd., S. 370.

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scher mit gelegentlich süßlichen Begleittönen. Dem ersten Filmauftritt der Figuren folgt eine mediale Diversifikation: Zeitungs-Strips, Hefte, Bücher, Fernsehfilme, Fernseh-Shows, Musicals, Eis-Revuen, Fernsehkanäle, Videos, und DVDs. Ein gigantisches Merchandising hält zudem die Obsessionen der Besitzer/Konsumenten jener Figuren in einer Art libidinöser Dauerpräsenz. Im Park nun verkreuzen sich diese zumeist gefühlsbesetzten, früheren Erlebnisse im »realen« Zusammentreffen mit den Disney-Helden. Nicht mehr nur als Bilder oder Filme treten sie einem hier entgegen, sondern sinnlich und unmittelbar als vermeintlich reale Begegnung in einem städtischen und landschaftsähnlichen Umraum. Die nachmittägliche Disney-Parade wird zum identifikatorischen, emotionalisierten Höhepunkt, wenn die vertrauten Figuren in riesigen, skulpturalen Bildern dargestellt, auf großen Wagen wie ein dreidimensionaler Film vorbeiziehen. Da werden sie tausendfach von den Kindern umarmt oder auf ihre glatten Plastiknasen geküsst, so dass Imagination und synthetische Wirklichkeit des emotionalen Augenblicks momentweise symbiotisch ineinanderfließen. Es sind diese medialen Verkreuzungen und Vernetzungen, die Metamorphosen von einem medialen Status in den anderen, die emotionale Vorbesetztheit der Figuren und ihrer Geschichten, sowie das ständige Wachrufen vertrauter Bilder und ihre erlebte Wirklichkeit, die diesen synthetischen Ort auf der grünen Wiese für Millionen zum magischen Königreich werden lassen. Für diese lange zuvor gereizten Gefühle gibt es kein Entrinnen mehr, sie werden für einen Tag als Dauererregung eingepegelt. Diese kalkuliert erzeugte Kette freudiger Momente, der für Stunden heilsame Sturz in ein unbekümmertes Amusement und das damit verbundene Versinken ins Vergessen des Alltäglichen – Vergessen auch natürlich des Leidens, des Denkens und der Widerständigkeit – wirken ambivalent, affirmativ, zugleich aber anthropologisch im positiven Sinne »entlastend«, also befreiend, auch wenn die Sinne ständig gefordert werden. Weitergehende Visionen einer Stadt der Zukunft bewegten Walt Disney nach dem ersten Disneyland immer stärker, und allmählich schälten sich Umrisse eines neuen Parks heraus, in dem wichtige Bereiche einer imaginierten Stadt so zur Darstellung kommen sollten, wie sie bis dahin nirgendwo sonst an einem Ort zu erleben waren, nämlich in EPCOT, der »Experimental Prototype Community of Tomorrow«. Diese neueste Disneysche Vision wurde zum größten der jetzt mittlerweile vier Parks der »Walt Disney World« in Florida. 75

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Erst Jahre nach Disneys Tod wurde EPCOT eröffnet, aber nicht als städtisches Gemeinwesen, sondern dem Charakter nach eher wie eine Art zukunftsbezogene, experimentelle Weltausstellung. Jedoch Mitte der 90er Jahre wurde auf dem weitläufigen Areal der Disney-World in Florida eine Stadt errichtet, die Disneys Vision von einer Kleinstadtgemeinde näher kommt: »Celebration«, ein Gemeinwesen für 20 000 Einwohner, mit Häusern in historisierender Typisierung, die den Bewohnern zum Kauf angeboten wurden. Hier leben sie jetzt friedlich, nach den Disney-Regeln verwaltet und behütet vor der Unbill amerikanischer Großstädte, und ihre Kinder gehen in Disney-Kindergärten und Disney-Schulen mit Disney-Lehrern, und Mickey Mouse & Co wohnen gleich nebenan. Im Umfeld des Pariser Disneyland, das wie ein unwirkliches Hologramm zwischen Dörfern in die weite Landschaft der Marne placiert worden ist, schiebt sich wenige Kilometer westwärts, am Rande eines alten Dorfes, eine blitzsaubere Neubausiedlung mit Einfamilienhäusern in die Wiesenlandschaft, an der Baudrillard wohl seine zynische Freude haben wird. Schon in den 80er Jahren, auch unter dem Eindruck seiner Amerika-Reise, merkte er in einem FernsehInterview einmal an: »Wir leben schon längst in Disneyland«, wobei er auf die vielen simulativen und synthetischen Erscheinungen des postmodernen Lebenszusammenhangs verweisen wollte, in dem es immer schwieriger wird, Wahres vom Falschen, das Original vom Substitut zu unterscheiden. In dieser neuen, von einem Bauträger konzipierten Siedlung, drängeln sich Einfamilienhäuser auf mausgroßen Grundstücken, fast ohne Garten, in einer bizarren architektonischen Stilisierung: Die künftigen Bewohner können hier wählen zwischen einem traditionellen Haustypus, wie er in Frankreich in Kleinstädten oder auf dem Lande noch heute »im Original« überlebt hat, einem deutschen Kleinstadthaus im Fachwerkstil mit ländlichen Elementen oder einem simulierten, alten englischen Landhaus. Wohl um die ästhetischen Differenzen zwischen ihnen zu mildern, sind sie gruppenweise an den schmalen Wohnstraßen entlang zueinandergefügt worden. Die ersten Bewohner haben ihre Häuser schon bezogen, und bald wird sich hier Baudrillards Prophetie auf eine damals noch kaum vorstellbare Weise wie eine real gewordene Metapher verwirklichen. Jedoch, wenn die Bewohner sich wohlfühlen, es genießen, in einem Haus im Stil ihrer Großeltern oder anderer Länder zu wohnen, muß Kulturkritik da nicht dürr und blass werden, weil sie von der Lebenswirklichkeit mit kraftvoller Pose zurück in die Gelehrtenstu76

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be gestoßen wird? Offensichtlich gibt es durchaus ein »wahres Leben im falschen«, weil auch die Falschheit, das vermeintlich Unechte, entgegen aller analytischen Wahrheit dennoch für eine Mehrheit Identität zu stiften vermag, – als ein lustvolles, naives Genießen der sinnlichen Unmittelbarkeit und selbst auch des Kitsches, der immer schon unserem Leben bis in die letzten Nischen auflauert und uns häufig genug auch überwältigt. Und dies trotz aller kapitalistischen Geldlogik und Warenästhetik. Zugleich bleibt Adornos Aussage «Es gibt kein Leben im falschen« vor dem Hintergrund der Mächtigkeit medialer Realitätserzeugung, analytisch gesehen, eine scharfsinnige Erkenntnis, die auch der stärkste Wandel der Lebensformen in seiner Logik nicht außer Kraft zu setzen vermag. Aber angesichts der Verschiebungen und zunehmenden Uneindeutigkeiten der Kategorien von »wahr« und »falsch« innerhalb des kulturellen Wandlungsprozesses gerät dieses klare Diktum zur reinen Abstraktion und läuft sich an ihnen stumpf, auch wenn es erkenntnislogischer Maßstab bleibt. Das gelebte Leben nämlich verzahnt schleichend, aber wahrnehmbar immer mehr Wahrheit und Lüge miteinander zu einem changierenden Wechselspiel. Das Innen und das Außen des Disneyland ist zunehmend Ausdruck dieses kulturellen Spiels geworden, – ein Wandel der Kultur, der die Lust, aber auch das Leiden an ihm für alle Sinne hier erfahrbar macht. Dem sich distanzierenden Puristen werden durch diesen Wandel kulturellen Gebarens bleibende Schmerzen durch die Lust der Vielen an der Lüge, sowie an der gern durchlebten ästhetischen Illusionierung populärer Inszenierungen zugefügt, die sich ungeniert millionenfach in Mickeys Königreich auslebt. Das Populäre, durch Erleben in vielfältigen medialen Schleifen alltäglich stimuliert, emotional wachgehalten und als das Andere der Lebenswirklichkeit im Fernsehen, Illustrierten, Magazinen oder in Pop-Konzerten imaginiert, erobert immer mehr Plätze im Kulturationprozeß, die ein Millonenpublikum nicht mehr hergeben will. Das mag manchen traurig stimmen, aber es ist jetzt auch Teil der Kultur. Disneyland – ein Gestalt gewordenes ideologisches Konstrukt? Für Millionen bringt es positiv besetzte Erlebnisse, anhaltenden Spaß, aber auch Imaginationen hervor, die selbst in der Simulation noch spaßvolles Erleben bedeuten und zudem eine Lust an der Unmittelbarkeit auch des kalkulierten, medial gesteuerten und bis ins Detail inszenierten Vergnügens als ein gezieltes Spiel mit dem 77

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kollektiven Erinnern an Kindheit, Märchen, Figuren, Geschichten und Mythen ausreizen: Ein »glücklicher Unsinn«.19 Wenn es hier einen Zufall gibt, dann ist er, auch als Schock oder Schrecken, inszeniert und als Serienereignis organisiert, aber ungefährlich. Auch historisch simulierte Alterungsprozesse wie die alter Häuser oder Gerätschaften sind bis zu den Spinnweben durchgestaltet. Und die Schäbigkeitsästhetik einer Wellblechhütte signalisiert den Betrachtern hier »armseliges Haus« und nicht illusionierendes Bühnenbild. Im Gegenteil, die hohe Qualität der inszenierten Falschheit entlarvt sich nicht als Lüge, sondern regt die Schaulust noch an. Die Lüge der simulierten Wirklichkeit nimmt im Konstrukt Disneyland daher, durch die Perfektion ihrer ästhetischen Inszenierung scheinbar eine besonders heimtückische Form an und läßt Denken, Eigensinn oder gar Widerständigkeit eher zu einer theoretischen Größe zusammenschrumpfen. Aber dieses Spiel um Echtheit und Schein bringt Reize hervor, die von einem Erlebnismoment zum anderen in Spannung gehalten oder ausgelebt werden können. Darin spiralisiert sich eine Lust am Erleben, für die das vorgeblich Wahre oder Falsche keine wirkliche Frage mehr ist. Wenn jedoch populäres Erleben strukturell auch der Reflexion fähig werden kann, dann eher in zeitlicher Distanz nach dem Erleben, als Nachklang der Identifikation durch selbstbestimmte Differenz zu allen anderen traditionellen oder hochkulturellen Kulturformen. Deutlich werden läßt dies die Rezeption der Rock-Musik. Selbst in ihren kommerziellsten Ausprägungen kann sie identitätsstiftend fürs Individuum sein, und vermag zugleich aber auch damit Eigensinn als nicht denklogische, sondern eher emotional erzeugte Möglichkeit von Reflexivität als kulturelle Selbstbestimmung hervorzubringen. Auch wenn das Amusement als lustgebundenes Moment menschlichen Seins es der reflexiven Seite im populären Genuß nicht einfach macht, ist sie auf diese Weise nicht auf Dauer stillgestellt. Auch die Dialektik des Populären kennt daher eine reflexives Moment, nur anders als das hochkulturelle sich begreift. Auch ein ästhetisch durchstilisiertes Gebilde ist Disneyland. Das Synthetische – Inszenierungen, Attraktionen, Häuser, Kostüme oder Hotels – und ein Rest »Natürliches« als Pflanzen, Grünflächen, Bäume sind trotz formaler Heterogenität zu einer ästhetischen Einheit miteinander verwoben. Durch regelhafte einheitliche Hand19

Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 169.

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lungsmuster unterstützt, schieben sie sich als mediale Bedeutungen in Fülle ineinander und setzen markante ästhetische Zeichen, die sich über das gesamte Areal verteilen. »Kunst ist, was die Leute mögen.«, – Disneys pragmatischer Kunstbegriff, der in Wahrheit keiner ist, realisiert sich in Disneyland als popkulturelle Ästhetik in hoher Qualität. Zu Richard Wagners Zeiten wäre Disneyland deshalb wohl wegen der Dimensionen seiner ästhetischen Einheit als »Gesamtkunstwerk«20 ausgewiesen worden. Aber Disneyland ist kein Kunstwerk. Es will nur ein wahres, aber schönes Vergnügen sein!

20

In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ließ der italienische Dichter D’Annunzio auf einem großen, gartenähnlichen Areal, »Il Vittoriale degli Italiani«, ein »Gesamtkunstwerk« seiner Imaginationen errichten, einer hochkulturellen Vorwegnahme des späteren Disneylands nicht unähnlich. Vgl: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau/Frankfurt a. M. 1983.

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Die Matrix »Die Matrix hat ihre Wurzeln in primitiven Videospielen« sagte der Sprecher, »in frühen Computergraphikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden.« … »Kyberspace. Unwillkürliche Halluzinationen, tagtäglich erlebt von Milliarden Berechtigten in allen Ländern … Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen, in den Nicht-Raum des Verstands gepackt, gruppierte Datenpakete. Wie die fliehenden Lichter einer Stadt … Er schloß die Augen. Er fand den geriffelten EIN-Schalter. Und in der blutgeschwängerten Dunkelheit hinter den Augen wallten silberne Phosphene aus den Grenzen des Raums auf, hypnagoge Bilder, die wie ein wahllos zusammengeschnittener Film ruckend vorüberzogen. Symbole, Ziffern, Gesichter, ein verschwommenes, fragmentarisches Mandala visueller Information. … Wie ein Origami-Trick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, unendlich ausgedehnt. … Und irgendwo er, lachend, in einer weiß getünchten Dachkammer, die fernen Finger zärtlich auf dem Deck, das Gesicht von Freudentränen überströmt.«1

In dieser reichlich holprig übersetzten Stelle bei William Gibson aus seinem Neuromancer von 1984 wird ein neuer Raum beschrieben, der Raum des Cyberspace. Dieser Raum hat, so will es sein Erfinder, bemerkenswerte Eigenschaften: In ihm treffen sich ohne Raumnot große Menschenmassen aus aller Herren Länder, er ist unvollstellbar komplex, er ist ein Raum des Verstandes, jenseits aller Raumgrenzen, ein Nicht-Raum, unfassbar, fliehend, abstrakt. Er besteht nur noch aus Information und ist eigentlich eine visuelle Halluzination. Es fehlt diesem Raum, der Heimat sein kann, so etwas wie Distanz, er ist unendlich und 1

William Gibson, Neuromancer [1984], übers. von Reinhard Heinz, München 1992.

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zugleich ein sich entfaltendes Origami. Ihn zu bevölkern, ist unvorrstellbar glückvoll. Er ist insgesamt völlig anders als alles, was bisher als Raum erfahrbar war, totaliter aliter: »Aber Slick dachte sowieso nicht, dass der Cyberspace irgend so etwas wie das Universum sei; er ist einfach eine Art, Daten zu repräsentieren.«2

Das Jenseitige des Cyberspace ist nicht mehr zu übersehen. Natürlich kennen Sie die folgende Geschichte über das Jenseits, ich will sie aber trotzdem noch einmal kolportieren: »Zwei Pfarrer unterhalten sich darüber, was den Menschen nach seinem Tod erwartet. Sie lesen in der Bibel und studieren theologische Werke. Schließlich kommen sie zu einer konkreten Vorstellung vom Himmel und sind nun gespannt, ob sie auch der Wirklichkeit entspricht. Sie verabreden miteinander, dass der erste von ihnen, der stirbt, dem anderen eine Nachricht zukommen lassen soll. Sie soll nur aus einem Wort bestehen. Wenn alles sich so verhält, wie die beiden sich es ausgemalt haben, soll die Botschaft lauten ›totaliter – vollständig‹, im anderen Fall ›aliter – anders‹. Einer der beiden Priester stirbt. Der andere wartet sehnsüchtig auf die verabredete Nachricht. Schließlich trifft sie ein. Sie lautet nicht ›totaliter‹ und auch nicht ›aliter‹, sondern ›totaliter aliter – vollständig anders‹.«3

Ist der Cyberspace also eine noch ganz andere Art von Jenseits? Ein totaliter aliter zweiter Ordnung? Ich zitiere Christoph Tholen: »Der Raum hat zur Zeit Konjunktur: Es kursiert wohl kaum eine kulturkritische Diagnose, die nicht von ihm handelt, genauer: von seinem Verlust oder gar seiner Vernichtung. Geschuldet der ›weltweiten Vernetzung der Teletechnologien‹ und ihrem ubiquitären Siegeszug, zöge sich der Raum zusammen und verschwände; und mit ihm sogar der Mensch als ohnmächtiger Zeuge dieses nachgerade apokalyptischen Prozesses. Zugleich aber und im kaum bemerkten Widerspruch zur Vision der telematisch inszenierten Entfernung des Raums wird in einer Vielzahl der den Neuen Medien gewidmeten Untersuchungen unter dem Zauberwort Cyberspace ein neuer Raum angekündigt und plaziert, der den alten, einst angeblich unmittelbar gegebenen Raum ablöse und doch wegen seines medial-fiktiven Charakters eigentlich kein wirklicher Raum, sondern raumvernichtende Zeit sei. Aber auch die Zeit selbst, angeklagt als chronopolitische Macht einer sich universalisierenden Telepräsenz, vernichte einen Bestandteil ihrer selbst: die Gegenwart als gelebte, lebendige oder gar reale.«4 2 3 4

William Gibson, Mona Lisa Overdrive, New York 1989 (Übers. M.W.). http://www.stift-neuburg.de/wortheadline.htm konsultiert am 2.1.2003. Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002. S. 112.

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Es ist zu fragen, ob das Neue am Cyberspace tatsächlich eine gänzlich andere Topographie – jenseits der Grenzen des uns bekannten Raumes – oder eine ganz neue Ökonomie sei, die den Gesetzen des Kapitalismus nicht mehr gehorche und ob im Cyberspace gar Raum, Zeit und Geld verschwänden, welche die neuen Verhältnisse sind, in denen wir ein Leben führen, das zweifellos tatsächlich ein anderes ist als vor Erfindung der weltumspannend vernetzten Digitalcomputer.

Funktionen des Räumlichen Der Raum hat nicht erst neuerdings Konjunktur, er hatte sie schon immer. Man wird fündig bei Funktionen des Raumes5, wie sie schon zu Zeiten des frühen Christentums den Bedürfnissen menschlicher Gemeinschaften entsprachen. Räume, die später die Form von Kirchen annahmen, waren die Träger von Mustern der Versammlung, sie gaben die Orte für liturgische Mähler und rituelle Bäder. So entstanden Altar und Taufbekken. Sie können gedeutet werden als Ver-Räumlichungen kommunikativer Strukturen, bei denen nicht in erster Linie die Topographie der Räume oder ihre Metrik außergewöhnliche Eigenschaften aufweisen – obwohl mir immer noch die Luft wegbleibt, wenn ich im Petersdom sein kann und seine ungeheueren Abmessungen bewundere –, ihre Besonderheiten liegen in der Architektur dieser Räume, sie rahmen und bahnen die Handlungen und die Wahrnehmung der in ihnen agierenden Menschen. Aber nicht nur Gebäude haben Architekturen, auch Software hat angeblich eine, jedenfalls heißt der Beruf von Bill Gates, eines Mannes, der ziemlich viel Geld damit gemacht hat, neuerdings »chief software architect«. Und tatsächlich finden sich in den Weiten des Cyberspace – der allerdings nicht seine Erfindung ist – auch Software-Architekturen, die Funktionen des Räumlichen erfüllen, etwa die der Begegnung. Dass es sich hierbei um eine ins Kraut schiessende Metaphorik handelt, muss klar sein, denn zwar bleiben Raum und Zeit weiterhin als Kategorien der Wahrnehmung in Amt und Würden, wie wir noch genauer sehen werden, doch natürlich handelt es sich bei den hier zu diskutierenden Phänomenen um kommunikative Verhältnisse, de5

Rainer Volp, Liturgik: Die Kunst, Gott zu feiern, Gütersloh 1992.

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ren symbolische Struktur wir schneller verstehen, wenn wir uns auf schiefe Metaphern einlassen. Es sei an Gibson erinnert: »Aber Slick dachte sowieso nicht, dass der Cyberspace irgend so etwas wie das Universum sei; er ist einfach eine Art, Daten zu repräsentieren.« Eine sehr beliebte Verräumlichung von Kommunikation im Internet geschieht in den Chat-Rooms, die schon in ihrem Namen auf die verwendete räumliche Metaphorik hinweisen. Hier geht es um online-Kommunikation in Textform. Man wählt eine Website an, kann kurze Texte eintippen, die dann in einem Protokollfenster – mit denen der anderen, die am Chat teilnehmen – angezeigt werden. Zusammenkünfte finden statt, indem man den gleichen »Raum« betritt, man »hört«, also liest mit, was andere schreiben, wenn man sich in ihrer »hearing distance«6 befindet. Eine Visualisierung dieser symbolischen Kommunikationsverhältnisse verwendet dann auch räumliche Distanzen für die Teilhabe an oder den Ausschluss vom Chat. In den so genannten MUDs sind es Zimmer, die man symbolisch betritt oder verlässt, die den Rahmen des online stattfindenden Diskurses abstecken. Die Szenerie wird von Avataren bevölkert, graphischen Repräsentationen der am Diskurs Beteiligten.

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http://web.media.mit.edu/~fviegas/circles/new/conversational_interface.html

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Interessant wird die räumliche Konfiguration, wenn mehr Personen im Spiel sind:

Wenngleich solcherart Zusammenkünfte eher an Party als an Liturgie gemahnen: die kommunikative Funktion von Räumen findet hier als Raum-Metapher eine gleichartige orientierende Verwendung. Die Menschheit hat eine veritable Leidenschaft für Alan Turings Maschine und für seinen berühmten Test ergriffen, der ursprünglich Intelligenz im Computer prüfen sollte: in den Chat-Rooms schicken Userinnen und User ihre Avatare vor, um auf den Turing-Maschinen im Realen und im Symbolischen – den Digitalcomputern – den ersten Teil des Turing-Tests immer wieder zu spielen, nämlich herauszufinden, wer Weiblein und wer Männlein am anderen Ende des Kommunikationskanals ist. Und dass es Teil des Spiels ist, mittels gender swapping, also der Neuzuweisung des eigenen Geschlechts, das Rätsel der Geschlechtsidentität des Gegenüber unlösbar zu machen, gerade dies ist der eigentümlichen symbolischen Ordnung solcher Räume geschuldet. Doch nicht nur in Chat-Rooms, die, je nach diskursiver Färbung, an Kaffekränzchen (auch eine topologische Metapher) oder an darkrooms der Clubszene erinnern, blüht die Raum-Metaphorik. Sehr beliebt ist die Verräumlichung von Informationsclustern, etwa von WebSite-Inhalten. »Digitale Stadt« nennen sich einige Portale, die ihren virtuellen oder realen Bürgern Plattformen (schon wieder eine 85

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Metapher) für Internet-basierte Kommunikation bieten. Die berühmteste ist »De Digitale Stad Amsterdam«7, und mittlerweile haben – darf man Google glauben – Düsseldorf, Wien, Köln, Mühlheim am Rhein, Kassel, Dortmund und was weiss ich wer noch alles digitale Städte gebaut.

Düsseldorf bietet auf oberster Hierarchieebene an: Home (Kommentar überflüssig), Verein (jedes Städtchen muss wohl einen haben), Marktplatz (wieder gibt es daran nichts auszusetzen), Forum (kommt einem auch aus dem griechischen Altertum bekannt vor), aber dann auch »know how« und »links«, was nicht so recht passen will. Aber Vergleiche, so der Volksmund, hinken eben von Berufs wegen. Infospaces visualisieren Datenaggregate, die Struktur von WebSites etwa. Hier ist viel experimentiert worden, die Skala reicht von automatisch erzeugten Info-Pusteblumen:8

7 8

http://www.dds.nl/ wie weitere Graphiken dieses Kapitels unter http://www.cybergeography.org zu finden

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bis zu ordentlichen Darstellungen von Hierarchien:9

Doch nicht immer sind es räumlich-anschauliche Verhältnisse, mit denen sich Datenstrukturen angemessen darstellen lassen, denn der euklidische Raum unserer Anschauung hat drei Dimensionen, der Bildschirm hat gar nur zwei, und so ist alles noch darstellbar, dessen 9

Paul Kahn, Krzysztof Lenk/Piotr Kaczmarek, »Applications of isometric projection for visualizing web sites«, in: Information Design Journal, 10/3(2001), S. 227.

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fraktale Dimension unter zwei liegt, was sehr oft eine unzulässige Verplattung der Sachverhalte darstellt.

Zur Topographie des Cyberspace Eine Skizze des Vorgängers des Internet, des ArpaNet, sah 1969 so aus:

Vier Knoten sollten ein Netz knüpfen. Wie sieht das Internet heute aus, seit es von vier auf etwa 250 Millionen Knoten angewachsen ist?

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Prinzipiell so:

Lokale Netzwerke stellen über einen Server die Verbindung zum Internet her. Die Datenpakete werden je nach Adressat und Netzauslastung über die vorhandenen Router weitervermittelt, ein Mal über den einen, ein anderes Mal über den anderen. Die Signale reisen mit Lichtgeschwindigkeit von einem Netzknoten zum anderen, werden dort dann zwischengespeichert und weitergereicht. Der Ort eines Routers befindet sich in irgend einem klimatisierten Schrank in einem Raum, zu dem nur Netzwerktechniker Zutritt benötigen. Für die Funktionen des Routings, der Vermittlung der Internet-Pakete, spielt jedoch nur die Internet-Adresse eine Rolle, die Gruppe von Ziffern, die jeden Rechner im Internet eindeutig kennzeichnet. Warum sollte man also mehr wissen als diese Nummern? Eines Montags während unserer Rechenzentrums-Besprechung, unsere beiden Netzwerker waren krank, rätselten wir, wo einige spezielle Router unserer Domain uni-lueneburg.de denn stünden, denn es musste jemand vertretungsweise an den Geräten arbeiten. Wir Nicht-Netzwerker wussten es nicht. Wir konnten nur spekulieren und uns auf die Suche machen. Ist nun, so die zentrale Frage, die Topographie des Internet eine gänzlich eigene, totaliter aliter, oder vielmehr doch eine erdverwachsen-diesseitige? 89

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Immerhin gehen ja die Planungen schon über unseren blauen Planeten hinaus. Bei solcher Himmelsstürmerei fällt mir nur noch Theodor Storm10 ein: »Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann. Des nachts schlief er in einem Rollenbett und auch des nachmittags, wenn er müde war; wenn er aber nicht müde war, so mußte seine Mutter ihn darin in der Stube umherfahren, und davon konnte er nie genug bekommen.«

Auch der Mond wird von dem hyperaktiven jungen Mann engagiert: »›Junge‹, sagte der gute alte Mond, ›hast du noch nicht genug?‹ ›Nein‹, schrie Häwelmann, ›mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!‹ und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete; und so fuhren sie zum Walde hinaus und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann gerade in den Himmel hinein.«

Die interplanetarischen Cyberspace-Planungen, ganz im Sinne des Kleinen Häwelmann, sehen folgendermaßen aus: Neben den uns bekannten Top-Level-Domains auf der guten alten Erde, wie etwa .de, .com, .edu, soll es eine für die Erde geben: .earth, daneben dann .jupiter u.s.w., damit man weiß, dass ein user zum Sonnensystem gehört, gibt es dann .sol, und das interplanetare Internet bekommt die Top-Level-Kennzeichnung .int. Aber wie man sieht, der Vorschlag lief automatisch im Februar 2003 ab, kehren wir also wieder zu Theodor Storm zurück: »›Leuchte, alter Mond, leuchte!‹ schrie Häwelmann, aber der Mond war nirgends zu sehen und auch die Sterne nicht; sie waren schon alle zu Bett gegangen. Da fürchtete der kleine Häwelmann sich sehr, weil er so allein im Himmel 10

Theodor Storm, »Der kleine Häwelmann« [1849], in: D. Lohmeier (Hrsg.), Theodor Storm – Sämtliche Werke, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1988, S. 21-24. .

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war. Er nahm seine Hemdzipfelchen in die Hände und blies die Backen auf; aber er wußte weder aus noch ein, er fuhr kreuz und quer, hin und her, und niemand sah in fahren, weder die Menschen noch die Tiere, noch auch die lieben Sterne.«

Doch endlich lichtete sich das Dunkel, berichtet Storm, wir hoffen für den Kleinen Häwelmann, dass es der Mond ist, oder? »›Leuchte, alter Mond, leuchte!‹ rief er, und dann blies er wieder die Backen auf und fuhr quer durch den ganzen Himmel und gerade darauf los. Es war aber die Sonne, die gerade aus dem Meere heraufkam. ›Junge‹, rief sie und sah ihm mit ihren glühenden Augen ins Gesicht, ›was machst du hier in meinem Himmel?‹ Und – eins, zwei, drei! nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn mitten in das große Wasser. Da konnte er schwimmen lernen.«

Gut, kehren wir also auf den Boden der Tatsachen zurück, .earth. Von himmlischer Warte aus betrachtet, sehen die planetaren und interkontinentalen Verbindungen grob so aus:

Natürlich wirft niemand die Datenpakete auf ballistischen Bahnen durch die Gegend, interkontinental läuft das typischerweise über Tiefseekabel, manchmal auch schon über Satelliten:

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Längs dieser Wege werden also auch über große Distanzen Router miteinander verbunden. Zoomt man in das Deutsche Forschungsnetz hinein, so sieht man die Knoten des akademischen Netzwerks:

Stellen wir uns nun probehalber auf den Standpunkt eines Routers. Welche anderen Netzknoten sind dann überhaupt von ihm aus erreichbar? Welcher ist der Cyberspace, der ihm zugänglich ist? 92

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Die Antwort hat die Form einer Datenbank, die vermerkt, über wie viele Knoten hinweg ein Paket reisen muss, um bei einer bestimmten Internet-Adresse zu landen – jede Knoten-Traversierung nennt man einen hop. Es ergibt sich also ein Geflecht, das von dem Testrechner ausgeht und alle Adressen vermerkt, die erreichbar sind, abgestuft nach der Zahl der hops. Eine Visualisierung11 dieses Raums des Cyberspaces, ausgehend von den Bell Labs, New Jersey, an denen 1949 Claude Shannon das Bit erfunden hat, sieht wunderhübsch korallenhaft so aus:

Die Internet-Adressen jeweils am zugehörigen Knoten zu notieren, ist nicht möglich, es wären derer dann doch zu viele: 100 Millionen.

Zur Geographie und Ökonomie des Cyberspace Hat denn nun der Raum des Cyberspace, des Internet, noch irgendetwas zu tun mit dem geographischen Raum, oder handelt es sich um die »Matrix« von William Gibson: Unendlich, distanzlos, eine bunte Koralle, ein Nicht-Raum des Verstandes? Es gibt eine Initiative, die einen Atlas des Cyberspace veröffentlicht, natürlich im Cyberspace: www.cybergeography.org. Man findet dort Karten aller Art – nicht nur korallenförmige, sondern auch geographische. Da wird die Sache dann weniger entrückt.

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http://research.lumeta.com/ches/map/gallery/index.html

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Wir stellen nämlich fest, dass die Infrastruktur des Internet durchaus nicht gleichmäßig über die Welt verteilt ist, sondern sich massiv gruppiert. Sehen wir diese Verteilung noch einmal an, dieses Mal unter dem Aspekt der Bevölkerungsdichte. Gibt es vielleicht da am meisten Internet, wo die meisten Menschen leben?12

Das ist es auch nicht: There is so little Africa in the Internet. Und Asien ist nur ganz am Rande vertreten. Die Vermutung liegt nahe, dass die lokale Internet-Dichte vom Reichtum des Ortes auf der Welt abhängt, und tatsächlich findet man einen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Internet-Server und dem Human Development Index, der sich aus der Lebenserwartung, dem Grad der Alphabetisierung, der Schulbildung

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Soon-Hyung Yook/Hawoong Jeong/Albert-Laszlo Barabasi, »Modeling the Internet’s Large-Scale Topology«, in: Condensed Matter, abstract (cond-mat/0107417, http://arxiv.org/ abs/cond-mat/0107417).

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und dem Bruttosozialprodukt pro Kopf zusammensetzt. Der Zusammenhang13 sieht aus wie folgt:

Die Internet-Dichte ist offenbar direkt mit dem Human Development Index korreliert! Man beachte, dass die senkrechte Achse logarithmisch skaliert ist. Das bedeutet: nähme man einen normalen Maßstab, würde die Gerade im Diagramm zur e-Funktion der typischen Kurve für stürmisches explosives Wachstum. Mit anderen Worten: die Internet-Dichte ist nicht etwa lediglich proportional zum Entwicklungsindex, sie hängt extrem stark von ihm ab. Steigert man den Index um etwa 15 Prozent, verzehnfacht sich die InternetDichte. Und es ist nicht nur die Zahl der Server: auch die Bandbreite, also die Informationsmenge, die pro Zeiteinheit zwischen zwei Orten übertragen werden kann, zeichnet überdeutlich Entwicklungsstand und Reichtum auf der Welt nach14:

13 14

http://som.csudh.edu/cis/lpress/articles/ hdi.htm http://www.telegeography.com/maps/internet/index.html

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Wir haben es hier mit einem Phänomen der Agglomeration, der Ballung von Ressourcen zu tun, die zunächst den alten Zentren des Handels und der Hochfinanz folgt, die die ungleiche Verteilung auf der Welt aber noch steigert und in einigen wenigen Global Cities konzentriert. Saskia Sassen schreibt dazu: »Global Cities sind zentrale Standorte für hochentwickelte Dienstleistungen und Telekommunikationseinrichtungen, wie sie für die Durchführung und das Management globaler Wirtschaftsaktivitäten erforderlich sind.«15 »Nationale und globale Märkte ebenso wie global übergreifende Wirtschaftsabläufe erfordern zentrale Orte, an denen die Globalisierung realisiert wird. Darüber hinaus erfordern die Informationsindustrien eine gewaltige materielle Infrastruktur, an deren strategischen Knotenpunkten bestimmte Einrichtungen hochkonzentriert zur Verfügung stehen. … So ergibt sich eine ökonomische Konfiguration, die völlig anders aussieht, als es das Konzept der Informationsökonomie nahelegt.«16

Informationsökonomie – Sie erinnern sich: Nicht-Orte des Verstandes, immaterielle abstrakte Datenräume, anders als alles, was wir uns unter »Universum« vorzustellen gewohnt sind. Saskia Sassen: »Hochentwickelte Dienstleistungen profitieren von Agglomerationen und tendieren dazu, einen Produktionskomplex zu bilden …. Der Produktionsprozeß einer solchen Dienstleistung umschließt aber auch eine Vielzahl von Arbeitern und Unternehmen, die man gewöhnlich nicht zur Informationsökonomie rechnet: Sekretärinnen, Hausmeister und Putzkolonnen, um nur einige zu nennen.«17

Und wie heißen die Global Cities nun heutzutage, die diese Dienstleistungen erbringen: Tokio, New York, Paris, London, Frankfurt am Main.18

15 16 17 18

Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarkts, Frankfurt a. M./New York 1997; Cities in a World Economy, ??? 1994, S. 39. a.a.O., S. 15f. a.a.O., S. 143. a.a.O., S. 22.

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Ein Zoom auf die Verteilung der Internet-Bandbreiten in Europa mit Anbindung an die USA zeigt19 genau diese Städte als Zentralen der globalen Vernetzung. Die Topographie des Cyberspace und die Mobilität des Finanzkapitals haben offenbar sehr viel miteinander zu tun. Saskia Sassen: »Mit der Hypermobilität des Finanzkapitals steigt auch die Bedeutung der Technologie. Geld kann von einem Teil der Welt in den anderen verschoben und Geschäfte können abgeschlossen werden, ohne daß man auch nur einmal von seinem Computer-Terminal aufzustehen braucht. Dank der Elektronik gibt es nun abstrakte Marktplätze, die wir als Cyberspace der internationalen Finanz auffassen können.«20

Mir scheint, hier haben sich alte Verhältnisse verfestigt und intensiviert, trotz allen Wandels. Der Kapitalismus als der große Gewinner im Wettstreit zwischen den Systemen hat einen digital divide im Schlepptau, gegen den der eiserne Vorhang ein simpler Vorgartenzaun war. Es ist schon so, wie Gretchen im Faust, 1. Teil, sagte: »Nach Golde drängt, Am Golde hängt, Doch alles.« Auch die Topographie des Cyberspace. Man könnte es etwa so zusammenfassen: Internet-Dichte = Bevölkerungsdichte * Reichtum. Doch wie immer lassen sich komplexe Entwicklungen nicht monokausal beschreiben. Bandbreite, informationelle Infrastruktur, also Cyberspace, entwickeln sich koevolutiv rückgekoppelt zur Ökonomie: die Geschäftszentren wandern dort hin, wo sie günstige Entwicklungsmöglichkeiten vorfinden, und das will man städtepla-

19 20

http://www.telegeography.com/pubs/internet/reports/ig_gbl/index.html a.a.O., S. 127.

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nerisch vorwegnehmen, um Geschäftszentren anzusiedeln. Volker Grassmuck schreibt: »Heute beginnt die Stadt Tokio, sich um die Telekommunikationsnetze herumzuorganisieren. […] Ein gutes Beispiel dafür ist ›Teleport‹-City (http:// www.tokyo-teleport.co.jp/index.html), ein Großprojekt auf aufgeschüttetem Müll in der Bucht von Tokio, das Büroraum für 110.000 und Wohnungen für 60.000 Menschen vorsieht. Von der Idee her orientieren sich Teleports nicht an der realen Umgebung, sondern an den Netzen.«21

Doch sollten wir den realen geographischen Raum nicht zu gering schätzen. Immerhin ist es der Stadtrand von Tokio, einer Global City, von dem hier die Rede ist. Ich bin geneigt, hier wieder Sassen zu folgen, die dieses Phänomen mit dem Begriff der Edge City beschreibt: »Der Begriff der Edge City bezieht sich auf signifikante Ansammlungen von Bürokomplexen, geschäftlichen Aktivitäten und Wohngebieten am Rand eines Ballungsraums, der mit dem Zentrum durch die modernsten elektronischen Mittel verbunden ist.«22

Dass der Raum des Cyberspace sehr real mit dem geographischen Raum zusammenhängt, kann man gut am Kosovo-Krieg beobachten. Die Erreichbarkeit von Routern im Kriegsgebiet wurde deutlich von den Kriegshandlungen beeinträchtigt, Momentaufnahmen der Router-Topographie23 im Mai 1999 zeigen, wie Teile des Internet im Kosovo wegbrachen:

Zur Metrik des Cyberspace Die Topologie ist die mathematische Disziplin, die sich um die wechselseitige Lage von Objekten im Raum kümmert. Einer ihrer Basisbegriffe ist die Metrik. Eine Metrik misst Abstände, so wie wir es von der räumlichen Entfernung gewohnt sind. Man kann verschiedene Metriken einführen, die dann auch verschiedene Maßzahlen für Abstände liefern. Im dreidimensionalen Raum verwenden wir normalerweise die euklidische Metrik, die sich ergibt, wenn wir einen Zollstock benutzen und geradeaus messen. Seeleute und Piloten müssen etwas 21 22 23

Volker Grassmuck, »Tokyo – Stadt als Terminal und Terminal als Stadt«, in: Christa Maar/Florian Rötzer (Hrsg.), Virtual Cities, Basel 1997, S. 38-48. S. 39. a.a.O., S. 129. http://research.lumeta.com/ches/map/yu/

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anderes nehmen, weil sie die Erdkrümmung zu berücksichtigen haben. Hier verwendet man die Länge des Großkreisbogens zwischen zwei Punkten auf der Kugeloberfläche. Das ist der Kreisbogen, der entsteht, wenn man einen Schnipsgummi auf dem Globus zwischen den beiden Orten aufspannt: er zieht sich zum kürzesten Weg auf der Kugeloberfläche zusammen. Welche Metrik wäre für das Internet geeignet, die die Verhältnisse pragmatisch beschreibt? Eine Metrik, die z.B. dazu in der Lage ist, aus der Zeit, die ein Datenpaket von einem Ort zum anderen braucht, Rückschlüsse auf Laufzeiten zwischen anderen Orten zu ziehen. Je größer der Abstand, gemessen in der jeweiligen Metrik, desto länger sollte das Paket brauchen. Es sollten auch keine Artefakte auftreten, etwa, dass es von A über B nach C kürzer wäre als von A nch C direkt. In Wagners Parzifal reden der Held und Gurnemanz im ersten Aufzug ganz in diesem Sinne über Raum-Zeit-Verhältnisse: »Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit. Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.« Eine Vermutung im Sinne der Informationsökonomie lautet vernünftigerweise, dass der Abstand zwischen zwei Adressen im Cyberspace sich nach der Zahl der hops bemisst, denn ein hop, das Weiterreichen von einem Router zum nächsten, ist die elementare Fortbewegungsoperation im Cyberspace, dessen logische Topologie mit dem Netz aus Routern zusammenfällt. Doch weit gefehlt – die Zahl der hops und die Dauer, die ein Paket braucht, sind nicht korreliert.24 Die Erfolgswahrscheinlichkeit, beim Vergleich zweier Verbindungen richtig aus der Zahl der hops auf längere oder kürzere Dauer zu schließen liegt bei 50, also der Rate für blindes Raten.

24

Bradley Huffaker/Marina Fomenkov/Daniel J. Plummer/David Moore/K. Claffy, »Distance Metrics in the Internet«, in: IEEE International Telecommunications Symposium, 2002 (http://www.caida.org/outreach/papers/2002/ Distance/).

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Viel besser ist die Latenz, also die Übertragungsdauer selbst. Sie hat im Wesentlichen die Eigenschaften einer anständigen Metrik. Von A nach A selbst braucht’s gar keine Zeit, von A nach B ist so lang wie von B nach A, und Umwege steigern den Wert der Metrik. Das, was als Raumverhältnis dem am nächsten kommt, wenngleich nicht perfekt, ist tatsächlich der geographische Abstand, gemessen als Länge des Großkreisbogens. Sie erinnern sich: der Schnipsgummi auf dem Globus. Die Messungen ergaben folgendes Diagramm: RRT ist die Round Trip Time, also einmal hin und zurück, die einfa-

che Linie zeigt die Zeit, die benötigt werden würde, wenn das Paket tatsächlich mit Lichtgeschwindigkeit reiste. Man sieht deutlich eine hohe Korrelation zwischen der Messpunktwolke und der geographischen Distanz, von Zufall und blindem Raten kann hier nicht mehr die Rede sein. Das »distanzlos« in Gibsons Vision können wir also getrost streichen: Die Metrik des Cyberspace ist die Latenz, die halbe Round Trip Time. Wagner hatte richtige vorweggenommen: zum Raum wird hier die Zeit. Die beste Annäherung in räumlichen Termini ist die Entfernung auf Mutter Erdes Rundungen, auf dem Großkreis, genau wie in der christlichen Seefahrt. Nun fehlt noch eine Untersuchung der Zeitverhältnisse. Vernichtet der Cyberspace die Zeit? Setzt sich das Internet über den Tag-Nacht-Rhythmus hinweg, macht es die Nacht zum Tage und umgekehrt?

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Auch dieses ist untersucht worden,25 das Ergebnis erweist sich als das folgende:

Geht Amerika schlafen, dann schläft auch der Cyberspace, dessen Aktivitätslevel durch die dunkle Linie beschrieben wird. Er, der schlafende Koloss, dreht sich kurz auf die andere Seite, wenn der Ferne Osten zur Arbeit geht und wenn die vielen Menschen in Asien wach werden, schläft das Internet durch. Paris erwacht, und das Internet schreckt ein wenig auf. Der Cyberspace erwacht, wenn New York mit der Arbeit beginnt. Der Cyberspace folgt, alles in allem, dem Tag-Nacht-Rhythmus des Durchschnittsamerikaners, ein wenig macht auch Europa mit. Tag bleibt Tag, Nacht bleibt Nacht. Geht die Sonne unter, ist es auch im Netz der Netze zappenduster.

Welcher ist der Durchmesser des Cyberspace? Obwohl die basale Struktur der Matrix, TCP/IP, der Trägerin von World Wide Web und E-Mail, offenbar die Metrik des Erdballs selbst zu haben scheint, sind unsere Erfahrungen mit dem Cyberspace doch ganz andere. Wir bemerken zwar, dass eine Web-Seite vom anderen Ende des Erdballs eine um ein Weniges größere Ladezeit hat als die von um 25

Paul Bevan, The Circadian Geography of Chat, 2002 (http://users.aber.ac.uk/ ppb98/ circadian.htm).

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die Ecke, doch: ist das tatsächlich Auschlag gebend? Wird die Entfernung zweier Sites nicht eher durch den Aufwand festgelegt, die wir treiben müssen, um von der einen zur anderen zu gelangen? Ist es nicht eher die Zahl der Klicks, die man braucht, um zwischen zweien zu vermitteln? Und, wie liegen die Sites zueinander? Gibt es Gebiete, zwischen denen Leere klafft? Gibt es Inseln, die von keinem Link erreicht werden? Und in der Tat, obwohl des WWW wächst, lassen sich zwei Tatsachen behaupten und empirisch überprüfen: die kontinentale Struktur des Web und ein universaler Durchmesser, eine mittlere Entfernung zweier Seiten. Zuerst zu den Kontinenten des Cyberspace:

Es gibt einen IN-Kontinent, zu dem keine anderen Seiten weisen. Von ihm gehen nur Verweise ab, keine hinein. Diese Links führen zum CENTRAL CORE, der in sich vernetzt ist, und von dem Links in den OUT-Kontinent verlaufen. Dort ist Endstation. Tunnels, TUBES, weisen direkt von IN nach OUT, von denen Ausläufer abgehen, die TENDRILS. Und dann gibt es noch die Inseln der Einsamen, Gruppen nur untereinander venetzter Seiten ohne Verbindung zu den anderen Kontinenten. So jedenfalls stellt es Albert-Lászlo Barabási dar, der mit seinem Bestseller »Linked«26 die neue Wissenschaft von den Netzen populär gemacht hat. Er berichtet dann auch davon, dass das Web einen Duchmesser hat. In Anlehnung an die Small World Theory, die beschreibt, dass über persönliche Bekanntschaft jeder Mensch von jedem anderen 26

Albert-László Barabási, Linked, New York 2003, S. 166.

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auf der Erde im Schnitt weniger als fünf Personen voneinander entfernt ist und dass Glieder einer Nahrungskette nur über zweimaliges Gefressen-werden miteinander zu tun haben, Router im Internet nur durchschnittlich zehn Nachbar-Router weit voneinander entfernt sind, lautet die magische Zahl für das World Wide Web – neunzehn: neunzehn Klicks ist eine Seite im Mittel von jeder anderen entfernt. Damit ist der Durchmesser des Web in der Welt der Netzwerke der größte und hält ungebrochen den Rekord. Dieses seltsame Phänomen einer Struktur des Web, die sich offenbar nicht aus der technischen Verfasstheit seiner Infrastruktur ergibt – schließlich hat ja die im vorigen Abschnitt kolportierte Metrik des Cyberspace nichts mit der kontinentalen Aufteilung des Web oder mit seinem Durchmesser zu tun –, diese Inkongruenz soll hier wiederum als eine Emergenz »von oben»27 gedeutet werden, bei der das System höherer Ordnung, das Web, seine Elemente nach eigenem Zuschnitt aus dem medialen Substrat, dem Internet-Protokoll, bildet.

Gefühlte Zeit und überbrückte Kluften im Cyberspace Wenn dennoch, trotz aller gegenteiliger objektiver Befunde über Raum und Zeit im Cyberspace, die Rede geht vom distanzlosen Raum und von vernichteter Zeit, dann wohl am ehesten deswegen, weil unsere Raum- und Zeit-Konstruktionen irritiert werden vom Phänomen der weltweit vernetzten Digitalcomputer. In solchen Momenten der Irritation wird offenbar, dass die Vorstellung einer autonom dahinfließenden Zeit und eines unerschütterlichen isotropen und homogenen Raumes mit der Weltwahrnehmung des Menschen nur wenig zu tun haben. Nie konnten wir Menschen Raum und Zeit im Rohzustand, unmittelbar und ungestört wahrnehmen, immer entstanden sie erst durch die unablässige Rückkopplung von Wahrnehmung und Handlung. Der im Jahr 2002 verstorbene Heinz von Foerster sagte, wie immer mit einem verschmitzten Lächeln: Wir sehen mit den Füßen. Er meinte damit: verändern wir unsere Position, er-fahren wir den Raum, bilden wir erst so ein räumliches Sehen aus. Und die am Ereignis orientierte Systemtheorie Luhmanns findet über die Schwester27

Niklas Luhmann, Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1994. S. 43f.

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Kategorie Zeit: »So gesehen, ist ›Zeit‹ das Symbol dafür, daß immer, wenn etwas Bestimmtes geschieht, auch etwas anderes geschieht«28. Keine Zeit ohne Ereignisse – Ereignisfolgen bringen Zeitskalen hervor. Alle Medien greifen in unsere Raum- und Zeitwahrnehmung ein: es gibt das Mikroskop, die Zeitlupe, das Fish-Eye-Objektiv und den Zeitraffer. Und es ist ein Irrtum anzunehmen, die Welt sei geschrumpft, wenn wir ein Fernglas verkehrt herum an die Augen halten. Wir bemerken den Irrtum, wenn wir das Fernglas als technisches Medium, als etwas dem Körper Fremdes wahr- und dann auch wieder von den Augen nehmen. Medien sind keine bloßen Instrumente oder Werkzeuge, die sich ganz einem ursprünglich gesetzten Zweck unterwerfen. Sie affizieren die Wahrnehmung, so dass wir sie auch nur in Ausnahmefällen, etwa beim verkehrt herum gehaltenen Fernglas, auch wieder entfernen können. Es gibt den Gibsonschen »geriffelten EIN-Schalter« des Cyberspace nicht. Deshalb können wie ihn auch nicht wieder abschalten. Er ist nun einmal da, selbst und gerade dann, wenn er einmal nicht funktioniert, skaliert charakteristische Raum- und Zeitskalen um, und mischt sich so unhintergehbar in unsere Wahrnehmung. Da Raum und Zeit nicht unmittelbar gegeben sind, sondern sich erst durch Handlung konstituieren, selbst in der Physik, implodiert der Raum als Raum auch nicht und schrumpft uns auch nicht die Zeit als Zeit davon, wenn die Wahrnehmungs-Landmarken zu Zeiten des Cyberspace sich verschieben. Die wahrzunehmende ungeheuere Beschleunigung von Kapitaltransfer und Kommunikation, die scheinbar instantan zu überbrükkenden Distanzen im Internet schockieren uns wegen der mediale n Zäsuren im Feld der Wahrnehmung29, die nur so lange sichtbar bleiben, bis sie assimiliert und später einmal als »natürlich« in menschliche Raum- und Zeit-Konstruktionen eingegangen worden sein werden. Das wird, so ist zu schätzen, spätestens bei unseren Kindern oder Enkeln der Fall sein. Sie werden das, was wir jetzt noch als Schock erleben, dann nur noch mit Hilfe einer Archäologie des Cyberspace mühsam als etwas ausgraben müssen, was ihre Eltern und Großeltern ehedem noch zu ungläubigem Staunen hat hinreissen können. 28 29

ebenda, S. 70. vgl. Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), HyperKult, Basel 1997; Georg Christoph Tholen, »Digitale Differenz«, in: ebd., S. 99-116; sowie Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien, a.a.O.

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Abb. 1: Beyond Downtown Cyberspace

Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, Musealisierung und Ghettoisierung der Innenstädte, Urban Sprawl, Suburbanisierung, globale Verstädterung, Enträumlichung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, das sind nur einige Schlagworte, unter denen in den frühen 1990er Jahren die Krise der Stadt diskutiert worden ist.1 Aus Perspektive der europäischen Stadt mit ihrer historisch geschlossenen Form und ihrem Ideal des öffentlichen Raumes sah es um die Stadt in der Tat schlecht bestellt aus. Umso größer waren die Hoffnungen, die sich an die virtuellen oder digitalen Städte richteten. »Elektronische Agoren«2 sollten entstehen, von einem neuen »digitalen Urbanis1

2

Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Neue Urbanität, Frankfurt a. M. 1987; Ulrich Schwarz (Hrsg.), Risiko Stadt? Perspektiven der Urbanität, Hamburg 1994; Bernd Meurer (Hrsg.), Die Zukunft des Raumes, Frankfurt a. M./New York 1994; Dieter Hoffmann-Axthelm, »Im elektronischen Dickicht der Städte. Die Datennetze und ihre Wirkungen auf die Stadt«, in: Bauwelt, 22(1996), S. 1270-1281; Florian Rötzer, »Auszug aus der Stadt«, in: Werk, Bauen und Wohnen, 3(1996), S. 26-33. William J. Mitchell, City of Bits: Space, Place, and the Infobahn, Cambridge/Mass. 1995.

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mus« war, wenn auch kritisch, die Rede3, ein wichtiges Organ der deutschen Mediendebatte nannte sich selbst »Telepolis«4. Die Euphorie dieser Gründerjahre von Internet und Virtueller Realität ist längst vorüber, und von den vielen ambitionierten Projekten digitaler Städte haben nur die überlebt, die kommerziell geworden sind.5 Mit einer kleinen Chronik der digitalen Städte und so genannten ›Information Cities‹ soll im Folgenden gezeigt werden, dass es sich bei ihnen um Inszenierungen nicht nur einer idealen Gesellschaftsordnung, sondern auch einer idealen Ordnung des Wissens gehandelt hat. Die Stadt stellt dabei nur ein mögliches Ordnungsmodell räumlicher Wissensorganisation dar, die im Rahmen der computergestützten Datenverwaltung neue Bedeutung erlangt hat.

Die digitalen Städte: Inszenierungen einer idealen Gesellschaftsordnung Das mit der Freenet-Bewegung6 entstandene Cleveland Freenet gilt als die erste digitale Stadt.7 1984 aus einem öffentlichen Bulletin Board-System der medizinischen Fakultät der Case Western Reserve University hervorgegangen, erweiterte sich das Cleveland Freenet 1986 zu einem lokalen Rechnernetzwerk, das der Kommunikation und dem Zugang zu Datenbanken diente.8 Es bot den Clevelandern einen freien Email-Zugang, Diskussionsforen zu verschiedenen Themen und einen kommunalen Informationsservice. 1994 zählte das Cleveland Freenet bereits 35.000 registrierte Nutzer und täglich 3 4 5 6

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8

Vgl. hierzu die Beiträge in Christa Maar/Florian Rötzer (Hrsg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung, Basel 1997. http://www.heise.de/tp (25.04.2005). Zur Krise der digitalen Städte vgl. Tilmann Baumgärtel, »Netmalls statt digitalen Städten«, in: Telepolis, 18.12.1997; ders.: »Die Zeit der digitalen Städte ist vorbei«, in: Telepolis, 05.02.1998: http://www.heise.de/tp (25.04.2005). Mit der Freenet-Bewegung, die für einen freien Technik-, Informations- und Kommunikationszugang eintrat, entstanden in den 1980er Jahren zahlreiche lokale Rechnernetzwerke und auf Basis von Mailing-Listen und Bulletin Board-Systemen die ersten größeren Netzgemeinschaften. Die Geschichte der Netzgemeinschaften reicht mit dem Berkeley Community Memory Project und den ersten computergestützten Telekonferenzen jedoch bis in die frühen 1970er Jahre zurück. Vgl. hierzu Douglas Schuler: »Community Networks: Participatory Medium«, in: Communications of the ACM, 37/1(1994), S. 39-51. Wobei der Begriff der digitalen Stadt offensichtlich auf De Digitale Stad (Amsterdam) zurückgeht. Vgl. Peter van den Besselaar/Isabel Melis/Dennis Beckers: »Digital Cities: Organization, Content, and Use«, in: Toru Ishida/Katherine Isbister (Hrsg.): Digital Cities. Technologies, Experiences, and Future Perspectives, Berlin 2000, S. 18-32. Die Case Western Reserve University betrieb das Cleveland Freenet bis zum Oktober 1999 und stellte es dann ein.

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mehr als 10 000 Einwahlen in das Rechnernetzwerk. Bei Einwahl tauchte als Startseite die mit einfachen grafischen Mitteln dargestellte Skyline Clevelands auf. Sie vermittelte die Ortsgebundenheit des Rechnernetzwerks, daneben wies sie es als einen urbanen Raum elektronischer Kommunikation aus. Als ein solcher wurde das Cleveland Freenet von seinen Nutzern auch begriffen, und zwar als eine ›elektronische Stadt‹, in der man sich traf, Neuigkeiten erfuhr, Informationen einholte, einen eigenen Bürgermeister wählen konnte. Welche auf das kommunale und Wirtschaftsleben Clevelands bezogenen Einrichtungen diese elektronische Stadt vorsah, geht aus dem folgenden Index hervor.

Abb. 2: Cleveland Freenet (Screenshots)

Die Gebäude und Stätten, die der Index auflistet, bildeten nicht nur Cleveland ab. Sie gaben vielmehr ein stereotypes Gebäudeensemble vor, das die zentralen Funktionen der Stadt repräsentierte, nämlich Sitz von Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu sein, aber auch Ort von Kultur, Wissen, Kommunikation und Handel. Die entsprechenden Gebäude wie Administration Building, Courthouse, Government Center, Library etc. dienten zugleich als Ordnungsund Klassifikationssystem für die über das Cleveland Freenet abzurufenden Informationen. Daten und Diskussionsforen, die in irgendeinem Zusammenhang mit der Verwaltung des Cleveland Freenet standen9, waren bspw. dem Administration Building zugeordnet, das Arts Building hingegen enthielt Informationen zum Kulturangebot der Stadt Cleveland.

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Etwa Informationen über die Zugangsmodalitäten zum Cleveland Freenet, die Regeln elektronischer Kommunikation und der Netzgemeinschaft selbst.

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Als Ordnungs- und Klassifikationssystem wurde die Stadt jedoch noch nicht reflektiert. Im Vordergrund standen zunächst andere Konnotationen von Stadt. Konnte sich am Internet insgesamt die soziale Utopie einer egalitären und basisdemokratischen Netzgemeinschaft – im weiteren Sinne einer solchen Gesellschaft – aktualisieren, insofern mit der Bidirektionalität des Internets jedweder massenmedialer und administrativer Zentralismus unterlaufen schien, dann wurde das Bild der Stadt zum Inbegriff dieser Utopie. Die digitalen Städte stellten so von Beginn an nicht einfach nur mediale Erweiterungen bestehender Städte und ihrer Funktionen dar, sondern verstanden sich auch als neue Idealstädte. Exemplarisch geht aus einer Beschreibung der Internationalen Stadt Berlin10 hervor, dass »frühere sozialutopische Stadtentwürfe« berücksichtigt worden seien. Damit wird hier explizit an eine lange Tradition sozialer Utopien angeschlossen, die sich ebenfalls im Bild einer idealen, die jeweilige Gesellschaftsordnung in der Regel auch formalästhetisch zum Ausdruck bringenden Stadt manifestierten.11 Von einem vergleichbaren formalästhetischen Ausdruck kann in Bezug auf die digitalen Städte allerdings nicht gesprochen werden. Wurden geometrische Formen für den Stadtgrundriss gewählt, dann folgte dies eher einem modernen Design, als dass damit kosmologische oder religiöse Aspekte geometrischer Grundformen aufgerufen worden wären. Auch von einem Stadtgrundriss und einer Architektur, in der sich wie noch in der Stadt Amaurotum12 die Egalität der Bürger ausdrückte, ist bei den digitalen Städten wenig zu finden. Kennzeichnend für diese sind hingegen zwei Typen von Stadt: zum einen die Kleinstadt, mit der die vorindustrielle Stadt und dörfliche Gemeinschaftsstrukturen evoziert worden sind, zum anderen die hoch technisierte Megalopole. Die Sehnsüchte moderner Urbanität nach einem Zurück zur historischen, in ihren materiellen Grenzen und sozialen Beziehungen überschaubaren Stadt oder aber deren 10

11

12

Die Internationale Stadt Berlin entstand 1994 und sollte als »Bürgerinformationssystem« und Forum für kulturelle Netzprojekte dienen. Vorbild war De Digitale Stad. Bereits 1997 löste sich die Internationale Stadt Berlin auf. Joachim Blank, »Internationale Stadt Berlin. Notizen aus der Provinz«, in: Christa Maar/Florian Rötzer (Hrsg.), Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung, S. 70-74. Vgl. hierzu Helen Rosenau, The Ideal City in its Architectural Evolution, London 1959; Mechthild Schumpp, Stadtbau-Utopien und Gesellschaft: der Bedeutungswandel utopischer Stadtmodelle unter sozialem Aspekt, Gütersloh 1972; Werner Oechslin, »Mirabili Mundi. Urbanistische Idealvorstellungen in Projekten und Rekonstruktionen«, in: du. Kulturelle Monatsschrift, 32(1972), S. 2-25; Hanno-Walter Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1989. Vgl. Thomas Morus, Utopia, Basel 1947.

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futuristische Übersteigerung, wie sie von Architektur, Literatur und Film vorweggenommen worden ist13, bestimmten auch die digitalen Städte. Charakteristisch für diese ist darüber hinaus eine ›architecture parlante‹. Die abgebildeten Gebäude symbolisierten die ihnen zugeordneten Informationen und Funktionen, so dass Architektur hier faktisch zu einem Zeichen wurde.14 Der Anspruch auf eine egalitäre und basisdemokratische Gesellschaft beschränkte sich nicht auf die digitalen Städte, sondern erstreckte sich auch auf den realen urbanen Raum. Von den digitalen Städten wurde so gleichermaßen erwartet, dass sie die zugrunde liegenden städtischen Gemeinden, deren Informations- und Kommunikationsfunktionen sie erweiterten, (wieder)beleben könnten: »First, they (the civic websites, Anm. K.W.) aimed at embedding themselves, more or less strictly, within real urban spaces. Second, the audience they were supposed to address was much wider, as several of them were trying to experiment with teledemocracy at the urban and regional level. Third, governments – local and central – as well as other community organisations got involved to a certain extent. Fourth, the Internet and the World Wide Web soon became the channel through which these ›digital‹ or ›virtual‹ cities – as many of them started being called – worked. These factors seemed to indicate that one of the major roles that these Internet sites were going to play was regenerating the public sphere of our cities, by providing a public electronic platform where citizens and communities could really exploit the communicative and inclusive potential of the new technologies.«15

Über das lokale Rechnernetzwerk sollten nicht einfach nur kommunale Informationen und Belange verbreitet werden, sondern zur öffentlichen Verhandlung und zum Bürgerentscheid gestellt werden. Extra eingerichtete Diskussionsforen, elektronische Befragungen und Wahlen ließen die Netzgemeinschaften an den politischen, administrativen und stadtplanerischen Prozessen der jeweiligen städtischen Gemeinden direkt teilhaben und sich darüber wieder stärker mit ihnen identifizieren. Dies war der Anspruch, der sich mit den ersten digitalen Städten verband und in ihrer Anfangszeit bedingt 13

14 15

Angefangen bei den Stadtvisionen von Antonio Sant’Elia und Virgilio Marchi über Fritz Langs Metropolis bis hin zu Ridley Scotts Blade Runner. Zu den entsprechenden Stadtbildern vgl. Jean Dethier/Alain Guiheux (Hrsg.): La ville, art et architecture en Europe, 1870-1993, Paris 1994. Etwa wenn bei Apple’s Eworld ein Bildschirm- und Rechnergehäuse ein Gebäude darstellt, das Informationen zum Computer enthält. Eine Abbildung findet sich in Mitchell, City of Bits, a.a.O., S. 107. Alessandro Aurigi, »Digital City or Urban Simulator«, in: Ishida/Isbister, Digital Cities, a.a.O., S. 33-44, hier S. 33.

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auch eingelöst wurde. Entsprechend sind sie als ein »Werkzeug« interpretiert worden, mit dem die »lokale Demokratie und Teilnahme« verbessert werden könne.16 Auch hier erklären sich die Erwartungen an die digitalen Städte mit einer Realität, die von zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber Wahlen und kommunalpolitischer Arbeit gekennzeichnet ist.17 Der Aspekt einer Revitalisierung urbaner Öffentlichkeit spielte schon beim Cleveland Freenet eine Rolle und bestimmte maßgeblich auch De Digitale Stad (im Folgenden DDS). Die von den kanadischen und amerikanischen Freenets angeregte DDS wurde ihrerseits zum Vorbild einer Vielzahl europäischer digitaler Städte. Da sie mehrfach schon dokumentiert worden ist18, gebe ich nur einen kurzen Überblick über ihre Entstehung und Auflösung, die bereits Ende der 1990er Jahre einsetzte. Heute besteht die DDS nur mehr als örtlicher Informationsservice und privatwirtschaftlich geführter Internetprovider, während an die Stelle der alten grafischen Oberfläche eine standardisierte Website getreten ist. Wie viele dieser Projekte existierte die DDS mit ihrer Gründung im Januar 1994 zunächst auf Ebene eines lokal eingerichteten Rechnernetzwerks und Bulletin Board-Systems. Die Gründungsinitiative der DDS ging zum einen auf das Amsterdamer Politik- und Kulturzentrum De Balie sowie den Hackerclub Hacktik zurück, der sich 1993 als erster nicht-universitärer Internetprovider der Niederlande 16 17

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Besselaar/Melis/Beckers, Digital Cities, a.a.O., S. 19. »In all Western democracies voter apathy has been rising steadily in the post-war period. From as early as the 1950s, a series of large-scale voting studies indicated increasing voter indifference or even hostility to politics and found that citizens were often apathetic and uninformed about politic issues. This trend has continued and today there are substantial rates of citizen abstention from elections and increasing detachment from politics. […] Indeed, whereas many in the past conceived of democratisation in terms of the extension of civil and political rights to more and more of the population, the debate more recently has concerned how to get those who do have rights to exercise them or to fulfil their duty to participate in political life. Despite this revival of communitarian and civic republican ideals among intellectuals, apathy seems to be spreading also to local politics, leading to nostalgic calls for a return to community involvement and town meeting.« Cathy Bryan/Damian Tambini/Roza Tsagarousianou, »Electronic Democracy and the Civic Networking Movement in Context«, in: dies. (Hrsg.): Cyberdemocracy, Technology, Cities and Civic Networks, London/New York 1998, S. 1-17, hier S. 3f. U.a. Geert Lovink, »Digital City«, in: Karl Gerbel/Peter Weibel (Hrsg.), Welcome to the Wired World. Mythos Information, Berlin u.a. 1995, S. 180-185; Joost Flint, »Das Amsterdam-Freenet ›De Digitale Stad‹ (DDS)«, in: Maar/Rötzer, Virtual Cities, a.a.O., S. 57-69; Letty Francissen/Kees Brants, »Virtually Going Places: Square-Hopping in Amsterdam’s Digital City«, in: Cathy Bryan/Damian Tambini/Roza Tsagarousianou (Hrsg.): Cyberdemocracy, Technology, Cities and Civic Networks, S. 18-40; Reinder Rustema, The Rise and Fall of DDS. Evaluating the Ambitions of Amsterdam’s Digital City, Ph.D. Thesis, Universiteit van Amsterdam, November 2001: http://reinder. rustema.nl/dds/rise_and_fall_dds.html (25.04.2005).

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etablieren konnte.19 Zum anderen waren es die Stadt Amsterdam und die Kommunalpolitik, die sich für dieses Projekt einsetzten. De Balie und Hacktik verfolgten mit der DDS eine Popularisierung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Computer und Internet sollten für alle gesellschaftlichen Gruppen verfügbar sein.20 Als Politik- und Kulturzentrum war De Balie zudem an der politischen Bildung interessiert und erhoffte sich von den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien hierzu wesentliche Impulse. Für die Stadt Amsterdam und die Kommunalpolitik bot die DDS hingegen ein Experimentierfeld, die neuen Medien als zusätzliches Mittel der Öffentlichkeits- und Parteiarbeit zu nutzen, wozu eine anstehende Kommunalwahl dann auch gleich den entsprechenden Rahmen abgab. Um dem allgemeinen kommunalpolitischen Desinteresse entgegenzuwirken, hatte man früher schon andere Medien eingesetzt.21 Das lokale Rechnernetzwerk in Form der DDS kam hier lediglich hinzu. Über die anderen Medien hinaus ermöglichte es den Zugang zu den Datenbanken der Stadtverwaltung. Aufgrund seiner Bidirektionalität sollte es zudem einen direkten Kontakt zwischen den Bürgern und den Stadtoberen herstellen, was allerdings schon daran scheiterte, dass der Umgang mit der neuen Technik kaum gelernt war. Nichtsdestotrotz wurde auch in der DDS ein »democracy enhancing tool« gesehen.22 Das Experiment DDS war auf zehn Wochen angelegt, wurde aufgrund seiner binnen kurzem erreichten Popularität dann jedoch verlängert und erhielt während des ersten Jahres eine finanzielle Unterstützung durch die Stadt Amsterdam und das Ministerium für Wirtschaft und innere Angelegenheiten. Danach folgte die Selbstfinanzierung, über die sich die DDS einem zunehmenden wirtschaftlichen Zwang ausgesetzt sah. Dieser wurde durch das Internet und kommerzielle Internetprovider erhöht, insofern damit nicht nur das anfängliche Monopol der DDS als Netzzugang wegfiel, sondern 19 20 21

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Und später unter dem Namen ›Xs4all‹ auftrat. Xs4all wurde 1998 von der holländischen Telekom übernommen. Entsprechend wurden auch an öffentlichen Orten wie dem Amsterdamer Rathaus, den städtischen Bibliotheken und Museen sowie in den ersten Internet-Cafés Computerterminals eingerichtet, die einen freien Zugang zur DDS erlaubten. Rustema schreibt: »The voters apathy towards local politics, and the low number of Amsterdammers that vote, was already an issue for which a longer running policy was developed with the goal to decrease the distance between politics and citizens. Part of the policy were interviews with City councillors scheduled on the local cable-tv network (Stadsgesprekken), consultation through teletext (Stadsberaad) and debates in the neighbourhoods between local politicians and citizens.» Rustema, The Rise and Fall of DDS, a.a.O. Ebd.

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auch die Institutionen und Unternehmen, die sich bisher über die DDS präsentiert hatten, eigene Domänen und Websites einrichteten. Während ihrer Laufzeit hat sich die Gestalt der DDS mehrfach gewandelt. Die ersten Versionen waren noch textbasiert und wiesen sowohl von ihrem Gebäudeensemble als auch von ihrer Ordnungsstruktur her deutliche Parallelen zum Cleveland Freenet auf. Mit dem Anschluss der DDS an das World Wide Web entstand eine erste grafische Version, die dann im Juni 1995 durch die charakteristische Oberfläche der DDS mit ihren achteckigen Waben ersetzt wurde. Den Waben entsprachen einzelne Stadtviertel (eigentlich Plätze von niederländisch ›pleins‹) bzw. Themengebiete. Sie umfassten insgesamt acht Gebäude bzw. die durch die Gebäude repräsentierten Institutionen, öffentlichen Einrichtungen, Gewerbe- und Handeltreibenden.23 Quadratische Felder zwischen den Waben gaben den Bereich der Wohnviertel oder niederländisch ‘huizen’ ab, über den sich die Nutzer mit ihrer eigenen Homepage darstellen konnten. Eine Kontextualisierung des Selbst erfolgte dabei über die jeweils an das eigene Wohnviertel angrenzenden Stadtviertel, d.h. Themenund Sachgebiete. Die Formensprache der grafischen Oberfläche selbst blieb geometrisch abstrakt. Gleichwohl hatte sich mit ihr die digitale Stadt ein Stück weit vergegenständlicht, sie war anschaulicher und konkreter geworden. Die Entscheidung für eine abstrakt-geometrische Formensprache und gegen eine naturgetreue Abbildung Amsterdams lag nicht allein an dem damaligen Stand der Computergrafik und den technischen Grenzen, im Internet eine gesamte Stadt zu simulieren. Mit der Abstraktion sollte vielmehr die referentielle Ortsgebundenheit an Amsterdam bedingt aufgehoben und so die Eigenständigkeit und Eigenart der digitalen Stadt herausgestellt werden. Die DDS verstand sich als eine immaterielle, metaphorische und fiktive Stadt, die ihre Vorbilder in anderen fiktiven Städten suchte und in der Legible City24 von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld so-

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Insgesamt umfasste die DDS 35 solcher Stadtviertel oder ›pleins‹, die Portale zu anderen digitalen Städten einmal nicht mitgerechnet. Nach einer Analyse der DDS-Website durch Peter van den Besselaar u.a. waren diesen Stadtvierteln im Jahr 1998 260 einzelne Webseiten zugeordnet. Diese wiederum verteilten sich auf die folgenden thematischen Schwerpunkte: 33% Freizeit, 22% Politik, 13% Gewerbe, 12 % Medien, jeweils 7% Gesundheit und Erziehung, 6% Computer. Besselaar/ Melis/Beckers, Digital Cities, a.a.O., S. 24. 24 Zur Legible City vgl. Anne-Marie Duguet/Heinrich Klotz/Peter Weibel (Hrsg.), Jeffrey Shaw: a User’s Manual: from Expanded Cinema to Virtual Reality, Karlsruhe 1997.

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Abb. 3: De digitale Stad

wie in Disneyland fand.25 Bezeichnenderweise hat schon Robert Harbison Disneyland als den Idealstadtentwurf des 20. Jahrhunderts ausgewiesen, einen profitablen Vergnügungs- und Themenpark, in dem auf engstem Raum die unterschiedlichsten, phantastisch verfremdeten Welten inszeniert werden.26 Disneyland wurde auch zum Vorbild eines anderen Projektes, der Wissensstadt Xenia, bei der die Stadt vor allem als Ordnungsmodell fungierte.27 Erste Ansätze, die Stadt mit ihren Vierteln und Gebäuden für die räumliche Organisation von Wissen zu verwenden, finden sich 25

»Dit wil niet automatisch zeggen dat een Digitale Stad een exacte kopie moet worden van een echte stad. Integendeel, fantasiesteden zoals Disneyland en symbolische steden zoals ‘the Legible City’ van kunstenaar Jeffrey Shaw spreken veel meer tot de verbeelding.« (Das heißt nicht automatisch, dass eine digitale Stadt eine genaue Kopie einer echten Stadt werden muss. Im Gegenteil, Phantasiestädte wie Disneyland und symbolische Städte wie die ›Legible City‹ des Künstlers Jeffrey Shaw sprechen die Phantasie viel mehr an.) Rob van der Haar, De Stad als Interface, Amsterdam 1995: http://www.dds.nl/dds/archief/rvdh.html (09.11.2000). 26 Vgl. Robert Harbison, The Built, the Unbuilt and the Unbuildable. In Pursuit of Architectural Meaning, London 1991. 27 Helmut Volkmann, »Impressionen zum Leitbild ›Städte des Wissens als Stätten der Begegnung‹ mit ersten Berichten aus XENIA, der Wissensstadt am Wege zur Informationsgesellschaft«, in: Claudia von Grote/Ute Hoffmann/Jeanette Hofmann (Hrsg.): Kommunikationsnetze der Zukunft – Leitbilder und Praxis, Berlin 1994, S. 27-45.

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jedoch schon bei der DDS. Aus Projektbeschreibungen geht hervor, inwieweit die räumliche Lage der einzelnen Stadtviertel als bedeutungstragendes Ordnungskriterium verstanden worden ist. Das Zentrum erscheint hiernach als der Ort, an dem sich die Gegenstände befinden, die für eine große Zielgruppe relevant sind, lokale Bedeutung haben und einen hohen Bekanntheitsgrad aufweisen, während an der Peripherie das weniger Bekannte und Neue seinen Platz hat.28 Das geografische Bezugs- und Orientierungssystem der vier Himmelsrichtungen, das auf den virtuellen Raum der DDS übertragen worden ist, bekam in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Ordnungsfunktion. Hypothetisch wurde jeder Richtung ein Oberbegriff zugeteilt, nach dem sich die Dinge im Raum organisiert hätten. Der Norden stand bspw. für Kälte und der ihr assoziierten Sachlichkeit, so dass alle Gegenstände, die diesen Begriffen entsprachen, im Norden lagen. Je weniger sie aber von diesen Begriffen an sich hatten, desto südlicher sollten die Gegenstände zu finden sein.29 Worauf hier implizit Bezug genommen wird, ist nichts anderes als die ‘mythische Geografie’30, also die überkommene Kulturtechnik, den Natur-, Landschafts- und Stadtraum zu semantisieren und darüber zugleich zum materiellen Träger des kollektiven Gedächtnisses zu machen.31 Orte und Richtungen in diesen Räumen verkörpern Ereignisse und Erfahrungen, sind Sitz der Götter und von daher mit bestimmten Attributen ausgezeichnet, so dass räumliche und symbolische Ordnung eine unauflösbare Verbindung eingehen. Das gilt selbst für die säkularisierten und hoch technisierten Gesellschaften, in denen sich vielleicht weniger heilige Stätten finden, so doch Orte, die aufgrund ihrer sozialen, politischen, sicher auch ökonomischen Bedeutung von anderen Orten unterschieden sind. Jedenfalls hat sich schon die römische Mnemotechnik diese Kulturtechnik zu eigen gemacht, insofern sie auf einer Internalisierung des in den Raum eingetragenen Wissens beruht.32 Welche soziale und Gedächtnisfunktion einer derartigen Verräumlichung der Erfahrungen und 28 29 30

31 32

Haar, De Stad als Interface, a.a.O. Ebd. Vgl. hierzu Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Teil 2: Das mythische Denken, Berlin 1925; ders.: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, Hrsg. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois, Hamburg 1985, S. 93-111. Mit den räumlichen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses hat auch Maurice Halbwachs die soziale Gedächtnisfunktion von Orten und Räumen hervorgehoben. Vgl. Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950. Zur römischen Mnemotechnik vgl. Frances A. Yates, The Art of Memory, London/ Chicago 1966.

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Traditionen insgesamt zukommt, hat unter anderem Kevin Lynch verdeutlicht: »Aber das Image (als Umweltbild, Anm. K.W.) hat nicht nur seinen unmittelbaren Wert als Landkarte zur Ermittlung der Bewegungsrichtung; im weiteren Sinne kann es als Bezugssystem dienen, innerhalb dessen das Individuum agiert und an dem sich sein Wissen orientiert. In dieser Weise wirkt es wie ein Lehrgebäude sozialer Anschauungen: als ein System, in das Tatsachen und Möglichkeiten eingeordnet werden können. Die differenzierte Landschaft mag die Anwesenheit anderer Gruppen oder symbolischer Orte anzeigen. […] Die Landschaft hat auch eine soziale Funktion. Die mit Namen bezeichnete und allen vertraute Umwelt bietet den Stoff für gemeinsame Erinnerungen und Symbole, die die Gruppe verbinden und die Verständigung ermöglichen. Die Landschaft wirkt wie eine gewaltige Gedächtnisstätte für die Erhaltung von Tradition und Gruppenideal.«33

Ein tieferes Bewusstsein von diesen Zusammenhängen kann für die DDS allerdings nicht vorausgesetzt werden. Eher intuitiv wird auf eine mögliche Semantisierung des Raumes zum Zwecke der Wissensorganisation hingewiesen. Ebenso wenig tritt die Stadt als räumliches Ordnungsmodell hervor. Bei der DDS bleibt ihr Bild, wo es über die Referenz an Amsterdam hinausgeht, zum einen auf die Veranschaulichung von Funktionen des Computers und des Internets bezogen.34 Damit gehört die Stadt wie der Schreibtisch oder das Büro zu den (räumlichen) Metaphern, die seit Mitte der 1970er Jahren die Gestaltung des Computerinterface bestimmen.35 Zum anderen soll das Bild der Stadt eine maßgeblich durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien veränderte Form sozialen Zusammenlebens demonstrieren, deren utopisches Ziel in der Gleichheit, Gleichberechtigung und Teilhabe aller liegt. In den digitalen Städten als den Idealstadtentwürfen der Computermoderne vermengen sich soziale und Technikutopie. Dabei zeigte sich schon 33 34

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Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Braunschweig/Wiesbaden 21989, S. 145 f. »When DDS started the metaphor of a city was purposely chosen. The city metaphor is useful for presenting the multi-various possibilities of the Internet in a clearly understood way. It also offers an opportunity for designating and exploring the social-political aspects of the electronic superhighway as a public domain. The city is synonymous with freedom of expression and communication, the freedom to express one`s opinions, freedom of association, etc.« Zitiert nach The Digital City (Amsterdam), Amsterdam 1995: http://www.dds.nl/dds/info (09.11.1999). Vgl. hierzu John M. Carroll/John C. Thomas, »Metaphor and the Cognitive Representation of Computing Systems«, in: IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics, SMC-12, 2 (1982), S. 107-116; Kaisa Väänänen, Metaphor-based User Interfaces for Information Authoring, Visualization and Navigation in Multimedia Environments, Diss. TU Darmstadt 1995.

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früh, dass die DDS, wie alle anderen digitalen Städte auch, weder die Hoffnung auf eine direkte Demokratie noch auf eine egalitäre Netzgemeinschaft oder überhaupt eine solche Gesellschaft erfüllen konnte. Es ist bei dem Versprechen auf ein Neues Jerusalem und dessen Inszenierung in Gestalt der digitalen Städte geblieben.36

Information Cities: Inszenierungen idealer Wissensordnungen Während der Raum als Organisationsprinzip bei der DDS noch latent blieb, existierten bereits andere Projekte, die die Stadt als räumliches Ordnungsmodell nutzten. Zunächst ist hier die Aspen Movie Map der Architecture Machine Group aus den späten 1970er Jahren zu nennen.37 In die Geschichte der neuen Medien vor allem als strategische Simulation einer Stadt eingegangen38, sollte die Aspen Movie Map gleichermaßen dem »spatial data access«39 dienen. Dazu wurden den Gebäuden der filmisch aufgezeichneten Stadt Aspen Informationen zugeordnet. Diese konnten die Nutzer auf ihrer simulierten Fahrt durch Aspen, der so genannten »surrogate travel«, abrufen, indem sie auf die abgebildeten Gebäude zugriffen und darüber die gesuchten Informationen erhielten: »A second purpose of the Movie-Map is to provide a data access and management system. The data stored may take the form of text, still pictures, synthesized or recorded sound, dynamic animation and cinema. It is characterized by being accessed spatially, where particular organization corresponds to the physical layout of real space. In fact, this data is stored ‘behind’ the facades of buildings, or in locales, and is retrieved by ›driving‹ to it. Often the data relates exactly to the building, which houses it: behind the front of a restaurant may lie the menu, or a tour of the kitchen. Other times, it may relate to the entire space and be located in an expected edifice: the telephone directory may be contai-

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Zu dem hier vernachlässigten religiösen Aspekt der digitalen Städte vgl. Hartmut Böhme, »Das Neue Jerusalem. Von der Vernetzung zur Virtualisierung der Städte«, in: Manuel Schneider/Karlheinz A. Geißler (Hrsg.): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien, Stuttgart 1999, S. 309-323. 37 Zur Aspen Movie Map vgl. ausführlicher Andrew Lippman, »Movie-Maps: An Application of the Optical Videodisc to Computer Graphics«, in: Computer Graphics, 14/3(1980), S. 32-42; Robert Mohl, Cognitive Space in the Interactive Movie Map: an Investigation of Spatial Learning in Virtual Environments, Ph.D. Thesis, Massachusetts Institute of Technology 1981. 38 Hans-Peter Schwarz, Medien-Kunst-Geschichte, Hrsg. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, München/New York 1997. 39 Lippman, »Movie-Maps«, a.a.O.

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Abb. 4: Aspen Movie Map

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Abb. 5: Spatial Data Management System

ned in the telephone exchange; the town’s vital statistics are stored, naturally enough, at town hall.«40

Wie schon beim Cleveland Freenet und der DDS wurden den einzelnen Gebäuden die Informationen zugeordnet, die ihrer Funktion und Bedeutung entsprachen: dem Rathaus Informationen zur Verwaltung, dem Fernsprechamt das Telefonbuch usf. Ähnliches lässt sich für die historischen Beispiele räumlicher Wissensorganisation feststellen, die sich die Stadt als Ordnungsmodell zunutze gemacht haben. Lage, Funktion und Bedeutung von Gebäuden sind dort bereits für die Klassifikation und Ordnung des Wissens eingesetzt worden.41 Als räumliches Datenverwaltungssystem hatte die Aspen Movie Map im Spatial Data Management System, ebenfalls von der Architecture Machine Group projektiert, einen unmittelbaren Vorläufer.42 In Abgrenzung zu den gängigen Storage-and-Retrieval-Techniken, bei denen es zu einem Merkmalsvergleich zwischen Speichereintrag und Suchbegriff kommt, wurde mit dem Spatial Data Management System eine räumliche Anordnung und bildhafte Darstellung von Datenbankinhalten und Computerfunktionen auf der Bildschirmfläche verfolgt. Dies sollte die Datenablage und den Datenzugriff 40 41 42

Ebd., S. 33. Vgl. hierzu im Überblick Kirsten Wagner: »Wissensräume in der Computermoderne und ihre historischen Vorbilder«, in: Sprache und Literatur, 35/94(2004), S. 29-49. Beide Projekte der Architecture Machine Group gingen aus dem von Nicholas Negroponte und Richard A. Bolt 1976 verfassten Programm »Augmentation of Human Resources in Command and Control Through Multiple Media Man-Machine Interaction« hervor, das dann von der DARPA finanziell gefördert wurde. Das Programm hatte mehrere Zielsetzungen. Unter anderem sollte ein Interface entwickelt werden, das weit über die damaligen Konsolen, Tastaturen und kleinen Monitore hinausging und sich dem Nutzer intuitiv erschloss. Daneben wollte man den Raum für die Organisation und die Lokalisation von Daten nutzen, um so Datenablage und Datenzugriff zu vereinfachen.

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erleichtern, zumal die Architecture Machine Group mit der Kognitionspsychologie von einer besonderen räumlichen und bildhaften Disposition des menschlichen Denkens und Gedächtnisses ausging.43 In diesem Kontext auch setzte sich die Architecture Machine Group mit den kognitiven Karten und der römischen Mnemotechnik auseinander.44 Von beiden Seiten her wurde die lern- und gedächtnispsychologische wie kulturhistorische Bedeutung des Raumes als Organisationsprinzip gestützt. Im Fall des Spatial Data Management System sah dessen Verwendung so aus, dass die Datenbankeinträge auf dem Bildschirm nicht nur einen bestimmten Ort einnahmen, der ihrer Vergegenwärtigung diente, sondern Einträge ähnlichen Inhaltes auch räumlich beieinander lagen. Das Verfahren, semantische Nähe durch räumliche Nähe auszudrücken, verweist auf Projekte wie das SemNet aus dem Bereich der Informationsvisualisierung.45 Wurde das Spatial Data Management System vor allem im Bild der Landschaft (»informational landscape«46) gedacht, einer weiteren prominenten räumlichen Metapher, dann imaginierte man gleichwohl schon eine Stadt der Informationen47, wie sie mit der Aspen Movie Map in direktem Anschluss dann auch entstand. Die Projekte der Architecture Machine Group haben sich in mehrfacher Hinsicht als anschlussfähig erwiesen. In den Zusammenhängen von Virtueller Realität, Interface-Design und computergestützter Datenverwaltung sind ihre Ansätze aufgegriffen worden.48 Zum direkten Vorbild wurde die Aspen Movie Map für die City of News49. Mitte der 1990er Jahre zunächst unter dem Namen ›NetSpace‹ am Massachusetts Institute of Technology konzipiert, ist dieses Projekt 43

44 45

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49

Die aktuellen Gedächtnistheorien aus der Kognitionspsychologie vermittelte dabei Richard A. Bolt, der 1976 über das Gedächtnis und dessen Verarbeitungsmechanismen promoviert hatte und kurz darauf zur Architecture Machine Group stieß. Richard A. Bolt, Spatial Data Management System. Darpa Interim Report, Hrsg. Architecture Machine Group, Massachusetts Institute of Technology 1979. Kim M. Fairchild/Steven E. Poltrock/George W. Furnas, »SemNet: Three-Dimensional Graphic Representations of Large Knowledge Bases«, in: Raymonde Guindon (Hrsg.), Cognitive Science and its Applications for Human-Computer Interaction, Hillsdale/NJ 1988, S. 201-233. Bolt, Spatial Data-Management, a.a.O., S. 14. Nicholas Negroponte, Being digital, New York 1995. Unter anderem H.-J. Brückner/P. Fuchs/A. Schmitt/D. Schütt/C. Sczech: »Spatial Data Management – A New Perspective for Database Interaction«, in: Helmut Schauer/Michael J. Tauber, Psychologie der Computernutzung, Wien/München 1984, S. 89-100; Scott S. Fisher, »Interface Environments«, in: Brenda Laurel/Joy S. Mountford (Hrsg.): The Art of Human-Computer Interface Design, Reading/Mass. 1990, S. 423-438. Zur City of News vgl. Flavia Sparacino/Glorianna Davenport/Alex Pentland, »City of News«, in: KOS, 179-180(2000).

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bis in die letzten Jahre hinein weiterentwickelt worden. Die City of News stellt einen dreidimensionalen Webbrowser in Gestalt einer Stadt dar. Gebäude und Stadtviertel repräsentieren nicht mehr Datenbankeinträge, sondern jetzt Websites: »City of News is a dynamically growing urban landscape of information. It is an immersive, interactive, web browser that takes advantage of people’s strength remembering the surrounding three-dimensional spatial layout. Starting from a chosen ‘homepage’, where home is finally associated with a physical space, our browser fetches and displays URLs so as to form skyscrapers and alleys of text and images through which the user can ›fly‹.«50

Bei den Gebäuden der Stadt handelt es sich um Wolkenkratzer (»skyscraper«)51, auf deren Fassaden die Inhalte einzelner Webseiten, also Texte, Grafiken, Bilder, angezeigt werden. Damit verlängert die City of News den architektonischen Trend, Gebäudefassaden in Projektionsflächen und Displays aufzulösen, in den virtuellen Raum hinein. Die Nutzer dieser Stadt der Neuigkeiten hingegen bewegen sich durch verräumlichte Texte und Bilder. Der semiologische Topos von der ›Stadt als Text‹ ist hier umgesetzt.52 Wie gehabt, sind Websites ähnlichen Inhalts zu Stadtvierteln zusammengefasst, etwa dem »science district«, dem »book district« oder dem »shopping district«. Über andere Projekte hinaus verhält sich die City of News dynamisch. Jede Nutzung hinterlässt Spuren und verändert die Stadt. Mit dem Aufrufen einer neuen Website wird ein Gebäude generiert, dessen Platz innerhalb der Stadt sich nach den Themen- und Sachgebieten der Website richtet. Die Website von Ebay bspw. bekäme ihr Hochhaus im Einkaufsviertel der Stadt, und je nach Frequenz, mit der die Seite aufgerufen wird, ändert sich die Geschosshöhe des Gebäudes. Wenn ich von der Bewegung durch die City of News gesprochen habe, ist damit lediglich der Bewegungseindruck gemeint, der den Nutzern durch die Perspektiven und Fahrten einer ›virtuellen Kamera‹ entsteht.53 Zeigte sich schon bei der Aspen Movie Map, dass der Grad der Immersion oder die Empfindung, im Bildraum präsent zu sein, mit der Steuerung dieser virtuellen Kamera durch 50 51 52 53

Ebd. Die Stadtbilder, an die sich die City of News anlehnt, entstammen solchen Filmen wie Blade Runner, Brazil und The Fifth Sense. Das sind genau die Stadtbilder, auf die sich auch die digitalen Städte der Netzgemeinschaften bezogen haben. Was im Übrigen schon für die Legible City von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld gilt. Zum Topos der ›Stadt als Text‹ vgl. Roland Barthes, L’aventure sémiologique, Paris 1985, sowie Michel Butor, Die Stadt als Text, Graz 1992. Das Prinzip der virtuellen Kamera wurde im Zusammenhang mit den ersten computergestützten Flugsimulationen entwickelt.

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Abb. 6: City of News

die Nutzer steigt, dann ist dies bei einer Variante der City of News berücksichtigt worden. Mit Sensoren aufgezeichnete Armbewegungen und Zeigegesten lenken dort die virtuelle Kamera. Das entsprechende »gesture browsing through the Information City«54 weist auf die Anfänge räumlicher Datenverwaltungssysteme zurück, als die Architecture Machine Group bereits an Informationslandschaften arbeitete, die sich durch Gestik und Sprache steuern ließen.55 An Referenzen für den Raum als Organisationsprinzip tauchen hier erneut die römische Mnemotechnik und die kognitiven Karten auf. Sie liefern nicht mehr nur den Nachweis für eine besondere räumliche und bildhafte Disposition des menschlichen Denkens und Gedächtnisses, sondern werden von der City of News modellhaft nachgeahmt, die so auch als ›Gedächtnispalast‹, ›Gedächtnistheater‹ und ›Gedächtnisstadt‹ auftritt.56 In den Entwurf der City of News sind darüber hinaus die Gestaltelemente eingegangen, die nach Kevin Lynch einen urbanen Raum bzw. dessen Vorstellungsbild lesbar und einprägsam machen: Wege (paths), Grenzlinien und 54 55 56

Flavia Sparacino, Narrative Spaces: Bridging Architecture and Entertainment via Interactive Technology, Paper presented at the Sixth International Conference on Generative Art, Politecnico di Milano, 10.-13.12.2002. Richard A. Bolt, »›Put-That-There‹: Voice and Gesture at the Graphic Interface«, in: Computer Graphics, 14/3(1980), S. 262-270. Zur Rezeption des frühneuzeitlichen Gedächtnistheaters in der Computermoderne vgl. das Forschungsprojekt ›Computer als Gedächtnistheater‹ des Sonderforschungsbereiches 447 ›Kulturen des Performativen‹: http://www.sfb-performativ. de/seiten/archiv/b7_2004.html (25.04.2005).

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Ränder (edges), Stadtteile (districts), Knotenpunkte (nodes) sowie Landmarken und Wahrzeichen (landmarks). In klar voneinander abgegrenzte Viertel eingeteilt, fungieren als Landmarken im urbanen Raum Skulpturen und große Plakattafeln mit ins Auge springenden Bildern (»salient images«57), offensichtlich den ‘imagines agentes’ der römischen Mnemotechnik nachempfunden. Neben ihrer Orientierungsfunktion heben die Landmarken damit gleichzeitig einzelne Orte in der Stadt hervor und repräsentieren die dort abgelegten Gegenstände oder eben Websites. Die Information City, von Andreas Dieberger Anfang der 1990er Jahre zur Verwaltung von HypertextDokumenten entworfen, geht in ihrer Anlage ebenfalls wesentlich auf Lynchs Gestaltelemente zurück.58 Insgesamt stellt die räumliche Organisation von Datenbankeinträgen, Websites oder Hypertext-Dokumenten einen Reflex auf die computergestützte Datenverwaltung dar. Mit der Stadt als einem möglichen Ordnungsmodell wird verräumlicht und veranschaulicht, was sich dem einfachen Zugriff entzieht. Im Zusammenhang mit den Information Cities ist wiederholt auf die Unzugänglichkeit der neuen Speichermedien, die Masse und fehlende Kontextualität der Daten sowie unzureichende Techniken von Datenablage und Datenzugriff hingewiesen worden. Das Spatial Data Management System versteht sich als Alternative zu den abstrakt-symbolischen Storage-and-Retrieval-Techniken, welche einen exakten Suchbegriff und Kenntnisse über Inhalt und Aufbau der Datenbanken voraussetzen.59 Die City of News und die Information City von Andreas Dieberger reagieren auf das Problem des Findens und Wiederfindens von Informationen in vernetzten Systemen wie dem World Wide Web.60 Die moderne Verwaltung von Wissen, durch eine Aufgabe räumlicher Klassifikations- und Ordnungssysteme und zunehmend mechanische wie quantitiative Verfahren gekennzeichnet,61 hat zwar die immer 57 58

Sparacino/Davenport/Pentland, City of News, a.a.O. Andreas Dieberger, Navigation in Textual Virtual Environments Using a City Metaphor, Diss. TU Wien 1994. Zur weiteren Rezeption von Lynchs Gestaltelementen vgl. auch Molly E. Sorrows/Stephen C. Hirtle, »The Nature of Landmarks for Real and Electronic Spaces«, in: Christian Freksa/David M. Mark, Spatial Information Theory. Cognitive and Computational Foundations of Geographic Information Science, Berlin/New York 1990, S. 37-50. 59 Christopher F. Herot, »Spatial Management of Data«, in: ACM Transactions on Database Systems, 5/4(1980), S. 493-514. 60 Andreas Dieberger/Andrew U. Frank, »A City Metaphor to Support Navigation in Complex Information Spaces«, in: Journal of Visual Languages and Computing, 9(1998), S. 597-622. 61 Vgl. hierzu u.a. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, München 1976; Uwe Jochum, »Die Bibliothek als locus communis«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 72(1998), S. 14-30.

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schnellere Verarbeitung und Akkumulation von immer mehr Daten ermöglicht, doch stellt sich mit ihr das alte Problem, wie das angesammelte Wissen überhaupt noch bewältigt werden kann mit neuer Dringlichkeit. In dieser Hinsicht stellen die Information Cities den durchaus pragmatischen Versuch dar, mit der Wiedereinführung einer räumlichen Organisation und bildhaften Darstellung von Wissen dessen Verfügbarkeit sicherzustellen. Zumindest auf Ebene der Bildschirmfläche als dem Interface, über das auf den mechanischen Speicher oder das Internet zugegriffen wird, soll eine Sinn stiftende Ordnung entstehen. In zweifacher Hinsicht bedeuten die Information Cities eine Inszenierung von Wissen. Zunächst einmal kommt es mit ihnen zu einer Aufführung der Wissensgegenstände selbst. Bildhaft dargestellt und eingekleidet in die Bilder der Stadt, der Landschaft o.Ä., die Metapher und Ordnungsmodell in einem sind, wird das Wissen mit den Information Cities wie auf Bühnen zur Schau gestellt.62 Überdies inszenieren die Information Cities eine Utopie des Wissens. Wenn die digitalen Städte und urban definierten Netzgemeinschaften auf ihre Weise die soziale Utopie einer egalitären Gesellschaft aufgeführt haben, indem sie die Images zu dieser Utopie lieferten, dann bildet sich in den Information Cities die enzyklopädische Utopie einer Versammlung und Ordnung des Weltwissens ab. Besonders klar ist diese Utopie für die Wissensstadt Xenia formuliert worden, in deren Projektbeschreibungen es heißt, dass »eine Stadt errichtet werden soll, in der alles Wissen der Welt versammelt ist und in geeigneter Weise angeboten wird«63. Über den pragmatischen Versuch einer Bewältigung des Wissens hinaus versprechen die Information Cities damit die Beherrschung der in biblischer Rhetorik ausgerufenen Flut von Informationen (»a tsunami of data that is crashing onto the beaches of the civilized world«64) oder des heutigen Babylons der Information (»today’s Babylon of information«65). Als Mittel dazu erscheint der Raum, hier in Form des räumlichen Ordnungsmodells Stadt. Als Neues Jerusalem bringt es Klarheit und Licht in das babylonische Tohuwabohu, das sich in der Computermoderne als ein 62

Zur ludisch-theatralen Dimension der computergestützten Datenverwaltung vgl. Peter Matussek, »Performing Memory. Kriterien für einen Vergleich analoger und digitaler Gedächtnistheater«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 10/1(2001), S. 291-320. 63 Volkmann, Impressionen, a.a.O., S. 27. 64 Richard S. Wurman, Information Architects, Zürich 1996, S. 15. 65 Helmut Volkmann, »Cities of Knowledge – Metropolises of the Information Society«, in: Klaus Kornwachs/Konstantin Jacoby (Hrsg.): Information. New Questions to a Multidisciplinary Concept, München 1996, S. 317-330, hier S. 317

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Chaos der Information darstellt.66 Damit spielen in die Information Cities – wie schon in die digitalen Städte – religiöse Aspekte mit hinein. Anders gesagt, beziehen sich noch die Ideal- und Wissensstädte der Computermoderne auf die beiden Archetypen von Stadt und ihre jeweiligen Konnotationen: Babylon und Jerusalem. Die digitalen Städte und Information Cities hatten ihre Hochzeit in den 1990er Jahren. Viele dieser Projekte sind inzwischen eingestellt oder auf einfache Nutzanwendungen reduziert. Was geblieben ist, sind die Bilder dieser Städte, wobei auch sie aufgrund der Kurzlebigkeit des Internets zusehends aus demselben verschwinden und, so sie nicht anderweitig dokumentiert sind, unwiederbringlich verloren gehen. Der Raum als Organisationsprinzip erscheint jedoch nach wie vor aktuell. Das zeigen die abschließend vorgestellten Beispiele aus dem Bereich der Informationsvisualisierung.

Jenseits der Stadt – weitere Datenräume Die Ordnung von Wissen über das Modell der Stadt bezeichnet nur eines unter den verschiedenen Verfahren räumlicher Wissensorganisation. Gegenüber abstrakteren Ordnungsmodellen, wie bspw. dem topologischen Netz, hat die Stadt den Vorteil, dass sich Lage, Funktion und Bedeutung der Gebäude zusätzlich zur Klassifikation und Organisation des Wissens heranziehen lassen. Mit ihren Ebenen Stadt(grundriss), Stadtviertel, Gebäude, Innenraum gibt sie darüber hinaus eine hierarchische Gliederung vor, die sich ebenfalls für die Wissensorganisation anbietet und mehr oder weniger von allen Information Cities genutzt worden ist. Diese Eigenschaften zeichnen die Stadt auch vor anderen räumlichen Bildgebern aus, etwa der Landschaft, die keine vergleichbare Struktur und Hierarchie vorgibt. Die Verwendung urbaner und architektonischer Metaphern und Ordnungsmodelle ist wie das zugrunde liegende Prinzip der Lokalisation von Wissensgegenständen im Raum aus der Geschichte räumlicher Wissensorganisation hinlänglich bekannt.67 Das 66 Die religiös konnotierten Metaphern von Licht auf der einen, Dunkelheit und Chaos auf der anderen Seite finden sich etwa bei James Leftwich, The Architecture of Cyberspace, Paper presented at the Eight International Symposium of Electronic Arts, The Art Institute of Chicago, September 1997: http://www.well.com/user/ jleft/orbit/vizrev/slides/3.html (25.04.2005). 67 Angefangen von der loci-Methode der römischen Mnemotechnik bis hin zur Città del Sole von Tommaso Campanella oder der Christianopolis von Johann Valentin Andreae.

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Verfahren, semantische Nähe durch räumliche Nähe auszudrücken, stellt ebenfalls eine altgediente Praxis dar. Im Zusammenhang mit der computergestützten Datenverwaltung findet es sich erstmals bei dem Projekt Environ68, Ende der 1960er Jahre im Augmented Research Center von Douglas Engelbart an der Stanford University entstanden, und dem Spatial Data Management System der Architecture Machine Group. Hinzu kommt die Verräumlichung gesamter Datenbestände in Form dreidimensionaler Darstellungen. Automatisch generierte oder von den Nutzern gewählte Ansichten lassen je nach Perspektive bestimmte Daten in den Vordergrund, andere in den Hintergrund treten, so dass immer neue Facetten des Datenbestandes sichtbar werden. Die entsprechende Tiefenstaffelung der Gegenstände im Bildraum ist dabei insofern Ordnungskriterium, als den Dingen im Vordergrund eine höhere Bedeutung zukommt, während mit zunehmender Entfernung vom Betrachterstandpunkt mit der Größe auch die Relevanz der Dinge abnimmt. Ein weiteres, aus den Projektbeschreibungen der DDS geläufiges Verfahren hat beim Semantic Space69 Verwendung gefunden. Dort sind die Achsen eines dreidimensionalen Raumes mit Ordnungsbegriffen belegt worden, über die sich die räumliche Lage der Wissensgegenstände ergibt. Viele dieser Verfahren sind in der Informationsvisualisierung aufgetaucht. Als eine Hybride aus Scientific Visualization und computergestützer Datenverwaltung geht die Informationsvisualisierung wesentlich auf Arbeiten aus den Bell Laboratories und dem Palo Alto Research Center des Xerox Konzerns zurück. Der Einsatz von Such- und Klassifikationsprogrammen, mit denen Datenbestände nach Begriffen oder Merkmalen gefiltert und organisiert werden, und die grafische Darstellung der so aufbereiteten Datenbestände bestimmen die Informationsvisualisierung. Mit einer leistungsfähigen Computergrafik konnten sich seit den späten 1980er Jahren hierbei dreidimensionale Grafiken durchsetzen. Ging von den dreidimensionalen Bildräumen der Computergrafik von Beginn an ein Denken in ›Datenräumen‹ aus70, dann hat sich dieses Konzept auch für die Informationsvisualisierung als grundlegend erwiesen. Das verdeutlicht bereits eines der frühen Projekte mit dem sinnfälligen

68 Zum Projekt Environ von David Evans vgl. David J. Hall, »Man-Machine Projects at SRI«, in: International Man-Machine Studies, 2(1970), S. 363-394. 69 Alan Wexelblat, »Giving Meaning to Place«, in: Michael Benedikt (Hrsg.), Cyberspace. First Steps, Cambridge/Mass. 1991, S. 255-272. 70 Vgl. hierzu Ivan E. Sutherland, »The Ultimate Display«, in: Proceedings of the IFIP Congress, Amsterdam 1965, S. 506-509.

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Namen Rooms71. Noch mit einer zweidimensionalen Grafik arbeitend, jedoch schon als ein System von dreidimensionalen Räumen gedacht, in denen verschiedene Computerfunktionen ausgeführt und Datenbestände verwaltet werden sollten, entwickelten sich aus dem Projekt Rooms die späteren Information Visualizer72. Bei ihnen handelt es sich um dreidimensionale Bildräume, mal als Landschaft oder Gebäude angelegt, mal als neutrale Bühne für die Aufführung verräumlichter Baum- und Netzstrukturen. Doch die Informationsvisualisierung reagiert auf die sachlichen Zwänge der modernen Datenverwaltung und insbesondere den Informationszuwachs durch die Vernetzung von Datenbanken. Das Problem stellt sich ihr nicht mehr nur auf der Ebene abstrakt-symbolischer Storage-and-Retrieval-Techniken, die sich für den Umgang mit größeren Datenbeständen als unzureichend erweisen, sondern auch auf der Ebene des Computerinterface. Denn hier besteht, so Austin Henderson und Stuart Card, das »small screen problem«73. Auf der begrenzten Bildschirmfläche kann immer nur ein kleiner und isolierter Teil der Datenbestände angezeigt werden, was zu einer weiteren Dekontextualisierung des Wissens führt. Hier erlaubt die dreidimensionale Computergrafik, zusammen mit einer simulierten Bewegung in den Bildraum hinein, zumindest schon eine Erweiterung der Darstellungsfläche in die Tiefe: »The effect of 3D/Rooms is to make the screen space for immediate storage of information effectively larger […]. The effect of rapid zooming, animation, and 3D is to make the screen space effectively denser (in the sense that the same amount of screen can hold more objects, which the user can zoom into or animate into view in a short time). By manipulating objects or moving in space, the user can disambiguate images, reveal hidden information, or zoom in for detail—rapidly accessing more information. Both the techniques for making the Immediate Storage space virtually larger and the techniques for making the space virtually denser should make its capacity larger, […].«74 71

D. Austin Henderson/Stuart K. Card: Rooms: »The Use of Multiple Virtual Workspaces to Reduce Space Contention in a Window-Based Graphical User Interface«, in: ACM Transactions on Graphics, 5/3(1986), S. 211-243. 72 Stuart K. Card/Jock D. Mackinlay/George G. Robertson, »The Information Visualizer: An Information Workspace«, in: ACM Conference on Human Factors in Computing Systems, New York 1991, S. 181-188; George G. Robertson/Stuart K. Card/Jock D. Mackinlay: »Information Visualization Using 3-D Interactive Animation«, in: Communications of the ACM, 35/4(1993), S. 57-71; Ramana Rao: »Der ›Hyperbolic Tree‹ und seine Verwandten – 3-D-Interfaces erleichtern den Umgang mit großen Datenmengen«, in: Christa Maar/Hans Ulrich Obrist/Ernst Pöppel (Hrsg.): Weltwissen – Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln 2000, S. 253-261. 73 Henderson/Card, Rooms, a.a.O., S. 217. 74 Robertson/Card/Mackinlay, »Information Visualization…«, a.a.O., S. 65.

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Abb. 7: Information Visualizer

Um den Kontext anzuzeigen, innerhalb dessen ein Datenbankeintrag steht und über den er Bedeutung erhält, sind zusätzliche Visualisierungsstrategien entwickelt worden. Sie alle laufen darauf hinaus, parallel zum einzelnen Eintrag den gesamten Datenbestand oder wenigstens Teile davon darzustellen, in der Terminologie der Informationsvisualierung das »Fokus plus Kontext«-Konzept, das Detail- und Gesamtansicht integriert: »Das Interface zeigt im Überblick viel Information über einen eng definierten Bereich (Fokus), der seinerseits wieder mit Überblicksstrukturen verbunden ist, deren Daten mit der momentan fokussierten Information im inhaltlichen Zusammenhang stehen.«75 Hierzu hat man perspektivische Verfahren herangezogen, zunächst die Fischaugenperspektive76 und das ihr ähnliche ›document lens‹-Verfahren77. Der direkt im Bildfokus liegende Datenbankeintrag (Detail) wird dabei maßstabsgerecht wiedergegeben, während alle anderen Einträge (Gesamt) mit abgebildet werden, jedoch mit zunehmender Entfernung vom Fokus immer kleiner und verzerrter erscheinen. Derselbe Effekt tritt bei hyperbolischen Räumen ein.78 Hierher gehört schließlich auch einer 75 76 77 78

Rao, »Der ›Hyperbolic Tree‹…«, a.a.O., S. 255. George W. Furnas, The Fisheye View: a New Look at Structured Files, Technical Memorandum Bell Laboratories #82-11221-22, Murray Hill/NJ 1982. George G. Robertson/Jock D. Mackinlay: »The Document Lens«, in: Proceedings of the Sixth Annual ACM Symposium on User Interface Software and Technology, New York 1993, S. 101-108. Das Beispiel eines entsprechenden Hyperbolic Tree gibt Rao, »Der ›Hyperbolic Tree‹…«, a.a.O.

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der aktuellen Ansätze aus der Informationsvisualisierung, und zwar der ›Multiscale Space‹ mit den beiden Darstellungs- und Operationsebenen vergrößertes Detail und verkleinerter Gesamtbestand. Bildlich gesprochen: »In mVEs (multiscale virtual environments, Anm. K.W.) a user can choose to work at different interaction scales: being a giant to see the big picture of a structure and manipulate large objects, or being an ant to examine the details of a particular part of the structure and work on small objects.«79 Angesichts von Billionen von Webseiten, Tausenden von Dokumenten, die ein Personal Computer verwaltet, oder den Zehntausenden von Gebäuden einer virtuellen Stadt erscheint der makroskopische Überblick, wie Kontext bietende Blick ebenso unverzichtbar wie der mikroskopische Blick, dem sich die Einzelheiten enthüllen.80 Das Festhalten am Raum als Organisationsprinzip und an entsprechenden Visualisierungs- und Ordnungsstrategien ist der gegenwärtigen Krise des Wissens und seiner Verwaltung geschuldet. Deren Ursachen liegen nicht nur in den sachlichen Zwängen der modernen Datenverarbeitung und -speicherung, sondern auch in der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und dem Wegfall universeller Klassifikations- wie Ordnungssysteme. Was sich über die Datenräume in diesem Zusammenhang kundtut und sich in den Images der Informationsvisualisierung gleichermaßen verkörpert, ist der Wunsch nach einer Sinn stiftenden Ordnung, nach dem Erkennen von Strukturen und eines ihnen zugrunde liegenden Planes, nach der Kontextualisierung eines partikular gewordenen Wissens. Allerdings wird auch der Raum als Organisationsprinzip diesen Wunsch nicht erfüllen können. Die totale Beherrschung des Wissens, bild-rhetorisch überzeugend inszeniert, bleibt Fiktion wie Utopie.

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Xiaolong L. Zhang/George W. Furnas, »Multiscale Space and Place«, in: Phil Turner/ Elisabeth Davenport (Hrsg.): Spaces, Spatiality and Technology, London u.a. 2005, S. 237-256. 80 »The information world has grown and continues to grow rapidly. Billions of web pages are indexed and distributed on the Internet; the hierarchy of a file system on a personal computer may hold tens of thousands of documents. […] A virtual city can hold tens of thousands of buildings. Managing such huge information structures […] could be a daunting task. Given our limited cognition resources, we cannot observe all levels of a large structure simultaneously, and we have to focus our attentions on some parts of the structure in interactions. Either local content or global context information has to be hidden. Incomplete information may cause problems in the understanding and management of information structures. Obtaining both detailed contents and sufficient contexts could be a challenge.« Ebd., S. 238.

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Environments. Mediale Inszenierungen in und zum Werk Anna Oppermanns Carmen Wedemeyer

»Die einzelnen Produkte meiner Arbeit nenne ich Ensemble. Es sind räumliche Arrangements aus Zeichnungen, Objekten, Fundstücken, Fotos, Fotoleinwänden, Diaprojektionen und Beiträgen anderer, zumeist in Form von Zitaten aus unterschiedlichen Disziplinen. Jedem Ensemble ist ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Pflanze zugeordnet. Der Entstehungsprozess erstreckt sich über mehrere Jahre, ist im Prinzip nie abgeschlossen. Fotos dokumentieren die diversen Zustände.«1

Die Kunst der international anerkannten Biennale - und documenta - Teilnehmerin Anna Oppermann hat einzigartige zeitgeschichtliche Dokumente in Form raumgreifender Arrangements hervorgebracht, die sie selbst »Ensembles« nannte. Der künstlerische Nachlass Oppermanns umfasst mehr als 60 Ensembles2, von denen z.Zt. aber nur noch vier öffentlich zugänglich sind, alle in Hamburg3. Die künstlerische Methode, mit der die Ensembles entstanden, kann man verkürzt mit dem Begriff des Wachsens durch Abbilden 1

2 3

http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/26.htm Verzeichnis aller Texte und Ensembles Anna Oppermanns, sowie Bio- und Bibliographie, unter http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann von C. Wedemeyer 1998. Im Text wird deshalb jeweils auf die dortige URL verwiesen. Verzeichnis aller Ensembles mit Abbildungen, Ausstellungsdaten, Hinweisen auf Bezugsensembles, Texten und Stichworten unter http://www.uni-lueneburg.de/ Anna_Oppermann/ANNA_O/AO_D/EnsListe.htm In der Hamburger Kunsthalle baute Anna Oppermann kurz vor ihrem Tod die Ensembles Öl auf Leinwand und MKÜVO (›Mach kleine, überschaubare, verkäufliche Objekte!‹), letzteres mit der zu diesem Ensemble gehörigen Fensterecke, auf. Das erstmals auf der documenta 8 in Kassel öffentlich präsentierte Ensemble Pathosgeste – MGSMO (›Mach grosze, schlagkräftige, machtdemonstrierende Objekte!‹) wurde von ihr 1991 in einem Vorraum des Altonaer Rathauses installiert.

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und Erweitern umschreiben. Ausgangspunkt für diesen, sich in der Regel über Jahre hinziehenden und im Grunde erst mit dem Tod der Künstlerin endenden Wachstumsprozess war dabei häufig ein alltäglicher Gegenstand, dem sie sich durch wiederholtes Abzeichnen, ganz in der Tradition des klassischen akademischen Naturstudiums, näherte. Gezeichnetes Abbild und Ausgangsobjekt wurden, nebeneinander arrangiert, erneut zu einem Ausgangsobjekt für weitere künstlerische Auseinandersetzung, die unterschiedliche Formen annehmen konnte. Skizzen, ebenso wie flüchtig notierte Gedanken und Einsichten dokumentieren die beim Arbeitsprozess auftretenden Assoziationen Durch Ausschnittvergrößerungen und Detailabbildungen hob Anna Oppermann bestimmte thematische Aspekte und Situationen, im Sinne einer Bedeutungsperspektive, hervor, während sie dagegen anderes im wortwörtlichen Sinne in den Hintergrund treten ließ. Immer wieder neu arrangiert, den räumlichen Gegebenheiten des jeweiligen Ausstellungsraums angepasst, thematische Schwerpunkte hinzufügend und verschiebend, die bisherige Arbeit ständig reflektierend, wuchsen die einzelnen Ensembles auf mehrere Hundert bis z.T. weit über Tausend Einzelelmente an. Dem Betrachter im Museum wuchern diese überdimensionierten Zettelkästen aus einer Ecke des Ausstellungsraums in überwältigender Fülle entgegen. Vor- und zurückspringende Wände bedecken nahtlos gehängte farbige Fotoleinwände und Schrifttafeln, weitere liegen platziert auf niedrigen Podesten davor. Die Bodenzone wird aber vor allem bestimmt durch eine Flut von Kleinteilen, die sich von den Podesten aus in den gehängten Bildern fortzusetzen scheint. Die Grenze zwischen Abbildung – die Leinwände bilden frühere Aufbausituationen des Ensembles ab – und Original verschwimmt. Neben Fotos und Zeichnungen findet man hier Zeitungsausrisse, architektonische Elemente, plastische Objekte, Texte in Form handschriftlicher Notizen oder Fotokopien sowie Fundstücke unterschiedlicher Art. Eine detaillierte Rezeption dieser auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Bodenzone ist in der Regel aufgrund der Entfernung und Platzierung der einzelnen Objekte nur eingeschränkt möglich. Sie lassen sich gezwungenermaßen nur als eine ästhetische Einheit wahrnehmen. Daher entzieht sich beispielsweise ein großer Teil der zum Thema des Ensembles von der Künstlerin gesammelten Texte der Rezeption durch den Betrachter. 130

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Eines der augenfälligsten Merkmale von Anna Oppermanns Ensembles ist ihre Selbstähnlichkeit. Sie hat sie durch unablässige Selbstreferenz erzeugt. Diese Ensembles sind in wesentlichen Teilen Archive ihrer selbst: sie dokumentieren in Form von Fotos und Foto-Leinwänden frühere Aufbauzustände und Details; und dieses ungeheuer komplexe Geflecht wechselseitiger bildhafter Bezüge, ihre Struktur, macht die Besonderheit ihrer Arbeit aus. Motive und deren Darstellungen tauchen immer wieder in unterschiedlichen Perspektiven und Größenverhältnissen auf; an einer Stelle mit der Entschlüsselung der Verweise zu beginnen ist ebenso gut und gültig, wie es an einer anderen zu tun. Die an der Universität Lüneburg im Fach Kulturinformatik4 entwickelte Methode der digitalen Gegenstandssicherung der Oppermannschen Arbeiten verwendet zunächst diese dem Werk innewohnende Struktur der selbstbezüglichen Abbildung von Bildern und Texten. Bilder sind Träger von Strukturinformationen, denn sie dienen als Auslöser bildhafter Querverweise: die Benutzer des Systems wählen mit der Maus den abgebildeten Gegenstand an, und das System präsentiert diesen als nächsten, zusammen mit den zu ihm gehörenden Informationen, wie etwa der Transkription der in oder auf ihm befindlichen Texten, einem hochaufgelösten Farbbild, Maßangaben, Inventarnummer, etc. Diese Operation ist auch umkehrbahr, d.h.: die Benutzer können sich anzeigen lassen, auf welchen Ensembleteilen ein ins Auge gefasstes Objekt abgebildet wurde. Bisher wurden folgende Ensembles mit dieser Methode dokumentiert: Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R.5, Besinnungsobjekte über das Thema Verehrung – Anlass Goethe6, Öl auf Leinwand, MKÜVO (»Mach kleine, überschaubare, verkäufliche Objekte!«) und MKÜVO Fensterecke. Die letzten drei Ensemble wurden zusammen dokumentiert, da zwischen ihnen eine unmittelbare thematische und räumliche Beziehung besteht.7 Im folgenden werden zur Illustration Beispiele aus diesen drei z.Zt. in der Ham4 5

6 7

Zum Projektteam dort gehören Martin Warnke, Carmen Wedemeyer und Christian Terstegge. Carmen Wedemeyer, Umarmungen … / Embraces … Anna Oppermanns Ensemble Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R. Ein hypermediales BildText-Archiv zu Ensemble und Werk, Herbert Hossmann und Martin Warnke (Hrsg.), Basel/Frankfurt a. M., 1998. Im Internet unter http://btva.uni-lueneburg.de/. Die Arbeit zum Goethe-Ensemble ist bisher unveröffentlicht. Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle. Eine Dokumentation auf DVD von Martin Warnke, Carmen Wedemeyer, Christian Terstegge und einem Text von Claus Pias, Hamburg 2004. Im Internet unter http://www.uni-lueneburg.de/ao_kunsthalle/project_de/project.htm, allerdings beinhaltet die Onlineversion nicht alle Funktionen.

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burger Kunsthalle installierten Arbeiten herangezogen. Bei den zur Kennzeichnung der einzelnen Abbildungen genannten Ziffern handelt es sich um die von mir während der Arbeit an den Ensembles vergebenen Inventarnummern für die einzelnen Ensembleelemente, anhand derer nach ihnen in der digitalen Dokumentation gesucht werden kann. Anna Oppermann hat ihre künstlerische Arbeitsweise immer wieder ausführlich und kritisch reflektierend dokumentiert. Es gibt Texte der 1993 verstorbenen Künstlerin zu Fragen wie »Was ist ein Ensemble«8, was ist die »Entstehungsgeschichte der Methode«9, kann der »Konflikt der Vermittlung«10 zwischen Künstler und Publikum gelöst werden, was bedeutet »Künstler sein«11. Sehr bewusst hat Anna Oppermann unterschiedliche Medien für ihre Arbeit eingesetzt und diese Praxis ebenfalls in eigenen Texten immer wieder reflektiert. »Fotos im Ensemble«12, »Text im Ensemble«13, und »Zeichnen im Ensemble«14 dienen im folgenden als Ausgangspunkt für eine Einführung in ihre medialen Inszenierungen.

Fotos im Ensemble Die Fotografie ist zweifellos das die Oppermannschen Ensembles am stärksten bestimmende Medium. Zwanzig kolorierte Fotoleinwände bedecken die Wände und den Boden der rechten hinteren Raumecke im Ausstellungsraum des Ensembles Öl auf Leinwand in der Hamburger Kunsthalle. Nahtlos gehängt oder gelegt geben sie die räumlichen Abmessungen der Arbeit vor (500 × 381 × 400 cm) und halten sie formal zusammen. Inhaltlich dokumentieren sie in erster Linie die diversen Zustände, die die Ensembles über Jahre hinweg während ihres Entstehungsprozesses durchlaufen haben. »Im Ensemble befinden sich hauptsächlich Fotos früherer und aktueller Ensemblezustände (Teilansichten, Gesamtansichten), nämlich Fotos von räumlich arrangierten Objekten, Skizzen, Texten, Bildern und Fotos von Objekten, Skizzen, Texten, Bildern und Fotos mit . . . usw«.15 8 9 10 11 12 13 14 15

http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/7.htm http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/9.htm http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/19.htm http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/11.htm S. Fußnote 1 http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/10.htm http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/12.htm http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/10. htm#Foto

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Abb. 1: Öl auf Leinwand, Dauerinstallation in der Hamburger Kunsthalle seit 1992

In unserer digitalen Dokumentation listet die über den Menüpunkt »Gruppen/Materialtypen«16 aufrufbare »Gruppe: Fotos Kunsthalle« alle Fotos der drei in der Hamburger Kunsthalle ausgestellten Ensembles auf, ohne die Fotoleinwände, die hier eine eigene Gruppe bilden. Fast ausnahmslos handelt es sich bei den 92 Objekten um Ansichten früherer Aufbauzustände, die aus der Gruppe heraus aufgerufen und dann als Ausgangspunkt für eine Erkundung des Ensembles in einem seiner früheren Zustände dienen können, denn jeder vorherige Zustand steht in der digitalen Dokumentation gleichberechtigt neben dem aktuellen. Einen direkten Vergleich zwischen den einzelnen Aufbauzuständen bietet die Funktion »Lichttisch«17, die es erlaubt, mehrere Abbildungen nebeneinander auf dem Monitor zu arrangieren und so einen Überblick über die Entwicklung eines Ensembles zu gewinnen. Auf der Gesamtansicht des Ensembles Öl auf Leinwand (Abb. 1) finden sich prominent alle seine früheren Aufbauzustände auf Foto16 17

»Gruppen« zeigt Thumbnails der unter bestimmten Kriterien zusammengestellten Ensembleelemente. Neben den »Materialgruppen« gibt es u.a. Gruppen zu den einzelnen Aufbauzuständen eines Ensembles. Die Funktion »Lichttisch« ermöglicht es, Ensembleelemente frei auf dem Monitor anzuordnen, sie zu vergrößern und zu verkleinern, Ausschnitte der Bilder zu wählen, Notizen zum Arrangierten zu schreiben und alles abzuspeichern.

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Abb. 2 (45_0_25): Öl auf Leinwand, 1. Zustand im Atelier 1981 (Fotoleinwand)

leinwänden dokumentiert, darunter auch die ersten Atelieraufbauten. Abbildung 3 zeigt den ersten, Abbildung 4 einen etwas späteren Zustand des Ensembles. In dem aktuellen Aufbau befinden sich beide links und rechts der Raumecke. Legt man beide auf den »Lichttisch« auf, sieht man sehr schön, wie das Ensemble angewachsen ist, wie sich Positionen einzelner Elemente verändert oder aber ihren Platz behauptet haben. Die Leinwand 45_0_14 (auf der Gesamtansicht rechts unten neben dem Türrahmen) zeigt dagegen den nur zwei Jahre späteren Aufbauzustand im Münchener Lenbachhaus 1983. Ein Vergleich mit den oben genannten Abbildungen der Atelieraufbauten zeigt, dass die Grundform des Ensembles, wie sie auch heute in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist, sich damals bei den ersten öffentlichen Präsentationen18 gebildet hat. Allerdings wird man hier nicht die den ersten Zustand repräsentierende Leinwand 45_0_25 wiederfinden. Sie entstand erst 1984 anlässlich der großen Retrospektive Oppermannscher Arbeiten im Kunstverein in Hamburg. Auf der Gesamtansicht des damaligen Aufbaus (45_11_5) liegt sie hinten rechts auf dem Bodenpodest. »Es gibt Fotos verschiedener Größe, vom 23 × 23-mm-Format bis zu 2 × 2,5-mVergrößerungen.«19 18 19

Das Ensemble Öl auf Leinwand wurde 1982/83 auf der Wanderausstellung Junge Kunst in Deutschland – Privat gefördert in Köln, Berlin und München gezeigt. Vgl. Fußnote 1

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Abb. 3/4 (45_0_26/ 45_2_38): Öl auf Leinwand, 2. Zustand im Atelier 1982, Fotoleinwand (links) und Themenskizze (rechts)

Im Ensemblematerial lassen sich vom gleichen Motiv Kontaktabzüge und deren Vergrößerung auf einer Fotoleinwand finden, wie beispielsweise die beiden Aufnahmen der Aufbausituation in Berlin 1983 (54_3_64 und 54_0_10). Neben Kontaktabzügen, kolorierten Fotoleinwänden, selbst entwickelten schwarz-weiß-Abzügen und einigen wenigen im Labor entwickelten Farbfotos setzt Anna Oppermann häufig auch ein Diakarussell ein, um noch weitere Abbildungen früherer Zustände präsentieren zu können. In den öffentlichen Installationen des Ensembles Öl auf Leinwand und dessen Filiation MKÜVO werden von 1982 bis 1986 Kleinbilddias in einen an der Wand hängenden Goldrahmen projiziert. »In einem aufgebauten Ensemble kann man den Standort beliebig wechseln und sich selbst mit einem Rahmen unendlich viele Bilder suchen. Man kann die Objekte sehen, riechen, schmecken, fühlen, von allen Seiten betrachten, ganz dicht ans Auge nehmen, gegen das Licht halten, man kann die Arrangements korrigieren, umgruppieren.«20

Einen derartig freien Umgang mit dem Ensemblematerial hatte Anna Oppermann sich gewünscht, er ist aber aus konservatorischer Sicht in der Praxis so nicht möglich. Ensembleelemente entsprechend den eigenen Assoziationen zusammenzustellen und damit umzugruppieren, erlaubt aber die oben genannte Lichttisch-Funktion. Das haptische Erlebnis bleibt aber auch weiterhin nur den Kuratoren und Restauratoren vorbehalten. 20

Ebd.

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Abb. 5 (45_0_14): Öl auf Leinwand, Zustand München 1983 (Fotoleinwand)

»Ein Foto dagegen [im Gegensatz zum aufgebauten Ensemble, C. W.] hält fest, grenzt aus, transponiert das Räumliche in die Fläche und verändert so die Reaktionsmöglichkeiten.«21

Damit übernimmt das Foto für Anna Oppermann eine Aufgabe, die sie für den häufig in ihren frühen Arbeiten eingesetzten Spiegel formuliert hatte. »Für mich war der Spiegel – das Ausgrenzen der Wirklichkeit – ein Schlüsselerlebnis. Ich nehme einen Spiegel und habe um den Spiegel herum Wirklichkeit und im Spiegel die gespiegelte Wirklichkeit, die im Kontrast zur Wirklichkeit um den Spiegel steht. Dadurch wird die sich im Spiegel befindliche, von einem Ort an den anderen Ort transportierte gefrorene ›Wirklichkeit‹ zum Bild.«22

Dieser ständige Perspektivwechsel erschwert absichtsvoll die Orientierung und zwingt den Betrachter immer wieder, unablässig neue Standpunkt einzunehmen, buchstäblich Stellung zu beziehen. »In den Ensemblekaskaden selbst hingegen, in die man im wahrsten Sinne des Wortes hineingehen, eingehen, aufgehen kann, in denen man zudem irritiert wird durch Großfotos früherer Raumzustände, die den realen Raum illusionär erweitern, empfinden einige Besucher einen beängstigenden Sog, in dem sie fürchten, sich zu verlieren. Aber die Reaktionen der Außenstehenden sagen oft mehr über sie selbst aus als über mich, denn die Bild-Text-Raumgebilde sind ideal für die unterschiedlichsten Projektionen.«23

21 22 23

Ebd. http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/47.htm vgl. Fußnote 1

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Abb. 6/7 (54_3_17/ 45_3_21): MKÜVO (Detail), Motiv aus dem Atelier (links) und Öl auf Leinwand (Ausschnitt), Zustand Köln 1982 (rechts)

Anna Oppermann nutzt selbst immer wieder Abbildungen als Projektionsflächen. Zur Leinwand 45_0_26 gibt es beispielsweise eine Zeichnung (45_2_38), die die auf der Leinwand gezeigte Situation detailgenau wiedergibt, allerdings bezieht sich diese Genauigkeit lediglich auf deren formalen Aufbau. Die einzelnen dargestellten Objekte sind nicht naturalistisch nachgezeichnet, sondern nur mit ihren Umrißlinien skizziert.24 In die sich so ergebenden leeren Rechtecke schreibt die Künstlerin den Begriff ein, der das jeweilige Motiv thematisch kennzeichnet oder analysiert. Beispielsweise verkürzt sie eine Aufbauskizze des Ensembles Der ökonomische Aspekt25 in London 1981, auf der eine Vielzahl kritischer Überlegungen zum Thema handschriftlich vermerkt sind, zum Begriff »Reflexionen zum ökonomischen Aspekt«. Die Spuren des Verlustes einer Zeichnung während der Ausstellung des Ensembles Öl auf Leinwand 1981 in Berlin, selbstverständlich nicht direkt abbildbar, zieht sie zur Inschrift »Zeichnung über den Verlust einer Zeichnung« zusammen. Die Abbildkaskade, die dahinter steckt, ist folgende: Die Leinwand 45_0_26 zeigt an der Stelle, an der der obige Text steht, eine Zeichnung (45_2_47), auf der die verlorene Zeichnung indirekt abgebildet ist. Letztere sieht

24 25

Für einen Vergleich zwischen Fotoleinwand und Skizze bietet sich wiederum die Lichttisch-Funktion an. Bezugsensemble nennt Anna Oppermann Ensembles, aus denen sich ein thematischer Aspekt zu einem eigenen Ensemble entwickelt. Die Kette der Beziehungen beginnt in diesem Fall bei dem Ensemble »Künstler sein …«, das sie als Bezugsensemble für Der ökonomische Aspekt nennt, daraus entwickelte sich Öl auf Leinwand, aus dem wiederum MKÜVO hervorging. Alle zusammen sind Bezugsensembles für die Pathosgeste. Die Bezugsensembles werden von Anna Oppermann im Ensemble benannt und mit Abbildungen zitiert.

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Abb. 8 (54_0_7): MKÜVO (Detail), Motiv aus dem Atelier (Fotoleinwand)

man auf dem Foto 45_3_100 unten rechts an die Fußleiste gelehnt. 45_2_47 bildet von dem Foto genau diese rechte untere Ecke ab. »In jedem Ensemble befindet sich immer auch ein Foto des Gesamtaufbaus. Für mich immer wieder staunenswert, dass es möglich ist, einen ganzen Raum samt Inhalt auf wenige Zentimeter zusammenrücken zu können. Für Menschen, die das Ensemble nicht real erlebt haben, wird so ein Foto fast zu einem abstrakten Bild. Allerdings sollten einige Details und Zitate erkennbar sein, denn neben dem Prinzip Zusammenfassung (Verkleinerung) ermöglicht das Foto die Detailvergrößerung, sprich Hervorhebung; eine kleine Skizze, ein Tulpenblütenblatt, drei Zeilen Zeitungstext, vergrößert auf einen Quadratmeter …«26

Exemplarisch für eine derartige Hervorhebung könnte die Leinwand 54_0_7 (Abb. 8) stehen, die in Hamburg im Ensemble MKÜVO aufgebaut ist. Hier ist zwar kein Tulpenblütenblatt abgebildet, dafür aber die Blüte eines Alpenveilchens, der Bezugspflanze des Ensembles Öl auf Leinwand, und damit auch von MKÜVO. Zeichnungen dienen hier wieder als Projektionsfläche für Text. In diesem Fall wurde ein Zitat des Schriftstellers und Politologen Ernst Toller aus dessen Stück »Hoppla, wir leben noch« über ein Polaroid und einen daneben aufgebauten Notizzettel geschrieben, das Foto 54_3_21 bildet beide ab. Der auf diesem Zettel eigentlich zitierte Text des Historikers Daniel J. Boorstin erfährt dadurch einen durch Anna Oppermann inszenierten Kommentar Tollers. Eine weitere von der Künstlerin häufig eingesetzte fotografische Technik ist die des Polaroids, das ihr für Vergrößerungen weniger geeignet erscheint. 26

Vgl. Fußnote 1

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Abb. 9/10 (45_3_108/ 45_2_8): Motiv aus der Galerie Maeght, Zürich 1981 (links) und Zeichnung nach dem Polaroid (rechts)

»Für solche Makrosensationen ist das Polaroid-Foto kaum zu gebrauchen. Dafür ersetzt es schon mal die gewohnte Kamera bei Zusammenfassungen, besonders unmittelbar nach der Fertigstellung des Aufbaus. Das Polaroid ist auch geeignet, das Drumherum, mit und ohne Menschen, während des Aufstellungsaufbaus oder -abbaus festzuhalten«.27

21 der 92 im aktuellen Aufbau der drei Ensembles in der Hamburger Kunsthalle gezeigten Fotos sind Polaroidaufnahmen. »Manche Polaroids sind so schön, und schön sind sie immer, die einfachste Ecke mit Schatten zum Beispiel, dass ich sie abzeichne. Denn abfotografiert in Schwarzweiß sind sie oft platt, trübe, dumpf, störend.«28

Das Polaroid 45_3_108 (Abb. 9) zeigt Anna Oppermann in einer Ecke der Galerie Maeght in Zürich 1981. Sie hatte dort ihr Ensemble »Künstler sein« ausgestellt. Die Zeichnung 45_2_8 (Abb. 10) entstand nach diesem Foto. Weitere Beispiele für ihre Methode, fotografische Abbildungen noch einmal zeichnerisch abzubilden, finden sich in der Gruppe »Vorlage Zeichnung«.

Zeichnen im Ensemble »Zeichnen im Ensemble will nicht, wie im traditionellen Sinn gemeint, primär den Nachweis einer spezifischen Fähigkeit des Abbildens erbringen, sondern ist in erster Linie Mittel zum Zweck der Stimulierung oder Verstärkung bestimmter 29 Bewusstseinszustände« 27 28 29

Ebd. Ebd. Vgl. Fußnote 14

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Anna Oppermann weist der Zeichnung damit eine grundsätzlich andere Funktion zu als dem Foto. Während bei Letzterem der dokumentarische Aspekt im Vordergrund steht, spielt ersteres für sie offenbar die Rolle eines persönlichen Mediums, das sie überhaupt erst in den Stand setzt, bei der künstlerischen Arbeit am Ensemble voranzuschreiten, gleichsam als notwendiges Zwischenstadium. Die Gruppe der Zeichnungen ist mit 234 Elementen die zweitgrößte Materialgruppe der drei Kunsthallen-Ensembles. In ihrem Text »Zeichnen im Ensemble« von 1979 ordnet Anna Oppermann die unterschiedlichen Arten der in den Ensembles vorkommenden Zeichnungen den vier von ihr beschriebenen Arbeitsphasen zu: »Meditation«, »Katharsis«, »Reflexion« und »Analyse«. Eine genaue Zuordnung ist dabei sicherlich nicht möglich, was Anna Oppermann an anderer Stelle selbst einräumt: »Dies geht in der Praxis sicher nicht so linear bzw. eindeutig von einander abgetrennt vor sich wie die Zusammenstellung dieser (etwas bombastisch anmutenden) Begriffe vorgibt. Aber grundsätzlich scheint mir die Fixierung und Visualisierung von Vor- bzw. Unbewussten eine Chance zu bieten, etwas (bes. Unzulänglichkeiten) zu erkennen, bewusst oder gar veränderbar zu machen.«30

Die im folgenden angeführten Beispiele können daher lediglich ein Versuch sein, die Oppermannschen Aussagen zu belegen. Nur in Ausnahmefällen liefert die Künstlerin Hinweise auf die Arbeitsphase, in der die Zeichnung entstanden ist, wie z.B. auf der oben erwähnten Themenskizze (Abb. 4). Mit der ihr eigenen Methode der begrifflichen Verkürzung schreibt sie sie in die dortigen »Leerstellen« ein.

Das Medium Zeichnung setzt Anna Oppermann ein »1. um sinnlich zu vereinnahmen, sich zu konzentrieren, sich zu versenken (naturalistische Detailzeichnung vom realen Ausgangsobjekt in der 31 Meditationsphase),«

Beispiele hierfür sind 45_2_62, 45_2_48 oder 45_2_25;

30 31

http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/6. htm#Methode vgl. Fußnote 14

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ZUM WERK ANNA OPPERMANNS

Abb. 11 (45_2_25): Öl auf Leinwand (Detail), »Meditationszeichnung«

»2. um Unbewusstes herauszulocken, sich zu entkrampfen, sich abzureagieren Erinnerungen, Erfahrungen, Assoziationen zu provozieren (spontane Skizzen und verbale Notizen über Bezugsobjekte der Ensembles in der kathartischen Phase),«32

wie auf der Skizze 54_2_77. Es gibt im Ensemble MKÜVO eine kleine Serie von Zeichnungen, die im gleichen Format und gleicher Technik spontane Skizzen von unterschiedlichen Personen zeigen. Einige davon bildet das Foto 54_3_17 ab. Zeichnungen verwendet Anna Oppermann »3. um den Zustand der Distanz, des Zurückerinnerns, Überprüfens, Denkens einzuleiten und zu unterstützen (als naturalistische Zeichnungen, wo Ergebnisse der Produkte aus Meditations- und kathartischer Phase auf eine Fläche gebracht sind in der Reflexionsphase),«33

so z.B. auf dem Blatt von 45_2_60, das sie auf ihrer Themenskizze (Abb. 4) als »Reflexionszeichnung« bezeichnet hat. Und schließlich zeichnet sie »4. um zusammenzufassen, zu reduzieren, zu simplifizieren und zu vermitteln, einen Überblick, ein Urteil im Hinblick auf einen Gesamtzusammenhang zu ermöglichen (Konstruktionsskizzen, Konzeptskizzen, Themenpläne, Orientierungs- oder Guckanleitungen, Diagramme. Eine Text-Bildsynthese auch als Grundlage einer weiterführenden Reflexion über die Methode des Vorgehens insgesamt) (analytische Phase).«34

Die Themenskizze (Abb. 4) selbst fällt in diese Phase, aber auch die Orientierungsanleitung für eine Reduktion des Ensembles »Künst32 33 34

Ebd. Ebd. Ebd.

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Abb. 12 (45_2_31): »Künstler sein …«, Zustand Venedig 1980 (Themenskizze)

ler sein« (54_2_130) oder die Themenskizze zum Aufbau des gleichen Ensembles auf der Biennale in Venedig 1980 (Abb. 12). »Deswegen sind in Ensembles enthalten: naturalistische Zeichnungen, spontane Skizzen, Themenskizzen zur Orientierung des Betrachters, Konstruktions- und Installationszeichnungen von Ensembleaufbauten, Diagramme und Zeichnungen, in denen diese unterschiedlichen Typen wieder in einer Bildfläche zusammengefaßt sind.«35

Text im Ensemble Das Medium Text ist, obwohl nicht offensichtlich, das quantitativ bedeutendste in der aktuellen Präsentation der drei Ensembles in der Hamburger Kunsthalle. In der digitalen Dokumentation wurden die Texte formal unterteilt in »handschriftliche« und »gedruckte«. Dem ersten Bereich sind 107, dem zweiten 267 Elemente zugeordnet. Texte unterschiedlicher Art spielen in den Arbeiten Anna Oppermanns von Anfang an eine große Rolle. »Im Ensemble gibt es Texte aus der Umgangs-, Untergrund- und Intellektuellensprache […] Texte spontaner, emotionaler Reaktionen und solche, die einen über das Subjektive hinaus, allgemeinen Sinn-, Bedeutungs-, bzw. Begründungszusammenhang herzustellen versuchen. Es gibt Texte über das Ensemble und im Ensemble, im Foto und in den Zeichnungen, über Fotos und über Zeichnungen. Die meisten Texte stammen von anderen, und zwar aus verschiedenen Bezugssystemen. Es sind gesammelte 35

Ebd.

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Fragen, Deutungsversuche (Projektionen), Gesprächsfragmente, es sind Zitate aus Presse und Literatur verschiedener Fachbereiche, die sich bestimmten Ensemblethemen zuordnen lassen. Gesammelt werden Zitate, die persönlichen Ansichten entsprechen, sie verstärken, ihnen widersprechen und solche, die grotesk, simplifizierend, brutal und gefährlich sind (Beispiele aus Werbung und Presse), deren Wirkung analysiert werden soll. Von mir gibt es hauptsächlich Texte oder Diagramme zur Ensemblemethodik allgemein oder Themen-, Entstehungs- und Orientierungsdiagramme zu speziellen Ensembles. Außerdem einiges aus der kathartischen Phase, Erinnerungsfetzen, Assoziationsreihen – die aber für andere weniger im Detail wichtig sein sollen und nur als Hinweis gemeint sind, dass private, subjektive Äußerungen in einer bestimmten Phase der Methode erlaubt, bzw. gefordert werden. Es gibt Texte, die hervorgehoben sind durch Vergrößerungen oder exponierte Präsentation, andere, die nur von mir und solche, die eher beiläufig in einem versteckten Winkel gefunden und entziffert sein wollen. Es gibt entsprechende, sich widersprechende, bedeutungsähnliche, sich bedingende, unverständliche, mißverständliche, schwerverständliche und naiv erläuternde – banale, kluge, kitschige, mutige, brave, säuische, gesittete und provozierende Texte.«36

Für die digitale Dokumentation wurden sämtliche im Ensemble enthaltenen Texte als Bild aufgenommen, transkribiert und indexiert, wenn möglich mit ihrer Vorder- und Rückseite. Der gesamte Textkorpus kann so über einen Volltextindex erschlossen werden. Die enge Verknüpfung der Ensembles untereinander wird gerade auch auf der Textebene deutlich. Neben der oben genannten Verbindung zum Bezugsensemble gibt es beispielsweise auch eine zum »Spiegelensemble«, dem ersten Oppermannschen Ensemble. In einer auf dem Boden stehenden Obstkiste in der Fensterecke (541_4_6) befinden sich, unter einem Stapel von schwarz-weiß-Fotografien, 85 Zeitungsausrisse. In fast allen spielt das Stichwort »Spiegel« eine mehr oder weniger prominente Rolle. Es gibt Texte zum Hamburger Mietspiegel, Märchenzitate (»Spieglein, Spieglein an der Wand«), Ausschnitte aus Romanen, Redensarten (»Jemandem einen Spiegel vorhalten«), Zeitschriftentitel (»Frau im Spiegel«). Für Anna Oppermann war bei der Auswahl dieser Texte nicht das Thema, mit dem sie sich beschäftigten, in erster Linie entscheidend, sondern die Tatsache, dass in ihnen das Wort »Spiegel« vorkam. Auf diese Art und Weise entstand eine vollkommen heterogene Textsammlung zu 36

http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/10.htm

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einem Begriff, ohne jegliche Wertung, ganz im Sinne ihrer zweiten Arbeitsphase, der Katharsis, »in der alles zugelassen ist«.37 »[E]in Objekt, ein Thema von möglichst allen Seiten zu sehen«38, war ein wichtiges Anliegen Anna Oppermanns in ihrer Arbeit, weshalb neben den Texten aus der Alltagskultur immer auch Zitate aus Philosophie, Soziologie, Psychologie und Literatur vorkommen. Im Falle der drei Kunsthallen-Ensembles setzt Oppermann Texte u.a. von Walter Benjamin, Peter Sloterdijk, Claude Lévi-Strauss, Josef Kirschner und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein39, um Reflexionen aus der Wissenschaft in die Ensemblethematik einzubinden. »Ich liebe die Konfrontation von Hehrem und Banalem, von Alltagsrealität (Grundbedürfnissen) und verschrobenen Formulierungen, moralisierenden Theorien und Ansprüchen, von Objekt und Transformation (Begriff, Abstraktion). Die Ensembles werden häufig verglichen mit (Devotionalien-)Altären – sie dürfen ebenso verglichen werden mit den Erinnerungsansammlungen auf Buffets und Kaminsims der Bürger, auch mit Schreibtisch-Unordnung oder der Steckzettelwand geistig Arbeitender aber auch mit unaufgeräumten Kinderzimmern. Ensemble ist von allem etwas (aber auch mehr). Das räumlich Arrangierte, die mögliche Ortsveränderung der Bestandteile, ihre inneren Verschiedenheiten ermöglichen ungewohnte Kombinationen und Bedeutungszuschreibungen – vermeiden Linearität, Zwangsläufigkeit von Denkklischees, trainieren Flexibilität und Kreativität.«40

Linear sind die Ensembles Anna Oppermanns tatsächlich nicht lesbar. Es sind Hypertexte im besten Sinne des Wortes. Sie werden bestimmt durch Assoziationsketten, die jeder Betrachter individuell für sich entwickeln kann. Als Anna Oppermann im Laufe der Ausstellungsvorbereitungen im Lüneburger Museum 1991 von unserem Hypertext zu einer ebenfalls dort ausgestellten mittelalterlichen Weltkarte hörte und sich die Computeranwendung ansah, übertrug sie sie spontan auf ihre Arbeit. »Das ist doch genau so, wie ich arbeite«. Von ihr selbst ging damals die Anregung für ein hypermediales Bild-Text-Archiv zu ihrem Ensemble »Umarmungen, Unerklärliches

37 38 39 40

http://www.uni-lueneburg.de/Anna_Oppermann/ANNA_O/T_von_A/30. htm#Methode Anna Oppermann Pathosgeste, Hamburg/Brüssel 1987, S. 4. Die Katalogseite, aus der das Zitat stammt, ist Bestandteil des Ensembles Öl auf Leinwand (45_1_29). Unter dem Menüpunkt »Kontext/Literaturverzeichnis« sind alle Quellen, die ich nachweisen konnte, aufgeführt. vgl. Fußnote 13

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und eine Gedichtzeile von R.M.R.«41 aus. Die erste Version dazu konnte sie noch kurz vor ihrem Tod kennenlernen. »Anna Oppermann hat die Öffnung eines großen hypertextuellen ›Sprachspiels‹ namens WWW nicht mehr erlebt, die ausgerechnet um ihr Todesjahr 1993 ihren großen Aufschwung nahm. Aber sie hat den Beginn der Digitalisierung ihrer Ensembles verfolgt und durfte hoffen, ›der Rechner könnte einen Traum realisieren, den sie schon lange hegte: Die Betrachter sollten ihre eigenen Ensembles machen können, allerdings ohne ihre – Anna Oppermanns – Arbeit zu zerstören.‹«42

41 42

vgl. Fußnote 5 Claus Pias in: Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle, a.a.O., S. 45; ebd., Martin Warnke in: Umarmungen…, S. 20.

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Virtuelle Räume. Interview mit Gero Gries Annett Zinsmeister

Annett Zinsmeister: Zu Beginn der 90er Jahre hat sich deine künstlerische Arbeit grundlegend verändert. Mit einem konsequenten Medienwechsel vollzog sich auch der Wandel von der Inszenierung raumgreifender Installationen zu der Konstruktion virtueller Räume. Wie kam es, dass ab einem gewissen Zeitpunkt der Computer zu deinem alleinigen künstlerischen Medium wurde? Gero Gries: Das Medium hat mich schon seit Mitte der 80er Jahre interessiert. 1986 war eine Computergrafikmesse in Berlin, wo der Stand des technisch Möglichen präsentiert wurde. Die Gründe, warum ich damals nicht eingestiegen bin, waren einerseits die immensen Hard- und Softwarekosten (damals konnte man leicht 200 000 DM für eine entsprechende Ausrüstung loswerden) und andererseits die Unbeholfenheit der Ergebnisse. Das Genre 3D-Computergrafik (3D-CG) war damals von keinerlei sichtbarer künstlerischer Absicht getrübt. Man könnte sagen, dass das auch eine Chance hätte sein können, aber ich glaube ich habe mich damals unter diesen Leuten einfach zu fremd gefühlt. Fünf Jahre später kam dann mein Einstieg. Ich hatte damals ein einjähriges Amerikastipendium am Art Center in Los Angeles. Das hatte damals schon ein State of the Art Computerlab im Keller, da das Art Center einen Schwerpunkt in der Ausbildung von Automobildesignern hat. Dort standen neun SGIMaschinen und viele Macs. Als Faculty Member habe ich damals an einem Einführungskurs teilgenommen, erst Bildbearbeitung und dann 3D-Software. Speziell für die Arbeit mit den 3D-Progammen hatte ich Talent. Als Kind habe ich gerne mit elektronischen Schaltungen gebastelt und eine Neigung zu Tüfteleien und analytischem Denken gehabt. Ich weiß noch, wie ich damals als erstes Bild die Visualisierung einer geplanten Installation entworfen habe. Da ich 147

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vorher hauptsächlich Installationen gemacht habe, bin ich auf der Objektebene in die Computergrafik eingetreten, denn die 3D-Programme lagen mir näher. Fotografen setzen sich im ersten Schritt konsequenterweise meist mit Photoshop auseinander. Wie konstruierst du deine modellhaft inszenierten virtuellen Räume? Am Anfang steht – wie bei deinen früheren Installationen - die Idee für eine Inszenierung von Objekten im Raum. Welcher Prozess setzt dann ein? Das Objekt, der Raum, die Beleuchtung, die Oberflächentexturen und der Blickpunkt, häufig in dieser Reihenfolge. Es kann aber auch sein, dass der Blickpunkt und der Bildausschnitt von Anfang an festliegen und alles daran ausgerichtet wird. Die einzelnen Bilderstellungsaspekte sind natürlich voneinander abhängig, wenn ich eine andere Textur verwende, muss ich vielleicht die Beleuchtung verändern und so weiter. Das Objekt muss zuerst gemodelt werden. Dies geschieht mit verschiedenen Modellingtools und ist fast so etwas wie Handarbeit, auch wenn es am Rechner geschieht. Manche Tools sind aus der Holz- und Metallbearbeitung abgeleitet. Da kann man drechseln und biegen und Kanten abrunden. Andere Werkzeuge erinnern eher an die Arbeit mit Ton. Mathematik ist auch immer dabei, schließlich sind viele Programmierer Mathematiker, so gibt es Boolsche Operationen, wo ein Gegenstand vom anderen abgezogen oder eine Schnittmenge aus zwei Objekten gebildet wird. Der Raum ist meist einem Filmset ähnlich, d.h. dass nur die im Bild später sichtbaren Teile ausgearbeitet sind. Unsichtbare Teil des Sets, die in Reflektionen sichtbar sind oder an indirekten Lichteffekten teilnehmen, dürfen nicht vergessen werden. Da kann ich meine Erfahrungen als Bühnenbildner nutzen. Das Objekt als Schauspieler und der Raum als Bühne. Überhaupt sind viele Objekte Platzhalter für Subjekte – also anthropomorphe Figuren – meine Stühle zum Beispiel. Beleuchtung ist ein wichtiges Mittel zur Aufmerksamkeitssteuerung. Beleuchtung und Blickpunkt/Bildausschnitt sind die Hauptkriterien zur Inszenierung. Ein Beispiel für diese Möglichkeiten wäre das Bild »AKZ« von 1999: Dabei habe ich das Hauptobjekt, einen Küchenstuhl, groß in die Bildmitte gesetzt, ihn aber durch die Beleuchtung fast unsichtbar gemacht, nur ein paar Lichtlinien darüber gezogen, obwohl der Raum ganz gut beleuchtet ist. So etwas ließe sich anders nicht realisieren, denn nur in der 3D-CG habe ich alle Gestaltungselemente so in der Hand. Für den Grad an Fotorealismus sind natürlich auch 148

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INTERVIEW MIT GERO GRIES

die im Programm vorhandenen Beleuchtungsmodelle wichtig, wobei gilt, dass man auch mit simplen Beleuchtungsmodellen (ohne Radiosity z. B.) gute Ergebnisse erzielen kann, es erfordert eben nur mehr Mühe und genaueres Beobachten. Oberflächentexturen sind für den Grad des Fotorealismus ebenso wichtig wie eine ausgefeilte Beleuchtung. Grundsätzlich kann man zwei Arten von Texturen unterscheiden, prozedurale und bildgesteuerte. Prozedurale Shader stellen Oberflächen mit Algorithmen dar, also kleinen Programmen, die der Renderengine sagen, auf welche Weise eine Oberfläche darzustellen ist. Holz ist ein gutes Thema, das gibt es auf beide Arten. Der Prozedurale Shader kann einen Holzbalken schon ganz brauchbar abbilden, er geht im 3D-Sinne durch das Holz durch, das heißt, wenn ich ein Stück rausschneide, zeigt mir der Shader die richtige Maserung an dieser Stelle. Nachteil ist, dass das Verfahren auf einer Formel basiert, also immer etwas künstlich aussieht, bis jetzt jedenfalls. Die andere Möglichkeit, ein Bild um den Baumstamm zu wickeln, ergibt eine realistischere Textur, aber schon an der Stirnseite des Balkens komme ich in Schwierigkeiten, der Balken wirkt furniert. Erschwerend kommt dazu, dass es für hochauflösende Bilder wie meine nur ein kleines Angebot von nahtlosen Fertigtexturen gibt. Häufig bleibt Selbermachen die einzige Lösung, und das ist immer eine ziemliche Fleißaufgabe. Deine Rauminszenierungen wirken auf eigentümliche Weise vertraut und fremd zugleich. Was ist der Quell der Inspiration für deine imaginierten Räume, worauf basieren deine räumlichen Konzeptionen? Sie sind ja nicht ausschließlich deiner Fantasie entsprungen, sondern berufen sich auch hie und da auf erinnerte oder existente Bilder, wie bspw. Fotografien oder z.B. Gemälde des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi? Diese Frage lässt sich nur auf den Einzelfall bezogen beantworten. Es gibt ein System von Inspirationsquellen, das im Laufe der Zeit einem stetigen Wandel unterworfen ist. Bestandteile sind Aussenbilder (Medien, Fotos, selbst Gesehenes) und Innenbilder - dabei gibt es sich langsam Entwickelnde und solche, die in einem Augenblick entstehen und dann als Vorstellung fertig vorliegen. Auf diese beiden Bestandteile wirken viele Faktoren beeinflussend ein: biografische, kunstgeschichtliche, Feedback (von mir selbst und anderen) usw. Über all dem gibt es die große Klammer des technisch Machbaren, die aber zur Zeit schon so weit ist, dass ich sie kaum noch spüre. Hammershøj ist z.B. heute kein aktuelles Thema mehr. Ich habe mich 1999 mit ihm befasst, weil ich eine gewisse Verwandtschaft 149

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der Bildwelt feststellte und mir seine Reduktion aufs Wesentliche in seinen Interieurs gefallen hat. In gewissen Bildern hat er förmlich die Leere porträtiert, etwas, das ich in »BadD«, »Kühlschank« und »SB« vom Vorjahr unternommen hatte. Mit dem bei Hammershøj Erlernten verfolge ich neue Bildinhalte. »Becher« aus 2005 z.B., das sicher auch ein Stück Hammerhøjsches Interieur beinhaltet, aber in seiner Abstraktion und Verdichtung darüber hinaus führt. »Becher« z.B., um auf die Inspirationsfrage zurückzukommen, ist eine Augenblicksinspiration vor dem inneren Auge, die Schwierigkeit bei der Realisierung war es, meinen emotionalen Kontext zu dem Bild darzustellen, die Vorstellung, auf einer Parkbank zu sitzen, am Ende der Welt, im Dämmerlicht, die Restwärme verflüchtigt sich, unterwegs in Richtung Entropie. Du hast Dich in erster Linie Interieurs verschrieben. Wie kam es zu dieser Konzentration auf den Innenraum? Manchmal erscheinen die inszenierte Raumausschnitte als narratives Set wie z.B. Bei »Eissturm« »CCP« 2000 und »JI« 2002, worin bewusst gesetzte Objekte wie Spuren eine Geschichte erzählen. Meist treten – wie bei Stilleben - die Objekte und neuerdings auch menschliche Figuren in den Vordergrund: darin wird der Raum auf eine Raumecke oder eine Wand oder ein Boden (als Hinterund Untergrund eines Objektes) reduziert. Die Interieurs sind zur Zeit nicht so sehr Thema in meiner Arbeit, ich habe mich im letzten Jahr mit Objektbildern, Menschendarstellungen und Außenbildern befasst. »Eissturm« und »Ji« sind Einstellungen aus zwei Filmen, »The Ice Storm« von Ang Lee und »Yi-Yi« von Edward Yang, die ich aus dem Gedächtnis nachgestellt habe. Daher die Nachklänge von narrativen Strukturen. Dabei ging es mir natürlich mehr um Darstellung emotionaler Referenzen als um eine Reproduktion. Bei »Tank« von 2003 tritt eine Architektur aus der Sicht des Außenraumes in deinen künstlerischen Fokus. In dem Film »Abwärts« hast Du darüberhinaus den Ausschnitt einer virtuellen Stadt konstruiert, die durch eine inszenierte Kamerafahrt erschlossen wird und mit der abstrakten Auflösung des Stadtraumes endet. Beginnt dich zunehmend auch der Außenraum zu interessieren? Tank ist nicht das erste Aussenbild. Es gibt einige Vorläufer, die »Meeresoberflächen« von 1994/95 und auch »BadD« von 1998. Was mir an Interieurs gefällt, ist die Konzentration auf das Wesentliche, die durch den begrenzten Radius entsteht. Das Betrachterauge kann 150

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sich nicht in der Ferne verlieren, weil die Ferne nicht sichtbar ist. In diesem Sinne ist auch Tank ein Interieur, da der Außenraum zwar vorhanden, aber nicht sichtbar ist. Das Raummodell in »Abwärts« ist nicht vom Außenraum umschlossen, sondern vom Nichts, einer grauen Wand, die erst Farbe und dann Form schluckt, je näher man ihr kommt. Die Umsetzung deiner virtuellen Räume basiert auf einer Medientechnik, deren Parameter sich von Produkt- zu Produktgeneration wandeln. Wie gestaltet sich für Dich als Künstler der Umgang mit solch einem vergleichsweise unsteten medientechnischen a priori? Angefangen habe ich auf Presenter Pro, einem Programm, das es schon lange nicht mehr gibt. Danach entstanden die Zellbilder, die ich auf Strato Studio Pro, meiner ersten eigenen Software, gemacht habe. Zu dieser Zeit entdeckte ich Pixar’s MacRenderman und Showplace, die schon damals einige Features hatten, die man noch heute vergeblich bei vielen Programmen sucht. Nach dem Kinoerfolg von »Toy Story« wurde leider die Pflege der Software für den Consumermarkt eingestellt. Glücklicherweise hat sich etwa gleichzeitig FormZ, mein damaliges Modelling Programm, eine Renderengine zugelegt, die mir ziemlich gut gefiel. Auf diesem Programm sind dann die ersten Interieurs entstanden. Heute arbeite ich mit verschiedenen Programmen, die ich je nach Aufgabe einsetze. Manchmal mache ich Tests zu einer Bildidee in verschiedenen Programmen und verwende dann das, mit dem sich die Arbeit am besten umsetzen lässt. Jedes Programm hat seine Stärken und Schwächen. Könntest du ein Beispiel nennen? Da fällt mir der Flokati ein, den ich in einem Bild realisieren wollte. Das war wirklich schwierig, Haare sind ja sowieso ein Problem. Es funktionierte dann in Maya, wobei ich die Gesamtansicht des bildfüllenden Teppichs aus den Renderings von neun verschiedenen Kameras zusammensetzen musste. Maya ist ja ein Programm, dass hauptsächlich für Animationen gedacht ist, also für Bildformat um die 2 000 Pixel. Wenn der Renderer den Teppich mit einer Auflösung von 10 000 Pixeln schultern sollte, ist er regelmäßig gecrashed, bis ich die Auflösung auf 3000 runtergedreht hatte. Also musste ich das Blickfeld mit 3 × 3 Kameras rendern und dann in Photoshop zusammensetzen. Du könntest mit einer Arbeit endlos fortfahren. Ist es schwierig zu sagen: nun ist das Bild fertig? 151

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Der Zeitpunkt, an dem ein Bild fertig ist, ist schon eine Weile vorher erkennbar. Das fühlt sich in etwa an, wie wenn man auf eine Art Gleichgewicht hinarbeitet. Irgendwann steht das Bild dann, und wenn jede weitere Veränderung eine Verschlechterung bedeutet, ist das Bild fertig. Wie lange arbeitest du an einem Bild? Und wie langwierig ist heute die benötigte Rechenzeit? Die Produktionszeit eines Bildes beträgt ca. ein bis drei Wochen. Während dieser Zeit ist meine kleine »Renderfarm« dann auch meistens beschäftigt, nicht alle Rechner gleichzeitig, aber in der Regel mindestens einer. Früher waren die Produktionszeiten teilweise deutlich länger. Das hat mit weniger Rechnerkapazität und auch mit mangelnder Erfahrung zu tun. Sind die Auszeiten der Rechenprozesse für dich eine Störung oder Hemmnis? Du wirst ja gewissermaßen getaktet, regelrecht stillgelegt. Diese Unterbrechungen im künstlerischen Prozess sind allerdings kein neues Phänomen in der Kunst, das gab es bereits in der Ölmalerei, wo anstelle der Rechenzeiten die Trocknungszeiten traten. Genau. Diese Wartepausen sind nicht übel, sie geben immer wieder Abstand. Besonders für mich, der ich einen Hang habe, mich in Probleme zu verrennen. Wenn der Rechner arbeitet, habe ich Pause, schlafe drüber und morgens ist vielleicht eine Lösung in Sicht. Im Grunde habe ich keine Eile, weil ich pro Jahr nur ein bestimmtes Bilderkontingent habe. Zwölf Bilder sind schon viel, manchmal sind es auch nur acht. Natürlich gibt es immer noch ein paar angefangene Arbeiten, die dann durch die Qualitätskontrolle fallen, aber heute nicht mehr so viele wie früher. Tatsächlich ist es beruhigender, während der Arbeit an einem Bild eine Pause einzulegen, als diese Leere zwischen zwei Bildern auszuhalten, mit der Frage: Kommt nochmal ein Bild oder wird dir nie wieder eins einfallen? Das ist ein bißchen wie die Paranoia des Schriftstellers vor dem weissen Blatt. – Wie weit geht deine Beschäftigung mit dem Medium selbst? Setzt du dich auch theoretisch mit der Beschaffenheit des digitalen Bildes auseinander, d.h. der Materialität, bzw. der Immaterialität eines aus Datenmengen konstituierten Bildes? Ist die medientechnische Frage, ob es digitale Bilder gibt oder nicht, für dich relevant? Nichts gegen Theorie, die gedankliche Verarbeitung in theoretischer Form ist ein wichtiger Faktor für Zuordnung und Vertiefung, 152

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Abb. 1: Nebelmeer, 1995 (Lambda C-Print, 90 × 120)

Abb. 2: NachtbadC, 1996 (Lambda C-Print, 90 × 120)

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Abb. 3: Duschraum, 1997 (Lambda C-Print, 90 × 120)

Abb. 4: Fensterraum, 1998 (Lambda C-Print, 90 × 120)

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Abb. 5: Wartesaal, 1998 (Lambda C-Print, 90 × 120)

Abb. 6: Solitaire, 2003 (Lambda C-Print, 90 × 120)

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Abb. 7: Twist, 2005 (Lambda C-Print, 90 × 120)

Abb. 8: Comsit, 2006 (Lambda C-Print, 90 × 120)

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aber zu guter Kunst sollte auch ein direkter emotionaler Zugang möglich sein, der ohne theoretische Vorbildung funktioniert. Tatsächlich ist für mich persönlich diese primäre Kontaktform meist ausschlaggebend, ob mir eine Arbeit zusagt oder nicht. Die Problematik des aus Daten bestehenden Bildes stellt sich entsprechend so nicht für mich. Reizvoll finde ich in diesem Zusammenhang allerdings, dass das Bild in seiner Reinform nicht sichtbar ist. Das heißt, es existiert als Einsen und Nullen im Rechner oder auf CD und wird durch jede Darstellung, ob auf dem Bildschirm oder als Fotoprint, bereits verfremdet. Der Reiz daran ist, dass ich fotorealistische Bilder, die eine Referenz zu meinem emotionalen Gedächtnis haben, wirklich von Grundauf selbst konfigurieren kann. Anders ist es bei der Fotografie, die auf ein Finden angewiesen ist, um diese Referenz zu erzeugen. Bei mir entstehen die Bildideen vor einem inneren Auge aus real vorhandenen oder vorgestellten Bilder, die erst nach einem subjektiven Umbau realisiert werden. Fotografisch gäbe es keinen Weg mehr, an diese Bilder heranzukommen. Das ist nur in der Malerei möglich, deswegen ist für mich auch die Malerei eher das Referenzmedium als die Fotografie, auch wenn sich hier die Ergebnisse ähnlicher sehen. Die aktuelle Frage nach der Konstitution eines Bildes ist ja nicht nur eine medientechnische, sondern auch eine kunsthistorische. Gerade die Kunstwissenschaft hat sich lange gesträubt, Computerbilder als Kunst und entsprechend als wissenschaftliche Objekte in der eigenen Disziplin zu akzeptieren. 1965, mit der ersten Ausstellung von Computergrafiken von Frieder Nake, Michael Noll und Georg Nees in Stuttgart, entzündete sich bereits ein Streit über den Status dieser Bilder. Und auch heute, 40 Jahre nach dem Computerbilder erstmalig als Kunst in Erscheinung traten, müssen sie noch ihren Status als Kunst behaupten. Die Vorbehalte, mit denen 3D-CG am Kunstmarkt konfrontiert wird, ähneln den Vorurteilen, mit denen sich die Fotografie bis vor 30 Jahren konfrontiert sah. Einem Medium, das für breite Anwendung in Unterhaltung, Werbung und Marketing steht, haftet in der Kunstwelt eben der Makel des Künstlichen, Illusionären an. Interessant ist die Frage, wie sich die etablierten Medien unter dem Einfluss von 3D-CG verändern werden. Denn an den Auswirkungen, die die Entdeckung der Fotografie auf die Malerei hatte, kann man sehen wie vehement sich solche Einflüsse auswirken können. Tatsächlich bewirkte die Fotografie eine Befreiung der Malerei. Wenn man sich die nachfolgende Belebung der Malerei mit ihren zahlreichen 157

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Richtungen, den »ismen«, ansieht, stellt man fest, dass ihr nichts besseres hätte passieren können. Die Diskussion um den Status entzündet sich auch an der Frage nach der Wertigkeit gekoppelt an Materialität, oder an der Frage nach der Autorenschaft gekoppelt an den Herstellungsprozess. Deine Arbeitsweise widerlegt genau genommen diese Vorbehalte, da sie sich strukturell oder auch konzeptionell tatsächlich nicht verändert hat; Zur Vorbereitung deiner Installationen hast du spezifische Handwerkstechniken an die entsprechenden Handwerker delegiert, nun delegierst du spezifische Operationen an den Rechner. Beide versuchen ihre jeweiligen Aufgaben mehr oder weniger exakt nach deinen Vorgaben auszuführen. Ja, die Vorbehalte, die dem mit Rechnerhilfe erstellten Bild entgegengebracht werden, sind nicht konsequent und reflektieren diffuse Vorurteile. Man kann 3D-CG als Werkzeug, z.B. wie Ölmalerei, Bildhauerei oder Fotografie sehen. Bei diesen Medien käme keiner auf die Idee, dass ein gutes Bild ohne entsprechende Fähigkeiten des Künstlers zustande käme. Bei 3D-CG herrscht auf Grund mangelnder Informationen die Vorstellung, dass das Bild sich sozusagen von alleine errechnet, das ist natürlich Humbug. Die andere Sichtweise ist, dass eine Aufgabe an den Rechner abgegeben wird, und damit befindet man sich in der Kunst nach 1950 in bester Gesellschaft. Auslagerung von Produktionsprozessen ist dort allenthalben zu beobachten. Wenn ich für meine Installationen Ende der 80er ein ausgestopftes Tier gebraucht habe, bin ich natürlich zu einem Präparator gegangen und habe es nicht selbst gemacht. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass die fertige Arbeit nicht von mir wäre. Tatsächlich ist der Produktionsprozess bei 3D-CG viel mehr in meiner Hand als vorher. Du baust deine imaginierten Räume als virtuelle Modelle mit einem variierenden Set an Programmen. Hattest du nie das Bedürfnis eigene tools zu erstellen? Ich hätte es schon gebrauchen können, doch Programmieren ist eine eigene Welt, die ich nie beschritten habe. Ich brauche ein interface… Was sind für dich die ästhetische Besonderheiten der digitalen Bildproduktion, welche Bedeutung hat die Arbeit mit dem Computer für deine Bildsprache: Ist es eher ein poetischer Reiz, oder auch ein technischer 158

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Reiz der deine Inszenierungen motiviert? Z.B. auch die Herausforderung eine möglichst fotorealistische Darstellung technisch zu bewältigen? Am Anfang war sicher das Ausloten des technisch Möglichen ein zentraler Aspekt. Diese glänzenden Oberflächen boten einen Reiz herauszufinden was geht, jedoch nicht nur in technischer Hinsicht: Es war auch ein Spiel mit Spiegelungen, die nicht stimmig sind, das fehlen eines Betrachterstandpunktes, usw. Computerkunst ist immer auch ein Auskundschaften des Mediums, der Techniken, die Dinge über die man stolpert… … über die man stolpert? Ja, Du beschreitest das Medium und gewisse Dinge liegen Dir einfach im Weg. Du kannst zwar sagen du lässt sie links liegen, aber ich kenne eigentlich niemanden, der das getan hat. Es ist vergleichbar mit dem Zeichnen: denke an die Renaissancemaler, wie sie mit Rötel umgegangen sind, d.h. wie sie mit Schattierungen Räumlichkeiten herstellten. Das ist etwas, was in dem Medium verborgen ist. Wenn du eine klassische Malerei- und Zeichenausbildung hast, dann musst Du die spezifischen Techniken erlernen. Das hat eine gewisse Faszination und eine Weile malst du dann so, bis dich der Weg weiter führt. Das bestätigt Nietzsches Aussage, dass das Schreibzeug an den Gedanken mitschreibt. Auf die Bildkunst im allgemeinen und die Computerkunst im Besonderen übertragen heißt das, dass das Medium an den Sujets, an den Bildinhalten mitschreibt. Ja, absolut! Gerade im Umgang mit 3D-Software. Die Software ist immer für bestimmte Zwecke gebaut. Architektur ist ein Thema, oder auch Wasser, das alle Rendering-Programme realisieren können müssen. Chronologisch betrachtet hast du der Reihe nach bestimmte Sujets bzw. spezifische Effekte intensiv bearbeitet. Mitte der 90er waren es häufig Wasseroberflächen und andere spiegelnde Flächen (Glas, Fliesen, etc.), Ende der 90er war der Umgang mit artifiziellen Lichtquellen (vom Fernseher, über reflektierende Wände bis hin zu diversen Lampen) offenkundig und ab 2002 trat vermehrt das Objekt in den Vordergrund, ganz aktuell der menschliche Körper. D.h. die Themen stehen auch in einem Abhängigkeitsverhältnis mit dem Vermögen des Programms, mit der verfügbaren Rechnerleistung. Z.B. die Darstellung von Haut und Haaren ist derzeit eine aktuelle technische Herausforderung in der Computergrafik. 159

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Wurden bestimmte Sujets in dem Moment interessant für dich, in dem es möglich wurde, Effekte wie z.B. die Spiegelungen adäquat darzustellen oder auch uninteressant, als deren Darstellung softwarespezifisch trivial wurde? Ja und nein. Mich interessiert das, was mich interessiert: Ich gehe von einem Thema, von einem Bildsujet zum Anderen. Manchmal gibt es Schlüsselbilder, die Wechsel initiieren, weil ich zufällig in einem Bild über etwas stolpere, das eine neue Faszination für eine Kette von Bilder auslösen kann. Ich arbeitete an einem Thema, bis ich dazu keine Lust mehr hatte und das Gebiet für mich künstlerischästhetisch erforscht war. Damit setzte natürlich auch eine technische Erforschung ein. Heute gibt es viele Methoden um fotorealistische Bilder zu machen. Als ich begann, waren die Möglichkeiten wesentlich reduzierter. Diese Arbeit hat vor allem mit Wissen zu tun, d.h. auch mit Erinnerung und Erfahrung. Bei einer Software, in der man alles einstellen kann, muss man ein klares Bild vor sich haben. Wie ein Maler auch: er muss wissen, wie er seine Lichter korrekt ins Bild setzt, damit es stimmig ist. Die neueren Programmarchitekturen machen einem die Umsetzung heute wesentlich leichter, weil sie bspw. indirekte Beleuchtung wesentlich besser realisieren. Zur Zeit experimentiere ich mit Menschen, was mich schon immer interessiert hat, denn die Anatomie liegt mir natürlich schon als Mediziner nahe. Vernünftige Menschendarstellungen sind ja erst seit zwei bis drei Jahren in der Computergrafik möglich. Das war keine Frage der räumlichen Zusammensetzung, sondern ein Problem bezüglich der Texturen. Die Umrisse einer Hand kann man bspw. schon seit langem relativ gut darstellen, aber die kleinen Leberflecken und feinen Haare und die rote Stelle hier auf dem Knöchel …das ist schon verflixt schwierig. Früher hat mir diese Möglichkeit streckenweise ziemlich gefehlt. Ich habe mir dann mit der Implantation von Fotos beholfen, das war aber nicht zufriedenstellend, eine Mogelei. Erst seit kurzem gibt es spezielle Shader für eine realistische Hautdarstellung, d.h. einen anständigen Standard. Entsprechend machte es zuvor keinen Sinn an diesem Thema festzuhalten, sondern man muss sich dann einfach neu orientieren. Interessanterweise scheint die Installation von Menschenbildern in meinen Interieurs nicht stattzufinden, obwohl ich mehrere Versuche unternommen habe. Tatsächlich finden die menschlichen Figuren ein eigenes Betätigungsfeld in den neuen Filmen, die ich mache.

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Es ist eine Arbeit, die sich immer auch an den Grenzen des technisch Möglichen bewegt. Anfang der neunziger Jahre, als du mit Computerrenderings angefangen hast, markierte bezeichnenderweise die Darstellung von Wasser und von Spiegelungen eine Grenze der Software. So war die Darstellung deiner imaginierten Bildwelten, nicht nur eine Herausforderung für dich, sondern auch für das Programm. Ja genau, auch für das Programm, das bewerkstelligen musste, solche Bilder gut zu liefern. Damals war es noch nicht so leicht, fotorealistische Bilder zu machen. Die ganzen Strahlenverfolgungen beispielsweise… Wasseroberflächen sind diesbezüglich sehr interessant, denn sie haben eine Brechung, sie haben eine Eigenfarbe, eine Reflexionsfarbe und so etwas wie Fresneleffekte. Es geht bei meiner Arbeit heute nicht mehr so sehr um eine Forschung an den Grenzen der fotorealistischen Darstellungsmöglichkeiten in Bezug auf Hardware/Software, wie das früher eine Rolle gespielt hat, diese Frage »krieg ich‘s hin oder nicht«. Aber auch früher waren die Bildsujets weniger von der technischen Herausforderung abhängig, sondern davon, was mich interessiert hat, wo der Scheinwerfer meiner Aufmerksamkeit hingefallen ist. Das war meist der häusliche Bereich, daher die ganzen Interieurs. Dabei hat mich vor allem die Verdichtung einer Situation interessiert. Oft lief das darauf hinaus, die Bilder durch Weglassen zu optimieren. Am Anfang standen bei diesen Arbeiten mehrere Gegenstände auf einem Set herum und am Ende nur noch einer, aber der stand eben genau richtig. Diesem Spiel der Optimierung, der Verdichtung einer Situation durch Reduktion, das manchmal eine Woche oder länger dauert und das früher noch viel länger gedauert hat, gilt mein künstlerisches Hauptinteresse bei den Standbildern. Dies ist auch für mich das Einmalige an dem Medium 3D-Computergrafik, diese unendlichen Möglichkeiten des Tüftelns. Bei der Malerei, die ich meiner 3D-Technik als relativ ähnlich empfinde, ist das Bild nach einer bestimmten Anzahl von Übermalungen und Verbesserungen einfach kaputt. Wenn ich bei 3D-CG in eine Sackgasse gerate, gehe ich einfach zwei Stufen in der Dateihierarchie zurück (die ich dazu natürlich abgespeichert haben muss) und starte einen neuen Versuch, wenn ich mich mal verlaufen habe. Für dich ist die Technik also ein Werkzeug, ein ständiger Schatten gewissermaßen, aber keine vordergründige Quelle der Inspiration oder gar ein Thema per se… Interessant ist, dass sich in deiner Arbeit zweierlei 161

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Arbeitsweisen und auch Dimensionalitäten verbinden: Du erstellst ein Bild und baust zugleich ein Modell. Ja es ist beides, sowohl Bilderstellung als auch Modellbau. Früher hatte ich da ein sehr konsequentes Verfahren. Meine Bilder waren entweder nur in Gedanken entstanden, oder, wenn ich eine Anregung aus der Realität aufgriff, musste ich das Bild durch einen längeren Umbau in meiner Phantasie assimilieren. Es war eine Mischung aus Vergessen und subjektivem Erinnern. In diesem Sinne habe ich damals mögliche Sujets nie fotografiert, weil das Foto den Assimilationsprozess gestört hätte. Heute habe ich an diesem Punkt mehr Freiheit gewonnen. An einem Urlaubsort zum Beispiel, mache ich einen Schnappschuss von einer Autobahnbeleuchtung und setze sie direkt nach der Rückkehr um, um die Arbeit danach mit der Vorlage zu vergleichen. Das heißt nicht, dass ich die alte Methodik aufgegeben habe, es ist mehr eine Erweiterung des Spektrums. – In deinen Bildwelten treten häufig Irritationen auf: Fehlende Spiegelungen, diffuse Lichtquellen etc. Es sind subtile Störungen, die zumeist nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, doch unterschwellig immer eine surreale Komponente ins Bild schleusen. Sind das bewusst inhaltliche Irritationen, oder gar visuelle Nebeneffekte eines künstlerischen Prozesses im Rahmen der digitalen Bildproduktion? Viele der Irritationen in der 3-DCG-Welt sind medienspezifisch. Wenn ich z.B. ein Bild mit einem Spiegel rendere und der Betrachter oder Fotograf im Spiegel sichtbar sein müsste, ist da nichts. Der sichtbare Fotograf müsste also extra installiert werden, ganz nette Idee übrigens, sollte man vielleicht zur Verfremdung mal ausprobieren. Ebenfalls nicht sichtbar ist die Lichtquelle, sondern nur ihre Auswirkungen. Ich habe mal ein Schwimmbadbild in verschiedenen Fassungen gemacht, wobei ich damit begann, eine realistische Situation der Unterwasserbeleuchtung nachzubauen, mit drei Leuchten, Reflektoren und Verglasung. In der weiteren Entwicklung wurde die Beleuchtung immer einfacher, bis am Ende ein einziges Punktlicht im Wasser schwebte, nur durch seine Beleuchtung des Beckens auf das Bild wirkend. Diese Konstruktion hat die Bildidee am klarsten wiedergegeben, natürlich ist da auch ein bißchen medienspezifische Irritation dabei, aber die ist eher sekundär. Irritation um ihrer selbst willen ist für mich uninteressant. Tatsächlich interessiert mich bei 3D-CG das Abstraktionspotential, das zu einer Verdichtung des Bildinhaltes führt. Ein flüchtiger Augenblick wird so lange analysiert, 162

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verstärkt und verdichtet, bis er für eine Ewigkeit ausreicht, darum geht es in den Stills. An diesen Beispielen kann man sehen, dass visuelle Irritationen in 3D-CG häufig von einer vereinfachten Weltsicht herrühren. Die Generation des Bildes erfolgt mit Algorithmen, die die Realität vereinfachen müssen, sonst würde das Bild nie fertig werden, aber diese Vereinfachungen haben einen eigenen Reiz, man muss, wie überall in der Kunst, mit dem Medium arbeiten, um das Optimale rauszuholen, das heißt, die medienimmanenten Stärken und Schwächen für die eigenen Absichten nutzen. Ein schönes Beispiel für das simplifizierte Abbildungsmodell der Renderengine ist das Raytracing-Verfahren. Dabei wird ein Sehstrahl von der Bildebene bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt. Wenn man also, sagen wir mal, einen schwimmenden Ball von unter der Wasseroberfläche in einem Schwimmbad betrachtet, sieht man den ins Wasser getauchte Teil des Balles unverzerrt direkt durch das Wasser. Den oberen Teil sieht man durch die brechende Grenzfläche Wasser/Luft dazwischen verzerrt, die wiederum abhängig von dem Einfallswinkel eine variable Reflektion aufweist, also die Poolfliesen mehr oder weniger stark spiegelt. Klingt kompliziert, was aber bei diesem Modell immer noch auf der Strecke bleibt, ist die indirekte Beleuchtung, die diffuse Verteilung des Lichtes im Schwimmbad, die Interaktion zwischen Wänden und Boden. Außerdem fehlt die Brechung des Lichtes selbst, das helle Linien auf den Poolboden zeichnet. Ein Nebeneffekt der Beschäftigung mit Computerbeleuchtungsmodellen ist eine neue Sicht der Realität, noch anders als bei Malerei und Fotografie; analytischer, modellhafter und distanzierter. Ein Spezifikum der gerenderten Bilder ist auch, dass die Oberflächen sehr clean sind. Schmutz ist Arbeit. Wenn Du eine Form der Verunreinigung suchst, dann musst Du Dir diese speziell erarbeiten, auch wenn es inzwischen Shader gibt, die das zum Teil für Dich abnehmen. D.h. der Raum entsteht zu allererst als ein sauberer Raum…. Du hast in den letzten Jahren auch vermehrt Filme gemacht. Was hat dich dazu bewegt? War es mehr die Neugier mit einem anderen Darstellungsformat zu arbeiten (das Medium bleibt ja gewissermaßen das gleiche) oder gab es ein konkretes künstlerisches Anliegen, das sich für dich nur mit dem Film bewältigen ließ? Was bietet dir z.b. die zeitbasierte Dimension des Filmes an künstlerischen Möglichkeiten in der Inszenierung deiner virtuellen Räume? 163

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Mein Interesse am Film beinhaltet, von der technischen Herausforderung mal abgesehen, zweierlei: erstens den Bildern eine dritte Dimension zu geben und sie dadurch anders erfahrbar zu machen, und zweitens die Dekonstruktion von Erzählstrukturen. Das Experiment mit narrativen Strukturen habe ich in meiner Theaterarbeit zwischen 1984 und 1990 entwickelt. 3-D-Animationen sind ein zeitaufwendiges, schwieriges Feld, auf dem ich noch viel lernen muss.

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Autorenverzeichnis

Eckhart Bauer ist Professor für Kunstsoziologie am Institut für Medienforschung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mitbegründer der Interduck, Kultureventmarketing GmbH (www. interduck.de). Konzeption und Realisation von Ausstellungen u.a. in der Kunsthalle Rotterdam, Weimar Kulturhauptstadt 1999 Ausstellungen (Auswahl): Duckomenta, Neuhardenberg 2004; Heute in der Ewigkeit, Inszenierung des alten Schlachthofs in Berlin; Overal is Duckstad, Kunsthalle Rotterdam; Labor 20, Weimar Kulturhauptstadt Europas 1999. Peter Bexte ist seit 2005 Gastprofessor im Studiengang Europäische Medienwissenschaft Potsdam. 1997 Promotion im Fach Kunstgeschichte. 1996-2000 Kurator der zentralen Abteilung in der Berliner Millenniumsausstellung (Gestaltung: Ken Adam). Forschungsinteressen: 17. Jahrhundert, Bild – Medium – Wahrnehmung. http:// home.arcor.de/peter_bexte Publikationen (Auswahl): »Zwischen-Räume: Kybernetik und Strukturalismus«, in: Topologien. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, S. Günzel (Hrsg.) Bielefeld 2007, S. 219-233; Denis Diderot. Schriften zur Kunst (Hrsg.), Berlin 2005; »Wolken über Las Vegas«, in: Archiv für Mediengeschichte, 5(2005), S. 131-137; »Augen wie Blindenhunde. Diderot im Salon«, in: H. Bredekamp, G. Werner (Hrsg.), Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch, 2/2 (2004), S.67-75; Blinde Seher. Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts (Hrsg.), Dresden 1999. Gero Gries ist seit vielen Jahren als Künstler tätig. In den achtziger Jahren Aufträge als Bühnenbildner und Regisseur am Theater. Seit 1984 zahlreiche Aktionen und Ausstellungen, seit 1994 künstleri165

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sche Arbeit mit dem Computer: Kompositionen virtueller Räume. Er studierte Medizin und ist als Arzt tätig. www.gerogries.com Ausstellungen (Auswahl): Digital Sunshine, Kunsthallen Brandts Klædefabrik, Odense 1999; pict, Kunststiftung Poll, Berlin 2000; natürlichkünstlich, Kunsthalle Rostock 2001; artificial life, Kunstverein Mannheim 2001; natürlichkünstlich, Haus am Waldsee Berlin 2001. Claus Pias ist seit 2006 Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Digitalen Medien. Er studierte Elektrotechnik, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie. 2003-05 Juniorprofessor für »Medientechnik und Medienphilosophie« an der Universität Bochum und Vertretungsprofessur für »Kommunikationstheorie und elektronische Medien« an der Universität Essen. 2002/03 Kollegiat der Alcatel/SEL-Stiftung, seit 2001 Mitglied der Jungen Akademie der Wissenschaften. Publikationen (Auswahl): Herman Kahn – Szenarien für den Kalten Krieg (Hrsg.), Zürich 2007; Escape. Computerspiele als Kulturtechnik (Hrsg. mit C. Holtorf), Köln/Wien 2007; Die Zukünfte des Computers (Hrsg.), Zürich 2004; Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946-1953 (Hrsg.), Berlin 2003; Computer Spiel Welten, München 2002; Kursbuch Medienkultur (Hrsg. mit J. Vogl, L. Engell), Stuttgart 4. Aufl. 2002. Kirsten Wagner ist seit 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin im SFB »Kulturen des Performativen«; Mitglied im Wissenschaftlichen Netzwerk »Räume der Stadt. Perspektiven einer kunstgeschichtlichen Raumforschung«. Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Soziologie. 1997-98 Künstlerische Leiterin des Oldenburger Kunstvereins. Dissertation zur Verräumlichung des Wissens in der Computermoderne. Publikationen (Auswahl): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung (Hrsg. mit C. Lechtermann, H. Wenzel), Berlin 2007; Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Zur Verräumlichung des Wissens und Denkens in der Computermoderne, Freiburg i. Br./ Berlin 2006; Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt, Themenheft 1 von Wolkenkuckucksheim (Hrsg. mit C. Jöchner), Cottbus 2004; »Computergrafik und Informationsvisualisierung als Medien visueller Erkenntnis« in: Embedded Pictures. Krise des Bildes – Krise der Wahrnehmung, M. Deppner (Hrsg.), Bielefeld 2004, S. 14-28. 166

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Martin Warnke ist seit 2004 Akademischer Direktor und Leiter des Rechen- und Medienzentrums der Universität Lüneburg. Mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung, Promotion zum Dr. rer. nat. Seit 1990 Mitbegründer der HyperKult; lehrt und forscht im Fach Kulturinformatik und arbeitet über den Zusammenhang zwischen Informatik und Kultur. Publikationen (Auswahl): »Virtualität und Interaktivität« in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, U. Pfisterer (Hrsg.), Weimar 2003, S. 369-372; »Bilder und Worte« in: Suchbilder, W. Ernst, S. Heidenreich, U. Holl (Hrsg.), Berlin 2003, S. 57-60; »Bildersuche« http:// kulturinformatik.uni-lueneburg.de/warnke/bildersuche.pdf, 2003; »Die Selbst-Archive der Anna Oppermann«, in: interarchive, (Hrsg.) mit C. Wedemeyer, Köln 2002, S. 354-358; HyperKult II – Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, (Hrsg. mit W. Coy, G.C. Tholen), Bielefeld 2005 Carmen Wedemeyer ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am BMBF-Projekt »HyperImage – Bildorientierte e-Science-Netzwerke« der Leuphana Universität Lüneburg. Studium der Angewandten Kulturwissenschaften. 1997-00 MA im Projekt »Hypermediale Bild-Text-Videoarchive zur Dokumentation komplexer Artefakte der Bildenden Kunst«. Seit 1998 Werkverzeichnis mit Bio- und Bibliographie zu Anna Oppermann (http://www.uni-lueneburg.de/ Anna_Oppermann). Publikationen (Auswahl): Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle, U. Schneede, M. Warnke (Hrsg.), DVD: mit C. Terstegge, M. Warnke, Hamburg 2004; Umarmungen…/Embraces – Anna Oppermann’s Ensemble »Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R.« Ein hypermediales Bild-Text-Archiv zu Ensemble + Werk, H. Hossmann, M. Warnke (Hrsg.) mit CD-ROM, Basel 1998. Annett Zinsmeister ist seit 2007 Professorin für Konzeptionelle Gestaltung und Experimentelles Entwerfen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Sie studierte Kunst, Architektur und Kulturtechnik, Diplom an der Hochschule der Künste Berlin. Seit 2000 Lehre an der TU Dresden, an der Bauhaus Universität Weimar. 2003-07 war sie Gastprofessorin an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und an der Bergischen Universität Wuppertal. Publikationen (Auswahl): Krieg und Stadt. A trip to Sarajevo (Hrsg.), Stuttgart erscheint 2008; constructing utopia. Konstruktionen künstlicher Welten (Hrsg.), Zürich/Berlin 2005; »Analogien im Digitalen. 167

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Architektur zwischen Messen und Zählen« in: Hyperkult II. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, W. Coy, M. Warnke, G.-C. Tholen (Hrsg.) Bielefeld 2005; »Lebens(t)raum im Bausatz« in: Neue Rundschau, Themenheft: Standards, Dezember 2004; Plattenbau oder die Kunst, Utopie im Baukasten zu warten (Hrsg.), Hagen 2002. Ausstellungen (Auswahl): Digital spaces, Galerie [DAM] Berlin 2007; Searching for an ideal urbanity, Akademie Schloß Solitude Stuttgart 2007; outside_in, Kunstraum Oberwelt Stuttgart 2005; Mediale Module, DGB Medienzentrum Hattingen 2004; night space/urban drift, Café Moskau, Berlin 2003; MUSEUTOPIA – Schritte in andere Welten, Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen 2002; urbane hybride, UIA XXI World Congress of Architecture Berlin 2002.

Bildnachweise Peter Bexte: Abb. 1: Das wandernde Bild. Der Filmpionier Guido Seeber, [Kat.] Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin 1979, S. 72; Abb. 2: B. Newhall: Airborne Camera, New York 1969, S. 55; Abb. 3: Babington-Smith: Air Spy, New York 1957, Abb. 34; Abb. 4: B. Newhall: Airborne Camera, New York 1969, S. 62; Abb. 5: ebenda, S. 104. Kirsten Wagner: Abb. 1: James Leftwich: The Architecture of Cyberspace, Paper presented at the Eight International Symposium of Electronic Arts, The Art Institute of Chicago, September 1997: http://www.well.com/user/jleft/orbit/vizrev/slides/3.html; Abb. 2: Cleveland Freenet (Screenshots); Abb. 3: Reinder Rustema: The Rise and Fall of DDS. Evaluating the Ambitions of Amsterdam`s Digital City, Ph.D. Thesis, Universiteit van Amsterdam, November 2001: http://reinder. rustema.nl/dds/rise_and_fall_dds.html; Abb. 4: Stewart Brand: The Media Lab: Inventing the Future at MIT, New York 1987; Abb. 5: ebenda; Abb. 6: Flavia Sparacino, Glorianna Davenport und Alex Pentland: City of News, 1997: http://alumni. media.mit.edu/~flavia/Papers/CityOfNews.htm; Abb. 7: George G. Robertson, Stuart K. Card und Jock Mackinlay: »Information Visualization Using 3D Interactive Animation«, in: Communications of the ACM, 35/4 (1993), S. 57-71.

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Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls März 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

Helge Meyer Schmerz als Bild Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art Januar 2008, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-868-1

Cora von Pape Kunstkleider Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts Januar 2008, ca. 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-825-4

Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum Mediale Inszenierungen Januar 2008, 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Januar 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-634-2

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Januar 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-420-1

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart Januar 2008, 402 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9

Laura Bieger Ästhetik der Immersion Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City November 2007, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-736-3

Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 November 2007, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-773-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 November 2007, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-615-1

Lutz Hieber, Dominik Schrage (Hg.) Technische Reproduzierbarkeit Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung Oktober 2007, 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-714-1

Gunnar Schmidt Ästhetik des Fadens Zur Medialisierung eines eines Materials in der Avantgardekunst Oktober 2007, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-800-1

Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments Oktober 2007, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-640-3

Christoph Lischka, Andrea Sick (eds.) Machines as Agency Artistic Perspectives September 2007, 198 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-646-5

Immacolata Amodeo Das Opernhafte Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa September 2007, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-693-9

Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.) »pathos« Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs August 2007, 206 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-698-4

Ramón Reichert Im Kino der Humanwissenschaften Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens August 2007, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-647-2

Jürgen Hasse Übersehene Räume Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses August 2007, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-775-2

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Heimat Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts August 2007, 202 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-711-0

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Kultur- und Medientheorie Stephan Günzel (Hg.) Topologie Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften August 2007, 332 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-710-3

Tara Forrest The Politics of Imagination Benjamin, Kracauer, Kluge August 2007, 198 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-681-6

Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen Juli 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-611-3

Thomas Hecken Theorien der Populärkultur Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies Juni 2007, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-544-4

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