Matthäus Kapitel 15-28: Historisch-Theologische Auslegung, HTA 9793765597336, 3765597333, 9783765597336

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Matthäus Kapitel 15-28: Historisch-Theologische Auslegung, HTA
 9793765597336, 3765597333, 9783765597336

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Abkürzungen
II. Fortgang des Ringens um Israel, 15,1- 16,20
1. Was ist rein und unrein? 15,1-20
2. Die kanaanäische Frau, 15,21-28
3. Weitere Heilungen am See Genezareth, 15,29-31
4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39
5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4
6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12
7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20
Exkurs: Zur Geschichtlichkeit von Mt 16,17-19
III. Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21-20,34
1. Erste Leidens- und Auferstehungsweissagung, 16,21
2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23
3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28
4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9
5. Die Frage nach Elia, 17,10-13
6. Die Heilung eines mondsüchtigen Jungen, 17,14-21
7. Zweite Leidens- und Auferstehungsweissagung, 17,22-23
8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27
9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35
Vorbemerkung
9.1 Wer der Größte ist, 18,1-5
9.2 Verführt meine Jünger nicht! 18,6-9
9.3 Verliert keinen meiner Jünger! 18,10-14
9.4 Grundregeln für die Gemeinde, 18,15-20
9.5 Vergebung in der Gemeinde, 18,21-35
10. Ereignisse in Peräa, 19,1-20,16
Vorbemerkung
10.1 Heilungen in Peräa, 19,1-2
10.2 Die Frage der Ehe und Ehescheidung, 19,3-12
10.3 Kindersegnung, 19,13-15
10.4 Der reiche Jüngling, 19,16-26
10.5 Der Lohn der Nachfolge, 19,27-30
Exkurs: Der Lohngedanke im Evangelium
10.6 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, 20,1-16
11. Auf dem Weg von Peräa nach Jerusalem, 20,17-34
11.1 Die dritteWeissagung von Leiden und Auferstehung, 20,17-19
11.2 Das Selbstverständnis Jesu von seinem Dienst, 20,20-28
11.3 Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho, 20,29-34
IV. Die Passion, 21,1-27,66
Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46
1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11
2. Jesus im Tempel, 21,12-17
3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22
4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27
5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28-22,14
Einleitung
5.1 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen, 21,28-32
5.2 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, 21,33-46
5.3 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl, 22,1-14
6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46
6.1 Die Frage der Steuer („Zinsgroschen“), 22,15-22
6.2 Die Frage nach der Auferstehung, 22,23-33
6.3 Die Frage nach dem größten Gebot, 22,34-40
6.4 Die Frage nach Davids Sohn, 22,41-46
7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39
Vorbemerkung
7.1 Lob der Schriftgelehrten und der Pharisäer, 23,1-2
7.2 Kritik an ihrer Praxis, 23,3-7
7.3 Wie die Schriftgelehrsamkeit der künftigen messianischen Gemeinde aussehen soll, 23,8-12
7.4 Siebenfaches Wehe über die zeitgenössischen Schriftgelehrten und Pharisäer, 23,13-33
7.5 Ankündigung der kommenden Propheten, Weisen und Schriftgelehrten, 23,34-36
7.6 Klage und endzeitliche Verheißung für Jerusalem, 23,37-39
8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1-25,46
8.1 Die Ankündigung vom Ende des Tempels, 24,1-2
8.2 Jesu Prophetie von der Zukunft, 24,3-31
8.3 Gleichnisse Jesu von der Wiederkunft, 24,32-25,46
Vorbemerkung
8.3.1 Das Gleichnis vom Feigenbaum, 24,32-36
8.3.2 Das Gleichnis von der Sintflut, 24,37-41
8.3.3 Das Gleichnis vom Dieb, 24,42-44
8.3.4 Das Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht, 24,45-51
8.3.5 Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, 25,1-13
8.3.6 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten, 25,14-30
8.3.7 Das Gleichnis vom allgemeinen Weltgericht, 25,31-46
Jesu Passion, 26,1-27,66
Vorbemerkung
1. Auf dem Weg zum Prozess, 26,1-46
1.1 Erneute Leidensweissagung, 26,1-2
1.2 Der Hinrichtungsbeschluss der jüdischen Behörden, 26,3-5
1.3 Die Salbung in Betanien, 26,6-13
1.4 Der Verrat des Judas, 26,14-16
1.5 Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, 26,17-30
1.6 Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus, 26,31-35
1.7 Gethsemane, 26,36-46
2. Der Prozess, 26,47-27,30
2.1 Die Gefangennahme Jesu, 26,47-56
2.2 Jesus vor dem Hohen Rat, 26,57-68
2.3 Verleugnung durch Petrus, 26,69-75
2.4 Die Überstellung an Pilatus, 27,1-2
2.5 Das Ende des Judas, 27,3-10
2.6 Die Verhandlung vor Pilatus, 27,11-25
2.7 Verurteilung und Verspottung, 27,26-30
3. Die Kreuzigung, 27,31-56
3.1 Der Weg zum Kreuz, 27,31-32
3.2 Die Kreuzigung, 27,33-56
4. Die Grablegung, 27,57-61
5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66
V. Die Auferstehung Jesu, 28,1-20
Vorbemerkung
1. Der Gang der Frauen zum Grab, 28,1
2. Das vorausgegangene Wunder am Grab, 28,2-4
3. Die Engelbotschaft an die Frauen, 28,5-8
4. Die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus, 28,9-10
5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15
6. Die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus, 28,16-17
7. Die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl, 28,18-20
Verzeichnisse
Ausgewählte Literatur
Ergänzende Literatur in Auswahl
Autorenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Citation preview

Historisch-Theologische Auslegung

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Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Rainer Riesner ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Eckhard J. Schnabel

Das Evangelium des Matthäus Kapitel 15–28

Gerhard Maier

SCM R.BROCKHAUS, WITTEN BRUNNEN VERLAG, GIESSEN

© 2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: agentur krauss GmbH, Herrenberg Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Gedruckt in Tschechien

SCM R.Brockhaus ISBN 948-3-417-29732-4 (SCM R.Brockhaus) Bestell-Nr. 229.732

ISBN 979-3-7655-9733-6 (Brunnen) Bestell-Nr. 229.733 Datenkonvertierung: Stephan Maier, Achern

INHALT

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was ist rein und unrein? 15,1-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kanaanäische Frau, 15,21-28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Heilungen am See Genezareth, 15,29-31 . . . . . . . . . . . . 4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4 . . . . . 6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20 Exkurs: Zur Geschichtlichkeit von Mt 16,17-19 . . . . . . . . . . .

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III. Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34 . . . . . . . . . 1. Erste Leidens- und Auferstehungsweissagung, 16,21 . . . 2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23 . . . . . . . . . . . . . . 3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28 . . . . . . . . . . . . . 4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Frage nach Elia, 17,10-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Heilung eines mondsüchtigen Jungen, 17,14-21 . . . . 7. Zweite Leidens- und Auferstehungsweissagung, 17,22-23 8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27 . . . . . . . . . . . . 9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35 . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Wer der Größte ist, 18,1-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Verführt meine Jünger nicht! 18,6-9 . . . . . . . . . . . . 9.3 Verliert keinen meiner Jünger! 18,10-14 . . . . . . . . . 9.4 Grundregeln für die Gemeinde, 18,15-20 . . . . . . . . . 9.5 Vergebung in der Gemeinde, 18,21-35 . . . . . . . . . . . 10. Ereignisse in Peräa, 19,1–20,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Heilungen in Peräa, 19,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Die Frage der Ehe und Ehescheidung, 19,3-12 . . . .

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10.3 Kindersegnung, 19,13-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Der reiche Jüngling, 19,16-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Der Lohn der Nachfolge, 19,27-30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Lohngedanke im Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, 20,1-16 . . . . . 11. Auf dem Weg von Peräa nach Jerusalem, 20,17-34 . . . . . . . . . . . . 11.1 Die dritte Weissagung von Leiden und Auferstehung, 20,17-19 11.2 Das Selbstverständnis Jesu von seinem Dienst, 20,20-28 . . . . 11.3 Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho, 20,29-34 . . . . . .

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IV. Die Passion, 21,1–27,66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jesus im Tempel, 21,12-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22 . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27 . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28–22,14 . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen, 21,28-32 . . . . . 5.2 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, 21,33-46 . . . . . 5.3 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl, 22,1-14 . . . 6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46 . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Frage der Steuer („Zinsgroschen“), 22,15-22 . . . . . . . . 6.2 Die Frage nach der Auferstehung, 22,23-33 . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Frage nach dem größten Gebot, 22,34-40 . . . . . . . . . . . 6.4 Die Frage nach Davids Sohn, 22,41-46 . . . . . . . . . . . . . . . 7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39 . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Lob der Schriftgelehrten und der Pharisäer, 23,1-2 . . . . . . . 7.2 Kritik an ihrer Praxis, 23,3-7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Wie die Schriftgelehrsamkeit der künftigen messianischen Gemeinde aussehen soll, 23,8-12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Siebenfaches Wehe über die zeitgenössischen Schriftgelehrten und Pharisäer, 23,13-33 . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Ankündigung der kommenden Propheten, Weisen und Schriftgelehrten, 23,34-36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Klage und endzeitliche Verheißung für Jerusalem, 23,37-39 .

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8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46 . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Ankündigung vom Ende des Tempels, 24,1-2 . . . . . . . . . 8.2 Jesu Prophetie von der Zukunft, 24,3-31 . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Gleichnisse Jesu von der Wiederkunft, 24,32–25,46 . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Das Gleichnis vom Feigenbaum, 24,32-36 . . . . . . . . . 8.3.2 Das Gleichnis von der Sintflut, 24,37-41 . . . . . . . . . . . 8.3.3 Das Gleichnis vom Dieb, 24,42-44 . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Das Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht, 24,45-51 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.5 Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, 25,1-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.6 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten, 25,14-30 8.3.7 Das Gleichnis vom allgemeinen Weltgericht, 25,31-46 . Jesu Passion, 26,1–27,66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auf dem Weg zum Prozess, 26,1-46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erneute Leidensweissagung, 26,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Hinrichtungsbeschluss der jüdischen Behörden, 26,3-5 1.3 Die Salbung in Betanien, 26,6-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Verrat des Judas, 26,14-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, 26,17-30 . . . . . . 1.6 Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus, 26,31-35 . . 1.7 Gethsemane, 26,36-46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Prozess, 26,47–27,30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Gefangennahme Jesu, 26,47-56 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Jesus vor dem Hohen Rat, 26,57-68 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verleugnung durch Petrus, 26,69-75 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Überstellung an Pilatus, 27,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Ende des Judas, 27,3-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Verhandlung vor Pilatus, 27,11-25 . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Verurteilung und Verspottung, 27,26-30 . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kreuzigung, 27,31-56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Weg zum Kreuz, 27,31-32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Kreuzigung, 27,33-56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Grablegung, 27,57-61 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die AuferstehungJesu, 28,1-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Gang der Frauen zum Grab, 28,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das vorausgegangene Wunder am Grab, 28,2-4 . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Engelbotschaft an die Frauen, 28,5-8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus, 28,9-10 . 5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15 . . . . . . . . . . . . . 6. Die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus, 28,16-17 7. Die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl, 28,18-20

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Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Literatur . . . . . . . . Ergänzende Literatur in Auswahl Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . Stichwortverzeichnis . . . . . . . . .

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Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegen-

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Vorwort der Herausgeber

wart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient. Landesbischof i. R. Dr. Gerhard Maier Dr. Heinz-Werner Neudorfer Prof. Dr. Rainer Riesner Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel

Abkürzungen

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Abkürzungen Bauer /Aland

BC BDR CAH GBL HTA ICC JSHRZ KD NTD RGG RNT ThHK ThWAT ThWNT UTB WA WMANT WStB WUNT ZBK ZNW

W. Bauer / K. Aland / B. Aland. Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Berlin 61988 Biblischer Commentar über das Alte Testament F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf. Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Göttingen 182001 Cambridge Ancient History Das große Bibellexikon Historisch Theologische Auslegung International Critical Commentary Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Kirchliche Dogmatik Das Neue Testament Deutsch Religion in Geschichte und Gegenwart Regensburger Neues Testament Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. v. G. Kittel / G. Friedrich. Stuttgart 1933–1979 Uni-Taschenbücher Weimarer Ausgabe: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Wissenschaftliche Monographien zum Alten und zum Neuen Testament Wuppertaler Studienbibel Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zürcher Bibelkommentar Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft

Abkürzungen biblischer Bücher: Gen, Ex, Lev, Num, Deut, Jos, Ri, Rut, 1Sam, 2Sam, 1Kön, 2Kön, 1Chron, 2Chron, Esr, Neh, Est, Hi, Ps, Spr, Koh, Hld, Jes, Jer, Klgl, Hes, Dan, Hos, Joel, Am, Obd, Jona, Mi, Nah, Hab, Zef, Hag, Sach, Mal Mt, Mk, Lk, Joh, Apg, Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1Thess, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit, Phlm, Hebr, Jak, 1Petr, 2Petr, 1Joh, 2Joh, 3Joh, Jud, Offb

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Abkürzungen

Sonstige Abkürzungen 4Esr Esra-Apokalypse 1Klem 1. Klemensbrief 2Klem 2. Klemensbrief 1Makk 1. Makkabäerbuch 2Makk 2. Makkabäerbuch 3Makk 3. Makkabäerbuch 1QH Qumran: Loblieder (Hodajot) 1QM Qumran: Kriegsrolle 1QS Qumran: Gemeinderegel 1QSa Qumran: Gemeinschaftsregel 1QSb Qumran: Segenssprüche 4Qflor Qumran: Florilegium 4Qpatr Qumran: Patriarchensegen a.a.O. am angegebenen Ort AdvHaer Irenäus: Adversus haereses / Gegen die Irrlehren Ann Tacitus: Die Annalen Ant Josephus: Antiquitates Judaicae / Jüdische Altertümer Aor. Aorist Apol Justinus: Apologia Ar Traktat: Arachin Art. Artikel äthHen Henochapokalypse (äth.) AZ Traktat: Aboda Zara b babylonischer Talmud Barn Barnabasbrief BB Traktat: Baba Batra Bell Josephus: De Bello Iudaico / Der jüdische Krieg Ber Traktat: Berakot BM Traktat: Baba Mezia BQ Traktat: Baba Qamma CA Confessio Augustana CAp Josephus: Contra Apionem CD Damaskusschrift Chag Traktat: Chagiga Comm Kommentar DCD Augustinus: De Civitate Dei / Vom Gottesstaat Dial c Tryph Justin: Dialogus cum Tryphone Judaeo / Dialog mit dem Juden Tryphon

Abkürzungen

Did dur. EG Erub ETF EvThom Flacc georg. HebrEv Herm (m v) Hist Hist HistEccl Hor HS(S) IgnEph IgnMagn IgnSm IgnTrall Impf. j Jad Jeb Jh.(s) Jub Ker Ket Leg Leg ad Gai LXX M. MartPol Meg Men Midr Qoh MS(S) MT MtEv

Didache / Zwölfapostellehre durativum Evangelisches Gesangbuch Traktat: Erubin Evangelisch-Theologische Fakultät Thomas-Evangelium Philo: In Flaccum Vergil(ius): georgica, Ländliche Gedichte Hebräer-Evangelium (Hirt des) Hermas (mandata, visiones) Herodot: Historien Tacitus: Die Historien Eusebius, Historia Ecclesiae / Geschichte der Kirche Traktat: Horajot Handschrift(en) Ignatius: An die Epheser Ignatius: An die Magnesier Ignatius: An die Smyrnäer Ignatius: An die Trallier Imperfekt jerusalemischer Talmud Traktat: Jadajim Traktat: Jebamot Jahrhundert(s) Jubiläenbuch Traktat: Keritot Traktat: Ketubbot Philo: Legum allegoriae, Allegorische Erklärung der Gesetze Philo: Legatio ad Gaium, Gesandtschaft an Gajus Septuaginta Mischna Martyrium des Polycarp Traktat: Megilla Traktat: Menuchot Midrasch Qohelet Manuskript(e) Masoretischer Text Matthäusevangelium

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12 Nat Ned Nid p P. Abot P. REI pa(r)r. Pass. passim Pes Polyc Prov. PsSal Qid s. S. Sanh Sat Schab Scheq Sir Sus syrApkBar Taan TestAss TestDan TestJos Texte KV Tob u.Ä. usf. Vita Weish Zeb z.St.

Abkürzungen

Plinius: naturalis historia, Naturgeschichte Traktat: Nedarim Traktat: Nidda Papyrus Pirqe Abot / Sprüche der Väter Pirqe Rabbi Eliezer: Prag 1784 und die Parallelpassage(n) in den anderen Evangelien Passiv durchgängig Traktat: Pesachim Brief des Polykarp Provinz Psalmen Salomos Traktat: Qidduschin siehe Seite Traktat: Sanhedrin Juvenal: Satiren Traktat: Schabbat Traktat: Scheqalim Jesus Sirach Susanna Baruchapokalypse (syr.) Traktat: Taanit Testament der 12 Patriarchen: Asser Testament der 12 Patriarchen: Dan Testament der 12 Patriarchen: Josef Texte der Kirchenväter Buch Tobit/Tobias und Ähnliche(s) und so fort Josephus: Josephi vita, Aus meinem Leben Weisheit Salomos Traktat: Zebachim zur Stelle

Weitere Abkürzungen sind S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin 21992, 32014), zu entnehmen.

1. Was ist rein und unrein? 15,1-20

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20 1. Was ist rein und unrein? 15,1-20 I Übersetzung 1 Damals kommen Pharisäer und Schriftgelehrte von Jerusalem zu Jesus und stellen die Frage: 2 Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten? Denn sie waschen die Hände nicht, wenn sie Brote essen. 3 Er aber gab ihnen zur Antwort: Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? 4 Denn Gott hat gesagt: Ehre Vater und Mutter!, und: Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben. 5 Ihr aber sagt: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Ich bestimme zum Opfer, was dir von mir zusteht, 6 der braucht seinen Vater nicht zu ehren, und habt auf diese Weise das Wort Gottes um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt. 7 Ihr Heuchler! Ganz richtig hat Jesaja über euch geweissagt, wenn er spricht: 8 Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir. 9 Vergeblich dienen sie mir, indem sie Menschengebote als ihre Lehren verkündigen. 10 Und er rief die Menge zu sich und sagte zu ihnen: Hört und versteht! 11 Nicht was zum Mund hineingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund hervorgeht, das verunreinigt den Menschen. 12 Da kamen die Jünger zu ihm und sagten: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß nahmen, als sie dein Wort hörten? 13 Er aber antwortete und sagte: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. 14 Lasst sie! Sie sind blinde Blindenführer. Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in die Grube fallen. 15 Petrus aber nahm das Wort und sagte zu ihm: Erkläre uns das Gleichnis! 16 Er aber sagte: Seid auch ihr immer noch unverständig? 17 Versteht ihr nicht, dass alles, was zum Mund hineingeht, in den Bauch wandert und dann wieder ausgeschieden wird? 18 Was aber aus dem Mund hervorgeht, kommt aus dem Herzen, und das ist es, was den Menschen verunreinigt. 19 Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzuchthandlungen, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. 20 Das ist es, was den Menschen verunreinigt. Aber das Essen mit ungewaschenen Händen verunreinigt den Menschen nicht.1 1 Zur Übersetzung vgl. BDR § 399,1.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

II Struktur Mt 15,1-20 ist das erste ausführliche Streitgespräch im Matthäusevangelium.2 Seine Länge – die Hälfte des 15. Kapitels – überrascht. Vermutlich ist diese Länge doch ein Hinweis darauf, dass 15,1-20 für Matthäus einen Modellcharakter hatte. Es wird damals noch mehr solche oder ähnliche Streitgespräche gegeben haben. Die Initiative lag bei den Pharisäern und Schriftgelehrten. Sie stellen eine klare halachische Lehrfrage, die aber rasch ins Zentrum der Reinheitsvorschriften führt. Damit verbunden ist die Frage nach der Bedeutung der traditionellen jüdischen Überlieferung. Das Problem „Schrift und Tradition“ stellte sich schon damals. Im Aufbau ist Mt 15,1-20 trotz seiner Länge schnell durchsichtig: Am Anfang stellen Pharisäer und Schriftgelehrte ihre Frage (V. 1-2), Jesus beantwortet sie (V. 3-9), setzt dann das Thema in einer lehrhaften Verkündigung vor dem Volk fort (V. 10-11) und tritt schließlich in ein Lehrgespräch mit dem Jüngerkreis ein (V. 12-20). Auf Letzterem liegt offensichtlich der Hauptakzent des Abschnitts. Die Länge unseres Abschnitts hat zur Folge, dass hier „mehrere Anliegen“3 zur Sprache kommen, die alle zu würdigen sind.

III Einzelexegese Pharisäer und Schriftgelehrte erschienen schon in 5,20; 12,38 nebeneinander. Vermutlich sind solche Schriftgelehrte gemeint, die der pharisäischen Richtung angehörten. Für sie ist eine solche Fragestellung, wie sie uns in V. 2 begegnet, typisch. Damals (τότε [tote]) ist eine unbestimmte Zeitangabe. Matthäus ordnet das Geschehen von V. 1-20 nur ganz grob in jenen Mittelteil der Kämpfe und Auseinandersetzungen Jesu ein. Auffällig ist das Kommen von Jerusalem. Damit zeichnet sich ab, dass wir es mit einer Delegation zu tun haben, die evtl. vom Hohen Rat oder einem der Jerusalemer Lehrhäuser (vgl. Sir 51,31 = 51,23 LXX) entsandt wurde.4 Zahn nennt dieses Kommen von Jerusalem ein „vorgerücktes Stadium der Entwicklung“.5 In der Tat: Es muss eine Denunziation vorausgegangen sein, und man hat den Eindruck, dass sich jetzt eine Jerusalemer Front gegen Jesus bildet. Eine Zuspitzung liegt auch darin, dass die Jerusalemer nicht die Jünger befragen, sondern sich direkt an Jesus wenden. 2 3 4 5

Luz II 415: „sehr lang“. Luz II 416. Carson 348. Zahn 516. Vgl. jedoch Mk 3,22.

1. Was ist rein und unrein? 15,1-20

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Es bleibt eine offene Frage, ob die Jerusalemer Delegation nach Galiläa kam, um eine in Galiläa vermutete „heterodoxe“ Bewegung zu untersuchen und gegebenenfalls in die Schranken zu verweisen.6 Dass der Artikel vor „Pharisäern und Schriftgelehrten“ fehlt, ist wohl eine Andeutung in der Richtung, dass keineswegs alle Pharisäer und Schriftgelehrten an Jesus Kritik übten, sondern nur bestimmte Kreise.7 Bevor wir uns V. 2 zuwenden, müssen wir das Verhältnis zu Mk 7,1ff und Lk 11,37ff ins Auge fassen. Lk 11,37ff lässt sich sofort als ein Ereignis eigener Art, als ein Teil der Einladungsbegegnungen Jesu, erkennen. Als wirkliche Parallele kommt nur Mk 7,1ff in Betracht. Die Formulierungen sind jedoch auf beiden Seiten durchaus eigenständig. Hinzu kommen bemerkenswerte sachliche Unterschiede: Bei Markus beobachten die Jerusalemer selbst, dass die Jünger mit ungewaschenen Händen essen (7,2); nur „einige“ der Jünger (τινάς [tinas]) werden dabei beobachtet; die Frage der Jerusalemer betrifft bei Markus die gesamte rabbinische Überlieferung und nicht nur das Händewaschen (7,5); Markus bringt das jüdische Fachwort korban (7,11); er berichtet auch, dass das Jüngergespräch im Haus stattfand (7,17); dagegen erwähnt er den Inhalt der Jüngerfrage nicht (vgl. Mk 7,17 mit Mt 15,12); vor allem hat Mk 7,19: „er erklärte alle Speisen für rein“ keine Parallele bei Matthäus; und was noch auffälliger ist: Markus erklärt zwei Verse lang (7,3-4) jüdische Reinheitsvorschriften, Matthäus nicht.8 So kommen wir zu dem Schluss, dass beide dasselbe Ereignis berichten, aber jeweils auf ihre individuelle Art und Weise. Der in Rom schreibende Markus sah es für sinnvoll an, das jüdische Ritualgesetz zu erläutern, für Matthäus aber wäre dies im Israelland wenig sinnvoll gewesen. Dass Matthäus den Markus benutzte, wie es die Anhänger der Zwei-Quellen-Theorie wollen, ist hier mehr als unwahrscheinlich. Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten? (τὴν παράδοσιν τῶν πρεσβυτέρων; [tēn paradosin tōn presbyterōn?]), V. 2: Der Vorwurf wird sofort substanziiert: Denn sie waschen die Hände nicht, wenn sie Brote essen. Auch wenn nur „einige seiner Jünger“ (Mk 7,2) dabei beobachtet wurden, ist die Frage verständlich. Sie wird noch verständlicher, wenn die Wendung Brote essen ganz allgemein das „essen“ (Mk 7,3f) bedeutet.9 Wir stoßen hier auf zwei Punkte, die für das Judentum schon damals wichtig 6 So France 241. Vgl. Riesner 209. 7 Fiedler 278. 8 Außerdem fügt Matthäus die Worte über die Blinden und die Pflanzung Gottes ein (15,1214). 9 Vgl. J. Behm, Art. ἄρτος, ThWNT, I, 1933, 476; Strack-Billerbeck I 704: „eine Mahlzeit halten“.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

waren. Der erste ist das Thema „Waschung“. Seit uralter Zeit werden Israels Priester gewaschen, um die Reinheit des Gottesdienstes zu gewährleisten (Lev 8,6ff). Auch der einzelne Israelit muss sich seit der Mosezeit in bestimmten Fällen waschen, um seine Reinheit wiederherzustellen (Lev 15,5ff; vgl. Deut 21,6). Offenbar hat man in der Bewegung der Chassidim, aus der auch die Pharisäer hervorgingen, ab dem 2. Jh. v.Chr. die Reinheitsvorschriften zunehmend ausgeweitet und sich auf diese Weise von den Heiden und gesetzlosen Juden abgesetzt. In diesen Zusammenhang gehört wahrscheinlich die Pflicht zum Händewaschen. Einzelheiten bleiben umstritten, die Diskussion ist bis heute lebhaft.10 So viel dürfte jedoch feststehen: 1) Für die Schulen Schammais und Hillels und für Schammai und Hillel selbst gehörte das Händewaschen zu den wichtigen religiösen Pflichten.11 Das geht aus M. Schabbat I, 4 und b Schab 14a/b hervor. Die Überlieferung der Ältesten von Mt 15,2 ist also noch vor die Zeit Jesu zu datieren. 2) Der Traktat Jadajim lässt erkennen, dass die Einzelheiten des Händewaschens im Judentum selbst umstritten waren. Nach M. Jadajim VI-VIII streiten sich darüber Pharisäer und Sadduzäer, aber auch Pharisäer einerseits und „galiläische Minäer“ bzw. „galiläische Pharisäer“ andererseits.12 Ist Letzteres eine Erinnerung an die Diskussion in Mt 15,1ff oder ähnliche Diskussionen? Jedenfalls geht aus dem Traktat Jadajim hervor, dass das Händewaschen beim Essen zur Zeit Jesu noch keineswegs allgemein-jüdisch festgelegt war. Die Frage in Mt 15,2 ist demnach eine echte Lehr- und Diskussionsfrage. Flusser hat Wert darauf gelegt,13 dass der in der Frage steckende Vorwurf „nur den Jüngern“ gilt. Sie lässt Jesus in der Tat noch die Möglichkeit zur Korrektur. Doch für die Lösung kommt es entscheidend auf die Überlieferung der Ältesten an – der zweite wichtige Punkt, der hier berührt wird.14 Überlieferung der Ältesten (παράδοσις τῶν πρεσβυτέρων [ paradosis tōn presbyterōn]) bezeichnet die Weitergabe der mündlichen Erläuterung der Tora. Sie wird klassisch beschrieben im Traktat Abot oder Pirqe Abot, „Sprüche der Väter“. Von Mose an (vgl. Mt 23,2) bis in die Zeit Jesu und darüber hinaus zieht sich wie eine Perlenkette eine Linie berühmter Lehrer Israels, großenteils 10 Vgl. Luz II 418ff; F. Hauck, Art. νίπτω usw., ThWNT, IV, 1942, 945ff; A. Oepke, Art. βάπτω usw., ThWNT, I, 1933, 527ff; R. Meyer im Art. καθαρός usw., ThWNT, II, 1938, 421ff. 11 Hauck a.a.O. 946. 12 Vgl. dazu Anmerkung 31 bei Talmud Goldschmidt zu M. Jadajim VIII. 13 Flusser 231,66. Ebenso Fiedler 278. 14 Vgl. F. Büchsel, Art. δίδωμι usw., ThWNT, II, 1935, 174f.

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aufgeführt mit ihren charakteristischen Aussprüchen. Auf ihre Autorität stützten sich die Pharisäer, wenn sie etwas regelten oder beurteilten. Nicht so die Sadduzäer. Sie ließen nur diejenigen Vorschriften gelten, die in der Heiligen Schrift standen, nicht aber „die Überlieferung der Ältesten“ (Josephus Ant XIII, 297: ἐκεῖνα δεῖν ἡγεῖσθαι νόμιμα τὰ γεγραμμένα, τὰ δ᾿ ἐκ παραδόσεως τῶν πατέρων μὴ τηρεῖν [ekeina dein hēgeisthai nomima ta gegrammena, ta d’ek paradoseōs tōn paterōn mē tērein]). Wenn jetzt also die jerusalemischen Pharisäer fragen: Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten?, dann ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: 1) Sie schätzen Jesus und seine Jünger offenbar so ein, dass diese den Pharisäern nahestehen; 2) ein Messias muss ihrer Meinung nach die Überlieferung der Ältesten bejahen. Dahinter zeichnet sich die Grundsatzposition ab, dass Schrift und Tradition übereinstimmen. Wie geht Jesus mit diesem Problem und dieser Frage um? Seine Antwort ist ungewöhnlich ausführlich. Sie erstreckt sich über sieben Verse (V. 3-9). Ähnlich ist es bei Markus (7,6-13). Schon der erste Satz bringt die Kontroverse auf den Punkt: Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? (V. 3). Jede Einzelheit dieser Formulierung will beachtet sein. Ebenso wie die Pharisäer stellt Jesus eine Warum-Frage (διὰ τί [dia ti]). Auch ihr (καὶ ὑμεῖς [kai hymeis]): Jesus gibt ihnen darin recht, dass die Jünger Übertreter sind. Auch ihr: Das bedeutet, dass sich ihr = die Jerusalemer Pharisäer und wir = Jesus und seine Jünger gegenüberstehen. Jesus bekennt sich frei und frank dazu, die Praxis seiner Jünger zu teilen (vgl. Lk 11,38). Nun aber kommt der Kardinalunterschied: Während seine Jünger die Überlieferung der Ältesten übertreten, übertreten die Jerusalemer Pharisäer das Gebot Gottes. Das heißt: Sie übertreten die Heilige Schrift. Wie und wo, wird Jesus sofort sagen (V. 4-6). Zuerst nennt er noch den Grund der Übertretung: um eurer Überlieferung willen. Mit anderen Worten: Im Ernstfall bricht die pharisäische Tradition die Schrift. Dieser Vorwurf hat eine unerhörte Wucht. Denn im Denken der Pharisäer ist die Schrift so heilig, dass schon 85 biblische Buchstaben die Hände unrein machen, das heißt wie ein ganzes biblisches Buch zu werten sind.15 Nur schwere Fehldeutungen können zu der von Jesus angesprochenen Übertretung des Gebots führen. Jesus macht seinen Vorwurf an einem konkreten Fall fest: Denn Gott hat gesagt: Ehre Vater und Mutter!, und: Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben (V. 4). Er zitiert hier aus dem Dekalog (Ex 20,12; Deut 15 M. Jad III, 5.

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5,16) und aus den Bestimmungen von Ex 21,17; Lev 20,9. Es sind also wohlbekannte Bestimmungen der Tora. Wie die Tora selbst legt Jesus Wert darauf, dass hier Gott und nicht nur ein menschlicher Gesetzgeber sprach. Der Form nach ist Mt 15,4 leicht gekürzt, weil das „dein“ („deinen Vater und deine Mutter“) des hebr. Textes und der LXX herausgefallen ist, ebenso das „sein“/ „seine“.16 Am Sinn ändert sich dadurch nichts. Angesichts der modernen Gender-Diskussion und der modernen Diskussion um die Familie ist es doppelt interessant, dass Jesus hier das vierte Gebot in den Mittelpunkt rückt. Er hat diesem Gebot auch sonst seine höchste Wertschätzung gezollt (Mt 19,19; Lk 2,51; Joh 19,25ff). In scharfem Kontrast zu V. 4 steht V. 5: Ihr aber (ὑμεῖς δέ [hymeis de]) sagt. Gott (V. 4) und die Jerusalemer Pharisäer (ihr) – das sind völlig verschiedene Ebenen. Der Grundsatz, nach dem Jesus hier entscheidet, tritt schon ganz deutlich hervor: Niemals kann „Menschenüberlieferung“ (παράδοσις τῶν ἀνθρώπων [ paradosis tōn anthrōpōn], Mk 7,8) oder „Überlieferung der Ältesten“ das Gebot Gottes außer Kraft setzen. Wer zu Vater oder Mutter sagt: Ich bestimme zum Opfer, was dir von mir zusteht:17 Das griech. δῶρον [dōron] entspricht hebr. κορβᾶν [korban] (‫[ ָקְר ָבּן‬qorbān]), aram. ‫[ ָקְר ָבָּנא‬qorbānā], wie Mk 7,11 ganz richtig übersetzt. Es handelt sich um ein Gelübde, durch das man eine Gabe für Gott bestimmt, gewissermaßen eine „fromme Stiftung“.18 Im rabbinischen Judentum wird korban zu „einer Gelöbnisformel, die dann gebraucht wird, wenn etwas den Charakter einer Gott dargebrachten Opfergabe annehmen soll“.19 Menschlicher Verfügung war sie damit entzogen. In der Zeit Jesu gab es offenbar Fälle, in denen über den finanziellen Unterhalt, den man den Eltern schuldete, die Korban-Formel gesprochen und dadurch den Eltern dieser Unterhalt genommen wurde. Auf den ersten Blick hat dies etwas Einleuchtendes (vgl. nächster Vers). Ist Gott nicht wichtiger als die Eltern? … der braucht seinen Vater nicht zu ehren20: So zitiert Jesus den Urteilsspruch der Jerusalemer Pharisäer (V. 6). Er bedeutet, dass die Korban-Formel des Sohnes tatsächlich den Eltern die betreffende finanzielle Unterstützung 16 Zahn 518,24 führt dies auf die „Eigentümlichkeit des palästinischen (galiläischen?) Aramäisch Jesu und der Apostel“ zurück. 17 Zur Grammatik vgl. BDR § 360,7. Strack-Billerbeck I 711 übersetzen: „Opfergabe sei, was du von mir genießen könntest.“ 18 Bauer-Aland 902. Vgl. F. Büchsel, Art. δίδωμι usw., ThWNT, II, 1935, 169; K. H. Rengstorf, Art. κορβᾶν usw., ThWNT, III, 1938, 860ff. Nach Strack-Billerbeck I 711 entspricht V. 5b genau einer Formel in M. Nedarim VIII, 7. 19 Rengstorf a.a.O. 861. 20 BDR § 365,2.

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entzieht, etwa zugunsten des Tempelschatzes. In der Abwägung zwischen Gott und den Eltern entschieden die von Jesus angesprochenen Pharisäer also zugunsten Gottes. Kann dies falsch sein? Nach Rengstorf hatten sie Num 30,2f auf ihrer Seite.21 Aber sprach nicht auch Deut 23,24; 33,9f zu ihren Gunsten? Würden nicht auch manche christliche Eiferer ebenso entscheiden? Andererseits schärfen nicht nur die Zehn Gebote, sondern auch die Weisheit Israels in Spr 28,24 das Verbot ein, Vater oder Mutter etwas wegzunehmen. Spätere pharisäische und rabbinische Generationen rangen ernsthaft mit diesem Zwiespalt und diskutierten über einen „Ausweg“, um den Korban-Spruch wieder aufzuheben. Vor allem der Traktat Nedarim („Gelübde“) ist ein Zeuge dieses Ringens.22 Allerdings sind die im Talmud berichteten Diskussionen zeitlich später anzusetzen als Jesus.23 Es bleibt auch die Frage offen, ob damals, zur Zeit Jesu, alle Pharisäer die in Mt 15,5-6 berichtete Meinung teilten. Nur eins steht nach dem Text von Mt 15,5f fest: Die Pharisäer aus Jerusalem, die Jesus angriffen, stellten nach ihrer Lehre (Überlieferung) das Gelübde über die Elternpflicht des Dekalogs mit dem Ergebnis: … der braucht seinen Vater nicht zu ehren.24 Auf sie trifft deshalb Jesu Urteil zu: Ihr habt auf diese Weise das Wort Gottes um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt. Er fügt ein Gerichtswort aus dem Propheten Jesaja an: Ihr Heuchler! Ganz richtig (καλῶς [kalōs])25 hat Jesaja über euch geweissagt, wenn er spricht: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir. Vergeblich dienen sie mir, indem sie Menschengebote (ἐντάλματα ἀνθρώπων [entalmata anthrōpōn]) als ihre Lehren verkündigen (V. 7-9). Dieses Zitat von Jes 29,13 entspricht weithin der LXX,26 die kleinen Änderungen sind ohne Bedeutung. Es ist das sechste Mal, dass Jesaja im Matthäusevangelium mit Namen zitiert wird (vgl. 3,3; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14). Gerade aus Jesaja bezogen Jesus und das Urchristentum ihren Schriftbeweis.27 Die Berufung auf Jesaja macht aber auch deutlich, dass sich Jesus mit seiner prophetischen Anklage in eine Linie mit den Propheten Israels stellt. Heuchler soll hier den Tatbestand bezeichnen, dass seine Gegner ja selbst viel schlimmere Übertreter sind, als sie es seinen Jüngern zum Vorwurf machen 21 22 23 24

Rengstorf a.a.O. 865f. Vgl. M. Ned V, 6; IX, 1; Strack-Billerbeck I 715; Rengstorf a.a.O. 862ff. Anders Strack-Billerbeck I 715,1: schon zur Zeit Jesu. Dass es tatsächlich bei den Rabbinen solche Entscheidungen gab, dokumentiert StrackBillerbeck I 712. 25 Auch Strack-Billerbeck I 718: „richtig“, „treffend“. 26 Vgl. Fiedler 279; Carson 349. 27 Luz II 423.

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(vgl. Röm 2,1ff). Vor allem aber war es offensichtlich der Begriff Menschengebote, der Jesus zu Jes 29,13 greifen ließ. Bei Jesaja waren es Propheten und Seher, die anstelle der Botschaft Gottes ihre eigenen Botschaften als Menschengebote verkündigten. Jetzt sind es die Pharisäer aus Jerusalem als Lehrer des Gesetzes, die an die Stelle des Wortes Gottes die Überlieferung der Ältesten setzen. Im Weg einer typologischen Auslegung, die mit einem mehrfachen Schriftsinn rechnet, wendet Jesus Jes 29,13 auf seine eigene Gegenwart an.28 In der Exegese schließen sich an Mt 15,3-9 mehrere Fragen an. Handelt es sich hier nur um den singulären Fall des Händewaschens, oder doch ganz allgemein um das Verhältnis Schrift und mündliche Überlieferung (Tradition)? Unseres Erachtens deuten die Formulierungen Überlieferung der Ältesten, Wort Gottes, vor allem der Plural Menschengebote eher auf das Zweitgenannte. Zahn ist darin recht zu geben, dass Mt 15,1ff „nur ein Beispiel“29 für das generelle Verhältnis Jesu zur pharisäischen mündlichen Überlieferung (Halacha) ist. Die Schrift darf also von der Überlieferung niemals infrage gestellt oder durchbrochen werden. Siehe auch Mt 5,17ff. Viel schwerer wiegt die Frage, ob in Mt 15,1ff die pharisäische Position richtig dargestellt ist. Flusser nennt unseren Abschnitt „stark tendenziös“.30 Weiter geht Fiedler, demzufolge der Vorwurf gegen die Pharisäer in Mt 15,3ff „ein bösartiger Vorwurf “ ist.31 Er beruft sich dabei auf Ned IX, 1, wonach die Pharisäer der Ehrung der Eltern stets den Vorzug vor anders gerichteten Gelübden gegeben hätten. Aber Mischna und Gemara zeigen gerade in diesem Abschnitt, wie umstritten diese Problematik war. Zu behaupten, Jesus habe in Mt 15,3ff einen unbegründeten Vorwurf erhoben, entspricht weder der im Talmud geführten Diskussion noch unserem Kenntnisstand über die Zeit Jesu, der ein solches Urteil gar nicht erlaubt, noch der sonstigen Vertrauenswürdigkeit des Matthäus. Gegeißelt werden von manchen Kommentatoren „antisemitische Entgleisungen“, die man beispielsweise bei Schlatter und Käsemann beobachtet.32 Aber die Wortwahl, die man bei solchen Abgrenzungen gebraucht – „bösartig“, „beschämend“33 –, erinnert eher an politische Invektiven. Man tut gut daran, sich an Zahns abgewogenes historisches Urteil zu erinnern, wonach Mt 15,1ff sich mit dem auseinandersetzt, „was die Rabbinen gelegentlich sa28 29 30 31 32 33

France 243. Zahn 517f. Flusser 138,22. Fiedler 279. Luz II 423,54. Luz a.a.O.; Fiedler a.a.O.

1. Was ist rein und unrein? 15,1-20

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gen“.34 Wir selbst haben oben darauf hingewiesen, dass offenbleiben muss, ob damals alle Pharisäer die Meinung von Mt 15,5-6 teilten, und dass wir es zunächst nur mit einer Delegation von Jerusalem zu tun haben. Vers 10 berichtet, dass Jesus im Anschluss an das Gespräch mit den Pharisäern die Menge (τὸν ὄχλον [ton ochlon]) zu sich rief. Mk 7,14 sagt, er habe sie wieder zu sich gerufen. Demzufolge fand das Gespräch von Mt 15,1-9 nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern nur zwischen den Jerusalemern einerseits und Jesus samt seinen Jüngern andererseits.35 Die Jerusalemer Pharisäer wahrten also eine gewisse Zurückhaltung. Für Jesus war das Thema rein/unrein so wichtig, dass er sich jetzt an die Menge (ὄχλος [ochlos]) wandte. Wie groß der Zeitabstand zwischen V. 1-9 und V. 10-20 gewesen ist, können wir nicht sagen. Hört und versteht! erinnert an Mt 13,14 und 13,23. Offensichtlich lehnt sich Jesus hier an Jes 6,9f an. Aber auch an die Weisheitslehrer Israels werden wir erinnert, denen es wesentlich um das richtige Verständnis ging (Spr 1,2; 8,14; 16,16; 23,23). Jesus trägt hier also keine Polemik gegen die Pharisäer vor, sondern versucht, die innere Einsicht der Menschen zu gewinnen. Der Lehrsatz in V. 11 ist mnemotechnisch vorzüglich formuliert: Nicht was zum Mund hineingeht, verunreinigt36 den Menschen, sondern was aus dem Mund hervorgeht, das verunreinigt den Menschen. Wegen dieser kunstvollen Formulierung und weil es an die Weisheitssprüche erinnert, nennt Petrus dieses Wort einen Maschal (παραβολή [ parabolē], Gleichnis, V. 15). Die folgende Bezugnahme auf das Herz (V. 18f) und die Deutung auf die bösen Gedanken stellen sicher, dass Jesus nicht über Kultvorschriften spricht, sondern die Verunreinigung durch die Sünde thematisiert. Das bedeutet eine Erweiterung der Gesichtspunkte gegenüber dem Gespräch mit den Pharisäern (V. 1-9). Vor allem aber zeigt sich hier, welches Gewicht Jesus der Reinheit und im Zusammenhang damit der Sünde beimisst. Was jedoch die Speisevorschriften anbetrifft, so ist klar, dass für Jesus der äußere Vollzug von Lev 11 und anderen Speisevorschriften zweitrangig geworden ist. Stattdessen tritt für ihn die Pädagogik des Gesetzes in den Vordergrund, die den inneren Menschen zur Ehrfurcht vor Gott und zur Überwindung der Sünde erziehen will (vgl. Gal 3,24). Deshalb trifft Mk 7,19 den Kern des Vorgangs: „Damit erklärte er alle Speisen für rein.“37 So haben ihn auch die Apostel verstanden 34 Zahn 518. 35 Ebenso Carson 349. 36 Zu κοινοῖ = „verunreinigt“ vgl. Bauer-Aland 891; F. Hauck, Art. κοινός usw., ThWNT, III, 1938, 810. 37 Ebenso Hauck a.a.O.; Hengel-Schwemer 420.433; Carson 350.

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(vgl. Apg 10,15; 15,7ff; Röm 14,14.20; 1Tim 4,4; Tit 1,15). Siehe auch Mt 5,8; 12,34. Erneut wechselt die Szene in V. 12: Da kamen die Jünger zu ihm und sagten: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß nahmen, als sie dein Wort hörten? Nach Mk 7,17 ist Jesus schon im Haus.38 Die Rede ist von dem Wort, das Jesus in V. 11 gesprochen hatte. Wenn die Pharisäer aus Jerusalem dieses Wort mitbekamen, deutet dies darauf hin, dass sie Jesus über einen längeren Zeitraum hinweg beobachteten. Man muss aber auch hier registrieren, dass die Pharisäer sich noch sehr dezent verhielten. Sie begannen keinen öffentlichen Streit. Sie nahmen nur Anstoß (ἐσκανδαλίσθησαν [eskandalisthēsan]). Zahn malt ein wenig aus: „durch Mienen oder durch Fluchworte, die sie halblaut vor sich hin oder zu anderen Anwesenden gewendet ausstoßen“.39 Die Jünger, die offenbar noch länger draußen blieben, bekamen diesen Anstoß mit. Er ist verständlich, denn Jesus brachte die traditionellen Speisevorschriften ins Wanken und schien darüber hinaus Lev 11 u.Ä. anzugreifen. Jesu Reaktion in V. 13f mutet scharf an: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Man kann diese Worte nur als Warnung vor dem göttlichen Gericht verstehen. Ihre Formulierung erinnert an den Täufer in Mt 3,10. Pflanze oder „Pflanzung“ ist oft ein Bildwort für Israel bzw. für Menschen (vgl. Ps 1,3; 80,9; 92,14; Jes 5,7; 40,24; 61,3; 1Kor 3,6f).40 Ein Beispiel für eine Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat haben wir oben in Mt 13,25 erlebt (Unkraut unter dem Weizen). Jesus spricht also von der Gefahr, die den Pharisäern droht, wenn sie ihn ablehnen: Sie werden hier im irdischen Leben Geschöpfe des Bösen sein (vgl. „Schlangenbrut“ Mt 3,7; 23,33; Joh 8,44) und dort im Gericht ausgerissen werden („mit der Wurzel ausgerissen werden“). Jesus nennt Gott hier mein himmlischer Vater. Damit unterstreicht er, dass er Gottes Sohn ist und dass seine Ablehnung besonders schwer wiegt. War die Schärfe in Jesu Worten dadurch bedingt, dass die Jünger durch die Angriffe der hoch angesehenen Jerusalemer Rabbinen innerlich unsicher wurden, ob er wirklich der Messias sei? Lasst sie!, sagt Jesus in V. 14. Das griech. ἄφετε [aphete] kann man verschieden auffassen: 1) „Lasst sie stehen!“, 2) „Lasst sie gewähren!“. Obwohl Bauer-Aland hier „gewähren“ vorziehen,41 scheint vom Zusammenhang her 38 Carson 350. 39 Zahn 520. 40 Vgl. auch PsSal 14,3ff; äthHen 62,8; 4Esr 8,41; 1QS 8,5; 11,8; CD 1,7 sowie rabbinische Parallelen bei Strack-Billerbeck I 720. 41 Vgl. Bauer-Aland 253.

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doch „Lasst sie stehen!“ den Vorzug zu verdienen.42 Demnach will Jesus, dass die Jünger nicht länger mit den Pharisäern disputieren. V. 14 erläutert seine Aufforderung ein wenig deutlicher: Sie sind blinde Blindenführer. In der Tat beanspruchten sie, „Führer der Blinden“ zu sein. Sie besaßen ja Gottes Wort, „meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps 119,105 Luther-Bibel). Jesus hat ein paarmal darauf abgehoben (Mt 23,16.24; Lk 6,39), ebenso Paulus (Röm 2,19 wie Mt 15,14: ὁδηγοὶ τυφλῶν [hodēgoi typhlōn]). Aber in Mt 15,14 sagt Jesus ähnlich wie in Joh 9,39ff, dass die Pharisäer selbst blind sind. Ähnliches kam schon in Mt 13,13ff in Anlehnung an Jes 6,9f zum Ausdruck. Warum sind die Pharisäer blind? Weil sie sich ihre Blindheit nicht eingestehen, nicht Gottes Hilfe erbitten, der „die Blinden sehend macht“ (Ps 146,8) und sich auf der Linie der Ablehnung Jesu immer mehr verfestigen. Eine Tragödie ist hier im Anzug (vgl. wieder Joh 9,39ff, wo die Dinge ganz ähnlich liegen). Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in die Grube fallen: Das ist wohl ein Sprichwort aus der Lebenserfahrung. Grube, βόθυνος [bothynos], hebr. ‫שַׁחת‬ ַ [schachat], ist Verderben. Weil Grube zugleich eine Bezeichnung der Totenwelt ist, hat Jesu Ausspruch zugleich einen eschatologischen Hintergrund: Am Ende bringen die Pharisäer diejenigen, die ihnen folgen, nicht ins ewige Leben, sondern ins ewige Gericht (dasselbe Mt 23,15). Für Jesus, der die Pharisäer hoch schätzte (Mt 23,2f) und unter ihnen viele Freunde hatte, war dies ein Wort voller Schmerz.43 Er musste aber seine Jünger warnen. Petrus aber nahm das Wort, als Jesus mit den Jüngern allein im Hause war (s. oben und Mk 7,17), und sagte zu ihm: Erkläre uns das Gleichnis (τὴν παραβολήν [tēn parabolēn]), V. 15. Die Fortsetzung zeigt, dass er das Gleichnis von V. 11 (Verunreinigung) meint,44 nicht etwa die Worte über die Pflanze oder die blinden Blindenführer. Letztere waren also für die Jünger klar. Wieder ist Petrus der Sprecher der Zwölf 45 (Erkläre uns). Und wieder werden wir Zeugen einer speziellen Unterweisung der Jünger (vgl. 10,1ff; 13,10ff; 13,36ff). Volksevangelisation und Jüngerlehre unterscheiden sich deutlich voneinander, in Sprache und Stil. Wer Jesus nachfolgt, kann ihn jederzeit und ins Einzelne gehend befragen. Dies geschieht ja bis heute im Gebet. Das griech. φράζω [ phrazō] ist neutestamentliches Hapaxlegomenon. Es bedeutet „erklären“, „deuten“.

42 43 44 45

So auch Luz II 426; Zahn 521. Schlatter 241: „mit tiefer Traurigkeit“. Ebenso Zahn 521f. Für Hengel-Schwemer 233 „sekundär“.

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Jesu Antwort in V. 16 klingt nicht nur überrascht,46 sondern auch vorwurfsvoll:47 Seid auch ihr immer noch unverständig? Für noch steht ἀκμήν [akmēn], wieder ein neutestamentliches Hapaxlegomenon.48 In ausführlicheren Worten: „Es war nicht zu erwarten, dass ihr auch jetzt noch unverständig seid.“ Das Jünger-Unverständnis gehörte zu Jesu Passion. καὶ ὑμεῖς [kai hymeis], auch ihr, ist betont. Über das Jünger-Unverständnis sollten wir Heutigen jedoch nicht lamentieren. Denn erstens sind wir heute keineswegs verständiger, wenn man an den häufigen Missbrauch von Bibelworten denkt, und zweitens verdanken wir dem Unverständnis der Jünger viele wichtige Aufschlüsse, die Jesus gibt. Versteht ihr nicht, dass alles, was zum Mund hineingeht, in den Bauch wandert und dann wieder ausgeschieden wird? (V. 17): Die Aussage alles (πᾶν [ pan] = ‫[ ֹכּל‬qol]) spitzt den Lehrsatz von V. 11 noch einmal zu. Im Zusammenhang kann das nur heißen: Alle Nahrung. Sie ist für den Bauch = den Verdauungstrakt49 bestimmt und wird dann in den Abort (εἰς ἀφεδρῶνα [eis aphedrōna], so wörtlich) wieder ausgeschieden. Paulus hat diese Redeweise in 1Kor 6,13 übernommen. Jesu Worte sind von rationaler Nüchternheit geprägt. In seinen Augen kann eine bloße Nahrungsaufnahme nicht zu der Unreinheit führen, von der er sprechen will. Die Verse 18-20 bringen nun eine genauere Erklärung. Verunreinigt wird der Mensch durch das, was aus dem Mund hervorgeht (V. 18). Denn es kommt aus dem Herzen (ἐκ τῆς καρδίας ἐξέρχεται [ek tēs kardias exerchetai]). Konkret: Es handelt sich um unsere Worte und Gedanken (vgl. V. 19). Kann man Gott also nur mit dem Herzen ungehorsam sein? Ist der Schauplatz der Sünde nur unsere Innerlichkeit? Das wäre ein Fehlschluss. Man sündigt ja durchaus als ganzer Mensch, mit allen Gliedern des Leibes. Das macht gleich der nächste Vers klar (V. 19), vgl. Röm 6,12ff; 7,14ff; 1Kor 6,9ff; Gal 5,19ff; Jak 3,1ff. Was Jesus in V. 18 meint, ist jedoch dies: Das Herz als Sitz des Denkens, der Motive und des Willens schafft den Antrieb zu Worten, Gedanken und Taten,50 und deshalb wird der Mensch dort und nicht durch Nahrungsaufnahme verunreinigt. Siehe auch Mt 12,35 / Lk 6,45.

46 France 244. 47 Carson 351: „shocks“; Zahn 522: „Erregung“; Fiedler 280: „Tadel“; auch Flusser 247f: „Tadel“. 48 Vgl. BDR § 160,3; Zahn 522,31. 49 J. Behm, Art. κοιλία, ThWNT, III, 1938, 787f. 50 Vgl. die rabbinischen Parallelen bei Strack-Billerbeck I 721f sowie J. Behm im Art. καρδία usw., ThWNT, III, 1938, 614ff.

1. Was ist rein und unrein? 15,1-20

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Was kommt nun aus dem Herzen? In 12,35 hatte Jesus noch beides im menschlichen Herzen gefunden: Gutes und Böses. Jetzt aber, in 15,19, ist seine Beurteilung grundsätzlicher. Das Herz ist die Quelle aller menschlichen Bosheit: Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzuchthandlungen, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. φόνοι, μοιχεῖαι [ phonoi, moicheiai] usw. sind Plurale für Abstrakta51, jeweils im Sinne von „die verschiedenen Fälle von Mord, Ehebruch“ usw. Ob böse Gedanken52 die Überschrift für die folgenden Fälle darstellt oder wie Mord, Ehebruch usw. eine eigene Sünde bezeichnet, muss offenbleiben. In der Abfolge Mord – Ehebruch + Unzuchthandlungen53 – Diebstahl – falsches Zeugnis spiegelt sich der Dekalog (5., 6., 7., 8. Gebot nach lutherischer Zählung). Lästerung bedeutet dann den Verstoß gegen das 2. Gebot (Ex 20,7). Jesus hat sich gern an den Dekalog angelehnt, vgl. Mt 5,21ff; 19,18f. Was nun aber inhaltlich auffällt, das ist die grundsätzliche Sicht Jesu, wonach jeder Mensch ein Sünder ist.54 In Mt 15,19 ist ja das ἐξέρχονται [exerchontai] eine Art Praesens aeternum. In dieser Sicht trifft sich Jesus mit Gen 8,21. Zudem werden wir an die Sektenregel Qumrans erinnert (1QS IX). Bei Mt 15,19 stoßen die europäische Aufklärung mit ihrem Bild vom guten Menschen und die biblische Sicht vom Menschen als Sünder aufs Schärfste aufeinander. Andererseits verläuft von Mt 15,19 eine gerade Linie zu Paulus.55 Das gilt sowohl formal – auch Paulus bietet lange Lasterkataloge (Röm 1,28ff; 1Kor 6,9ff; 2Kor 12,20; Gal 5,19ff; Eph 5,3ff; Kol 3,5ff; 1Tim 1,9f; 6,4f; 2Tim 3,2ff; Tit 3,3) – als auch inhaltlich. Auch für Paulus gilt im Anschluss an das AT (Gen 8,21; Ps 14,3; 51,3ff; 53,4ff; 103,2ff ) und an Jesus (Mt 15,19; Lk 11,13), dass der Mensch als Ganzer ein Sünder ist (Röm 3,9ff). Petrus (1Petr 2,24f) und Johannes (1Joh 1,8)56 teilen diese Sicht. Vor allem Paulus wird deshalb im modernen und postmodernen Europa heftig angegriffen, auch aus protestantischen Kreisen. V. 20 zieht aus alledem die Summe: Das [= das aus dem Herzen Kommende] ist es, was den Menschen verunreinigt. Aber das Essen mit ungewaschenen Händen verunreinigt den Menschen nicht. In der Literatur wird Mt 15,20 gelegentlich als Gegensatz zu Mk 7 aufgefasst, etwa in dem Sinne: Während Markus alle Speisevorschriften aufhebe (Mk

51 52 53 54 55 56

BDR § 142. Zum Begriff vgl. G. Schrenk, Art. διαλέγομαι usw., ThWNT, II, 1935, 97. Unzuchthandlungen (πορνεῖαι) schließen die praktizierte Homosexualität ein. Vgl. Schrenk a.a.O. Hengel-Schwemer 433. Vgl. Offb 9,21; 21,8; 22,15.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

7,19), verenge Matthäus die Thematik aufs bloße Händewaschen.57 Eine solche Interpretation schießt aber weit übers Ziel hinaus. Denn Matthäus verdeutlicht nur, was in Mk 7,17ff steht, und korrigiert es nicht. Außerdem beruht die ganze Konstruktion eines Gegensatzes Matthäus-Markus auf der falschen Annahme, dass Matthäus den Markus als Vorlage benutzt und „bearbeitet“ habe. Das Thema Händewaschen und Überlieferung der Ältesten wird im ganzen Abschnitt durchgehalten.

IV Zusammenfassung 1. Die Frage der jerusalemischen Pharisäer betrifft zwei wichtige Punkte: 1) Die Geltung der „Überlieferung“ (Satzungen) „der Ältesten“, 2) die Reinheit des Menschen vor Gott. Jesus antwortet darauf nicht mit „schroffer Polemik“,58 sondern so, dass es Jünger und Volk verstehen können. 2. Weil der Vorgang in Mt 15,1-20 immer wieder für unhistorisch erklärt und auf das Konto des Evangelisten oder der frühen Kirche gesetzt wurde,59 muss betont werden, dass sowohl die rabbinischen Parallelen als auch die im NT zu beobachtende Entwicklung eine Datierung in der Zeit Jesu unterstützen. 3. Sowohl der Talmud als Ganzer als auch insbesondere der Traktat Abot sowie Josephus bestätigen die hohe Wertschätzung, die der Überlieferung der Ältesten zukam.60 Allerdings war diese Überlieferung nicht einheitlich, sondern ließ verschiedene Lehrentscheidungen zu. 4. Jesu grundlegende Entscheidung ist die, dass die „Überlieferung der Ältesten“ – im christlichen Sprachgebrauch: die Tradition – niemals die Schrift infrage stellen darf. Während Jesus die Schrift bis zum kleinsten Buchstaben achtet und befolgt (Mt 5,17ff; Joh 10,35), besteht der Überlieferung der Ältesten gegenüber die Freiheit, sie zu befolgen oder nicht. Konkret: Das Händewaschen kann unterlassen werden, weil es die Bibel nicht befiehlt. 5. Damit hat Jesus nicht die Überlieferung pauschal oder revolutionär über Bord geworfen. Sie kann sinnvoll und ganz und gar angemessen sein (vgl. 1Kor 11,16). Aber sie hat niemals den verpflichtenden Charakter wie die Schrift. 6. Was nun die Reinheit betrifft, so geht Jesus sofort auf die Zentralfrage über: Wie kann ein Mensch rein sein vor Gott (vgl. Hi 15,14; 25,5)? Zu dieser Reinheit, das heißt Schuldlosigkeit vor Gott, können äußere Maßnahmen wie 57 58 59 60

Vgl. Fiedler 280. Gegen Luz II 427. So Bultmann, Gesch, 15f; Beare 336ff; Fiedler 279f; Flusser 138,22. Vgl. Strack-Billerbeck I 693.705ff.

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Händewaschen oder Speisen nichts beitragen. Sie können sie auch nicht verhindern. Es kommt vielmehr, wie Jesus schon in der Bergpredigt sagt (Mt 5,8.48), auf die Reinheit des Herzens an. Aber wer hat ein reines Herz? Alle Menschen sind Sünder. Deshalb führt uns Mt 15,1-20 mit Notwendigkeit zum Kreuz. 7. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, in Mt 15,1-20 hätte Jesus Lev 11 für seine Jünger abgeschafft. Wohl haben Petrus und Markus recht, wenn sie sagen, im Endeffekt habe Jesus damals alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,19; vgl. Apg 10,1ff; 11,4ff; 15,7ff). Im Neuen Bund haben wir auch keine äußeren Speisevorschriften mehr (vgl. Kol 2,16ff; 1Tim 4,3ff). Aber damals, zur Zeit des Alten Bundes, blieb Lev 11 in Kraft. „Distingue tempora, et concordabit Scriptura“, sagte Bengel.61 Niemals ist Jesus wegen Lev 11 angeklagt worden – im Unterschied zu den Aposteln (Apg 11,4ff; 15,7ff; 21,20ff, Gal 2,11ff). Was Jesus damals lehrte, ist eng verwandt mit der Lehre Jochanan ben Zakkais im 1. Jh. n.Chr.: „nicht der Tote verunreinigt und nicht das Wasser macht rein, aber es ist eine Verordnung des Königs aller Könige“ (Pesiq 40b).62 Zahn verwies auf Mt 23,23.63 Jesus blieb also unter dem Gesetz (Gal 4,4) und trennte sich nicht von Israel.

2. Die kanaanäische Frau, 15,21-28 I Übersetzung 21 Und Jesus ging von dort weg und wechselte über in das Gebiet von Tyrus und Sidon. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam heraus und schrie: Erbarm dich über mich, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon übel geplagt. 23 Er aber antwortete ihr kein Wort. Da kamen seine Jünger zu ihm und baten ihn: Schick sie doch weg, denn sie schreit hinter uns her. 24 Er aber gab zur Antwort. Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. 25 Sie aber kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! 26 Er aber gab zur Antwort: Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen. 27 Sie sagte: Ja, Herr. Und doch essen auch die Hunde von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen. 61 Bengel, Erkl Off, 964. 62 Nach Strack-Billerbeck I 719. 63 Zahn 422.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

28 Da antwortete Jesus und sagte zu ihr: O Frau, dein Glaube ist groß! Dir geschehe wie du willst! Und ihre Tochter war von jener Stunde an gesund.1

II Struktur Jede Strukturanalyse läuft Gefahr, den Blick auf das Herzanrührende dieser Geschichte zu verstellen. Dennoch kann der Exeget auf sie nicht verzichten. Der Bericht in Mt 15,21-28 folgt einfachen Erzählgesetzen. Nach einer Disposition des Notstands (V. 21-22) schildert er den Weg zur Hilfe mit all seinen Hemmungen (V. 23-28b), um ganz zum Schluss (V. 28c) das Resultat in knappsten Worten festzuhalten. Im Vergleich mit den Seitenreferenten fällt zunächst das Fehlen einer Parallele bei Lukas auf – und dies, obwohl Lukas sonst Geschehnisse unter Nichtjuden liebt (vgl. Lk 7,1ff; 9,51ff; 10,25ff; 17,11ff; 23,6ff). Warum Lukas hier ausfällt, können wir nicht erklären. Wäre er von Markus abhängig gewesen (Zwei-Quellen-Theorie), hätte er wohl einen entsprechenden Bericht nicht ausgelassen. Markus hingegen berichtet wie in Mt 15,1-20 parallel zu Matthäus (Mk 7,24-30). Wir haben in Mt 15,1-39 und Mk 7,1–8,10 eine längere Erzählkette vor uns, in der Matthäus und Markus parallel gehen, aber ohne Lukas und Johannes. Es handelt sich sozusagen um eine kleine Zwei-Evangelien-Synopse. Auch für diese Arrangements haben wir keine Erklärung. Was nun die Geschichte von der kanaanäischen Frau anlangt, so besteht die größte Differenz zwischen Matthäus und Markus darin, dass Letzterer den Schluss viel ausführlicher gestaltet. Es mag sein, dass sich darin die detailfreudige Petruspredigt widerspiegelt, auf der Markus basiert.2

III Einzelexegese Von dort, also vom Schauplatz der Gespräche in Mt 15,1-20, nämlich von Genezareth (Mt 14,34), ging Jesus jetzt weg. Das heißt, er verließ das Gebiet am See. Er wechselte über in das Gebiet von Tyrus und Sidon (V. 21): Das griech. ἀνεχώρησεν [anechōrēsen], von uns als überwechseln (entfernen) wiedergegeben, wird oft mit „er zog sich zurück“ übersetzt.3 Eine solche Bedeutung ist aber nicht ganz sicher. Immerhin ergibt der Kontext, dass Jesus zum damaligen Zeitpunkt weitere Konfrontationen mit den Jerusalemer Gelehrten vermeiden wollte und deshalb Galiläa, das Herrschaftsgebiet des He1 Vgl. France 248. 2 Eusebius HistEccl III, 39,15. 3 So Bauer-Aland 126; Luz II 429; Lutherbibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Neue Jerusalemer Bibel; Zahn 522: „ausweichen“; Carson 353: „withdrawal“; ebenso Schlatter 243.

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rodes Antipas, verließ (vgl. Mk 7,24).4 τὰ μέρη Τύρου καὶ Σιδῶνος [ta merē Tyrou kai Sidōnos] bezeichnet einen Teil des alten Phönizien, deshalb „Syrophönizien“ in Mk 7,26. Interessanterweise sind Tyrus und Sidon auch im modernen Staat Libanon wichtige Großstädte.5 Aus Sidon stammte Isebel, Ahabs Frau (1Kön 16,31; vgl. Offb 2,20ff). Über Sidon ergeht nach Hes 28,20ff ein besonderes Gericht. Tyrus, das sich selbst vergötterte (Hes 28,14), wird immer wieder Gegenstand der alttestamentlichen Gerichtsprophetie (Jes 23,1ff; Hes 26,1–28,19; Joel 4,4ff; Am 1,9f; Sach 9,1ff; öfter mit Sidon zusammen). Jesus selbst betrachtete Tyrus und Sidon als Sinnbilder der Sünde (Mt 11,21f). Weshalb ging er gerade dorthin? Weil Tyrus in der Luftlinie nicht weiter entfernt war als Jerusalem, nämlich ca. 55 km, und das Gebiet von Tyrus von Kapernaum nur ca. 30 km entfernt lag, also in einem strengen Tagesmarsch zu erreichen war? Weil er dort nach Mt 4,24; Mk 3,8 Anhänger erwarten durfte? Man muss wohl tiefer graben. Das Gebiet von Tyrus und Sidon gehört nach Jos 19,28f zum Stammgebiet Assers. Es war also Israel zugedacht und damit ohne Weiteres auch das Land des Messias. Wenn Jesus dorthin seine Schritte lenkt, kommt er in sein eigenes Land. Dass in jenem Gebiet auch Zarpat lag, die Wirkungsstätte Elias (1Kön 17,9; Lk 4,26), mochte ihn in seinem Vorhaben nur bestärken. V. 22 lenkt auf das entscheidende Geschehen hin: Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam heraus (ἐξελθοῦσα [exelthousa]): Diese kurze Bemerkung führte zu lebhaften Diskussionen. Zuerst betreffen sie Χαναναία [Chananaia], die kanaanäische. Nur hier kommt das Wort im NT vor. Nach Gen 10,15ff sind die Phönizier tatsächlich Kanaanäer. Da in Gen 24,3; 28,1; Ex 33,2; 34,16; Deut 20,17 ein starker Abscheu vor den Kanaanäern zum Ausdruck kommt, will Matthäus mit der leicht altertümlichen6 Bezeichnung Kanaanäerin offensichtlich betonen, dass sie als Heidin dem Gottesvolk Israel völlig entgegengesetzt ist. Zweitens betrifft die Diskussion die Formulierung sie kam heraus. Heißt das, dass sie aus dem heidnischen Gebiet herauskam, um Jesus auf jüdischem Boden zu begegnen?7 Hat Jesus die Grenze zwischen Phönizien und Galiläa überhaupt überschritten?8 Und wo war er nun genau: in Obergaliläa,9 westlich von Galiläa10 oder im Hinter4 Vgl. Mt 14,13. 5 Der Fischer-Weltalmanach 2017 gibt ihre Einwohnerzahl mit 149 000 (Sidon) und 117 100 (Tyrus) an. 6 France 246. 7 Vgl. Zahn 522,32; Fiedler 281; Luz II 433; Tasker 150. 8 Vgl. wieder Zahn a.a.O.; Luz a.a.O. 9 Riesner 208. 10 Hengel-Schwemer 353,57.

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land von Tyrus und Sidon? Am ehesten ist an das Zuletztgenannte zu denken.11 Jedenfalls deuten Mk 7,31 und der überwiegende Wortsinn von ἀναχωρεῖν [anachōrein] in diese Richtung.12 Sie kam heraus meint dann: aus ihrem Haus13 oder aus ihrem Ort. Übereinstimmend wird sie als Heidin gesehen.14 Um Erbarmen flehend, ruft sie Jesus an als Herrn (κύριος [kyrios]) und Sohn Davids (υἱὸς Δαυίδ [hyios Dauid]). Herr ist in diesem Zusammenhang mehr als eine Höflichkeitsanrede. Es bezeichnet den Gebieter, der mit besonderer Macht ausgestattet ist. Als Herr wird Jesus auch von den Jüngern angesprochen (Mt 7,21; 8,25; 14,28). Sohn Davids ist ein charakteristischer Hoheitstitel für den Messias Israels. Er geht zurück auf die messianischen Weissagungen in 2Sam 7,14; Ps 89,21ff; Jes 9,5f; 11,1ff; Jer 23,5ff; Hes 34,23; Am 9,11ff; Hag 2,23. Die frühen jüdischen Lehrer in PsSal 17f und in Qumran15 haben ihn aufgegriffen. Der Name Sohn Davids betont, dass der Messias aus Israel stammt, dass er Davids Spross ist und damit königliche Würde besitzt und dass er lange schon von den Propheten angekündigt wurde. Matthäus hat seit 1,1 Wert darauf gelegt, dass Jesus wirklich Davids Sohn ist (vgl. 1,16.18ff; 9,27; 12,23).16 Aber woher weiß es diese Heidin in Syrophönizien, die griechisch spricht17 (Mk 7,26)? Offensichtlich hat sie schon allerlei über Jesus gehört (vgl. Mt 4,24; Mk 3,8). Hinzu kommt, dass damals viele Juden in jener Region ansässig waren, die ihr manches sowohl über den jüdischen messianischen Glauben im Allgemeinen als auch über Jesus im Besonderen vermitteln konnten. Getrieben von der Not, aber auch mit erstaunlichem Mut und Vertrauen wandte sie sich jetzt an Jesus. Ihr Verhalten steht in einem schroffen Gegensatz zu dem Misstrauen der pharisäischen Lehrer aus Jerusalem (V. 1-20). Die Tür im Heidenland ist offen, während es für Jesus in der Heimat eng wird. Die Not der Frau wird bei Matthäus sehr konzentriert und knapp geschildert: Meine Tochter wird von einem Dämon übel geplagt (κακῶς δαιμονίζεται [kakōs daimonizetai]). Mk 7,25-26 ist ausführlicher. Dämonisch Besessene hat Jesus schon öfter geheilt (vgl. Mt 4,24; 8,16; 8,28ff; 9,32; 12,22ff). Die Frau traut ihm zu, dass er auch ihre Tochter heilen kann. Ihr Heidentum 11 12 13 14 15

So auch Dalman 173. So auch Luz II 433; France 246; Schlatter 243. So Carson 354 mit Lohmeyer; Bonnard. Modifiziert bei Fiedler a.a.O.: „Gottesfürchtige“. CD VII, 16ff; 4QPatr; 4QFlor I, 10ff. Vgl. E. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT, VIII, 1969, 483ff. 16 Lohse a.a.O. 489f. 17 Zahn 523 meint, „daß sie sich in ihrer syr. oder aram. Sprache mit Jesus … verständigen konnte“. Wie wir Dalman 172.

2. Die kanaanäische Frau, 15,21-28

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empfand sie in ihrer zugespitzten Situation – anders als der Hauptmann von Kapernaum 8,5ff – nicht als Hemmnis. Es sieht so aus, dass die Frau ohne Mann lebt, also wohl eine Witwe ist (vgl. 1Kön 17,9ff; Lk 4,25f), und vermutlich nur diese eine Tochter hatte (ebenso Mk 7,25f). Markus spricht von einem θυγάτριον [thygatrion], „Töchterchen“ (7,25). Der folgende Vers (V. 23) überrascht die Leser bis heute: Er aber antwortete ihr kein Wort. Trotz des anhaltenden18 jammervollen Geschreis. Trotz der unvergleichlichen Barmherzigkeit, die Jesus im Blick auf alle Menschen bewegte (Mt 9,36; 14,14). Man muss sich die Szene wohl so vorstellen, dass die Frau mit Rufen und Bitten hinter ihm herlief.19 Er schweigt, und gibt damit ein prophetisches Zeichen, dass die Heiden heilsgeschichtlich noch nicht „an der Reihe sind“. Mit seinem Tun interpretiert Jesus sein Wort in Mt 10,5f. Dort geht es also nicht um die äußeren Wege, sondern um den Weg der Mission. Die Jünger20 aber sind anderer Meinung: Da kamen seine Jünger zu ihm und baten ihn: Schick sie doch weg (ἀπόλυσον αὐτήν [apolyson autēn]), denn sie schreit hinter uns her. Die Aussage ἀπόλυσον [apolyson] kann sehr verschieden aufgefasst werden. Bengel übersetzte „Laß sie doch von dir“ und deutete diese Aufforderung so: „hilf ihr doch, wie du zu entlassen pflegst“.21 Zahn zufolge wollten die Jünger die Frau aus „Bequemlichkeit“ loswerden.22 Ähnlich France: Die Jünger wünschen „peace and quiet“;23 sowie Luz und Fiedler: Die Jünger fühlen sich „belästigt“.24 Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Jünger befürchteten, Jesus würde in einen Tumult hineingezogen und in seiner Sicherheit bedroht.25 Dann kann man die Worte Schick sie doch weg (ἀπόλυσον αὐτήν [apolyson autēn]) immer noch verschieden verstehen. Entweder wünschen die Jünger die rasche Erfüllung der Bitte der Frau,26 oder sie wollen sie nur mit „Empörung und Ungeduld“27 „verscheuchen“.28 Jesu profilierte Aussage in V. 24, dass die Frau im Falle der Heilung rasch mit ihrem Schreien aufhören würde, legt es nahe, dass die Jünger die 18 ἔκραζεν ist am besten bezeugt und muss als duratives Imperfekt gedeutet werden (Zahn 523; France 246; Luz II 433). 19 Zahn a.a.O.; Bengel, Gnomon, 107f. 20 Fiedler 281 und BGS fügen ohne Anhalt im Text noch „Jüngerinnen“ ein. 21 Bengel, Gnomon, 107f. Ebenso Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung. 22 Zahn a.a.O.; Bengel, Gnomon, 108: sie war „ihnen … beschwerlich“; Schlatter 244. 23 France a.a.O. 24 Luz II 434; Fiedler 281. 25 Vgl. Maier I 544; Tasker 150. 26 So Bengel a.a.O.; Zahn a.a.O. (vorsichtig); Carson 354. 27 Schniewind 184. 28 Luz a.a.O.; Sand 315.

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Erfüllung ihrer Bitte wünschten. Die Schlussworte denn sie schreit hinter uns her29 sind dann auch viel leichter verständlich.30 In V. 24 erfolgt die zweite Ablehnung. Statt den Wunsch der Jünger zu erfüllen, sagt Jesus sehr profiliert: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Die Frau gehört nicht zum Haus Israel, deshalb darf sie keine Hilfe erwarten. Manchmal wird Jesu Verhalten als „schroff “ empfunden.31 Aber es geht hier nicht um zwischenmenschliche Beziehungen, sondern um den Auftrag des himmlischen Vaters (gesandt).32 Und der setzt eindeutig eine zeitliche Priorität: Zuerst Israel, dann die Heiden (Völker).33 Auch die Heiden werden die vollen messianischen Segnungen empfangen, aber erst nach Israel. So sagt es das AT (Jes 49,6; Mi 2,12; Sach 12,7), so hat es Paulus gehandhabt (Röm 11,17ff; 15,8f). Wenn heute von protestantischen Kreisen die „Judenmission“ verboten wird, geschieht dies in einem diametralen Gegensatz zu Jesus. Sind die verlorenen Schafe nur bestimmte Glieder des Volkes, „das heißt Ausgegrenzte, Zöllner und Sünder“?34 Oder betrachtet Jesus alle Israeliten seiner Generation als verlorene Schafe? Mt 9,36 und 10,6 lassen nur den Schluss zu, dass hier alle Israeliten gemeint sind. Haus Israel (οἶκος Ἰσραήλ [oikos Israēl]) bezeichnet in einem sehr spezifischen Sinn Israel als Gottesvolk.35 Jesus hält also bewusst an der heilsgeschichtlichen Rolle seines Volkes fest. Ihm gelten in erster Linie die Verheißungen (vgl. Röm 9,4).36 Christologisch ist Mt 15,24 ein Beweis für den vollkommenen Gehorsam Jesu gegenüber dem Vater. Bisher verlief das Gespräch über einige Entfernung (sie schreit hinter uns her). Jetzt aber (V. 25) tritt die Frau – in Bengels Worten – „dem Herrn Jesu vor die Augen und verlegt ihm den Weg“.37 Sie aber kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Damit wird nach V. 22 und V. 23f der dritte Gesprächsgang eröffnet. Er ist der letzte und entscheidende. Das Niederfallen verleiht der Bitte höchste Dringlichkeit.38 Vielleicht hat die „wunderbare Pre29 Vgl. Apg 16,17f. 30 Ebenso Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; NGÜ; BGS; Bengel a.a.O.; Zahn a.a.O.; Carson a.a.O.; Luther, Predigten, I, 238; France 246; Schlatter 244. 31 Hengel-Schwemer 353. 32 Hengel-Schwemer 427. 33 Hengel-Schwemer 26.353.357. 34 So Hengel-Schwemer 334. 35 W. Gutbrod im Art. Ἰσραήλ usw., ThWNT, III, 1938, 387. 36 Interessant die Bemerkung, die Bengel, Gnomon, 108 macht: „mit den Fremdlingen … spricht er von den Juden ehrsam … Also auch wir in Ansehung der evangelischen Kirche.“ 37 Bengel, Gnomon, 108. Auch Luther, Predigten, I, 239: Sie „geht hinzu“. 38 BDR § 328,3: „προσκυνεῖν … als ‚bitten‘“. Anders Luz II 435: „huldigend“.

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digt Luthers“39 vom 21. Februar 1529 doch das Motiv der kurzen Worte Herr, hilf mir! richtig gedeutet: „ich kann nimmer … es scheint, als hätte sie vor großer Angst nicht mehr sagen können“.40 Wir werden wieder an die Sprache der Psalmen erinnert (Ps 44,27; 70,6; 109,26). Es ist die wirkliche Not unseres menschlichen Lebens, die hier spricht.41 In diesem dritten Gesprächsgang erfolgt jetzt die dritte Ablehnung der Bitte (V. 26). Auf den Hilfeschrei der Frau, die vor ihm liegt, antwortet Jesus: Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen (βαλεῖν τοῖς κυναρίοις [balein tois kynariois]). Steckt dahinter ein Sprichwort? Das muss nicht sein, Jesus kann das Wort ad hoc formuliert haben. Die Bildsprache ist sofort durchsichtig. Kinder sind die „Kinder Israel“, die Hunde, genauer „Hündchen“,42 die Heiden. Es gibt jedoch eine Debatte darüber, ob κύων [kyōn], Hund, und κυνάριον [kynarion], „Hündchen“, unterschieden werden müssen oder ob sich im 1. Jh. n.Chr. der Unterschied abgeschliffen hat.43 Vermutlich war doch noch ein Empfinden für den Unterschied beider vorhanden. Dann bezeichnet κυνάριον [kynarion], „Hündchen“, den „Stubenhund“, der „in der Wohnung des Menschen geduldet“ wird,44 der dann auch die Brocken vom Tisch (V. 27) fressen darf. Das Bild behielte dann seine Prägnanz: Niemand denkt ja daran, das Brot den Straßenhunden (κύνες [kynes], vgl. Mt 7,6) vorzuwerfen, wohl aber sind die Stubenund Schoßhunde näher dran. Alle diese Debatten ändern nichts an der Grundaussage: Die Heiden sind im Verhältnis zu Israel Hunde = Unwissende und Gottentfremdete,45 die Israeliten aber bleiben trotz ihres Ungehorsams Kinder (Röm 9,4). Folglich hat Israel beim Kommen des Messias Priorität, und es ist nicht richtig (καλόν [kalon]), die Heiden jetzt in das Heilswirken des Messias hineinzunehmen.46 Jesu Ablehnung der Frau muss also hier positiv verstanden werden: Er bekennt sich zu Israel als Gottes Volk und ist zunächst und zuerst dessen Messias!47 Das ist bis heute zu respektieren. Es geht an dieser positiven Grundintention vorbei, wenn Kritiker heute von „brutality“,

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So Barth, KD I/1, 184, allerdings bezüglich der Fastenpostille 1525. Luther a.a.O. Seltsam Beare 342: „pathetic words“. κυνάριον kommt nur hier und Mk 7,27 im NT vor. Vgl. Bauer-Aland 929; France 247; Carson 356. O. Michel, Art. κύων usw., ThWNT, III, 1938, 1103; BDR § 111,6; Bauer-Aland a.a.O.; Strack-Billerbeck I 726; Zahn 525; Luz II 435f. Anders Tasker 150. 45 Strack-Billerbeck I 722ff. 46 Michel a.a.O. 1104. 47 Vgl. Carson 355; Mk 7,27.

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„the worst kind of chauvinism“, „atrocious saying“48 oder „Beleidigung“49 sprechen. Sie treffen damit weder Jesu Absicht noch die Reaktion der Frau. Allerdings bleibt über den Lehrsatz „Israel zuerst“ hinaus eine zweite Dimension gegenwärtig: Jesus will den Glauben der Frau auf die Probe stellen. Hier ist das relative Recht der lutherischen Auslegung: Jesus „redet nur darum so, daß er ihren Glauben versuchte“.50 Aus seiner Erfahrung fügt Luther hinzu: Das ist „eine Kunst, die alle Universitäten und Schulen nicht wissen“.51 In V. 27 steht nicht nur eines der kürzesten, sondern auch eines der eindrucksvollsten Worte des NT: Sie sagte: Ja, Herr. Ja ist unumschränkte Zustimmung.52 Die heute gebräuchlichen Übersetzungen „ganz recht, Herr“,53 „Das stimmt“,54 „Gewiss, Herr“55 ziehen die Antwort der Frau viel zu sehr auf die Ebene eines unverbindlichen Gesprächs herab. Ja bedeutet, dass Jesus als der Herr die Wahrheit sagt; dass Israel von allen Völkern die größte Nähe zu Gott und zum Messias hat; dass Jesu Verhalten richtig ist. Die Größe dieses Ja geht uns in unserem Leben erst auf, wenn uns das Nein Gottes begegnet. Und nun folgt ein in Bild und Aussage noch einmal unübertreffliches Wort der Frau: Und doch56 essen auch die Hunde (κυνάρια [kynaria], „Hündchen“) von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Es ist das dritte Mal, dass sie das Wort ergreift (V. 22.25.27). Drei Mal hat Jesus abgelehnt. Aber jetzt, wo sie sich nach Luther auf das „Recht der Hunde“ beruft,57 rührt sie das Innerste bei Jesus an. Reicht nicht ein einziger Brocken (ψιχίον [ psichion]), eine „Brotkrume“,58 ein „ganz kleines Bröckchen“59 vom Reichtum der Barmherzigkeit Jesu, um ihre Tochter gesund zu machen? Hier fand die reformatorische Schriftauslegung eines der schönsten Beispiele für den wahren Glauben. Um noch einmal Luther zu zitieren: Der Glaube spricht: „du heißest mich einen Hund, nach deinen Worten handle mit mir!“60

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Beare 342f. Luz II 435; Fiedler 282. Luther a.a.O. 240. A.a.O. 239. Vgl. BDR § 441,2. Bauer-Aland 1078. BGS; NGÜ. Gute Nachricht. Vgl. BDR § 452,3 sowie Carson 356, der „aber sogar die Hunde“ übersetzt; wie er auch France 247; Schniewind 183; Zahn 525f. Luther a.a.O. 239. BDR § 111,7. Bauer-Aland 1780. Luther a.a.O.

2. Die kanaanäische Frau, 15,21-28

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V. 28 ist nicht nur der Schlussvers, sondern auch die Krönung der Geschichte, und zwar in doppelter Weise: a) Jesus gibt der Frau recht, b) er setzt ein Zeichen für die künftige Heidenmission. Da antwortete Jesus und sagte zu ihr: O Frau, dein Glaube ist groß!: Wie beim Hauptmann von Kapernaum scheint Jesus überrascht von der Glaubensgröße eines heidnischen Menschen (vgl. Mt 8,10.13). Es ist schon bemerkenswert, dass bei Matthäus ausgerechnet Heiden Vorzeigebeispiele des Glaubens sind. O Frau (ὦ γύναι [ō gynai]) ist Ausdruck des Affekts.61 Was groß ist an ihrem Glauben, wird hier nicht durch dogmatische Sätze, sondern durch ihr Verhalten erklärt: Sie akzeptiert Gottes Willen, verkörpert in Jesus, ganz und gar;62 sie vertraut aber auch ganz und gar darauf, dass die göttliche Barmherzigkeit einen Weg der Hilfe finden wird; die mehrfachen Ablehnungen treiben sie nur näher zu Jesus hin. Dir geschehe, wie du willst!: So sagte es Jesus immer wieder (vgl. Mt 8,13; 9,29). Bengel machte dazu die ausgezeichnete Anmerkung: „Der Glaube liegt auch im Willen.“63 Aber gegen Bengel bleibt auch festzuhalten, dass Jesus nicht dem „Fürwort der Jünger“ (= ihrer Fürbitte)64 die Bitte gewährt hat, sondern der glaubenden Frau. Als wäre es ganz selbstverständlich, registriert Matthäus die Erfüllung: Und ihre Tochter war von jener Stunde an gesund (vgl. Mt 8,13; 9,22; 17,18).

IV Zusammenfassung 1. Diese kurze Geschichte, die bei Matthäus und Markus weitgehend übereinstimmend berichtet wird, enthält eine vielfältige Botschaft. 2. Diese Botschaft spitzt sich dreifach zu: a) Israel behält sein heilsgeschichtliches Vorrecht; b) der Glaube an den Messias Jesus ist der wahre Zugang zu Gott; c) die Weltmission kündigt sich schon in den Tagen Jesu an. 3. Bei Mt 15,21-28 treten sich reformatorisches und liberales Bibelverständnis scharf gegenüber. Es ist so, wie es Luz beschreibt: „Bei der paränetisch-existentiellen Auslegung entdeckte die Reformation neu die tiefe Kraft des Glaubens.“65 Mt 15,21-28 gehört zum Kern der reformatorischen Bewegung.66

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BDR § 146,1. Tasker 151f. Bengel, Gnomon, 108. Bengel, Gnomon, 107f. Luz II 437. Luther; Bengel; Barth; Schniewind usw.

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4. Die liberale Exegese hingegen empört sich mindestens teilweise über den „Chauvinismus“ zugunsten Israels, der hier zum Ausdruck komme, gegen die „Brutalität (brutality)“ der Abweisung Jesu gegenüber einer Hilfe suchenden Frau und gegen die von Jesus honorierte „Demut“.67 Man kann sich so etwas bei Jesus nicht vorstellen68 und verbannt deshalb Mt 15,21-28 aus den authentischen Jesusgeschichten und spricht es stattdessen irgendwelchen, wohl „hellenistischen“, frühchristlichen Kreisen zu.69 Bultmann verweist Mt 15,21-28 sogar ins Reich der „Phantasie“.70 5. Ernst zu nehmen ist die Warnung von Luz, wir sollten aus der „Geschichte“ von Mt 15,21-28 keine pure „Lehre“ machen. „Was für ein Wirklichkeitsund Erfahrungsverlust“ steckt „hinter einer solchen Reduktion dieser Geschichte auf eine Lehre?“71 Stattdessen sollten wir Mt 15,21-28 permanent auf unsere eigene Situation anwenden. 6. Auch anderen Fehlinterpretationen gilt es zu widerstehen. Falsch wäre es, eine „Stärke“ des Glaubens der Frau zu rühmen. Denn Glaubens-„Stärke“ ist nicht unsere Eigenschaft, sondern ein Geschenk (1Kor 13,2). Falsch wäre es, die Beziehung auf Jesus zu eliminieren und einfach zu konstatieren: Die Frau habe sich durch „die universelle Offenheit des biblisch-jüdischen Gottesglaubens … angenommen“ gewusst.72 Welche Rolle spielt dann noch die Messianität Jesu? Falsch wäre es auch, die Kinder im Weg der allegorischen Exegese auf die heutige Kirche, die „Kinder“ des Neuen Testaments, zu beziehen.73 Eine solche Depravation bringt Israel um das Vorrecht, das ihm heilsgeschichtlich zukommt. 7. Eben aus diesem Vorrecht folgt auch bis heute das Recht, das Evangelium zu hören. Eine Absage an die sog. „Judenmission“ – ob dieser Name nun glücklich ist oder nicht – steht im Widerspruch zu Mt 15,21-28. 8. Unzweifelhaft ist auch, dass Mt 15,21-28 eine Station auf dem Weg zur Heidenmission bedeutet. Eine Heidin ist Vorbild des Glaubens. Einer Heidin schenkt Jesus Hilfe und das Wunder der Barmherzigkeit. Mt 8,5ff und 15,21ff weisen viele Ähnlichkeiten auf. Die Weltmission, die dem Messias nach Jes 42,4; 49,6 aufgetragen ist, erscheint am Horizont.

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Beare 342ff. Beare 342. Bultmann, Gesch, 167.176. Bultmann, Gesch, 68; Beare 342ff. Vgl. die ironischen Anmerkungen bei Luz II 432. Luz II 437f. Fiedler 282. So allerdings Luther a.a.O. 239.

3. Weitere Heilungen am See Genezareth, 15,29-31

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9. Unsere Geschichte hat eine bemerkenswerte Nähe zu manchen Rabbinica. Man vgl. die Geschichte von Rabbi in b BB 8a74 oder Mechilta Ex 14,31 zum Glauben.75

3. Weitere Heilungen am See Genezareth, 15,29-31 I Übersetzung 29 Und Jesus zog von dort weg und kam ans Galiläische Meer und stieg auf einen Berg und setzte sich dort nieder. 30 Und es kam eine große Menge zu ihm. Die hatten mit sich Lahme, Blinde, Krüppel, Stumme, und viele andere, und legten sie zu seinen Füßen nieder, und er heilte sie, 31 sodass die Menge erstaunte, als sie Stumme reden, Krüppel gesund, und Lahme gehen und Blinde sehen sah! Und sie priesen den Gott Israels.

II Struktur Mt 15,29-31 ist ein Mittelding zwischen einem Summarium und einer eigenen Geschichte. Die Stellung dieses Abschnitts ist bei Matthäus und Markus (7,31-37) gleich. Man muss daraus folgern, dass diese Geschehnisse sich an den phönizischen Aufenthalt anschlossen (vgl. Mt 15,21ff par.).1 Lukas und Johannes fallen wieder aus. Während Markus sich auf eine exemplarische Heilung – das berühmte Hefata Mk 7,31-37 – konzentriert, gibt uns Matthäus einen Überblick über die damalige Zeit. Im Unterschied zu Mt 4,23 werden jetzt Lahme, Blinde, Krüppel und Stumme erwähnt. Auch dadurch wird klar, dass Jesus „alle Krankheit und alle Schwachheit“ heilte (vgl. 9,35; 14,35f). Die unvergleichliche und umfassende Vollmacht Jesu wird dadurch ein weiteres Mal unter Beweis gestellt.

III Einzelexegese Wieder sehr knapp berichtet Matthäus: Und Jesus zog von dort weg (V. 29). Markus sagt genauer: „aus dem Gebiet von Tyrus“ (7,31). Er kam ans Galiläische Meer: Erst Markus verdeutlicht, dass dies auf das Ostufer, „mitten in 74 Vgl. Strack-Billerbeck I 726. 75 Strack-Billerbeck a.a.O. 1 Vgl. Schniewinds Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie: „Es ist nicht anzunehmen, daß Mt. die Mk.-Geschichte bewußt durch unseren Abschnitt ersetzt hat.“

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das Gebiet der Dekapolis“, zu beziehen ist. Er stieg auf einen Berg: Das sind die Berge, die sich vom Ostufer steil zum Golan erheben. Er setzte sich dort nieder: Wie in Mt 5,1 muss das bedeuten, dass sich Jesus niederließ, um zu lehren. Auch in Mt 15,29ff geht also die Verkündigung den Heilungen voraus. Die ununterbrochene Heilungstätigkeit Jesu sagt uns zweierlei: 1) Er ringt nach wie vor um Israels Zustimmung zu ihm als Messias; 2) seine Barmherzigkeit dauert ohne Ende fort (vgl. Mt 4,23f; 8,1ff.5ff.14f.16f.28ff; 9,1ff. 18ff.27ff.35f; 12,9ff.15.22ff; 13,58; 14,34ff; 15,21ff). Tasker2 hat eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit der Wirksamkeit Jesu in der Dekapolis (Mt 15,29ff; Mk 7,31ff) dessen Tätigkeit im heidnischen Gebiet fortsetzt, und dass diese Praxis nicht im Widerspruch zu Mt 10,5f steht. Denn Israels Vorrang bleibt unangetastet. Und es kam eine große Menge zu ihm (V. 30): Juden aus der Dekapolis? Heiden? Beides ist möglich.3 Viele deuten den Gott Israels in V. 31 so, dass sie darin einen Hinweis auf Heiden sehen.4 Da Matthäus aber keine näheren Angaben macht, sollten wir mit beiden rechnen. Jedenfalls ist ein Zustrom aus der Dekapolis schon in Mt 4,25 vermerkt. Die Herbeikommenden hatten Lahme, Blinde, Krüppel und Stumme nebst vielen anderen bei sich, die Jesus heilen sollte. Der Zulauf des Volkes war also trotz aller Anfeindung ungebrochen. Da die Heilung von Blinden, Lahmen und Stummen zu den Wundern der messianischen Zeit gehört (Jes 35,5f), waren diese Leute mindestens offen für den messianischen Anspruch Jesu. Man legte die Kranken zu den Füßen Jesu nieder. Schniewind meint, man habe die Heilung durch „die unmittelbare Berührung mit ihm“ erhofft.5 Es ist aber fraglich, ob man eine solche Berührung angesichts mancher Fernheilungen (Mt 8,5ff; 15,21ff) überhaupt für notwendig hielt. Zu seinen Füßen besagt wohl nur so viel, dass man Jesu Aufmerksamkeit auf den betreffenden Kranken lenken wollte. In lediglich drei Worten (καὶ ἐθεράπευσεν αὐτούς [kai etherapeusen autous]) hält Matthäus das Wunder fest, dass sie alle geheilt wurden. Das Erstaunen der Menge (θαυμάσαι [thaumasai], V. 31) ist kein literarisches Stilelement, sondern die immer neue Dokumentation der Einzigartigkeit Jesu (vgl. Mt 8,27; 9,8; 9,33). Die Aufzählung sie (sah) Stumme reden, Krüppel gesund, und Lahme gehen und Blinde sehen erinnert bis in den Wortlaut hinein an Mt 11,5, in der Sache auch an Jes 35,5f. Implizite wird also noch einmal unterstrichen, dass Jesus der Messias ist. Sie priesen den Gott 2 3 4 5

Tasker 153. Luz II 440 will nur an Juden denken. So Carson 357; France 248; Tasker 153; Schniewind 185; Zahn 527. Schniewind a.a.O.

4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39

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Israels: Das können sowohl Juden (Lk 1,68; 2,20) als auch Heiden (1Kön 10,9; 2Kön 5,15; Dan 3,28f; 6,27f) tun.6 Es ist Matthäus offenbar wichtig, dass Jesu Wirken unter den Heiden keine Distanz zwischen ihm und Israel schafft, sondern umgekehrt die Heiden in die Nähe Israels bringt. Das war seine Tendenz schon in 2,1ff; 4,24f; 8,5ff und gerade eben erst in 15,21ff. Man erinnere sich ferner an die Heilung der zwei Besessenen nach Mt 8,28ff, die ganz in der Nähe des Schauplatzes von Mt 15,29ff stattfand. Zeichenhaft leuchtet also immer wieder das Heil für die Völker auf, das der Gottesknecht nach Jes 42,1ff; 49,1ff; 53,1 schafft.

IV Zusammenfassung 1. Oft wird Mt 15,29-31 nur als „Rahmen“ zur Speisungsgeschichte (15,32ff) behandelt.7 Das ist bedauerlich. Denn auf dem Weg zum MessiasBekenntnis (16,13ff) markiert Mt 15,29ff noch einmal das Vertrauen des Volkes zu Jesus und seine Bereitschaft, ihn als Messias anzuerkennen – bis weit in die gemischt besiedelten Gebiete der Dekapolis und Syriens hinein. Erst der zunehmende Widerstand der führenden Kreise ändert diese Situation. 2. Jesu Vollmacht und Wunderkraft bleibt ohne Parallele. Wer will, kann sehen, wie er die messianischen Weissagungen erfüllt (Jes 29,18f; 35,5f; 61,1f).8 3. Nach Mt 8,5ff; 8,28ff; 15,21ff ist dies das vierte Mal, dass er sich heilend und wunderwirkend Heiden zuwendet, ohne doch die heilsgeschichtliche Priorität Israels aufzugeben (vgl. Mt 10,5f; 15,24). Ganz im Sinne von Jes 42,1- 4; 49,1- 6 beginnt Jesus, das „Licht der Heiden“ zu werden – und das ist Matthäus wichtig.

4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39 I Übersetzung 32 Jesus aber rief seine Jünger zu sich und sagte: Mich erbarmt es mit den vielen Leuten. Denn sie harren schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und hungrig will ich sie nicht wegschicken, damit sie unterwegs nicht ermatten. 33 Und die Jünger sagen zu ihm: Woher sollen 6 Vgl. France 248. 7 Vgl. Fiedler 282; Schniewind 184f; Beare 344ff; Schlatter 246f; Luz II 438ff. 8 Vgl. Hengel-Schwemer 332,67.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

wir in der einsamen Gegend so viel Brot bekommen, dass eine solche Menge satt wird? 34 Und Jesus sagt zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Sie sagten: Sieben und ein paar kleine Fische. 35 Und er befahl der Menge, sich auf der Erde zu lagern, 36 nahm die sieben Brote und die Fische und sprach das Dankgebet, brachs und gabs den Jüngern, die Jünger aber den Leuten. 37 Und sie aßen alle und wurden satt. Und was übrig war von den gebrochenen Broten, hoben sie auf: Sieben Körbe voll. 38 Die aßen, waren aber viertausend Männer außer Frauen und Kindern. 39 Und nachdem er die Menge weggeschickt hatte, stieg er in das Boot und kam in das Gebiet von Magadan.

II Struktur Die Struktur von Mt 15,32-39 ist weitgehend die gleiche wie bei Mt 14,13-21. Siehe auch die Ausführungen dort. Zu klären ist aber das Verhältnis der beiden Speisungsgeschichten zueinander. Zunächst: Sowohl Markus (6,32-44; 8,1-10) als auch Matthäus (14,13-21; 15,32-39) berichten von zwei Speisungswundern. Das stimmt mit der Geschichte Elisas überein (2Kön 4,1ff; 4,38ff), auf die Jesus in der Synagoge von Nazaret zu sprechen kommt (Lk 4,27). Die liberale Exegese hat sich inzwischen angewöhnt, die beiden Speisungswunder als Doubletten zu betrachten, das heißt als Erzählungen von ein und demselben Ereignis.1 Aber die Unterschiede sind erheblich: 1) Die Speisung der Fünftausend erfolgt zu einem früheren Zeitpunkt; 2) sie erfolgt unter Juden, während bei der Speisung der Viertausend Heiden wenigstens nicht auszuschließen sind; 3) die Viertausend haben drei Tage bei Jesus ausgeharrt, während bei den Fünftausend eine solche Angabe fehlt; 4) die Zahl der Brote differiert (5 in Mt 14,17; 7 in Mt 15,34); 5) die Zahl der Fische differiert (2 in Mt 14,17; „ein paar kleine Fische“ in Mt 15,34); 6) die Zahl der Körbe für das Übrige differiert (12 in Mt 14,20; 7 in Mt 15,37); 7) damit entfällt in Mt 15,32ff die Symbolzahl „zwölf “ für die Stämme Israels; 8) die Zahl der Gespeisten differiert (5000 in Mt 14,21; 4000 in Mt 15,38); 9) Jesus selbst unterscheidet in Mt 16,9f par. die beiden Speisungen voneinander. Angesichts dieser Unterschiede und der Parallelität zur Elisa-Geschichte ist es unmöglich, die beiden Berichte nur als Doubletten ein und desselben Ereignisses aufzufassen. Wir haben vielmehr von zwei historischen Ereignissen auszugehen, ohne ihre Gemeinsamkeiten zu übersehen.2 1 Bultmann, Gesch, 232: „Eine Variante“ von Mk 6,34ff … „sekundär“; Beare 347: „two versions of … a single legend“. 2 Ebenso Carson 357f; Zahn 527f; Tasker 153f; France 248f.

4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39

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III Einzelexegese Jesus aber rief seine Jünger zu sich (V. 32): Darin liegt ein Unterschied zu Mt 14,15 / Mk 6,35 / Lk 9,12 (προσῆλθον αὐτῷ οἱ μαθηταί [ prosēlthon autō hoi mathētai]). Allerdings stimmt diese Initiative Jesu mit Joh 6,5f überein. Die Worte Mich erbarmt es mit den vielen Leuten (σπλαγχνίζομαι ἐπὶ τὸν ὄχλον [splanchnizomai epi ton ochlon]) sind in Mt 15,32 / Mk 8,2 gleich überliefert. Das Erbarmens-Motiv spielt in der Jesus-Geschichte eine starke Rolle (vgl. Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,34; Mk 1,41; Lk 7,13; 10,33; 15,20). In einer bei Matthäus überraschenden Breite schildert Jesus nun die Situation: sie harren schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und hungrig will ich sie nicht wegschicken, damit sie unterwegs nicht ermatten. Man muss diese Situation zurückbeziehen auf die Verse 29-31. Demnach befindet sich Jesus mit der Menge im Bergland des relativ dünn besiedelten Ostufers des Sees Genezareth. Drei Tage lang hat er jetzt gelehrt und geheilt (ἐκάθητο – ἐθεράπευσεν [ekathēto – etherapeusen], V. 29f). Kranke und schwache Menschen waren mit dabei. Ohne genügenden Proviant sind sie losgezogen (auch Mk 8,1: μὴ ἐχόντων τί φάγωσιν [mē echontōn ti phagōsin]). Da ist die Befürchtung berechtigt, dass sie unterwegs ermatten,3 vor allem die zuvor Kranken. V. 33 verrät, dass sich die Jünger4 für die Speisung verantwortlich fühlen. Denn sie „sagen: Woher sollen wir (ἡμῖν [hēmin]!) … so viel Brot bekommen? Darin könnte eine Erinnerung an das erste Speisungswunder stecken, bei dem Jesus befohlen hatte „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mt 14,16). Sie weisen auf die einsame Gegend (ἐρημία [erēmia])5 und auf die große Menge der Anwesenden hin. Einsame Gegend ist dabei ein relativer Begriff. Er muss im Gegensatz zum dicht besiedelten Westufer und von der Entfernung zu den größeren Orten wie Julias/Betsaida, Hippos oder Gamla verstanden werden. Die Jünger lehnen nicht ab. Sie zeigen nur ihre Ratlosigkeit. Dem heutigen Leser gibt es zu denken, dass diese Jünger trotz der vielen Wunder Jesu weder wundersüchtig wurden noch Wunder als das Normale ansahen. Sie blieben nüchtern, ganz rational auf unsere menschliche Erfahrungswelt eingestellte Menschen. Dass die Menschen früher wundergläubiger waren, ist eine Legende.6 3 Bauer-Aland 489. BasisBibel, BGS, NGÜ, Gute Nachricht: „unterwegs zusammenbrechen“; Carson 357f: „collapse“. 4 Die ständige Einfügung von „Jüngerinnen“ durch die BGS ist nicht nur langweilig, sondern auch eine Verfälschung des Textes. 5 „Wüste“ ist eine falsche Übersetzung, gegen BGS; Lutherbibel. 6 Weshalb Luz II 441 von „unverständigen Fragen der Jünger“ spricht, bleibt unklar.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

Jesus fragt sie nun nach „ihre(n) eigenen Brote(n)“,7 V. 34. Es sind sieben. In Mt 14,17 waren es fünf. Sieben ist eine heilige Zahl und eine Symbolzahl.8 Zwar meint Rengstorf,9 in Mt 15,32ff sei die Sieben-Zahl „ohne besonderen Nebensinn“. Jedoch könnte die Gotteszahl Sieben (vgl. Offb 1,4; 4,5; 5,6) Jesus in der Gewissheit bestärkt haben, dass der Vater durch ihn ein weiteres Wunder tun wollte. Die kleinen Fische (ἰχθύδια [ichthydia])10 „waren vermutlich gesalzen und getrocknet“.11 Schlatter merkte hier an: „Er ließ sie ihre eigenen Brote und Fische bringen, und die Allmacht tat das Übrige.“ Mit V. 34 endet auch schon das Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern. Es ist insgesamt kürzer als dasjenige bei der Speisung der Fünftausend. Im Folgenden befahl er der Menge, sich auf der Erde zu lagern (V. 35). Einen ähnlichen Befehl fanden wir bei der Speisung der Fünftausend in Mt 14,19. Doch jetzt ist nicht mehr vom „Gras“ die Rede, sondern von der Erde (γῆ [gē]). Dieser Unterschied erklärt sich aber sehr natürlich aus dem Zeitablauf. Die Speisung der Fünftausend fällt in die Passazeit (Joh 6,4), in der auch auf dem Ostufer das grüne Gras sprosst (Mk 6,39). Jetzt ist die Zeit fortgeschritten, das grüne Gras verdorrt, sodass nur die Erde als Lagerplatz verbleibt. Der Vorgang der Speisung wird in V. 36 fast mit denselben Verben beschrieben wie in Mt 14,19: nahm (ἔλαβεν [elaben]) – sprach das Dankgebet – brachs (ἔκλασεν [eklasen]) – gabs (ἐδίδου [edidou]). Nur beim Sprechen des Dankgebets wechselt Matthäus von εὐλόγησεν [eulogēsen] (14,19) zu εὐχαριστήσας [eucharistēsas] (15,36). Manche leiten daraus ab, dass Matthäus bei der Speisung der Viertausend den Bezug zur Eucharistie, zum christlichen Herrenmahl, verstärken wollte.12 Aber Luz hat hier recht: Beide Wörter sind für Matthäus „synonym“.13 Deshalb sollte man den Abendmahlsbezug nicht stärker betonen als bei der Speisung der Fünftausend.14 Festzuhalten bleibt hingegen die Verwandtschaft des Vorgangs mit der Passaliturgie15 sowie die Entsprechung zu den Speisungswundern Elias und Elisas (1Kön 17,10ff; 2Kön 4,1ff; 4,42ff), insbesondere zu den zwei Speisungen durch Elisa, sodann als entferntere Parallele die Mose-Zeit mit ihren Speisungswundern 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Schlatter 247. Vgl. K. H. Rengstorf, Art. ἑπτά usw., ThWNT, II, 623ff. A.a.O. 626. Aland-Bauer 779. J.A. Thompson, Art. Fisch und Fischfang, GBL 1, 383. Vgl. die Diskussion bei Luz II 441f, Carson 359; ferner Fiedler 283. Luz II 441,19. Ebenso H. Conzelmann im Art. χαίρω usw., ThWNT, II, 1935, 760. Ebenso Luz a.a.O.; Carson a.a.O. gegen Fiedler a.a.O.; France 249. Vgl. Beyer a.a.O. 760f.

4. Die Speisung der Viertausend, 15,32-39

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(z.B. Ex 16,1ff; 17,1ff, Num 11,4ff), und schließlich doch auch der Bezug zum Abendmahl. Festzuhalten bleibt ferner die Vermittlung der Speisung durch die Jünger (vgl. wieder 14,19). Jesus hat also ein Vielfaches erreicht: 1) In seiner Barmherzigkeit stillte er den Hunger, half also aus konkreter leiblicher Not;16 2) durch seine Wunder erwies er sich als der Messias, der ein zweiter Mose ist, ja als einer, der Mose und Elia/Elisa übertrifft; 3) in Anknüpfung an das Passa zeigte er, dass es jetzt um die endgültige Erlösung geht, was sich später auch im Abendmahl widerspiegelt; 4) er zeigte zugleich, dass er durch seine Jünger wirken will, bereitete also die Kirche vor. Die Verse 37 und 38 enthalten den Schluss dieser Speisungsgeschichte. Wie in 14,20 aßen alle und wurden satt (V. 37 in wörtlicher Übereinstimmung). Das Übrige wird wieder aufgehoben: Sieben Körbe voll. Hier erweckt die Bezeichnung für die Körbe, σπυρίς [spyris] statt κόφινος [kophinos] Mt 14,20, Interesse. Ist κόφινος typisch jüdisch?17 Deutet σπυρίς [spyris] deshalb eher auf Heiden?18 Möglicherweise ist es so, doch nicht sicher. Zur Sieben-Zahl siehe oben bei V. 34. Mit Recht bemerkt Carson,19 dass nicht einzusehen sei, weshalb zwar die Zwölf in Mt 14,20, nicht aber die Sieben in 15,37 symbolisch gedeutet werden sollen.20 Aber das Worauf der Deutung bleibt bisher unklar. Am ehesten leuchtet ein Bezug sowohl auf das Erlassjahr (Deut 15,1ff) als auch auf die Gotteszahl (Offb 1,4.12.16.20; 5,1ff; 8,2; 15,1.7; Sach 3,9; 4,2.10) ein. Die Sieben-Zahl der Körbe brächte dann zum Ausdruck, dass die göttliche Erlösung naht.21 Nach V. 38 nahmen an dieser Speisung viertausend Männer außer Frauen und Kindern teil. Carson kommt unter Schätzung von weiblichen und kindlichen Teilnehmern zu einer Gesamtzahl von über zehntausend.22 Das ist sicher zu hoch. Denn Frauen und Kinder werden nur wenige den weiten Weg in die Einöde gewagt haben. Ihre Zahl war offensichtlich so gering, dass es Markus bei der Zahl viertausend belassen konnte (Mk 8,9). Unsere Geschichte trägt also den Namen „Speisung der Viertausend“ zu Recht. Alles in allem können wir jetzt konstatieren, dass die Speisung der Viertausend fast überall geringere Zahlen aufweist als die Speisung der Fünf16 Die Bezeichnung „Barmherzigkeitsmahl“ wäre viel angemessener als „Sättigungsmahl“, das z.B. Luz II 441 gebraucht. 17 Dahin neigt Carson 359 nach A.E.J. Rawlinson. 18 So Carson a.a.O.; France 249. 19 A.a.O. 20 So aber Rengstorf a.a.O. 21 So falsch ist also die patristische Exegese nicht, die Luz II 442 referiert (Hilarius, Origenes). 22 Carson a.a.O.

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tausend: Nur viertausend statt fünftausend Teilnehmern, nur sieben Körbe übrig statt zwölf, vermutlich auch kleinere Körbe: σπυρίδες [spyrides] statt κόφινοι [kophinoi]. Man fragt sich: Welcher Autor hätte nach der „besseren“ Ausgabe des Speisungsberichts noch eine „schlechtere“ gebracht, wenn es sich nicht tatsächlich um zwei verschiedene Vorgänge gehandelt hätte?23 Auch deshalb liegt es näher, mit zwei Speisungswundern Jesu zu rechnen, statt nur mit einem. V. 39 dient der Überleitung zu den in Kap. 16 berichteten Ereignissen. Erstaunlicherweise enthält der Vers keinerlei Reaktion der Teilnehmer auf die Speisung. Er bemerkt nur, dass sich Jesus mit seinen Jüngern wieder von der Menge trennte – Und nachdem er die Menge weggeschickt hatte (ἀπολύσας [apolysas]) – und daraufhin in einem Boot ans Westufer zurückfuhr. Doch wohin genau? In Mt 15,39 sprechen die ansonsten zuverlässigsten Handschriften vom Gebiet von Magadan (τὰ ὅρια Μαγαδάν [ta horia Magadan]). Bis heute wissen wir nicht, was und wo Magadan war. Man kann nur hoffen, dass zukünftige Funde mehr Licht in dieses Dunkel bringen. Magadan erinnert an „Magdala“, und so haben die meisten Handschriften für „Magadan“ ein „Magdala“ eingefügt. Andere sprechen von „Magedan“, was an das Magedane im Onomasticon des Eusebius erinnert, das dort allerdings am Ostufer des Sees Genezareth liegt.24 Markus bietet als Ortsnamen „Dalmanutha“ (8,10). Die Varianten bei Markus lauten: „Dalmunai“, „Magdala“, „Mageda“, „Magada“, „Melegada“. Was sich aus der Vielfalt der Varianten ablesen lässt: 1) Es gibt eine allgemeine Tendenz zur Angleichung an das bekanntere „Magdala“, 2) der ursprüngliche Name sperrte sich zäh gegen diese Angleichung, wird also ursprünglich doch wohl anders gelautet haben. Wir bleiben deshalb vorsichtig und lassen es hier bei Magadan, obwohl wir nicht ausschließen können, dass doch Magdala damit gemeint ist, wie es ja renommierte Fachleute von Range eines Gustaf Dalman25 und viele Lexika annehmen.26 Nur eins steht fest: Jesus kehrte ans Westufer des Sees und damit in den Herrschaftsbereich des Herodes Antipas zurück.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 15,32-39 und Mk 8,1-10 begegnet uns mit der Speisung der Viertausend das zweite Speisungswunder Jesu. 23 24 25 26

Vgl. Maier I 552. Vgl. R. Riesner, Art. Dalmanuta, GBL 1, 247f. Dalman 116. Jer Bibellexikon 552; Arch BL 281; Reclams Bibellexikon, hg. von Klaus Koch u.a., Stuttgart, 1978, 313.

5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4

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2. Es mag sein, dass „unsere Geschichte die Exegese nie sehr interessiert“ hat.27 Sie ist aber wichtig, weil sie die überlegene Kraft und Vollmacht Jesu zeigt, die sogar die mehrfachen Wunder der Mose- und Prophetenzeiten übertrifft. 3. Der Sinn unserer Geschichte liegt nicht nur darin, die Barmherzigkeit des Messias Jesus zu veranschaulichen, der den Hunger der Menge stillt. Sondern sie enthält auch Bezüge zum Passa mit dem Ausblick auf die Erlösung Israels, zur Feier des Abendmahls im Horizont des Neuen Bundes, zum Erlassjahr (Deut 15,1ff) und zum messianischen Mahl der Erlösten (Jes 12,3; Mt 8,11; Offb 19,9). Mit einem Wort: Die wunderbare Speisung ist ein Vorzeichen des endzeitlichen Heils.

5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4 I Übersetzung 1 Und die Pharisäer und Sadduzäer kamen zu ihm, wollten ihn auf die Probe stellen und forderten ihn auf, er solle ihnen mit einem Zeichen aus dem Himmel einen Beweis antreten. 2 Er aber gab ihnen zur Antwort: Am Abend sagt ihr: Es wird schönes Wetter, denn der Himmel ist rot. 3 Und am Morgen: Heute gibt es schlechtes Wetter, denn der Himmel ist rot und trübe. Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen. Aber die Zeichen der Zeit könnt ihr nicht beurteilen? 4 Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen. Aber es wird ihm kein anderes Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Jona. Und er ließ sie stehen und ging weg.

II Struktur Auch in Mk 8,1-13 schließt sich diese Zeichenforderung an die Speisung der Viertausend an. Eine genaue Parallele bei Lukas fehlt, doch vgl. Lk 11,16; 11,29; 12,54-56. Johannes berichtet ebenfalls von einer Zeichenforderung im Anschluss an ein Speisungswunder, schließt sie aber an die Speisung der Fünftausend an (Joh 6,30). Wie Mt 12,38ff lehrt, müssen wir mit mehreren Zeichenforderungen im Leben Jesu rechnen. Deshalb sind Mt 16,1-4; Mk 8,11-13 als ein Ereignis eigener Art zu behandeln.

27 Luz II 442.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

Gesprächspartner Jesu sind diesmal nicht nur die Pharisäer, sondern auch Sadduzäer. Ihr gemeinsames Auftreten deutet an, dass sich die Lage Jesu verschlechtert hat. Im Gespräch mit dabei sind die Jünger (vgl. V. 5ff), vermutlich auch Hörer und Hörerinnen aus dem Volk (vgl. V. 4). Mt 16,1-4 ist dreigeteilt: 1) Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer (V. 1), 2) die Antwort Jesu (V. 2-3), 3) ein allgemeines Wort Jesu (V. 4).

III Einzelexegese Wir sind am Westufer. Als letzter Ort wurde Magadan (Dalmanutha) erwähnt (15,39). Hier im jüdischen Gebiet des Herodes Antipas kamen die Pharisäer und Sadduzäer auf Jesus zu (V. 1). Die Initiative lag also bei ihnen. Dass es sich um eine gemischt pharisäisch-sadduzäische Gruppe handelte, könnte wie in Joh 1,19ff darauf hindeuten, dass sie vom Hohen Rat in Jerusalem abgesandt waren, um die Vorgänge um Jesus zu überprüfen.1 Von einer solchen Prüfung ist in der Tat die Rede: sie wollten ihn auf die Probe stellen (πειράζοντες [ peirazontes]). Die zentrale Frage kann nur lauten: Kommt Jesus von Gott oder nicht (vgl. Joh 3,2)? Voraus ging das Speisungswunder. Hat er es in der Kraft Gottes oder in einer anderen Kraft vollbracht? Noch immer ist also die Frage von 12,24ff offen. Sie erstreckt sich auch auf seine Lehre. Hat es nicht kürzlich erst (15,1-20) den Zusammenstoß in der Reinheitsfrage gegeben? Für Israel ist es lebenswichtig, ob dieser Jesus der von Gott gesandte Messias ist oder nicht. Das Auf-die-Probe-Stellen Jesu hängt eng mit dem 13. Kapitel des Deuteronomiums zusammen. Dort wird das Verfahren gegen falsche Propheten geregelt, und dort ist auch von „untersuchen und nachforschen und genau fragen“ die Rede (LXX: ἐρωτήσεις καὶ ἐραυνήσεις σφόδρα [erōtēseis kai eraunēseis sphodra], V. 15).2 Dem wollen die Pharisäer und Sadduzäer Folge leisten.3 Sie tun es in der Form, dass sie ihn aufforderten, er solle ihnen mit einem Zeichen aus dem Himmel einen Beweis antreten. Hier haben wir ebenso wie neuere Bibelübersetzungen4 ἐπερωτάω [eperōtaō] mit auffordern übersetzt, da es sich um ein Untersuchungsverfahren handelt. Auch bei ἐπιδείκνυμι [epideiknymi] geht es um ein „beweisen“ und nicht nur um ein „vorführen“.5 Wofür Jesus einen Beweis antreten soll, wird nicht ge1 Ganz anders Fiedler: „(historisch haltlose) Kombination“ (S. 284); ähnlich Hengel-Schwemer 561,70; Hengel, Evglien, 334, Beare 348. Wie wir Zahn 529. 2 Vgl. rabbinische Diskussionen über Deut 13 in b Sanh 89a ff; b Jeb 90b. 3 Luz II 445 „daß ihre Frage in böswilliger, versucherischer, satanischer (!) … Absicht geschieht“ scheint mir doch eine Erklärung in malam partem und ohne das notwendige Verständnis zu sein. Viel weniger judenkritisch Schlatter 248! 4 NGÜ; BasisBibel. 5 So aber Bauer-Aland 591; Luz II 443.

5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4

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sagt.6 Aber der Zusammenhang (aus dem Himmel) macht klar, dass es um ein Legitimationswunder geht. Mit dem Zeichen aus dem Himmel soll er also beweisen, dass er wirklich von Gott gesandt sei.7 Diese Forderung ist allerdings höchst problematisch: 1) Sie übersieht, dass auch ein falscher Prophet echte Wunder tun kann (vgl. Deut 13,2f mit Ex 7,22–8,4; Mt 24,24; 2Thess 2,9; Offb 13,13); 2) mit einem solchen Zeichen aus dem Himmel würde Jesus nur sich selbst bestätigen, also etwas tun, was er in der Versuchungsgeschichte Mt 4,1ff zu Recht abgelehnt hat, 3) es wäre ein Wunder „auf Bestellung“ und damit eine Nötigung Gottes.8 Wir notieren hier, dass Jesus sehr oft vor einer Zeichenforderung stand (vgl. Mt 12,38; Lk 11,16; 11,29ff; 23,8; Joh 2,18; 4,48; 6,30).9 Vielleicht ist 1Kor 1,22 ein Niederschlag dieser Erfahrung. Die Antwort Jesu (V. 2-4) wird von einer Reihe von Autoren nur im Versanfang von V. 2 und in V. 4 erblickt. V. 2 ab ὀψίας [opsias] bis δύνασθε [dynasthe] V. 3 wird dagegen als sekundär beurteilt.10 Textkritisch enthalten freilich die hoch bewerteten Codices Sinaiticus und Vaticanus nebst syrischen und ägyptischen Textzeugen die Verse 2b-3 nicht. Die Bezeugung in der Mehrzahl der HSS, die überdies geografisch gestreut sind, bildet dagegen ein Argument für die Ursprünglichkeit. So kommt man rasch zu allgemeineren Erwägungen: Warum sollte ein Späterer überhaupt diese „Wetterregel“11 eingefügt haben, wenn sie doch als störend empfunden wird? Wie soll man sich vorstellen, dass sie „irgendwo eingefügt worden“ sei,12 um sich dann in so vielen Handschriften durchzusetzen? Ein Kompromiss-Vorschlag geht dahin, mit einer „schon sehr frühen“ Einfügung13, evtl. „aus einer guten alten Quelle“,14 zu rechnen. Eine befriedigende Lösung bringt dieser Kompromissvorschlag nicht. Sind V. 2b-3 wirklich „uraltes Gut“,15 sind sie „treffend und

6 Manche Bibelübersetzungen ergänzen hier freihändig, z.B. NGÜ; Gute Nachricht; BasisBibel. 7 Nicht um ein kosmisches Zeichen geht es, sondern ein „aus dem Himmel“ = von Gott her gewirktes Zeichen. Sonst müsste es heißen ἐν τῷ οὐρανῷ (Offb 12,1.3). Gegen Luz a.a.O. Richtig Schniewind 186; Sand 320. 8 Vgl. dazu K. H. Rengstorf, Art. σημεῖον usw., ThWNT, VII, 1964, 232ff; Hengel-Schwemer 486. 9 Vgl. Riesner 276. 10 So Luz II 443f; Fiedler 284; Sand 320. 11 Sand a.a.O. 12 So Luz II 444. 13 Hengel-Schwemer 428,135; Sand a.a.O.; K. und B. Aland 309. 14 Zahn 530. 15 K. und B. Aland a.a.O.

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glaubwürdig“,16 dann ist nicht einzusehen, weshalb sie in Mt 16,1ff nicht auch ursprünglich sein sollten. Nüchternerweise gehen wir deshalb mit NestleAland 28 und zusammen mit anderen Autoren17 von ihrer Ursprünglichkeit aus. Am Abend sagt ihr: Es wird schönes Wetter, denn der Himmel ist rot (V. 2): Die Abendröte wird aus der Erfahrung beurteilt.18 In Lk 12,54f verwendet Jesus ähnliche Erfahrungssätze. Auch die Rabbinen orientierten sich an solchen Wetterregeln (b Taan 9b; b Joma 21b; b BB 84a; 147a).19 Am Morgen gilt das Umgekehrte (V. 3): Ist jetzt der Himmel rot und dazu noch trübe (πυρράζει … στυγνάζων [ pyrrazei … stygnazōn]), gibt es schlechtes Wetter. Jesus stimmt zu. Sein Aber deckt jedoch das große Defizit auf: die Zeichen der Zeit könnt ihr nicht beurteilen? Ob am Ende von V. 3 ein Fragezeichen oder ein Punkt (Westcott-Hort) zu stehen hat, muss offenbleiben. Doch was sind die Zeichen der Zeit, genauer: die Zeichen der Zeiten (τὰ σημεῖα τῶν καιρῶν [ta sēmeia tōn kairōn])? Die Ausleger sind sich nicht ganz einig. Bauer-Aland übersetzt: „die Zeichen der Endzeit“ (S. 802). Aber Jesus spricht hier nicht über die Endzeit wie in Mt 24 parr., sondern über seine eigene Person. Delling meint, es ginge um den καιρός [kairos] „der religiösen Entscheidung“,20 und rückt damit unseres Erachtens Mt 16,3 zu nahe an Mk 1,15, mit der Folge, dass die Person Jesu zurücktritt.21 Sehen wir richtig, so geht es hier um die Zeiten des Messias, also um das, was in der langen Diskussion im Traktat Sanhedrin (b Sanh 98a-99a) „Tage des Messias“ heißt.22 Im Falle von Mt 16,3 bedeutet das: Die Pharisäer und Sadduzäer, die Jesus überprüfen wollen, erkennen nicht (διακρίνειν [diakrinein]!), dass jetzt die „Tage des Messias“ angebrochen sind.23 Lk 19,44 steht unserer Stelle sehr nahe (vgl. auch 1Thess 5,1). Das erkennt man auf die Weise von Mt 11,2ff,24 das heißt durch offene Beobachtung all dessen, was jetzt geschieht: „Blinde sehen … Armen wird das Evangelium gepredigt.“ Dazu braucht es freilich ein „sehendes Auge“ und ein „hörendes Ohr“, ein Verständnis, das offen ist für Gottes Wirken (vgl. Mt 13,13ff; 12,31f). Noch immer können Jesu Diskussionsgegner diesen Weg betreten. Noch immer ringt Jesus um sein Volk, auch dessen führende 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Zahn 530. So Tasker 154f; Carson 360f. Über ähnliche Erfahrungsregeln vgl. Luz II 443f. Mehr dazu bei Strack-Billerbeck I 727. G. Delling, Art. καιρός usw., ThWNT, III, 1938, 461. Noch anders Neue Jerusalemer Bibel, 1405: Die Zeichen der Zeit sind die Wunder Jesu. Vgl. 4Esr 7,28f. Zahn 531: „den Charakter dieser Epoche“; vgl. Carson 361. Vgl. Zahn a.a.O.

5. Die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, 16,1-4

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Schichten. Aber zweifellos besteht jetzt viel stärker als am Anfang die Gefahr, dass die Zeiten des Messias auf Erden zu Ende gehen. Jesus wiederholt nun das Wort aus Mt 12,39: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen. Aber es wird ihm kein anderes Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Jona (V. 4). Zur Erläuterung siehe die Auslegung bei 12,39. Halten wir nur fest: Wer sich gegen ein so offenkundiges Wirken des von Gott bevollmächtigten Messias verschließt, eines Messias, der Sünden vergibt, aus bisherigen Sündern Nachfolger für das Reich Gottes gewinnt und so einzigartige Wunder tut, und wer dann noch immer neue Legitimationswunder fordert (12,38; 16,1), der reiht sich ein in ein böses und ehebrecherisches Geschlecht.25 Halten wir aber auch fest: Die Zugehörigkeit zu diesem Geschlecht ist nicht schicksalsbestimmt,26 sondern eine Sache unserer Entscheidung. Auch die Pharisäer und Sadduzäer von V. 1 können ihre bisherige Entscheidung revidieren und in Jesus den Messias Gottes erkennen. Dass Gott die Tür noch offen hält, erkennt man an dem elementaren Umstand, dass sie ein Zeichen auf jeden Fall von Gott bekommen werden (δοθήσεται [dothēsetai] als Pass. divinum): nämlich das Zeichen des Jona nach Jona 2,1.11, das ist die Auferstehung Jesu.27 Und er ließ sie stehen und ging weg (καὶ καταλιπὼν αὐτοὺς ἀπῆλθεν [kai katalipōn autous apēlthen]): Damit richtet Jesus ein prophetisches Zeichen auf, das Jer 28,11 entspricht (vgl. auch Mt 21,17). Israels Propheten führen im Unterschied zu vielen hellenistischen Predigern und Philosophen keine Dauerdiskussionen.28 Ist in Verkündigung und Gespräch ein bestimmter Punkt erreicht, dann gehen sie, selbst wenn die Zuhörer noch Gefallen an einer Fortsetzung hätten. Er ließ sie stehen und ging weg ist also keine Verachtungsgeste, sondern wie in Jer 28,11 ein prophetischer Aufmerksamkeitsruf, der zu intensivem Nachdenken einladen will.29

IV Zusammenfassung 1. Die „Überprüfung“ Jesu, die in 15,1ff angefangen hatte, geht in Mt 16,14 weiter.

25 26 27 28 29

Fiedler 284 übersetzt hier γενεά mit „Sippschaft“. Anders Qumran mit seiner Lehre von den festgelegten Licht- und Finsternisteilen. Ganz anders Sand 331: das Zeichen sei die prophetische Verkündigung Jonas und Jesu. Vgl. die apostolische Warnung vor dem λογομαχεῖν (1Tim 6,4; 2Tim 2,14). Ganz anders Luz II 445: Jesus mache hier „kurzen Prozeß“, es sei ein „Kommunikationsabbruch“; Zahn 531: „daß Jesus die Gegner … abfertigt“; Sand 321: „die ablehnende (und unwillige) Haltung Jesu“.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

2. Dabei stehen sich die Auffassungen der Jerusalemer, die sich verpflichtet fühlen, einen falschen Propheten auszuschalten (Deut 13,2ff), und Jesu messianische Gewissheit, die durch gottgeschenkte Wunder bestätigt wird, gegenüber. 3. Ein Wunder zur Selbstbestätigung und zur Legitimation vor anderen (Legitimationswunder) lehnt Jesus erneut ab (vgl. Mt 12,38ff). Dies entspricht seiner Haltung in der Versuchungsgeschichte (4,1ff). 4. Als Zeichen prophezeit er nur das Jona-Zeichen, das heißt seine Passion und Auferstehung. 5. So scharf die Antwort in V. 2-4 klingt, so sehr zielt sie doch im Sinne seines Ringens um Israel auf das Nachdenken und die letztendliche Zustimmung seiner Gegner.

6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12 I Übersetzung 5 Und als die Jünger ans jenseitige Ufer kamen, hatten sie vergessen, Brote mitzunehmen. 6 Jesus aber sagte zu ihnen: Nehmt euch in Acht und hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer! 7 Sie aber überlegten untereinander und sagten: Weil wir keine Brote mitgenommen haben. 8 Jesus merkte das und sagte: Warum überlegt ihr untereinander, ihr Kleingläubigen, dass ihr keine Brote habt? 9 Versteht ihr immer noch nicht? Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote bei den Fünftausend und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? 10 Und auch nicht an die sieben Brote bei den Viertausend und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? 11 Wie versteht ihr denn nicht, dass ich euch nicht wegen der Brote ansprach? Aber hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer! 12 Da begriffen sie, dass er nicht gesagt hatte, sie sollten sich vor dem Sauerteig der Brote hüten, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer.

II Struktur Der Anlass des Gesprächs ist beinahe alltäglich: Bei der Überfahrt ans Ostufer hatten die Jünger vergessen, Brote mitzunehmen (V. 5). Jesus machte aus dem alltäglichen Vorfall ein Gleichnis. Der Sauerteig, der schon einmal zum Gleichnis gedient hatte (13,33), wird jetzt im neuen Gleichnis auf die Phari-

6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12

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säer und Sadduzäer bezogen, und zwar negativ, insofern damit die ansteckende Verbreitung der pharisäischen und sadduzäischen Ansichten gemeint ist (V. 6). Daraus entwickelt sich nun ein Dialog über Verständnis und Unverständnis der Jünger (V. 7-11), der mit dem neu gewonnenen Verständnis der Jünger schließt (V. 12). Hier liegt ein relativ ausführliches Stück der inneren Lehrtätigkeit Jesu und zugleich der zahlreichen Jüngergespräche vor. Es ist bei Markus gleich eingeordnet (8,14-21), nämlich im Anschluss an die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer. Beide Stücke hängen also historisch zusammen. Doch ist es unmöglich zu sagen, wie groß der Zeitabstand zwischen Zeichenforderung und der Warnung Jesu war. Nur so viel ist deutlich, dass ein innerer Bezug zwischen Zeichenforderung und Sauerteig-Thematik gegeben ist.

III Einzelexegese Nur mit einem Nebensatz (Καὶ ἐλθόντες … [Kai elthontes …]) erwähnt Matthäus, dass die Jünger ans Ostufer des Sees Genezareth fuhren (V. 5). Jesus erwähnt er zunächst gar nicht. Hier ist die Markusparallele erhellender: „Und er verließ sie und stieg wieder ins Boot und ging weg ans jenseitige Ufer“ (Mk 8,13). Die Überfahrt war also von Jesus geplant. Der Zeitabstand von dem Geschehen in Mt 16,1-4 bleibt unsicher. Es scheint aber, dass sich Jesus ähnlich wie in 14,13ff und 15,21ff aus Galiläa zurückziehen wollte. Das heißt, er hielt es für besser, die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Sadduzäern nicht fortzusetzen. Bei der Ankunft am Ostufer stellten die Jünger fest, dass sie vergessen hatten, Brote mitzunehmen.1 Diese kleine Bemerkung macht auf dreierlei aufmerksam: 1) Es fiel in die Verantwortung der Jünger, sich um die Verpflegung Jesu und des Zwölferkreises zu kümmern (vgl. Joh 4,8.11ff). 2) Offenbar hatten sie genug Zeit, sich am Westufer mit Broten einzudecken. Die Abreise vom Westufer hatte also nichts mit einer Flucht zu tun. 3) Wenn am Ostufer die Versorgung mit Brot ein Problem ist, muss es sich dort um eine einsame Gegend handeln, ähnlich 14,13 und 15,32. Bei V. 6 zitiert Luz Pierre Bonnard: „Diese Verse haben die Exegeten immer in Erstaunen versetzt.“2 Warum? Jesus aber sagte zu ihnen: Nehmt euch in Acht (ὁρᾶτε [horate]) und hütet euch (καὶ προσέχετε [kai prosechete]) vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer! Zahn erklärt dies so: 1 Nach Mk 8,14 hatten sie ein einziges Brot dabei. 2 Luz II 447 bzw. Bonnard 239; vgl. France 250f.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

Die Jünger „meinen, sie sollen“ den Pharisäern und Sadduzäern „kein Brot abkaufen oder sie nicht fragen, wo man in der Nähe Brot kaufen könne“.3 Für Luz „ist die Logik des Abschnitts merkwürdig“: Wie kommt Jesus vom Brot zum Sauerteig?4 Jedoch zeigen Stellen wie Ex 12,15; Mk 13,33; Lk 13,21; 1Kor 5,6; Gal 5,9, dass die Bilder vom Brot und Sauerteig eng zusammenhängen und es jederzeit möglich war, sie gleichnishaft (metaphorisch) zu verwenden.5 Das Vergessen der Brote ist offensichtlich für Jesus wie ein Wink von oben, dass man den Sauerteig (die Erklärung wird gleich kommen!) der Pharisäer und Sadduzäer meiden sollte. Noch immer ist also das Gespräch von Mt 16,1-4 in lebhafter Erinnerung. Ein anderes Problem stellt sich durch die Parallele in Mk 8,15, wo es heißt, Jesus habe sie auch vor dem „Sauerteig des Herodes“ gewarnt. Dazu muss man sich in Erinnerung rufen, dass Jesus seit der Hinrichtung des Täufers mit einer latenten Bedrohung durch Herodes Antipas rechnen musste (vgl. Mt 14,1ff; Lk 13,31ff), deshalb Galiläa öfter verließ (vgl. Mt 14,13; 15,21; 16,5), ja dass sogar Anschlagspläne seitens der Herodianer existierten (vgl. Mk 3,6). Diese Beobachtungen können die Angabe des Markus unterstützen, dass sich Jesus damals auch gegen den „Sauerteig des Herodes“ aussprach. Vermutlich hat Matthäus, der Lehrer unter den Evangelisten, vor allem die Aussage gegen die Lehre der Pharisäer und Sadduzäer festhalten wollen (vgl. V. 12), während Markus die Linie von Mk 3,6 fortwirken sah und deshalb auch die Aussage über „Herodes“ notierte.6 Sie aber überlegten untereinander und sagten: Weil7 wir keine Brote mitgenommen haben (V. 7): Hier schildert Zahn das Geschehen richtig. Es geht nicht darum, „daß die Jünger diesen Gedanken im Herzen bewegten“,8 sondern darum, „daß sie ihn gesprächsweise, vielleicht halblaut, miteinander erwogen“.9 Dann ist die Aussage Weil wir keine Brote mitgenommen haben nur eine unter vermutlich mehreren. Mit seiner Deutung, sie ziele darauf, man solle den Pharisäern „kein Brot abkaufen oder sie nicht fragen, wo man in der Nähe Brot kaufen könne“,10 liegt Zahn freilich daneben. Die Phariäser sind ja

3 4 5 6 7 8 9 10

Zahn 532. Luz a.a.O. Vgl. Sand 322. Nach Hengel-Schwemer 133 sind Pharisäer und Herodes ursprünglich, dagegen die Sadduzäer in Mt 16,6 „zusätzlich“ (vgl. 561), vgl. Bultmann, Gesch, 55. Vgl. BDR § 470,2. So aber deuten Bauer-Aland 372; Gaechter 511. Zahn 532. Zahn 532.

6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12

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keine Bäcker.11 Nein, die Jünger stellen zu Recht einen Zusammenhang von Brot und Sauerteig her, sind aber unsicher, ob Jesus sie hier tadelt oder ihren Gedanken eine ganz andere Richtung geben will. Jedenfalls haben sie nicht verstanden, was Jesus sagte. In V. 8-11 fällt die ausführliche Stellungnahme Jesu auf. Sie beginnt mit einem starken Tadel. Dieser Tadel betrifft aber nicht das Vergessen der Brote, sondern das jetzige Missverstehen seiner Warnung. Jesus merkte das (γνοὺς δὲ ὁ Ἰησοῦς [gnous de ho Iēsous]) und sagte: Warum überlegt ihr untereinander, ihr Kleingläubigen, dass ihr keine Brote habt? Versteht ihr immer noch nicht? (V. 8-9). Das merken oder „wahrnehmen“12 kann sich auf zwei Ebenen vollziehen: 1) auf der menschlichen Ebene, indem Jesus hört, was die Jünger untereinander überlegen; 2) auf der Ebene der Erkenntnis im Heiligen Geist. Wir müssen offenlassen, was hier zutrifft. Die Überlegung, dass ihr keine Brote habt, findet Jesus fehl am Platz. Er weist es weit zurück, wegen Mangel an Nahrung einen Tadel auszusprechen. Ein Messias, der sich bei seinen Jüngern darüber beklagt, dass er kein Essen hat, ist in seinen Augen unmöglich. Aber auch Jünger, die darüber große Diskussionen veranstalten, sind für ihn unmöglich. Er nennt sie ὀλιγόπιστοι [oligopistoi], Kleingläubige, die noch nicht einmal gelernt haben, dass der Vater sie mit allem Nötigen versorgt (vgl. Mt 6,25ff sowie 8,26; 14,31; Lk 12,28). Dass wir um eine solche Versorgung beten dürfen (vgl. Mt 6,11), bleibt davon unberührt. Aber wer betet, gibt damit seine Sorge an den Vater ab (1Petr 5,7). Auffallend ist die starke Betonung, die Matthäus dem Versteht ihr (νοεῖτε [noeite])13 immer noch nicht? (V. 9) gibt. Er wiederholt es in V. 11. Jesu Frage setzt voraus, dass seine Jünger im Verstehen der Wege Gottes Fortschritte machen. Die Apostel setzen dasselbe voraus (1Kor 14,20; Eph 4,14). Für jede Kirche und für jede Gemeinde bleibt es eine Frage: Was tut sie, um das Verständnis der Bibel zu fördern? Wir haben jedenfalls keinen Grund, auf die damaligen Jünger herabzusehen, die in der Tat mit dem Verständnis Jesu ihre Schwierigkeiten hatten (vgl. Mt 13,51; 15,16; Mk 6,52). Um jede aufs Materielle bezogene Deutung der Bildworte Brot und Sauerteig auszuschließen, erinnert Jesus seine Jünger an die erlebten Wunder: Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote bei den Fünftausend und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? Und auch nicht an die sieben Brote bei den Viertausend und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? (V. 9-10). Eine 11 Vgl. die zynische Bemerkung von Luz II 447. 12 Vgl. Bauer-Aland 322. 13 Zu νοέω = verstehen vgl. J. Behm im Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, 948f.

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solche Erinnerung ist nur sinnvoll, wenn beide Wunder tatsächlich geschehen sind (Mt 14,13ff; 15,32ff). Von einer „legendären Wundertradition“14 zu reden, passt hier nicht. Außerdem ist von Mt 16,9f / Mk 8,19f her völlig klar, dass Matthäus und Markus zwei verschiedene Speisungswunder berichten wollten. V. 11 wiederholt sowohl die Verstehensfrage als auch den Kernsatz des Gesprächs: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer! Dadurch wird beides besonders betont (vgl. V. 6.8.9). V. 12 ist der Zielpunkt des matthäischen Berichts: Da begriffen sie, dass er nicht gesagt hatte, sie sollten sich vor dem Sauerteig der Brote hüten, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer. Markus hat in 8,21 einen anderen Abschluss und Zielpunkt, doch schließt er nicht aus, was Matthäus in 16,12 sagt.15 Sie begriffen (συνῆκαν [synēkan]) ist nicht genau dasselbe wie „sie verstanden“ (ἐνόησαν [enoēsan]). Nach Johannes Behm bezeichnet συνιέναι [synienai] (= „begreifen“) „die rein geistige Tätigkeit kombinierenden Erschließens“.16 Sagen wir es kurz: Jetzt ging den Jüngern die Bedeutung der Aussage Jesu über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer auf. Es wurde ihnen klar, dass er sich auf deren Lehre bezog. Sauerteig ist hier ein Bildwort für Negatives, im Unterschied zu Mt 13,33, wo er etwas Positives bezeichnet. Sieht man sich im jüdischen Sprachraum um, dann steht der Sauerteig in der Tat vorwiegend für Negatives:17 den bösen Trieb oder eine schlechte Art und Gesinnung (vgl. 1Kor 5,6; Gal 5,9). Doch was ist die Lehre der Pharisäer und Sadduzäer, die Jesus hier ablehnt? Es kann nicht deren Lehre im Ganzen sein, denn sonst wäre Mt 23,2f nie gesprochen worden. Darin hat Fiedler recht.18 Wir können also denjenigen Auslegungen nicht folgen, die meinen, die Pharisäer seien „zu seinen (= Jesu) absoluten Gegner geworden“19 oder Jesus wolle die Jünger „von ihrem jüdischen Erbe los“ machen.20 Nein, wie der Kontext sowohl in 16,1-4 als auch in 16,13-20 zeigt, geht es um die Anerkennung der Messianität Jesu. Diese wird von den pharisäischen und sadduzäischen Gelehrten übereinstimmend abgelehnt. Deshalb in 16,1ff die Aufforderung zu einem Legitimations- oder Schauwunder. Deshalb die diesbezüglichen Fragen Jesu in 16,13ff. Deshalb jetzt in 16,5ff 14 So Hengel-Schwemer 475. 15 Anders Gundry 327, der die matthäische und die markinische Konzeption als Gegensätze auffasst. 16 Behm a.a.O. 948. 17 Vgl. Strack-Billerbeck I 728; H. Windisch, Art. ζύμη usw., ThWNT, II, 1935, 908. 18 Fiedler 285. 19 So Gaechter 512. 20 So Schlatter 248.

6. Das Gespräch über den Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, 16,5-12

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das wiederholte, dringliche προσέχετε [ prosechete] an die Jünger. Denn weil die Jünger – nach Schlatters Worten21 – „die pharisäische Weise von Jugend an als die rechte Frömmigkeit betrieben haben“, stehen sie in ernsthafter Gefahr, sich jetzt durch die pharisäischen Autoritäten in ihrem messianischen Glauben an Jesus irremachen zu lassen. Wir sollten diese Gefahr nicht unterschätzen, weil sie uns heute im 21. Jh. fern (?) liegt.22 Es liegt ja im Bild vom Sauerteig, dass er sich überall durchsetzt,23 mindestens Einfluss hat,24 und schon eine kleine Menge gottwidriger Lehre oder misstrauenden Zweifels genügt, um die Jünger aus der Nachfolge hinauszudrängen. Joh 6,60ff ist dazu die beste Illustration. Übrigens finden sich in Mt 16,1ff und Mt 16,5ff die Pharisäer und Sadduzäer historisch richtig in einer Interessengemeinschaft zusammen, weil sich Schriftgelehrte beider Richtungen bei der Ablehnung der Messianität Jesu einig waren. Dass das keine Pauschalurteile sein dürfen, wurde schon gesagt.

IV Zusammenfassung 1. Der kleine Abschnitt Mt 16,5-12 lässt am klarsten erkennen, wir stark die Jünger durch die Ablehnung der Messianität Jesu seitens jüdischer Autoritäten gefährdet wurden. Wir unterschätzen heute die Größe dieser Gefahr. Doch Jesus geriet dadurch in echte Bedrängnis, weil ihm der Verlust von Jüngern drohte (vgl. Joh 6,60ff ).25 2. Andererseits zeigt Mt 16,5-12 zusammen mit Mt 12,38-42, wie ernst die rabbinischen Autoritäten den Messiasanspruch Jesu nahmen. Sie rechneten jederzeit damit, dass er Wunder tun konnte, ja sogar ein Legitimationswunder, um sich als Messias auszuweisen. Aber ist er auch der Messias, den die Propheten meinten? Im Grunde stehen wir im Verhältnis Judentum – Christentum bis heute vor dieser Frage. 3. Mit Davies-Allison halten wir daran fest, dass Mt 16,5ff keinen Widerspruch zu Mt 23,2f bildet. Beide Aussagen bleiben je an ihrer geschichtlichen Stelle und in ihrem Aussagehorizont in Kraft, sie sind nicht „antithetical“, sondern „complementary“.26 Die Ablehnung seiner Messianität durch die Pharisäer weist Jesus zurück, wo sie aber das Mose-Gesetz auslegen, bestätigt er sie. 21 22 23 24 25 26

Schlatter 249. Insofern hat Gaechter 512 Richtiges beobachtet. Gaechter 511. Windisch a.a.O. Ganz ähnlich Davies-Allison II 593. Davies-Allison II 593.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20 I Übersetzung 13 Als Jesus aber in das Gebiet von Cäsarea Philippi gekommen war, fragte er seine Jünger: Was sagen die Menschen vom Menschensohn, wer er sei? 14 Sie sagten: Die einen: Johannes der Täufer, andere: Elia, wieder andere: Jeremia oder einer der Propheten. 15 Er sagt zu ihnen: Ihr aber, was sagt ihr, wer ich sei? 16 Simon Petrus antwortete und sagte: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes. 17 Jesus aber antwortete und sagte zu ihm: Glücklich zu preisen bist du, Simon, Sohn des Johannes! Denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. 18 Und ich sage dir auch:1 Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. 19 Ich werde dir die Schlüssel zum Reich Gottes geben, und was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein. 20 Darauf untersagte er den Jüngern, jemand zu sagen, dass er der Messias sei.

II Struktur Davies-Allison schlagen eine Dreier-Gliederung vor: 1) erzählerische Einleitung (V. 13a), 2) Dialog (V. 13b-19), 3) erzählerische Schlussbemerkung (V. 20).2 Dadurch käme aber die Dramatik des Vorgangs mitsamt den Betonungen („Ihr aber“ V. 15 u.Ä.) nur schwach zum Ausdruck. Besser scheint uns eine Vierer-Gliederung zu sein: 1) die Einschätzung Jesu durch die damalige Umwelt (V. 13-14), 2) das Bekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf (V. 1516), 3) die Verheißungen für Petrus und die Gemeinde des Neuen Bundes (V. 17-19), 4) abschließende Anweisung an die Jünger (V. 20). Mt 16,13-20 steht in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit den vorausgehenden Erzählteilen. Wie Gibbs mit Recht bemerkt, zeigten sich die Jünger in Mt 15,1-20; 15,29-38; 16,5-12 nicht ganz sicher in der Frage, wer Jesus eigentlich sei.3 Mit der Warnung von Mt 16,5-12 im Ohr „the disciples will follow Jesus as he moves into the parts of Caesarea Philippi“.4 Insofern 1 2 3 4

Vgl. BDR § 447,6. Davies-Allison II 602. Gibbs II 809. Gibbs II 803. Vgl. Davies-Allsion II 603.

7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20

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läuft das Geschehen in Matthäus – nach der Makrostruktur beobachtet – mit Notwendigkeit auf die Ereignisse bei Cäsarea Philippi zu. Aber zugleich markiert Cäsarea Philippi den Punkt, von dem ab die Leidensankündigungen in konzentrierter Form beginnen (16,21; 17,22f; 20,17ff). Wir münden hier in den Passionsweg im engeren Sinne. Die Ausleger notieren deshalb Mt 16,13-20 als „Wendepunkt im Leben Jesu“.5

III Einzelexegese Der Anfang von V. 13 ist einigermaßen überraschend. Denn nirgendwo vorher – auch nicht bei Markus (8,27ff) und Lukas (9,18ff) – wird von einer Absicht Jesu berichtet, in das Gebiet von Cäsarea Philippi zu ziehen. Allerdings fügt sich dieses nord-nord-östlich vom See Genezareth gelegene Gebiet gut in die bisherige Reiseroute (Westufer V. 1ff – Ostufer V. 5ff) ein. Matthäus spricht vom Gebiet (τὰ μέρη [ta merē]) oder der „Gegend“6 von Cäsarea Philippi. Ähnlich Markus, der „die Dörfer von Cäsarea Philippi“ erwähnt (8,27), während Lukas in 9,18 sich darauf beschränkt, die Einsamkeit (κατὰ μόνας [kata monas]) zu erwähnen. Der Name Cäsarea Philippi wird im NT nur in Mt 16,13 und Mk 8,27 genannt. Es besaß jedoch damals Bedeutung als Hauptstadt der Tetrarchie des Herodes Philippus (4 v.Chr. – 34 n.Chr.). Der Ort hat eine bewegte Geschichte.7 In der hellenistischen Zeit nach Alexander d. Gr. hieß er Paneas, abgeleitet von dem griechischen Quellgott Pan, den man dort verehrte. Dort, am Fuße des Hermon, entsprang ja einer der drei Quellflüsse des Jordan. In der Schlacht von Paneas nahmen die syrisch-griechischen Könige 198 v.Chr. den ägyptisch-griechischen Königen das heiß begehrte Palästina ab. Um 20 v.Chr. bekam Herodes der Große das Gebiet in seine Hand. In der Nähe des Pan-Heiligtums baute er einen Tempel zu Ehren des Augustus. Bei der Teilung des Herodes-Reiches fiel das ganze Gebiet an Philippus, einen der Herodes-Söhne (vgl. Lk 3,1), der es 4 v.Chr. – 34 n.Chr. regierte. Von 3/2 v.Chr. an baute dieser dort seine Hauptstadt, mehrheitlich von Heiden bewohnt.8 Zu Ehren des Cäsar (Kaiser) Augustus gab er ihr den Namen Καισάρεια [Kaisareia], Cäsarea, und weil andere Städte denselben Namen trugen, bezeichnete man sie als Cäsarea Philippi = „Cäsarea des Philippus“.9 Aus späterer Zeit sind noch zwei Nachrichten interessant: Titus veranstaltete dort im Jahre 70 n.Chr. grausame Schauspiele mit den gefangenen Juden aus 5 6 7 8 9

Gaechter 512. Vgl. Hengel-Schwemer 521. Vgl. Bauer-Aland 1025. Vgl. u.a. R. Riesner, Art. Caesarea Philippi, GBL 1, 225f; Dalman 176f. Bonnard 242; France 252; Schlatter 251. Mt 16,13; Mk 8,27; Josephus Bell III, 443; VII, 23; Ant XX, 211.

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Fortgang des Ringens um Israel, 15,1–16,20

dem Krieg 66–73 n.Chr,10 und Eusebius berichtet in seiner Kirchengeschichte, aus Cäsarea Philippi habe die blutflüssige Frau von Mt 9,18ff gestammt und man könne dort ihre Statue sowie eine Jesus-Statue sehen: „wir haben sie mit eigenen Augen gesehen“.11 Halten wir fest: Die vorwiegend hellenistisch-heidnische Stadt Cäsarea Philippi hat Jesus offensichtlich nicht betreten.12 Ob die „Dörfer“ der Umgebung, die Markus erwähnt (8,27), jüdische Dörfer waren,13 muss offenbleiben. Dalman rechnet hier mit einer Wanderung „außerhalb des jüdischen Gebietes“,14 seine Annahme scheint vom Kontext her – Jesus setzt sich Mt 16,5ff vom jüdisch geprägten Gebiet ab – gerechtfertigt. Jedenfalls hat Jesus mit Bedacht den Herrschaftsbereich des Philippus gewählt, in dem er den Nachstellungen und Bedrohungen entnommen war, die ihm im Land des Herodes Antipas begegneten (Mt 16,1-12; Mk 8,11-21), und wo er beten, neu auf den Vater hören und frei mit den Jüngern reden konnte (vgl. Lk 9,18). Nun fragte er seine Jünger: Was sagen die Menschen vom Menschensohn, wer er sei? Die Evangelisten sagen nichts von jener herrlichen Landschaft, die Gustaf Dalman so poetisch beschrieb15 und die noch heute trotz des schrecklichen Tourismusbetriebs so faszinierend wirkt. Sie konzentrieren sich stattdessen mit höchster Intensität auf die Frage, wer Jesus sei. Denn der Menschensohn ist ohne allen Zweifel er selbst. Es ist diejenige Erlöser-Bezeichnung, die Jesus Dan 7,13 entnommen hat. Doch warum benutzt er sie gerade jetzt? Das Wortspiel die Menschen (οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi]) – der Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου [ho hyios tou anthrōpou]) gibt uns einen Hinweis: Hier geht es um Jesu Verhältnis zu den Menschen. Er betont dadurch seine Niedrigkeit. Und offensichtlich hat er sich in den Vorgängen, die er mitsamt seinen Jüngern in jüngster Zeit erlebte (Mt 12,9ff.22ff.38ff.46ff; 13,53ff; 15,1ff; 16,1ff), erniedrigt gesehen. „Sie haben mit ihm getan, was sie wollten“ (Mt 17,12): Dieser Ausspruch Jesu über den Täufer trifft auch auf Jesus selbst zu. Das wird er gleich bei seinen Leidensweissagungen in 17,22f; 20,17ff explizit erklären. Der erniedrigte Jesus: Was sagen die Menschen, wer er sei? Er zieht damit den Schleier zur Seite, der seine Person so oft umgab, und fragt auf ganz direkte Weise. Die grammatische Form bei er fragte (ἠρώτα [ērōta] Mt 16,13, 10 11 12 13 14 15

Josephus Bell. VII, 23-25. Eusebius HistEccl VII, 18,1-4. Gaechter 513. Dahin neigt Riesner a.a.O. 225. Dalman 179. Dalman a.a.O.

7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20

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ἐπηρώτα [epērōta] Mk 8,27) ist ein Imperfekt. Dieses Imperfekt kann – muss nicht! – eine wiederholte oder länger dauernde Handlung beschreiben. Vielleicht stellt Mt 16,13 eine längere, eingehende Befragung der Jünger dar.16 Warum hat Jesus nach dem Bekenntnis der Jünger ausgerechnet im Gebiet von Cäsarea Philippi gefragt? Die Evangelisten sagen darüber nichts. Deshalb kann man hier nur Vermutungen anstellen. Geschah es, weil auch Mose und Elia, die Leitfiguren Israels (vgl. Mt 17,3), im Ostjordanland wirkten? Oder hat Schlatter damit recht, dass Jesus jetzt „an der äußersten Grenze“ des Verheißenen Landes stehe, nur noch den Weg zurück nach Jerusalem machen könne und an dieser Stelle Klarheit über seine Jünger brauche?17 Oder spielt doch der nahe Hermon als Stätte des Gottesgedenkens (Ps 42,7; 89,13) eine Rolle? Aber wenn man schon Vermutungen anstellen will, dann liegt unseres Erachtens die Annahme näher, dass Jesus dort in der Einsamkeit während des Gebets die Gewissheit erhielt, dass jetzt die Stunde des Bekenntnisses da sei. Lk 9,18 mit seiner oft übersehenen Notiz „er betete“ (Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν προσευχόμενον κατὰ μόνας [Kai egeneto en tō einai auton proseuchomenon kata monas]) stützt diese Annahme. V. 14 enthält nun verschiedenartige Auskünfte der Jünger. Sie sagten: Die einen: Johannes der Täufer, andere: Elia, wieder andere: Jeremia oder einer der Propheten. Die Mehrzahl sie sagten bedeutet, dass „mehr als einer der Apostel“ an diesem vermutlich etwas längeren Gespräch beteiligt war.18 Noch sticht Petrus nicht hervor. Jede der genannten Meinungen „entspricht ganz jüdisch-palästinischem Milieu“.19 Die einen also sagen, Jesus sei Johannes der Täufer. Das muss nicht unbedingt den Auferstehungsglauben voraussetzen. Es kann auch gemeint sein, dass Geist und Kraft (vgl. Lk 1,17) des Täufers bei Jesus wieder aufleben. Immerhin hat Herodes geäußert, dass der Täufer von den Toten auferstanden sei, sich in Jesus verkörpere und Jesus deshalb solche Taten tue (Mt 14,2; vgl. Mk 6,15). Vielleicht repräsentiert Herodes Antipas hier die Meinung der Herodianer insgesamt. Jedenfalls geht die Identifizierung Jesu mit dem Täufer wohl hauptsächlich auf das Konto der Herodianer. Andere (sagen): Elia: Dass Elia wiederkommt, ist gemeinsame biblische (Mal 3,23) und jüdische (Sir 48,10; Mt 11,14; 17,10ff) Erwartung. Dabei ist weder an eine Auferstehung des Elia gedacht noch an eine Reinkarnation, sondern an jemand, der „im Geist und in der Kraft Elias“ auftritt (Lk 1,17). Das sei, so sagen manche, eben Jesus. Am interessantesten ist eine dritte 16 17 18 19

Vgl. BDR § 325; 327. Schlatter 251. Zahn 535. Hengel-Schwemer 521.

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Gruppe: wieder andere20 meinen nämlich: Jeremia. Joachim Jeremias hat in einem instruktiven Artikel viel Material zu dieser Prophetengestalt gesammelt.21 Zahlreich sind schon die innerbiblischen Spuren in 2Chron 35,25; 36,12.21f; Esr 1,1; Dan 9,2; Mt 2,17; 16,14; 27,9. Mit Sir 49,7; 2Makk 2,18; 15,12-16 setzen die nachbiblischen Belegstellen ein. In dem Artikel von Jeremias wird ferner deutlich, dass Matthäus ein auffällig enges Verhältnis zu Jeremia hatte.22 Er zitiert ihn in 2,17 namentlich, erklärt das Zitat in 27,9f als ein Jeremia-Zitat, und ist schließlich der Einzige, der in der Cäsarea-PhilippiPerikope auch Jeremia erwähnt. Vielleicht hat gerade dieses Interesse für Jeremia dazu geführt, dass Matthäus auch die Meinung, Jesus sei Jeremia, in 16,14 vermerkte. Doch wie kamen jüdische Menschen damals zu einer solchen Meinung? Joachim Jeremias antwortet: Weil Jeremia in der hebräischen Bibel an der Spitze der späteren Propheten stand, bedeuten die Worte Jeremia oder einer der Propheten nur: jemand aus dem späteren Prophetenbuch oder aus den früheren Propheten.23 Aber der Täufer, Elia und einer der Propheten sind samt und sonders keine Buchtitel, sondern historische Personen. Deshalb muss auch Jeremia eine solche historische Person sein und nicht nur eine Bücherabteilung des Kanon. Eine andere Position, die einflussreich geworden ist, vertreten Strack-Billerbeck. Ihr Urteil lautet: „In der altjüdischen Literatur“ wird die Wiederkehr des Jeremia „nirgends“ erwartet.24 Demnach wäre Jeremia im Zusammenhang von Mt 16,14 ganz singulär und evtl. eine christliche Bildung. Die These von Strack-Billerbeck bedarf unseres Erachtens jedoch einer Revision. Denn 2Makk 15,12ff und der Talmud in b Ber 57b belegen, dass man mit Erscheinungen Jeremias in Visionen und Träumen rechnete. Dann aber ist der Schritt nicht mehr weit zu der Erwartung, dass jemand „in Geist und Kraft“ des Jeremia am Ende der Zeiten auftreten werde. Die eschatologischen Aussagen in der Jeremia-Tradition von 2Makk 2,7f können eine solche Erwartung stützen. Wir gehen also davon aus, dass in Parallele zu „Geist und Kraft“ des Elia damals ähnliche Erwartungen bezüglich Jeremias existierten und Jesus gelegentlich als Erfüller solcher Erwartungen betrachtet wurde.25 In einer vierten Gruppe fasst Mt 16,14 solche zusammen, nach deren Auffassung Jesus einer der Propheten (ἕνα τῶν προφητῶν [hena tōn prophētōn]) sein soll. Welcher Prophet, wird nicht gesagt. Gerhard Fried20 21 22 23 24 25

Zwischen ἄλλοι und ἕτεροι ist hier kein Bedeutungsunterschied (Gibbs II 805). Art. Ἰερεμίας, ThWNT, III, 1938, 218-221. Vgl. Jeremias a.a.O. 219ff. Jeremias a.a.O. 220f. Strack-Billerbeck I 730. Vgl. noch Zahn 534; Schniewind 188; Luz II 460; Carson 365.

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rich26 setzt ἕνα [hena] mit τίνα [tina] gleich und kommt zu dem Ergebnis, die Betreffenden hätten Jesus nicht für einen Schriftpropheten, sondern für einen Propheten der Gegenwart gehalten, der allerdings den klassischen Propheten gleichzuachten sei. Das wäre aber wie bei Joachim Jeremias (s. oben) eine Metabasis eis allo genos. Denn Johannes, Elia und Jeremia sind doch Gestalten der Vergangenheit, und so möchte man in der Bezeichnung einer der Propheten ebenfalls eine Anspielung auf die Vergangenheit, also auf einen Schriftpropheten vermuten.27 Eine dritte Möglichkeit der Deutung eröffnet die Qumranliteratur. Nach 1 QS IX, 11 werden dort am Ende der Zeiten nicht nur zwei Messiasse erwartet, sondern auch ein Prophet (vgl. 4 Q test).28 Könnte es sein, dass manche jüdischen Zeitgenossen damals in Jesus einen solchen eschatologischen Propheten gesehen haben? Leider ist unser Quellenmaterial immer noch lückenhaft, und so kommt man gegenwärtig über Vermutungen nicht hinaus.29 Gibt es etwas Gemeinsames in den Auffassungen, die in V. 14 geäußert werden? Sicherlich insofern, als Jesus von allen als „exceptionnel“ betrachtet wird.30 Zweitens aber auch insofern, als sämtliche Meinungen auf einen Propheten hinauslaufen.31 Das dritte Merkmal ist das gravierendste: Keine dieser Auffassungen hält Jesus für den Messias. Das ist nach all dem Geschehen – den Wundern, der Barmherzigkeit, der Lehrautorität Jesu – geradezu deprimierend. Alles darf Jesus sein, nur das nicht, was er in Wirklichkeit ist: Messias und Gottes Sohn.32 V. 15 eröffnet die zentrale Szene: Ihr aber, was sagt ihr, wer ich sei? Gundry meint, Jesus habe wahrscheinlich („probably“) überhaupt kein Bekenntnis der Jünger gewollt. Er habe nur Missverständnisse korrigieren wollen.33 Aber damit stellt er das Geschehen auf den Kopf. Das Ziel des ganzen Gesprächs lag ja gerade in dem einen Punkt:34 Nach der Ablehnung durch die pharisäischen, sadduzäischen und herodianischen Autoritäten das Bekenntnis 26 Im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 843f. Ebenso Jeremias, Gleichnisse 198. 27 BDR § 480,2 ergänzen nach ἕνα ein ἄλλον, was auf einen anderen Schriftpropheten schließen lässt. Auch Mk 6,15 legt diesen Schluss nahe. 28 Vgl. im Art. προφήτης R. Meyer 826 sowie Joh. Maier II 32f; Cullmann 16ff. 29 Eine interessante Frage ist es, ob evtl. auch Gestalten wie Henoch, die das frühe Judentum als Propheten betrachtete (Jud 14: προεφήτευσεν; äthHen), in die Wendung „einer der Propheten“ inbegriffen sind. Dann würde hier auch eine Spur zur jüd. Apokalyptik sichtbar. Vgl. Hugo Odeberg, Art. Ἐνώχ, ThWNT, II, 1935, 553ff sowie Cullmann 16ff. 30 Bonnard 243. 31 France 252. 32 Das hat gerade Beare 352 gespürt. Vgl. Schlatter 252. 33 Gundry 329. 34 Ebenso France 252; BDR § 475,2.

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der Jünger zu hören. ὑμεῖς δέ [hymeis de] (Ihr aber) bildet einen scharfen Gegensatz zu den in V. 14 genannten Volksmeinungen, aber auch zur Position der Schriftgelehrten und rabbinischen Autoritäten von Mt 16,5ff; 12,38ff.22ff. So kurz die Frage ist, so wesentlich sind ihre Implikationen: 1) Die Frage lautet bei Matthäus, Markus (8,29) und Lukas (9,20) wortwörtlich gleich; 2) Jesus wünscht eine Entscheidung der Jünger ohne Gewalt und Druck; jede gewaltsame Bekehrung (wie heute in Syrien, Irak, Zentralafrika u.a.) verstößt gegen die Lehre Jesu; 3) es gibt Augenblicke unseres Lebens, in denen wir uns ohne Wenn und Aber entscheiden müssen; 4) Jesus setzt mit dem AT (Deut 30,15ff; Hes 18,21ff; 33,10ff) und mit den Rabbinen (Sir 15,11ff; P. Abot III, 19) die Freiheit menschlicher Entscheidung voraus;35 5) er macht eine deutliche Unterscheidung zwischen seinen Jüngern (Ihr aber) und den Nichtjüngern; wenn die Distanz zwischen Kirche und Welt verschwindet, ist etwas faul; 6) es geht im Christentum grundsätzlich um die Entscheidung über seine Person: wer ich sei? – und nicht um seine Werte, seine Liebe, seine Toleranz, seine Diakonie, seinen kulturellen Beitrag. Jeder Dialog, der dies außer Acht lässt, ist unvollständig oder sogar unaufrichtig. Dass manche Kommentare36 in V. 13-15 „Jüngerinnen“ oder „Schülerinnen“ einfügen, ohne dass der Text davon spricht, stört und läuft der Intention des Matthäus zuwider. Die Antwort, die Petrus in V. 16 gibt, ist, wie viele Ausleger bemerken,37 feierlich. Aber nicht nur das, sondern auch konzentriert, kurz und ohne jedes schmückende Beiwerk: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes (σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος [sy ei ho christos ho hyios tou theou tou zōntos]). Eine überraschende Beobachtung ist die, dass es zu diesem Text trotz des Gewichts seiner Aussagen kaum Varianten gibt. Spätere Abschreiber, Kopisten usw. haben also diesen Text im Sinne von Deut 4,2 fast wie einen „geheiligten“ Text stehen lassen.38 Dass Petrus antwortete, bedeutet dagegen keine Überraschung, weil er schon vorher als prominenter Jünger und Sprecher hervorgetreten ist (Mt 10,2; 14,28ff; 15,15). Allerdings erscheint jetzt sein voller Name Simon Petrus. Siehe auch dazu die Erklärung bei Mt 10,2. Es ist „gehobene Sprache“, ein erhebender Augenblick.39 Die Aoriste ἀποκριθείς [apokritheis] und εἶπεν [eipen] halten die Einmaligkeit dieses Augenblicks fest. Aus der voraufgeh35 36 37 38 39

Vergeblich bestritten von Barth, KD I/2, 386. Beispielsweise Fiedler 286f. Vgl. Zahn 535. Schwieriger bei Mt 1,16. Zahn 535.

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enden Frage „Ihr aber, was sagt ihr …“ (betontes ὑμεῖς [hymeis]) entnehmen wir, dass Petrus jetzt im Namen aller zwölf Apostel spricht.40 Es empfiehlt sich nicht, über den Kreis der Zwölf hinaus mit einer größeren Schar anwesender Jünger zu rechnen. Das Verbot von V. 20 hätte sonst wenig Sinn gehabt. Ist Petrus also der Sprecher für alle Zwölf, dann darf dieser Tatbestand doch nicht verdunkeln, dass sein Auftreten und seine Aussage hohen Mut und eine bewundernswerte Klarheit erforderten. Man darf Petrus weder hinter den Zwölfen noch die Zwölf hinter Petrus verschwinden lassen. Nun sagt Petrus ein Doppeltes: 1) Du bist der Messias. Diese Aussage ist nicht neu (vgl. Mt 1,1.16f.18; 2,4; 11,2; Joh 1,41; 4,25.29). Aber wie sie jetzt ausgesprochen wird, ist es eine gereifte, feststehende und bewährte Erkenntnis. Schlatter traf hier das Richtige: Mt 16,16 „zeigt, wie Jesus seinen Jüngern die Freiheit gab und ihren Glauben in ihnen wachsen ließ, bis er ihnen fest geworden ist. Er hat … ihnen nicht vorgesagt: Ich bin der Christus, sondern hat sie in seine Begleitung gezogen.“41 Die Worte Du bist (σὺ εἶ [sy ei]) enthalten zugleich eine deutliche Abgrenzung, und zwar in zweierlei Richtung: Sie wird im Gegensatz zu den ablehnenden Stimmen der Rabbinen gemacht (vgl. Mt 12,22ff; 12,38ff; 16,1ff), und sie lehnt ihrerseits andere Messiaskandidaten als falsche Messiasse ab (vgl. Joh 10,1ff; Apg 5,36f; 21,38). Du bist der Messias: Diese Worte erscheinen auch bei Markus (8,29) und Lukas (9,20), in abgewandelter Form auch bei Johannes (6,69). Messias, der von Gott Gesalbte und Gesandte, der von Pharisäern (PsSal 17–18), Essenern (1QS IX, 11 u.a.) und vielen frommen Juden (Lk 2,25ff.36ff; äthHen 46ff) heiß erwartete Erlöser: Das ist also Jesus. 2) Du bist der Sohn des lebendigen Gottes. Auch diese Aussage ist nicht neu (vgl. Mt 2,15; 3,17; 4,3.6; 8,29; 11,25ff; 14,33; Joh 6,57). Aber jetzt wird sie zum feierlichen Bekenntnis der Zwölf angesichts der vorausgehenden Ablehnung durch angesehene Rabbinen (vgl. wieder Mt 12,22ff; 12,38ff; 16,1ff). Das heißt, Jesus ist der Sohn, der in 2Sam 7,14; Ps 2,7; Jes 9,5; 11,1ff als Bringer des Heils angekündigt wurde. Die britische Exegese hält Du bist der Sohn des lebendigen Gottes teilweise für sekundär.42 Sie weist darauf hin, dass diese Worte nur bei Matthäus begegnen. Jedoch finden wir die Aussage „Du bist mein [= Gottes] Sohn / „er ist Gottes Sohn“ bei der Taufe in allen vier Evangelien (Mt 3,17; Mk 1,11; Lk 3,22; Joh 1,34). Sie ist also allen vertraut. Wie im Falle des Kreuzestitels (Mt 27,37; Mk 15,26; Lk 23,38; Joh 19,19) kann man deshalb 40 Carson 365: „as spokesman for the Twelve“. 41 Schlatter 253. 42 Vgl. Carson 365.

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auch beim Messiastitel die vollständige und ursprüngliche Form zugestehen.43 Wenn jedoch Mt 16,16ff parr. als unhistorische „Glaubenslegende“ behandelt wird,44 ist das Maß gesunder Kritik überschritten. Hengel und Schwemer halten eine solche Kritik für „abwegig“.45 Eine Wendung wie der Sohn des lebendigen Gottes kann nur in Israel entstehen, denn der lebendige Gott ist der eine, einzigartige Gott Israels (Deut 6,4f) im Unterschied zu allen Göttern und Göttermythen46 (vgl. Ps 42,3; 84,3; Jes 37,4; Jer 5,2; Hos 2,1).47 Mt 16,16 hat eine unvergleichliche Wirkungsgeschichte gehabt.48 Sie nachzuzeichnen, würde Bände erfordern. Wir können nur auf einige Punkte hinweisen. Karl Barth nannte Mt 16,16 den „christologische(n) Höhepunkt bei den Synoptikern“.49 Zunächst fällt auf, dass Irenäus mehrfach von Mt 16,13 Gebrauch macht (AdvHaer III, 13,2; 18,4; 21,8). Hier ist schon die Tendenz zur Zwei-Naturen-Lehre spürbar, indem „Sohn Gottes“ als Höhepunkt des Bekenntnisses verstanden wird und dem menschlichen Christus gegenübergestellt wird.50 Diese Tendenz kommt zur Blüte im frühen Mittelalter, so etwa bei Leo dem Großen.51 Bei ihm treten zugleich andere Aspekte in den Vordergrund. Einmal ist es die These: „Petrus wurde dazu auserkoren, das Haupt aller berufenen Völker, sämtlicher Apostel und aller Väter der Kirche zu sein“,52 das heißt der Anfänger des Papsttums. Sodann ist es die These, dass der Glaube des Petrus die Verheißung empfangen habe: „Pflanzt sich ja jene Glaubensstärke … ewig fort … Es ist dies der Lohn für den … Glauben.“53 Wie man sieht, ließen sich beide Aspekte, die persönliche Verheißung an Petrus und die Verheißung an den Glauben, bestens verbinden. Doch damit haben wir V. 17 schon vorausgegriffen: Jesus aber antwortete und sagte zu ihnen: Glücklich zu preisen bist du, Simon, Sohn des Johannes! Denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Unstreitig richtet sich diese Selig43 Vgl. auch die verschiedenen Vaterunser-Fassungen. 44 So Bultmann, Gesch, 275ff; Beare 352; für Fiedler 287 ist es nur ein Bekenntnis der Gemeinde. 45 Hengel-Schwemer 521, auch im Blick auf Conzelmann und Lindemann; kritisch auch Cullmann 282ff. 46 Verehrt im Pan-Heiligtum von Paneas = Banyas! Vgl. noch Luz II 460f. 47 Für die Ursprünglichkeit auch Zahn 535ff, Schniewind 188; Carson 365f; Schlatter 253; Riesner 479. 48 Vgl. Luz II 467ff. 49 KD I/2 25. 50 AdvHaer III, 18,4; 21,8. 51 Texte KV II 86f; IV, 135ff. 52 Texte KV IV 135. 53 Texte KV IV 139f.

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preisung (μακάριος εἶ [makarios ei]) an Petrus als Einzelperson und nicht an den Kreis der Zwölf. Es heißt ja nicht „glücklich zu preisen seid ihr …“. Das persönliche Element wird verstärkt durch die Anrede Simon, Sohn des Johannes (Σίμων Βαριωνᾶ [Simōn Bariōna]). Simon steht schon von V. 16 her fest, vgl. die Erklärung bei Mt 4,18. Für Sohn von (aram. ‫[ ַבּר‬bar]) Johannes sprechen Joh 1,42; 21,15ff und die Codices N.T. 566.1424.54 Das griech. Βαριωνᾶς [Bariōnas] oder Βαριωνᾶ [Bariōna] enthielte dann eine Kurzform des Namens Johannes. Für diese Kurzform entscheidet sich eine Mehrheit der Exegeten, teils wegen der Bezeugung im Johannesevangelium, teils deshalb, weil „Jonas“ bis zum 4. Jh. n.Chr. jüdischerseits nicht als Eigenname nachgewiesen ist.55 Aber „Eine sichere Entscheidung … ist nicht zu fällen.“56 So müssen wir es offenlassen, ob der Vater des Simon Petrus letztlich Johannes oder „Jona“ hieß.57 Fleisch und Blut, σὰρξ καὶ αἷμα [sarx kai haima], hebr. ‫[ ָבּ ָשׂר ָוָדם‬bāśār wādām], ist gängige jüdische Bezeichnung für vergängliche, sündige Menschen im Gegensatz zum ewigen Gott (vgl. Joh 1,13; 1Kor 15,50; Gal 1,16; Eph 6,12).58 ἀποκαλύπτειν [apokalyptein], hebr. ‫[ ָג ָּלה‬gālāh], „enthüllen“, „aufdecken“, offenbaren ist schon im AT in der Regel das spezielle Werk Gottes.59 Er offenbart dem Propheten, was er tun will (Am 3,7). So liegt in dem offenbart von Mt 16,17 wohl beides ineinander: die Enthüllung, dass Jesus wirklich der Messias und Sohn Gottes ist, und die Perspektive, dass Gott seinen Heilsplan durch ihn erfüllt.60 Menschlich konnte Petrus über beides keine Gewissheit haben.61 Dabei muss es sich nicht um eine Art Damaskuserlebnis gehandelt haben wie in Gal 1,16,62 sondern es genügt der Durchbruch zur inneren Gewissheit durch die Gnade Gottes. Jesus spricht von meinem Vater im Himmel (ὁ πατήρ μου ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ho patēr mou ho en tois ouranois]). Damit nimmt er eine Redewendung auf, die ihm seit Mt 7,21 geläufig ist. Zugleich aber zeigt das betonte mein Vater, dass Jesus selbst in einem einzigartigen Sohnesverhältnis zu diesem himmlischen Gott lebt, das sich in Zeit und Ewigkeit nicht wiederholen wird. Das schafft eine starke 54 Vgl. Aland, Syn, 232. 55 J. Jeremias, Art. Ἰωνᾶς, ThWNT, III, 1938, 410; BDR § 53,4; Luz II 461; Flusser 279,8; Carson 375. 56 Jeremias a.a.O. Vgl. Bauer-Aland 268; Strack-Billerbeck I 730. 57 Über die aram. Namen in den Evangelien vgl. Klostermann 139. Siehe auch die Varianten zu Mt 16,17. Für Jona z.B. Klostermann 139; Wilckens I/4 73; Zahn 538; Schniewind 189. 58 Vgl. Strack-Billerbeck I 730f; J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, 171f. 59 Vgl. zum Folgenden A. Oepke, Art. καλύπτω usw., ThWNT, III, 1938, 579ff. 60 Vgl. Davies-Allison II 603. 61 Für „unmittelbare Offenbarung“ jedoch Karl Barth, KD I/2, 755. 62 Richtig K. Barth, KD I/1, 153.

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Brücke zu Mt 11,25-30. Nimmt man Mt 11,25ff und Mt 16,17 zusammen, dann kann man von einer im tiefsten Sinne „apokalyptischen Theologie“ des Matthäusevangeliums sprechen. Jesus setzt seine Antwort an Petrus in V. 18 und 19 fort: Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Eine Einigkeit der Ausleger ist hier in absehbarer Zeit nicht zu erzielen. Es sind ja die Worte, die jeden Besucher in der Kuppel des Petersdomes empfangen und die zum Petrusamt, zum Papstamt, zum Amt der Einheit die direkteste Beziehung haben. Fest steht, dass auch diese Worte wieder an die Person des Petrus gerichtet sind (σοὶ λέγω [soi legō]). Jesus spricht sie in der betonten (ἐγώ [egō]!) Autorität des Messias und Gottessohnes. Du bist Petrus (σὺ εἶ Πέτρος [sy ei Petros]) ist die formale Parallele zu Du bist der Messias (σὺ εἶ ὁ χριστός [sy ei ho christos]). Aber dieser Zuname des Simon existierte schon früher, seit der Zeit von Joh 1,42 (vgl. Mt 4,18; 10,2).63 Die Worte Du bist Petrus können also nur als Bestätigung, als Bekräftigung angesehen werden.64 Ihr Sinn ist: Du hast den Petrus-Namen von mir erhalten, und dieser Name wird dir bleiben und er wird auch in Zukunft eine Rolle spielen.65 Nun folgt das berühmte Wortspiel: und „auf diese petra“ = auf diesen Felsen will ich (werde ich) meine Gemeinde bauen. Obwohl Πέτρος [Petros] und πέτρα [ petra] im Griechischen verschiedene Wörter sind und auch verschiedene Nuancen beinhalten – πέτρος eher der Felsblock, πέτρα eher der gewachsene Fels66 – so stimmen sie doch in der Grundbedeutung Fels überein und sind auch untereinander austauschbar.67 Erst recht sind sie im Aramäischen, das Jesus damals mit größter Wahrscheinlichkeit sprach, identisch. Denn im Aramäischen lautet beides ‫[ ֵ ּכיָפא‬kēphā’]. Im Aramäischen ist das Wortspiel also noch auffälliger: „Du bist ‫( ֵ ּכיָפא‬Kephas ins Griechische übertragen) und auf diesen ‫ ֵ ּכיָפא‬will ich meine Gemeinde bauen.“68 Nun war Petrus zwar ein treuer Jünger, aber charakterlich von seiner menschlichen Persönlichkeit her kein Fels. Eher impulsiv, manchmal wankend und enttäuschend (vgl. Mt 26,33ff mit Mt 26,69ff). Ein Fels wurde er nur durch Gottes Kraft und Verheißung. In diesem Sachver63 Strack-Billerbeck I 732,1; France 254; Zahn 539. 64 Vgl. O. Cullmann, Art. Πέτρος usw., ThWNT, VI, 1959, 102f, der allerdings nach Mk 3,16 und Mt 16,18 auch andere Zeitpunkte für möglich hält. 65 Ganz anders Strack-Billerbeck I 732: „als Felsenmann bewährt“. 66 O. Cullmann, Art. πέτρα, ThWNT, VI, 1959, 94. 67 Cullmann, Art. πέτρα, a.a.O., 94f. 68 Vgl. Cullmann a.a.O.; Hendriksen 647.

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halt liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen Jalqut 1 §766, das man öfter als jüdische Parallele heranzieht,69 und Mt 15,18. In der Jalqut-Stelle sagt Gott zu Abraham: „siehe, ich habe einen Felsen gefunden, auf dem ich die Welt bauen … kann. Deshalb nannte er Abraham einen Felsen.“ Gott findet also jemand, der schon ein Fels ist. Jesus aber fand keinen, der schon ein „Fels“ war, sondern machte Petrus erst durch seine Namengebung und seine Verheißung zu einem Felsen. Halten wir zunächst fest: Weder eine angeblich vorhandene Felsennatur, noch sein Glaube oder sein Bekenntnis machen Petrus zum „Felsen“ und Baugrund der Gemeinde, sondern nur Verheißung und Auftrag Jesu.70 Denn nach biblischem und jüdischem „Brauch weisen Beinamen auf eine … Verheißung oder … besonderen Auftrag“71 hin. Seine Gemeinde also will Jesus auf ihn bauen. Damit greift er das Bild vom „Haus“ oder „Tempel“ auf, das die Gemeinde in biblischer Sicht darstellt72 (vgl. Jes 5,7; Jer 31,31; Hes 3,17; 37,11; Apg 2,36; Hes 40; Mal 3,1; 1Kor 3,16f; Eph 2,20f; 2Thess 2,4; 1Petr 2,5). Ist das Haus auf Fels gebaut, dann hat es Bestand (Mt 7,24ff). Für Gemeinde, griech. ἐκκλησία [ekklēsia], ׁ ְ ‫[ ְ ּכִני‬kenīschtā’], gibt es eine Reihe hebr. und aram. Begriffe: ‫[ ָקָהל‬qāhāl], ‫ש ָ ּתא‬ ‫[ סוֹד‬s̀ ōd], ‫‘[ ֵעְד ָ ּתא‬edtā’], ‫‘[ ֵעָדה‬edāh]; in der Qumranliteratur kommt ‫ַיַחד‬ [jachad] dazu.73 Meine Gemeinde besagt: Es ist die messianische Gemeinde, letztlich die Gemeinde des Neuen Bundes (Jer 31,31ff; Mt 26,26ff). Es besagt aber ferner, dass Jesus der Baumeister und der Herr der Gemeinde ist – und nicht Petrus. Petrus ist das Fundament, das Jesus benutzt, wobei Jesus selbst freilich der maßgebliche „Eckstein“ bleibt (Eph 2,20), der tragende Ur„Grund“ (1Kor 3,11), der sogar den Felsen Petrus trägt. In unserer Sprache ausgedrückt: Petrus bekommt den einmaligen geschichtlichen Auftrag, Ausgangspunkt der gesamten irdischen Gemeinde Jesu zu sein. Nach der Verleugnung im Prozess wird dieser Auftrag in Joh 21,14ff erneuert. Petrus ist seinem Auftrag in dreifacher Weise gerecht geworden: als Leiter der Urgemeinde (Apg 1–8), als erster Heidenmissionar (Apg 10–11), und als Leiter der Hauptstadtgemeinde in Rom bis zu seinem Märtyrertod (1Petr 5,13; Joh 21,18f).74 Der Ankündigung der messianischen Gemeinde folgt wieder eine Verheißung, und zwar gerade für diese Gemeinde: und die Tore der Unterwelt 69 Cullmann a.a.O.; Strack-Billerbeck I 733. 70 Ganz anders wieder Strack-Billerbeck I 732: Jesus will auf die von Petrus „gläubig bekannte(n) Tatsache meiner Messiaswürde u. meiner Gottessohnschaft“ bauen. Aber wie wir Schniewind 189; Carson 369; France 254. 71 Cullmann, Art. Πέτρος, a.a.O., 103. Vgl. France 254. 72 Oft auch in rabbinischer Literatur, Strack-Billerbeck I 732. 73 Vgl. Cullmann, Art. Πέτρος, a.a.O., 106; Strack-Billerbeck I 734ff. 74 Vgl. Cullmann, Art. Πέτρος, a.a.O., 109ff.

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werden sie nicht überwältigen. Die Tore der Unterwelt / der Totenwelt, ׁ ְ ‫[ ַׁשֲעֵרי‬scha‘arē sche’ōl], griech. πύλαι ᾅδου [ pylai hadou], stamhebr. ‫שאוֹל‬ men aus Jes 28,10 (vgl. Ps 9,14; Hi 38,17).75 Tore waren hervorragende Architekturen von Städten und Gebäuden, Sinnbild ihres Reichtums und ihrer Macht.76 „Das Tor“ steht für das „Ganze“ des Komplexes, zu dem es gehört.77 Deshalb bezeichnen die Tore der Unterwelt die Gesamtheit der Unter- und Totenwelt, genauer: „die … anstürmenden gottfeindlichen Mächte der Unterwelt“.78 Das einprägsame Bild von den Toren der Unterwelt findet sich öfter in der frühjüdischen Literatur (so in Sir 51,9; Weish 16,13; PsSal 16,2; 3Makk 5,51),79 auch in Qumran (1QH III, 17).80 Der Sprachgebrauch Jesu war also leicht verständlich. Das griech. κατισχύειν [katischyein] bedeutet „jemand an Kraft überlegen sein“, „besiegen“, überwältigen.81 „Das auffällige Fehlen des Artikels“ bei πύλαι ᾅδου [ pylai hadou] erklärt Joachim Jeremias als „Semitismus“.82 Richtig ist auch seine Beobachtung, dass die „Tore der Unterwelt“ „als Angreifer gedacht“ sind.83 Doch wen wollen sie überwältigen? Jeremias antwortet: den „Felsen“.84 Aber es wäre doch seltsam, wenn es bei dieser Gemeinde-Verheißung nur um Petrus ginge.85 Außerdem ist das nächstliegende Substantiv die ἐκκλησία [ekklēsia] und nicht die πέτρα [ petra]. Deshalb muss das sie auf die Gemeinde bezogen werden. Dann aber hat diese Verheißung eine weitreichende Bedeutung: 1) Sie gilt Jesu Gemeinde bzw. Kirche im Ganzen („meine Gemeinde“). Das ist keine Garantie für jede einzelne Regionalkirche oder für jede einzelne Konfession. So wie die christliche Kirche jahrhundertelang unter den Türken verschwunden ist, so kann zum Beispiel auch der Protestantismus wieder verschwinden. 2) Sie ist präsentisch und futurisch zugleich.86 Das heißt, sie gilt für den jetzigen Ansturm der gottfeindlichen 75 Strack-Billerbeck I 736; Jeremias a.a.O. 925f. 76 Vgl. E. Otto, Art.‫שַׁער‬ ַ , ThWAT, VIII, 1995, 358ff; J. Jeremias, Art. πύλη usw., ThWNT, VI, 1959, 920ff. 77 Otto a.a.O. 372. 78 Jeremias a.a.O. 926. Hier wird also „Tor“ im übertragenen Sinne gebraucht. 79 Jeremias a.a.O. 924. 80 Otto a.a.O. 403. 81 Vgl. W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, 400, für Mt 16,18 „überwältigen“, „besiegen“. 82 Jeremias a.a.O. 925. BDR § 141,8: „formelhafte Wendung“. 83 Jeremias a.a.O. 926f. Gegen Luz II 464; France 255, aber wie Zahn 550f; Wilckens I/4 74. 84 A.a.O. 85 Obwohl Origenes und Ephraem dies vertraten (Zahn 548,68). 86 Gegen Jeremias a.a.O., der Mt 16,18c auf die Eschatologie begrenzt.

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Mächte genauso wie für den endzeitlichen. Man kann einzelne Christen, Gemeinden und Kirchen auslöschen auf dieser Erde, aber niemals die im Glaubensbekenntnis als ganze geglaubte Kirche. 3) Kann die Totenwelt nicht siegen, dann bleiben auch die gläubigen Gemeindeglieder nicht im Tode. Vielmehr werden sie auferstehen. Mt 16,18 ist eine Lebenszusage im umfassendsten Sinne. Sie besagt, dass die Gemeinde „von ewiger Dauer sein wird“.87 Aus der unübersehbaren Diskussion seien vier Fragenkreise angesprochen: 1) Es gibt eine Diskussion zur Bedeutung von ᾅδης [hadēs]. Ist es das Totenreich oder die Unterwelt oder beides? Im Rückgriff auf die alttestamentliche ‫[ ְ ׁשאוֹל‬sche’ōl] wird man sagen müssen: Der Hades (ᾅδης [hadēs]) ist beides, man darf Toten- und Unterwelt nicht auseinanderreißen. Dies zeigt auch einׁ ְ [sche’ōl].88 Wichtig ist, drücklich der Artikel von L. Wächter über die ‫שאוֹל‬ dass Tore der Unterwelt im damaligen Judentum „stets im übertr. Sinne gebraucht wird“.89 2) Was ist die ἐκκλησία [ekklēsia] (Gemeinde) von Mt 16,18? Dass hier verschiedene hebr. und aram. Äquivalente infrage kommen, ׁ ְ ‫[ ְ ּכִני‬kenīschtā’], ‫‘[ ֵעָדה‬edāh], ‫[ ְכֶּנֶסת‬kenäsät], zum Beispiel ‫[ ָקָהל‬qāhāl], ‫ש ָ ּתא‬ wurde oben schon erwähnt. Der philologische Tatbestand empfiehlt zunächst ‫[ ָקָהל‬qāhāl], das in der griech. Bibel weitaus am häufigsten durch ἐκκλησία [ekklēsia] wiedergegeben wird.90 Aber „Wort, Begriff, Sache der ἐκκλησία sind ungemein komplex“.91 So plädierte etwa Heinz-Josef Fabry gegen eine Herleitung der ἐκκλησία von ‫ ָקָהל‬und wollte stattdessen ‫ [ ַיַחד‬jachad] oder einen anderen Begriff vorziehen.92 Eines kann man jedoch mit Bestimmtheit sagen: ἐκκλησία bedeutet im NT sowohl „Kirche“ als auch „Gemeinde“. Was wir aus theologischen und kirchenpolitischen Gründen auseinanderreißen, liegt dort in einem zusammen. Dabei steht dieser Begriff sowohl für eine Einzelgemeinde als auch für die Universalkirche, wobei jeweils die Einzelgemeinde zugleich die Universalkirche, also die ganze Christenheit, repräsentiert.93 3) Immer wieder wurde versucht, das an Petrus gerichtete Wort in Mt 16,18f in der Weise aufzubrechen, dass man auch „Nachfolger“ einbeziehen wollte. Das ist jedoch nicht möglich, denn die ganz auf Petrus konzentrierten 87 Strack-Billerbeck I 736. Vgl. Schlatter 255; Schniewind 190. 88 Im ThWAT, VII, 1993, 901ff. Im Endeffekt auch Jeremias a.a.O. 925f; ders., Art. ᾅδης, ThWNT, I, 1933, 148ff; Bauer-Aland 30f. 89 Jeremias Art. πύλη, a.a.O., 925. 90 H.-J. Fabry, Art. ‫ָקָהל‬, ThWAT, VI, 1989, 1222. So auch Hengel-Schwemer 351,44; Carson 369; France 255. 91 So K. L. Schmidt im Art. ἐκκλησία, ThWNT, III, 1938, 522. 92 Fabry a.a.O., Zahn 546 für ‫תא‬ ּ ָ ‫ ְ ּכִני ְ ׁש‬. 93 Vgl. Schmidt a.a.O. 522ff.

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Formulierungen: Du bist – ich sage dir, dazu das Wortspiel Petrus – Fels lassen ein solches Aufbrechen des Wortes nicht zu. Wie einfach hätte Jesus irgendwelche Nachfolger einbeziehen können, wenn er darüber auch nur ein einziges Wort gesagt hätte! 4) Die Dogmatik beschäftigte sich so oft mit Mt 16,18f, dass die genaue Aussage dieser Stelle unterzugehen drohte. Johannes Chrysostomus (gest. 407 n.Chr.) blieb noch nahe am Text, wenn er aus Mt 16,18 die Folgerung zog: „Die Kirche ist stärker als der Himmel.“94 Ähnliches kann man von Cyprian in Karthago (ca. 210–258 n.Chr.) sagen, der die anfängliche Einheit der Kirche in dem historischen Petrus verkörpert sah.95 Dagegen berief sich schon Leo der Große (Papst 440–461 n.Chr.) auf Mt 16,18, um den Vorrang des Papsttums gegenüber Hilarius von Arles zu betonen.96 Seit der Reformation schwelt der Streit zwischen dem Protestantismus und Rom über die Auslegung von Mt 16,18f. Selbst Karl Barth, der es für unmöglich hielt, dass seitens des Protestantismus ein „grundsätzlicher Einspruch“ gegen den römischen Primat erhoben werden könnte,97 erklärte später, dass Mt 16,18f „in der Person des Petrus dem ganzen Apostelkreis … zugesprochen“ worden sei.98 Heute sucht man auch protestantischerseits, die Frage der Einheit der Kirche anhand von Mt 16,18f zu erörtern, oft unter dem Stichwort vom „Petrusamt“. Typisch ist hier Ulrich Luz, demzufolge Mt 16,17-19 „an alle Kirchen die kritische Frage stellt, inwiefern ‚Petrusämter‘ in ihnen der Einheit der Kirche dienen“.99 Aber so richtig es auch ist, in Petrus eine „Verkörperung der Einheit der ganzen Kirche“100 zu sehen, so wenig kann man Mt 16,18f eine Lösung der Einheitsfrage entnehmen. Denn hier schuf Jesus kein Amt, sondern ein einmaliges historisches Fundament.101 Im Übrigen entzieht sich der kritisch-liberale Protestantismus weitgehend dem Gespräch, weil er die Jesuslogien in Mt 16,18f für unhistorisch hält (s. den Exkurs). Vers 19 setzt die Verheißung an Petrus fort: Ich werde dir die Schlüssel zum Reich Gottes geben, und was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein. Das fortwährende du stellt sicher, dass es weiterhin um eine persönliche Verheißung geht. Erst in V. 20 kommen die Apostel insgesamt wieder vor – eigentlich erstaunlich spät. Zu beachten sind auch die 94 95 96 97 98 99 100 101

Texte KV IV 13. Texte KV IV 34f. Texte KV IV 144f. KD I/1106. KD I/2 540. Häufig geltend gemacht: Fiedler 287f. Luz II 482. So Luz a.a.O. So auch Luz II 471ff.

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Futur-Formen (Ich werde – du wirst – wird sein), die wir schon in V. 18 beobachteten („ich werde bauen“ – „sie werden nicht überwältigen“). Sie zielen auf die Zeit nach der Auferstehung, in der alles Angekündigte eintreten wird.102 Die Schlüssel zum Reich Gottes sind von Jes 22,22; Hi 12,14 ausgehend zu verstehen.103 Wer die Schlüssel hat, entscheidet über den Zugang. Er ist also, wie Joachim Jeremias hervorhebt,104 ein Bevollmächtigter des Auftraggebers und kein Pförtner. Das lässt die Größe der Verheißung an Petrus erkennen. Übrigens wird sie in abgewandelter Form in Mt 18,18 auch den anderen Aposteln zugesprochen. Um Mt 16,19 richtig einzuschätzen, muss man ferner bedenken, dass Jesus selbst nach Offb 1,18; 3,7ff der oberste Inhaber der Schlüsselgewalt für das Reich Gottes, aber auch für Tod und Unterwelt bleibt. Petrus besitzt nur eine abgeleitete Schlüsselgewalt und ist dafür verantwortlich. Jesus aber hat die Schlüssel, weil er Messias und Gottes Sohn ist. Aus Mt 23,12 kann man schließen, dass auch die Schriftgelehrten und Pharisäer die Schlüssel zum Reich Gottes105 für sich reklamierten.106 Den Inhalt der Schlüsselgewalt fasst Jesus in den beiden Begriffen binden und lösen zusammen.107 Für uns sind sie nicht ohne Weiteres verständlich. Hinter den griech. Begriffen steht das hebr. Wortpaar ‫[ ִה ִ ּתיר‬hittīr] / ‫ָאַסר‬ [’ās̀ ar] und das aram. Wortpaar ‫שָרא‬ ׁ ְ [scherā’] / ‫’[ ֲאַסר‬as̀ ar].108 Geht man vom rabbinischen Sprachgebrauch aus, dann bedeuten binden und lösen so viel wie „verbieten“ und „erlauben“, kurz gesagt: die Lehrgewalt.109 Daneben tritt als zweite nachweisbare Bedeutung „den Bann verhängen“ und „den Bann aufheben“.110 F. Büchsel sieht in Mt 16,19 diese zweite Bedeutung vorliegen.111 Strack-Billerbeck hingegen wollen beide Bedeutungen auch für Mt 16,19 annehmen und denken, dass hier die „Lehrgewalt“ und „Disziplinargewalt“ auf Petrus übertragen wird.112 Ähnlich J. Jeremias: In Mt 16,19 über102 Anders J. Jeremias, Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, 749: schon „gegenwärtig erfolgend“. Wie wir Cullmann 234. 103 Zu frühjüdischen und rabbinischen Stellen betr. Tore des Himmels und Zuschließen/ Öffnen vgl. Davies-Allison II 634. Wir nennen nur äthHen 9,10; 10,4.12f; 11,1. 104 Im Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, 749f. Ebenso Strack-Billerbeck I 736. 105 „Reich Gottes“ ist hier wie sonst im Matthäusevangelium die Gottesherrschaft und das ewige Heil, nicht etwa die himmlische Welt (Davies-Allison a.a.O.). 106 Jeremias a.a.O. 750. 107 Gut Davies-Allison II 635: Die Schlüssel sind hier „explicated“; ähnlich Luz II 465; Sand 326. 108 F. Büchsel, Art. δέω, ThWNT, II, 1935, 59f. Schon Zahn 553ff. 109 Vgl. Büchsel a.a.O. 60; Strack-Billerbeck I 739; Bauer-Aland 356. 110 Vgl. wieder Büchsel a.a.O.; Strack-Billerbeck I 738; Josephus Bell I, 111. 111 Büchsel a.a.O. 112 A.a.O.; ebenso Hendriksen 651.

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trage Jesus „die Vollmacht der geistlichen Leitung seiner Gemeinde“ auf Petrus. Im Anschluss an Schlatter113 betont er dabei die richterliche Dimension des „Bindens und Lösens“, die „über die Ungläubigen das Gericht“ verhänge und „den Glaubenden die Vergebung“ zuspreche.114 In der Tat wird man von Mt 18,18 her im Binden das Versagen der Vergebung bis hin zur Exkommunikation (vgl. 1Kor 5,3ff) und im Lösen den Zuspruch der Vergebung erblicken müssen. Dieser kurze Überblick warnt uns davor, binden und lösen in Mt 16,19 zu eng zu fassen. Als Entfaltung dessen, was in den Schlüsseln zum Ausdruck kommt, besagen diese Worte: Petrus hat als menschlicher Leiter der ersten Gemeinde einerseits die Vollmacht, Menschen das Reich Gottes zu öffnen. Er kann und darf das durch seine Predigt, seine Lehre, seine Gemeindeleitung und seinen Zuspruch der Vergebung (vgl. Joh 20,23). Andererseits hat er auch die Vollmacht, Menschen das Reich Gottes eben nicht zu öffnen: Wiederum durch seine Predigt, die eben auch Ablehnung erfährt, durch seine Lehre, die eben auch von den Häretikern und Gottesfeinden attackiert wird, durch seine Gemeindeleitung, die ebenfalls attackiert werden kann, und durch das Versagen der Vergebung denen gegenüber, die nicht umkehren wollen (vgl. Apg 5,3ff; 8,18ff).115 Jesus fügt ausdrücklich hinzu, dass solche Handlungen des Petrus im Rahmen seiner Vollmacht auch im Himmel (ἐν τοῖς οὐρανοῖς [en tois ouranois]), das heißt bei Gott, Gültigkeit haben. Sonst wären sie unernst. Jesus wendet hier die jüdische Regel an: „Der Beauftragte des Auftraggebers ist wie dieser selbst“ (vgl. Mt 10,40). Dabei wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass Petrus seinem Auftrag treu bleibt. Geschieht dies nicht, so verliert auch Mt 16,19 seine Gültigkeit.116 Exkurs: Zur Geschichtlichkeit von Mt 16,17-19 Unter Theologen gehören die Verse 17-19 in Mt 16 zu den Stellen, die historisch am stärksten umstritten sind. Von Klostermann bis Hengel findet sich immer wieder die Behauptung, die ganze Szene sei „legendarisch“.117

113 Schlatter, Ev, 510f. 114 Jeremias a.a.O. 751 sowie Jeremias, Gleichnisse, 214. 115 Zu einer solch weiten Auslegung raten auch Davies-Allison II 636.639; Luz II 465f; Sand 326. 116 Vor allem die angelsächsische Auslegung legt dagegen Wert auf das Perfekt-Futur und geht deshalb umgekehrt davon aus, dass „binden“ und „lösen“ auf Erden nur nachvollzieht, was schon längst im Himmel gebunden und gelöst ist. So Carson 370ff; France 256. Anders aber Beare 356: „God … will ratify.“ Wie wir Sand a.a.O.; Strack-Billerbeck I 741. Dass die Rabbinen dasselbe für ihre Entscheidungen in Anspruch nahmen, zeigt Strack-Billerbeck I 741f. 117 Klostermann 139; Hengel, Evglien, 150; Bultmann, Gesch, 275f.

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Die Verneinung der Historizität gründet sich auf eine Reihe von Argumenten, aus denen hier folgende erwähnt werden: 1) Weil Mt 16,17-19 nur bei Matthäus steht, aber ein entsprechender Bericht bei Markus und Lukas fehlt, müsse Mt 16,17-19 als späterer Einschub betrachtet werden, der entweder die Rolle des Petrus stärken oder das Gewicht der Kirche des Matthäus hervorheben wolle.118 Auch bei dieser Position wird allerdings der semitische Charakter dieser Worte anerkannt und deshalb eine relativ frühe Entstehung „in der palästinensischen Urgemeinde“ angenommen.119 Man kann sich den Vorgang dann so vorstellen, dass man „dem Auferstandenen die Seligpreisung des Petrus in den Mund legte“.120 Eine Variante dieser Anschauung liegt dort vor, wo man das Petrusbekenntnis mit einem „Ostererlebnis des Petrus“ verbindet.121 2) Weil ἐκκλησία [ekklēsia] (Gemeinde, „Kirche“) nur in Mt 16,18 und 18,17 vorkommt, aber sonst nirgends bei Matthäus und auch nirgends in den anderen Evangelien, unterliegt dieser Begriff dem Verdacht der Unechtheit.122 3) Erst recht erscheint die Wendung meine Kirche als unmöglich. Für Luz ist dies sogar „das wichtigste Argument gegen die Echtheit“.123 Jesus könnte nur gesagt haben „Gottes Gemeinde“, aber niemals „meine Gemeinde“. Denn Letzteres wäre die Bezeichnung einer „Sondergemeinschaft in oder neben Israel“, die Jesus nicht gewollt habe.124 4) Tiefer noch greift das Bedenken, ob Jesus überhaupt von einer „Kirche“ gesprochen haben könne. Ausleger, die dieses Bedenken teilen, sind der Auffassung, dass die Erwartung einer Kirche sich nicht mit der Eschatologie Jesu vertrage. Denn Jesus habe das baldige Kommen des Reiches Gottes erwartet, und davor sei kein Platz für eine Kirche.125 5) Die Kirchengeschichte widerlege Mt 16,18f. Denn Petrus habe niemals „die autoritative Stellung gehabt, die ihm Mt 16,18 zugeschrieben wird“.126 6) Petrus habe sich in Wirklichkeit nicht als ein Fels bewährt, er sei wankelmütig, zur Verleugnung geneigt, haltbedürftig u.Ä. gewesen.127 7) Für Rudolf Bultmann sprach „schon die Tatsache, daß Jesus hier mit seiner Frage die Initiative ergreift, für den sekundären Charakter des Berichts“.128 118 Beare 353; Hengel, Evglien, 149f.252.339; Fiedler 286; Bultmann a.a.O.; HengelSchwemer 233. 119 So Bultmann, Gesch, 277. 120 Bultmann a.a.O 121 Bultmann a.a.O.; Hengel, Evglien, 339; Wilckens I/4 75. 122 Vgl. Schmidt a.a.O. 522f; Beare 353. 123 Luz II 456. Vgl. Schmidt a.a.O. 524; Beare a.a.O. 124 Luz a.a.O.; Schmidt a.a.O.; Beare a.a.O. 125 Vgl. Schmidt a.a.O. 524ff; Beare a.a.O. 126 Vgl. Schmidt a.a.O. 524; Beare 353f. 127 Vgl. wieder Schmidt a.a.O. 526f. 128 Bultmann, Gesch, 276.

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8) Für einen sekundären Charakter spricht Bultmann zufolge „vollends der Inhalt der Frage [= V. 15]. Wozu fragt Jesus nach einer Sache, über die er genauso gut orientiert sein müßte wie die Jünger?“129 Erwägungen zu diesen Argumenten: Zu 1): Nur dieses Argument lässt sich am Text festmachen, während die übrigen Argumente vorwiegend prinzipiell oder dogmatisch formuliert sind. Man muss aber gerade von der Textüberlieferung her feststellen, dass es niemals eine Ausgabe des Matthäusevangeliums gegeben hat, in der die V. 17-19 ganz oder teilweise fehlen. Sie gehören zur ursprünglichen Gestalt des Evangeliums. Dann aber kann man über die Gründe, weshalb Matthäus als Einziger diesen Bericht brachte, nur spekulieren. Es geht jedoch nicht an, einen Evangelienbericht nur deshalb in Zweifel zu ziehen, weil er lediglich ein Mal überliefert ist. Wir müssten sonst das gesamte Sondergut des Matthäus, Markus, Lukas und natürlich große Teile des Johannesevangeliums von vornherein als unhistorisch einstufen, dabei auch Stücke, die die allerkritischste Kritik als echt behandelt, wie das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24ff), vom Schatz im Acker, von der Perle (Mt 13,44-46), von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), vom Weltgericht (Mt 25,31-46), das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) oder die Geschichte von der Ehebrecherin (Joh 7,53–8,11). Bis heute ist übrigens ungeklärt, wie die urchristliche Gemeinde dem Auferstandenen Worte „in den Mund gelegt“ haben soll. Stellen wie Joh 21,23 oder 2Thess 2,2 sprechen jedenfalls entschieden dagegen, dass man so verfuhr.130 Zu 2): Auch dieses Argument leidet unter der Tatsache, dass wir viele Hapaxlegomena über das ganze NT hin verstreut antreffen und dass die Seltenheit eines Ausdrucks noch lange nicht dazu berechtigt, ihn für unecht zu erklären. Man müsste schon – darin ist K. L. Schmidt131 zuzustimmen – den Nachweis führen, dass Jesus so etwas wie eine Gemeinde nicht kannte und nicht wollte, um aus der ecclesia von Mt 16,19 den Schluss zu ziehen, dass ein solcher Begriff unmöglich von Jesus stammen könne. Zu 3): Was Jesus gewollt hat, kann man nur aus den überlieferten Texten entnehmen, aber nicht so, dass man überraschende oder vielleicht auch befremdliche Textstellen vorher als „unecht“ beseitigt. Oder wissen wir schon vor dem Lesen des Textes, was Jesus gewollt oder nicht gewollt haben kann? Das griechische μου [mou] („mein“, meine) bei der Gemeinde von Mt 16,18 sitzt erstaunlich fest in der handschriftlichen Überlieferung.132 Unter 4) werden wir sehen, dass die Wendung meine Gemeinde ganz und gar berechtigt ist.133

129 130 131 132 133

Bultmann a.a.O. Vgl. hier wieder Schmidt a.a.O. 523. Schmidt a.a.O. 524f. Nestle-Aland 28 notiert dazu keinerlei Varianten. Vgl. wieder Schmidt a.a.O. 524; Hendriksen 648.

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Zu 4): Dieses Argument ist das prinzipiellste und am meisten dogmatische, unleugbar auch mit konfessionellen Hintergründen verknüpft. Es ist eng mit der Auffassung des NT im Ganzen, ja mit der des Christentums überhaupt verwoben. Wollte Jesus die Kirche? Oder waren Aufbau und Konzeption der Kirche nur Irrwege der Apostel und ihrer christlichen Nachfolger? Was gegen das Argument unter 4) in erster Linie einzuwenden ist, ist der unauflösliche Zusammenhang, der zwischen der biblisch-jüdischen Messiaserwartung und der messianischen Gemeinde besteht. Einen Messias ohne Gemeinde gibt es nicht. Wenn Jesus vom „neuen Wein in neuen Schläuchen“ (Mt 9,17) spricht, dann hat er die im AT angekündigte Gemeinde des Neuen Bundes im Blick, die ihn anfangsweise schon beim letzten Mahl mit den Jüngern umgibt (vgl. Jer 31,31ff mit Mt 26,26ff). Wie sollte ein jüdischer Messias ohne Brüder und Schwestern, als endzeitlicher König ohne Haus und Reich, als Gottes Knecht ohne das Volk der Erlösten, als himmlischer Menschensohn ohne die Heiligen des Höchsten existieren (vgl. Ps 22,23ff; Jes 54,13 mit Mt 12,49f; 2Sam 7,14ff mit Mt 21,9; 27,37; Jes 42,1ff mit Mt 12,15ff; Dan 7,14ff mit Mt 6,9)? Wir kennen auch keinen jüdischen Messiasprätendenten jener Zeit, der nicht seine Gemeinde um sich gesammelt hätte (Apg 5,36-37; 21,38; Joh 10,1ff). Ob es sich um Hiskia im Galil handelt, den Reinhold Mayer „den Erstling einer messianischen Dynastie“ nannte,134 ob um Judas den Galiläer, um Jakobus, Simon oder Menachem, ob um Simon bar Giora, dem Josephus zufolge die Bürger „wie einem Könige gehorchten“,135 oder um Simon bar Kochba: Sie alle sammelten eine Gemeinde, „eine Schar Gleichgesinnter um sich, die sie in die personhafte Nachfolge riefen“.136 Sieht man sich die frühjüdische Literatur an, so werden alle messianischen Erlösergestalten mit ihrer endzeitlichen Gemeinde verbunden: der Menschensohn des äthHen („er wird für die Gerechten ein Stab … und das Licht der Völker“ sein, 48,4), der davidische Endzeitkönig der PsSal („er wird versammeln ein heiliges Volk“, 17,26), und die Messiasse Aarons und Israels mit dem Jachad Qumrans (1QS IX, 11). Gerade die Erwartung des Reiches Gottes musste zu einer messianischen Gemeinde führen! Es wäre seltsam, wenn Jesus keine Gemeinde gegründet hätte. Der Sache, wenn auch nicht dem Begriff Ekklesia nach findet sich dasselbe unter wechselnden Ausdrücken in allen Evangelien: als familia Dei (Mk 3,31ff), als Kinder des Vaters und des himmlischen Königs (Lk 11,2.11ff), als Herde (Joh 10,1ff; 21,15ff)137 usw. Zu 5): Ob Petrus in der Kirchengeschichte tatsächlich die Stellung eingenommen hat, die ihm Jesus in Mt 16,18f prophezeite, kann man verschieden beurteilen. Beare verneint: Paulus habe ihm in Antiochien frei widersprochen (Gal 2,1f), in Jerusalem habe man seinem Cornelius-Besuch widersprochen 134 135 136 137

Mayer 48. Josephus Bell IV, 510. Mayer 50. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 211ff.121; Schmidt a.a.O. 525.

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(Apg 11,2ff), beim Apostelkonzil habe Jakobus und nicht Petrus das entscheidende Wort gesprochen (Apg 15,1ff), unter den „Säulen“ von Gal 2,9 nehme Petrus nur den zweiten Rang ein.138 Zunächst ist festzuhalten, dass die Einschätzung, ob sich eine Prophetie erfüllt hat, wenig austrägt für die Frage, ob sie überhaupt einmal ausgesprochen wurde. Prophetie kann sich irren, und gerade liberale Ausleger haben immer wieder darauf bestanden, dass Jesus irrtumsfähig war. Im Falle des Petrus kommt hinzu, dass andere Ausleger eine ganz andere Meinung äußern als Beare. Beispielsweise schreibt Hendriksen, die Prophetie Jesu in Mt 16,18f habe sich erfüllt („fulfilled“).139 K. L. Schmidt fügt ein weiteres Argument an: Hätte sich Jesu Prophezeiung nicht erfüllt, dann sei überhaupt nicht einzusehen, wie Mt 16,18f nachträglich („post festum“) entstanden sein soll.140 Für uns steht fest: Petrus war der erste Leiter der Urgemeinde (Apg 1–12; Joh 21,15ff), er war der erste Heidenmissionar (Apg 10– 11 – wie hätte das der Paulusschüler Lukas bestreiten müssen, wenn es nicht stimmte!), er war die prägende Gestalt der Hauptstadtgemeinden in Rom (1Petr 5,13; 1Klem5). Noch heute kann jeder Katakombenbesucher in Rom die unzähligen Täfelchen lesen: „Petre et Paule, petite pro nobis“. Jesu Prophetie hat sich unseres Erachtens erfüllt. Zu 6): Dieses Argument ist richtig. Jesus baut aber nicht auf die Menschlichkeit des Petrus, sondern auf die Kraft der Verheißung und den Heiligen Geist.141 Zu 7): Wer bestimmt, dass Jesus nicht „die Initiative“ ergreifen darf? Wollte man Jesus dieses Recht bestreiten, dann hätte man einen Messias, der lediglich re-agiert, dann müsste man etwa ein Drittel der Evangelien streichen (z.B. Bergpredigt, Speisungen, Gleichnisse). Ein solches Argument ist nicht sinnvoll. Zu 8): Dieses Argument widerlegt sich selbst. Denn Jesus will nicht nur Auskünfte über eine „Sache, über die er genausogut orientiert“ ist, sondern ein Bekennntnis der Jünger. Fazit: Im Pro und Kontra der Argumente ergibt sich, dass die Annahme der Historizität von Mt 16,18f die besseren Gründe auf ihrer Seite hat.142

V. 20 schließt die Ereignisse bei Cäsarea Philippi ab: Darauf untersagte er den Jüngern, jemand zu sagen, dass er der Messias sei. Jetzt sind wieder wie in V. 13-15 die Jünger seine Gesprächspartner. Der Petrus-Teil ist abge138 139 140 141

Beare 354. Vgl. Schmidt a.a.O. 526f. Hendriksen 648. Schmidt a.a.O. 527. Hier ist Schmidts Entgegnung (a.a.O. 527) schwach: „ein Rätsel, das … hingenommen werden muß“. 142 Ebenso Schmidt a.a.O.; Hendriksen 645ff; Cullmann 281ff; Jeremias, Gleichnisse, 121.215.218; Schniewind 190; Zahn 546ff; Tasker 160ff; France 255ff; Carson 367ff; Hendriksen 645ff; Schlatter 254ff; Gibbs 803ff.

7. Das Messiasbekenntnis des Petrus im Namen der Zwölf, 16,13-20

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schlossen. Untersagt wird die Propaganda, dass Jesus der Messias sei:143 Eingeschlossen ist selbstverständlich auch die Aussage, dass er Gottes Sohn sei. Jesus will, dass auch die anderen Menschen aufgrund eigener Erkenntnis zu einem solchen Bekenntnis kommen, und nicht aufgrund von Propaganda und Manipulation. Das war seine ständige Linie (vgl. Mt 8,4; 9,30; 12,16; 17,9; Mk 1,34.44; 3,12; 5,43; 7,36; 8,26.30; 9,9). Mit der Theorie vom „Messiasgeheimnis“, die William Wrede (1859–1906) vertrat, hat das nichts zu tun.144

IV Zusammenfassung 1. Im Gebiet von Cäsarea Philippi, an der Grenze des im Alten Testament vorgesehenen Israellandes, kommt es zu einem Durchbruch. 2. Petrus bekennt im Namen der zwölf Apostel, dass Jesus der Messias und der Sohn des lebendigen Gottes ist. 3. Darin besteht der Kern des Christentums, und nicht in einem „Gott der Liebe“, einer „Religion der Liebe“ u.Ä., die nur Konsequenzen jenes Bekenntnisses von Cäsarea Philippi sind. 4. Die kleine Schar der Zwölf hatte sowohl die Erkenntnis als auch den Mut zum Bekenntnis zu Jesus Christus, obwohl das Volk des Landes und viele Pharisäer schwankten und unter den Jerusalemer Autoritäten sich der Widerspruch zu Jesus festzusetzen begann. 5. Petrus erhält die Verheißung, dass er der menschliche Ausgangspunkt für die messianische Gemeinde sein werde. Diese Gemeinde wird bis zur Wiederkunft, ja in alle Ewigkeit bestehen. Diese Verheißung wurde dadurch erfüllt, dass Petrus der erste Leiter der Urgemeinde, der erste Heidenmissionar und die Führungsfigur der Hauptstadtgemeinden in Rom wurde. Alle christlichen Kirchen stammen insoweit von ihm ab. 6. Mit Mt 16,13-20 haben wir einen Höhepunkt im Ringen um Israel erreicht. Ab Mt 16,21 beginnt schon der Weg in die Passion.

143 Davies-Allison II 641. 144 Vgl. Kümmel, NT, 362ff.

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Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

III. Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

1. Erste Leidens- und Auferstehungsweissagung, 16,21 I Übersetzung 21 Von da an begann Jesus1 seinen Jüngern aufzuzeigen, dass er nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten viel leiden und getötet werden und am dritten Tag auferweckt werden müsse.

II Struktur Es empfiehlt sich, diese Weissagung und das anschließende Petrusgespräch jeweils für sich zu nehmen. Auf diese Weise behält die erste Leidens- und Auferstehungsweissagung das Gewicht, das ihr zukommt, und man vermeidet den naheliegenden, aber unzutreffenden Eindruck, als folge der Tadel an Petrus unmittelbar auf das sogenannte Petrusbekenntnis. Immerhin schließen auch Markus (8,31) und Lukas (9,22) die erste Leidensweissagung unmittelbar an das Cäsarea-Philippi-Ereignis an.

III Einzelexegese Die Wendung Von da an (Ἀπὸ τότε [Apo tote]) bedeutet, dass Jesus solch explizite Leidens- und Auferstehungsweissagungen erst nach dem CäsareaPhilippi-Ereignis ausgesprochen hat (vgl. Mt 4,17; 26,16). Weil die Wendung unbestimmt ist, kann man nicht genau sagen, wie viel Zeit zwischen 16,13ff und 16,21 verstrichen ist. Man spürt jedoch das Bemühen Jesu und zugleich das Bemühen der Evangelisten aufzuzeigen, dass der wahre Messias ein leidender Messias ist. Was für ein Unterschied zu allen anderen jüdischen Messiasprätendenten jener Zeit – von Hiskia bis Bar Kochba –, die samt und sonders Heerführer waren! Beachten wir, dass alle drei „Leidensweissagungen“ (16,21; 17,22f; 20,17ff) seinen Jüngern gegenüber erfolgten, und nicht in der Volksevangelisation. Das griech. δείκνυμι [deiknymi] hat hier den Sinn „eines Aufweises einer Sache durch das Wort, also lehren, erläutern, nachweisen und 1 Für „Jesus Christus“ gibt es eine starke Unterstützung durch B* und ‫( *א‬s. Maier II 10). Vorsichtigerweise belassen wir es hier bei „Jesus“. Für „Jesus Christus“ France 258; Schniewind 192. Dagegen Zahn 557,80; Luz II 486.

2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23

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beweisen“.2 Kurz gesagt: Er zeigt anhand des AT auf, dass es so sein muss. Daher heißt es: er müsse (δεῖ αὐτόν [dei auton]) – ein Muss nach dem göttlichen Willen.3 Mt 16,21 setzt also einen speziellen Unterricht bei den Jüngern voraus. Welche Stellen des AT hat Jesus herangezogen? Sicher Jona (Mt 12,39ff), 2Chron 24,20ff (Mt 23,35), Ps 22 (Mt 27,46), Ps 118 (Mt 21,42), Jes 53 (Mt 20,28). Siehe auch Lk 24,44ff. Daraus ergab sich für ihn der Tod in Jerusalem, das leiden und getötet werden durch Israels Obrigkeit (den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten)4 und die Auferweckung am dritten Tag. Letzteres konnte er nicht nur Jona 2, sondern auch Hos 6,2 entnehmen, einer Stelle, die auch von den jüdischen Rabbinen diskutiert wird5 (außerdem evtl. 2Kön 20,5ff?). Es bleibt beeindruckend, wie klar und ohne Schwanken Jesus seinen Leidensweg gegangen ist. Auf der menschlichen Ebene deutet Mt 16,21 darauf hin, dass die Gegnerschaft sich in Israel so zugespitzt hatte,6 dass Jesus jetzt mit der jederzeitigen Verhaftung rechnen musste. Das Wissen, dass er einmal den Sühnetod sterben sollte, hat er jedoch schon von der Taufe an gehabt (Mt 3,17). Im Johannesevangelium kommt dies früh zur Sprache (2,19ff; 3,14; 12,32f).7

2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23 I Übersetzung 22 Und Petrus nahm ihn beiseite und begann, ihm Vorhaltungen zu machen: Gott sei dir gnädig, Herr! Auf keinen Fall wird dir so etwas zustoßen! 23 Er aber wandte sich um und sagte zu Petrus: Geh weg! Hinter mich, Satan! Du willst mich von meinem Weg abbringen. Denn du hast keine göttlichen Gedanken, sondern menschliche.

2 H. Schlier, Art. δείκνυμι usw., ThWNT, II, 1935, 27. 3 W. Grundmann, Art. δεῖ usw., ThWNT, II, 1935, 23. 4 Fiedler macht darauf aufmerksam, dass hier die Pharisäer nicht erwähnt werden. Sie sind jedoch in den „Schriftgelehrten“ enthalten. 5 Strack-Billerbeck I 747. 6 France 259: „estrangement“. 7 Vgl. Zahn 558.

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Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

II Struktur Die erschütternde Szene wird von Matthäus und Markus (8,31-33) unmittelbar nach der ersten Leidensweissagung erzählt. Lukas lässt sie aus und geht gleich zu den Nachfolgeworten über (Lk 9,23-27 = Mt 16,24-28 = Mk 8,34–9,1). Die Verknüpfung mit Mt 16,21 parr. ist in der Tat eng. Es gibt allerdings in Mt 16,21 auch ein retardierendes Element: „Jesus begann …“. Zahn folgerte daraus eine „eingehende Belehrung“,1 was unter Umständen voraussetzt, dass sich Petrus noch nicht sofort nach den ersten, das Leiden prophezeienden Worten meldete. Die Szene hat darin eine Besonderheit, dass sie weder der Jüngerunterweisung noch der Volksevangelisation zugehört, sondern einen sehr intimen Vorgang zwischen Jesus und Petrus schildert. Auffallend ist ferner die Schärfe der Äußerungen (Gott sei dir gnädig – Satan – keine göttlichen Gedanken). Schließlich fehlt ein versöhnlich klingender Schluss. Mt 16,22-23 steht wie ein Monolith im Evangelium.

III Einzelexegese Das griech. προσλαβόμενος [proslabomenos] (V. 22), das auch „zu sich nehmen“ heißen kann, übersetzt man hier am besten mit beiseite nehmen.2 Petrus zog also Jesus von den anderen Jüngern weg, um ihn unter vier Augen zu sprechen.3 Er begann, ihm Vorhaltungen zu machen: Aus dem begann (ἤρξατο [ērxato]) schöpft Zahn die Ansicht, „daß Pt – anhaltend und in wiederholten Äußerungen … auf Jesus eindrang“.4 Damit legt er aber zu viel in den Wortlaut des Matthäus hinein. Nach semitischem Sprachstil hat begann hier wohl nur die Bedeutung, dass Petrus zum Sprechen ansetzte (vgl. das hebr. ‫[ קוּם‬qūm]). Schwer zu übersetzen ist ἐπιτιμᾶν [epitiman]. Lutherbibel / Gute Nachricht: „fuhr in an“, Revidierte Elberfelder Bibel: „tadeln“, katholische Bibeln: „machte ihm Vorwürfe“, NGÜ: „versuchte mit aller Macht, ihn davon abzubringen“, BasisBibel: „ausreden“, E. Stauffer:5 „auf jemanden einreden“, T. Zahn: „in scheltendem und drohendem Ton“.6 Im Anschluss an Bauer-Aland7 übersetzten wir mit Vorhaltungen machen. Eigentlich ist dieses ἐπιτιμᾶν [epitiman] ein „Herrenrecht“ Jesu.8 Es gibt nur einen einzigen 1 2 3 4 5 6 7 8

Zahn 558. G. Delling, Art. λαμβάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 16. Anders Luz II 488. Zahn 558: „ergreift Jesus bei der Hand oder am Mantel“. Zahn a.a.O. Im Art. ἐπιτιμάω usw., ThWNT, II, 1935, 621. Zahn a.a.O. Bauer-Aland 614; BGS. Stauffer a.a.O. 621f.

2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23

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Fall, in dem ein Jünger Jesus „anfährt“, „ihm Vorhaltungen macht“, und das ist hier (vgl. dagegen Mt 8,26; 12,16; 17,18; Mk 8,30). Wohl „mit heftigen Worten“.9 Wer ist nun der Meister und Lehrer? Petrus oder Jesus? Die griech. Wendung ἵλεως [hileōs] muss ergänzt werden durch ein εἴη ὁ θεός [eiē ho theos],10 also Gott sei dir gnädig. F. Büchsel sieht darin eine „negative Beteuerungsformel“.11 Sinngemäß heißt es „Gott bewahre!“12. Mit Herr mildert Petrus seinen heftigen Vorwurf, aber gewissermaßen nur pro forma. Auf keinen Fall wird dir so etwas zustoßen: τοῦτο [touto], so etwas, meint die in V. 21 prophezeite Passion. Ein Messias der Passion? Damit hat Petrus etwas aufgerissen, was bis heute diskutiert wird. Fiedler meint, „dass ein leidender Messias weder in der Bibel noch in zeitgenössischen Messiaserwartungen vorkommt“.13 Das ist jedoch eine Behauptung, die man nicht belegen kann. Wohl sprechen die uns vorliegenden jüdischen Texte, wie z.B. die Psalmen Salomos, das äthiopische Henochbuch oder die Qumranliteratur, nicht von einem leidenden Messias. Aber was ist mit Gruppen, die jener Simeon repräsentierte, der zu Maria sagte: „durch diese Seele wird ein Schwert dringen“, weil der Messias ein Zeichen sei, „dem widersprochen wird“ (Lk 2,34f)? Offensichtlich stützte sich ja Simeon auf die Aussagen vom leidenden Gottesknecht bei Jesaja, die auch Jesus zur Deutung seines Weges heranzog (Mt 20,28 par.). Cullmann sprach von einem „Ebed-Bewußtsein“, ja einem „Paisbewußtsein Jesu“.14 Zumindest von Jes 42–53 her, sofern man dem Gottesknecht überhaupt messianische Züge zubilligt, ist ein leidender Messias in der Bibel angekündigt. Ferner muss der zweite Mose von Deut 18,15ff auch ein Leidender sein, wenn man den ersten Mose als Prototyp auffasst (Lk 24,44ff). Ähnliches gilt, wenn man das Schicksal der Propheten als messianisches Muster versteht. Schließlich sprechen die Psalmen vom Leiden und Verworfenwerden dessen, der schlechthin der Gerechte ist (Ps 22; 69; 118). In Mt 16,22 prallen also zwei verschiedene Messiaserwartungen aufeinander: die ausschließlich herrscherliche, die Petrus mit den pharisäischen Psalmen Salomonis und der Mehrheit der Pharisäer seiner Zeit vertritt, und die Leiden und Herrlichkeit, Tod und Auferstehung umfassende, die Jesus vertritt. Dabei hat Jesus die ganze Fülle der biblischen Aussagen auf seiner Seite. Wenn aber Petrus die Lehre der 9 Stauffer a.a.O. 621; Zahn a.a.O. 10 Bauer-Aland 763; F. Büchsel im Art. ἵλεως usw., ThWNT, III, 1938, 301; unsicher BDR § 128,7. 11 Büchsel a.a.O. 12 Vgl. NGÜ; BasisBibel; in der LXX 2Sam 20,20; 1Chron 11,19; 1Makk 2,21; Zahn 558,81; Strack-Billerbeck I 748. 13 Fiedler 291. 14 Cullmann 67.81.

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Pharisäer (wenigstens ihrer Jerusalemer Autoritäten) vertritt, zeigt er noch eimal, wie berechtigt die Warnung Jesu vor dem „Sauerteig“ der Pharisäer und Sadduzäer gewesen ist (Mt 16,5ff). Statt der Übersetzung Auf keinen Fall wird dir so etwas zustoßen bleibt es möglich, auch imperativisch zu übersetzen: „So etwas soll dir auf keinen Fall zustoßen!“15 In beiden Fällen muss das οὐ μή [ou mē] als „die bestimmteste Form der verneinenden Aussage über Zukünftiges“16 verstanden werden: Auf keinen Fall. Die Beweggründe des Petrus sind nach allem, was wir wissen, nicht nur im Gebiet der Lehre zu suchen. Aller Wahrscheinlichkeit nach bewegte ihn mehr noch die Liebe und Fürsorge für Jesus (vgl. Joh 21,15ff; Mt 26,51), vielleicht auch die Angst, Jesus könnte auf einen Fehlweg geraten.17 In V. 23 fällt sofort die Wortwahl auf. Jesus nennt Petrus Satan (σατανᾶ [satana]). Bevor man sich den Einzelheiten zuwendet, sollte man festhalten, dass Jesus weder das Wort διάβολος [diabolos] („Teufel“) noch das Wort πονηρός [ ponēros] („Schlechter“, „Böser“) benutzt. Petrus ist kein „schlechter“ Mensch. Es geht um eine ganz andere Dimension. Die Wendung ὁ δὲ στραφεὶς εἶπεν τῷ Πέτρῳ [ho de strapheis eipen tō Petrō] zeigt zunächst, dass sich Jesus dem Petrus zuwandte,18 Petrus also in diesem Moment neben oder hinter ihm ging. Dann folgen drei Ausrufe: 1) ὕπαγε [hypage] = Geh weg!, eindeutig ein Ruf zur Trennung wie in Mt 4,10 und kein Ruf zur Ermutigung wie in Mt 8,4; 2) ὀπίσω μου [opisō mou] = Hinter mich!, ein Ruf, der den Jünger in die Nachfolge weist, „an den ihm gebührenden Platz“19 sowohl im äußeren als auch im geistlichen Sinne; 3) σατανᾶ [satana] = Satan! Dieser Ruf macht Lesern und Auslegern am meisten zu ׂ ָ [śāthān] zuschaffen. Klar ist, dass Satan (Σατανᾶς [satanas]) auf hebr. ‫שָטן‬ rückgeht, mit den beiden Grundbedeutungen „Widersacher/Feind“ und „Ankläger“.20 Klar ist ferner, dass es sich schon im AT mehrfach um eine Person handelt, die alles Böse repräsentiert, nämlich den Teufel (Hi 1,6ff; 2,1ff; Sach 3,1ff; 1Chron 21,2; vgl. Lk 10.18). Wie aber kommt es dazu, dass Petrus mit Zahn 558,82; BDR § 128,5; „Wunschformel“, Luz II 486ff; Sand 337. BDR § 365,1. Vgl. Carson 377; Fiedler 292. Anders Luz II 489. Nach France 259f wandte er sich auch den anderen Jüngern zu (vgl. Mk 8,33). Schlatter 260: „Er wandte sich ab.“ Wie wir Carson 377. 19 G. Delling, Art. ὑπάγω, ThWNT, VIII, 1969, 508; vgl. H. Seesemann, Art. ὀπίσω usw., ThWNT, V, 1954, 291. 20 Vgl. Gesenius 782; Bauer-Aland 490; W. Foerster / K. Schäferdiek, Art. σατανᾶς, ThWNT, VII, 1964, 151ff mit vielen Stellen zur jüdischen frühen Literatur einschließlich Qumran.

15 16 17 18

2. Der Widerspruch des Petrus, 16,22-23

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diesem Namen bezeichnet wird? W. Foerster bemerkt mit Recht: „Die Situation der Versuchung leuchtet gleichsam für einen Augenblick auf.“21 Die Worte ὕπαγε σατανᾶ [hypage satana] (Geh weg, Satan!) finden sich wörtlich in der Versuchungsgeschichte wieder (Mt 4,10). Diese ist der Schlüssel zum Verständnis von Mt 16,23. Jesus sieht sich offenbar noch einmal in demselben Maß versucht wie in Mt 4,1ff. Dass der Versucher sich diesmal des Petrus bedient, des Sprechers der Zwölf und des Bekenntnisses von Cäsarea Philippi, menschlich gesprochen: des besten Freundes Jesu, macht alles schwerer und zeugt von wahrhaft teuflischer Raffinesse. Wie sehr muss Jesus angefochten gewesen sein! Wie sehr auch menschlich verletzt! Ein Messiasweg nicht zum Kreuz, sondern zur Herrschaft lag als Alternative vor ihm. Und keiner auf Erden half ihm zur richtigen Entscheidung. Damit erklärt sich die Schärfe seiner Worte! Man kann die beiden Rufe Geh weg! und Hinter mich! auch zu einem einzigen verbinden: „Geh hinter mich!“ Sachlich ändert sich dadurch nichts. Jesus befiehlt hier in strengster Form (Mk 8,33 hat ἐπετίμησεν [epetimēsen]), dass Petrus nicht vorangehen, sondern ihm gehorsam hinterhergehen und Jesus die Bestimmung des Weges überlassen soll. Hinter mich als Ruf in die Nachfolge hat zugleich etwas wunderbar Gnädiges in sich: Jesus kündigt das Jüngerverhältnis des Petrus nicht auf, sondern macht es noch einmal fest. Du willst mich von meinem Weg abbringen versucht das griech. σκάνδαλον [skandalon] in modernerem Deutsch auszudrücken.22 Ursprünglich eine Bezeichnung für die „Falle“, nimmt σκάνδαλον die Bedeutung „Verführung“, „Anstößiges“ an.23 Dahinter steht in der Regel das hebr. ‫[ כשׁל‬kschl] und das aram. ‫[ תקל‬tql], „straucheln“.24 Von da aus bedeutet das Substantiv so viel wie „Hindernis auf dem Wege, über das man zu Fall kommt.“25 „Mein Hindernis bist du“, sagt Jesus, das heißt: Du willst verhindern, dass ich Gottes Weg gehe. So scharf stehen sich hier die Gottesaussagen bei Petrus und Jesus gegenüber. Gott möge deinen Weg durchkreuzen (Petrus) – diesen Weg führt mich Gott selbst (Jesus). Wer kennt den Weg Gottes besser? Du hast, sagt Jesus, keine göttlichen Gedanken, sondern menschliche. Überraschend, dass er nicht sagt: „Du hast satanische Gedanken“! Aber hier kommen zwei wesentliche Züge zum Vorschein: 1) Jesus hat nicht wie manche Extremisten alles für „satanisch“ erklärt, was sich gegen ihn stellte; 2) er achtet immer noch die 21 22 23 24 25

Foerster a.a.O. 159. Vgl. BasisBibel; Gute Nachricht. Bauer-Aland 1505; G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 339f. Stählin a.a.O. 340. Stählin a.a.O.

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Treue des Petrus und will ihn weitestgehend schonen. Das griech. φρονέω [ phroneō] meint „sinnen“, „denken“, „urteilen“, auch „planen“.26 In Mt 16,23 kommt wohl beides zusammen: das Beurteilen des jetzigen Weges und das Planen des künftigen Weges.27 Menschlich heißt: das uns sündigen Menschen Naheliegende; göttlich (τὰ τοῦ θεοῦ [ta tou theou]): das dem Willen und Heilsplan Gottes Entsprechende. Petrus stellt sich aus menschlich durchaus verständlichen Gründen der Passion in den Weg,28 Jesus geht den Passionsweg nach dem Willen des Vaters im Himmel.29 In Mt 16,23 liegt eine enorme Herausforderung für uns Christen: nach dem Willen Gottes zu fragen und ihn ohne Rücksicht auf den Zeitgeist zu tun.

IV Zusammenfassung 1. Mt 16,21 und 22f sind die ersten wichtigen Stationen nach dem Wendepunkt in Mt 16,13-20. Meist betrachtet man Mt 16,21-23 als schroffen Gegensatz zu Mt 16,13ff. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Mt 16,21-23 expliziert auch, was „Messias“ und „Sohn Gottes“ bedeuten, die ja den Mittelpunkt von Mt16,16 darstellen. 2. Entscheidend ist in Mt 16,21-23, dass Jesus den Weg des leidenden Messias gehen will. Das bedeutet auch, dass er für uns den Sühnetod sterben will. Dabei hat er das AT auf seiner Seite. Was in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und Petrus zutage kommt, das brennt bis heute sowohl in der Diskussion innerhalb der Kirche als auch in der Diskussion der Kirche mit den Außenstehenden. Wenn heute die Annahme des Sühnetodes als unnötig bezeichnet wird, wenn man nicht versteht, dass Gott „ein blutiges Opfer in Gestalt seines Sohnes fordert“, dann ist dies nichts anderes als ein Wiederaufleben der Petrusposition in modernem Gewande. 3. Der Name Satan ist ein Indikator dafür, dass es in dessen Denken nur um Herrlichkeit und Macht geht, dass er aber zur Schuldfrage und zur Erlösung nichts beizutragen hat. 4. Petrus blieb in der Nachfolge Jesu und damit ein Lernender. Dass seine Meinung nicht vereinzelt war, sondern von den anderen Jüngern geteilt wurde, ergibt sich aus Mt 16,24ff bzw. Mk 8,34ff; Lk 9,23ff.

26 27 28 29

Vgl. Bauer-Aland 1726f; G. Bertram, Art. φρήν usw., ThWNT, IX, 1973, 216ff. Bauer-Aland 1724 schränken ein: „auf jemandes Seite stehen“. Vgl. Bertram a.a.O. 227f. Vgl. Stählin a.a.O. 347f.

3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28

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3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28 I Übersetzung 24 Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wenn mir jemand nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! 25 Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. 26 Denn welchen Nutzen hat ein Mensch, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dafür sein Leben einbüßt? Oder was kann ein Mensch geben, damit er sein Leben wieder einlöst? 27 Denn der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen, und dann wird er jedem nach seinem Tun vergelten. 28 Amen, ich sage euch: Es gibt einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seiner Herrschaft.

II Struktur Bei Matthäus umfasst der Ruf in die Leidensnachfolge nur fünf Verse (bei Markus sechs, bei Lukas ebenfalls fünf). Dennoch ist sein Inhalt mehrfach gegliedert: 1) V. 24 enthält den zentralen Ruf, 2) V. 25 die Begründung dieses Rufes, 3) V. 26 sozusagen die Begründung der Begründung, 4) V. 27 die Verantwortung im Gericht, 5) V. 28 eine Prophetie Jesu. Wie die Anordnung sowohl bei Matthäus als auch bei Markus und Lukas zeigt, gehören diese Worte in die Zeit unmittelbar nach der ersten Leidensankündigung. Zugleich aber zeigt Lk 14,27; Joh 12,25, dass Jesus diese Thematik mehrfach angesprochen hat – wie es ja der Natur der Sache entspricht. Rainer Riesner rechnete gerade in diesem Bereich damit, dass Jesus „früher ausgesprochene Worte wiederholte oder die Voraussetzungen weiter präzisierte“.1 Andererseits bleibt die Annahme von Rudolf Bultmann möglich, Mt 16,24ff bzw. Mk 8,34ff seien „eine sekundär, durch leichte Assoziationen veranlaßte Kombination“.2 Man wird aber auch in diesem Falle die Worte nicht zu weit von der Leidensweissagung entfernen. Verwunderlich ist dagegen, dass außer der Einrede des Petrus in V. 22 keine weiteren Einreden aus dem Jüngerkreis berichtet werden, ja nicht einmal Diskussionen über den Leidensweg des Messias. Immerhin zeigen Stellen wie Mt 1 Riesner 427. 2 Bultmann, Gesch, 86.

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19,27; 20,20ff; Apg 1,6, dass die Vorstellung eines in Macht regierenden Messias immer noch in den Köpfen steckte.

III Einzelexegese Das einleitende Τότε [Tote] (V. 34) ist wahrscheinlich als ein zeitliches darauf zu interpretieren. Wieder sind wie in V. 21 seine Jünger die Angeredeten. Daraus kann man einen doppelten Schluss ziehen: 1) Auch die übrigen Apostel hatten Schwierigkeiten mit dem Passionsweg Jesu, nicht nur Petrus;3 2) es lag Jesus alles daran, dass sie die Notwendigkeit der Passion begriffen. – Die Berichte aus jener Zeit lassen uns vermuten, dass sich damals die Wege von Petrus und Judas innerlich trennten. Während Petrus treu zu Jesus stand, wurde Jesus in den Augen des Judas zu einem falschen Messias, weil er die Passion wählte. Darauf deutet unseres Erachtens der Abschnitt Joh 6,66-71. Wenn mir jemand nachfolgen will (εἴ τις θέλει ὀπίσω μου ἐλθεῖν [ei tis thelei opisō mou elthein]): Das wird von Jesus ganz grundsätzlich formuliert, als stünden die Jünger noch gar nicht in der Nachfolge. Aber jetzt ist die Zeit für eine neue und grundsätzliche Orientierung gekommen. Mit dem ὀπίσω [opisō] schlägt Jesus die Brücke zu V. 23. Man beachte auch das θέλει [thelei] (will als normales Zeitwort). Jesus baut mehr auf den Willen als auf die Gefühle seiner Nachfolger. Dieses will schließt jede Prädestinationslehre aus. Dem, der nachfolgen will, gelten nun drei Imperative: 1) Er verleugne sich selbst (ἀπαρνησάσθω ἑαυτὸν [aparnēsasthō heauton]). Verleugnen bedeutet nicht, „seine Persönlichkeit aufgeben“,4 auch nicht: „sich von sich selbst los sagen“.5 Wie sollte das auch zugehen? Sondern es heißt, nicht den eigenen Willen, sondern den Willen Gottes zur Richtschnur machen, bis hin zur Hingabe des Lebens.6 An dieser Stelle tritt das Evangelium in schärfsten Widerspruch zum „modernen Menschen“, der auf der Autonomie beharrt, um „sich selbst zu verwirklichen“. 2) Er nehme sein Kreuz auf sich:7 Nach Mt 10,38 der zweite Aufruf dieser Art. Siehe auch die Erklärung dort.8 Auch in Mt 10,38 geht es um sein Kreuz, das heißt, das ganz persönlich zugemessene, und nicht um das Kreuz Jesu oder das der ganzen Welt. Im Zusammenhang 3 4 5 6

Zahn 559. Gegen Bauer-Aland 161. Gegen BGS. Ähnlich H. Schlier, Art. ἀρνέομαι, ThWNT, I, 1933, 471; BasisBibel („nicht an seinem Leben hängen“). 7 Zur Übersetzung vgl. J. Jeremias, Art. αἴρω usw., ThWNT, I, 1933, 184f. 8 Rabbinische Parallelen bei Strack-Billerbeck I 587.

3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28

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mit der Passion Jesu (V. 21) bedeutet das auch die Bereitschaft zum Martyrium. 3) Er folge mir nach: Das Nachfolgen hat jetzt im Zusammenhang mit der Passion ebenfalls seine besondere Färbung bekommen. Der Jünger soll aus Überzeugung den Passionsweg des Messias mitgehen. Andere Erwartungen, andere „messianische Konzepte“ soll er aufgeben. – Die Worte ἀπαρνησάσθω ἑαυτὸν καὶ ἀράτω τὸν σταυρὸν αὐτοῦ … καὶ ἀκολουθείτω μοι [aparnēsasthō heauton kai aratō ton stauron autou … kai akoloutheitō moi] sind bei Matthäus, Markus und Lukas gleich. Die apostolische Ermahnung in 1Petr 2,21; 2Tim 2,12 greift offenbar auf Mt 16,24 zurück. Vers 25 gibt nun eine Begründung für das in V. 24 Gesagte (γάρ [gar]!): Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Die zweite Hälfte des Verses stimmt mit der zweiten Hälfte von Mt 10,39 überein. Siehe wieder die Erklärung dort. In Mt 16,25 ist der Bezug aufs Martyrium sehr klar. Sein Leben retten bedeutet unter den Umständen der Passion, dass man sich von Jesus trennt, aus der Nachfolge ausschert, wie es Judas getan hat. Dann kann man sich vor einer Hinrichtung durch Römer oder Juden schützen. Aber man wird zugleich sein Leben im geistlichen Sinne, nämlich das ewige Leben, verlieren.9 Ewiges oder zeitliches Leben: Das also ist die Alternative (Joh 12,25). Dass Judas als Konsequenz seines Verrats sogar sein irdisches Leben verlor (Mt 27,3ff), steht auf einem anderen, speziellen Blatt. In Offb 12,11 ist das, was Jesus hier auf seinem Passionsweg sagt, ganz umfassend für alle Christen formuliert. Umgekehrt gilt: Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Die entscheidenden Worte sind um meinetwillen (ἕνεκεν ἐμοῦ [heneken emou] in Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,34).10 Es ist interessant, dass Strack-Billerbeck unter einer ganzen Reihe rabbinischer Parallelen keine auffinden konnten, die ein solches um meinetwillen oder Vergleichbares enthält.11 Es kommt also in Mt 16,25 erneut auf die persönliche Beziehung zum Messias an. Wer für ihn sein Leben drangibt, der wird das Leben im Sinne des ewigen Lebens finden. Im Stil der Weisheitslehrer sagt V. 26: Denn welchen Nutzen hat12 ein Mensch, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dafür sein Leben einbüßt?

9 Carson 379. 10 Für Bultmann, Gesch, 162 sekundär; ebenso für E. Schweizer im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, 641. Damit wird aber der Zusammenhang zerrissen und das Entscheidende herausoperiert. 11 Vgl. Strack-Billerbeck I 587; Riesner 418f. 12 Vgl. Bauer-Aland 1796.

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Die ganze Welt gewinnen interpretiert man als „alle ird. Reichtümer“13 oder „der Güter höchstes“14 gewinnen. Biblische Beispiele dafür sind das Versprechen des Teufels in Mt 4,8f oder der reiche Kornbauer in Lk 12,16ff. Umstritten ist aber die griechische Wendung, die wir mit sein Leben einbüßt (τὴν δὲ ψυχὴν αὐτοῦ ζημιωθῇ [tēn de psychēn autou zēmiōthē]) übersetzten. Wir müssen es offenlassen, ob nicht die alte lutherische Übersetzung „Schaden nähme an seiner Seele“ das gleiche Recht hat. Zwar erklärt E. Schweizer kategorisch, so ließe sich „nicht übersetzen“.15 Aber Albrecht Stumpff bleibt hier wesentlich vorsichtiger und neigt dazu, das ζημιωθῆναι [zēmiōthēnai] auf ein endzeitliches Urteil des Menschensohnes zu beziehen.16 Offen lassen es auch die Revidierte Elberfelder Bibel und die NGÜ.17 ψυχή [ psychē] schwankt in Mt 16,26 zwischen den Bedeutungen Leben und „Seele“, ζημιωθῆναι [zēmiōthēnai] zwischen „verlieren“ und „einen Schaden/Nachteil erleiden“.18 So viel ist immerhin deutlich: Eine ganze Welt wiegt den Verlust des Lebens, erst recht den Verlust des ewigen Lebens, nicht auf. Und noch etwas ist deutlich: Man darf nach der Ansicht Jesu, ja sogar der ganzen Bibel, mit Recht die Frage nach dem Nutzen des eigenen Handelns stellen.19 Siehe auch Mal 3,14; Koh 3,1; Mt 19,27; Joh 6,63; 1Kor 13,3; 1Tim 4,8. Die Aufklärung hat sich dagegen heftig gewehrt.20 Aber dem Menschen ist diese Frage eingestiftet, und Jesus scheut sich nicht, sie in positivem Sinne auszusprechen. Vers 26 fährt fort: Oder was kann ein Mensch geben, damit er sein Leben wieder einlöst? Der entscheidende griechische Begriff ist hier ἀντάλλαγμα [antallagma]. Er stammt aus dem Handelsleben21 und bedeutet den „Kaufpreis“22 oder „Gegenwert“.23 Der Sinn der Frage ist also der: Wenn ein Mensch sein Leben verloren hat, kann er nichts mehr geben, um dieses Leben wiederzubekommen. Er selbst hat keinen Gegenwert mehr, und auch der vorige Gewinn einer ganzen Welt reicht dann nicht mehr. Mit Recht weist Büchsel24 auf Ps 49,8ff als eine Quelle dieses Gedankens hin. Dort wird wie im 13 Bauer-Aland 873. 14 Schweizer a.a.O. 644; Luz II 493. Anders Schniewind 193: Gemeint sei das missionarische Gewinnen der Welt. 15 Schweizer a.a.O. 644,168. 16 Im Art. ζημία usw., ThWNT, II, 1935, 893f. 17 Unklar BGS. 18 Vgl. France 260. 19 Auch die Rabbinen gehen davon aus, Strack-Billerbeck I 749ff. 20 Vgl. nur Hirsch IV 134f (Lessing). 21 Stumpff a.a.O. 893. 22 F. Büchsel, Art. ἀλάσσω usw., ThWNT, I, 1933, 252. 23 Bauer-Aland 144. 24 Büchsel a.a.O.

3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28

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ganzen Psalm betont, dass nichts in der Lage ist, die Gemeinschaft mit Gott aufzuwiegen, die sogar den Tod überdauert. Zurück zu Jesus in Mt 16,26: Nichts, sagt er, kann das ewige Leben ersetzen, das mir verloren geht, wenn ich nur auf die Rettung meines irdischen Lebens bedacht bin. Siehe auch Lk 12,20; Phil 3,8. Erneut fällt auf, wie rational Jesus argumentiert. Den Gedanken des ewigen Lebens verbindet Jesus jetzt mit der Erinnerung an das künftige Gericht: Denn der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen, und dann wird er jedem nach seinem Tun vergelten (V. 27). Der Kern der Aussage ist sofort klar: Wer sein irdisches Leben höher wertet als das ewige, wird im Endgericht verworfen – wer aber das irdische Leben für die Nachfolge Jesu opfert, der wird gerettet. Wie in V. 25 und 26 verbindet ein begründendes Denn den Vers mit dem vorigen. Daneben wollen einige Einzelheiten beachtet sein. Der Menschensohn, nämlich Jesus, ist wie in Joh 5,19ff der endzeitliche Richter (5,27: „weil er der Menschensohn ist“). Mt 16,27 ist außerdem ein klares Zeugnis von seiner Wiederkunft, die im göttlichen Heilsplan (μέλλει [mellei]!) vorgesehen ist. Sie geschieht in der Herrlichkeit (ἐν τῇ δόξῃ [en tē doxē]) seines Vaters, das heißt in der Herrlichkeit, die der Vater selbst hat (vgl. Joh 17,5ff). Dabei wird er begleitet (μετά [meta]) von seinen Engeln, das heißt den Engeln, die ihm dienen. Zu den Christen dienenden Engeln vgl. Mt 4,11; 13,41; 24,31; 25,31; Lk 22,43; 2Thess 1,7; 1Petr 3,22 und Offb 19,14. Er, Christus, teilt Lohn und Strafe zu. Sein vergelten geschieht nicht nach menschlichen Maßstäben – es hat auch mit unseren Emotionen nichts zu tun –, sondern nach den göttlichen Maßstäben vollkommener Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wie der dreieinige Gott „im einzelnen Falle“ entscheidet, bleibt ein „Geheimnis seiner Majestät“.25 Voraussetzung des Gerichts ist das Tun, wörtlicher die „Praxis“ jedes Einzelnen. Der letzte Satz von V. 27 ist ein Zitat aus Ps 62,13 (LXX 61,13); Spr 24,12 und Sir 35,22. Es wird von Paulus in Röm 2,6 wiederholt, der Sache nach auch von Offb 14,13.26 Friedrich Büchsel stellt richtig fest: „Der Gedanke der doppelten Vergeltung nach den Werken im Endgericht bildet für die im NT bezeugte Verkündigung … die Voraussetzung.“27 Von da aus betrachtet hätte die Debatte über die „Werkgerechtigkeit“ im Protestantismus anders verlaufen müssen.28 25 F. Büchsel in seinem kurzen, aber immer noch klärenden Art. δίδωμι usw., ThWNT, II, 1935, 171. 26 Nach Strack-Billerbeck I 751 ist es „altjüdische Lehre“. 27 Büchsel a.a.O. 170. Vgl. 2Kor 5,10; 11,15; 2Tim 4,14; 1Petr 1,17. 28 Vgl. U. Läpple, Vom Glanz der guten Werke und ihrer missionarischen Kraft, Perspektiven 64 (Frühjahr/Sommer 2014) 5.

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Amen, ich sage euch: Es gibt einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seiner Herrschaft: Dieser 28. Vers ist einer der umstrittensten im Evangelium. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als spreche Jesus hier von seiner endzeitlichen Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit. Darauf deutet vor allem die Nähe zu V. 27. In diesem Fall hätte Jesus mit dem Abschluss der Weltgeschichte binnen einer Generation gerechnet. Die weitere Folgerung liegt auf der Hand: Er hätte sich dann getäuscht, weil ja „die Weltgeschichte weiterlief “.29 Luz schreibt, wir müssten uns der Erkenntnis stellen, „daß Jesus sich getäuscht habe“.30 Selbst Schlatter ist der Meinung, Jesus habe hier eine „Berichtigung“ durch „Gottes Regierung“ erfahren.31 Einer solchen Auffassung begegnen jedoch Bedenken: 1) Was konnte Matthäus dazu bringen, „mehr als ein halbes Jahrhundert nach Jesus“ (so Luz II, 496 auf historischkritischer Grundlage!) ein solches Wort zu tradieren, wenn sich Jesus darin getäuscht hätte? 2) Die Seitenreferenten Markus und Lukas verwenden die Formulierung vom „Kommen des Reiches Gottes“,32 was ja nun keineswegs mit der endzeitlichen Wiederkunft Jesu identisch ist. 3) V. 28 wird durch ein Amen, ich sage euch eingeleitet und muss deshalb keine Fortsetzung von V. 27 sein, sondern weist einen eigenständigen Charakter auf. 4) Jesus bereitet seine Gemeinde darauf vor, dass bis zu seiner Wiederkunft noch eine lange Zeit vergehen wird (vgl. Mt 13,24ff; 13,31f; 21,43; 24,6ff; 24,36ff; 24,4ff; 25,1ff; 25,14ff; Apg 1,7). Sollte er sich selbst widersprechen, indem er in Mt 16,28 die gesamte Zukunftsgeschichte in eine einzige Generation verlegt? Deshalb ist es angemessener, das Kommen des Menschensohnes in seiner Herrschaft (ἐν τῇ βασιλείᾳ αὐτοῦ [en tē basileia autou])33 von seinem „Kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln“ zu unterscheiden. So, wie „das Reich Gottes in Kraft“, mit der Auferstehung Jesu beginnt, so beginnt auch die Herrschaft des Menschensohnes mit seiner Auferstehung (vgl. Mt 28,18; Mk 9,1; Röm 1,3f; Joh 14,18f; Offb 1,16ff ). Diese aber haben einige unter denen, die hier stehen, sehr wohl noch erlebt. Jesus formuliert vorsichtig, weil er 1) weiß, dass Judas es nicht erleben wird (Joh 6,71; 13,21ff; Mt 27,3ff ), 2) weil der Kreis der hier Stehenden vielleicht doch über die Zwölf hinausreicht. Zur Formulierung den Tod schmecken = sterben vgl.

29 30 31 32 33

Bultmann, NuM, 18. Luz II 496. Schlatter 264. Mk 9,1 ἐν δυνάμει, was an Röm 1,4 erinnert. Der Sinn ist nach BDR § 198,2 „mit“, „in Begleitung von“.

3. Ruf in die Leidensnachfolge, 16,24-28

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Joh 8,52, Hebr 2,9.34 Unsere Deutung stimmt überein mit dem, was zumindest seit Gregor dem Großen in der Alten Kirche und auch in der Reformation vertreten wurde.35 In alledem ringt Jesus darum, dass sich seine Jünger an ihm, dem Menschensohn, und zwar gerade dem leidenden Menschensohn, orientieren. Ähnlich Mt 10,17-25.

IV Zusammenfassung 1. Die Worte in Mt 16,24-28 sind konzentriert auf die Leidensnachfolge im Blick auf die Passion Jesu. Diese Konzentration unterscheidet sie von den Ausführungen in der Jüngerinstruktion Mt 10,15ff. 2. Eingeschlossen ist eine betonte Vorbereitung auf das Martyrium. Im Gegensatz zu Peter Fiedler sehen wir eine solche Vorbereitung gerade heute und gerade für die nordatlantische Christenheit als notwendig an. Fiedler schreibt: „Die Lage der Glaubenden in unserer (westlichen) Welt unterscheidet sich stark von der des Mt und seiner Gemeinde. Weder droht Verfolgung noch herrscht verbreitet eine (relative) Naherwartung.“36 Das mag im letzten Jahrhundert noch gegolten haben. Im 21. Jahrhundert aber sind die Christen am stärksten verfolgt und wir alle untereinander vernetzt. Eine ganze Anzahl Christen kann auch in Deutschland nur unter Personenschutz überleben. 3. Mit Recht erörtert Ulrich Luz bei der Weisung er verleugne sich selbst auch die traditionelle christliche Lehre von der Selbstverleugnung.37 Welche Segensspuren hat sie trotz mancher Problematik hinterlassen! Luz zeigt sich schockiert über eine „wahrhaft fundamental(e) Trendwende“, die auch im Bereich der protestantischen und christlichen Ethik eine „Selbstverständlichkeit des Habens und des Konsums“ („notfalls als ‚Selbstverwirklichung‘ gerechtfertigt“) herbeigeführt hat.38 In der Tat betrifft Mt 16,24-28 ja nicht nur das Martyrium. Es schließt vielmehr ein, dass wir auf allen Gebieten bereit sind, den Willen Gottes über unseren eigenen Willen zu stellen. 4. Der Ernst der Worte in V. 24-28 kann nicht verdunkeln, dass sie zugleich den Ausblick auf die künftige Herrschaft und Herrlichkeit Jesu schenken, und das heißt auch: auf das kommende ewige Leben der Gläubigen.

34 Vgl. BDR § 169,7 so wie Strack-Billerbeck I 751. 35 Darüber informiert Luz II 495. Wie wir France 261; Tasker 163. Vgl. insgesamt Carson 380ff. 36 Fiedler 293. 37 Luz II 491ff. 38 Luz II 492.

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4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9 I Übersetzung 1 Und nach sechs Tagen nimmt Jesus Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, mit sich und führt sie auf einen hohen Berg, wo sie allein waren. 2 Und sein Aussehen veränderte sich vor ihren Augen, und sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Seine Kleider aber wurden strahlend weiß wie das Licht. 3 Und siehe, es erschienen ihnen Mose und Elia. Die redeten mit ihm. 4 Aber Petrus nahm das Wort und sagte zu Jesus: Herr, es ist gut, dass wir hier sind! Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten machen, dir eine und Mose eine und Elia eine. 5 Während er noch redete, siehe, da überschattete sie eine Wolke aus Licht, und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Das ist mein Sohn, der Geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe! Auf ihn sollt ihr hören! 6 Und als die Jünger das hörten, fielen sie auf ihr Angesicht, und heftige Furcht packte sie. 7 Und Jesus trat zu ihnen und berührte sie und sagte: Steht auf und fürchtet euch nicht! 8 Als sie aber aufsahen, sahen sie niemand mehr als Jesus allein. 9 Und als sie vom Berg herabstiegen, erteilte ihnen Jesus den Auftrag: Sagt niemand, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt ist.

II Struktur Mt 17,1-9 hat einen einfachen äußerlichen Aufbau: 1) Einleitung (V.1), 2) das Geschehnis der Verklärung (V. 2-8), 3) Jesu anschließendes Gebot (V. 9). Der Sache nach handelt es sich um eine Epiphanie, sogar eine doppelte: In der Stimme und der Wolke offenbart sich Gott, der Vater, und in der Transfiguration Jesus als Gottes Sohn.1 Im Blick auf die Makrostruktur des Matthäusevangeliums enthält Mt 17,1‑9 einige Besonderheiten. So die Datierung nach sechs Tagen, die erst in den Passionsberichten ein Pendant findet (Mt 21,18; 22,23; 26,2.17; 27,1.45f.57.62; 28,1). So die Alleinstellung von Petrus, Jakobus und Johannes, die ebenfalls in der Passion ihr Pendant hat (Mt 26,37). Mt 17,1ff ist außerdem die einzige Transfiguration Jesu. Wichtig ist ferner die Wiederholung dessen, was die göttliche Stimme bei der Taufe sagte (vgl. Mt 17,5 mit 3,17). Schließlich hat das Schweigegebot in V. 9 die Forschung stark beschäftigt. 1 Auch Hengel-Schwemer 463 klassifizieren Mt 17,1-9 als „Epiphaniewunder“.

4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9

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Übrigens ordnen Markus (9,2ff ) und Lukas (9,28ff ) die Verklärung Jesu chronologisch ebenso ein wie Matthäus.

III Einzelexegese V. 1 überrascht durch die Angabe nach sechs Tagen. Solche Angaben sind wir bisher im Matthäusevangelium nicht gewohnt (s. oben II.). Bezieht sich dieses nach sechs Tagen auf das in Mt 16,24-28 Berichtete? Oder auf das in Mt 16,21-23 Berichtete? Oder auf das Geschehen bei Cäsarea Philippi (16,13-20)?2 Vorsichtigerweise wird man es in erster Linie auf Mt 16,24-28 mit seinem τότε [tote] beziehen, sodann aber auf das Gesamtgeschehen von Mt 16,13-28. Nur eines bleibt festzuhalten: Mit der Zeitangabe nach sechs Tagen unterstreicht Matthäus die Bedeutung des zuvor in Kap. 16 Berichteten. Unsere Auffassung, dass Mt 16,13ff einen Wendepunkt des Evangeliums, eine Peripetie, darstellt, wird dadurch bestätigt. Die Präsensformen (nimmt – führt) drücken die Dramatik aus. Jesus selbst ergreift die Initiative. Demnach war ihm bewusst, dass sie eine Epiphanie erleben würden. Zu einer solchen Erwartung passt auch der hohe Berg. Hier werden wir sofort an die Mosegeschichte mit dem Sinai erinnert (Ex 19 und 24). Auch bei Mose war die Zahl der Begleitpersonen begrenzt (Aaron Ex 19,24; Aaron, Nadab, Abihu Ex 24,1; Josua Ex 24,13).3 Ob Ex 24,16 mit der Angabe von sechs Tagen Matthäus dazu inspiriert hat, auch seinerseits die damalige Zeitspanne von sechs Tagen zu notieren (vgl. Mk 9,2)? Jedenfalls wählte Jesus mit Petrus, Jakobus und Johannes diejenigen Jünger aus, die neben Andreas an der Spitze der Zwölf Apostel in 10,2 standen, die er ganz früh berufen (Mt 4,18ff ) und die er schon beim Täufer kennengelernt hatte (Joh 1,35ff ). Sie bildeten auch nach Apg 1,13 die Führungsschicht der Urgemeinde. Dabei fällt auf, dass der Zusammenstoß von Mt 16,22f für Jesus keinen Anlass bot, Petrus „zurückzustufen“. Nein, Petrus steht sogar in Mt 17,1 an der Spitze. Mit den drei Jüngern als drei Zeugen hat Jesus das Zeugenrecht des AT erfüllt (Deut 17,6; 19,15).4 Wo sie allein waren (κατ᾿ ἰδίαν [kat’ idian]): Sonst wollte Jesus ja beim Beten oder bei der speziellen Jüngerunterweisung allein sein (Mt 14,13.23; 15,29; 24,3; Mk 1,35; Lk 5,16; 11,1; Joh 6,15).5 Jetzt aber handelt es sich um eine erwartete Epiphanie, ein besonders intimes Wunder, das in der Regel keine Massen erträgt. Die Motive hoher Berg und allein (κατ᾿ ἰδίαν [kat’ idian]) sind also in ihrer Bedeutung mehr2 3 4 5

So mein früherer Kommentar (Maier II 22). Dazu in Ex 24,1 die 70 Ältesten. Vgl. Riesner 433; Zahn 562. Vgl. Lk 9,28f.

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schichtig (vgl. noch Mt 4,8). Ihr genauerer Sinn ergibt sich erst aus dem Kontext. Was Mt 17,1 betrifft, so liegt vor allem die Parallelität zur Mose-SinaiTradition auf der Hand. Das heißt: Gott offenbart sich Jesus als dem zweiten Mose (vgl. Deut 18,15ff ) und gestaltet jetzt ebenso die Erlösungsgeschichte des Neuen Bundes, wie er die Erlösungsgeschichte des Alten Bundes gestaltet hatte. Übrigens bleibt die genaue Lage des hohen Berges geheimnisvoll. Nach Mt 16,13ff muss er in der Nähe von Cäsarea Philippi liegen. Am ehesten kommt der Hermon infrage: a) Er liegt nicht weit von Cäsarea Philippi; b) er ist mit 2760 m wirklich ein hoher Berg; c) er liegt wie der Sinai an der Grenze des Verheißenen Landes; d) er entspricht als Offenbarungsberg den Aussagen, die Ps 42,7; 89,13; 133,3 über ihn machen.6 Ohne auf Details zu achten, kommt Matthäus in V. 2 gleich zum Wesentlichen:7 Und sein Aussehen veränderte sich vor ihren Augen (μετεμορφώθη [metemorphōthē]), und sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Seine Kleider aber wurden strahlend weiß wie das Licht. Was sich genauer verändert, sagt der Vers selbst: Gesicht und Kleider (vgl. Lk 9,29). Das griech. μετεμορφώθη [metemorphōthē] lebt in unserem Fremdwort „Metamorphose“ weiter. Aber nicht „Metamorphose“, sondern „Transfiguration“ ist der Terminus für die Verklärung Jesu. Mit μετεμορφώθη wird J. Behm zufolge „Das Wunder des Wandels von irdischer zu überweltlicher Gestalt“ ausgedrückt.8 Überweltliche Gestalten leuchten wie die Sonne (Ps 84,12; Offb 1,16).9 Hier werden wir an die Schechina erinnert, die im Judentum „als Lichtglanz vorgestellt“ wird.10 Kleider, strahlend weiß (λευκά [leuka]) wie das Licht kennzeichnen gemeinhin Engel.11 So schon den Engel von Dan 10,5ff, dessen Gesicht überdies „wie ein Blitz“ leuchtet. So den Engel am Grab (Mt 28,3), so die Engel in Joh 20,12 und Apg 1,10. Aber Jesus soll hier ja nicht als ein Engel oder engelähnlich dargestellt werden.12 Deshalb liegt in Mt 17,2 der Bezug auf Gott viel näher, von dem es in Ps 104,2 heißt: „Licht ist dein Kleid, das du anhast“ (LXX 103,2: φῶς ὡς ἱμάτιον [ phōs hōs himation]; vgl. Ps 26,10;

6 Dagegen neigen Liefeld und Carson zum Miron (Carson 384). Nach Stuhlmacher I 216 ist es gar „kein geographischer Ort“. Wie wir Tasker 167; France 262; vgl. Zahn; Beare 361.363; Dalman 167ff.562. Sonst häufig mit dem Tabor gleichgesetzt. 7 Ebenso Markus und Lukas. 8 Im Art. μορφή usw., ThWNT, IV, 1942, 765. 9 A. Oepke, Art. λάμπω usw., ThWNT, IV, 1942, 24ff. 10 Oepke a.a.O. 23. 11 Vgl. W. Michaelis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, 255. 12 Michaelis a.a.O.

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89,16; Num 6,25). Jesus wird also in göttlicher Würde, als wahrer Sohn Gottes erlebt. Offb 1,14ff bestätigt diese Deutung.13 In Anlehnung an Hans Windisch zieht Wilhelm Michaelis aus Mt 17,2 die Folgerung, dass Jesu Kleidung sonst „die übliche Farbe hatte, daß er also vor allem keine weißen Kleider trug, wie die Priester, wie die Essener, wie die Pythagoreer, und an seiner Kleidung nicht als ‚Heiliger‘ zu erkennen war“.14 Dies dürfte zutreffen. Siehe auch Jes 52,14; 53,2. Die Transfiguration rückt zwei weitere Sachverhalte ins Blickfeld. Zuerst werden wir an die Erlösten im ewigen Leben erinnert, die dort wie die Sonne leuchten (Mt 13,43; Dan 12,3) und die dort strahlend weiße Kleider tragen (Offb 3,4f; 6,11; 7,9.13).15 „Was den Frommen für den neuen Äon verheißen ist … widerfährt hier Jesus schon in der Gegenwart“16, mehr noch: Jesu Verklärung „ist Vorwegnahme seiner Eschatologie“.17 Mit anderen Worten: Der Vater zeigt, dass der Sohn auf dem Wege der Passion sein himmlisches Ziel erreichen wird. Im Übrigen hegten die frühen Lehrer für die vollendeten Gerechten dieselben Erwartungen18 (äthHen 38,4; 62,15f; 104,2; 4Esr 7,97.125; syrApkBar 51,3; 51,10). Siehe auch Ri 5,31. Den zweiten Sachverhalt bildet wieder die Nähe zu Mose. Ex 34,29ff berichtet vom „strahlenden Gesicht“ Moses (LXX: δεδόξασται ἡ ὄψις τοῦ χρώματος τοῦ προσώπου αὐτοῦ [dedoxastai hē opsis tou chrōmatos tou prosōpou autou]), auf das Mose eine Decke legen musste. Kommt es bei Jesus zu einer verwandten Erscheinung, dann ist ein weiteres Mal erwiesen, dass er der prophezeite zweite Mose ist (Deut 18,15ff ).19 Der 3. Vers ist geradezu frappierend kurz: Und siehe, es erschienen ihnen Mose und Elia. Die redeten mit ihm. Wäre es eine „Legende“, wie Bultmann Mk 9,22ff nennt,20 sogar hinsichtlich Lk 9,32 mit dem „Märchenmotiv des Zauberschlafs“ verbunden21 – welche Ornamente, welche Ausmalungen wären dann zu erwarten gewesen!22 Mt 17,3 wirkt demgegenüber sehr trocken. Und siehe drückt das Unerwartete der Begegnung aus. Das griech. ὤφθη [ōphthē] heißt wörtlich „es wurde sichtbar“ und kann sich auf alle Arten inne13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Michaelis a.a.O. 253f. Michaelis a.a.O. 252. Vgl. Michaelis a.a.O. 255f; Behm a.a.O. 765. Behm a.a.O. Michaelis a.a.O. 254. Strack-Billerbeck I 752f. Ablehnung der Mose-Parallele bei Fiedler 295,98. Bultmann, Gesch, 278f. Bultmann, Gesch, 281. Vgl. solche Versuche in den HSS beim parallelen Taufbericht!

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rer und äußerer Wahrnehmung beziehen.23 Die Wendung erschienen benutzen wir vor allem bei den Auferstehungsberichten, wobei die Debatte über „Vision oder nicht?“ geführt wird. Was Mt 17,3 betrifft, lässt Wilhelm Michaelis zunächst „die Frage offen“, ob an eine Vision oder ein leibhaftiges Auftreten Moses und Elias gedacht ist.24 In der Tat bleibt der Vorgang geheimnisvoll. Gerade die Kürze der biblischen Berichte verhindert, dass wir eine lückenlose Aufklärung erhalten. Irgendeine Form der Leibhaftigkeit, wenn auch überirdischer Art, scheint aber doch vorausgesetzt zu sein. Denn die Erscheinung begegnete den Jüngern gleichzeitig (ihnen); das Gespräch mit Jesus (Die redeten mit ihm) wäre als rein innervisionärer Vorgang schwer vorstellbar; der Vorschlag drei Hütten zu machen (V. 4) setzt ebenfalls eine Form der Leibhaftigkeit voraus; zumindest Jesus selbst war leibhaftig anwesend. Lässt sich auch die Verklärung nicht restlos analysieren, so neigen wir doch der Annahme einer leibhaftigen Erscheinung aller Personen in V. 3 zu. Worüber redeten sie mit ihm? Lk 9,31 sagt: „über den Ausgang (ἔξοδον [exodon]), den er in Jerusalem erfüllen sollte“. Das Gespräch hat insofern die Stärkung Jesu auf dem Passionsweg zum Ziel (vgl. Lk 22,43?). Der Kontext des Matthäusevangeliums stellt uns aber in einen weiteren Rahmen. Es geht ja doch ganz grundlegend um die Frage, ob der Messias überhaupt den Passionsweg wählen sollte. Deshalb muss man annehmen – was V. 5 bestätigen wird – dass Mose und Elia den Passionsweg als gottgewollt bekräftigen. Als die zwei Gotteszeugen (vgl. Deut 17,6; 19,15) der göttlichen Offenbarung bitten sie Jesus, diesen Weg trotz aller Anfechtungen nicht zu verlassen (vgl. Mt 16,22f ). In dem auffallenden Ausdruck συλλαλοῦντες [syllalountes] (συλλαλέω [syllaleō] bei allen drei Evangelisten) ist enthalten, dass eine Unterredung stattfand, an der sich alle drei: Jesus, Mose und Elia beteiligten. Eine eindrückliche Szene, in der sich Himmel und Erde berührten! Über Elia vgl. die obigen Erklärungen zu Mt 11,4 und 16,14. Mose begegnet hier nach 8,4 zum zweiten Mal im Matthäusevangelium. Wie Joachim Jeremias in seiner immer noch wertvollen Mose-Studie25 herausgearbeitet hat, ist Mose für das damalige Judentum „die wichtigste Gestalt der ganzen bisherigen Heilsgeschichte.26 Insbesondere ist er ein „Typus des Messias“.27 Letzteres gilt sogar in doppelter Weise. Einmal geht es um die Deutung von Deut 18,15ff auf den Messias,28 23 24 25 26 27 28

Vgl. Bauer-Aland 1171f. Im Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, 354. Art. Μωυσῆς, ThWNT, IV, 1942, 852-878. A.a.O. 854. A.a.O. 862. A.a.O. 862ff.

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zum anderen um das typische Verständnis der Erlösung aus Ägypten als eines Vorbildes „für die messianische Erlösung“.29 Jeremias zitiert aus der rabbinischen Literatur den Satz: „Wie der erste Erlöser, so der letzte Erlöser.“30 Wenn Mose und Elia als die für die jüdische messianische Erwartung prägendsten Gestalten jetzt mit Jesus im Gespräch sind, dann kann dies nicht als ein Gespräch über die Gesetzesauslegung,31 sondern nur als ein Gespräch über die Messiasaufgabe aufgefasst werden. Es ist Petrus, der nach V. 4 das Wort nahm (ἀποκριθείς [apokritheis]). Seine führende Stellung im Zwölferkreis dauert also trotz der Ereignisse von 16,21-23 fort. Seine ersten Worte kann man verschieden verstehen. Entweder bedeuten sie: „Es ist gut für uns, dass wir hier sind“32 (vgl. Luthers „Hier ist gut sein“), oder sie bedeuten: Es ist gut, dass wir hier sind.33 Zahn will sogar das wir (ἡμᾶς [hēmas]) so auslegen, dass es den Sinn bekommt: Petrus „bildet sich … ein“, der Herrlichkeitsoffenbarung „nachhelfen zu müssen“.34 Aber ein Nachhelfen-Wollen in diesem Sinne lässt sich dem Kontext nicht entnehmen. Was also meint Petrus? Unseres Erachtens schließt das wir (betontes ἡμᾶς [hēmas]) Jesus und Jünger zu einer Gemeinschaft zusammen. Beide, Jesus und Jünger, dürfen gerade hier (konstantes ὧδε [hōde]) weitere Offenbarungen der göttlichen Herrlichkeit erwarten. Um hier bleiben zu können,35 will Petrus Unterkünfte errichten: Wenn du willst, werde ich (in Markus und Lukas: wollen wir) hier drei Hütten machen, dir eine und Mose eine und Elia eine. Dabei macht er sich aber ganz abhängig vom Willen Jesu. Wenn du willst. Petrus spricht von Hütten (σκηνάς [skēnas]). Dadurch ist ein doppelter Bezug geschaffen. Hütte, σκηνή [skēnē], heißt die Stiftshütte. Und gerade dort begegnen die göttlichen Offenbarungen (Ex 29,42; Num 7,89; 1Sam 3,1ff ). Außerdem soll Israel am Laubhüttenfest in Hütten wohnen und der Güte

29 A.a.O. 864ff mit zahlreichen Stellenangaben. 30 A.a.O. 864. Vgl. Hengel, Evglien, 262f. 31 Etwa im Sinne einer Präsens von Gesetz (Mose) und Propheten (Elia). Beide sind sie freilich auch solche Repräsentanten, aber konkret geht es hier um die Messiasaufgabe Jesu. Ganz abwegig Bultmann, Gesch, 279, wonach die beiden Gestalten „vermutlich ursprünglich zwei unbestimmte himmlische Wesen (Engel oder Selige)“ waren. 32 So z.B. Carson 383ff; offensichtlich Bauer-Aland 813. 33 So z.B. Zahn 564; Fiedler 293; Luz II 504; Schlatter 266; Schniewind 193; Revidierte Elberfelder Bibel; Einheitsübersetzung; BGS; Gute Nachricht; NGÜ; BasisBibel. 34 Zahn a.a.O. Ähnlich W. Michaelis, Art. σκηνή usw., ThWNT, VII, 1964, 380,64; Schlatter 266. 35 Vgl. Michaelis a.a.O. 380. Schlatter 266: Die Jünger sind dankbar für dieses Erlebnis; auch Carson 385.

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Gottes und seiner Erlösungstaten gedenken36 (Lev 23,42; Neh 8,33ff ). So will Petrus offenbar auch der kommenden Erlösung gedenken.37 Dass es drei Hütten sein sollen, hält überdies den Bezug zur gegenwärtigen Realität fest: Die drei Männer Jesus, Mose und Elia benötigen jeweils eine Bleibe.38 Dass diese Realität in irgendeiner Form eine leibhaftige war, haben wir oben schon bemerkt.39 Während er noch redete (V. 5, auch Lk 9,34), geschah zweierlei: eine göttliche Lichterscheinung und eine Gottesstimme. Siehe, da überschattete sie eine Wolke aus Licht: Das ist die typische Sprache der göttlichen Offenbarung. Die Wolke erschien am Sinai (Ex 24,15f ), bedeckte die Stiftshütte (Ex 40,34ff ), ist das Gefährt Gottes (Ps 104,3) und begleitete viele Gottesoffenbarungen (Ex 16,10; Deut 1,33; 5,19; 1Kön 8,10; Ps 97,2; Hes 1,4; 10,3; Dan 7,13).40 Das Licht (φωτεινή [ phōteinē]) deutet die Gegenwart Gottes an (Ps 36,10; 43,3; 89,16; 104,2; Jes 9,1; 60,1.19; Num 6,25). Vor allem ἐπισκιάζειν [episkiazein], überschatten, ist im biblischen Zusammenhang ein Begriff der Offenbarungssprache. Es deutet, wie Siegfried Schulz herausgearbeitet hat, auf die „Manifestation Gottes“.41 Alttestamentlich steht im Hintergrund das überschatten der Wolke bei der Stiftshütte (Ex 40,35 LXX).42 Neutestamentlich vgl. Lk 1,35. Fazit: Die „Lichtwolke“ lässt erkennen, dass jetzt Gott selbst auf den Plan tritt. Gott kann man nicht sehen (Ex 33,29; Joh 1,18; 6,46; 1Tim 6,16). Aber man kann seine Stimme hören:43 und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Das ist mein Sohn, der Geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe! Auf ihn sollt ihr hören! Gottes Stimme, hebr. ‫[ ַבּת קוֹל‬bat qōl], wird noch weit in talmudische Zeiten hinein von den Rabbinen als Entscheidungsinstanz anerkannt.44 Exemplarisch ist hier b Sanh 11a. Dort sagt eine „Stimme aus dem Himmel“, Hillel sei würdig, „dass die Göttlichkeit auf ihm ruhe“. Die Schriftgelehrten Israels akzeptierten dies.45 Was also die Stimme in Mt 17,5 sprach, ist auch bei den Schriftgelehrten verständlich. Ihren Inhalt fasst Otto Betz folgendermaßen zusammen: „Zweck 36 Vgl. D. Freeman / O. Betz, Art. Fest/Feste, GBL 1, 377; O. Betz, Art. Laubhüttenfest, GBL 2, 870; Josephus Ant III, 100ff.222f. 37 Gegen beide Bezüge skeptisch Michaelis a.a.O. 381f; Luz II 511. 38 So Luz II 511; Gaechter 568. 39 Wie wir Carson 385f; Beare 364; Sand 342. 40 Vgl. A. Oepke, Art. νεφέλη usw., ThWNT, IV, 1942, 907ff. 41 Im Art. σκία usw., ThWNT, VII, 1964, 402. 42 Schulz a.a.O. 43 Vgl. O. Betz, Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, 276; G. Kittel, Art. ἀκούω usw., ThWNT, I, 1933, 217ff. 44 Betz a.a.O. 280ff. 45 Weitere Beispiele bei Betz a.a.O.

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der Himmelsstimme ist die göttliche Bestätigung der voraufgehenden Bezeugung der Messianität Jesu durch Menschenmund.“46 In der Tat finden sich die Worte Das ist bis an dem ich Wohlgefallen habe wortwörtlich als Taufstimme in Mt 3,17 wieder. Wir erklären sie hier also nicht noch einmal, sondern verweisen auf die Erklärung bei 3,17. Ferner ist klar, dass auf dem Verklärungsberg das Bekenntnis von Cäsarea Philippi bestätigt wird: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16). Denn die Sohnschaft (Ps 2,7) – Das ist mein Sohn – schließt die Messianität ein. Was aber jetzt eine besondere Bedeutung gewinnt, ist die göttliche Anweisung zum Opfergang und Opfertod. Der Geliebte weist zurück auf die Opferung Isaaks (Gen 22,2), der Gottesknecht, an dem ich Wohlgefallen habe, auf Jes 53, wo dieser Gottesknecht sein Leben als Schuldopfer geben muss (vgl. Jes 53,10; 42,1). Gott im Himmel erklärt also die Auslegung Jesu in Mt 16,21 für die richtige, die des Petrus in Mt 16,22 für die falsche. Vergessen wir nicht, dass auch Mose und Elia nach Mt 17,3 Jesus beigestanden haben. Jesus weiß jetzt in all seiner menschlichen Schwachheit und Niedrigkeit (er ist „Fleisch“ nach Joh 1,14!), dass er vollkommen mit dem Vater übereinstimmt und den Weg Gottes geht. Auf ihn sollt ihr hören!: Das greift über die Taufe hinaus. Es ist in dieser äußerst angefochtenen und umkämpften Situation die unmissverständliche Anweisung an die Jünger, sich an den Passionsweg anzuschließen und Jesu Autorität in der Schriftauslegung nicht infrage zu stellen. AT (Mose, Elia) und Gottesstimme bestärken wie zwei Gotteszeugen (Deut 17,6; 19,15) den Weg Jesu.47 Erstaunlich übrigens, dass Matthäus, Markus und Lukas die Gottesstimme weitgehend übereinstimmend referieren. In ἀκούετε αὐτοῦ [akouete autou] stimmen sie sogar wortwörtlich überein. Fast sicher stellt dieses Auf ihn sollt ihr hören eine Bezugnahme auf Deut 18,15 (LXX: αὐτοῦ ἀκούσεσθε [autou akousesthe]) dar. Jesus wird also zusätzlich als der zweite Mose, der endzeitliche Prophet schlechthin, ausgewiesen.48 Die Jünger erkennen die Bedeutung des Ereignisses: Und als die Jünger das hörten, fielen sie auf ihr Angesicht, und heftige Furcht packte sie49 (V. 6). Respekt und tieftste Verehrung, verbunden mit dem Erschaudern des Geschöpfes vor seinem Schöpfer, ergriffen sie. Siehe auch Dan 8, 17f; 10,9f; Offb 1,17. V. 6 und 7 sind Matthäus-Sondergut.

46 47 48 49

Betz a.a.O. 291. Vgl. Oepke a.a.O. 910f. Vgl. Zahn 564; Tasker 164. France 265; Carson 386. Ingressiver Aor. nach BDR § 331,2.

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Da trat Jesus zu ihnen und berührte sie und sagte: Steht auf und fürchtet euch nicht! (V. 7). Offenbar hatte er jetzt wieder sein gewöhnliches Aussehen angenommen.50 Aber seine Berührung zeigt, dass er die drei Jünger kraftvoll aus einer transzendentalen Welt in die Welt des Alltags zurückholen muss. Berühren, ἅπτειν [haptein], wird vor allem bei der Heilung von Kranken erwähnt.51 Aber auch der Engel Gabriel berührt Daniel in einer speziellen Weise, um den in Ohnmacht versunkenen Daniel wieder aufzurichten (Dan 8,18; 10,10), ähnlich der Engel bei Elia (1Kön 19,5.7). Siehe auch außerdem Offb 1,17. In denselben Berichten spielt auch die Wortgruppe ἐγείρειν [egeirein] / ἀνίστημι [anistēmi] eine Rolle (nach der LXX). Das legt es nahe, bei ἐγέρθητε [egerthēte] in Mt 17,7 die Bedeutung Steht auf! anzunehmen.52 Die Jünger sollen sich wieder aufrichten. Das trostvolle fürchtet euch nicht! wird in ungezählten Gottesbegegnungen und Offenbarungssituationen des AT ausgesprochen.53 Jetzt also sollen die Jünger in der Gegenwart Jesu ihre heftige Furcht wieder ablegen.54 Siehe auch Mt 14,27; Joh 16,33; Mt 28,5.10; Offb 1,17. Die Formulierung von V. 8 fällt auf. Matthäus hätte ja ohne Weiteres schreiben können: „Und als sie aufblickten, waren Mose und Elia verschwunden“ o.Ä. Stattdessen geht es um Jesus allein als die Hauptperson des ganzen Abschnitts: Als sie aber aufsahen, sahen sie niemand mehr als Jesus allein. Im Griechischen ist der Wortlaut feierlicher: „Als sie aber ihre Augen aufhoben“ …, zurückgehend auf hebr. ‫שׂא ֵעיַנִים‬ ָ ‫[ ָנ‬nāśā’ ‘ēnajim]. Diese Wendung bezeichnet den konzentrierten, erkennenden Blick (Gen 13,10.14; 18,2; 33,1ff ), auch auf Gott gerichtet (Ps 121,1; 123,1). Der Blick der Jünger fängt jetzt die geänderte Situation ein. Mose und Elia sind verschwunden. Aber real da ist Jesus. Er ist nicht zum Himmel aufgefahren, wie der Koran schreibt.55 Vielmehr ist er bereit zum Kreuzesweg. Matthäus betont: sie sahen Jesus allein (αὐτὸν Ἰησοῦν μόνον [auton Iēsoun monon]). Übrigens haben auch Markus (9,8) und Lukas (9,36) das μόνος [monos] (allein). Hier hat F.W. Beare die richtige Bemerkung: „No attempt is made to describe the vanishing of the luminous cloud and of the celestial visitants.“56 Der Berg, die Szenerie – alles war wie zuvor. Und doch war eine Zäsur in der Jüngergeschichte, ja 50 51 52 53 54 55 56

Schlatter 267; Fiedler 295. Bauer-Aland 207. Ebenso BDR § 336,5. Vgl. Schniewind 194. BDR § 331,2: „hört auf, euch zu fürchten“. Sure 4,159. Beare 365.

4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9

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sogar in der Weltgeschichte passiert. Es kam und es kommt – so will Matthäus sagen – nur auf den einen an: Jesus allein. Die Schlussnotiz V. 9 enthält eines der sog. „Schweigegebote“ Jesu: Und als sie vom Berg herabstiegen, erteilte ihnen Jesus den Auftrag: Sagt niemand, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt ist. Sehen wir zunächst aufs Sprachliche. Der Versanfang Καὶ καταβαινόντων αὐτῶν ἐκ τοῦ ὄρους [Kai katabainontōn autōn ek tou orous] erinnert stark an Mt 8,1. Das Geschehen auf den Offenbarungsbergen sowohl bei der Bergpredigt als auch bei der Verklärung hat für Matthäus eine besondere Würde, wohl in der Erinnerung an das Sinaigeschehen bei Mose und Elia. Man muss von dort herabsteigen, um das „normale Leben“ fortzusetzen. Das griech. ἐντέλλω [entellō] enthält ein Element der Strenge: „beauftragen“, „gebieten“, „befehlen“.57 Der Auftrag Jesu beinhaltet einerseits das vorläufige Schweigen, andererseits die Pflicht zur Mitteilung nach seiner Auferstehung. Wenn Petrus, Jakobus und Johannes niemand sagen sollen, was ihr gesehen habt (vgl. Mk 9,9), dann durften sie offenbar auch den anderen Mitgliedern des Zwölferkreises vorläufig nichts darüber sagen.58 Für was ihr gesehen habt steht in Mt 17,9 (und nur dort in den Evangelien59) τὸ ὅραμα [to horama]. Dieses ὅραμα [horama] ist in seiner Bedeutung umstritten. Meint es eine Vision oder etwas mit normalen Augen Wahrgenommenes? Die Belege in Apg 9,10.12; 10,3.17.19 deuten eher auf eine Vision. Dennoch plädiert Wilhelm Michaelis für ein Offenlassen der Frage, „an welche Form des Sehens gedacht ist“.60 Wir selbst möchten es ebenfalls offenlassen, obwohl wir zu einer real-leibhaften Auffassung (und nicht nur zu einer Vision) neigen. Denn τὸ ὅραμα [to horama] bezeichnet einfach „das Geschaute“,61 in der griech. Literatur gelegentlich „das, was man wirklich sehen kann“ im Gegensatz zum φάντασμα [ phantasma].62 In der LXX ist es ähnlich.63 Die Worte was ihr gesehen habt, im Hebräischen evtl. zurückzuführen auf ‫[ ַמְרֶאה‬mar’äh] (Ex 3,3), umschließen in Mt 17,9 vermutlich das gesamte Geschehen auf dem Verklärungsberg.64

57 Bauer-Aland 541f. 58 Anders Zahn 565: Nur die Weitergabe an „die außerhalb des Jüngerkreises stehende Menge“ sei untersagt. 59 W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, 372. 60 Michaelis a.a.O. 354. 61 Vgl. Mk 9,9 ἃ εἶδον und Bonnard 256. 62 Bauer-Aland 1169f. 63 Michaelis a.a.O. 372. 64 Ähnlich Tasker 168. Vgl. Hagner II 498: „reality of the event“.

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Warum nur schweigen, bis der Menschensohn (= Jesus) von den Toten auferweckt ist? Weil dann die Passion tatsächlich „vollbracht“ ist (Joh 19,30), das Werk des Messias ans Ziel kam, und Jesus ohne Grenzen als Messias und Gottessohn verkündigt werden darf (Mt 28,18ff; Joh 20,30f ). Vorher aber steht alles noch unter dem Vorbehalt, ob er denn wirklich das Kreuz erduldet und unsere Sünde sühnt.65 Siehe auch Mt 16,20; 12,16. Damit ist schon ein Weg gebahnt zur Problematik des sog. „Messiasgeheimnisses in den Evangelien“. William Wredes gleichnamiges Buch aus dem Jahre 1901 hat diese Problematik in aller Schärfe entfaltet. Seine These lautet: Die frühen Christen haben den Anspruch der Messianität historisch unrichtig in das unmessianische Leben Jesu zurückprojiziert. Die Schweigegebote beweisen es. Denn dadurch sorgten die Evangelisten – letzten Endes Markus – dafür, dass das geschichtliche Leben Jesu unmessianisch verlaufen konnte, obwohl er doch ihrem Glauben zufolge der Messias war. Hauptstelle für Wrede war Mk 9,9 = Mt 17,9. Sie „liefert den Schlüssel“.66 Wenn aber Mt 17,1-9 ein wirklicher Vorgang ist und nicht nur der „theologische Gedanke“ des Markus, wenn sich überdies das Schweigegebot Jesu aus seiner damaligen Situation weit besser erklären lässt, dann fällt die ganze Konstruktion Wredes in sich zusammen.67 Was hätten auch solche Phantasmagorien, die einer späten Evangelienkritik entsprungen sind, zur Werbung in einem durchaus realitätsbezogenen Judentum (1Kor 1,22) getaugt?

IV Zusammenfassung 1. Mt 17,1-9, „un événement capital de la vie de Jésus“,68 hat im NT und bei den christlichen Auslegern einen besonders starken Eindruck hinterlassen. 2Petr 1,16-18 beschreibt ohne Zweifel dasselbe Ereignis und hebt hervor, dass Petrus Augen- und Ohrenzeuge (ἐπόπτης [epoptēs])69 war und dass „wir diese Stimme aus dem Himmel … auf dem heiligen Berge gehört haben“ (ἡμεῖς ἠκούσαμεν [hēmeis ēkousamen]). Hengel geht so weit, dass er hier „die Matthäus-Fassung … zitiert“ sieht.70 Vermutlich rekurriert auch Johannes in Joh 1,16; 1Joh 1,1ff unter anderem auf sein Erlebnis der Verklärung Jesu. Über die Kirchenväter71 führt die Linie der Auslegung bis in grundlegende Äußerun65 66 67 68 69

Vgl. France 264; Bonnard 257. Vgl. zum ganzen Gedankengang Kümmel, NT, 363 bzw. 362ff. Vgl. auch Bonnard 257. Bonnard 256. Hengel, Evglien, 228. Die Übersetzung „Weihzeuge“ bei Bauer-Aland 619 ist einfach komisch. 70 Hengel a.a.O. 71 Ein Beispiel im Texte KV I 239.

4. Die Verklärung Jesu, 17,1-9

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gen der Gegenwart. So rechnet das Lexikon der katholischen Dogmatik von 1987 die Verklärung Jesu zu den maßgebenden „Mysterien des Lebens Jesu Christi“,72 und Karl Barth eröffnet den monumentalen zweiten Halbband seiner Kirchlichen Dogmatik mit einer Besinnung über Mt 3,17 und 17,5.73 Was die Gottesstimme sagt, ist Barth zufolge „das gelöste Problem, die gefallene Entscheidung, von der die Evangelisten … auf der ganzen Linie herkommen“.74 2. Dass gegenüber Mt 17,1-9 in jüngerer Zeit auch kritische Stimmen zu hören sind, ist angesichts des Wunder- und Mysteriencharakters nicht verwunderlich. Rudolf Bultmann, für den „Die Wunder des Neuen Testaments … als Wunder erledigt“ sind,75 konnte Mt 17,1-9 nur noch als „Legende“ auffassen.76 Wie schnell die Verklärung Jesu dann geradezu fantastischen Auslegungen anheimfällt, dokumentiert Bultmann selbst in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ (S. 278ff ). Will man mit den Berichten des NT in Übereinstimmung bleiben, dann wird man am Realcharakter des Geschehens (auch unter der Voraussetzung, dass es eine Vision war) festhalten müssen.77 3. Zentraler Vorgang ist die Bestätigung der Passion. Was in Mt 16,21ff von den Jüngern noch abgelehnt wurde, ist der richtige Weg. Nach Mt 3,13ff erhält Jesus zum zweiten Mal von Gott dem Vater den Auftrag zum Sühnetod. Die Jünger werden angewiesen, „auf ihn zu hören“. 4. Mose und Elia bestätigen ihrerseits seinen Weg. Sie sprechen die Sehnsucht aller Gerechten des Alten Bundes nach der endgültigen Erlösung aus.78 Das Wunder ihrer Erscheinung wird nicht näher erklärt.79 Eins aber ist deutlich: Sie sind keineswegs gleichrangig mit Jesus. Jesus als Gottes Sohn steht weit über ihnen (vgl. Hebr 2,5ff; 3,1ff; 1,1ff ). Mit Recht rühmt deshalb Petrus seine μεγαλειότης [megaleiotēs] (2Petr 1,16ff ). 5. Wir bemerken noch, dass sich die Berufung auf Jesaja auch in Mt 17,5 spürbar macht. Über Mt 1,22f; 2,23; 3,17; 4,14ff; 11,5; 12,17ff; 15,7f; 17,5 zieht sich diese Linie durchs ganze Evangelium.

72 73 74 75 76 77 78 79

Lex kath Dogm 381. KD I/2 24. A.a.O. 24f. Bultmann, NuM, 18. Bultmann, Gesch, 278. Ebenso Bonnard 256f; Hagner II 498; Carson 383ff. Vgl. Zahn 564. Die Untersuchungen über Entrückung oder Wiederkunft Moses tragen deshalb nicht viel aus. Vgl. aber Strack-Billerbeck I 753f.

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5. Die Frage nach Elia, 17,10-13 I Übersetzung 10 Und die Jünger fragten ihn: Warum sagen nun die Schriftgelehrten, Elia müsse zuerst kommen? 11 Er aber gab zur Antwort: Elia kommt zwar und wird alles wiederherstellen. 12 Ich sage euch aber: Elia ist schon gekommen, aber sie haben ihn nicht erkannt, sondern mit ihm gemacht, was sie wollten! So wird auch der Menschensohn von ihnen leiden müssen.1 13 Da verstanden die Jünger, dass er zu ihnen von Johannes dem Täufer gesprochen hatte.

II Struktur Hier handelt es sich sozusagen um ein Jüngergespräch „in Reinkultur“. Die Jünger stellen eine Frage (V. 10), Jesus antwortet (V. 11-12), die Jünger gelangen zum Verständnis (V. 13). Ob man V. 9 als Einleitung zu V. 10ff ziehen will oder als Schlussnotiz zu V. 1ff, ist eine offene Frage.2 Aus unserer Sicht liegt Letzteres näher, weil das Schweigegebot inhaltlich eng mit der Verklärung verbunden ist und genau genommen mit der Eliadiskussion von Mt 17,10ff wenig zu tun hat. Gegen V. 14ff ist unser Abschnitt klar abgegrenzt. Nur Markus hat einen Parallelbericht zu Mt 17,10-13 (9,11-13). Weshalb Lukas hier ausfällt, wird man nicht erklären können.

III Einzelexegese Nach V. 10 liegt die Initiative bei den Jüngern.3 Sie nehmen nun an, dass Jesus der Messias ist. Aber was ist mit dem Vorläufer des Messias? Seit Mt 11,14ff hat sich die Situation durch Mt 16,1-4.5-12.13-20.21-23.24-28; 17,1-9 enorm gewandelt, und ein reiner Rückverweis auf Mt 11 genügt nicht. Sie setzen an bei dem, was sie selbst in den Synagogen gelernt haben: Die Schriftgelehrten sagen, Elia müsse zuerst kommen (Ἠλίαν δεῖ ἐλθεῖν πρῶτον [Ēlian dei elthein prōton]). Warum sagen sie das? Ist es denn richtig? Das griech. οὖν [oun] bezieht sich zurück auf das vorhergehende Ereignis4 der Verklärung und bekommt demnach den Sinn: „Wenn du nun zweifelsfrei der Messias bist, muss dann nicht Elia zuerst (πρῶτον [ prōton]) kommen? Oder 1 2 3 4

Vgl. BDR § 356. Vgl. Hagner II 496. Ob αὐτοῦ ursprünglich ist, lässt sich von den Handschriften her kaum entscheiden. Vgl. Bauer-Aland 1200; BDR § 451,1.

5. Die Frage nach Elia, 17,10-13

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irren die Schriftgelehrten? Wie recht sie mit dem Hinweis auf die Schriftgelehrten (γραμματεῖς [grammateis])5 hatten, zeigt 1) Sir 48,10, das von einer Wiederkehr Elias handelt, und 2) die alte, noch vor die Zeit Jesu zurückreichende mischnische Überlieferung in Edijoth VIII, 7. Zuerst, πρῶτον [ prōton], bedeutet ein Kommen vor dem Messias. Es ist biblisch unzweifelhaft in Mal 3,23f begründet. Wie steht es nun damit? Vermutlich haben diejenigen Kommentare recht, die hinter Mt 17,10 einen Einwand der damaligen Schriftgelehrten gegen Jesus sehen, der seinen Jüngern zu schaffen machte.6 Jesu Antwort7 in V. 11f liegt grundsätzlich auf der Linie der Schriftgelehrten. Er geniert sich nicht, ihnen recht zu geben: Elia kommt8 zwar (μὲν ἔρχεται [men erchetai]) und wird alles wiederherstellen. Auch wenn das πρῶτον [ prōton] (kommt zuerst) ursprünglich nicht in V. 11 stand, ist der Sinn doch klar: „Freilich kommt Elia zuerst.“9 Was heißt ἀποκαταστήσει [apokatastēsei] (er wird alles wiederherstellen)? Denkbar sind die Übersetzungen10 „heilen“, „in den richtigen Zustand versetzen“ oder eben „den gottgefälligen Zustand wiederherstellen“. Wir bevorzugen die weitere, letztere Bedeutung und übersetzen demgemäß mit wiederherstellen. In Mal 3,23 (ἀποκαταστήσει [apokatastēsei]) geht es zwar um den ethischen Kernbereich der Familie. Ist aber dieser Kernbereich durch Buße und Gehorsam wieder in Ordnung, dann wird auch das übrige Leben in Ordnung kommen.11 Wenn Jesus hier von ἀποκαταστήσει πάντα [apokatastēsei panta] spricht, dann meint er nicht die politisch-messianische Wiederherstellung Israels, sondern die durch Buße geänderte Lebenspraxis.12 Es ist hochinteressant, dass die alte mischnische Überlieferung der Rabbinen in Edijot VIII, 7 dasselbe erwartet: „Die Weisen sagen: … Frieden unter ihnen zu stiften.“ Mit dem Ich sage euch aber in V. 12 formuliert Jesus nicht einen Widerspruch zu den Schriftgelehrten, sondern trifft eine geschichtliche Feststellung: Elia ist schon gekommen (Ἠλίας ἤδη ἦλθεν [Ēlias ēdē ēlthen]). Wie das? Wir erinnern uns an Mt 11,14, wo Jesus über Johannes den Täufer sagt: „Er ist 5 Nicht „Toragelehrte“ oder „Gesetzeslehrer“ (das wären νομοδιδάσκαλοι) wie BGS oder Gute Nachricht übersetzen. 6 So z.B. Bonnard 256; Hagner II 497; Luz II 512; Beare 366; J. Jeremias, Art. Ἡλ(ε)ίας, ThWNT, II, 1935, 939. 7 Zum Formalen vgl. 12,39; 16,2. 8 Zum Präsens vgl. BDR § 323,1. 9 Vgl. Zahn 566,10. BasisBibel; NGÜ: „Es stimmt zwar“. 10 Vgl. Bauer-Aland 183; A. Oepke, Art. ἀποκαθίστημι usw., ThWNT, I, 1933, 386ff. 11 Vgl. Maier, Haggai/Maleachi, 203. 12 Oepke a.a.O. 388; BasisBibel: „alles für Gott bereitmacht“; J. Jeremias, Art. Ἡλ(ε)ίας, ThWNT, II, 1935, 940; Zahn 566. Anders Fiedler 296; Cullmann 21.

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Elia, der kommen soll.“ Auch für die Apostel mussten mache Aussagen wiederholt werden, bis sie endlich begriffen. Oft werden Mt 11,14 und 17,12 als Widersprüche zu Joh 1,21 empfunden, wo Johannes auf die Frage: „Bist du Elia?“ die Antwort gibt: „Ich bins nicht (οὐκ εἰμί [ouk eimi]).“ Man muss jedoch berücksichtigen, dass die Feststellung „Johannes ist der Elia von Mal 3,23f “ erst am Schluss seines Lebens getroffen werden konnte. Sie ist keine propagandistische Erklärung für den Anfang seines Wirkens. Er hätte ja ohne Weiteres untreu werden können. So wehrt er am Anfang bescheiden ab: „Ich bins nicht.“ Es ist dieselbe Bescheidenheit, die Jesus davon abhielt, sich vorschnell als Messias propagieren zu lassen (Mt 8,4; 9,30; 12,16; 16,20; 17,9). Zurück zu Jesus: Er stellt fest, dass Elia schon gekommen ist, fügt aber sofort hinzu: sie haben ihn nicht erkannt, sondern mit ihm gemacht, was sie wollten. Sie ist unbestimmt. Es meint alle damals verantwortlichen Zeitgenossen. Damit fällt Fiedlers anklagende Geschichtskonstruktion,13 wonach Matthäus gegen die geschichtliche Wahrheit die „Schriftgelehrten und ihre Komplizen“ – sein ständiges „Feindbild“ – mit der Verantwortung für den Tod des Täufers belaste, in sich zusammen. Warum erkannte14 man den Elia im Täufer nicht? Weil Israel „die Zeichen der Zeit“ nicht erkannte (Mt 16,3; Lk 19,41ff; 23,27ff ). Eine ungeheure Tragödie liegt über dem Israel jener Tage (vgl. Röm 9,1ff ), die uns Christen den Mund verstopft. Sie haben mit ihm gemacht, was sie wollten: Jetzt bewährt sich unsere Exegese. Denn sie haben gemacht schließt die ganze Geschichte jener Zeit ein: die Ablehnung des Johannes durch die Autoritäten an der Spitze (Mt 21,28ff ), die Verhaftung durch die Herodianer und seine Hinrichtung (Mt 14,3ff ). Diese Beobachtung darf aber nicht zudecken, dass durch Johannes in einem weiten Bereich alles wiederhergestellt wurde: unzählige Menschen, die sich der Jordantaufe unterzogen (Mt 3,5ff ), viele Jünger, die Jesus durch Johannes zugeführt wurden (Joh 1,35ff ), Tausende, die Jesus zuströmten (Mt 4,23ff; 14,12ff ). Jesu Urteil, dass der Täufer der angekündigte Elia sei, ist also begründet.15 Mehr noch: Der Täufer ist ein Modell dessen, was mit dem Messias geschieht. So wird auch der Menschensohn (= Jesus) von ihnen leiden müssen heißt zunächst: Der Messias teilt den Leidensweg seines Vorläufers. Johannes bringt für Jesus die zusätzliche Gewissheit, dass er leiden muss (μέλλει πάσχειν [mellei paschein]). Wie alle Propheten Israels von ihnen, das heißt von den Autoritäten Israels, gelitten haben (1Kön 19,2ff; Jes 7–8; Jer 15,15; Hes 3,7ff; Am 7,10ff; 13 Fiedler 296. 14 ἐπέγνωσαν (Kompositum!) hat geradezu den Sinn: „identifiziert“. 15 Ebenso Zahn 566; Carson 389.

5. Die Frage nach Elia, 17,10-13

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Mal 3,13ff ),16 so wird es auch Jesus gehen (vgl. Lk 13,33). Im Grunde gehört Mt 17,12 zu den Leidensweissagungen. Mt 17,12 klingt so, als seien die Jünger über den Leidensweg Jesu immer noch beunruhigt gewesen.17 Aber jetzt verstanden die Jünger,18 was Jesus meinte (V. 13). Sie wussten jetzt, dass er von Johannes dem Täufer gesprochen hatte. Der Weg zu diesem Verständnis war durch ein Dreifaches gebahnt: 1) Durch die frühere Aussage Jesu in Mt 11,14, 2) durch die in Lk 1,17.76f enthaltene Überzeugung, dass Elia nicht leibhaftig, sondern „in Geist und Kraft“ wiederkehre, 3) durch die Einsicht, dass jeder Bußprediger, also auch der zweite Elia (Lk 1,17.77), an der Ablehnung der Menschen scheitern kann. Auch die göttliche Sendung nach Mal 3,23f bedeutet keine Erfolgsgarantie.19 Siehe auch noch Mt 13,51; 16,12 zum wachsenden Verständnis der Jünger.20

IV Zusammenfassung 1. Mt 17,10-13 zeigt, welche Möglichkeiten die Jüngerlehre, speziell die „Meister-Jünger-Gespräche“,21 boten. 2. Mt 17,10-13 untermauert, dass „die ersten Christen … im Täufer den … Vorläufer des Messias gesehen haben“.22 Diese Anschauung geht auf Jesus selbst zurück. 3. Von den Tagen Jesu an, aber auch noch spürbar bei Justinus Martyr im 2. Jh. (Dial c Tryph 49,3ff ),23 lautete einer der Einwände gegen die Messianität Jesu, dass doch der zweite Elia nach Mal 3,23f noch gar nicht gekommen sei. 4. Solche jüdischen Einwände muss man ernst nehmen. Aber die breite Bußbewegung, die Johannes auslöste, sein klares Zeugnis für Jesus als den Messias, das Jesus viele Jünger zuführte, und sein Martyrium in der Leidensnachfolge der Propheten Israels zeigen, dass Jesus recht hatte, wenn er ihn als den wiederkehrenden Elia bezeichnete. 5. Jesus sieht sich selbst in der Leidensnachfolge der Propheten. Auch das Geschick des Johannes wird ihm zu einer Weissagung auf sein eigenes Leiden.

16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. zu den Prophetenmorden Cullmann 21. Jeremias a.a.O. 939. Wenigstens die drei von Mt 17,1-9 (Schlatter 268). Vgl. Schlatter 269. Vgl. ferner Carson 389. Riesner 465. Cullmann 25. Vgl. Hagner II 497.

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6. Zweifel historischer Art an dem Bericht Mt 17,10ff; Mk 9,11ff24 konnten bis heute nicht ausreichend begründet werden.25

6. Die Heilung eines mondsüchtigen Jungen, 17,14-21 I Übersetzung 14 Und als sie zur Volksmenge kamen, näherte sich ihm ein Mann, fiel vor ihm auf die Knie 15 und sagte: Herr, erbarme dich über meinen Sohn. Denn er ist mondsüchtig und leidet schwer. Denn oft fällt er ins Feuer und oft ins Wasser. 16 Und ich habe ihn zu deinen Jüngern gebracht, aber sie konnten ihn nicht heilen. 17 Jesus aber gab zur Antwort: O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Wie lange soll ich noch bei euch sein? Wie lange soll ich euch noch ertragen? Bringt ihn hierher zu mir! 18 Und Jesus richtete sein Machtwort an ihn, und der Dämon fuhr aus von ihm, und der Junge war von jener Stunde an geheilt. 19 Darauf kamen die Jünger zu Jesus, als sie allein waren, und fragten: Warum konnten wir ihn nicht austreiben? 20 Er aber sagt zu ihnen: Wegen eures Kleinglaubens. Denn amen, ich sage euch: Wenn ihr Glauben hättet auch nur wie ein Senfkorn, könntet ihr zu diesem Berge sagen: Versetz dich von hier nach dort!, und er wird sich versetzen. Und nichts wird euch unmöglich sein. (Über V. 21 siehe zu II.)

II Struktur Hier laufen Matthäus (17,14-21), Markus (9,14-29) und Lukas (9,37-43) wieder parallel. Überhaupt konstatieren wir eine auffällige Parallelität aller drei seit dem Messiasbekenntnis (vgl. Mt 16,13–17,21 mit Mk 8,27–9,29; Lk 9,1843). Es scheint, dass es schon in der mündlichen Katechese der ersten Christen ganze Erzählblöcke gegeben hat, in deren Form die Jesusgeschichte weitergegeben wurde. Der Bericht von der Heilung eines mondsüchtigen Jungen weist einige Besonderheiten auf. Dazu zählen: 1) die Rolle des Vaters, der mehrfache Versuche unternimmt; 2) die Rolle der Jünger, die zur Heilung unfähig sind; 3) der Ausruf Jesu über das ungläubige Geschlecht; 4) das Glaubensgespräch 24 So Bultmann, Gesch, 131f.178; Beare 366, Fiedler 296f. 25 Vgl. Hengel-Schwemer 306.338.

6. Die Heilung eines mondsüchtigen Jungen, 17,14-21

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mit dem Vater in Mk 9,21-24, das auffälligerweise bei Matthäus und Lukas fehlt; 5) das an die Heilung anschließende Jüngergespräch „als sie allein waren“, bei Matthäus und Markus; 6) die Unsicherheit über den ursprünglichen Platz bestimmter Worte, so über den Senfkornglauben (bei Lukas in 17,6) und über Beten und Fasten. Deshalb ist es auch unsicher, ob zu Matthäus ursprünglich ein Vers 21 gehört hat. Im Blick auf die Zwei-Quellen-Theorie ist es interessant, dass Matthäus und Lukas gerade das Glaubensgespräch mit dem Vater (Mk 9,21-24) nicht übernommen haben. Wäre nicht eine andere Vorlage als Markus für diese beiden zu vermuten, falls sie überhaupt eine gemeinsame schriftliche Vorlage gehabt haben sollten? Und warum soll ausgerechnet der so eminent auf den Glauben konzentrierte Matthäus dieses Glaubensgespräch ausgelassen haben, wenn er es bei Markus vorfand? Eine Markus-Benutzung an dieser Stelle durch Matthäus ist jedenfalls sehr unwahrscheinlich.1 Die Überschriften schwanken. Zum Teil wird auf das Glaubensthema abgehoben: „Mangelndes Vertrauen“2 oder „Jesus heilt ein Kind und fordert zum Vertrauen auf “.3 Andere betonen die Besessenheit.4 Auch mit Blick auf Mt 4,24 blieben wir bei der Überschrift „Die Heilung eines mondsüchtigen Jungen“.5

III Einzelexegese V. 14 setzt ein beim Abstieg vom Berg der Verklärung (vgl. Lk 9,37). Nach Vollendung des Abstiegs stoßen Jesus, Petrus, Jakobus und Johannes (V. 1) auf eine Volksmenge. Sie war angezogen worden durch einen Heilungsversuch der zurückgelassenen Jünger. Vermutlich stützten sich Letztere dabei auf die Anweisung aus Mt 10,18. Es ist interessant, dass Jesus mit den Seinen noch immer große Massen anzog (ὄχλος πολύς [ochlos polys] Mk 9,14; Lk 9,37). Aus der Menge löste sich ein Mann6 und fiel vor Jesus auf die Knie (oder: „er bat ihn kniefällig“). Siehe auch Mt 8,2; 9,18; Mk 10,17. Seine Bitte Herr, erbarme dich (V. 15) findet sich an vielen Stellen des Evangeliums (vgl. Mt 9,27; 15,22; 20,30f; Lk 17,13; 18,38). Ähnliche Bitten begegnen uns in den Psalmen (6,3; 9,14 usw.). Menschen, die Jesus so anriefen, rechneten mit einer göttlichen Kraft in ihm. In der Tat war er ein Messias der Barm1 2 3 4 5 6

Vgl. Carson 390; Luz II 520. Gute Nachricht. BasisBibel. Vgl. Schlatter 269; France 265; Luz II 518. Neue Jerusalemer Bibel; Aland Syn; NGÜ; Fiedler 297. Ebenso Einheitsübersetzung; Lutherbibel. ἄνθρωπος hat hier die Bedeutung „Mann“, Bauer-Aland 135.

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herzigkeit. Die griech. Worte κύριε ἐλέησον [kyrie eleēson] („Kyrie eleison“) sind zu einem Grundelement unserer christlichen Liturgie geworden. Der Mann sucht Hilfe für seinen Sohn. Nach Lk 9,38 ist es der einzige Sohn. Der Vater schildert seine Not: er ist mondsüchtig und leidet schwer. Denn oft fällt er ins Feuer und oft ins Wasser. Die anderen Evangelien berichten ausführlicher (Mk 9,17-18; Lk 9,39). Es fällt auf, dass Matthäus in V. 15 den Dämon noch nicht erwähnt. Daraus kann man mit Luz auf eine gewisse Zurückhaltung des Matthäus gegenüber dem Gebiet des Dämonischen schließen,7 auch wenn es übertrieben ist zu sagen: „Matthäus hat offensichtlich Exorzismen nicht sehr geliebt.“8 Mondsüchtig bedeutet, auf den Einfluss des Mondes zu reagieren, evtl. schlafzuwandeln. Das unbeabsichtigte fallen9 in Feuer und Wasser – beides kann zu Hause, aber auch außerhalb des Hauses sein – erinnert an epileptische Vorgänge. Das kommt bei Markus und Lukas noch stärker zum Ausdruck. Dennoch sollte man mit der Diagnose „Epilepsie“ vorsichtig sein.10 Denn das wesentliche Merkmal beim Leiden des Jungen ist nach allen Berichten die Besessenheit durch einen Dämon, der demnach auch für die Mondsüchtigkeit verantwortlich ist. Mit Bauer-Aland11 spricht man deshalb besser von „epileptischen Symptomen“. Siehe auch Mt 4,24. Die Hoffnung des Mannes waren zunächst die Jünger (V. 16): Und ich habe ihn zu deinen Jüngern gebracht. Ein solcher Schritt setzt voraus, dass Jesu Jünger zuvor tatsächlich Heilungen vollbracht haben. Dies entspricht Mt 10,8 und spiegelt sich in Lk 10,17: „Herr, auch die Dämonen sind uns untertan in deinem Namen.“ Jetzt aber versagten sie: sie konnten ihn nicht heilen (οὐκ ἠδυνήθησαν αὐτὸν θεραπεῦσαι [ouk ēdynēthēsan auton therapeusai]). Dass sich sogar „Schriftgelehrte“ an diesem Punkt einmischten und über dieses Defizit diskutierten (Mt 9,14ff ), lässt Matthäus weg, weil er rasch auf andere wichtige Ereignisse zugehen will. Wäre Matthäus jener Polemiker und Pharisäerfeind gewesen, als den ihn Fiedler darstellt,12 dann hätte er den Streit mit den Schriftgelehrten wohl kaum ausgelassen. Über den damaligen Vorfall hinaus gibt uns Mt 17,16 manches zu denken. Leiden wir nicht auch heute am wiederholten Versagen von Christen? Verfolgt uns dieses sie konnten nicht nicht innerhalb und außerhalb der Kirche? Stehen wir in der öffent7 8 9 10 11

Luz II 521. Luz a.a.O. Vgl. W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, 163. Gegen Luz II 521f; Schniewind 194; Beare 368. Bauer-Aland 1493. Vgl. France 265. Vorsichtig auch Strack-Billerbeck I 758, die auf b Ket 60b hinweisen. 12 Zum Beispiel Fiedler 128.149.151.160.296.

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lichen Diskussion nicht immer wieder beschämt da? Unser Herr ist allmächtig, wir nicht. Das müssen wir zu unserer Demütigung immer wieder lernen. Im AT vgl. 2Kön 4,31. Wie so oft, überrascht uns die Antwort, die Jesus hier gab: O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Verkehrt, διεστραμμένος [diestrammenos], ist ein Mensch, der nicht mehr den geraden Weg des Gehorsams gegen Gott geht.13 Die Redewendung vom verkehrten Geschlecht geht zurück auf Deut 32,5.20.14 Von da her ist klar, dass es sich um Angehörige Israels als des auserwählten Volkes handelt, die jetzt dem Willen Gottes widerstreben. Was ist der Wille Gottes in den Tagen Jesu? Dass man Jesus und seiner Macht wahren Glauben schenkt, ihm ganz und gar vertraut. Weil dies nicht geschieht, spricht Jesus von einem ungläubigen (ἄπιστος [apistos]) Geschlecht. Nun lässt sich erkennen, was mit dem Geschlecht (γενεά [genea], hebr. ‫[ דּוֹר‬dōr]) gemeint ist: nicht das Menschengeschlecht, nicht das ganze Judentum, nicht das Zeitalter, sondern die damaligen Zeitgenossen,15 sofern sie ungläubig sind. Weder will Jesus speziell die versagenden Jünger verurteilen,16 noch speziell den Vater beschuldigen, sondern den Unglauben unter allen seinen jüdischen Zeitgenossen beklagen – und an diesem Unglauben kann sowohl der Vater (vgl. Mk 9,23f ) als auch sein eigener Jüngerkreis teilhaben (vgl. Mt 17,19f ).17 Diese Worte sind Klage und Warnung zugleich. Die Klage18 setzt sich fort mit den Ausrufen: Wie lange soll ich noch bei euch sein? Wie lange soll ich euch noch ertragen? Wie lange? ist in Num 14,27 Gottesklage und immer wieder die Klage der Psalmbeter (Ps 4,3; 13,1.2 usw.). Sie enthält die Bitte, dass Gott diesen Zustand ändert. Bei euch sein kann wohl nur so verstanden werden, „daß ihm die Zeit, da er mit solchen Leuten zu schaffen hat, lang wird“.19 Die Passion Jesu bestand eben nicht nur aus Blut und Dornen, sondern auch aus dem geistlichen Leiden des Gottessohnes unter einem Geschlecht von Sündern. Das wird in der zweiten Frage Wie lang soll ich euch noch ertragen?20 noch anschaulicher. Denn ertragen, 13 Vgl. Apg 13,10; Bauer-Aland 379; G. Bertram, Art. πίπτω usw., ThWNT, VII, 1964, 717f. 14 Strack-Billerbeck I 758; Bertram a.a.O. 717 sowie G. Bertram, Art. σκολιός, ThWNT, VII, 1964, 408. 15 F. Büchsel, Art. γενεά usw., ThWNT, I, 1933, 661. Vgl. Bauer-Aland 308; Luz II 522; Zahn 567. 16 So aber Fiedler 298. 17 Ebenso France 266. 18 Nicht „Polemik“, wie Hengel-Schwemer 471 meinen. 19 Zahn 567. Ähnlich Schlatter 270. 20 Vgl. BDR § 176,1.

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„aushalten“ muss man Unverstand (2Kor 11,1.19), Nöte (2Thess 1,4), kurzum: Das, was uns das Leben schwer macht.21 Und im Leben Jesu war es vor allem der Unglaube (vgl. Mt 8,10). Bei Jesus gibt es jedoch kein Beleidigtsein, keine Verbitterung, keinen Rückzug aus Enttäuschung. Er bleibt der barmherzige Hirte, der mitten in jener verworrenen Situation sagen kann: Bringt ihn [= den Sohn des bittenden Vaters] hierher zu mir! Er drängt sich also nicht in den Knäuel der Anwesenden,22 sondern testet das Vertrauen durch die Aufforderung, den Kranken zu ihm zu bringen. Äußerst knapp berichtet V. 18 die Heilung: Und Jesus richtete sein Machtwort (ἐπετίμησεν [epetimēsen]) an ihn, und der Dämon fuhr aus von ihm, und der Junge war von jener Stunde an geheilt: Matthäus erzählt nicht einmal das Hereinbringen. V. 18 macht jetzt aber klar, dass ein Dämon (δαιμόνιον [daimonion]) die Ursache der Krankheit war. An ihn richtete Jesus sein Machtwort, das in Mk 9,25 ausführlich geschildert wird. Vor allen Augen- und Ohrenzeugen wird seine hoheitliche Vollmacht offenbar. Der Dämon muss weichen. Unmittelbar danach (von jener Stunde an) war der Junge geheilt. Nichts weiter! Markus und Lukas sind auch da wieder ausführlicher. Siehe auch Mt 8,13; 9,22; 15,28. Matthäus erzählt keine Reaktion der Anwesenden. Zielbewusst geht er in V. 19-20 sofort auf das anschließende Jüngergespräch zu (ebenso Mk 9,28f ). Darauf23 kamen die Jünger zu Jesus, als sie allein waren, und fragten: Warum konnten wir ihn nicht ausstreiben? (V. 19). Wo sich Jesus und die Jünger inzwischen befanden, wird nicht gesagt. Markus spricht nur von einem Haus (9,28). Es musst irgendwo zwischen Cäsarea Philippi und Galiläa gewesen sein (vgl. V. 22). Wir beobachten, dass von Cäsarea Philippi an die Jüngergespräche und die Jüngerunterweisungen zunehmen (vgl. Mt 16,21ff; 17,1ff.10ff.19f.22f. 25ff; 18,1ff.15ff.21ff; 19,23ff.27ff ). Die Kirche, die Jesus gründen will, bereitet sich vor. Warum …? Dass diese Frage die Jünger umtreibt, und zwar gerade nach Mt 10,1.8, ist verständlich. Halten wir immerhin fest, dass sie ohne Winkelzüge und Entschuldigungen zugeben, dass sie den Dämon (auch sie gehen von einem Dämon aus!) nicht austreiben konnten. 21 Vgl. H. Schlier, Art. ἀνέχω usw., ThWNT, I, 1933, 360f; Eph 4,2; Kol 3,13 sowie Mt 12,39.45; 16,4; Phil 2,15. 22 Tasker 168: Eine „scene of confusion“. 23 τότε hat hier zeitlichen Charakter.

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Neben V. 18 ist V. 20 der zweite Gipfel des Abschnittes. Dass die Ausleger aller Zeiten dies deutlich empfunden haben, zeigt die relativ große Menge der Varianten in den Handschriften. Dabei wollen die Einfügungen Ἰησοῦς [Iēsous] und εἶπεν [eipen] das Gewicht der Aussage unterstreichen. Die direkte Antwort auf die Jüngerfrage steht an der Spitze: Er aber sagt zu ihnen: Wegen eures Kleinglaubens. Es gibt zu denken, dass ein Gelehrter wie Theodor Zahn hier ἀπιστία [apistia], „Unglauben“, für ursprünglich hält.24 Erst später sei das mäßigende „Kleinglauben“ (ὀλιγοπιστία [oligopistia]) eingedrungen. Heute argumentiert man umgekehrt.25 Carson hat die Gründe zusammengestellt: 1) Als Hapaxlegomenon war ὀλιγοπιστία [oligopistia] eher in Gefahr, durch einen anderen Ausdruck ersetzt zu werden; 2) ὀλιγόπιστος [oligopistos] ist typisch matthäische Redeweise; 3) V. 17 mit seinem ἄπιστος [apistos] konnte in V. 20 leicht zur Umformulierung ὀλιγοπιστία ¦ ἀπιστία [oligopistia ¦ apistia] führen.26 So stark diese Argumente in Verbindung mit Sinaiticus und Vaticanus als Textzeugen für ὀλιγοπιστία [oligopistia] sind, so bleibt doch ein Rest von Unsicherheit, ob Jesus tatsächlich an dieser Stelle von „Kleinglauben“ sprach. Wir gehen im Folgenden jedoch ebenfalls vom Kleinglauben aus. Das griech. Wort ὀλιγοπιστία [oligopistia], nur hier im NT, fehlt wie das Adjektiv ὀλιγόπιστος [oligopistos] im Allgemeingriechischen.27 Die Wortgruppe ist in der Tat typisch für Matthäus (6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20). Als ‫[ ְקַט ֵנּי ֲאָמָנה‬qethannē ’amānāh] erscheint sie aber auch im Talmud.28 Was Jesus sagte, war deshalb den Jüngern verständlich. Kleinglaube muss sorgfältig vom „Unglauben“ unterschieden werden. Letzterer bedeutet ein Fehlen oder eine Ablehnung des Glaubens. Kleinglaube dagegen bedeutet, dass zu wenig oder ein nur mangelhafter Glaube vorhanden ist. Die Jünger waren also nicht völlig glaubenslos, aber sie hatten nicht so viel Vertrauen, wie es für eine Heilung nötig gewesen wäre. Jesus ergreift die Gelegenheit, das Glaubensgespräch noch ein Stück weiter zu führen. Aus diesem Glaubensgespräch berichten Matthäus und Markus (9,29) jeweils verschiedene Stücke. Matthäus zufolge sagte er: Denn amen, ich sage euch: Wenn ihr Glauben hättet auch nur wie ein Senfkorn, könntet ihr zu diesem Berge sagen: Versetz dich von hier nach dort!, und er wird sich versetzen. Und nichts wird euch unmöglich sein. Wir haben hier 24 25 26 27 28

Zahn 567,14. Ebenso C.-H. Hunzinger, Art. σίναπι, ThWNT, VII, 1964, 289,30. So Nestle-Aland 28; Aland Syn; Schniewind 195; Hengel-Schwemer 474; Carson 392. Carson a.a.O. R. Bultmann, Art. πιστεύω usw., ThWNT, VI, 1959, 205. So b Sota 48b, vgl. Strack-Billerbeck I 438f.

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ein Rätsel- oder Geheimniswort vor uns, bis heute schwer begreiflich.29 Vermutlich hat es Jesus auch absichtlich als ein Wort des Geheimnisses gesprochen. Wir können Folgendes feststellen: 1) Jesus hat dieses oder ähnliche Worte mehrfach gesagt (Mt 21,21; Mk 11,23; Lk 17,6); 2) Paulus hat dieses Wort vom bergversetzenden Glauben gekannt (1Kor 13,2). Nun wird in der Literatur geltend gemacht, dass ja auch der Senfkornglaube ein „kleiner“ Glaube sei.30 Die Gegenüberstellung von „Kleinglauben“ und „Senfkornglauben“ sei „auf den ersten Blick verwirrend“.31 Aber doch nur auf den ersten Blick. Denn der Senfkornglaube gehört in eine andere Kategorie. Es ist hilfreich, an dieser Stelle einen Blick auf Jakobus 1,6-8 zu werfen. Jakobus weist ja eine besondere Nähe zu Matthäus und Jesus auf.32 In Jak 1,6-8 wird wahrer Glaube durch zweierlei verhindert: Zweifel und Zwiespältigkeit (διακρινόμενος [diakrinomenos], δίψυχος [dipsychos]). Man kann Jak 1,6-8 direkt auf Jesus in Mt 17,20; 21,21 zurückführen.33 In der Anwendung auf Mt 17,20 ergibt sich als Fazit: Kleingläubig waren die Jünger, weil ihnen das ungebrochene Vertrauen und die ungeteilte Hingabe fehlten. Wenn sie aber beides hätten, und sei es auch nur so viel wie ein Senfkorn, dann könnten sie Berge versetzen. Was bedeutet der Vergleich mit dem Senfkorn? Volkstümlich galt das Senfkorn als das kleinste Samenkorn34 (vgl. Mt 13,31f ). Jesus hebt also in Mt 17,20 nicht auf einen „großen Glauben“ ab, sondern benutzt eine „Bezeichnung der geringsten Quantität“,35 um nur das eine zum Ausdruck zu bringen: Es muss wahrer, ungebrochener, ungeteilter Glaube sein.36 Als Ausleger muss man an dieser Stelle sagen: Einen solchen ungebrochenen Glauben haben wir Menschen nie. Nur über die Erlösung können wir in eine Glaubensgemeinschaft mit dem dreieinigen Gott hineinfinden (Joh 20,28f; Röm 5,1ff ). Zum Berge versetzen gibt es zwei Verstehensmöglichkeiten, die wir hier offenlassen wollen. Die eine geht davon aus, dass es sich um eine sprichwörtliche Wendung handelt. Strack-Billerbeck haben zu dieser Wendung „Berge entwurzeln“ oder „Berge ausreißen“ einiges rabbinische Material zusammengestellt.37 Ihnen zufolge bedeutet sie so viel wie „unmöglich Scheinendes 29 30 31 32 33 34

Hengel-Schwemer 474. Luz II 524. Luz a.a.O. Maier, Jak, 7ff. Maier, Jak, 63f. Vgl. aber auch Mk 11,23. Hunzinger a.a.O. 287.289; Bauer-Aland 1502. Vgl. Zohary 93; O. Michel, Art. κόκκος usw., ThWNT, III, 1938, 811. 35 Hunzinger a.a.O. 289. 36 Stuhlmacher I 90: Dieser Glaube ist „nicht quantifizierbar“. 37 Strack-Billerbeck I 759. Vgl. Hunzinger a.a.O. 288.

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möglich machen“.38 Sie notieren dann ein Ereignis aus der Zeit um 90 n.Chr., bei dem Rabbi Elieser einem Johannisbrotbaum befahl, „sich mit seinen Wurzeln aus dem Erdreich loszureißen“.39 Aber mit diesem Ereignis sind wir schon bei der zweiten Verstehensmöglichkeit, wonach Jesu Worte ihr könntet zu diesem Berge40 sagen usw. unmittelbar wörtlich gemeint sind. Die Parallele in Mt 21,21 und die Wortwahl μετάβα/μεταβήσεται [metaba/metabēsetai] scheinen immerhin das wortwörtliche Verständnis leicht zu favorisieren.41 Der Schluss von V. 20 Und nichts wird euch unmöglich sein erweitert die vorhergehende Aussage ins Allgemeine. Sie bezieht sich streng auf den wahren Glauben (vgl. Mk 9,23). Wir werden hier stark an ähnliche Aussagen über das Gebet erinnert (vgl. 1Joh 3,22; Mk 11,23; Mt 7,7; 21,22; Joh 14,13f ). Der wahre Glaube erhält also Anteil an der Allmacht Gottes.42 Zu V. 21: Er lautet: „Diese Art aber fährt nur aus durch Beten und Fasten.“ Die heutigen Bibelausgaben drucken ihn nicht mehr. Denn die für höher eingeschätzten Textzeugen enthalten ihn nicht.43 Sachlich aber – und darin stimmen wir mit Hunzinger überein44 – ist dieser Vers berechtigt. Im Übrigen wird er durch Mk 9,29 als echtes Jesuswort erwiesen.45

IV Zusammenfassung 1. Auch in Mt 17,14-20 ist die Erkenntnis von Jesu einzigartiger Vollmacht die zentrale Erkenntnis. 2. Daneben wird hier die Wichtigkeit des Glaubens betont. Schon das Evangelium Jesu war ein ausgesprochenes Glaubensevangelium. Jesus dringt darauf, dass unser Glaube ungeteilt auf Gott und auf ihn setzt. Mt 17,14-20 lässt uns aber auch mit der Frage zurück, ob wir je auf Erden einen solchen ungeteilten Glauben jenseits von Zweifel und Zwiespältigkeit erlangen werden. 3. Die Sehnsucht nach einer stärker „enthusiastischen“ oder „charismatischen“ Gemeinde, die beispielsweise Luz46 zum Ausdruck bringt, leitet die Gedanken auf ein falsches Geleise. Nicht ein Mehr an Wundertaten oder an 38 39 40 41 42 43 44 45 46

A.a.O. A.a.O. Zum Hermon deutend? Vgl. Tasker 168; Zahn 567. Für sprichwörtliche Bedeutung: Michel a.a.O., Tasker 168; Strack-Billerbeck a.a.O.; Luz II 524. Vgl. Hunzinger a.a.O. 289. Aland-Aland 303. Vgl. France 266; Zahn 568f. Hunzinger a.a.O. 289. Vgl. zu Mt 17,21 noch Strack-Billerbeck I 760. Luz II 525.

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Gotteserfahrung als Krafterfahrung ist heute „dran“, sondern ein Loslassen des „Menschen im Mittelpunkt“ und ein vertieftes, biblisches Glauben und Beten. 4. Mt 17,14-20 weitet den Blick für die Passion Jesu. Jesus hat nicht nur leiblich oder seelisch gelitten, sondern auch geistig-geistlich. Die Gemeinschaft mit Sündern in einer gefallenen Welt nach dem Verzicht auf die himmlische Herrlichkeit als Gottessohn (vgl. Phil 2,5ff ) bedeutete eine für uns schlechthin unvorstellbare Erniedrigung. 5. Mt 17,14-20 gibt uns kein Recht, bei anderen einen „großen“ oder „kleinen“ oder „Senfkorn“-Glauben festzustellen. Mit Recht warnt Luz auch vor einer dogmatischen Reinkultur im Glaubensverständnis.47 Bei Gott kann sogar ein seltsamer Glaube ein großer Glaube sein (Mt 9,20ff ). Schließlich sollten wir uns mit besonderer Liebe um diejenigen kümmern, die eine „kleine Seele“ mit oft verzagtem Glauben haben (1Thess 5,14 ὀλιγόψυχοι [oligopsychoi]).

7. Zweite Leidens- und Auferstehungsweissagung, 17,22-23 I Übersetzung 22 Als sie sich in Galiläa versammelten, sagte Jesus zu ihnen: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen übergeben werden. 23 Und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auferweckt werden. Und es ergriff sie tiefe Trauer.

II Struktur Dieses Stück der Evangelienerzählung findet sich bei allen Synoptikern an genau der gleichen Stelle: nach der Heilung des besessenen Jungen (Mt 17,22-23; Mk 9, 30-32; Lk 9,43-45). Vermutlich spiegelt sich darin der tatsächliche chronologische Ablauf jener Ereignisse. Dass Matthäus auch hier kürzer ist als Markus und Lukas, verwundert uns nicht mehr. Gegenüber der ersten Leidensweissagung in 16,21 ist die zweite in 17,22f weniger umfangreich und detailliert. Der Gang nach Jerusalem und die Erwähnung der jüdischen Obrigkeiten werden nicht wiederholt. So bekommt die zweite Leidensweissagung eher den Charakter der Erinnerung an schon zuvor Gesagtes. In Lk 9,44 kommt dieser Charakter deutlich zum Ausdruck. 47 Luz II 524.

7. Zweite Leidens- und Auferstehungsweissagung, 17,22-23

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III Einzelexegese Da manches schon in der ersten Leidensweissagung 16,21 enthalten ist, können wir hier unsere Erklärung knapper fassen. Nach V. 22 befand sich Jesus mit seinen Jüngern wieder in Galiläa. Cäsarea Philippi (16,13) lag schon eine Weile hinter ihnen. Zieht man eine Linie von Mt 16,13 zu 17,1 – 17,14 – 17,22 – 19,1 – 20,17 – 20,29 hin zu 21,1ff, dann kann man das auffallende sie versammelten sich so verstehen, dass Jesus sich mit seinen Jüngern auf die letzte Reise nach Jerusalem rüstete.1 Was er sagt, knüpft an 16,21 an: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen übergeben werden. Menschensohn – Menschenhände ist sicherlich ein Wortspiel. Hier ist Jesus mit dem Menschensohn so identisch, dass jeder Versuch, darin eine andere Person zu sehen, zum Scheitern verurteilt ist. Übergeben, ausliefern schließt den Verrat mit ein (vgl. Mt 10,4), bezieht sich aber auf die Gefangennahme insgesamt. Der Gefangennahme folgt die Hinrichtung (V. 23 sie werden ihn töten) und die Auferweckung vom Tode durch Gott den Vater (er wird auferweckt werden). Wieder legt Jesus Wert darauf, dass die Auferstehung am dritten Tag geschieht. Strack-Billerbeck haben die Bedeutung des dritten Tages für die Rabbinen unterstrichen.2 Als Grundlage für Jesu Prophezeiung kommen hier vor allem Gen 22,4; Hos 6,2 und Jona 2,1 in Betracht. Und es ergriff sie tiefe Trauer: Der Kontext zeigt, dass die Trauer der Jünger vor allem zwei Gründe hatte. Erstens konnten sie den Passionsweg des Messias immer noch nicht ganz nachvollziehen. Zweitens konnten sie die Prophezeiung der Auferstehung kaum wahrnehmen.

IV Zusammenfassung 1. Die zweite Leidens- und Auferstehungsankündigung in Mt 17,22f verstärkt den Ernst der ersten in 16,21. 2. Sie zeigt, dass sich die Lehre Jesu bei wichtigen Themen wiederholte. 3. Es ist demnach unmöglich, zu behaupten, Jesus habe seinen Tod nicht vorausgewusst oder er sei nicht freiwillig in seinen Tod gegangen. 4. Schließlich beweisen Mt 16,21 und 17,22f, dass es in der Bibel echte Prophetie gibt.

1 Nicht ganz auszuschließen ist die Bedeutung „Als sie sich um Jesus zusammendrängten“. Vgl. Bauer-Aland 1586; Luz II 526,2. 2 Strack-Billerbeck I 760.

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8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27 I Übersetzung 24 Als sie aber nach Kapernaum kamen, traten die Einnehmer der Doppeldrachme an Petrus heran und sagten: Entrichtet euer Rabbi nicht die Doppeldrachme? 25 Er sagt: Doch. Und als er ins Haus kam, fragte ihn Jesus, bevor er noch etwas sagen konnte: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zölle und Steuer? Von ihren Söhnen oder von den Fremden? 26 Als er sagte: Von den Fremden, sagte Jesus zu ihm: Folglich sind die Söhne frei. 27 Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh hin ans Meer, wirf die Angel aus und nimm den ersten Fisch, der heraufkommt. Und wenn du sein Maul öffnest, wirst du einen Stater finden. Den nimm und gib ihnen den für mich und für dich.

II Struktur Mt 17,24-27 ist Matthäus-Sondergut. Das erklärt sich leicht, weil nur eine im Israelland lebende Christenheit, die zum Teil noch in den Synagogenverband eingebunden war, ein Interesse an dieser Entscheidung Jesu haben konnte. Es bestätigt sich hier die These Reinhart Hummels und anderer vom „judenchristlichen Charakter der Kirche des Matthäus“.1 Matthäus erzählt so, als erzähle er eine völlig „normale“ Geschichte. Wie wenig wunderhaft sie für ihn war, sieht man daran, dass er weder die Erfüllung des Versprechens Jesu noch eine Reaktion darauf berichtet. Dennoch bleibt die Geschichte insofern ein echter Wunderbericht, als Jesu Voraussage sich nach Ort und Zeit genau erfüllt und der galiläische Maulbrüter Tilapia galilaea diejenige Münze bringt, die man braucht. Doch welchen Platz nimmt diese Geschichte in der Makrostruktur des Evangeliums ein? Noch immer herrscht ein galiläisches Lokalkolorit. Noch immer gibt es eine gewisse Vertrautheit, einen „Draht“, zwischen Jesus/Petrus und den Bewohnern von Kapernaum. Die Szene ist so friedlich, dass man kaum glauben möchte, dass Jesus bald zu seinem Todespassa aufbricht. Und dennoch macht der Kontext eine Veränderung klar. Das Bekenntnis von Cäsarea Philippi hat die Jüngerschaft aus ihrer Umgebung herausgehoben. Das Werben um das Volk des Landes tritt allmählich zurück gegenüber der Jüngerlehre und der Vorbereitung der kommenden Kirche. Ab Kapitel 18 wird sich eben diese Jüngerlehre noch mehr entfalten, werden alle Vorbereitungen für 1 Hummel 26ff.

8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27

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den Neuen Bund getroffen. So steht Mt 17,24-27 gewissermaßen an einem sensiblen Punkt des Umschlags. Eigenartig, dass Matthäus unsere Geschichte gerade an diesen Punkt gesetzt hat. Er hätte sie ja auch woanders unterbringen können. Der sündlose, seinem Volk ergebene, seinem Volk dienende, so gar nicht revolutionäre und erst recht nicht verführerische (vgl. Mt 27,63!) Jesus tritt hier im Mittelteil des Evangeliums noch einmal vor unsere Augen. Es ist, als wolle der Galiläer Matthäus zeigen: Jesus, einer ganz von uns, und einer ganz für uns.

III Einzelexegese Um Jesu Verbundenheit mit dem Gesetz zu kennzeichnen, schrieb Dalman einst am Beginn seiner „Orte und Wege Jesu“: „Jesus … hat … auch die Tempelabgabe (2. Mos. 30,12-16), obwohl er für sich eine Ausnahme konstatierte, geleistet.“2 Wir müssen dies in der Tat für das ganze Leben Jesu voraussetzen. Man hätte ihn sonst ja einer Sünde zeihen können (Joh 8,46; vgl. Ex 30,11ff!). Doch nun zu den Einzelheiten von Mt 17,24ff. Von ihrer Wanderung nach Cäsarea Philippi (16,13ff ) kamen Jesus und seine Jünger wieder nach Kapernaum. Kapernaum war also immer noch der ständige Wohnsitz Jesu in Galiläa (vgl. Mt 4,13; 8,5; 9,1). Hier traten die Einnehmer der Doppeldrachme an Petrus heran. Demnach ist es der Monat Adar, der letzte des Jahres, in dem man die Tempelsteuer einzog.3 Im Monat darauf sollte Jesus sterben. Die Tempelsteuer wurde jeweils in der Ortsgemeinde eingezogen.4 Deshalb war der ortsansässige Petrus der erste Gesprächspartner.5 Dass die Einnehmer nach Jesus fragten – Entrichtet euer Rabbi nicht die Doppeldrachme? – beweist, dass auch Jesus unterdessen als Einwohner Kapernaums galt. Interessant ist ferner, dass Petrus zuerst nach dem gefragt wurde, was euer Rabbi tut. Im Griechischen steht διδάσκαλος [didaskalos], aber sehr wahrscheinlich ist dies nur die Übersetzung von „Rabbi“. Schüler tun, was ihr Lehrer (Rabbi) tut. Deshalb wird mit Recht zuerst die Praxis Jesu angesprochen. Die Frage Entrichtet er nicht die Doppeldrachme? erwartet eine bejahende Antwort: „Ja doch, er entrichtet sie.“6 Demnach hat Jesus die Doppeldrachme bisher auch schon bezahlt. Wenn jetzt die Frage einen leisen Zweifel enthält, dann wahrscheinlich deshalb, weil der Messiasanspruch Jesu inzwischen deutlicher geworden war. Die 2 3 4 5 6

Dalman 6. Strack-Billerbeck I 761. M. Scheq I, 3. Strack-Billerbeck I 763f. Oft allerdings wird auf den Petrus-Primat im Jüngerkreis verwiesen. Vgl. Tasker 171. BDR § 427,2.

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Doppeldrachme, griech. δίδραχμον [didrachmon], entsprach einem halben Stater.7 „Die Doppeldrachme galt bei d. Juden = ½ Sekel u. war d. Betrag d. jährl. Tempelsteuer für eine Person.“8 Zur Zeit Jesu musste gemäß Ex 30,11ff jeder Israelit von 20 Jahren an und darüber eine solche Tempelsteuer von einem halben Schekel jährlich entrichten.9 Sie diente zur Bestreitung der Kulturbedürfnisse. Befreit waren Frauen, Sklaven und Minderjährige. Ob auch Priester befreit waren, blieb umstritten.10 Wer zahlte, bekannte sich damit als Jude und als Befürworter des Tempels. Siehe auch Neh 10,33f; 2Chron 24,6.11 Im Übrigen ist Mt 17,24ff ein Beleg dafür, dass zur Zeit der Niederschrift des Matthäusevangeliums der Tempel noch stand.12 Petrus sagt: Doch. Sein ναί [nai] ist nachdrücklich, bekräftigend = „ja, in der Tat“.13 Es klingt, als wäre er erstaunt, dass jemand überhaupt eine solche Frage stellen kann (V. 25). Und als er ins Haus kam: Es ist immer noch dasselbe Haus, nämlich das der Familie des Petrus, das Jesus in Kapernaum bewohnte (vgl. Mt 4,13; 9,1; Mk 9,33). Noch bevor er etwas sagen konnte (griech. προέφθασεν [ proephthasen], „er kam ihm zuvor“)14 stellt Jesus seinerseits eine Frage, die beweist, dass er von dem Vorfall schon wusste: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zölle oder Steuer? Von ihren Söhnen oder von den Fremden? Diese Frage hat viele Facetten, von denen wir die wichtigsten notieren: 1) Jesus wechselt vom jüdischen Bereich („Didrachmon“) zum römischen und griechischen. τέλος [telos] ist der Zoll, eine indirekte Steuer, κῆνσος [kēnsos] aus dem lat. census15 die direkte Steuer, zum Beispiel die Kopfsteuer.16 2) Jesus begegnet uns auch hier nicht als weltfremde Persönlichkeit, sondern als in Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten erfahrener Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht.17 3) Er redet Petrus mit dessen Eigennamen Simon an wie in 16,17. Offenbar liegt in Simon eher eine Vertrautheit (vgl. Lk 22,31), während Petrus eher die Nähe zu einem Amtsnamen hat. 4) Die Könige auf Erden (wört7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Falsch Bauer-Aland 387. Bauer-Aland a.a.O. Strack-Billerbeck I 760. Ursprünglich eine einmalige und keine jährliche Abgabe. Strack-Billerbeck I 760ff. Zum Thema Tempelsteuer vgl. Luz II 529; b Traktat Scheqalim. France 267f. Vgl. Schniewind 196. BDR § 441,2. BDR § 101,82; Bauer-Aland 1450. BDR § 5,1. Vgl. den Art. Abgaben in GBL 1, 6f. Vgl. Schröder passim.

8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27

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lich: „die Könige der Erde“) empfindet Jesus als dem Gottesreich fremde Größen. Im Hintergrund steht die Versuchungsgeschichte in Mt 4,9ff mit dem Versprechen des Teufels, ihm „alle Reiche der Welt“ zu geben. Im Hintergrund steht auch der danielische Gegensatz von Weltreich und Gottesreich (Dan 2.7). Dennoch hält Jesus die Könige auf Erden für gleichnisgeeignet. Er polemisiert auch nicht gegen Zölle und Steuern, so wenig wie Paulus in Röm 13,1-7. 5) Weshalb Jesus hier „die private Frömmigkeit der Sozialkontrolle der Öffentlichkeit“ entziehen soll,18 bleibt unklar. Eher ist es doch so, dass Jesus in Mt 17,24-27 die private Frömmigkeit in die große Sozialstruktur der Öffentlichkeit einbringt. Der Traum von einer „privaten Frömmigkeit“ klingt eher protestantisch als jesuanisch. Klar ist, dass die Söhne (Prinzen) der irdischen Könige von den Steuern und Zöllen befreit sind. Nur von den Fremden = den nicht zur Dynastie Gehörenden werden Abgaben erhoben. Als Petrus dies in V. 26 bestätigt, zieht Jesus in der rationalen Art der Rabbinen den Schluss (ἄρα γε [ara ge]): Folglich sind die Söhne frei. An dieser Stelle wird deutlich, dass Jesus die Bilder Könige und Söhne zu einem Maschal (Gleichniswort) benutzt. Wenn die irdischen Söhne von Abgaben frei sind, um wie viel mehr die Söhne des Vaters im Himmel! Kinder Gottes sind also nicht zur Tempelsteuer verpflichtet. Obwohl hier eine gewisse Nähe zu sadduzäischen19 und essenischen (4Q 159,6f ) Anschauungen vorliegt, bleibt Jesus mit seiner Gottesreich-Verkündigung selbstständig (vgl. Mt 5,48; 7,9ff; 11,25ff ). Nestle-Aland 28 notieren als neutestamentliche Parallelstelle zu Mt 17,26 die beiden Stellen 1Kor 9,1; Gal 3,26.20 Das macht uns auf typische Missverständnisse aufmerksam. Denn die Aussage Die Söhne sind frei in Mt 17,26 ist gerade nicht die Befreiung vom Gesetz, wie sie im Galaterbrief (3,26; 5,1) dargelegt wird.21 Vielmehr regelt Jesus, was schon jetzt unter dem Gesetz gilt – und natürlich umso mehr im Neuen Bund! –, nämlich seine (als Gottes Sohn) Befreiung und die Befreiung der Jünger (als Kinder Gottes) von der Pflicht zur Tempelsteuer. Eine gewisse Parallele dazu bildet die Befreiung der Priester von dieser Steuer, wie sie in Mischna Scheqalim I,3 formuliert wird: „Man pfändet keine Priester, des Friedens wegen.“22

18 19 20 21 22

So Theißen-Merz 214. Theißen-Merz 168. Nestle-Aland 28, 56. Gegen Schniewind 196; Schlatter 274. Vgl. was Luz II 536f zur christlichen Wirkungsgeschichte berichtet.

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Wäre Jesus ein dogmatischer Purist oder Eiferer gewesen, dann wären wohl die Worte von V. 27 nie gefallen: Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh hin ans Meer …: Ein Anstoß, der andere im Gottesglauben wankend macht (σκάνδαλον [skandalon]) oder gar den Glauben an Jesus hindert, darf nicht sein.23 Schon gar nicht wegen Geld. Man erinnert sich an Schlatters Ausspruch: „Um Geld stritt Jesus nie.“ Es stehen ja doch die klaren Schriftstellen im Hintergrund, die von einer allgemeinen israelitischen Pflicht zur Tempelsteuer sprechen: Ex 30,11ff; 2Chron 24,6ff; Neh 10,33f. Diese Stellen darf und will Jesus nicht auflösen. Wenn er vom „Freisein der Söhne“ spricht, dann nur in der Beziehung, dass sie persönlich nicht unter dieses Gesetz fallen. Aber eine Privilegierung wird nicht durchgedrückt. Mit seiner Formulierung Damit wir ihnen keinen Anstoß geben steht Jesus nahe an M. Scheqalim I,3 „des Friedens wegen“. Er gibt dadurch aber auch eine Linie vor, die der angeblich so eifernde Paulus wieder und wieder einschlug (Röm 14,1ff.13.14ff; 1Kor 8,9ff; 9,1ff; 10,32f ). Ans Meer: der See Genezareth. Wirf die Angel24 aus: Petrus als Fischer hat genügend davon. Nimm den ersten Fisch, der heraufkommt: Das ist die prophetische Weisung (vgl. 1Sam 10,2ff ). Und wenn du sein Maul öffnest, wirst du einen Stater finden: ein Stater (στατήρ [statēr]), eine Silbermünze,25 entspricht vier Drachmen = zwei Doppeldrachmen und damit gerade dem Betrag der Tempelsteuer, die Jesus und Petrus zusammen zu entrichten haben. Den nimm und gib ihnen den für mich und für dich.26 Bis heute könnte Ähnliches passieren. Der St.-Peters-Fisch, Tilapia galilaea, wird bis zu 40 cm lang und bis zu 2 kg schwer.27 In der Winterzeit – der Monat Adar gehört dazu – ist er im nördlichen Teil des Sees, also auch bei Kapernaum, konzentriert.28 Er brütet seine Eier einige Zeit im Maul aus.29 Kommt er für Mt 17,27 infrage? Mendel Nun verneint es.30 Er schlägt stattdessen eine Barbe vor (Barbus longiceps, Barbus canis, Varicorhinus damascinus).31 Grundsätzlich wäre aber ein Stater im Maul bei beiden denkbar.32 Das Wunder liegt also 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Ähnlich Mt 3,15. Nach Dalman 123 die „an der Schnur ohne Rute ausgeworfene Angel“. Vgl. Schröder 86.102. BDR § 208,3. Nun 6. Nun 7. Nun 9. Nun 45ff. A.a.O. J.A.Thompson, Art. Fisch und Fischfang, GBL 1, 383 zieht offenbar den St.-Peters-Fisch vor.

8. Die Zahlung der Tempelsteuer, 17,24-27

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nicht in der Münze im Fischmaul, sondern darin, dass Jesus Zeit, Ort und Umstände wusste und prophetisch voraussagte. Was sich an das Jesuswort von V. 27 anschloss, berichtet Matthäus nicht mehr. Ohne Zweifel hat es sich erfüllt, sonst wäre Mt 17,24-27 nicht geschrieben worden. Was Mt 17,24ff insgesamt bedeutet, versuchen wir in der Zusammenfassung zu sagen.

IV Zusammenfassung 1. Mt 17,24-27 enthüllt noch einmal die Treue Jesu zu seinem Volk und zu den heiligen Schriften Israels. 2. Es zeigt noch einmal sein Werben um Israel auf. Ihm zuliebe verzichtet er auf das Sohnesrecht, von der Tempelsteuer befreit zu sein, und zahlt diese willig. 3. Sein Vorbild bleibt maßgebend für Matthäus, der sich missionarisch an die stammverwandten Juden wendet. Aus Mt 17,24-27 lässt sich ferner entnehmen, dass damals die noch im Verband Israels lebende Judenchristenheit ebenfalls die Tempelsteuer entrichtete. 4. Schon um dieses Vorbildcharakters willen sollte man den paradigmatischen Bericht nicht vorschnell in das Reich der Legende33 oder des „folktale“34 verweisen. Angesichts rationalistischer Erklärungsversuche ist auch Schniewinds Warnung35 berechtigt, das Wunder „vorschnell zu leugnen“. 5. Mt 17,24-27 passt unter keinen Umständen in die Zeit nach 70 n.Chr. Das zeigen Fiedlers gewundene Erklärungsversuche.36 Hier ist Luz ehrlich: „Einen aktuellen Sitz im Leben aber kann ich in der Zeit nach 70 für diesen Text nicht mehr erkennen.“37 Warum aber Matthäus diesen Text aus purer „Treue gegenüber der Tradition überliefert“ haben soll,38 vermag auch Luz nicht zu erklären. Jedenfalls sollte man die Treue zur Zwei-Quellen-Theorie nicht über alles stellen und lieber zugeben, dass Matthäus in die Zeit vor 70 gehört. Dieser frühere Zeitansatz würde auch die das ganze Matthäusevangelium durchziehende Berücksichtigung von Petrus-Traditionen gut erklären.39

33 34 35 36 37 38 39

So aber Theißen-Merz 46; Hengel, Evglien, 150. So Beare 372. Schniewind 196. Fiedler 299ff. Luz II 536. Luz a.a.O. Vgl. dazu Hengel, Evglien, 150.170.

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Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35 Vorbemerkung Die Verse des 18. Kapitels bilden einen einheitlichen Zusammenhang. Das ist erstens dadurch bedingt, dass sie allesamt Jüngerunterweisung enthalten. Gespräche mit Außenstehenden oder Gegnern kommen nicht vor. Infolgedessen wählt man in der Literatur Überschriften wie „Jüngersprüche“1, „Jesu Regel für die Gemeinde“2 oder „Gemeindeordnung“3. Zweitens ist dieser Zusammenhang dadurch bedingt, dass das ganze Kapitel noch in Galiläa spielt (Mt 17,24; 19,1). Unsere Überschrift versucht, beide Gesichtspunkte aufzunehmen. Wir beobachten ferner, dass Matthäus hier offenbar bewusst eine einheitliche Komposition geschaffen hat. Das wird dadurch erreicht, dass er fast nur Worte Jesu aneinanderreiht. Nur ein Mal kommt ein Jünger, nämlich Petrus, dazwischen (18,21). Er erreicht diese Einheit aber auch dadurch, dass er sie mit der Redewendung Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους τούτους [Kai egeneto hote etelesen ho Iēsous tous logous toutous] abschließt (19,1). Mit derselben oder ähnlichen Redewendungen hat er auch die großen Redekomplexe der Bergpredigt (7,28), der Jüngerinstruktion in Kap. 10 (11,1) und des Gleichniskapitels (13,53) abgeschlossen. Die Jüngerunterweisung von Kap.18 bildet also den vierten großen und bewusst gestalteten Redekomplex des Matthäusevangeliums. Mit ihr verschiebt sich das Gewicht erneut in Richtung Jüngerschaft und Vorbereitung auf die Gemeinde des Neuen Bundes. Allerdings zeigen die Kapitel 19 und 20, dass Jesu Werben um Israel auch unter veränderten Verhältnissen weitergeht. Schließlich beobachten wir, dass die Parallelität der Berichte der drei Synoptiker, die uns von Cäsarea Philippi bis zur zweiten Leidensankündigung begleitet hat, mit Mt 18 endet. Mt 18,16-20 und 18,23-35 sind Sondergut.

1 Schniewind 196. 2 Schlatter 274. 3 Bultmann, Gesch, 161. Neuerdings „Gemeinderede“ (Hengel, Evglien, 127; TheißenMerz 46; Sand 363).

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35

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9.1 Wer der Größte ist, 18,1-5

I Übersetzung 1 In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist denn der Größte im Reich Gottes? 2 Und er rief ein Kind herbei und stellte es in ihre Mitte, 3 und sagte: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen. 4 Wer sich nun selbst niedrig macht wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich Gottes. 5 Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

II Struktur Mt 18,1-5 empfängt als Abschnitt seine Einheit durch die Zeichenhandlung mit dem Kind. Auch wechselt mit V. 6 die Thematik von der Größe des Jüngers zur Rücksicht auf den Jünger. Auslöser ist in V. 1-5 eine Jüngerfrage (V. 1). Als Antwort ruft Jesus ein Kind herbei und demonstriert an diesem Kind, was wahre Größe des Jüngers ist (V. 2-4). Der Abschluss erfolgt durch ein Jesuswort, das vordergründig den Kindern, auf der tieferen Ebene jedoch den Jüngern gilt (V. 5). Es setzen sich hier also die Jüngergespräche fort, die seit 17,19 den Inhalt des Evangeliums bestimmen. Die gewöhnliche Überschrift „Rangstreit der Jünger“4 ist mehr durch das Markusevangelium (9,33f ) und Lk (9,46) hervorgerufen als durch das Matthäusevangelium. Bei Matthäus findet keine Erwähnung des Disputs im Jüngerkreis statt. Hier geht es um eine allgemeine Lehrfrage – Matthäus ist eben doch der Lehrer unter den Synoptikern.

III Einzelexegese In jener Stunde (V. 1 Ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ [En ekeinē hē hōra]) ist ein weiter Begriff. Es hat hier den Sinn von „Zeit“5 und entspricht hebr. ‫[ ָבֵּעת ַהִהיא‬bā‘et hahī’]. Matthäus meint also jenen Zeitraum, in dem Jesus und die Jünger wieder in Kapernaum waren (vgl. Mt 17,24; Mk 9,33). Die Initiative liegt wie in 17,19 bei den Jüngern. Sie kamen zu Jesus und fragten: Wer ist denn (τίς ἄρα [tis ara]) der Größte im Reich Gottes? Wir machen dazu folgende Beobachtungen: Jesus hat selbst in Mt 11,11 von dem gesprochen, der der Größte im Reich Gottes ist; die Frage war unter ihnen 4 Aland, Syn, 245; Lutherbibel; Einheitsübersetzung; Sand 365. 5 Vgl. NGÜ; BasisBibel; Gute Nachricht; Bauer-Aland 1787ff.

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auch im Sinne einer Rivalität virulent (Mk 9,33f; Lk 9,46); das Thema muss unter ihnen längere Zeit von großer Bedeutung gewesen sein (Mt 19,27ff; 20,20ff; Lk 22,24; Joh 13,12ff ); es dauerte in den apostolischen Gemeinden fort (Röm 12,3ff; 1Kor 12,11; Phil 2,5ff ).6 Man kann dazusetzen: Es beschäftigt die Christen bis heute. Dass Jesus ohne Weiteres ein Kind herbeirufen konnte (V. 2), zeigt, dass sie sich in einer Ortschaft – eben Kapernaum – befanden.7 Nach Mk 9,33 spielte sich das Geschehen „in dem Haus“ ab, also im Haus des Petrus. Das Kind, παιδίον [ paidion], ein Diminutiv8, ist ein kleines Kind, nach griech. Sprachgebrauch „bis zu 7 Jahren“.9 Er stellte es in ihre Mitte: also saßen sie im Kreis bzw. Halbkreis um ihn.10 Das lukanische „er stellte es neben sich“ (Lk 9,47) setzt dieselbe Situation voraus: Jesus und das kleine Kind sind in der Mitte der Jünger. Die Zeichenhandlung Jesu erinnert an die Zeichenhandlungen der Propheten Israels (vgl. Hes 4,1ff; 5,1ff; 6,11ff; Hos 1,2ff; 3,1ff; 1Kön 22,11). In V. 3 folgt ein feierliches Wort Jesu: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen. Es ist interessant, dass Jesus zuerst die Frage beantwortet, wer in das Reich Gottes kommt. Sie war gar nicht gestellt (drei Mal haben die Synoptiker τίς μείζων [tis meizōn]). Aber für Jesus war sie offenbar wichtiger als die Frage Wer ist der Größte im Reich Gottes? Wir beobachten hier eine auffallende Nähe zu Joh 3,1ff, wo Jesus ebenfalls Nikodemus zuerst mit der Frage konfrontiert, wer das Reich Gottes „sehen“ könne. Die Antwort Jesu lautet: Umkehren und werden wie die (kleinen) Kinder. Sonst gibt es keine Möglichkeit. Das griech. οὐ μή [ou mē] ist „die bestimmteste Form der verneinenden Aussage über Zukünftiges“.11 Also: „werdet ihr auf keinen Fall in das Reich Gottes kommen. Umkehren: Hinter dem griech. στρέφειν [strephein] steht das hebr. ‫[ המְך‬hmk] / ‫[ סבב‬s̀ bb], also „sich wenden“, „umkehren“, „sich bekehren“.12 Jesus verlangt eine innere Wende als Abkehr vom Gedanken an die eigene Größe. Im NT ist Bekehrung nicht nur ein punktuelles, einmaliges Geschehen, sondern auch ein lebenslanger Prozess (vgl. Lk 22,32; Joh 20,27). Hier steht jetzt für die Jünger ein wichtiger Schritt an. Werden 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Hengel-Schwemer 368. Carson 396 hält es für möglich, dass es sich um ein Kind des Petrus handelte. BDR § 111,3. A. Oepke, Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, 637. Zahn 574: „Jüngerkreis“. BDR § 365. Bauer-Aland 1538f. Vgl. G. Bertram, Art. στρέφω usw., ThWNT, VII, 1964, 714f.

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35

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wie die Kinder: Wie soll das zugehen? Der Vergleich mit Joh 3,4 liegt nahe.13 Auch dort fragt Nikodemus nach der Forderung der Wiedergeburt: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“ Es gibt bei Jesus in der Tat eine Umwertung unserer Werte. Nicht der Kämpfer, nicht der Denker, nicht das logistische oder sonstige Genie ist hier gefragt, sondern der Jünger, der wie ein kleines Kind wird. V. 4 wird dies sogleich erläutern. Der Veränderungsprozess, der hier notwendig ist, kann nur in der Kraft des Heiligen Geistes geschehen. Aber das Wollen liegt bei uns (vgl. Phil 2,12; Mt 23,39). Siehe auch Mt 19,14; 11,25. V. 4 ist formal gesehen die Antwort auf die Frage von V. 1: „Wer ist der Größte im Reich Gottes?“ Sie lautet: Wer sich nun selbst niedrig macht wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich Gottes. Über das οὖν [oun] (nun) vermittelt bedeutet der vierte Vers zugleich auch eine Erläuterung zu dem, was in V. 3 gemeint war. Die Diskussion kreist vor allem um zwei Punkte: 1) Was heißt sich niedrig machen, „sich erniedrigen“, „sich demütigen“? 14 Joachim Jeremias hat betont, dass zur Erniedrigung vor Gott das Geständnis der Schuld gehört.15 Walter Grundmann hebt auf die Demut vor Gott ab, es käme darauf an, dass man „sich völlig der Gnade Gottes ausliefert“.16 Für Julius Schniewind ist es das Wissen, „wie niedrig wir vor Gott tatsächlich sind“.17 Alle diese Beobachtungen enthalten wichtige Elemente. Doch darf man vom Kontext her nicht vergessen, dass es auch im Vergleich zu anderen Menschen, sogar zu den Mitjüngern, Gedanken der Ehrsucht gegeben hat.18 Sich selbst niedrig machen verstehen wir also in einer doppelten Dimension: Demütig bleiben vor anderen Menschen, nicht zuletzt in der christlichen Gemeinde,19 und demütig bleiben vor Gott, der allein entscheidet, wer einmal groß sein wird im Reich Gottes. Reich Gottes ist dabei sowohl das präsentische, jetzt beginnende Reich als auch das futurische, das sich im Eschaton vollenden wird. Siehe auch Mt 20,23; 1Kor 4,5. Im Hintergrund von ταπεινόω [tapeinoō] stehen die hebr. Äquivalente ‫‘[ ָעָנה‬ānāh], ‫‘[ ָעִני‬ānī ], ‫‘[ ָעָנו‬ānāw], ‫ ‘[ ֳעִני‬onī ] und ‫ ‘[ ֲעָנָנה‬anānāh].20 Jedenfalls hat sich niedrig machen nichts zu tun mit rein äußerlichen Gesten oder Tiefstapelei, einem „sich niedriger ma13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Tasker 175. Vgl. Bauer-Aland 1604f; W. Grundmann, Art. ταπεινός usw., ThWNT, VIII, 1969, 1ff. Jeremias, Gleichnisse, 189f. Grundmann a.a.O. 17. Schniewind 197. Betont vor allem von Schlatter 275ff. Vgl. Mt 23,11f; Lk 14,11; 18,14. Sehr gut France 271: „the acceptance of an inferior position“. 20 Grundmann a.a.O. 6.

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Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

chen als man ist“.21 2) Was besagt der Vergleich wie dieses Kind? Jeremias hat recht: „die Zahl der Deutungsvorschläge ist groß.“22 Luz hat in seinem Kommentar einige davon zusammengestellt.23 Aber gerade in der Situation von Mt 18,4 ergibt sich auf jeden Fall ein enger Zusammenhang von kleinem Kind und Niedrigkeit. Das Kind ist nicht die beherrschende Autorität, wie die falschen Hirten von 1Petr 5,3 Autoritäten sein wollen (κατακυριεύοντες [katakyrieuontes]). Es wird unter Umständen herumgestoßen, muss gehorchen, ist unter der Autorität anderer. Zugleich aber vertraut es auf andere. Es sind wohl diese beiden Linien, die Jesus in seiner Zeichenhandlung und seiner Deutung unterstreichen will: Andere als Autoritäten bzw. „Größen“ anzuerkennen, und Vertrauen zu haben, letztlich auf Gott. Von der anderen Seite her lässt sich auch sagen, was sehr wahrscheinlich nicht gemeint ist: Das Kind ist kein „Vorbild der Unschuld“, wie zum Beispiel Leo der Große gepredigt hat.24 Schlatter in seiner drastischen Art sagte, sie seien nicht so „etwas wie kleine Engelein“.25 Auch Kinder sind schuldig und manchmal böse. Es ist ferner fraglich, ob ein Kind immer „weiß, wie niedrig es tatsächlich ist“.26 Hier sind noch zwei Überlegungen anzuschließen. Erstens lässt sich das Kind im Sprachgebrauch Jesu nicht von seiner Überzeugung trennen, dass wir Jünger Gottes Kinder sind (Mt 5,9; 5,16; 5,48 u.ö.). So bleibt auch Mt 18,3-4 durchsichtig auf diese Verheißung hin: Menschen, die angefangen haben, Jesus nachzufolgen, sollen wahre Jünger (wie die Kinder) werden.27 Der christologische Bezug liegt auf der Hand, und es ist die Stärke der bereits zitierten Predigt Leos des Großen,28 dass sie diesen Bezug betont. Zweitens fällt auf, dass Jesus gar nicht bestreitet, dass es im Reich Gottes tatsächlich Größere (μείζονες [meizones]) und „Kleinere“ gibt.29 Wir haben also mit Unterschieden in Lohn und Strafe zu rechnen, wenn auch nicht nach unseren menschlichen Maßstäben (vgl. Mt 5,19; 11,11ff; 19,27ff; Lk 12,47f; 19,17.19). Noch die Presbyter Kleinasiens zur Zeit des Irenäus haben diese eschatologische Aussage festgehalten.30

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Schniewind a.a.O.; Grundmann a.a.O. 17. Jeremias, Gleichnisse, 189. Luz II 13f. Texte KV II 75. Schlatter 276. So aber Schniewind 197. Vgl. Schniewind 197f; Beare 376. Texte KV II 75; bei Luz III 13. Vgl. Theißen-Merz 248. Irenäus AdvHaer V, 36.

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35

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Matthäus hat unter dem Stichwort Kind (παιδίον [ paidion]) in V. 5 ein weiteres Jesuswort aufgenommen. Dass es sich um ein echtes Jesuslogion handelt, ist nicht zu bezweifeln. Ob es aber ursprünglich in die Szene von Mt 18,1ff hineingehört, ist nicht ganz sicher und kann auch offenbleiben. Für das Verständnis dieses Verses ist es hilfreich, zu sehen, dass er einen ganzen Kranz ähnlicher Aussagen um sich hat, zum Beispiel Mt 10,40; Lk 10,16; Joh 13,20. Überall identifiziert sich Jesus mit seinen Jüngern, wie er es übrigens auch im Gebet tut (Joh 17,10.18.21ff ). Und wer ein31 solches Kind aufnimmt in meinem Namen: Die Formulierung ein solches Kind (παιδίον τοιοῦτο [ paidion toiouto]) weist zurück auf die Kinder in V. 3f. Gemeint ist also ein wahrer Jünger, der wie ein Kind geworden ist.32 Kind bedeutet aber nicht, dass der Betreffende schutzlos geworden ist oder der Möglichkeiten beraubt, für Jesus zu wirken. Im Gegenteil: Er gilt so viel wie Jesus selbst. Jesus identifiziert sich so stark mit ihm, dass er sagen kann: Wer ihn aufnimmt, der nimmt mich auf. Mt 10,40 wird praktisch wiederholt. Was heißt aufnehmen? Das griech. δέχεσθαι [dechesthai] hat eine ziemliche Bedeutungsbreite, vom gastlichen Aufnehmen über das Hören bis hin zum Empfangen im umfassenden Sinn.33 Es empfiehlt sich hier, von einer umfassenden Bedeutung auszugehen (wie Mt 10,14ff ), aufnehmen also im Sinne einer positiven Aufnahme, eines offenen Empfangens zu verstehen. Die Begründung einer solchen positiven Aufnahme liegt in den Worten in meinem Namen (ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου [epi tō onomati mou]). Sie bedeuten hier wohl „auf Grund meines Namens“34, das heißt praktisch: „darum, weil es mein Jünger ist“.35 Kurz gesagt: Ein solcher Jünger tritt unter Schutz und Obhut Jesu. Eine ganze Reihe von Auslegern zieht in Mt 18,5 jedoch eine andere Erklärung vor. Sie bezieht den Begriff Kind nicht auf die Jünger, sondern soziologisch auf Kinder im üblichen Sinn, und findet hier die Aufforderung zu „Taten der Barmherzigkeit“: nämlich dass wir als Jünger Jesu „notleidende, hilfebedürftige“ Kinder aufnehmen.36 So sehr dies eine Aufgabe der Gemeinde ist, so fraglich bleibt es, ob das nun der genaue Sinn unserer Stelle ist. Die 31 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „ein einziges solches Kind“. Im Griech.: ἓν παιδίον τοιοῦτο. So Luz III 9. 32 Carson 398. 33 Vgl. W. Grundmann, Art. δέχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 49ff. 34 Vgl. H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, 278; Bauer-Aland 1162: „unter Berufung auf mich“; BDR § 235, 3; Zahn 575, 29. 35 Maier II 56; Carson 398; Zahn 576; France 271; Beare 376; Hengel-Schwemer 374f. 36 Grundmann a.a.O., 52. Ebenso Bietenhard a.a.O., 276; Schlatter 277; Luz III 15; Fiedler 303: „Aufnahme von Waisenkindern“; Tasker 175; Sand 366f; Strack-Billerbeck I 774.

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Nach dem Messiasbekenntnis, 16,21–20,34

Demonstrativa τοῦτο/τοιοῦτο [touto/toiouto] deuten eher in diejenige Richtung, die wir bei unserer Auslegung eingeschlagen haben. Und auch die Transparenz des Kind-Begriffes auf das Jüngersein zusammen mit den verwandten Stellen in Mt 10,40; Lk 10,16; Joh 13,20 empfehlen eher unsere obige Auslegung. Siehe auch Mk 9,37. Schließlich wird diese Auslegung auch vom Kontext der Verse 1-14 nahegelegt.37

IV Zusammenfassung 1. Als Eingangsabschnitt zur Gemeinderede bringt Mt 18,1-5 eine grundlegende Klärung zur Größe und Bedeutung eines Jüngers. Diese besteht darin, dass er wie ein Kind wird. Erst so kommt er überhaupt ins Reich Gottes. Erst so kann er die Anerkennung Gottes finden. 2. Praktisch heißt das: Keine eigene Ehre anstreben, sondern voll Vertrauen Gott und der Gemeinde dienen. Gerade so erfüllen sich an uns die Verheißungen Jesu. Und gerade so schenkt er uns Schutz und offene Türen. 3. Dass wie ein Kind nicht bedeutet, „kindisch“ im Handeln und Verstehen zu werden, hat der Kommentar gezeigt. 4. Kirchengeschichtlich hat dieser Abschnitt mit seinen Jesusworten immer wieder Aufmerksamkeit gefunden. Frühe Stationen dieser Auslegungsgeschichte sind Polykarp von Smyrna (Polyc 5,2), der Hirte des Hermas38 und die Predigten der Päpste.39

9.2 Verführt meine Jünger nicht! 18,6-9

I Übersetzung 6 Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser, man hinge ihm einen Mühstein um seinen Hals und versenkte ihn in der Tiefe des Meeres. 7 Wehe der Welt der Anstöße wegen!40 Zwar kommen die Anstöße unausweichlich. Aber wehe dem Menschen, durch den der Anstoß kommt!41 8 Wenn dir aber deine Hand oder dein Fuß zum Anstoß wird, dann hau sie ab und wirf sie von dir! Es ist besser für dich42, verstümmelt oder lahm ins Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder zwei Füßen ins ewige Feuer geworfen zu werden. 37 38 39 40 41 42

Wie wir Riesner 462. Vgl. die Stellen bei Aland, Syn, 247. Beispiel Texte KV II 75. Vgl. ferner Barth, KD I/2, 284. Vgl. BDR § 176,1. Moderne Bibelübersetzungen fantasieren manchmal bei V. 7. Zur Übersetzung vgl. Strack-Billerbeck I 775.

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35

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9 Und wenn dir dein Auge zum Anstoß wird, dann reiß es aus und wirf es von dir! Es ist besser für dich, einäugig ins Leben einzugehen, als mit zwei Augen in die Feuerhölle geworfen zu werden.

II Struktur Markus (9,42-48) und Lukas (17,1-2) weisen ähnliche Stoffe auf. Jedoch gibt es zu Mt 18,6-9 keinen echten Paralleltext. Am nächsten steht noch Mk 9,4248, nicht zuletzt deshalb, weil auch Markus diese Worte nach der Gleichnishandlung mit dem Kind einordnet. Lukas ist wesentlich kürzer und hat eine ganz andere Anordnung. Aus dem Vergleich der Evangelien legt sich ein doppeltes Resümee nahe: 1) Jesus hat diese Worte mit Sicherheit gesprochen;43 2) jeder Evangelist traf seine Auswahl und ordnete sie dort ein, wo es ihm angemessen erschien. Genau besehen geht es in Mt 18,6-9 um drei Themen: das In-Schutz-Nehmen der Jünger (V. 6), die Verantwortlichkeit für glaubensbedrohende Anstöße (V. 7) und die Warnung an die Jünger (V. 8-9). Das Stichwort σκανδαλίζειν/ σκάνδαλον [skandalizein/skandalon] bindet sie jedoch zu einer starken Einheit zusammen. Nicht zu übersehen ist, dass die Bezeichnung Kleine (μικροί [mikroi]) eine enge Beziehung zu den „Kindern“ und „Größten“ von Mt 18,1-5 schafft. Insofern erscheint Mt 18,6-9 am richtigen Platz.

III Einzelexegese Diese Kleinen, die an mich glauben (V. 6) sind die Jünger.44 Man kann den Anfang des 6. Verses auch so übersetzen: „Wer aber auch nur einen dieser Kleinen …“.45 Einige moderne Übersetzungen verschieben hier den Akzent, indem sie übersetzen: „einen von diesen kleinen, unbedeutenden Menschen“ oder „einen von diesen gering Geachteten“.46 Jesu Jünger sind aber nicht „unbedeutend“, sondern so bedeutend, dass sie den Messias und Gottessohn repräsentieren. Vielmehr haben sie sich „selbst niedrig gemacht“ (V. 4) und heißen deshalb Kleine oder Geringe. „Hinter μικρός steht wohl auch hier das hbr ‫ ָקָטן‬und das aram ‫ְזֵעיָרא‬,‫ְזֵעיר‬.“47 Jesus hat seine Jünger öfter auf diese Weise bezeichnet (Mt 10,42; 18,6.10.14; 25,40.45; Mk 9,42; Lk 17,2).48 Aber wäh43 44 45 46 47 48

Anders Bultmann, Gesch, 155. Wie wir Hengel-Schwemer 395. Vgl. France 271f; Carson 398. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 36.198. So BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ. O. Michel, Art. μικρός usw., ThWNT, IV, 1942, 654. Hengel-Schwemer 439.

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rend für das Rabbinat die „Kleinen“ einen abwertenden Klang hatten, drückt Jesus mit diesem Wort etwas Positives, sogar die Würde des Jüngers aus.49 Auffallend ist die Beifügung die an mich glauben (οἱ πιστεύοντες εἰς ἐμέ [hoi pisteuontes eis eme], auch Mk 9,42). Wie sonst der Glaube sich auf Gott richtet, so hier auf Jesus. Jesus suchte diesen Glauben (Joh 11,26; 20,27ff ), wie er ähnlich Mose zuteilwurde (Ex 14,31). Nun kommt das Schutzwort: Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser usw. Zu Fall bringt (σκανδαλίσῃ [skandalisē]) heißt: „im Glauben zu Fall bringt“.50 Blitzartig wird klar, wie verwundbar die Jünger sind, wie rasch sie zum Abfall vom Glauben gebracht werden können. Und nicht nur damals! Auch heute! Gerade deshalb spricht Jesus sein Schutzwort. Dabei geht es nicht, wie die Gute Nachricht sagt, darum, dass man sie „an mir [= Jesus] irrewerden lässt“, sondern darum, dass man sie von Jesus „abbringt“.51 Was wäre besser (συμφέρει [sympherei])? Dass man ihm einen Mühlstein um seinen Hals hinge und ihn in der Tiefe des Meeres versenkte. Der Mühlstein ist ein „Eselsmühlstein“ (μύλος ὀνικός [mylos onikos]), also ein so großer Mühlstein, dass ihn ein Esel bewegen musste.52 Wer den um seinen Hals gehängt bekommt, ertrinkt unweigerlich in der Tiefe des Meeres. Ein schreckliches Geschick, wenn wir an die Ertränkungsstrafe im Mittelalter denken. Aber dieses Geschick – so der Sinn der Worte Jesu – wäre für den Schuldigen immer noch besser als die Strafe im Endgericht. Wer also einen Jünger in seinem Glauben irremacht, zieht die ewige Verdammnis im Endgericht auf sich.53 Vielleicht hat Jesus bei der Tiefe des Meeres oder der „hohen See“ an Micha 7,19 gedacht, wo freilich vom barmherzigen Versenken unserer Sünden die Rede ist. Aufgrund von Mt 18,6 steht es außer Zweifel, dass Jesus mit endgültiger Verdammnis im Endgericht gerechnet hat. Die Warnung von V. 6 spitzt sich in V. 7 zu einem Wehe-Ruf zu: Wehe der Welt der Anstöße wegen! Wehe-Rufe sind typisch für die Prophetie (Jes 1,4.24; 5,8.18.20.21.22; 30,1; 45,9.10 u.ö.). Hier gilt er der Welt (τῷ κόσμῳ [tō kosmō]). Dieser Sprachgebrauch erinnert an das Johannesevangelium (Joh 3,16ff; 8,12; 9,5; 15,18ff; 16,33; 17,5ff; 18,36ff ). In Mt 18,7 handelt es sich um die gottfeindliche Welt, die die Jünger vom Glauben an Jesus abbringen 49 Michel a.a.O., 655. „Allergeringste“ (so Jeremias, Gleichnisse, 36) ist eine etwas übertriebene Übersetzung, vgl. Michel a.a.O., 658ff. 50 G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 347. 51 So mit Recht die BasisBibel nach Stählin a.a.O., 348ff. 52 Näheres bei Strack-Billerbeck I 775f. 53 Stählin a.a.O., 351.

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will. In diesem geistlichen Sinn können sowohl Nicht-Gemeindeglieder als auch Gemeindeglieder zur Welt gehören. Jesus sagt, dass die Anstöße (τὰ σκάνδαλα [ta skandala]) unausweichlich kommen. Sie müssen es, weil Gottes Zulassung den bösen Menschen und Mächten bis zum Endgericht Raum gibt und ein wichtiges Ziel des Bösen gerade darin besteht, gläubige Menschen von Gott und Jesus abspenstig zu machen.54 Das hebt jedoch die Verantwortung der Betreffenden nicht auf:55 Aber wehe dem Menschen, durch den der Anstoß kommt! Jesus argumentiert hier ganz in der Linie von Sir 15,11ff und P. Abot III, 19. Der Mensch kann sich zwischen Gott und dem Bösen entscheiden. Er kann sich zum Instrument Gottes oder des Satans machen. Eine Prädestination lehnt Jesus an dieser Stelle ab. Siehe auch auch Mt 26,24 und vor allem 1Kön 22,19ff; Jak 1,13ff. Die Verse 8 und 9 warnen zunächst die Jünger. Jedoch richten sie sich darüber hinaus an alle Menschen, die am Reich Gottes teilnehmen wollen. Vers 8 hat es mit dem Anstoß zu tun, der durch Hand oder Fuß verursacht wird: Wenn dir aber deine Hand oder dein Fuß zum Anstoß wird, dann hau sie ab und wirf sie von dir! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm ins Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder zwei Füßen ins ewige Feuer geworfen zu werden. Bildsprache und Redeweise erinnern sofort an die Bergpredigt (Mt 5,29f ). Die Redeweise ist aber nicht „poetisch“. Vielmehr meint Jesus ganz realistisch, was er sagt.56 Die Hand, die stehlen oder betrügen will, der Fuß, der zu den Versammlungen der Irrlehrer eilt: Das sind konkrete Vorgänge. Selbst wenn es deine Gliedmaßen sind, selbst wenn das Leben in dieser Welt nicht auf sie verzichten will, hau sie57 ab! Das ewige Leben ist wichtiger. Wie in Mt 10 muss sich der Mensch zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben entscheiden. Ins ewige Feuer geworfen (Pass. divinum) wird man durch Gottes Gerichtsengel (vgl. Mt 13,41f; Offb 20,10.15). Die Wendung ewiges Feuer stammt aus Jes 66,24 und wird von Jesus mehrfach benutzt, um die ewige Verdammnis im Endgericht auszusagen (vgl. Mt 5,22; 13,40.42.50; 25,41).58 Diese Lehre Jesu, die sich grundsätzlich in Übereinstimmung mit den alten jüdischen Lehrern befindet,59 wurde von 54 W. Grundmann, Art. ἀναγκάζω usw., ThWNT, I, 1933, 350 geht zu weit, wenn er ἀνάγκη in Mt 18,7 als „göttliche Weltordnung und Gesetzlichkeit“ definiert. Vgl. BDR § 127,2f. Rabbinisches bei Strack-Billerbeck I 779. 55 Carson 399; France 272; Fiedler 304. 56 Auch darin steht er in Übereinstimmung mit den Rabbinen. Vgl. b Taan 21a. 57 αὐτόν bezieht sich streng genommen nur auf πούς, steht aber pars pro toto. Vgl. BDR § 135,4. 58 Vgl. F. Lang, Art. πύρ usw., ThWNT, VI, 1959, 941ff. 59 Vgl. die Mischna Sanh XI.

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der Aufklärung heftig angegriffen.60 Sie verursacht auch der modernen protestantischen Theologie „die größten Schwierigkeiten“.61 Dennoch hat sie Jesus unzweideutig vertreten. Was aber die tatsächliche Ausführung von Mt 18,8 unmöglich macht, ist die gleichzeitige Erkenntnis, dass die Anstöße wie alle Sünden im Herzen wurzeln. Das hat Jesus selbst in Mt 15,18f festgestellt. Wir müssten also nicht nur Hand oder Fuß ausreißen, sondern auch das Herz! Und zwar wir glaubenden Menschen ohne Ausnahme. Denn „Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Röm 3,12; Ps 14,1ff ). Die Lösung muss also woanders liegen. Sie liegt am Kreuz, in der Erlösung und Geistbegabung des Menschen. Was in V. 8 bezüglich Hand und Fuß gesagt ist, wird in V. 9 auf das Auge erweitert. Dazu nur zwei Notizen. Die Feuerhölle (γέεννα τοῦ πυρός [ge(h)enna tou pyros]) ist offenbar dasselbe wie das „ewige Feuer“ in V. 8. Wir haben sie schon bei Mt 5,22 erklärt. Sodann aber fällt auf, dass bei Jesus dem Auge eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Mt 5,29; 6,22f; 7,3ff; 13,15ff; 20,15). Es rein zu halten, ist eine wichtige Pflicht des Jüngers. Angesichts der heutigen Medienwelt können wir dies neu verstehen.

IV Zusammenfassung 1. Wie passt Mt 18,6-9 in den großen Rahmen der „Gemeinderede“ Mt 18,1-35? Luz findet, es sei hier „nicht leicht einzuordnen“, es handle sich um „miteinander nicht harmonierende Melodien“.62 Nach unserer Auffassung harmoniert aber Mt 18,6-9 sehr gut mit dem ganzen Kapitel. Denn gerade nach der Selbsterniedrigung des Jüngers in V. 1-5, nach seinem Werden wie ein Kind, braucht er den Schutz. Jesus zielt in Mt 18,6-9 wie in den Endzeitreden (Mt 24,3ff; 25,31ff ) und den Abschiedsreden (Joh 15,18ff; 16,5ff.16ff; 17,1ff ) gerade auf diesen Schutz. 2. Erneut dokumentiert ein Vergleich mit den Abschiedsreden, aber auch mit der Johannesoffenbarung, dass Jesus die Verführung als die schlimmste Gefahr für seine Gemeinde betrachtet – noch vor der Verfolgung (vgl. Mt 24,4ff; Offb 2–3). 3. Mit Gewissheit kann man sagen: Die Logien in Mt 18,6-9 „sind jesuanisch“.63

60 61 62 63

Beispielsweise von G.E. Lessing, vgl. Hirsch IV, 141ff. Trillhaas 499. Luz III 24. Hengel-Schwemer 395.

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4. Gerade heute gilt Schlatters Warnung: „wir haben seither erlebt, wie die regierende Kirche, die sich groß dünkt vor Gott, das Kleine zertrat und das Ärgernis hervorbrachte.“64

9.3 Verliert keinen meiner Jünger! 18,10-14

I Übersetzung 10 Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen immer das Angesicht meines Vaters im Himmel. 11 Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu retten, was verloren ist. 12 Was meint ihr? Wenn ein Mann hundert Schafe hat und sich eins von ihnen verirrt, wird er nicht die neunundneunzig auf den Bergen lassen und sich auf den Weg machen und das Verirrte suchen? 13 Und wenn es geschieht, dass ers findet – Amen, ich sage euch: Er freut sich darüber mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. 14 Ebenso ist es nicht der Wille eures Vaters im Himmel, dass auch nur ein einziger von diesen Kleinen verloren geht.

II Struktur Mehr noch als Mt 18,6-9 erinnert Mt 18,10-14 an die Bergpredigt: Zu ὁρᾶτε [horate] vgl. Mt 6,1; 7,1, zu λέγω γὰρ ὑμῖν [legō gar hymin] bzw. ἀμὴν λέγω ὑμῖν [amēn legō hymin] vgl. Mt 5,18.20 usw. Es handelt sich also um intensive Jünger-Unterweisung. Das Stichwort τῶν μικρῶν τούτων [tōn mikrōn toutōn] in V. 10 und 14 schafft darüber hinaus eine enge Verbindung mit 18,6ff. Noch einmal wird dadurch verdeutlicht, dass es um die Zukunft der Jünger geht. Wir beobachten ferner, dass zu Mt 18,10-14 keine Markus-Parallele, wohl aber eine Lukas-Parallele existiert (Lk 15,3-7). Allerdings hat diese LukasParallele eine eigenständige Form und einen anderen Platz im Aufbau des Evangeliums. Deshalb legt sich der Schluss nahe, dass Jesus dasselbe Bildmaterial bei verschiedenen Gelegenheiten benutzt hat und Mt 18,10ff und Lk 15,3ff jeweils in verschiedenen Situationen gesprochen wurden.65 Mt 18,1-14 ist in drei Teilen aufgebaut. Am Anfang steht eine Warnung Jesu (bzw. Mahnung), die er begründet (V. 10). Danach folgt ein Gleichnis, durch das καταφρονεῖν [kataphronein] (verachten) als ein verloren gehen 64 Schlatter 280. 65 Ebenso Carson 400; ähnlich Zahn 579; Hengel, Evglien, 292; Hengel-Schwemer 226, 154. Anders Luz III 27; Jeremias, Gleichnisse, 35ff.

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lassen erklärt wird (V. 12-13).66 Schließlich zieht V. 14 ein allgemeines Resümee. Interessant ist, dass diesmal kein Hinweis auf Gottes Gericht, sondern ein Hinweis auf Gottes Freude erfolgt. Jesus als Lehrer liebt zwar Wiederholungen, aber keinen Schematismus.

III Einzelexegese Thema ist nicht, wie Strack-Billerbeck meinen, die „Wertschätzung der Kinder“,67 sondern das Schicksal der Jünger. Denn diese Kleinen sind wie in V. 6 die Jünger.68 Siehe auch die Erklärung dort. … dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet (V. 10): Das griech. Wort für verachten, καταφρονεῖν [kataphronein], hat auch den Sinn von „sich nicht kümmern um“.69 Diesen zweiten Sinn müssen wir im Folgenden immer mitbedenken. Gerade weil die Jünger klein sind, liegt ja das verachten / „sich nicht kümmern“ nahe. Aber nun ist es erstaunlich, dass Jesus nicht von der Verachtung durch Außenstehende spricht, sondern von der Verachtung innerhalb der Gemeinde! Denn angeredet sind ihr = die Jünger selbst. Vor allem Paulus hat später die entsprechende Mahnung aufgenommen (1Kor 12,22ff; Phil 2,3; 1Tim 4,12; 6,2; vgl. Jud 16). Wo bei uns Christen Verachtung im Schwange geht, werden bald ganze Gruppen ausgegrenzt und verloren gehen. Gnostiker verachteten Pistiker, Kleriker das „einfache Volk“, aufgeklärte Theologen die „einfachen Gemeindeglieder“, Landeskirchen die Freikirchen – oft auch umgekehrt. Es ist, als sähe Jesus prophetisch die kommenden Entwicklungen voraus. Der Kontext macht noch einmal deutlich, dass es nicht um „hellenistische Kinderliebe“70 oder Ähnliches geht, auch nicht allein um ein „von oben herab behandeln“,71 sondern letzten Endes um ein Außen-vor-Lassen. Die Begründung in der zweiten Vershälfte von V. 10 ist wieder eine Überraschung. Denn sie erfolgt nicht soziologisch oder „kirchenpolitisch“, sondern höchst theologisch: Ihre Engel [= die der verachteten Jünger] im Himmel sehen immer das Angesicht meines Vaters im Himmel. Offensichtlich rech-

66 V. 11 wird gesondert behandelt. 67 Strack-Billerbeck I 780. 68 Anders Schniewind 199: „die Armen, … die nicht Gebildeten, sozial niedrig Stehenden … die Kinder“. 69 C. Schneider, Art. καταφρονεῖν usw., ThWNT, III, 1938, 633; Bauer-Aland 855. 70 So C. Schneider a.a.O. 71 So BasisBibel; Gute Nachricht; ähnlich NGÜ.

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net Jesus hier mit den „Schutz- u. Geleitsengel(n) eines Menschen“.72 Solche Schutz- und Geleitsengel begegnen uns schon im AT und in den Apokryphen (Ps 91,11; Tob 5,5ff ). Sie werden dann im NT ausdrücklich erwähnt (Apg 12,15; Hebr 1,14) und von Jesus selbst erlebt (Mt 4,11; Lk 22,43).73 Die Bibel entwirft hier keine Engellehre, hält aber die Fakten fest. Weil diese Engel im Dienste Gottes stehen, sind sie im Himmel und sehen immer das Angesicht Gottes.74 Wenn Jesus formuliert: das Angesicht meines Vaters im Himmel, dann deutet er die Vertrauensbeziehung an, die über seinen himmlischen Vater zu jedem dieser kleinen, so leicht verachteten Jünger besteht, und zugleich die Wertschätzung, die diese Kleinen im Himmel genießen. Sie verachten? – Das ist ein nahezu unmöglicher Gedanke. Hier öffnet sich die Perspektive auf eine umfassende familia Dei.75 Fazit: Ebenso wie Mt 18,6ff ist Mt 18,10ff ein Schutzwort, das die kleinen Jünger der künftigen Gemeinde des Neuen Bundes schützen will. V. 11 (Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu retten, was verloren ist) gilt als nachträglich ins Matthäusevangelium eingefügt. Nach K. und B. Aland ist „Die äußere Bezeugung für die Einfügung von Matth 18,11 … zwar zahlreich, aber nicht sehr eindrucksvoll“.76 Aufgrund von Mt 9,13; Lk 19,10 kann aber kein Zweifel sein, dass es sich um ein echtes Jesuswort handelt. Nur hat es seinen ursprünglichen Platz eben in Lk 19,10 und nicht in Mt 18,11. Allerdings hat derjenige, der das Wort hier in Mt 18,11 einschob, eine richtige Beobachtung gemacht. Es geht bei dem verachten von V. 10 in erster Linie um ein verloren gehen lassen. Das Gleichnis der Verse 12 und 13 wird eingeleitet durch die Frage Τί ὑμῖν δοκεῖ [Ti hymin dokei] (Was meint ihr)? Jesus hat solche pädagogischen Einleitungen geliebt (vgl. Mt 17,25; 21,28; 22,42). Sie erwecken Interesse und Mitdenken. Dann folgt eine Beschreibung, die bis heute auf die Beduinen des Israellandes passt:77 Wenn ein Mann hundert Schafe hat und sich eins von ihnen verirrt … Schafe dienen oft als Bild in den Gleichnissen (Meschalim). Manchmal ist es einfach ein Schaf des Alltags (Deut 22,1; Jes 53,7; Jer 11,19; 72 Strack-Billerbeck I 781; Fiedler 304. Ganz anders Carson 401 nach Warfield: Die Engel sind die „spirits“ der Jünger „after death“. Anders auch Zahn 578; Tasker 176. 73 Erneut steht Jesus im Einklang mit dem Rabbinat (z.B. b Taan 11a; b Schab 119b; b Sanh 99a). Vgl. Strack-Billerbeck I 781; G. Kittel im Art. ἄγγελος usw., ThWNT, I, 1933, 85. 74 In letzterem Punkt vertreten Rabbinen „vielfach die umgekehrte Meinung“ (Strack-Billerbeck I 783). 75 Was die heutige Flut an Engelliteratur noch lange nicht rechtfertigt. 76 K. und B. Aland 303. Ebenso Zahn 579, 35; Sand 369; Schniewind 199; Luz III 24,1; Fiedler 304; Tasker 176; Carson 401. 77 Vg. Jeremias, Gleichnisse, 132ff.

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Mt 10,16; 12,11). Aber häufig benennen sie Glieder des Gottesvolkes (Num 27,17; 2Sam 12,4; 24,17; Ps 74,1; 100,3; Jes 53,6; Hes 34,5ff; Mt 9,36; 15,24). Man wird auch in Mt 18,12f von Anfang an die Schafe in ihrer Doppeldeutung sehen müssen: a) als Herdenbesitz, b) als Glieder der Gemeinde. … wird er nicht die neunundneunzig auf den Bergen lassen und sich auf den Weg machen und das Verirrte suchen? Ähnliches ereignete sich 1947, ein Vorgang, der zur Entdeckung der Qumran-Funde führte.78 Nach Strack-Billerbeck wird das Zahlenverhältnis 99:1 bei den Rabbinen „öfter angewandt“.79 Sie notieren auch in den Rabbinica „ein ähnliches Gleichnis“.80 Wer durch den Negev südlich von Arad oder die Steigungen vom Jordantal zur judäischen Wüste herauffährt, sieht Schafe und Ziegen heute noch auf den Berg-Kuppen klettern.81 Man kann die neunundneunzig in der Obhut eines Freundes oder in einer Höhle lassen82 und sich dann auf den Weg machen, um das Verirrte zu suchen. Dabei bezieht sich τὸ πλανώμενον [to planōmenon] entweder auf πρόβατον [ probaton], oder es stellt ein Abstraktum dar. Jedenfalls steht im Hintergrund Hes 34,16 LXX: Τὸ ἀπολωλὸς ζητήσω καὶ τὸ πλανώμενον ἐπιστρέψω [To apolōlos zētēsō kai to planōmenon epistrepsō]. Man kann geradezu sagen, dass Hes 34,1-16 das messianische Programm Jesu darstellt und dass dieses Programm in Mt 18,12ff; Lk 15,3ff auch für die Jünger verbindlich gemacht wird. Siehe auch Ps 119,76; Mt 9,36; 10,6; Joh 10,11ff; 1Petr 2,25; 1Sam 17,28. Aber nicht nur „Programm“ und Pflicht ist das sich Kümmern um das Verirrte, sondern auch unendliche Freude, wenn es Erfolg hat: Und wenn es geschieht, dass ers findet – Amen, ich sage euch: Er freut sich darüber mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben (V. 13). Jesus ist vorsichtig. Die Wendung Und wenn es geschieht, dass ers findet rechnet durchaus auch mit einem Fehlschlag der Bemühungen. „ἐάν [wenn] bezeichnet das unter Umständen zu Erwartende“83 – mehr nicht. Jakobus lässt in 5,19f dieselbe Vorsicht walten.84 Der nüchterne Schriftgelehrte Matthäus verzichtet auf alle Ausmalungen der Freude (anders Lk 5,5f ). Er hält aus den Jesusworten nur fest, dass der Findende sich darüber mehr freut (μᾶλλον [mallon]) 78 79 80 81 82

Jeremias, Gleichnisse, 133. Strack-Billerbeck I 784. Vgl. Pea IV 1. A.a.O., 785. Vgl. Dalman 137f. Gute Nachricht „weitergrasen lassen“ ist sachlich wohl falsch: Jeremias, Gleichnisse, 133. 83 BDR § 373,1. Vgl. Luz III 32. 84 Vgl. Maier, Jak, 237ff.

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als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. Verständlich, wenn er sieht, dass die Herde wieder vollzählig ist! Man darf mit dem mehr freuen nur nicht über die Grenzen des Gleichnisses hinausgehen und daraus eine dauernde Freude oder gar Privilegierung für das eine Schaf machen, das verloren war. Das Gleichnis bleibt streng auf die Gemeinde, die Herde, bezogen, die möglichst vollständig bleiben soll. Ist das Verirrte wieder in die Herde eingegliedert, dann freut sich der Hirte wieder an allen gleich. V. 14 zieht das Resümee: Ebenso (οὕτως [houtōs])85 ist es nicht der Wille eures Vaters im Himmel86, dass auch nur ein einziger von diesen Kleinen verloren geht. Euer Vater setzt voraus, dass die Jünger Gottes Kinder sind (Mt 5,9.16.48; 6,9). Der Wille Gottes kann getan werden oder auch nicht. Die Entscheidung liegt beim Menschen. Es ist also nicht gemeint, dass der Wille Gottes sich auch gegen den Willen des Menschen unwiderstehlich durchsetzt – sonst gäbe es überhaupt keine Verlorenen mehr (vgl. 1Tim 2,4).87 Aber Gott möchte, dass nicht ein einziger88 von diesen Kleinen [= den Jüngern] verloren geht. Die Verantwortung dafür trägt die ganze Gemeinde, nicht nur der Gemeindeleiter (ihr V. 10.12).89 Ihre Verantwortung endet, wo der verirrte Jünger aus eigenem Entschluss die Gemeinde verlässt (V. 15ff; 2Tim 4,10; Hebr 10,25; Jak 5,19f; Jud 22f ). „Verliert keinen meiner Jünger!“ – das ist die Grundmelodie der Verse 10-14.90 Auch auf diese Weise schützt Jesus seine neue, so angefochtene Gemeinde.

IV Zusammenfassung 1. Halten wir den Grundgedanken von Mt 18,10-14 noch einmal fest: Jesus gibt seiner ganzen Gemeinde – und nicht nur den Gemeindeleitern – den Auftrag zur suchenden Liebe. Jedem Einzelnen, und stünde er im Ansehen noch so tief und noch so sehr am Rande, soll nachgegangen werden. Er soll von Irrwegen in Lehre und Leben auf den Weg der Christusfolge zurückgebracht und aufs Neue der Herde Christi eingefügt werden. 2. Dabei ist Jesus, der gute Hirte, selbst das Vorbild (Lk 15,3ff; Joh 10,11ff; Hes 34,16).

85 Bauer-Aland 1209. 86 Zur Übersetzung vgl. Jeremias, Gleichnisse, 36; BDR § 214,9; Strack-Billerbeck I 785. 87 Das gilt erst recht, wenn die Übersetzung von Jeremias, Gleichnisse, 37 zutrifft: „So hat Gott Wohlgefallen daran …“ 88 Diesen Sinn hat hier das ἕν, vgl. Jeremias a.a.O.; Zahn 579,36. 89 Leider eingeschränkt auf „die Gemeindeleiter“ bei Jeremias, Gleichnisse, 36. 90 Und nicht die „Teilnahme der Kinder an der zukünftigen Welt“. Gegen Strack-Billerbeck I 786.

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3. Es gibt nach diesen Worten Jesu, an deren Historizität kein berechtigter Zweifel besteht,91 tatsächlich ein Verirren im Glauben, in der Lehre und in der ethischen Lebenspraxis. Maßstab dafür ist die Heilige Schrift in der Auslegung Jesu. Für die liberale Theologie ist dies eine problematische Feststellung. Denn sie geht dogmatisch von einer Pluralität der Glaubensformen aus. Symptomatisch ist hier die Frage, mit der Luz seine Erklärung von Mt 18,1014 schließt: „Wie kann Matthäus, der den Gliedern seiner Gemeinde grenzenlose Vergebungsbereitschaft ans Herz legt, zur Kirchenzucht [V. 15ff!] … ja sagen?“92 4. Mt 18,10-14 hat in Kirchengeschichte und Dogmatik immer wieder hohes Interesse gefunden. Irenäus deutete um 180 n.Chr. unsere Verse christologisch und sah im suchenden Hirten Christus selbst.93 Cyrill von Jerusalem (ca. 315–386 n.Chr.) bemerkte zu den Engeln von Mt 18,10: „die Engel sehen Gott nicht so, wie er ist, sondern nur soweit, als sie ihn erfassen“.94 Johannes Chrysostomus (ca. 345–407 n.Chr.) warb unter Berufung auf Mt 18,14 um Frieden und Eintracht unter den Christen. Weitere Beispiele hat Luz zusammengestellt.95 Dogmatisch spielt Mt 18,10ff vor allem für die Engellehre eine Rolle. Ulrich Luz nennt Mt 18,10 einen „locus classicus christlicher Engeltheologie“ und eine „Belegstelle für den christlichen Glauben an persönliche Schutzengel“.96 Er selbst allerdings distanziert sich davon: „klar ist für mich, daß sie in einem vergangenen Weltbild wurzelt.“97 Er folgt darin Rudolf Bultmann, der 1941 konstatierte, man könne nicht mehr „an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben“.98 Angesichts der heutigen EngelRenaissance muten solche Sätze nur noch seltsam an. Hier erwies sich der Evangelische Erwachsenenkatechismus (1. Aufl. 1974, 4. Aufl. 1982) als weitsichtiger. Er zitierte Mt 18,10, um den Schutzengel-Glauben als berechtigt anzuerkennen.99 Das Lexikon der katholischen Dogmatik, beharrt darauf, dass die Engellehre „sinnvoll“ sei.100 Da die Lehre Jesu und des NT (vgl. vor allem

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

Auch Flusser 73. Gegen Bultmann, Gesch, 155.158f. Luz III 37. AdvHaer III, 19, 3. Texte KV I 18. Luz III 33ff. Luz III 30. Luz III 31f. Bultmann KuD, 18. Ev Erw Kat, 337. Lex kath Dogm 118.

9. Jüngerunterweisung in Galiläa, 18,1-35

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Hebr 1,14; Apg 23,8) an diesem Punkt eindeutig sind, besteht kein Grund, die biblische Schutzengel-Lehre aufzugeben. Im Kirchenlied haben beide Metaphern, die vom „verlorenen Schaf “ bzw. der Suche danach und die Metapher vom schützenden Engel, einen wichtigen Platz behauptet. Siehe auch „Großer Gott, wir loben dich“ (EG 331), Paul Gerhardts „Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen …“ (EG 477,8) oder Erdmann Neumeisters „Wenn ein Schaf verloren ist, suchet es ein treuer Hirte“ (EG 353,3).

9.4 Grundregeln für die Gemeinde, 18,15-20

I Übersetzung 15 Wenn aber dein Bruder sündigt, dann geh hin und weise ihn zurecht unter vier Augen. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Wenn er aber nicht hört, dann nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jede Sache auf zweier oder dreier Zeugen Mund bestehe. 17 Wenn er aber auch auf sie nicht hört, dann sage es der Gemeinde. Wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hört, dann sei er dir wie der Heide und der Zöllner. 18 Amen, ich sage euch: Was ihr auf Erden bindet, wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden löst, wird auch im Himmel gelöst sein. 19 Dazu sage ich euch: Wenn zwei von euch eins werden auf Erden über irgendeine Sache, die sie erbitten wollen, wird es ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. 20 Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

II Struktur Überschriften und Gliederungen differieren. R.V.G. Tasker lässt Mt 18,1-35 zusammen unter der Überschrift „Life in the Messianic Community“. Bultmann teilt auf in „Vorschriften für die Gemeindedisziplin“ (V. 15-17) und „Gebetserhörung“ (V. 19-20) mit Sonderrolle für V. 18 als „Variante zu Mt 16,19“.101 Luz, Fiedler und France bleiben eher konservativ und fassen V. 15-20 zusammen unter „Sorge für den sündigen Bruder und die sündige Schwester“, „If your brother sins“ und „Von brüderlicher Ermahnung und vom Gebet“.102 Schniewind fasste V. 10-20 zusammen mit der Überschrift „Von der Rettung des Verlorenen und von den Bruderpflichten“.103 Moderne 101 Bultmann, Gesch, 150f. 102 Luz III 37; Fiedler 305; France 274. 103 Schniewind 198; ähnlich NGÜ.

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Übersetzungen tendieren zu „Regeln für den Streitfall“ o.Ä.104 Wir wählen die offenere Formulierung „Grundregeln für die Gemeinde“. Unseres Erachtens empfiehlt sich die traditionelle Abschnittsgliederung, die die Verse 15-20 zu einem eigenen Abschnitt zusammenfügt, der freilich ins Gesamtkonzept des 18. Kapitels hineingehört. Zusammengehalten werden die Verse 15-20 durch eine prägnante Begrifflichkeit: ἐκκλησία [ekklēsia] (V. 17), συνηγμένοι [synēgmenoi] (V. 20, vgl. Synagoge!), ἀδελφός [adelphos] (V. 15), ἐλέγχειν [elenchein] (V. 15), ἐθνικός [ethnikos] und τελώνης [telōnēs] (V. 17), δέειν [deein] und λύειν [lyein] (V. 18), εἰμι ἐν μέσῳ αὐτῶν [eimi en mesō autōn] (V. 20, vgl. 1,23; 28,20). Sie deutet auf die Zeit nach Jesu Tod, auf die Zeit der künftigen Gemeinde. Inhaltlich handelt es sich um vier Aussagegruppen: 1) Offenbare Sünde in der Gemeinde (V. 15-17), 2) die Binde- und Lösegewalt in der Gemeinde (V. 18), 3) die Erhörung des gemeinsamen Gebets (V. 19), 4) die Präsenz des Auferstandenen in der Gemeinde (V. 20). Mt 18,15-18 ist überwiegend (vgl. Lk 17,3; Joh 20,23), Mt 18,19-20 ganz Sondergut des Matthäus. Er schöpft es aus dem Gedächtnis oder aus eigenständiger lebendiger Überlieferung.

III Einzelexegese Der Anfang des 15. Verses erinnert an die Versanfänge V. 2.3.5.6.12.13. Auch in V. 15ff herrscht der typische Lehrstil Jesu vor, den wir seit der Berglehre immer wieder beobachtet haben. Wenn aber dein Bruder sündigt: εἰς σέ [eis se] („an dir“) fehlt im Vaticanus und Sinaiticus und stellt vermutlich eine spätere Einfügung aufgrund des wiederholten σου dar.105 Die Neue Jerusalemer Bibel trifft wohl das Richtige: „Es handelt sich um eine schwere, öffentliche Schuld, die nicht notwendig gegen den gerichtet ist, der sie rügt.“106 Die Einfügung „oder deine Schwester“ hinter dein Bruder durch zeitgenössische Übersetzungen107 ist reine Fantasie und beruht auf einem Missverständnis. Denn Bruder steht hier als Synonym für „Gemeindeglied“. Diese Bezeichnung zielt weder auf das Geschlecht (Männer/Frauen) noch auf das Lebensalter. Wenn er sündigt: Ganz realistisch 104 So BasisBibel; ähnlich Gute Nachricht. 105 Für echt gehalten bei Zahn 580; Lutherbibel; BasisBibel; BGS; Luz III 38 (aber „unsicher“); Tasker 177; Carson 404. Wie wir NGÜ; Gute Nachricht; Revidierte Elberfelder Bibel; Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; Fiedler 305; auch Lk 17,3 fehlt ein „an dir“. Schniewind 200; France 274; Schlatter 282. 106 A.a.O., 1409. Vgl. Maier II 69ff. 107 BGS; BasisBibel; Gute Nachricht.

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rechnet Jesus damit, dass dies auch in seiner Gemeinde vorkommt. Dabei erfolgt die Beurteilung anhand der Heiligen Schrift, besonders der Worte Jesu. Es kann sich nicht um Gedankensünden oder reine Herzenssünden handeln, vielmehr geht es um solche Sünden, die schon unter Menschen offenbar geworden sind. Sie belasten auch die Gemeinde, und fallen deshalb in ihre Verantwortung. Ein biblisches Beispiel ist 1Kor 5,1ff oder 3Joh 9ff. Aus Mt 18,15 ergibt sich ferner, dass Jesus mit einer brüderlich und geschwisterlich lebenden Gemeinde rechnet. Dann geh hin (ὕπαγε [hypage]): Also eine Bringschuld. Leicht fällt sie niemand. Weise ihn zurecht (ἔλεγξον [elenxon]) unter vier Augen (wörtlich „zwischen dir und ihm allein“): Das allein, unter vier Augen ist betont. Der erste Gesprächsgang ist also seelsorgerlich. Er unterliegt dem Beichtgeheimnis.108 Die Übersetzung des griech. ἐλέγχειν [elenchein] macht den Auslegern immer wieder Mühe. Büchsels Wiedergabe „jem seine Sünde vorhalten und ihn zur Umkehr auffordern“109 dürfte jedoch den Sinn treffen. Eine Schlüsselrolle zum Verständnis kommt Lev 19,17 zu: „Du sollst deinen Nächsten zurechtweisen (LXX: ἐλεγμῷ ἐλέγξεις [elenmō elenxeis]), damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich ladest.“ Im Bundesvolk besteht also eine Verpflichtung, den Nächsten nicht immer tiefer in Sünde verstrickt werden zu lassen, sondern ihn beizeiten wieder herauszuholen.110 Das hebr. ‫ [ יכח‬jkch], das hinter ἐλέγχειν steckt, hat die Bedeutungen „für das Recht eintreten“, „zurechtweisen“, „zur Rechenschaft ziehen“, „züchtigen“, „strafen“.111 Kurz gesagt: Es geht um das Zurückholen auf den rechten Weg. Nicht nur Lev 19,17, sondern auch die Rabbinen haben darauf hohen Wert gelegt.112 Im NT fällt auf, dass neben Paulus (Eph 5,11; Gal 6,1; 1Tim 5,20; 2Tim 4,2; Tit 1,9.13; 2,15) vor allem die Brüder Jesu, Jakobus und Judas, dazu aufrufen (Jak 5,19f; Jud 22ff ).113 Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen: Für wen gewonnen? Nicht für den Seelsorger. Das wird von den Seelsorgern oft übersehen. Vielmehr hat das griech. κερδαίνειν [kerdainein] missionarischen Sinn

108 Für die Rabbinen war der Gedanke wichtig, niemanden zu beschämen. Strack-Billerbeck I 787. 109 F. Büchsel, Art. ἐλέγχω usw., ThWNT, II, 1935, 471. 110 Gerade so sahen es auch die Rabbinen. Strack-Billerbeck I 787. 111 Gesenius 299. 112 Büchsel a.a.O., 472; Strack-Billerbeck I 787ff. 113 Die Übersetzungen „zur Rede stellen“ (BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ) oder „den Konflikt klären“ (BGS) verfehlen das Wesentliche. So auch Luz III 38.

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(1Kor 9,10ff; 1Petr 3,1).114 Gewonnen also wird der Bruder für das Reich Gottes, für das ewige Leben „aus dem Tode“ (Jak 5,20). Damit ist er auch wieder für die Gemeinde Jesu gewonnen. So hoch ist der Einsatz! Wenn du, der Jünger, verantwortlich ist, ist klar, dass Jesus hier für die Zeit nach Kreuzigung und Auferstehung sorgt. Ihm steht schon die Gemeinde des Neuen Bundes vor Augen. Wer Mt 18,15ff zu einem „Produkt der Gemeinde“ erklärt,115 der nimmt dem Propheten Jesus die Möglichkeit, in die Zeit nach seinem irdischen Tod vorauszusehen und die Verhältnisse für diese Zeit zu ordnen. Das Gespräch von V. 15 kann erfolglos bleiben. Die Bemühungen sollen aber nicht abgebrochen werden: Wenn er aber nicht hört, dann nimm noch einen oder zwei mit dir: Gemeint sind ein oder zwei Gemeindeglieder. Die Zahl (einen oder zwei) hängt von den Verhältnissen ab. Voraussetzung bleibt das Schweigenkönnen. Der Vorteil des Hinzunehmens liegt nicht nur in dem größeren Gewicht, das die Zurechtweisungen dann bekommen. Er liegt auch darin, Zeugen für diese Vorgänge zu haben. Denn normalerweise sind solche offenbaren Sünden mit halbwahren Beschuldigungen und Verdrehungen verbunden. Jesus greift auf das alttestamentliche Zeugenrecht zurück (Num 35,30; Deut 17,6; 19,15): damit jede Sache auf zweier oder dreier Zeugen Mund bestehe. Siehe auch LXX Deut 19,15: ἐπὶ στόματος δύο μαρτύρων καὶ ἐπὶ στόματος τριῶν μαρτύρων σταθήσεται πᾶν ῥῆμα [epi stomatos dyo martyrōn kai epi stomatos triōn martyrōn stathēsetai pan rhēma]. Auch die Apostel haben sich an dieses Zeugenrecht gehalten (2Kor 13,1; 1Tim 5,19; Hebr 10,28). V. 17 ordnet einen dritten Schritt an: Wenn er aber auch auf sie nicht hört … Die Selbstverteidigung der Sünder ist außerordentlich hartnäckig. Wie oft hat Paulus den Hymenäus gewarnt (1Tim 1,20; 2Tim 2,17)! Wie oft Jesus die Jerusalemer (Mt 23,37)! Ganz zu schweigen von den heutigen Verteidigungslinien mit Anwälten, Gegendarstellungen, Gesprächszwängen! Für nicht hören steht hier παρακούειν [ parakouein], wörtlich „vorbeihören“, auch „ungehorsam sein“.116 Jetzt soll der Schritt zur Gemeinde erfolgen.117 Zur näheren Erklärung des Begriffs Gemeinde (ἐκκλησία [ekklēsia]) vgl. oben bei Mt 16,18. Der Kontext zeigt, dass in Mt 18,17 nicht nur der Gemeindeleiter gemeint ist, sondern auch die Gemeindeversammlung (vgl. Apg 114 H. Schlier, Art. κέρδος usw., ThWNT, III, 1938, 672 „echter Terminus der Missionssprache“ (nach Joh. Weiß). 115 Bultmann, Gesch, 150ff.154.382f. 116 Bauer-Aland 1251; G. Kittel im Art. ἀκούω usw., ThWNT, I, 1933, 224. 117 Auch die Rabbinen gingen diesen Schritt. Strack-Billerbeck I 791f.

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6,1ff; 15,4ff; 1Kor 5,1ff; Gal 2,14ff ). Das Ziel dieses dritten Schrittes ist nicht in erster Linie die Exkommunikation,118 sondern ebenfalls die Gewinnung des sündigen Gemeindegliedes. Das ganze 18. Kapitel wird beherrscht vom Thema des „Gewinnens“! Wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hört (παρακούσῃ [ parakousē]): Dann endet die Gemeinschaft mit der Gemeinde und ihrem Christus. Er sei dir wie der Heide (ὁ ἐθνικός [ho ethnikos]) und der Zöllner (ὁ τελώνης [ho telōnēs]). Zu den Begriffen Heide und Zöllner vgl. die Erklärung bei Mt 5,46f. Klar ist: Der Betreffende gehört dann nicht mehr zur Gemeinde des Neuen Bundes (vgl. 1Kor 5,2ff ). Er hat sich selbst exkommuniziert und wird von der Gemeinde exkommuniziert. Jesus ordnet kein Endlosverfahren an, in dem nie klar ist, wer wo steht, sondern einen langen, geduldigen Gewinnungsprozess, der aber am Ende auch ein für alle einsehbares Ergebnis hat: entweder die Rückgewinnung des Bruders oder sein Ausscheiden aus der Gemeinde. Es wird auch kein Vorbehalt sichtbar, wonach der Betreffende „nur“ aus der irdischen Organisation der Kirche ausscheide, aber seine Gemeinschaft mit Christus erhalten bliebe. Solch geheime Vorbehaltsklauseln sind Mt 8,15ff fremd. Was offenbleibt, ist das eschatologische Urteil des Richters im Endgericht. Der Protestantismus ist bei der Anwendung von Mt 18,15-17 gespalten. Dagegen halten die orientalischen und die orthodoxen Kirchen sowie die römisch-katholische Kirche an Mt 18,15-17 fest. 2Thess 3,6; Tit 3,10; 2Joh 10 zeigen, dass man Mt 18,17 in der frühesten Gemeinde tatsächlich angewandt hat. V. 18 erweitert die Binde- und Lösevollmacht von Mt 16,19 auf die ganze Gemeinde des Neuen Bundes. Siehe auch die Erklärung dort. Wenn „ihr“ und „du“ in Vers 10-17 mit Recht auf alle Gemeindeglieder bezogen wurde, dann muss auch das ihr (ὑμῖν [hymin]) von V. 18 für die ganze örtliche und universale Gemeinde gelten.119 In welcher Weise ein Beicht- und Absolutionsverfahren geordnet wird, bleibt hier offen. Wir erinnern uns aber an die gottesdienstliche Generalregel in 1Kor 14,40: „Lasst alles ehrbar und ordentlich (κατὰ τάξιν [kata taxin]) zugehen.“ Wichtig ist, dass auch einzelne wahre, vertrauenswürdige Christen und Christinnen in der Gemeinde diese Bindeund Lösevollmacht in Anspruch nehmen dürfen. Dass binden und lösen in einem weiten Sinn als Zugang-gewähren zum Reich Gottes durch Predigt,

118 An diesem Missverständnis arbeitet sich der Kommentar von Luz III 43ff ab. 119 Zahn 581; Schniewind 200.

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Lehre und Sündenvergebung oder eben als Versagen dieses Zugangs zu verstehen sind, wurde oben schon gesagt.120 Möglicherweise sind die Verse 19-20 thematisch an die Verse 15-18 angeschlossen worden. Durch Matthäus oder schon vorher? Man wird in solchen Fragen nie über Vermutungen hinauskommen. Immerhin deutet die Formulierung „Dazu (Πάλιν [Palin]) sage ich euch“121 auf eine ursprüngliche Selbstständigkeit der Aussagengruppe. Zunächst geht es um die Erhörung des gemeinsamen Gebets (V. 19): Wenn zwei von euch eins werden (συμφωνήσωσιν [symphōnēsōsin]) auf Erden über irgendeine Sache, die sie erbitten wollen, wird es ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. Was auf Erden erbeten wird, wird im Himmel erhört: Das ist keineswegs als allgemeiner religiöser Grundsatz ausgesprochen, sondern als besondere Verheißung für Jesu Gemeinde. Euch (ὑμῖν [hymin]), von euch (ἐξ ὑμῶν [ex hymōn]) kennzeichnet die Empfänger dieser Verheißung. Nur zwei müssen es sein (V. 19 und V. 20). Das ist für die verfolgte Gemeinde ungeheuer tröstlich, die nicht mehr dem Zehnerprinzip der Rabbinen folgen muss. Denn jedenfalls in talmudischer Zeit versammelte man zehn Männer, um zu beten.122 Aber wie schwer ist es andererseits, dass zwei Christen (Christinnen) eins werden über irgendeine Sache (περὶ παντὸς πράγματος [ peri pantos pragmatos]), die sie erbitten wollen! Das griech. Wort für eins werden, das Jesus evtl. als Fremdwort ins Aramäische übernommen hat,123 συμφωνέω [symphōneō], bezeichnet „in Einklang, Harmonie sein“ und wird u.a. für das Zusammenklingen mehrerer Musikinstrumente, für die Sphärenmusik und das Zusammenstimmen von Bausteinen benutzt.124 In solcher Eintracht zu beten kann der Heilige Geist schenken (Hes 11,19; Eph 4,1ff; Phil 2,1ff ). Offenbar hat Jesus diese Eintracht als Zeichen dafür betrachtet, dass wirklich der Neue Bund in Kraft getreten ist (vgl. Hes 11,19; Sach 11,7; Ps 133,1). Wieder erstaunt seine Erhörungsgewissheit: das wird ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. Er schließt damit an die Bergpredigt (Mt 7,7), aber auch an Mt 8,13; 9,29; 15,28 an. Niemand konnte so zum Gebet ermutigen wie er. Aber nun ist ein Punkt besonders zu beachten: In Mt 18,19 geht es um das gemeinsame Gebet der Christen. Wir brauchen das 120 Strack-Billerbeck I 792 engen auf den „Bann“ ein, die Literatur teilweise auf die Exkommunikation. 121 Ob ursprünglich auch ἀμήν stand, lässt sich nicht mehr sicher entscheiden. Näher liegt eine spätere Einfügung. Anders Zahn 582. 122 b Ber 7b. 123 Vgl. Dan 3,5.10.15; O. Betz, Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, 299f. 124 Betz a.a.O., 297.

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gemeinsame Gebet, ebenso wie das einsame Gebet (Mt 6,6). Jeder Christ soll sich umsehen und darum bemühen, dass er an einem solchen gemeinsamen Gebet teilnehmen kann. Auch Luther konnte sagen: „das Gebet ist nirgends so kräftig und stark, als wenn der Haufe einträchtig miteinander betet.“125 Das Gebetsamt ist das wichtigste Amt der Kirche.126 Insofern gehört Mt 18,19 uneingeschränkt in die „Grundregeln für die Gemeinde“.127 Vor allem Jakobus hat in seiner Paränese Jesu Grundregeln weitergegeben (Jak 1,5ff; 5,13ff ). Eine Einschränkung des Gebets von V. 19 auf das Exkommunikationsverfahren, wie es z.B. Fiedler vornimmt,128 wird vom Text weder gefordert noch nahegelegt.129 V. 20 schließt den Abschnitt mit einer Aussage über die Präsenz Jesu: Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Unstreitig geht diese Aussage auf die Zeit nach der Himmelfahrt. Dann ist das Verhältnis des gekreuzigten und auferstandenen Messias zu seiner Gemeinde eine Hauptfrage der künftigen Gemeinde. Zu den Einzelheiten: Denn (γάρ [gar]) zeigt an, dass der Auferstandene in Gemeinschaft mit den in V. 29 erwähnten Gemeindegliedern mitbetet. Dieser für und mit den Seinen betende Messias steht im Mittelpunkt des Interesses des NT und wird nicht zuletzt im Bild des ewigen Hohenpriesters zum Ausdruck gebracht (Röm 8,34; 1Joh 2,1; Hebr 7,25; 9,24). Der Auferstandene ist „dort“/da (ἐκεῖ [ekei]), wo (οὗ [hou]) seine Versammelten (συνηγμένοι [synēgmenoi]) sich treffen. Offenbar hat Jesus die Bezeichnung συναγωγή [synagōgē] („Synagoge“) nicht gebraucht, wohl aber ein Verb, das der „Synagoge“ entspricht. Die Verbindung, in der συνάγειν [synagein] und συναγωγή [synagōgē] zueinander stehen, kann jedenfalls nicht übersehen werden. Mit aller Vorsicht darf gesagt werden, dass Jesus eine geistliche ‫[ כנשׁתא‬knscht’] oder ‫כנסת‬130 [kns̀ t] als Gemeinde des Neuen Bundes erwartet hat. Auch sie ist nicht von einer Zehnzahl der Versammelten abhängig. Es genügen wie in V. 19 zwei oder drei. Die Zahl zwei oder drei durchzieht auffällig den ganzen Abschnitt (V. 16.19.20). Wollte Jesus damit zum Ausdruck bringen, dass seine Gemeinde zunächst

125 Aland Lutherlexikon, 119. 126 Wieder Luther (a.a.O., 117): „Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das höchste Amt in der Christenheit“. 127 Dass Ulrich Luz (Luz III 41.47) immer wieder „Spannungen“ suggeriert, ist nicht nachvollziehbar. 128 Fiedler 306. Auch Carson 403 schränkt ein auf „any judicial matter“. 129 France 276. 130 So die rabbinischen Äquivalente für συναγωγή nach W. Schrage, Art. συναγωγή usw., ThWNT, VII, 1964, 808.

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eine Minderheit in Israel bleibt? Was Jak 2,2 (evtl. Hebr 10,25) über christliche „Synagogen“ zu erkennen gibt, bestätigt unsere bisherige Deutung. Die Versammlung geschieht in meinem Namen. Das griech. εἰς τὸ ἐμὸν (betont!) ὄνομα [eis to emon onoma], zurückgehend auf hebr. ‫שׁם‬ ֵ ‫[ ְבּ‬beschem] oder ‫שׁם‬ ֵ ‫[ ְל‬leschem],131 übersetzt Bietenhard „im Blick auf mich“.132 Berücksichtigt man, dass εἰς τὸ ὄνομα [eis to onoma] auch eine Kausalität (den Grund) aussagt133 und zugleich eine Orientierung bezeichnet – „wegen meinem Namen“, „ermächtigt durch meinen Namen“, „ausgerichtet auf meinen Namen“ –, dann ist der „Blick auf mich“ zu wenig. Es geht vielmehr um den Seinsgrund und den Lebenssinn der Gemeinde Jesu. Kurz gesagt: Es geht eben um Sinn und Auftrag der „christlichen“ Gemeinde. Denn nicht das ὄνομα [onoma] Gottes und nicht das ὄνομα [onoma] der Geistexistenz stehen an der auffälligsten Stelle, sondern eben der Name Christi: Siehe auch 1Kor 1,2; 5,4. Da bin ich mitten unter ihnen (ἐκεῖ εἰμι ἐν μέσῳ αὐτῶν [ekei eimi en mesō autōn]): Ein zeitloses ich bin. Deshalb aufs Engste verwandt mit Mt 28,20 (vgl. auch 1,23). Die Worte mitten unter ihnen spiegeln außerdem Offb 1,13 wider. Ausgesagt ist also die zeitlose Präsenz des Christus in der Gemeinschaft der Seinen. Diese Präsenz ist unabhängig von der Stärke oder Power der Gemeinde. Gerade wo sie eine kleine Kraft hat, ist er „mitten unter ihnen“ (Offb 3,8). Wer seine Gemeinde in Verführung und Verfolgung zerschlägt, schlägt auch ihn. Es wurde schon lange beobachtet, dass Jesus in Mt 18,20 ganz Ähnliches von sich aussagt, was die Rabbinen von der göttlichen Schechina sagen.134 So ist Mt 18,20 letzten Endes nicht nur ein Hinweis auf die Auferstehung Jesu, sondern auch auf seine Göttlichkeit (vgl. Hag 1,13; Joh 14,23).

IV Zusammenfassung 1. Mt 18,15-20 enthält in gedrängter, mnemotechnisch auffallend gut formulierter Weise grundlegende Regeln für die Gemeinde des Neuen Bundes. 2. Wichtig ist die Beobachtung von Strack-Billerbeck, „daß die Synagoge so eingehende Bestimmungen“ für eine Gemeindeordnung „überhaupt nicht kennt“.135

131 132 133 134 135

BDR § 206,2; H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, 270.274. Bietenhard a.a.O., 274. Bietenhard a.a.O. Abot III, 3.6; b Sanh 39a; b Ber 5b. Vgl. Strack-Billerbeck I 794f. Strack-Billerbeck I 787.

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3. Angesichts dieser auf die Zukunft bezogenen Grundlinien ist die Frage nach der Historizität besonders dringlich. Die Meinungen gehen weit auseinander. Sie reichen von der fast völligen Verneinung jesuanischen Ursprungs bei Bultmann136 über die teilweise Verneinung bei Luz137 bis hin zur Bejahung der jesuanischen Herkunft bei Carson.138 Letzten Endes entscheiden hier dogmatische Gründe. Denn Sprachcharakter, historische Umstände und frühe Überlieferung139 lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass Mt 18,15-20 tatsächlich Worte Jesu berichtet. Wir gehen also in unserem Kommentar von der Historizität dieser Worte aus. 4. Die These von Alfred Loisy, Jesus habe das Reich Gottes erwartet, gekommen aber sei die Kirche,140 geht an der Wahrheit vorbei. Denn Jesus hat für die nächste Zukunft die Kirche als Gemeinde des Neuen Bundes erwartet und erst für das Ende dieses Äons die Vollendung des Reiches Gottes.141 5. Je näher wir der Passion rücken, desto deutlicher tritt im Matthäusevangelium die Konzentration auf die künftige Gemeinde (Kirche) hervor. 6. Mit Mt 18,15-20 wird auch den heutigen Kirchen die Frage nach der Kirchenzucht gestellt. Ulrich Luz sagt unumwunden: „Daß sich die Kirchenzucht vor allem in den reformatorischen Kirchen in der Neuzeit langsam aufgelöst hat, ist bekannt.“142 Als Gründe benennt er die Säkularisierung und das Mündigwerden des modernen Menschen.143 Das sind soziologische Gründe. Genügt hier aber eine soziologische Begründung? Gibt es nicht auch, ja noch mehr, theologische Gründe? Dazu gehören unserers Erachtens die schleichende Auflösung der Bibelautorität, die Abschaffung der bischöflichen und kirchenleitenden Lehrautorität gegen Art. 28 CA und das Billigwerden der Sünde („jeder sündigt, egal, was er tut“). Ein Blick auf gegenwärtige dogmatische Positionen lehrt, wie weit unsere Gegenwart sich von der Eindeutigkeit der Worte Jesu entfernt hat. Die frühe Kirche versuchte, vor allem zwei Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Der eine war die Konzentration des Richtens und Strafens bei den „Priestern“, das heißt den Gemeindeleitern, um schädliche Unordnung zu verhindern.144 Der 136 137 138 139 140 141 142 143 144

Bultmann, Gesch, 150ff.382f. Luz III 39ff. Carson 402ff. Vgl. IgnEph 5,2; Did 15,3. Alfred Loisy, L’Évangile et l’Église, 3. Aufl., Bellevue, 1904 [1902], 155: „Jésus annonçait le royaume, et c’est l’Église qui est venue.“ Vgl. Cullmann 138ff. Luz III 50. Luz a.a.O. Beispiel: Johannes Chrysostomus, Texte KV III 361; IV, 186.

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zweite Gesichtspunkt lag in der Bestimmung der Kirchenzucht zu Zwecken der Heilung und Wiederversöhnung: Wir sollen „tun wie ein Arzt, der die Medizinen verabreicht“.145 Heute versuchen offizielle katholische Stellungnahmen, gerade diese Ziele wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Ein Beispiel dafür ist das „Lexikon der katholischen Dogmatik“ von 1987, in dem Werner Löser einerseits an der Ausschlussmöglichkeit (Exkommunikation) „im Sinn des Kirchenrechts“ festhält, andererseits aber konstatiert: Ein solcher „Ausschluß kann nur ein ‚medizinaler‘ sein … In diesem Sinn zielt E. auf jeden Fall auf eine Wiederversöhnung“.146 Viel unklarer ist das Bild im protestantischen „Dogmatik“-Buch von Trillhaas (1962). Einerseits klagt er, das Problem der Exkommunikation sei „seltsam verblaßt“.147 Andererseits „steht es der Kirche auf Erden nicht zu, einen ihr zugehörigen Menschen, einen Getauften, von allen Heilsgütern und von aller Hoffnung auszuschließen“.148 Einen Ausweg aus diesem Dilemma zeigt er nicht. Für Heinrich Ott149 ist „die Teilnahme an der Sendung Jesu Christi“ das entscheidende Kriterium. In der Konsequenz heißt das für ihn: „Vor diesem Kriterium verschwimmen die Grenzen zwischen Kirche und Nicht-Kirche bzw. – falscher Kirchen“150 Auch eine „latente Kirche“ im Sinne von Paul Tillich kann dennoch Kirche sein.151 Im Grunde hat dann Mt 18,15-20 keinen Ort mehr in der Gegenwart. Eigentümlich – wie so oft – ist die Position von Karl Barth. Im ersten Halbband seiner Kirchlichen Dogmatik (1932) benutzt er Mt 18,17, um seine Abwehr jeglicher Häresie zu untermauern. Als die beiden christlichen Haupthäresien benennt er in diesem Zusammenhang den „römischen Katholizismus“ und den „pietistisch-rationalistischen Modernismus“.152 Um wieder in die jüngste exegetische Situation zurückzulenken: Ulrich Luz trifft in Mt 18,15-20 immer wieder auf „Spannungen“, die er letzten Endes für unlösbar hält.153 Die Hauptspannung besteht für ihn „zwischen der Kirchenzucht (V. 15-17) und der Ermutigung zum unbegrenzten Vergeben und zum Suchen des Verlorenen (V. 12-14.21f )“.154 Leitfaden für den Umgang mit diesen Spannungen ist nun nicht ein bestimmtes Jesuswort oder ein bestimmtes Wort der Evangelisten, 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154

Wieder Johannes Chrysostomus, Texte KV III 364. Lex kath Dogm 154. Trillhaas 546. Trillhaas 547. In: Die Antwort des Glaubens, 1972. Ott 390. Ott 389. KD I/1 33. Vgl. Luz III 42.47.56.57.60. Luz III 56.

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sondern ein Prinzip der „grenzenlosen Liebe“.155 Unter den vielen unbestimmten Äußerungen unserer Zeit fällt die dezidierte Aussage Adolf Schlatters besonders auf: Die Christen sollen „gemeinsam die Sünde aus ihrem Leben entfernen. Nur so weit, als dies von uns geschieht, ist Kirche unter uns“.156 Was nun die von Luz geltend gemachten Spannungen betrifft, so erhalten die Worte Jesu ihre Einheit und Eindeutigkeit durch die Ausrichtung auf das Reich Gottes. In diesem Reich steht die Liebe zu Gott und der Wille Gottes vornean (Mt 6,9f; 22,34ff ). Wo offenbare Sünde als Verstoß und Kampf gegen Gottes Willen auftritt, kann die Gemeinde Jesu nicht einfach schweigen oder gar zustimmen, sondern muss letzten Endes zu einer Trennung schreiten. Gleichzeitig soll die Gemeinde so viele Menschen als möglich für das Reich Gottes gewinnen. In der Gottesliebe wurzelt ihre Menschen- und Bruderliebe. Deshalb ist κερδαίνειν [kerdainein] (gemeinsam) eines der Hauptworte in Mt 18,15-20. Alle Schritte der Kirchenzucht im Sinne des Evangeliums haben deshalb als erstes Ziel das Zurückgewinnen des Bruders oder der Schwester. 7. Neben Gemeindeordnung und Kirchenzucht ist die betende Kirche das Hauptthema von Mt 18,15-20. Durchs ganze Evangelium hindurch begegnet uns Jesus als Beter. Immer neu lädt er ein zum Gebet und stärkt unser Vertrauen auf die Erhörung unserer Gebete. Dabei wird nicht verschwiegen, dass Gottes Antwort auch in einem Nein bestehen kann (vgl. Mt 6,5ff; 7,7ff; 8,5ff; 9,27ff.38; 11,25ff; 14,13.23; 15,21ff; 24,42; 26,36ff; 27,46). Wenn Jesus jetzt das gemeinsame Gebet – ob im Gottesdienst oder außerhalb des Gottesdienstes – in die Grundregeln für seine Gemeinde aufnimmt, dann macht er klar, dass er sich die Gemeinde des Neuen Bundes nur als betende Gemeinde vorstellen kann. Deshalb sollten auch die heutigen Kirchen Gebetskreise, Gemeindegebete und Gebetsbewegungen besonders fördern. 8. Dazu gehört auch das Gebet für die Exkommunizierten und Ausgetretenen. Sie können ja zurückkehren, was sogar in 1Kor 5,5 angedeutet ist. Jedenfalls liegt in den Fällen von Mt 18,15-20 noch nicht ohne Weiteres eine unvergebene Sünde vor.

155 Luz III 58. 156 Schlatter 284.

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9.5 Vergebung in der Gemeinde, 18,21-35

I Übersetzung 21 Da kam Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er an mir sündigt? Bis zu siebenmal? 22 Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal. 23 Deshalb verhält es sich mit dem Reich Gottes wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. 24 Als er mit der Abrechnung begann, wurde einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete. 25 Weil er aber nicht imstande war, zu bezahlen, befahl der Herr, ihn und die Frau und die Kinder und seine ganze Habe zu verkaufen, und damit die Schuld zu begleichen. 26 Da fiel der Knecht vor ihm auf die Knie und bat: Hab doch Geduld mit mir, und ich werde dir alles bezahlen! 27 Aber den Herrn jenes Knechtes packte das Erbarmen, und er schenkte ihm die Freiheit und erließ ihm sogar die Schuld. 28 Als aber jener Knecht hinausging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Und er packte ihn am Hals und sagte: Bezahle, was du schuldig bist! 29 Da fiel sein Mitknecht auf die Knie und bat ihn: Hab doch Geduld mit mir, und ich werde es dir bezahlen! 30 Er aber wollte nichts davon wissen, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte. 31 Als nun seine Mitknechte sahen, was da geschah, erfasste sie tiefe Empörung und sie kamen und teilten ihrem Herrn den ganzen Vorfall mit. 32 Da rief ihn sein Herr zu sich und sagt157 zu ihm: Du schlechter Knecht! Die ganze Schuld da habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast! 33 Hättest nicht auch du dich über deinen Mitknecht erbarmen müssen, wie ich mich über dich erbarmt habe? 34 Und sein Herr übergab ihn voll Zorn den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte. 35 So wird es auch mein himmlischer Vater mit euch machen, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.

II Struktur Mt 18,21-35 besitzt zwei klar unterschiedene Teile: 1) das Jüngergespräch zwischen Jesus und Petrus (V. 21-22), 2) das sog. Gleichnis vom Schalksknecht (V. 23-35). – Man kann sogar überlegen, ob man nicht wie die Alandsche Synopse daraus zwei selbstständige Abschnitte macht. Aber in der Kon-

157 λέγει als Praesens historicum.

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zeption des Matthäus ist V. 23-35 so eng in die Antwort Jesu verwoben, dass man V. 21-35 besser zusammenlässt. Während Mt 18,21-22 in Lk 17,4 eine gewisse Parallele besitzt, ist das Gleichnis vom Schalksknecht ein Sondergut des Matthäusevangeliums. Markus fällt hier ganz aus. Es verfestigt sich der Eindruck, dass wir es bei Markus doch mit einer Art Epitome zu tun haben. Das Gleichnis vom Schalksknecht tendiert zur Allegorie.158 Dennoch ist es spannungsreich und dramatisch erzählt.159

III Einzelexegese Da (Τότε [tote]) kam Petrus zu ihm und fragte (V. 21): Wie viel Zeit seit den Geschehnissen von V. 1-20 verstrichen ist, können wir nicht sagen. Auch Lk 17,4 hilft hier nicht weiter. Doch besteht offenbar ein innerer Zusammenhang zwischen der suchenden Liebe, die in Mt 18,15-17 gefordert wird, und der Frage des Petrus. Dass gerade Petrus das Wort ergreift, stimmt mit Mt 15,15; 16,16; 17,4 überein. Es ist jedoch anzunehmen, dass seine Frage auch die übrigen Apostel bewegte. Die Frage: Wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, wenn er an mir sündigt? hat einen spezifischen Zuschnitt. Zuerst durch die Formulierung an mir (εἰς ἐμέ [eis eme]). Sie hat evtl. zu den sekundären Worten εἰς σέ [eis se] in V. 15 geführt, jedenfalls aber ist sie enger als die primäre Fassung von V. 15. Petrus geht es nicht um die Sünde des Bruders im Allgemeinen, sondern um das Unrecht, das er persönlich durch den Bruder erleidet. Außerdem lässt die Formulierung mein Bruder erkennen, dass es um Geschehnisse innerhalb der Gemeinde Jesu geht. „Brüder“ (ἀδελφοί [adelphoi]) wird dann im NT zur häufigen Bezeichnung der Gemeindeglieder.160 Auffällig ist, dass aus dem weiten Themenkreis von Mt 18,15-20 jetzt ausgerechnet das vergeben in den Vordergrund tritt. Aber dasselbe war ja nach dem Vaterunser in Mt 6,14f geschehen. Vergebung ist das, was Jesus in einmaliger Weise bringt (Mt 9,2ff; 1,21). Nun wird das Vergebenkönnen eines der Hauptmerkmale der Jüngerschaft. Wie oft soll ich – vergeben? Bis zu siebenmal? Wer so fragt, begrenzt die Vergebung schon dem Prinzig nach.161 Er möchte an einer bestimmten Stelle sagen: „Jetzt ist es genug“. Die sieben-Zahl ist hier eine biblische Maßzahl, 158 Jeremias, Gleichnisse, 78. 159 Flusser 306f. 160 Deshalb ist die Hinzufügung „oder meine Schwester“ in modernen Übersetzungen (BasisBibel; Gute Nachricht) fantasielos und unnötig. 161 Sand 375f. Das Gespräch bei Luz III 61f; Fiedler 307.

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die eine doppelte Aussage enthält: a) Etwas soll sehr oft geschehen, b) aber es gibt doch eine Grenze, wo der infrage stehende Vorgang einmal aufhören muss.162 Siehe auch Gen 4,15.24; Lev 26,18.21; Hi 2,13; Spr 24,16; Mt 12,45. Vielleicht bezieht sich Petrus sogar direkt auf Gen 4,15ff.163 Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal (V. 22): Der Zielpunkt Jesu ist eindeutig. Er will unbegrenzte Vergebung. Denn die von ihm genannte Zahl lässt sich im praktischen Leben gar nicht nachzählen. Jedoch steckt in V. 22 ein Übersetzungsproblem. Heißt ἑβδομηκοντάκις ἑπτά [hebdomēkontakis hepta] siebzigmal siebenmal164 oder „siebenundsiebzigmal“165? Für Letzteres beruft man sich auf Gen 4,24 im Septuagintatext. Aber auch der LXX-Text unterliegt der „Unklarheit“, wie Luz und Rengstorf166 betonen. Da nun ἑβδομηκοντάκις ἑπτά [hebdomēkontakis hepta] wörtlich eben nicht „siebenundsiebzigmal“ bedeutet, sondern „siebzigmal sieben“ (= 490)167 ziehen wir siebzigmal siebenmal (= 490) vor. Im Übrigen hat R.T. France recht: Über diese Zahlen zu streiten, wäre ein Rückfall in jenes Denken, das Jesus gerade nicht wollte („is to return to the pedantic calculation which Jesus rejects“).168 Wir fügen hinzu, dass Lk 17,4 sich in Kontext und Formulierung deutlich von Mt 18,22 unterscheidet. Vor allem ist es das Motiv der Reue des Bruders, das Lk 17,4 einen eigenen Charakter verleiht. Deshalb scheint Lk 17,4 bei einer anderen Gelegenheit gesprochen. Seine kompromisslose Antwort in V. 22 erläutert Jesus nun durch das „Gleichnis vom Schalksknecht“: Deshalb verhält es sich169 mit dem Reich Gottes wie mit einem König170, der mit seinen Knechten abrechnen171 wollte. Deshalb (Διὰ τοῦτο [Dia touto]) drückt die innere Verbindung des Gleichnisses mit der Anweisung von V. 22 aus, im Deutschen fast so viel wie 162 Anders K. H. Rengstorf, Art. ἑπτά usw., ThWNT, II, 1935, 627: Sieben bezeichne „eine unendliche Reihe“. Wie Rengstorf Fiedler 307; Luz III 61f. Wie wir Carson 405; France 277; Sand 375f. Für unsere Deutung spricht die rabbinische Diskussion. 163 Schniewind 202; France 277; Beare 381. 164 So z.B. Schniewind 201; Sand 375; Tasker 178; Zahn 584; Fiedler 307; Gute Nachricht; BasisBibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Lutherbibel; Vulgata; TestXII. 165 Letzteres BDR § 248, 2.3; Bauer-Aland 429; Hengel-Schwemer 449; Luz III 61; NGÜ; BGS; Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; Carson 404f; Schlatter 286; Beare 381. 166 Luz III 61,1; Rengstorf a.a.O., 628. Ebenso Strack-Billerbeck I 797. 167 Vgl. Zahn 584,43. 168 France 277. Dem Sinne nach ebenso Rengstorf a.a.O. 169 Zur Übersetzung Jeremias, Gleichnisse, 100f.207; BDR § 333,6. 170 So ist ἄνθρωπος βασιλεύς zu übersetzen, BDR § 242. 171 Zum Sprachlichen vgl. BDR § 310,1.

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die Redewendung „Es ist ja so, dass …“. Weil König und Abrechnung öfter Bildworte sind, die sich auf Gott beziehen (vgl. Mt 20,1ff; 22,2ff; 24,45ff; 25,14ff )172, ist von Anfang an klar, dass Jesus in Mt 18,23ff von Gottes Handeln spricht. Die Knechte sind dementsprechend nicht untere Beamte oder Bedienstete, sondern „seine obersten Beamten“.173 Am Beginn der Abrechnung (V. 24) wurde einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete.174 Der Ausdruck προσηνέχθη [ prosēnechthē], wurde gebracht, „wurde vorgeführt“, kann auf zweierlei Weise gedeutet werden: Entweder meint er das Zum-König-Bringen gemäß dem Hofzeremoniell, oder das Vorführen aus der Haft.175 Es gab ja auch die „vorsorgliche Haft bei Verdacht der Untreue“ (Gen 40,1ff ). Wir müssen hier beide Deutungsmöglichkeiten offenlassen. Die Schuldsumme zehntausend Talente sprengt alle normalen Vorstellungen. Heinz Schröder berechnet sie auf 100 Millionen Denare,176 wobei 1 Denar dem Tageslohn eines Arbeiters entspricht. Zum Vergleich: Der jährliche Steuerertrag für die Söhne des Herodes (Archelaus, Antipas, Philippus) belief sich auf neunhundert Talente;177 der Tempelschatz betrug nach 2Makk 5,21 eintausendachthundert Talente.178 Dachte Jesus an einen persischen Satrapen, „der den Steuerertrag seiner Provinz schuldig geblieben ist“?179 Wahrscheinlich ist es, dass Jesus nicht an einen bestimmten historischen Vorfall dachte, sondern von sich aus eine gleichnishafte Summe nannte, um die spätere kleine Summe von hundert Denaren (V. 28) richtig ins Licht zu rücken.180 Ohne auf weitere Details einzugehen, sagt Jesus, was der Herr = der König vorhat (V. 25). Herr, κύριος [kyrios], sem. ‫[ בעל‬b‘l] oder ‫’[ אדון‬dwn], ist eine Bezeichnung, die man ohne Weiteres auf Fürsten, ja sogar Götter anwenden konnte.181 Der Schuldner ist nicht in der Lage, zu bezahlen (ἀποδοῦναι [apodounai]), das Geschuldete seinem Herrn „zurückzugeben“.182 Deshalb befahl der Herr, ihn und die Frau und die Kinder und seine ganze Habe zu verkaufen, und damit die Schuld zu begleichen. Das verkaufen von Menschen 172 Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 24,1. 173 Jeremias, Gleichnisse, 208. Die Übersetzung „Sklaven“ passt deshalb nicht. Gegen Fiedler 306; Luz III 64. Richtig Sand 378. 174 Zur Übersetzung „einer …“ für εἷς ὀφειλέτης vgl. Jeremias a.a.O. 175 Für Letzteres Jeremias a.a.O. Vgl. K. Weiß, Art. φέρω usw., ThWNT, IX, 1973, 68. 176 Schröder 191. Ebenso Jeremias a.a.O. 177 Josephus Ant XVII, 318ff. 178 Weitere Beispiele bei Hengel-Schwemer 449, 115; Luz III 69, 32. 179 So Jeremias a.a.O. Vgl. France 277; Beare 382. 180 Tasker 178; Schniewind 202. 181 Vgl. G. Quell / W. Foerster, Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, 1038ff. 182 F. Büchsel, Art. δίδωμι usw., ThWNT, II, 1935, 170.

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kommt im AT mehrfach vor.183 Nach Ex 22,2 wurden Diebe verkauft, die den Schaden nicht ersetzen konnten. Nach Lev 25,39.42.47f; Deut 15,12 verkauften sich verarmte Israeliten selbst, durften jedoch nicht als Sklaven behandelt werden. Ganz allgemein war der „Verkauf von Schuldnern in die Sklaverei … im hellenistischen wie im römischen Recht gestattet“.184 Man muss damit rechnen, dass im Israelland zur Zeit Jesu auch hellenistische und römische Schuldverhältnisse bekannt, evtl. sogar existent waren.185 Für die Hörer sagte also V. 25 nichts Ungewöhnliches. Allerdings unterstreicht die lange Aufzählung ihn und die Frau und die Kinder und seine ganze Habe die Härte des Vorgangs. Der Herr hoffte auf diese Weise, wenigstens einen Teil seiner Schulden wieder einzutreiben. Auf jeden Fall aber musste der Schuldner Strafe erleiden. Gemeint ist ja wohl doch ein verkaufen in die Sklaverei.186 Siehe auch 2Kön 4,1; Jes 50,1; Am 2,6; Neh 5,5. Vers 26 – Da fiel der Knecht vor ihm auf die Knie – hat typisch orientalisches Flair. προσεκύνει [ prosekynei] bedeutet eigentlich: „er huldigte ihm unterwürfig“, und zwar lange und herzzereißend (Imperfekt, durativ und iterativ).187 Die Vorgänge am persischen Hof nach Est 7,7ff liefern dazu eine gute Illustration. Was der Knecht sagt, ist keine rationale Beweisführung, sondern ein Aufschrei in größter Not: Hab doch Geduld mit mir, und ich werde dir alles bezahlen. Schniewind hat recht: Man sieht keine Möglichkeit, wie der Knecht alles bezahlen soll. Und dennoch „bleibt die Erzählung nahe beim Leben“: Ein Geängsteter verspricht alles.188 Flusser berichtet dazu ein schönes Parallelgleichnis von Rabbi Akiba.189 Und auch dies bestätigt noch einmal, dass sich die Hörer von Mt 18,23ff rasch in den Metaphern und Gleichnishandlungen zurechtfanden. Halten wir fest: Der Knecht „bittet nicht um den Erlaß der Schuld; so viel wagte er nicht“.190 Vers 27 erzählt die überraschende Wende: Aber den Herrn jenes Knechtes191 packte das Erbarmen,192 und er schenkte ihm die Freiheit und erließ ihm sogar die Schuld.193 Als ein ganz und gar Befreiter ging der Knecht 183 Vgl. H. Preisker, Art. πιπράσκω, ThWNT, VI, 1959, 160; M. Gräßer, Art. Schuld, Schuldner, GBL 3, 1409f. 184 Luz III 69. 185 Luz III 70. 186 Gräßer a.a.O. „Schuldknechtschaft“. Schlatter 287: „Sklaverei“. Ebenso Carson 406. 187 Vgl. BDR § 328,3. 188 Schniewind 202. 189 Flusser 308. 190 Schlatter a.a.O. 191 Übersetzung nach BDR § 176,1. 192 σπλαγχνισθείς als ingressiver Aorist, vgl. BDR § 331. 193 Zur Übersetzung vgl. Jeremias, Gleichnisse, 209; Luz III 70.

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von dannen. Jesus hat in Lk 7,41f einen solchen Gleichnisstoff noch einmal benutzt. Nun beginnt in V. 28 der zweite Teil des Gleichnisses. Was geschieht, ist nicht märchenhaft, sondern oft im Leben erfahren: Als aber jener Knecht hinausging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Hinaus: nämlich aus dem Raum, in dem die Verhandlung beim König stattgefunden hatte.194 Mitknechte (σύνδουλοι [syndouloi]) sind ebenfalls hochgestellte Personen am Hof.195 Auch in der Crème de la Crème leiht man sich gegenseitig und macht untereinander Schulden. Hier ist die Schuldsumme extrem gering. Hundert Denare ist nur der millionste Teil jener Summe, die der erste Knecht seinem Herrn schuldete. Hundert Denare: Das sind hundert Tagelöhne eines Arbeiters (Mt 20,1ff ) – eine lächerliche Summe für jene Hofkreise, unter denen wir uns jetzt bewegen. Und er packte ihn am Hals (oder: „und er packte ihn und würgte ihn“)196 und sagte: Bezahle … Auch das kommt bis heute in den besten Kreisen vor, wie unsere Schauspieler, Fußballer und Medienstars beweisen. Rabbinische Beispiele bei Strack-Billerbeck (I, 799). Bis dahin ist sozusagen alles normal verlaufen. V. 29 bildet das genaue Spiegelbild zu V. 26. Der Mitknecht richtet an den ersten Knecht dieselbe Bitte, wie sie dieser seinem Herrn gegenüber geäußert hatte: Hab doch Geduld mit mir, und ich werde es dir bezahlen. Er will nur Geduld, das heißt, dass der Gläubiger ihn aus dem Würgegriff frei gibt und ihm ein wenig Zeit lässt. Er will keinen Schuldenerlass, im Gegenteil, er will seine Schuld bezahlen. In seinem Fall ist es sogar ein realistisches Versprechen, was ja in V. 26 höchst zweifelhaft war. Hundert Denare: Das kann man leisten. Er aber wollte nichts davon wissen (V. 30): Schreiend baut sich der Gegensatz zu V. 27 auf, wo es hieß: „den Herrn packte das Erbarmen“. Von Erbarmen findet sich beim begnadigten Knecht keine Spur. Dabei liegt es völlig an dessen Willen (er wollte nicht)197! Wo in V. 27 Freiheit und Schuldenerlass stattfinden, endet V. 30 mit Gefängnis und Gnadenlosigkeit. Er ging weg (ἀπελθών [apelthōn]) hat auch eine geistliche Dimension: Der begnadigte Knecht wendet sich von seinem Schuldner ab. Er verkauft den Schuldner zwar 194 Tasker 178. 195 Luz III 71 sagt richtig, „daß die beiden derselben Klasse angehören“. Von daher stößt es auf Bedenken, wenn Jeremias, Gleichnisse, 209 den zweiten Knecht als „Unterbeamten“ des ersten beschreibt. 196 Gegen Bauer-Aland 1363 kein Impf. de conatu, sondern ein duratives Impf. („er hielt ihn im Würgegriff “). 197 Zum Impf. vgl. BDR § 327,4.

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nicht als Sklaven – geht Jesus schon davon aus, dass man bei so kleinen Summen nicht in die Sklaverei verkaufen durfte?198 –, aber er setzt die Schuldhaft199 durch, bis der letzte Quadrans (Mt 5,26) bezahlt ist. Jeder Hörer des Gleichnisses muss sich fragen: Warum hat ihn sein eigenes Erleben nicht mitleidig und barmherzig gemacht? Aber der Vorgang bleibt nicht unbeachtet. Als nun seine Mitknechte sahen, was da geschah, erfasste sie tiefe Empörung und sie kamen und teilten ihrem Herrn den ganzen Vorfall mit (V. 31): Mitknechte, σύνδουλοι [syndouloi], bezeichnet in der LXX „hohe Beamte, darunter die Gouverneure von Palästina und Syrien“.200 Schon deshalb hätte Jeremias den Mitknecht von V. 28 nicht als „Unterbeamten“ charakterisieren dürfen.201 Wenn ferner die Mitknechte hochgestellte Personen am Hofe sind, dann kann sich der Vorfall nicht „auf der Straße“ ereignet haben,202 sondern eher im Palastbereich. Das griech. ἐλυπήθησαν [elypēthēsan] kann verschieden übersetzt werden: „sie wurden sehr betrübt“203 oder sie erfasste204 tiefe Empörung.205 Vom Kontext her liegt Letzteres näher. Das griech. διεσάφησαν [diesaphēsan] bedeutet genaues Schildern und Melden und ist „Ausdruck für den Bericht eines Untergebenen an seinen Vorgesetzten“.206 Nun neigt sich das Gleichnis dem Ende zu. Der Herr rief den zuerst begnadigten Knecht zu sich und sprach ihm sein Urteil (V. 32-33). An dieser Stelle wird deutlich, wie oberflächlich manche christlichen Sätze klingen, etwa der Satz: „Gott liebt dich bedingungslos.“ Stattdessen müsste man sagen: „Gottes Liebe lässt uns seine Wege gehen, damit wir zum ewigen Leben kommen.“ Hier, bei seinen Wegen, können wir aussteigen oder mitkommen. Du schlechter Knecht! (δοῦλε πονηρέ [doule ponēre] = ‫שׁא‬ ָ ‫‘[ ַעְב ָדּא ִבי‬abdā’ bīschā’]207): Wie in Mt 25,26 deutet sich damit die Verurteilung an. Was hat er falsch gemacht? Er hätte auch so handeln sollen wie sein Herr (V. 33)! Er hätte

198 199 200 201 202 203 204 205 206 207

Entsprechende rabbinische Regeln bei Strack-Billerbeck I 797f. Vgl. Jeremias a.a.O. Jeremias, Gleichnisse, 209. Jeremias a.a.O. Dass BGS hier „Mitsklavinnen und Mitsklaven“ übersetzt, ist historischer Unverstand und Textfälschung. Gegen Jeremias a.a.O. Lutherbibel; Bauer-Aland 977; Neue Jerusalemer Bibel; Revidierte Elberfelder Bibel; BGS; Schlatter 289; Schniewind 202. Ingressiver Aorist. Ebenso Jeremias, Gleichnisse, 210; BasisBibel; NGÜ („entsetzt“); Fiedler 306 („ungehalten“); Luz III 72; Beare 382; Sand 378. Anders Mt 17,23. So Jeremias a.a.O. Vgl. Carson 407. Vgl. Strack-Billerbeck I 800.

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sich auch so über seinen Mitknecht erbarmen müssen,208 wie sich sein Herr über ihn erbarmt hat. Damit wird das Erbarmen im Sinne von Mt 9,13; Hos 6,6 zur Leitlinie des Jüngerverhaltens. Vergebung zu empfangen, ohne Vergebung zu schenken, ist unmöglich (Mt 6,14f; 1Joh 4,11). Hier notieren wir, dass Jesus in Mt 18,23-35 überhaupt nicht die Frage erörtert, wie oft wir vergeben sollen (anders V. 21f ). Aber gerade dadurch macht er deutlich, dass wir unser Vergeben dem Bruder gegenüber nicht begrenzen (vgl. Lk 6,36).209 In welch seltsame Gedankengänge Ausleger manchmal geraten, sieht man an Ulrich Luz. Er beschäftigt sich mit dem „Wortbruch des Königs“ und dem scheinbaren Zusammenbruch der „konstitutiven Ordnung“ für die Leser und Leserinnen.210 Solche „Wort- und Zusammenbrüche“ gibt es nicht einmal in unserem bürgerlichen Recht, das mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage auch die dazugehörigen Zusagen wegfallen lässt. Erst recht gelten Gottes Zusagen nur dort, wo sie der Mensch annimmt, aber nicht dort, wo er sie verachtet. Wir stehen einem souveränen Gott gegenüber, und nicht einem Gott, der durch irgendwelche Gesetzmäßigkeiten gebunden wäre.211 Und sein Herr übergab ihn voll Zorn den Folterknechten (V. 34): Nicht nur ein Mal spricht Jesus in den Evangelien vom Zorn des Königs = Gottes (Mt 22,7; Lk 14,21). Vom Gott der Liebe kann man biblisch nur sprechen, wenn man auch diesen Zorn des heiligen Gottes zur Sprache bringt. Die Folterknechte (βασανισταί [basanistai]) entsprechen sachlich dem Gerichtsdiener von Mt 5,25; Lk 12,58. Sie sollen aus dem Schuldner und aus dem Mitleid der Verwandtschaft das Äußerste herauspressen. Siehe auch die Geiselnehmer unserer Gegenwart, die zu diesem Zweck die abgeschnittenen Ohren ihrer Geiseln versenden. Siehe auch das einprägsame Bild im Großen Bibellexikon, das einen ägyptischen Steuerzahler zeigt, der an einen Pfosten gepresst und geschlagen wird (aus Sakkara, Grab des Mereruka, ca. 2300 v.Chr.).212 Bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte (vgl. Mt 5,26; Lk 12,59): Einen Nachlass gibt es nun nicht mehr, geschweige denn eine vorzeitige Entlassung. Wer sich auf sein Recht versteift, wer die Barmherzigkeit verweigert, der muss auch nach dem Recht verfahren und für die ganze Schuld einstehen. Hier tritt uns der Gott des Rechts entgegen, weil der Gott der Barmherzigkeit abgelehnt wurde. Aber wie könnte der Mensch je die ganze Schuld (πᾶν τὸ ὀφειλόμενον

208 209 210 211 212

ἔδει bezeichnet wirklich ein „müssen“. Anders b Joma 86b. Luz III 72. Gegen Spinoza. GBL 3, 1420.

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[ pan to opheilomenon]) bezahlen? Er bleibt ewig verloren, wenn er sich nur selbst helfen will. Jesus zieht jetzt aus dem Gleichnis die Konsequenz (V. 35): So wird es auch mein himmlischer Vater mit euch machen, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder. Es war längst schon klar, dass der König/Herr ein Bild für Gott und die Knechte ein Bild für die Jünger darstellten. Jetzt sind nur noch drei Punkte hervorzuheben. Erstens: Jesus deutete seine Gleichnisse gelegentlich selbst. Es ist nicht nötig, Mt 18,35 mit Jeremias213 als „sekundäre Verchristlichung“ zu betrachten, nur weil die Nutzanwendung auf den christlichen Bruder gemacht wird. Und dies umso weniger, weil Jesus von alttestamentlichen Stellen ausgehen kann. Siehe auch Lev 19,17, aber auch Sir 27,33ff.214 Zweitens: In Mt 18,35 stehen sich Jesu Vater, mein himmlischer Vater, und die Jünger (So wird er es mit euch machen, ποιήσει ὑμῖν [ poiēsei hymin]) profiliert gegenüber. Gott als der richtende Gott wird auch für seine Kinder, die Jünger, niemals ein niedlicher Freund, sondern bleibt der Heilige und unendlich Souveräne. Drittens: Die Formulierung von Herzen (ἀπὸ τῶν καρδιῶν ὑμῶν [apo tōn kardiōn hymōn])215 fällt auf. Sie steht betont am Ende. Sie erinnert an „dein Herz“ in Lev 19,17. Es geht also nicht um ein oberflächliches Auskommen mit dem Bruder, sondern um jene wahrhaftige, brennende Bruderliebe, die man auch im Gebet aussprechen kann (vgl. Mk 11,25; Röm 12,9ff; Phil 2,1ff; Kol 3,12f; 1Petr 1,22). Mit ihr schafft Jesus eine starke Grundlage für die Glaubensgemeinschaft des Neuen Bundes. Sie wird zum wirksamsten Werkzeug der Mission: „Seht, wie haben sie einander so lieb.“216 Siehe auch noch Mt 5,7; Lk 6,36; Jak 2,13.

IV Zusammenfassung 1. Mt 18,21-35 ist das ganze Kapitel wie Mt 18 ein „ekklesiologischer Fundamentaltext“.217 Das heißt, hier trifft Jesus Anordnungen, die für die Gemeinde des Neuen Bundes grundlegend sein sollen. 2. Hauptinhalt von Mt 18,21-35 ist die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft der Gemeindeglieder untereinander. Man hat immer wieder versucht, den Bruder von Mt 18,21.35 als „sekundäre Verchristlichung“ zu betrachten und

213 Jeremias, Gleichnisse, 108. 214 Flusser 306f. 215 Nach J. Behm im Art. καρδία usw., ThWNT, III, 1938, 615 der „Gegensatz zur Außenseite“. Behm verweist auf Klgl 3,33. 216 Vgl. Tertullian im Apologeticum 39,7. 217 Luz III 81.

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dadurch den Gemeindebezug aufzuheben.218 Aber schon in Lev 19,17 ist der Bruder (‫’[ ָאח‬āch]) nicht nur Volksgenosse, sondern auch Angehöriger der alttestamentlichen Theokratie, also des Gottesvolkes, und dasselbe trifft auf den „Nächsten“ (ὁ πλησίον [ho plēsion]) von Sir 27,30ff zu. Wie soll Jesus in Mt 18,21-35 denn von dem Thema der Gemeinde des Neuen Bundes abrücken, das er seit Mt 18,1 behandelt hat? 3. Auch die kritische Exegese hält fest, „Daß Jesus der erste Erzähler der Parabel war“.219 Jedoch teilt man in der Regel den 35. Vers der MatthäusRedaktion zu und sieht auch bei manchen Einzelheiten Matthäus am Werk. Die Argumente, mit denen man jeweils die Echtheit bestreitet, erscheinen als sehr subjektiv. Es gibt bei genauem Zusehen keine Aussage, die man Jesus zwingend absprechen müsste. 4. Interessant ist ein Vergleich mit b Joma 86b. Dort wird als rabbinische Lehre notiert: „Wenn jemand einmal eine Sünde begeht, so vergibt man sie ihm, zum zweiten Male vergibt man sie ihm ebenfalls, zum dritten Male vergibt man sie ihm ebenfalls, zum vierten Male vergibt man sie ihm nicht mehr.“ Das ist dieselbe Auffassung, wie sie von Petrus in V. 21 vertreten wurde. Jesus hingegen will unsere Vergebung untereinander nicht begrenzen.220 5. Es lässt sich nicht bestreiten, dass Mt 18,23-35 auch ein Endgerichtsgleichnis darstellt.221 Mit Recht halten Theißen-Merz fest: „Die These, Jesus habe nicht mit einem endzeitlichen Gericht Gottes gerechnet und sich Gott nicht als Richter vorgestellt, ist u.E. unhaltbar.“222 Dieses endzeitliche Gericht „fordert … ein entsprechendes Verhalten des Menschen“.223 6. Zur Auslegungsgeschichte merkte Luz an, sie habe „im ganzen unsere Parabel [= Mt 18,23ff] recht stiefmütterlich behandelt“.224 In der Tat ist man erstaunt, dass sich die Dogmatik bei dem Thema Vergebung schnell auf die Vergebung unserer Sünden fokussiert und zur Vergebung untereinander viel weniger zu sagen hat. Selbst in Veröffentlichungen, die auf die gemeindliche Praxis ausgerichtet sind, wie z.B. der Evangelische Erwachsenenkatechis-

218 So Jeremias, Gleichnisse, 108; Luz III 74f. 219 Luz III 68; Theißen-Merz 247. Ganz kritisch Beare 383; auch Sand 379; bei HengelSchwemer 371 ist Mt 18,21f „sekundär“. Zum jesuanischen Ursprung vgl. insbesondere Flusser 306ff. 220 Vgl. Strack-Billerbeck I 800f. 221 Jeremias, Gleichnisse, 210; Theißen-Merz 512. Fiedler 307 insistiert jedoch mit Recht darauf, dass das Gleichnis nicht weniger „die aktuelle Gemeindesituation im Blick“ hat. 222 Theißen-Merz a.a.O. 223 Wieder Theißen-Merz a.a.O. 224 Luz III 76.

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mus225, sind die Bezugnahmen auf Mt 18,21-35 eher spärlich. Jedoch hat die apostolische Paränese (Eph 4,32; Kol 3,13) und die altkirchliche Auslegung226 schon früh an dieses Matthäus-Sondergut angeknüpft.

10. Ereignisse in Peräa, 19,1–20,16 Vorbemerkung Vor der Passionserzählung, die in Mt 21,1 beginnt, berichtet Matthäus noch von zwei Geschehnisfolgen, deren eine in Peräa angesiedelt ist (19,1–20,16), während die andere sich auf dem Weg von Peräa nach Jerusalem ereignet (20,17-34). Galiläa wird der irdische Jesus nicht mehr betreten. Der Schatten, den Jerusalem und das Todespassa werfen, wird stärker.

10.1 Heilungen in Peräa, 19,1-2

I Übersetzung 1 Und es geschah, als Jesus diese Reden abgeschlossen hatte, dass er Galiläa verließ und in das judäische Gebiet jenseits des Jordan kam. 2 Und die Leute folgten ihm in Scharen, und er heilte sie dort.

II Struktur Dieser kleine Bericht weist verschiedene Strukturelemente auf. Einerseits ist er eine Art Reisebericht. Andererseits ist er ein Summarium. Gleichzeitig bildet er einen Abschluss zu Kapitel 18 und eine Einleitung zum 19. Kapitel. Dabei arbeitet Matthäus mit Formulierungen und Redewendungen, die wir schon kennen (zu ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους [hote etelesen ho Iēsous tous logous] vgl. 7,28; 11,1; 13,53; 26,1; zu μετῆρεν [metēren] 13,53; zu πέραν τοῦ Ἰορδάνου [ peran tou Iordanou] 4,15.25). Der Sprachstil ist semitisch (Καὶ ἐγένετο ὅτε [Kai egeneto hote] …). Mk 10,1 stellt eine enge Parallele dar.

225 Ev Erwachsenenkatechismus, 810.1196f. 226 Beispiele: Didache (15,3); HebrEv; Clemens Al in seinen Stromateis (VII, 13, 82,1).

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III Einzelexegese Und es geschah, als Jesus diese Reden abgeschlossen hatte (V. 1) setzt eine deutliche Zäsur. Nachdem sich Jesus in Kap. 18 auf die Gemeinde des Neuen Bundes konzentriert hatte, erfolgt nun ein thematischer und geografischer Wechsel. Dieser Wechsel ist nicht zuletzt durch den jüdischen Festkalender bedingt, der Passa näherrücken lässt. Jesus hat, soweit wir wissen, die jüdischen Feste und die Wallfahrtspflichten ernst genommen (vgl. Joh 2,13; 5,1; 7,2ff; 10,22). … dass er Galiläa verließ: Wie schon bemerkt, hat er es vor der Auferstehung nicht mehr betreten. Normalerweise lesen wir über solche und ähnliche Worte leicht hinweg. Doch was bedeuteten sie für Jesus? Verlust einer geliebten Heimat, ein Abschied mit allen menschlichen Schmerzen, die Erfahrung der Begrenztheit unseres Menschseins (vgl. Hebr 2,17). Er kam in das judäische Gebiet jenseits des Jordan: πέραν τοῦ Ἰορδάνου [ peran tou Iordanou] ist die Wurzel unseres Begriffs Peräa. Es tauchte schon 4,15 und 4,25 auf. Siehe auch die Erklärung dort. Obwohl Peräa mit Galiläa zusammen den Herrschaftsbereich des Herodes Antipas bildete, konnte man es geografisch und bevölkerungsmäßig zum judäischen Gebiet rechnen.1 Wichtig ist, dass Peräa nach Num 32 den Stämmen Ruben und Gad sowie dem halben Stamm Manasse zufiel und deshalb auch ein Land des Messias war. Seine Fruchtbarkeit hat J.H. Paterson gut beschrieben.2 Für Jesus und seine Jünger, ja für die galiläischen Festpilger insgesamt, bot es den Vorteil, dass man vom See Genezareth über die Peräa-Route, d.h. das Ostjordanland, nach Jerusalem wanderen konnte, ohne samaritanisches Gebiet zu überqueren. In aller Kürze zeichnet V. 2 erneut ein imponierendes Bild: Und die Leute folgten ihm in Scharen (ὄχλοι πολλοί [ochloi polloi]). Wie in Mt 4,25; 5,1; 8,18; 9,36; 12,15; 13,2; 14,13; 15,30 strömen die Massen weiter zu Jesus. Auch Peräa macht da keine Ausnahme (vgl. Mt 4,25). Äußerst knapp schildert Matthäus das Geschehen: und er heilte sie dort. Wie in Mt 4,23; 8,16, 12,15; 14,14; 14,35f; 15,30 steht also die Heilungstätigkeit Jesu im Vordergrund. Er bleibt ein Messias der Barmherzigkeit. Dass er aber auch in Peräa verkündigt und lehrt, ist geradezu selbstverständlich3 (vgl. die folgenden Abschnitte V. 3ff.13ff.16ff.27ff; 20,1ff ). Siehe auch noch Mk 10,1.

1 Skeptisch Luz III 92: Matthäus „wußte geographisch-historisch nicht genau Bescheid“. Vgl. Theißen-Merz 46. Dagegen wie wir Dalman 4,146.190, gestützt auf Josephus Ant XII, 229.233; Beare 385; Schlatter 291. 2 In GBL 3, 1153f. 3 Zahn 588.

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IV Zusammenfassung 1. Peräa ist als altes Israelland (Num 32), seit der Makkabäerzeit wieder jüdisch besiedelt, für Matthäus wichtig genug, dass er es im Rahmen der Jesusgeschichte erwähnt. 2. Noch immer genießt Jesus Vertrauen und Aufmerksamkeit im Volk. 3. Heilend und verkündigend ist Jesus auch beim letzten Gang nach Jerusalem der barmherzige Messias.

10.2 Die Frage der Ehe und Ehescheidung, 19,3-12

I Übersetzung 3 Und einige Pharisäer traten an ihn heran, versuchten ihn und fragten: Ist es einem Mann erlaubt,4 seine Frau aus jedem beliebigen Grund zu entlassen? 4 Er aber gab zur Antwort: Habt ihr nicht gelesen, dass sie der Schöpfer von Anfang an als Mann und Frau geschaffen 5 und gesagt hat: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein? 6 So sind sie nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. 7 Sie sagen zu ihm: Warum hat dann Mose vorgeschrieben, einen Scheidungsbrief zu geben und sie daraufhin wegzuschicken? 8 Er sagt zu ihnen: Weil Mose euch im Blick auf eure Herzenshärtigkeit erlaubt hat, eure Frauen wegzuschicken. Ursprünglich aber ist es nicht so gewesen. 9 Ich sage euch aber: Wer seine Frau wegschickt, es sei denn wegen Unzucht, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. 10 Die Jünger5 sagen zu ihm: Wenn die Sache eines Mannes mit der Frau so steht, dann sollte man besser nicht heiraten. 11 Er aber sagte zu ihnen: Nicht alle begreifen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn es gibt Verschnittene, die so von Mutterleib an gewesen sind. 12 Und es gibt Verschnittene, die von Menschen verschnitten worden sind. Und es gibt Verschnittene, die sich um des Reiches Gottes willen selbst verschnitten haben. Wer es begreifen kann, der begreife es.

II Struktur Mt 19,3-12 umfasst zwei Ereignisse: a) eine Diskussion mit einer Gruppe Pharisäer (V. 3-9), b) ein Gespräch mit den Jüngern (V. 10-12). Von daher 4 Zu εἰ vgl., BDR § 440,5. 5 Das αὐτοῦ nach μαθηταί ist offenbar nachträglich zur Verdeutlichung eingesetzt (lectio levior).

10. Ereignisse in Peräa, 19,1–20,16

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könnte man zwei selbstständige Abschnitte bilden.6 Jedoch teilen diese beiden Ereignisse nicht nur das Thema, sondern das zweite Ereignis nimmt auch einen so engen Bezug auf das erste (οὕτως [houtōs] V. 10), dass es wie dessen Fortsetzung erscheint. Deshalb lassen wir wie die meisten Kommentare V. 312 zusammen. In der Markus-Parallele (10,2-12) fehlen die Worte über die Verschnittenen. Mt 19,10-12 stellt also ein Sondergut dar. Andererseits ist die Abfolge in Mt 19,1-12 und Mk 10,1-12 im Großen und Ganzen gleich. Wir rechnen deshalb damit, dass diese Ereignisse tatsächlich in Peräa stattgefunden haben. Lukas fällt bis auf Lk 16,18 hier aus. Die Gliederung von Mt 19,3-12 ist durchsichtig: 1) Die Pharisäer prüfen Jesus mit einer Gesetzesfrage (V. 3); 2) Jesus gibt ihnen seine Antwort (V. 46); 3) sie bringen einen Einwand (V. 7); 4) er antwortet noch einmal (V. 8-9); 5) ein Gespräch mit den Jüngern schließt sich an (V. 10-12).

III Einzelexegese Ohne die genaueren Umstände zu erwähnen, geht Matthäus sofort medias in res: Und einige Pharisäer traten an ihn heran, versuchten ihn und fragten … (V. 3). Weil vor Φαρισαῖοι [Pharisaioi] der Artikel fehlt (auch bei Markus), müssen wir übersetzen: einige Pharisäer.7 Wieder ist deutlich, dass Matthäus Pauschalurteile meidet und dass keineswegs alle Pharisäer Gegner Jesu waren. Die Initiative liegt bei den genannten Pharisäern.8 Was sie zu ihrem Vorgehen veranlasste, wissen wir nicht. Die Formulierung sie versuchten ihn (πειράζοντες αὐτόν [ peirazontes auton]) enthält einen Angriff.9 Sie prüften Jesus offenkundig mit dem Zweck, „Anklagematerial gegen ihn in die Hand zu bekommen“.10 Ihre Frage zielt auf den Bereich von Ehe und Ehescheidung: Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus jedem beliebigen Grund (κατὰ πᾶσαν αἰτίαν [kata pasan aitian])11 zu entlassen? Weshalb stellen sie Jesus gerade diese Frage? Erste Antwort: Sie gehört zu den großen strittigen Fragen, die damals die Judenschaft bewegten. Zweitens: Wie die Hinrichtung des Täufers (Mt 14,3ff ) zeigt, konnte Jesus bei einer 6 So mein früherer Kommentar (Maier II 88.93). 7 Ebenso Gute Nachricht; NGÜ; BGS (Letzere mit der sinnlosen Einfügung „und Pharisäerinnen“); Carson 410. 8 Zum Begriff vgl. die Erläuterungen bei Mt 3,7; 9,11; 12,14. 9 Abgeschwächt bei Markus: ἐπηρώτων αὐτόν. 10 H. Seesemann, Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1959, 58. 11 Bauer-Aland 50; BDR § 275,2.

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ehrlichen Antwort die Feindschaft des Herodes, ja sogar sein Leben riskieren. Nach Mk 3,6 hatten die Pharisäer schon früh mit den Herodianern konspiriert. Und Peräa stand ja unter der Herrschaft des Herodes Antipas.12 Drittens: Das ganze jüdische Volk war damals durch die Sittenlosigkeit der hellenistischrömischen Umwelt angefochten. Vielleicht kommt als Viertes noch hinzu, dass frühere Entscheidungen Jesu bei manchen Zeitgenossen eine bittere Wurzel hinterlassen hatten (vgl. Joh 8,3ff ). Die Frage: Ist es erlaubt? (εἰ ἔξεστιν [ei exestin]) ist jedenfalls typisch für Gesetzesdiskussionen. Sie fragt nach dem „konkret fordernden Willen“ Gottes.13 Protestantische Erziehung hat über Jahrzehnte hinweg eine solche Frage für unchristlich erklärt. Stattdessen hat sich unter Protestanten die Ansicht verbreitet, es sei alles erlaubt, wenn es nur aus der Liebe komme. Einen Widerschein dieser Ansicht finden wir bis ins Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament hinein, wo Werner Foerster die Frage „Ist es erlaubt?“ als „für die jüdische Gesetzlichkeit charakteristisch“ beurteilt.14 Das greift zu kurz, wie der paulinische Sprachgebrauch in 1Kor 6,12; 10,23; 2Kor 12,4 zeigt. Jede Offenbarungsreligion, die sich auf einen konkreten Willen Gottes bezieht, steht vor der Frage, was Gott erlaubt und was er untersagt.15 So geht auch Jesus grundsätzlich positiv mit dieser Frage um. Nun hat sie in V. 3 einen sehr spezifischen Zuschnitt, indem nach der Ehescheidung aus jedem beliebigen Grund (εἰ ἔξεστιν [ei exestin]) gefragt wird. Damit sind wir mitten in der zeitgenössischen Situation. Ebenso wie die hellenistische und römische Umwelt erlebte Israel im 1. Jh. n.Chr. einen moralischen Niedergang. Typisch sind hier die Nachrichten der Mischna Sota. Dort heißt es: „Als die Ehebrecher sich mehrten, wurde das Fluchwasser abgeschafft (vgl. Num 5,11ff ), und zwar schaffte es R. Jochanan ben Zakkaj ab“ (IX, 9). Jochanan ben Zakkaj ist ein Zeitgenosse des Paulus. Wenig später heißt es in Sota IX, 13: „Die Weisen sagen: Hurerei und Zauberei haben alles zugrunde gerichtet.“ Im Zuge dieser Entwicklung lockerte sich auch das Scheidungsrecht. In den Tagen Jesu standen sich hauptsächlich die Schulen Hilles und Schammais gegenüber. Letztere war strenger und verstand unter dem Begriff „etwas Schandbares“ (‫‘[ ֶעְרַות ָּדָבר‬ärwat dābār]) in Deut 24,1 die Unzucht, erlaubte also eine Scheidung nur bei Unzucht der Frau.16 Dagegen erlaubte die Schule Hillels eine Scheidung schon dann, wenn die Frau das 12 13 14 15 16

Carson 411. „Machaerus was not far away“. W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 558. Foerster a.a.O. Vgl. die rabbinischen Diskussionen in b Joma 67b. A. Oepke, Art. γυνή, ThWNT, I, 1933, 783f.

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Essen anbrennen ließ oder ihr Mann eine andere schön fand,17 also tatsächlich aus jedem beliebigen Grund. In jedem Falle formuliert Mt 19,3 das Scheidungsrecht als ein Recht des Mannes, seine Frau zu entlassen.18 Hat nun die Schule Hillels recht? Jesus beginnt seine Antwort (V. 4) mit einem Zitat aus der Schrift: Habt ihr nicht gelesen …? Dieses οὐκ ἀνέγνωτε [ouk anegnōte] begegnet bei ihm immer wieder (vgl. Mt 12,3.5; 21,16.42; 22,31). Es ist Ausdruck seiner völligen Verwurzelung in der Schrift. Aber nun geschieht doch etwas Überraschendes. Er setzt nämlich ganz am Anfang (ἀπ᾿ ἀρχῆς [ap archēs]) der Schrift und zugleich am Anfang der Schöpfung ein: dass sie der Schöpfer (ὁ κτίσας [ho ktisas])19 von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hat (ἐποίησεν [epoiēsen] = ‫[ ָבָּרא‬bārā’]). Mann und Frau, ἄρσεν καὶ θῆλυ [arsen kai thēly], entsprechen ‫[ ָזָכר וְּנֵקָבה‬sākār uneqebāh] in Gen 1,27. Der Rückgriff auf Gen 1,27 hat fundamentale Bedeutung. Er zeigt, dass Jesus Gen 1 nicht nur als Schöpfungsbericht, sondern auch als Norm auffasst. Der geschichtliche Mensch existiert nur als Mann und Frau. Hier hat weder eine Gender-Ideologie noch eine gleichgeschlechtliche Verbindung als „Schöpfungsvariante“ Platz. Als zweites Schriftzitat fügt Jesus Gen 2,2420 an: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Bei σάρξ μία [sarx mia] ist wie beim hebr. ‫[ ָבּ ָ ׂשר ֶאָחד‬bāśār ’ächād] das Zahlwort ein betont. Eine solche auf ein Wort abgestellte Erklärung war bei den Rabbinen tägliche Praxis. Dagegen kann man fragen, weshalb Jesus Gen 2,24 als Wort des Schöpfers (καὶ εἶπεν [kai eipen]) bezeichnet, während es in Gen 2 doch von Adam oder vom biblischen Erzähler gesprochen wird.21 Hier hat schon Zahn die richtige Antwort gegeben: Erstens trifft Adam den Sinn des göttlichen Handelns, und zweitens ist Gen 2,24 ein Teil des Wortes Gottes geworden.22 Siehe auch noch Gen 5,2; Eph 5,31 sowie 1Kor 6,16, wo ebenfalls das Zahlwort betont ist. In V. 6 fasst Jesus das Resultat der Schriftaussagen zusammen: So (ὥστε [hōste])23 sind sie nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Das ist eine glasklare Antwort auf die Frage der Phariäser in V. 3: Scheidung soll es nach Gottes 17 Vgl. Oepke a.a.O.; Strack-Billerbeck I 312ff; Mischna Gittin IX, 10; Josephus Ant IV, 253; VIII, 23. 18 So auch der Koran. 19 Zur Übersetzung vgl. W. Foerster, Art. κτίζω usw., ThWNT, III, 1938, 1027. 20 In Gen 2,24 fehlt allerdings die Entsprechung zu οἱ δύο. 21 Luz III 93, 27 sieht allerdings Jesus als Subjekt des εἶπεν an; ebenso Tasker 183f. 22 Zahn 590. 23 ὥστε mit Angabe der Folge BDR § 391,3.

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Willen nicht geben. Zu den Einzelheiten: Das hebr. ‫שׂר‬ ָ ‫[ ָבּ‬bāśār] bezeichnet nicht bloß das Fleisch, sondern auch den „Leib“, die „Person“, ja den „Menschen“ schlechthin.24 So könnte man in Mt 19,6 auch übersetzen: „ein Leib“, „eine Person“, „ein Mensch“.25 Wie schon gesagt, ist das ein (μία [mia]) betont. Stärker kann man die Einheit von Frau und Mann in der Ehe nicht ausdrücken. Kühn ist die zweite Vershälfte: Was nun Gott zusammengefügt hat … Für zusammengefügt steht das seltene συζεύγνυμι [syzeugnymi], ganz wörtlich: „in ein Joch zusammenspannen“. Dabei besitzt das „Joch“ alle Bedeutungsfacetten: im selben Tempo gehen, die Kräfte vereinen, manchmal sich reiben und Reibungen ausgleichen. Aber hat sie wirklich Gott zusammengefügt und nicht eigener oder fremder menschlicher Wille? Jesus sagt hier ja, denn alles, was auf dieser Welt geschieht, kann nur geschehen, wenn Gott handelt oder es zulässt (vgl. Mt 10,19ff; Joh 19,11). Vor allem aber geht der Sachverhalt, den Jesus aus Gen 1,27; 2,24 anführt, auf Gottes ausdrücklichen Willen zurück. Wie aber soll der Mensch (eigentlich: „ein Mensch“) scheiden, was nach Gottes Willen zusammengehört? Wie stark die Lehre Jesu die apostolische und nachapostolische Generation geprägt hat, sieht man an 1Kor 6,16; 7,10ff; Eph 5,28ff; IgnSm 6,1; Herm m IV, 1,6; 2Klem Ad Cor 12,2; Justinus Martyr Apol I, 15,1ff.26 Mit Friedrich Hauck kann man sagen, dass es „eine Tat von höchster religions- und kulturgeschichtlicher Bedeutung“ war, „daß die apostolische Verkündigung von vornherein in den Gmeinden die volle eheliche Treue beider Gatten als unabdingbares göttliches Gebot aufstellte“.27 In der Zusammenfassung (IV) gilt es, dies noch einmal aufzugreifen. In V. 7 kommt der Einwand der Pharisäer: Warum hat dann Mose vorgeschrieben, einen Scheidebrief zu geben und sie daraufhin wegzuschicken? Sie berufen sich also auf Deut 24,1. Das ist insofern berechtigt, als Mose wirklich einen Scheidebrief (βιβλίον ἀποστασίου [biblion apostasiou]) angeordnet hat. Doch die zweite Hälfte ihrer Aussage stimmt nicht. Mose hat keineswegs vorgeschrieben, die Frau wegzuschicken, sondern er hat nur den Fall geordnet, in dem der Mann seine Frau tatsächlich wegschickt. Er wollte für die Frau in der Folgezeit Rechtssicherheit schaffen (vgl. Deut 24,1ff ). Über die Ablehnung der Scheidung bei den Propheten vgl. Mal 2,13ff. Im Übrigen ist aus Mt 19,7ff klar ersichtlich, dass für die Pharisäer wie für Jesus nur der geschichtliche Mose als Verfasser der Tora infrage kommt. 24 25 26 27

Gesenius 120f. Schlatter 292: „gleichsam ein einziger Mensch“. Vgl. die Texte bei Aland, Syn, 336f. F. Hauck, Art. μοιχεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 742.

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Einen Widerspruch in der Bibel, wie ihn heidnisches und aufklärerisches Denken postulieren, gibt es für Jesus nicht. Auch nicht zwischen dem Schöpfer und Mose. Wohl aber gibt es Anordnungen, die nur auf Zeit gelten. So ist es bei Deut 24,1ff. Auf den Einwand der Pharisäer hin sagt Jesus: Weil Mose euch im Blick auf 28 eure Herzenshärtigkeit (πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν ὑμῶν [ pros tēn sklērokardian hymōn]) erlaubt hat, eure Frauen wegzuschicken (V. 8). Das ist sachgemäß. Er nimmt damit den ‫ ִ ּכי־ִי ַ ּקח‬-Satz [kī-jiqqach] von Deut 24,1 grammatisch korrekt auf und trifft auch seinen Sinn. Ein „gewähren“, ein erlauben ist es. Das Bundesvolk wollte die Möglichkeit einer Scheidung, nicht Mose oder gar Gott selbst. Die Herzenshärtigkeit, σκληροκαρδία [sklērokardia], wird in Deut 10,16 verworfen29 (vgl. Hes 11,19f ). Johannes Behm deutete sie als „beharrliche menschliche Unempfänglichkeit für die Kundgebungen des Heilswillens Gottes“.30 Dennoch lässt ihr Gott auf Zeit Raum, so wie es auch bei anderen Dingen, schließlich sogar dem Bösen selbst, der Fall ist (Mt 13,29f; Röm 3,26).31 Daraus aber ein Recht auf Scheidung abzuleiten, ist verfehlt. Ursprünglich aber (ἀπ᾿ ἀρχῆς δέ [ap’ archēs de]) ist es nicht so (οὕτως [houtōs]) gewesen: Was ursprünglich war, was am Anfang unserer Geschichte stand, was vor dem Sündenfall lag, hatte für Jesus normative Kraft.32 In der Endzeit soll der ursprüngliche Gotteswille wieder ganz zur Ausführung gelangen. Daraus ergibt sich wie von selbst eine heilsgeschichtliche Gliederung: Anfang der Geschichte – Mosezeit / Alter Bund – Endzeit / Neuer Bund. Angesichts dessen, dass Jesus selbst aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive urteilte, hätte man nie an der Berechtigung einer heilsgeschichtlichen Auslegung zweifeln dürfen. Ein Fazit des ganzen Gesprächsgangs zieht Jesus in V. 9: Ich sage euch aber: Wer seine Frau wegschickt, es sei denn wegen Unzucht, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. Nach Friedrich Hauck und Siegfried Schulz ist dieses Fazit allerdings: „Stark umstritten“.33 Zu den Einzelheiten: Das Ich sage euch aber ist aus der Bergpredigt vertraut (5,20.32 usw.). Es bedeutet keinen Gegensatz (keine „Antithese“) zu Mose in V. 8, sondern die vollmächtige messianische Auslegung der ganzen Schrift. Der Ausnahmefall 28 29 30 31

Zur Übersetzung vgl. BDR § 239,8. τὴν σκληροκαρδίαν ὑμῶν. Im Art. καρδία usw., ThWNT, III, 1938, 616. Durch Mose spricht Gott (Hebr 3,5). Man darf deshalb nicht von einer „Abwertung der Mosetorah“ durch Jesus sprechen (gegen Luz III 95). 32 Vgl. Hengel-Schwemer 446. 33 In ihrem Artikel πόρνη usw., ThWNT, VI, 1959, 590; vgl. Luz III 97; Carson 413.

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erlaubter Scheidung (μὴ ἐπὶ πορνείᾳ [mē epi porneia]) ist derselbe wie in Mt 5,32 (παρεκτὸς λόγου πορνείας [ parektos logou porneias]). In beiden Fällen geht πορνεία [ porneia] wohl auf hebr. ‫[ ְזנוּת‬senūt] zurück.34 Dieses ‫ ְזנוּת‬bedeutet im praktischen Leben oft den Ehebruch, lässt sich aber nicht darauf beschränken, sondern meint jeden außerehelichen, widernatürlichen oder sonst wie illegitimen Geschlechtsverkehr und auch jedes Verhalten, das den Schutzbereich der biblischen Sexualethik übertritt.35 Man muss πορνεία [ porneia] in Mt 19,9 deshalb mit Unzucht übersetzen. Liegt keine Unzucht vor, betreibt aber der Mann dennoch die Scheidung und heiratet eine andere, dann begeht er Ehebruch (μοιχᾶται [moichatai]). Er bricht also das 6. Gebot (lutherischer Zählung). Warum ist er im Falle der Unzucht seitens der Frau kein Ehebrecher? Weil die betreffende Frau durch ihre Unzucht längst die Ehe gebrochen, also zerstört hat.36 Fragen kann man, ob der Ehebruch des Mannes noch nicht vollendet ist, solange er keine andere heiratet. Aufgrund von 1Kor 7,10f und aufgrund der Präzision, mit der Jesus spricht, neigen wir in diesem Kommentar zu der Ansicht, dass tatsächlich noch kein Ehebruch vorliegt, solange die beiden Eheleute noch zusammenfinden können und keine Verbindung mit einer dritten Person stattgefunden hat.37 Jenseits aller Einzelheiten steht jedoch so viel fest: Jesus verwirft die Ehescheidung grundsätzlich. Damit gibt er zugleich der Ehe einen Höchstwert. Seine Haltung ist noch strenger als diejenige der Schule Schammais.38 Denn während die Schammaiten eine Scheidung für grundsätzlich möglich erachten, hält sie Jesus für grundsätzlich unmöglich.39 Siehe auch noch Lk 16,18. Eine Antwort der Pharisäer wird nicht berichtet. Sie hatten Jesus offenbar nichts mehr entgegenzusetzen (vgl. Mt 21,27; 22,22.33.46). Matthäus geht in V. 10 sofort zum Jüngergespräch über: Die Jünger sagen zu ihm … Er sieht also das Geschehen von V. 10-12 als unmittelbare Folge und Fortsetzung von V. 3-9 an. Darauf deutet auch das Präsens sagen (Λέγουσιν [Legousin]). Wenn die Sache (ἡ αἰτία [hē aitia]) eines Mannes mit der Frau so (οὕτως [houtōs]) steht: αἰτία [aitia] ist hier Latinismus und entspricht der causa,40 εἰ

34 35 36 37

Hauck-Schulz a.a.O., 583ff. Vgl. wieder Hauck-Schulz a.a.O., 590ff; Tasker 184; Carson 414. Vgl. France 281. Hat der Mann gemäß Mt 5,32; 19,9 das Recht zur Scheidung, dann kann er sich auch wieder verheiraten, vgl. Deut 24,1ff sowie France 281f. 38 Vgl. Zahn 592. 39 Ebenso Hauck-Schulz, 590f. 40 BDR § 5,4; Bauer-Aland 50.

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[ei] bedeutet „wenn demnach“.41 Bauer-Aland übersetzen οὐ συμφέρει [ou sympherei] mit „es ist nicht förderlich“.42 Darin liegt beides: 1) Es ist nicht empfehlenswert; 2) es tut nicht gut. Wir übersetzen: dann sollte man besser nicht heiraten. Diese Jüngeraussage mutet merkwürdig modern an. Empfinden nicht auch viele heute die Ehe als eine Überforderung? Allerdings sind die Jünger bewegt durch die Verantwortung, die sie vor Gott haben. Aber sie reißen doch eine zentrale Frage an: Sollen gläubige Menschen überhaupt heiraten? Diese Frage hat die paulinischen Gemeinden bewegt (1Kor 7,1ff; 1Tim 4,3), die frühen Christen mit ihren „Jungfrauen“, die mittelalterliche Kirche mit ihrem Mönchtum, die Frommen im Pietismus und beschäftigt viele Fromme auch heute. Im Übrigen machen wir hier die Beobachtung, dass den Jüngern die pharisäische Ehescheidungslehre nähergelegen hat als das, was Jesus dazu sagte.43 Was Jesus darauf in V. 11-12 sagte, wird von den Auslegern als außerordentlich schwierig empfunden.44 Das merkt man schon an der Länge ihrer Ausführungen. In der Tat ist Mt 19,11-12 „ein rätselhafter Spruch“.45 Jesus hat es selbst so gewertet: Nicht alle begreifen dieses … Wer es begreifen kann (ὁ δυνάμενος [ho dynamenos]), der begreife es. Griech. χωρεῖν [chōrein] bedeutet hier im geistigen Sinne etwas „fassen, „begreifen“. Man hat darüber gerätselt, worauf sich τὸν λόγον τοῦτον46 [ton logon touton] beziehe: Auf V. 9, also rückblickend, oder auf V. 12, also vorausschauend? Oder gar auf das Jüngerwort in V. 10?47 Ein Bezug auf das Jüngerwort ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Denn Jesus müsste es in diesem Falle ungewöhnlich hoch gewichtet haben, und es wäre kaum verständlich, weshalb er es als alle natürliche Fassungskraft übersteigend eingestuft haben sollte (Nicht alle begreifen es). Näherliegend ist es, den λόγος [logos] auf Jesu eigene Lehre48 zu beziehen,49 und zwar in ihrer Gesamtheit, so wie er sie in V. 4-6 und 8-9 einerseits, und in V. 12 andererseits vorgetragen hat. Die Alternative, ob ὁ λόγος οὗτος [ho logos houtos] sich entweder auf V. 9 oder aber auf V. 12 beziehen müsse, ist künstlich und 41 42 43 44 45 46 47 48

BDR § 372,1. Bauer-Aland 1557. Vgl. Zahn 592. Beare 389; Luz III 103ff. Schniewind 204. So wohl zu lesen. Vgl. Luz III 106ff. Zu λόγος als Lehre, Ausspruch, Gegenstand vgl. Bauer-Aland 968ff sowie den Art. λέγω usw., ThWNT, IV, 1942, 69ff. 49 Ebenso G. Kittel im Art. λέγω usw., 108.

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wird dem Zusammenhang von Mt 19,3-12 nicht gerecht, wie nicht zuletzt die gewundenen Deutungsversuche bei Luz50 beweisen. Die Fassungskraft, auch das Folgende zu verstehen, muss von Gott gegeben (V. 11) sein: Denn es gibt Verschnittene (εὐνοῦχοι [eunouchoi]), die so von Mutterleib an gewesen sind. Und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind. Und es gibt Verschnittene, die sich um des Reiches Gottes willen selbst verschnitten haben. Wer es begreifen kann, der begreife es (V. 12). Jesus knüpft hier an den rabbinischen Sprachgebrauch an. Die Mischna Jebamot (VIII, 4ff ) unterscheidet zwischen einem ‫[ ְסִריס ַח ָמּה‬s̀ erīs̀ chammāh], also einem von Mutterleib an Verschnittenen, und einem ‫[ ְסִריס ָאָדם‬s̀ erīs̀ ’ādām], also einem von den Menschen Verschnittenen.51 Jesus ergänzt um eine dritte Gruppe, auf der hier alles Gewicht liegt: Verschnittene, die sich um des Reiches Gottes willen selbst verschnitten haben. Die ersten beiden Gruppen sind real Verschnittene (εὐνοῦχοι [eunouchoi], „Eunuchen“), d.h. Menschen ohne Zeugungskraft. Die dritte Gruppe kann jedoch nicht in diesem realen Sinne verstanden werden: 1) untersagt das AT die Kastration (Lev 22,24f ); 2) war im Alten Bund die Gemeinschaft des Gottesvolkes für Verschnittene verschlossen (Deut 23,2); 3) galt im Judentum der Zeit Jesu sowohl die Heirat als auch die Kinderzeugung als Pflicht.52 – So bleibt nur eine geistliche Deutung der dritten Gruppe übrig. Was aber heißt dann sich selbst verschnitten? Es heißt, auf Heirat und Kinderzeugen zu verzichten. Der Schöpfungsauftrag „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) wird dann so verstanden, dass man geistliche Kinder für das Reich Gottes hervorbringt. Beispiele sind hier Johannes der Täufer und Jesus selbst.53 Aber gerade das Beispiel Jesu fordert uns dazu heraus, noch weitere Dimensionen zu bedenken. Hat er nicht dazu ermuntert, wenn er sagte: Wer es begreifen kann, der begreife es? Vermutlich hat für Jesus bei der Wahl des Begriffes Verschnittene Jes 56,3-5 eine wichtige Rolle gespielt. Dort wird für die Heilszeit die Verheißung ausgesprochen, dass die Verschnittenen (εὐνοῦχοι [eunouchoi] LXX) in Gottes Haus eine Heimat finden sollen, wenn sie Gottes Willen tun. Der Ausschluss von Deut 23,2 wird damit aufgehoben. Und diese Heilszeit hat jetzt mit Jesu Kommen begonnen. Fortan kann es Verschnittene – real (Apg 8,27ff ) und geistlich – in der Gemeinde des Neuen Bundes geben! Im Falle Jesu tritt eine weitere Dimension hinzu, die man aber 50 51 52 53

Luz III 106ff. Schniewind 204: das „folgende Wort“. Joh. Schneider, Art. εὐνοῦχος usw., ThWNT, II, 1935, 765. Schneider a.a.O. Paulus ist ein Sonderfall. Jedoch vgl. den Fall des Rabbi Ben Azzai um 100 n.Chr. (Strack-Billerbeck I 807).

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nur aus dem Gesamtkomplex des Evangeliums ableiten kann. Das ist die vollständige Ebenbildlichkeit des Sohnes Gottes mit Gott dem Vater. Sie reicht so weit, dass Jesus sagen kann: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh 14,9). Aufgrund dieser Ebenbildlichkeit war jede Heirat oder jede sexuelle Verbindung für Jesus ausgeschlossen. In weiterer Konsequenz gilt dasselbe für alle Teilnehmer am Reich Gottes nach der Auferstehung (Mt 22,30).54 Zurück zu Mt 19,10-12: Inwiefern sind die Aussagen Jesu eine Antwort auf das Bedenken der Jünger in V. 10? Oder sind hier nur isolierte Worte ohne innere Verbindung zusammengestellt?55 Will man dem inneren Zusammenhang, den Matthäus offensichtlich gesehen hat, gerecht werden, dann ergibt sich aus V. 11 und 12 Folgendes: 1) Einen allgemeinen Verzicht auf die Ehe, wie ihn die Jünger in V. 10 erwogen haben, darf es nicht geben. Dem steht der ursprüngliche Schöpferwille nach Gen 1–2 entgegen. Exegeten wie Schlatter, Schniewind oder Tasker haben dies klar gesehen.56 2) Es kann eine besondere Gabe Gottes (gegeben) sein, dass Einzelne um des Reiches Gottes willen auf Ehe und Kinder verzichten (vgl. 1Kor 7,7). Sie können dann in ungeteilter Hingabe dem Reich Gottes dienen. Das darf aber nie verlangt, höchstens der Überlegung anheimgegeben werden (vgl. 1Kor 7,1ff; 1Tim 4,3). Immerhin wird es nach Mt 19,12 immer solche Menschen geben. 3) Eine Ehescheidung darf auch aus sogenannten „geistlichen Gründen“ nicht verlangt werden, wie es z.B. bei Schwärmern vorkam. Denn das sich selbst verschneiden darf Mt 19,3-9 nicht abschaffen.

IV Zusammenfassung 1. Die Frage nach Ehe und Ehescheidung, die mit unguten Absichten an Jesus gestellt wurde, war damals und ist heute wichtig. 2. Seine Antwort ist unzweideutig: Die Scheidung einer Ehe verstößt gegen Gottes Willen. Einzige Ausnahme: Wenn der Ehepartner durch Unzucht die Ehe gebrochen hat. 3. In Jesu Antwort enthalten ist eine Höchsteinschätzung der Ehe, die der Schöpfer von Anfang an gestiftet hat. Dabei kann nur die schöpfungsgemäße Verbindung von Mann und Frau „Ehe“ genannt werden (Gen 1,27; 2,24). 4. Dieser Richtung ist die apostolische und nachapostolische Generation treu geblieben (1Kor 6,16; 7,1ff; Eph 5,28ff; Hebr 13,4; IgnSm 6,1; Herm m IV, 1,6; 2Klem 12,2; Justinus Martyr Apol I, 15,1ff ). Man nannte dies eine Tat 54 Das Gesagte warnt davor, Mt 19,10-12 in unschöner Weise als „Eunuchenwort“ (Fiedler 312; Theißen-Merz 247.330) zu bezeichnen. 55 So Bultmann, Gesch, 25. 56 Schlatter 294; Schniewind 204; Tasker 183.

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„von höchster religions- und kulturgeschichtlicher Bedeutung“57 inmitten einer ganz anders gearteten Umwelt. 5. In der Kirchengeschichte setzt sich diese Linie fort. So zitiert Johannes Chrysostomus Mt 19,4 und zieht daraus den Schluss: „Daraus entspringt großes Wohl und Wehe für die Familien wie für die Staaten.“58 Ambrosius sieht in der Ehe „ein himmlisches Gebot“ und zugleich „ein Werk Gottes“.59 Ähnliches finden wir in den Stromateis von Clemens Alexandrinus.60 In Reaktion auf das Mönchtum und die mittelalterliche Bibelexegese kamen Luther und die Reformatoren zu einer neuen Hochschätzung der Ehe.61 Bis in die Traulieder des Evangelischen Gesangbuches (Nr. 238ff ) hinein ist diese Hochachtung zu spüren. 6. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s ereignete sich ein tiefer Umbruch. Im westlichen, nordatlantischen Raum sah man in der völligen Freiheit des Individuums den bestmöglichen Schutz gegen Faschismus, Kommunismus und alle totalitären Systeme. Dieser Individualismus konzentrierte sich im Leitwort „Selbstverwirklichung“, das seltsam an das von Bengel bei der Aufklärung bekämpfte „Praeiudicium auctoritatis propriae“ erinnerte.62 Der Individualismus schlug folgerichtig auch in der Exegese durch, mehr in der protestantischen als in der katholischen oder orthodoxen. Dieser Individualismus verlieh der Auslegung ein Plus an persönlicher Wärme, zugleich jedoch schuf er eine Distanz zur Kirchengemeinschaft und zu den Bekenntnissen. Formulierungen wie „Als protestantischer Exeget stehe ich vor einer schwierigen Situation“63 oder „Soll ich als Bibelwissenschaftler und Theologe im Namen der Texte den Warnfinger erheben“64 zeigen die Distanz zur traditionellen christlichen Exegese. Durch eine Vielzahl von Faktoren, unter denen wir soeben den Individualismus hervorgehoben haben, verfällt vor allem die prostestantisch-kritische Exegese einem starken Subjektivismus. Eine alle verbindende, alle in Pflicht nehmende religiöse Anschauung gibt es kaum mehr, und dies umso mehr, als auch kirchliche Stellungnahmen direkt den biblischen Texten widersprechen. Was heute von Mt 19,3-12 noch gilt, ist deshalb unter Christen eine offene Frage.

57 58 59 60 61 62 63 64

Hauck a.a.O., 742. Texte KV III 595. Texte KV III 625. Aland, Syn, 337; Texte KV, 688f. Vgl. nur die vielen Stellen im Lutherlexikon, 71ff. Vgl. Maier, JO, 398f. Luz III 100. Luz III 100f.

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7. Unleugbar ist Mt 19,12 eine Stütze für den Zölibat. Dabei darf man freilich zweierlei nicht vergessen: 1) ist Mt 19,3ff auf das Thema Ehe, und nicht auf das Thema Zölibat fokussiert, und 2) geht es in Mt 19,12 nicht um den Zölibat nach Vorschrift, sondern um den Zölibat als Charisma. 8. Die Frage der Historizität, die bei Mt 19,3-12 öfter diskutiert wurde, kann mit guten Gründen bejaht werden. Das gilt sogar für die Ausnahmeregel in Mt 19,9, in der Bultmann und andere einen Kommentar des Evangelisten sahen.65 Dass Markus in seinem Parallelbericht (Mk 10,2-12) die Ausnahmeklausel nicht erwähnt, kann in seiner Situation begründet sein, ohne dass man daraus den Schluss ziehen müsste, diese Klausel sei unhistorisch.66

10.3 Kindersegnung, 19,13-15

I Übersetzung 13 Dann wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er ihnen die Hände auflege und für sie bete. Die Jünger aber wiesen sie scheltend zurück. 14 Jesus aber sagte: Lasst die Kinder, und hindert sie nicht, zu mir zu kommen! Denn solcher ist das Reich Gottes. 15 Und er legte ihnen die Hände auf und zog von dort weiter.

II Struktur Der kurze Bericht hat drei Teile: 1) Situationsangabe (V. 13); 2) Jesuswort (V. 14); 3) das Handeln Jesu (V. 15). Markus (10,13-16) und Lukas (18,15-17) bieten Parallelberichte. Markus weist dieselbe Anordnung auf wie Matthäus, indem er die Kindersegnung unmittelbar an das Gespräch über die Ehescheidung anschließt. Lukas legt die Kindersegnung in denselben Zeitraum wie Matthäus und Markus, folgt aber bis Lk 18,14 einer anderen Anordnung. Dagegen sind Markus und Lukas insofern enger miteinander verwandt, als sie beide im Unterschied zu Matthäus ein Wort über das Empfangen des Reiches Gottes hinzufügen (Mk 10,15; Lk 18,17). Angesichts solcher Verhältnisse scheitert jede starre Quellentheorie.

III Einzelexegese Die Worte Τότε προσηνέχθησαν [Tote prosēnechthēsan] bilden einen lockeren Anschluss an das Vorausgehende (V. 13). Weder ein genaues Datum noch eine 65 Bultmann, Gesch, 25.159; Luz III 97; Hengel-Schwemer 447. 66 Carson 418.

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Ortsangabe ist irgendeinem der Synoptiker zu entnehmen. Nur der Kern der Dinge wird erwähnt: es wurden Kinder zu ihm (= Jesus) gebracht (V. 13). Für Kinder benutzen Matthäus und Markus den Begriff παιδία [ paidia]. Dieser Begriff umschließt neugeborene und heranwachsende Kinder.67 Hingegen spricht Lukas von βρέφη [brephē] = Kleinkindern.68 Vermutlich haben die Herandrängenden keine großen Altersunterschiede gemacht, sondern eben all ihre kleinen Kinder, von den Säuglingen an, zu Jesus bringen wollen. Ihr gemeinsames Ziel war, dass er ihnen die Hände auflege und für sie bete. Wir beziehen hier das αὐτοῖς [autois] sowohl auf die Handauflegung als auch auf das Gebet.69 Handauflegung und Gebet bringen Segen und gottgeschenkte Lebenskraft.70 Man muss diese allgemeine und umfassende Kindersegnung scharf unterscheiden von einer Kindertaufe. Man kann also nicht mit Oepke sagen, unsere Perikope setze sich „wohl bereits mit Bedenken gegen die Kindertaufe auseinander“.71 Was nun folgt, ist einigermaßen erstaunlich: Die Jünger aber wiesen sie scheltend zurück. Angesichts der Kinderfreundlichkeit im AT und im Judentum ist das ungewöhnlich. Für das AT gelte, sagt Albrecht Oepke, „die Vermehrung als Schöpfungsordnung“.72 Man vgl. hier Ps 127,3ff; 128,3ff. Die Rabbinen formulieren noch zugespitzter. Berühmt ist Rabbi Eliesers Ausspruch im Traktat Jebamoth (b Jeb 63b): „Wenn jemand die Fortpflanzung nicht übt, so ist es ebenso, als würde er Blut vergießen.“ Wie können die Jünger die Herbeikommenden mit ihren Kindern scheltend zurückweisen? Das griech. ἐπιτιμᾶν [epitiman], „anfahren“, „tadeln“, „ernstlich zureden“, schelten73 findet sich an dieser Stelle bei allen drei Synoptikern. Was wir erkennen können, ist so viel: Die Jünger hatten Ordnungsdienste wie bei den wunderbaren Speisungen (Mt 14,17ff; 15,36ff ) und schon beim Täufer (Joh 1,35ff ). Sie regelten den Zugang zu Jesus (vgl. Mt 15,23). Offenbar herrschte ein Gedränge, evtl. hatten die Jünger auch eine andere Priorität für das, was Jesus jetzt tun sollte.74 Manche Kommentare sprechen von einer Geringschätzung der kleinen Kinder in der damaligen Zeit,75 aber Carson A. Oepke, Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, 637. Oepke a.a.O., 636. Ebenso BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ. Vgl. C. Maurer, Art. τίθημι usw., ThWNT, VIII, 1969, 161. Oepke a.a.O., 649. Oepke a.a.O., 644. Bauer-Aland 614. Tasker 184f: „unspecified reason“; Zahn 596; France 283: der Meister hat „more important concerns“ als eine Kindersegnung; Schlatter 295: „Die Kinder schienen ihnen überflüssig“; Carson 420: evtl. fürchten die Jünger eine Verzögerung der Reise nach Jerusalem. 75 So France 283f; Tasker 185.

67 68 69 70 71 72 73 74

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dürfte recht haben, wenn er auf die häufige Kindersegnung durch Rabbis und Älteste hinweist.76 Jesus aber sagte: Lasst die Kinder, und hindert sie nicht, zu mir zu kommen! (V. 14): Das ist ein Befehl. Seine Entscheidung ist derjenigen der Jünger entgegengesetzt. Er nennt zwar nur die Kinder, aber selbstverständlich gilt dasselbe für diejenigen, die sie herbeibringen. Lasst (ἄφετε [aphete]) muss als Gegenteil von „hindern“ verstanden werden, hat also den Sinn: „Lasst zu“, und gleichzeitig: „Lasst in Ruhe“.77 καὶ μὴ κωλύετε [kai mē kōlyete] ergänzt: „haltet sie nicht ab“, „verbietet nicht“.78 In κωλύειν [kōlyein] steckt auch eine rechtliche Komponente: Es steht nach Gottes- oder Menschen-Recht etwas im Wege. Was also die Jünger tun, dürfen sie nach Gottes Recht nicht tun! Das wird noch viel klarer, wenn man die folgenden Worte bedenkt. Denn das zu mir kommen = „zu Jesus kommen“ bedeutet das Heil. Wer nicht zu ihm kommt, bleibt vom Heil ausgeschlossen. Gerade einen solchen Ausschluss der Kinder vom Heil gibt es für Jesus nicht. Stattdessen sind sie für ihn ein Modell: Denn solcher (τῶν γὰρ τοιούτων [tōn gar toioutōn]) ist das Reich Gottes. Jesus erinnert hier an das Gespräch in 18,1ff. Solcher – das geht auch aus Mt 19,14 klar hervor – kann nicht auf Kinder im physischen Sinn gedeutet werden. Jesus kennt keine „unschuldigen Kinder“ (vgl. Mt 11,16ff ), denn das menschliche Herz „ist böse von Jugend auf “ (Gen 8,21; vgl. Mt 15,19). Kinder und solche sind vielmehr in einem geistlichen Sinn zu verstehen, vgl. die Erklärung bei Mt 18,1ff. Es geht also um weit mehr als um Jesu „Kinderfreundlichkeit“.79 Natürlich liebte er als Gottes Sohn und Schöpfungsmittler die Kinder (vgl. Mt 21,15f ). Aber zugleich waren für ihn die Kinder ein Abbild und Modell wahrer Jüngerschaft. Deshalb konnte er sagen: solcher ist das Reich Gottes. Wir halten noch fest, dass zu Jesus kommen im Johannesevangelium eine zentrale Stellung einnimmt und dort gleichbedeutend ist mit „Jesu Jünger werden“ (Joh 5,40; 6,35; 6,37; 6,44f; 6,65). Mit zwei kurzen Bemerkungen schließt unser Abschnitt (V. 15). Und er legte ihnen die Hände auf: Der Gestus enthält ein Doppeltes. Er enthält zum Ersten die Segensvermittlung, die von der Patriarchenzeit an durch die Menschen Gottes geübt wurde.80 Und er enthält zum Zweiten das Zeichen, dass 76 Carson 420. Nach Luz III 113 „unsicher“. Wie Carson France 283; Strack-Billerbeck I 807f. 77 Vgl. R. Bultmann, Art. ἀφίημι usw., ThWNT, 1933, 508. 78 Bauer-Aland 936f. 79 Fiedler 312. 80 Strack-Billerbeck I 807f: Väter und Lehrer segnen in der Zeit um 100 n.Chr.

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Gott seine Hand über diesen Kindern nicht abtun will (vgl. Ps 27,9). Dass Jesus dabei auch für die Kinder betete, ist eine Selbstverständlichkeit (vgl. Mk 10,16).81 Und zog von dort weiter: Vermutlich Richtung Jerusalem.

IV Zusammenfassung 1. Die kurze Perikope Mt 19,13-15 ist zunächst deshalb wichtig, weil sie zeigt, dass Jesus bis in seine letzten irdischen Tage hinein ein barmherziger und segnender Messias geblieben ist. 2. Er blieb ein solcher Messias auch dort, wo die Jünger anderer Auffassung waren. Bis zum Ende hin musste Jesus die Jünger von Fall zu Fall auch korrigieren. Das ist bis heute nicht anders. Seine Korrektur erfolgt durch Geschehnisse, aber mehr noch durch seine klaren Worte. Wo geschieht heute diese Korrektur in unseren Kirchen? Oder korrigieren wir ihn, indem wir sein Wort korrigieren? 3. Weil die Kinder ein Modell für den Zugang zum Reich Gottes sind, und weil die Erlösung allen Menschen angeboten wird, müssen sie „zu Jesus kommen“ können. Das schließt für die heutigen Kirchen die Verpflichtung ein, ein solches Kommen durch Unterricht, Segenshandlungen und alle Maßnahmen kindgemäßer Verkündigung und Diakonie zu ermöglichen. Kinder- und Familienarbeit hat einen sehr hohen Stellenwert. An diesem Punkt ist festzuhalten, dass die frühe Kirche „Ausschweifung … bekämpfte“, „sie verbot Empfängnisverhütung, Abtreibung u Aussetzung“ von Kindern.82 Die gegenwärtige Entwicklung im nordatlantischen Raum steht dazu in starker Spannung. 4. Mt 19,13-15 erweckt die Frage nach dem Verhältnis zur Taufe. Beispielsweise beruft sich das Taufformular der württembergischen evangelischen Landeskirche bei der Kindertaufe auch auf Mk 10,13-16.83 Man muss aber deutlich sagen, dass Mt 19,13ff / Mk 10,13ff / Lk 18,15ff mit der Taufe unmittelbar nichts zu tun haben.84 Es geht hier um Kindersegnung und die Zulassung von Kindern zum Heil. Nur indirekt liegt insofern ein Bezug zur Taufe vor, als Jesus noch dem kleinsten Kind (βρέφη [brephē] Lk 18,15) einen Zugang zu seiner Gemeinde gewährt. Umgekehrt ist die damalige Kindersegnung aber auch kein Argument gegen die Kindertaufe. Denn schon die frühe apostolische Kirche hat Kinder getauft und es gab damals unseres Wissens keinen

81 82 83 84

Schniewind 205. Doch Schlatter 295 mit Recht: „Er predigt den Kleinen nicht“. Oepke a.a.O., 649, vgl. S. 644. Kirchenbuch, Teilband Die Heilige Taufe, Stuttgart, 1989, 27. Tasker 185.

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Streit über diese Kindertaufe,85 auch wenn man sich sonst über fast alles gestritten hat.

10.4 Der reiche Jüngling, 19,16-26

I Übersetzung 16 Und siehe, einer kam zu ihm und sagte: Rabbi,86 was muss ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe? 17 Er sagte87 zu ihm: Was fragst du mich nach dem Guten? Gut ist nur einer! Wenn du aber ins Leben eingehen willst, dann halte die Gebote. 18 Er sagt zu ihm: Welche? Jesus sagte: Dies: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, 19 ehre Vater und Mutter, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 20 Der junge Mann sagt zu ihm: Das alles habe ich gehalten. Was fehlt mir noch? 21 Jesus sagte zu ihm: Wenn du vollkommen sein willst, dann geh hin, verkaufe, was du hast, und gibs den Armen. Dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Und komm und folge mir nach! 22 Der junge Mann aber, als er das hörte, ging traurig weg. Denn er war sehr vermögend. 23 Jesus aber sagte zu seinen Jüngern: Amen, ich sage euch: Ein Reicher hat es schwer, ins Reich Gottes hineinzukommen. 24 Noch einmal sage ich euch: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes. 25 Als die Jünger das hörten, waren sie völlig außer sich und sagten: Wer kann dann gerettet werden? 26 Aber Jesus blickte sie an und sagte zu ihnen: Bei Menschen ist das unmöglich, aber bei Gott ist alles möglich.

II Struktur Mt 19,16-26 setzt sich aus zwei Teilen zusammen: 1) der Begegnung zwischen dem jungen Mann und Jesus; 2) dem anschließenden Gespräch Jesu mit den Jüngern über die Reichen. Man kann deshalb Mt 19,16ff in zwei eigenständige Abschnitte aufgliedern (V. 16-22 und V. 23-26).88 Wir haben hier jedoch Mt 19,16-26 zusammenge85 Vgl. Oepke a.a.O., 649. Skeptisch dazu Luz III 114. Er sieht „die Analogien zur christlichen Taufe in den Mysterienreligionen“ als Hauptargument gegen eine frühe Kindertaufe an, was freilich ein wenig überzeugendes Argument darstellt. 86 Das ἀγαθέ hinter διδάσκαλε ist vermutlich ein sekundärer Einschub, um den Text an Mk 10,17; Lk 18,18 anzugleichen. Vgl. Tasker 189. 87 Wir lassen δέ unübersetzt wie die modernen Bibelübersetzungen. 88 So in unserem früheren Kommentar (Maier II 101ff ).

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lassen, weil Matthäus in V. 23 doch wohl eine unmittelbare Fortsetzung zu V.16ff geschaffen hat. Der Platz in Kap. 19 zeigt, dass sich auch diese Ereignisse noch in Peräa abspielen. Die synoptischen Seitenstücke in Mk 10,17-31 und Lk 18,18-30 zeigen, dass Markus und Lukas dieselbe Reihenfolge und dieselbe Anordnung anstrebten. Beide Teile weisen eine eigenwillige Struktur auf. Der erste dieser Teile gliedert sich wie folgt: 1) Jemand fragt Jesus, wie man ins ewige Leben gelange (V. 16); 2) Jesus greift seine Formulierungen auf (V. 17); 3) der Betreffende stellt eine Verständnisfrage (V. 18a); 4) Jesus erläutert seine Antwort (V. 18b-V. 19); 5) der Betreffende ist damit unzufrieden (V. 20); 6) Jesus gibt eine neue Antwort (V. 21); 7) der Betreffende entfernt sich (V. 22). Die Gliederung des zweiten Teils ist folgende: 1) Jesus ergreift die Initiative und sagt seinen Jüngern, wie schwer es die Reichen haben (V. 23-24); 2) die Jünger antworten mit einer Frage (V. 25); 3) Jesus beantwortet sie durch einen Satz über Gott (V. 26).

III Einzelexegese Der Anfang dieses Berichts ist ziemlich unbestimmt: Und siehe, einer kam zu ihm und sagte (V. 16). Ort und Zeit fehlen. Der Betreffende wird nur einer genannt, wobei das griech. εἷς [heis] einem τις [tis] entspricht.89 Lukas ist ausführlicher und sagt: τὶς ἄρχων [tis archōn] (18,18), was wohl ein leitendes Mitglied einer Synagoge bedeutet.90 Der Fragesteller kommt demnach aus pharisäischen Kreisen. In V. 20 und 22 nennt auch Matthäus ein interessantes Detail: Es habe sich um einen νεανίσκος [neaniskos], einen „jungen Mann“, gehandelt. Demnach haben wir es mit einem jungen Pharisäer im Alter von etwa 24–40 Jahren zu tun.91 Die Tradition prägte für ihn die Bezeichnung „der reiche Jüngling“. Wir lassen es bei dieser eingebürgerten Bezeichnung. Immerhin erhebt sich die Frage, ob ein solcher „junger Mann“ überhaupt eine leitende Stellung in einer Synagoge haben konnte. Jedoch heißt Paulus in Apg 7,58 νεανίας [neanias] mit offensichtlich höheren Befugnissen als jener junge Mann von Mt 19,16, sodass man die obige Frage zuversichtlich bejahen kann. Rabbi, was muss ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe? Wir haben διδάσκαλε [didaskale] gleich mit Rabbi übersetzt, weil sich beides 89 BDR § 247,5. Moderne Übersetzungen: „ein Mann“. 90 Anders Hengel-Schwemer 363, 101: „wohl ein vornehmes Ratsmitglied“. 91 Bauer-Aland 1081.

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sachlich entspricht und Rabbi die übliche Anrede im jüdisch-pharisäischen Raum darstellt.92 Auch sonst wurde Jesus in pharisäischen Kreisen als διδάσκαλος [didaskalos] = Rabbi angeredet (Mt 8,19; 9,11; 12,38; 22,16; Joh 3,2).93 Die Fragestellung selbst setzt hohen Respekt vonseiten des jungen Mannes voraus. Ewiges Leben haben: Darum geht es auch in Lk 10,25 und in rabbinischen Gesprächen um 100 n.Chr.94 Der Rang, den diese Fragestellung unter den frommen Juden der Zeit Jesu gehabt hat, nötigt uns noch heute Hochachtung ab. Wie armselig sind dagegen manche unserer „Zeit-Fragen“! Vielleicht sollten wir noch eines festhalten: Dieser junge Mann glaubt ohne Weiteres, dass er das ewige Leben durch sein tun (ποιήσω [ poiēsō]) erreichen kann. Damit sind wir mitten in der Welt der Psalmen und des Römerbriefs. Wie ist es, wenn „da keiner ist, der Gutes tut“ (Ps 14,2; 53,2; vgl. Gen 8,21; Mt 15,19)? Wie ist es, wenn „kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor Gott gerecht werden kann“ (Röm 3,20)? Freilich ist ebenso deutlich, dass kein Mensch durch Nichtstun gerecht werden kann. Offenbar brauchen wir eine totale Veränderung der Perspektive. Damit stehen wir wieder bei der Bergpredigt und beim Kreuz. Die Qumran-Schriften sind ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie jüdische Menschen in der Zeit Jesu von solchen tief religiösen Fragen umgetrieben wurden. In der sogenannten Sektenregel stoßen wir auf den festen Willen, Gutes zu tun: „Nicht will ich jemand seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen“ (1QS X, 17f ). Doch kurz darauf formuliert sich die Erkenntnis, dass ohne Gottes Erbarmen und Gnadenerweise kein Mensch gerecht wird: „ohne dich wird kein Wandel vollkommen, und ohne dein Wohlgefallen geschieht nichts“ (1QS XI, 17, vgl. XI, 13ff insgesamt). V. 17 ist deshalb schwierig, weil die handschriftliche Überlieferung verschiedenartig und die Parallelüberlieferung anders strukturiert ist. In Mt 19,17 sagt Jesus zu dem jungen Mann: Was fragst du mich nach dem Guten? Gut ist nur einer!95 Bei Markus und Lukas heißt es: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“ Häufig erklärt man, Matthäus habe die Markus/Lukas-Fassung geändert, weil er nicht wollte dass Jesus als Sünder erscheine.96 Solch tief greifende, freihändige Änderung von Jesusworten ist aber unwahrscheinlich (vgl. Joh 21,23; 2Petr 3,16; Deut 4,2; Offb 22,18f ). 92 93 94 95 96

K. H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 155ff. Vgl. Rengstorf a.a.O., 158. Strack-Billerbeck I 808f. S. auch P. Abot IV, 16. So die ursprüngliche Lesart: Metzger, 195. So W. Grundmann, Art. ἀγαθός usw., ThWNT, I, 1933, 15; Bultmann, Gesch, 383; Beare 394; Fiedler 313. Anders Zahn 598, 64; Luz III 122.

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Unseres Erachtens ist deshalb die Annahme vorzuziehen, dass beide Fassungen – Matthäus wie Markus/Lukas – auf Jesus zurückgehen, dass in den frühen Überlieferungen der λόγια τοῦ κυρίου [logia tou kyriou] aber jeweils nur eine der beiden Fassungen tradiert wurde und deshalb die verschiedenen Aussagen bei Matthäus einerseits und Markus/Lukas andererseits auftauchen. Kehren wir zu Mt 19,17 zurück. Was fragst du mich nach dem Guten? bezieht sich auf das vorausgehende „was muss ich Gutes tun?“. Jesus geht also auf den Fragesteller ein und gibt eine angemessene Antwort. Letztere liegt schon in der Feststellung beschlossen Gut ist nur einer! Die Formulierung εἷς ἐστιν ὁ ἀγαθός [heis estin ho agathos] lehnt sich an das Schma Jisrael Deut 6,4f an und sagt, was jeder Jude wusste (Gen 8,21; Ps 14,2; 51,7ff; 53,2) und was die Rabbinen lehrten97: Der Mensch ist nicht gut, er ist ein Sünder. Wie kann er dann als sündiger Mensch wirklich Gutes tun (V. 16)? Siehe auch Mt 12,33ff.98 Doch was er tun soll, das sagt ihm der einzig Gute (ὁ ἀγαθός [ho agathos]), Gott, in seinem Wort.99 Deshalb die Anweisung Jesu: Wenn du aber ins Leben eingehen willst, dann halte100 die Gebote! Siehe dazu die Sprüche der Väter VI, 3: „unter Gutes ist nur die Tora zu verstehen“. Schon in Lev 18,5 und Mi 6,8 ist diese Linie vorgegeben. Paulus wird sie in Röm 12,2 fortsetzen. Er sagt zu ihm: Welche? (V. 18). Entstammt diese Frage der „Verkehrtheit“ des jungen Mannes?101 Vielleicht doch nicht. Das Alte Testament weist 365 Verbote und 248 Gebote im engeren Sinn,102 also insgesamt 613 Gebote im weiteren Sinn auf. Gerade in Jesu Tagen beschäftigte die Pharisäer die Frage nach dem höchsten Gebot (Mt 22,34ff ). Worauf sollte der junge Mann sein Schwergewicht legen? Und haben nicht auch die „Väter“ des Talmud verschiedene Schwerpunkte gesetzt? Schon der Erste unter ihnen, Simon der Gerechte, ein Mitglied der „Großen Synagoge“ (um 300 v.Chr.?), nannte Tora, Gottesdienst und Liebeswerke das Wichtigste.103 Nun geschieht etwas Überraschendes. Jesus zitiert in V. 17 und 18 fünf Gebote aus dem Dekalog und eines aus Leviticus. Das heißt: Er zitiert aus der Mose-Tora, nämlich Exodus, Levitikus und Deuteronomium. Schon bei der Bergpredigt ist uns seine starke Orientierung am Dekalog aufgefallen (Mt 97 98 99 100 101 102 103

P. Abot VI, 3; Ber IX, 2; Strack-Billerbeck I 809f. Vgl. Zahn 598. Vgl. Strack-Billerbeck I 809; Grundmann a.a.O., 13f. Ob τήρησον oder τήρει ursprünglich ist, lässt sich kaum entscheiden. So Zahn a.a.O. Strack-Billerbeck I 810. P. Abot I, 2.

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5,21ff ). In Mt 22,23-40 wird uns Ähnliches begegnen, ebenso in Lk 10,25ff. Mit anderen Worten: In der Mose-Tora findet Jesus tasächlich das verbindliche Wort des „Guten“ = Gottes. Die Reihenfolge ist nach biblischer Zählung: 6., 7., 8., 9., 5. Gebot des Dekalogs nach Ex 20,1ff; Deut 5,6ff, sowie Lev 19,18. Auch in der Bergpredigt (Berglehre) setzte Jesus mit dem 6. und 7. Gebot des Dekalogs ein. Er selbst zitiert hier und lässt nicht wie in Lk 10,25ff den Gesprächspartner zitieren. Die griech. Form von Du sollst nicht töten bis deinen Nächsten lieben wie dich selbst entspricht der LXX. Die Antwort des jungen Mannes ist einigermaßen verblüffend: Das alles habe ich gehalten. Was fehlt mir noch? (V. 20). Die beiden Sätze widersprechen sich zunächst aufs Heftigste. Das alles: Kann das ein pharisäischer Jude sagen? So überraschend es für manche klingen mag, muss die Antwort doch lauten: Ja.104 Noch Paulus konnte nach Jahren des Christseins von seiner pharisäischen Vergangenheit sagen, er sei „nach der Gerechtigkeit, die sich im Gesetze bewegt,105 untadelig gewesen“ (Phil 3,6), κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος [kata dikaiosynēn tēn en nomō genomenos amemptos]. Auf derselben Ebene nennt Jesus den Nathanael einen Menschen, „in dem kein Falsch ist“ (ἐν ᾧ δόλος οὐκ ἔστιν [en hō dolos ouk estin], Joh 1,47). Bekannt ist die Stelle Ps 118 (119),67 LXX: „Ich habe dein Wort gehalten (τὸ λόγιόν σου ἐφύλαξα [to logion sou ephylaxa])“, wie Mt 19,20: πάντα ταῦτα ἐφύλαξα [ panta tauta ephylaxa]. Doch auf einer anderen Ebene beobachten wir eine völlig gegenläufige Bewegung. Sie drückt sich aus im Sündenbewusstsein der pharisäischen Psalmen Salomonis: „Wem wird er Sünden vergeben, wenn nicht denen, die gesündigt haben? … deine Güte gilt reuigen Sündern.“106 Sie drückt sich nicht weniger aus in der Klage der qumranischen, wohl essenischen, Gemeinderegel: „ich gehöre zur ruchlosen Menschheit, zur Menge des frevelnden Fleisches“.107 Sie dominiert nicht zuletzt die Bußpsalmen des AT: „Siehe, ich bin als Sünder geboren“ (Ps 51,7). Was uns in Mt 19,20 zunächst als schreiender Gegensatz begegnet, spiegelt auf diesem Hintergrund genau die komplementären Erfahrungen der pharisäischen Existenz: untadelig nach menschlichen Maßstäben (Das alles habe ich gehalten), aber keineswegs ausreichend im Sinne göttlicher Gerechtigkeit 104 Vgl. die vielen rabbinischen Stellen, die Strack-Billerbeck I 814ff nennen, u.a. b Schab 55a; b Sanh 101a; b Ket 77b. Nach b Schab 55a gibt es „Leute, die die ganze Tora von Aleph bis Tav gehalten haben“. 105 So die Übersetzung von Paul Ewald, Der Brief des Paulus an die Philipper, KNT, XI, 3. Aufl., 1917, 169. Vgl. auch seine Erklärungen S. 169-171. 106 PsSal 9,7. 107 1QS XI, 9.

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(„Was fehlt mir noch?). Wir sollten diesen jungen Mann nicht als überheblich, sondern als einen ehrlich Suchenden betrachten. Erst dann haben wir einen Zugang zu der Reaktion Jesu, die Mk 10,21 mit den Worten beschreibt: „Und Jesus … gewann ihn lieb (Ὁ δὲ Ἰησοῦς … ἠγάπησεν αὐτόν [Ho de Iēsous … ēgapēsen auton]).“ Dabei ist außerdem zu bedenken, dass bisher nur die Zweite Tafel des Dekalogs – sozusagen die mitmenschliche – diskutiert wurde, nicht aber die Erste Tafel (sozusagen das Gottesverhältnis im engeren Sinne). Darauf kommen wir sogleich zurück. Im Grunde reicht die Aussage von Mt 19,20 weit über die damalige jüdische Situation hinaus und bis in unsere Tage hinein. Sie trifft auf breite Schichten unserer Gesellschaft zu, die von der Überzeugung geprägt sind: „Ich habe alles recht gemacht.“ Und dennoch ist auch hier eine tiefe innere Unruhe: „Ist Gott mit mir zufrieden? Und wenn es ihn gibt: Steht er auf meiner Seite?“ Die Überraschungen sind noch nicht zu Ende in diesem Abschnitt. Zu ihnen gehört auch Jesu Antwort in V. 21: Wenn du vollkommen sein willst, dann geh hin, verkaufe, was du hast, und gibs den Armen. Dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Und komm und folge mir nach! Eine lange, ausführliche Antwort – der längste Vers im ganzen Abschnitt. Ein erster Teil der Antwort liegt darin, dass Jesus dem jungen Mann recht gibt. Ja, ihm fehlt noch etwas! Sogar etwas Entscheidendes. Denn er ist noch nicht vollkommen (τέλειος [teleios]). An diesem Begriff entzündet sich die Diskussion. Heißt vollkommen eine höhere Stufe des Glaubens einnehmen, sodass zur Not auch eine Un-Vollkommenheit genügen könnte? Die mittelalterlichen consilia evangelica („evangelische Ratschläge“) gingen diesen Weg, indem sie eine vollkommene Erfüllung der Gebote nur bei bestimmten Personengruppen, z.B. den Mönchen, voraussetzten. Oder ist vollkommen ein philosophisches oder theologisches Ideal, das sich nur in Gott verwirklicht? Aber die an alle Gemeindeglieder gerichtete Aufforderung, vollkommen zu sein, widerlegt eine solche am Ideal orientierte Auffassung (vgl. Mt 5,48; 1Kor 14,20; Kol 4,12; Jak 1,4). Eine Lösung gibt es nur, wenn man die alttestamentlich-hebräische Begrifflichkeit zurate zieht. Hinter τέλειος [teleios] steckt hebr. ‫[ ָתִּמים‬tāmīm] oder ‫שֵׁלם‬ ָ [schālem].108 Beiden ist die Bedeutung „ganz“ 109 oder „ungeteilt“ zu eigen. ‫[ ָתִּמים‬tāmīm] ist zum Beispiel jemand, der wie Noah untadelig und ungeteilt in den Wegen Gottes wandelt (Gen 6,9; 17,1; Deut 18,13). Gemeint sind unter anderem diejenigen, „die nach der Thora108 Vgl. hier und im Folgenden G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, 50ff. 109 Vgl. K.-J. Illman, Art. ‫שֵׁלם‬ ָ , ThWAT, VIII, 1995, 93ff; B. Kedar-Kopfstein, Art. ‫ ָתַּמם‬, a.a.O., 688ff.

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Weisung JHWHs wandeln“.110 Für ‫שֵׁלם‬ ָ [schālem] notiert Illman auch die Bedeutung „Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen als eine Erfüllung einzelner konkreter Forderungen“.111 Keineswegs ist dabei „an völlige Sündlosigkeit“ gedacht,112 sondern an das dem Menschen Mögliche. Jetzt wird deutlich, was Jesus in Mt 19,21 meint: Entgegen seiner Selbsteinschätzung hat der junge Mann gerade nicht alles gehalten. Seine ungeteilte Hingabe hat er Gott vielmehr versagt.113 Jesus demonstriert das am ersten Gebot, das er sehr persönlich im Hinblick auf die Situation des jungen Mannes auslegt. Geh hin, verkaufe, was du hast, und gibs den Armen: So etwas wurde weder Petrus noch Johannes noch Matthäus noch Zachäus gesagt. Nur in der Bergpredigt-Parallele Lk 12,33 findet sich eine ähnliche Anweisung. Man darf deshalb die Worte verkaufe, was du hast nicht als ein Gebot betrachten, das für alle Jünger gilt.114 Es ist eine seelsorgerliche, im Einzelfall vollkommen berechtigte Anweisung – aber eben nur im Einzelfall. Dass aus der Hingabe der Habe ein Schatz im Himmel erwächst, erinnert noch einmal an die Bergpredigt und ist dort bei Mt 6,19f erklärt. Viel wertvollere geistliche Güter stellt ihm Jesus also in Aussicht, anstelle der vergänglichen irdischen.115 Aber der Zielpunkt liegt noch nicht bei dem Schatz im Himmel. Nach dem Gesetz des Achtergewichts liegt er vielmehr bei den Schlussworten von V. 21116: Und komm und folge mir nach (καὶ δεῦρο ἀκολούθει μοι [kai deuro akolouthei moi])! Das ist das Höchste: ein Jünger Jesu zu werden (vgl. Mt 8,22; 9,9). Damit wäre Gott aufs Höchste geehrt. Damit wäre auch klar, dass der junge Mann das erste Gebot (Ex 20,2f ) über alles andere stellt. Kein Zweifel: Jesus will ihn ernsthaft als Jünger haben (vgl. Mk 10,21). Die Worte δεῦρο ἀκολούθει μοι [deuro akolouthei moi] sind bei allen Synoptikern gleich. Am Ende dieser Begegnung steht kein Happy End: Der junge Mann aber, als er das hörte, ging traurig weg (V. 22). Das: wörtlich „das Wort (τὸν λόγον [ton logon])“, nämlich Jesu (V. 21). Der junge Mann verstand also sofort, um was es ging. Er war auch sofort in der Lage, die Konsequenzen zu überblicken. Kirchenleitungen und die meisten Christen wären sofort einer Meinung gewesen: Der passt fantastisch in Jesu Gemeinde. Sein eigenes – und im Hintergrund Gottes – Urteil lautet anders: Er passt nicht. Vielleicht ist 110 111 112 113 114 115

Kedar-Kopfstein a.a.O., 698. Illman a.a.O., 100. Kedar-Kopfstein a.a.O., 696. Vgl. Delling a.a.O., 74. Das Gegenteil bei Luz III 125: „für alle“. Dagegen France 286; Fiedler 314. Auch die Rabbinen konnten „das Darangeben der Habe als Prüfstein der Gottesliebe“ auffassen. Strack-Billerbeck I 817. 116 Ebenso Carson 424; Luz III 125.

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die Übersetzung „wurde traurig“ noch um ein Weniges besser. Er wurde überwältigt von der Traurigkeit der Welt (vgl. 1Thess 4,13). Die Trennung von Jesus und von Gott kann niemals in Freude münden. Es muss ihm auch der Grund seines Weggangs klar gewesen sein: Denn er war (ἦν [ēn]) sehr vermögend. In der Kontroverse Gott oder Geld siegt das Geld. Freilich schließt der Begriff κτήματα [ktēmata] neben der mobilen Habe auch die Immobilien ein.117 Vor den Gefahren des Reichtums warnten auch die Rabbinen.118 Aber vor allem Jesu Wort aus der Bergpredigt tritt hier vor Augen: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Am Verhalten des jungen Mannes lässt sich zuletzt mit aller Klarheit ablesen: Er hält das erste Gebot nicht (vgl. Ps 62,11). Sonst würde ihn nicht der Götze Mammon regieren. Was dann in der Folgezeit aus dem jungen Mann wurde, wissen wir nicht.119 Jesus lenkte sofort im Anschluss an seinen Weggang zu seinen Jüngern über (V. 23). Siehe auch Mk 10,23; Lk 18,24. Was er sagte, hat allgemeine Geltung (Amen, ich sage euch): Ein Reicher hat es schwer, ins Reich Gottes hineinzukommen. Gerade wegen der allgemeinen Geltung muss man sich diese Aussage genau ansehen. In allen drei Überlieferungen (Mt 19,23; Mk 10,23; Lk 18,24) steht das δυσκόλως [dyskolōs] fest. Es bedeutet „schwer“, „schwierig“,120 aber nicht „unmöglich“. Das heißt, auf dem Reichtum lastet eine besondere Erschwernis und Gefahr. Das sahen auch die Rabbinen so.121 Statt des matthäischen πλούσιος [ plousios] (ein Reicher) haben Markus und Lukas οἱ τὰ χρήματα ἔχοντες [hoi ta chrēmata echontes] und vermeiden damit die vorschnelle Zuspitzung auf die soziologisch-politische Klasse der Reichen. Es geht also in Mt 19,23ff – das darf man zunächst festhalten – nicht um eine Auseinandersetzung mit der politischen Gruppe der Reichen, die ja gar nicht zum vorausgehenden Gespräch mit dem jungen Mann passen würde, sondern um die geistliche Bedeutung des Reichtums, die bei jedermann zutreffen kann. In diesem Zusammenhang stellt Mt 19,23 eine scharfe Warnung dar. Und noch etwas ist deutlich: Das hineinkommen ins Reich Gottes ist für Jesus das höchste Lebensziel und der entscheidende Maßstab, an dem alles zu messen ist. V. 24 bildet zusammen mit V. 23 eine Art Doppelsatz: Noch einmal sage ich euch: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in 117 Vgl. B. Reicke, Art. χρῆμα usw., ThWNT, IX, 1973, 468f. 118 Strack-Billerbeck I 827; b Joma 35b; b Ber 32a. 119 Zahn 600 sieht in der Traurigkeit den „Anfang der μετάνοια“; Schlatter 299: „Die Selbsttäuschung zerging“. 120 Bauer-Aland 421. 121 Strack-Billerbeck I 827.

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das Reich Gottes. Vermutlich hat Jesus das Bild vom Kamel122 und vom Nadelöhr den Sprichwörtern seiner Zeit entnommen.123 Gemeint ist ganz realistisch das Loch einer Nähnadel, und nicht etwa ein enges Stadttor, das man als Nadelöhr bezeichnet hätte.124 V. 24 ist schärfer als V. 23. Denn hier sieht es so aus, als ob ein Reicher überhaupt nicht ins Reich Gottes käme. Die entsetzte Frage der Jünger in V. 25 kommt nicht aus ihrem Unverständnis, sondern gerade davon, dass sie sehr gut verstanden haben.125 Schlatter bemerkt: Die Jünger verstanden Jesus „besser als die, die sich an diesem Wort freuen: Schilt nur die Reichen! dadurch sicherst du uns Armen das Himmelreich. Die Jünger verstanden, daß der Ernst Jesu … alle trifft.“126 Matthäus berichtet: Als die Jünger das hörten, waren sie völlig außer sich und sagten: Wer kann dann gerettet werden? Das Passiv von ἐκπλήσσω [ekplēssō], von Matthäus gerne benutzt (7,28; 13,54; 19,25; 22,33), bedeutet „außer sich geraten“, „betäubt sein“.127 Das durative Imperfekt ἐξεπλήσσοντο [exeplēssonto] übersetzten wir mit sie waren außer sich. Nur ein einziges Mal verstärkt es Matthäus durch ein σφόδρα [sphodra], also „gewaltig“, völlig, nämlich hier. Die Betroffenheit der Jünger hätte nicht stärker beschrieben werden können. Ihre Konsequenz128 aus den Worten Jesu: Wer kann dann gerettet werden? Mit Recht setzen sie ins Reich Gottes kommen (V. 23f ) in eins mit dem eschatologischen gerettet werden (σωθῆναι [sōthēnai]). Es geht um alles oder nichts. Da alle Menschen an ihrem Besitz hängen (κτήματα [ktēmata], χρήματα [chrēmata]), ist keiner von Natur aus imstande, ins Reich Gottes einzugehen. Der Arme hängt an seiner Heimat, seiner Familie, seiner Begabung, seiner minimalen Hütte, wie selbst ein Diogenes; der Reiche an materiellen oder geistigen Genüssen wie ein Krösus oder Sultan. Was die Jünger sagen, bedeutet: Wenn Jesus recht hat, kommt keiner hinein. Wie klein nimmt sich daneben die angebliche Option der Kirche für die Armen aus! Aber auch die Unbarmherzigkeit geistlicher, materieller oder eben menschlicher Art, die man in der Kirche trifft! Wie sehr man seit frühesten Zeiten mit Mt 19,23ff gerungen hat, dokumentieren die Bibel-Handschriften. Viele, numerisch sogar die Mehrzahl, fügen in Mk 10,24 ein: „diejenigen, die ihr Vertrauen auf das Vermögen setzen“.129 Sachlich ist diese spätere Glosse 122 123 124 125 126 127 128 129

Keinesfalls κάμιλος, „Schiffstau“, BDR § 24,2. Vgl. Strack-Billerbeck I 828; Bauer-Aland 815; b Ber 55b; Zahn 601; Luz III 128. O. Michel, Art. κάμηλος, ThWNT, III, 1938, 598; Zahn a.a.O. Gundry 390. Schlatter 301. Bauer-Aland 492. Folgendes ἄρα = dann, BDR § 440,4. Vgl. dazu Reicke a.a.O., 469, dessen Übersetzung „Kapital“ aber zu eng ist.

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richtig. Sie stimmt mit der Bergpredigt (Mt 6,19ff ) überein. Zutreffend demnach das Urteil von Bo Reicke über „die Einstellung Jesu und der Apostel zum Reichtum“: „Nicht die Erscheinung, aber jede persönliche Abhängigkeit und jeder unwürdige Gebrauch davon werden abgelehnt.“130 Ein königliches Wort Jesu schließt diesen Abschnitt in V. 26 ab. Eingeleitet wird es bei Matthäus (und Markus) durch ἐμβλέψας [emblepsas]. Dieses ἐμβλέπειν [emblepein] bedeutet ein intensives, geistig herausfordendes anblicken.131 Jesus will also, dass das Folgende von den Jüngern intensiv bedacht wird: Bei den Menschen ist das unmöglich, aber bei Gott ist alles möglich. Im ersten Teil stimmt Jesus den Jüngern zu: es ist unmöglich, dass einer gerettet wird, der an seinem Besitz hängt. Das gilt auf der ganzen menschlichen Ebene (παρὰ ἀνθρώποις [ para anthrōpois] = bei Menschen). Eine Durchbrechung ist weder auf philosophischer noch menschlich-religiöser Ebene möglich. Aber bei Gott ist alles möglich: Dieser Satz ist im Grunde eine Wiederholung von Gen 18,14 und Hi 10,13; 42,2 (Gen 18,14 LXX: μὴ ἀδυνατεῖ παρὰ τῷ θεῷ ῥῆμα; [mē adynatei para tō theō rhēma?]; Hi 42,2 LXX: πάντα δύνασαι, ἀδυνατεῖ δέ σοι οὐθέν [ panta dynasai, adynatei de soi outhen]). Siehe auch Sach 8,6. Es ist, als wolle Jesus seinen Jüngern in Erinnerung rufen, was sie längst gelernt haben.132 Jetzt wendet er diesen Satz auf die Rettung des Menschen aus dem Gericht Gottes an. Nur Gott ist alles möglich:133 Die Rettung des Armen wie des Reichen, des Petrus (Lk 22,32) wie des Paulus (Röm 7,24), des Schächers (Lk 23,43) wie des alles wissenden Atheisten. Unversehens stehen wir vor dem Kreuz, dem Geheimnis der Erlösung.

IV Zusammenfassung 1. Die Begegnung mit dem reichen Jüngling gehört zu den einprägsamsten Geschichten der Evangelien. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht mit der Nachfolge, sondern mit dem Weggang von Jesus endet. 2. Sie lehrt, dass dort, wo man dem Besitz vor Gott die Spitzenstellung einräumt, der Eingang ins Reich Gottes unmöglich ist. Jesu scharfe Worte haben das eindeutig herausgestellt. Auf den ersten Blick scheinen sie nur den Reichtum zu treffen. Aber im Gespräch mit den Jüngern wird klar, dass wir Menschen alle davon betroffen sind.

130 131 132 133

Reicke a.a.O.; ebenso F. Hauck / W. Kasch, Art. πλοῦτος usw., ThWNT, VI, 1959, 325. Zahn 602: Jesus sei von der Frage der Jünger „betroffen“ gewesen. Hengel-Schwemer 484: Ein Grundsatz, der AT und NT durchzieht. Vgl. W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, 307, der mit dem Begriff „Allmacht“ allerdings nur einen Teil des in Mt 19,23ff Behandelten anspricht.

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3. Es wird immer wieder Menschen geben, die aus Mt 19,16-26 den persönlichen Ruf zu teilweisem oder ganzem Besitzverzicht vernehmen und wie Waldus oder Franziskus ein Leben in völliger Armut führen wollen. Das ist hoch zu achten. Falsch wäre es jedoch, daraus eine solche Forderung an alle Christen zu machen. Petrus, Zachäus, Josef von Arimathäa, Dionysius und Damaris (Apg 1,34) waren nach heutigen Begriffen durchaus vermögend, und Reichtum war in den frühen Gemeinden erlaubt (1Tim 6,17ff; Apg 5,4; 16,14f ). 4. Der Lehrsatz Jesu: Bei Menschen ist das unmöglich, aber bei Gott ist alles möglich wird mit Recht auf die Unfähigkeit des Menschen bezogen, sich selbst aus dem Gericht Gottes zu retten.134 In dieser Linie wurde Mt 19,26 schon von Justinus Martyr (ca. 150 n.Chr.) und Tertullian (ca. 150–223 n.Chr.) ausgelegt.135 Es bleibt dann nur das Vertrauen auf die Rettungstat Gottes, der Reiche und Arme durch das Wunder des Kreuzes rettet.136 5. An Mt 19,16-26 schließen sich viele Fragen an, von denen der Kommentar nur wenige aufgreifen kann: a) Die Frage der Prädestination: Ist der Ruf in die Nachfolge „ein unwiderstehliches ‚folge mir nach‘“, wie Hengel-Schwemer meinen?137 Aus Mt 19,16-26 ergibt sich dazu ein ganz klares Nein. Jesus liebte (ἠγάπησεν αὐτόν [ēgapēsen auton], Mk 10,21) den jungen Mann, bot ihm ohne Vorbehalt die Nachfolge an und scheiterte, weil der junge Mann „sehr vermögend war“. Wenn irgendwo, dann wird hier klar, dass unser letztes Ja oder Nein zu Jesus nicht durch Prädestination entschieden, sondern eine Sache unserer eigenen Entscheidung ist.138 b) Die neuprotestantische Frage nach den Geboten: Ist es auf protestantischem Gebiet noch möglich zu sagen, man müsse die Gebote halten? Liest man neue dogmatische Ausführungen, dann lautet die Antwort: Nein. Denn hier tritt an die Stelle der Gebote, die bei Jesus zentrale Bedeutung haben, die „Grundüberzeugung“ oder das Prinzip.139 Das Prinzip, das sich der Mensch macht, ist aber der Todfeind des Gebots. Man wird diese Entwicklung im Auge behalten müssen.

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Gaechter 625. Texte KV IV 487.531. Lesenswert hierzu K. Barth, KD I/2, 72ff. Hengel-Schwemer 363. In die entgegengesetze Richtung geht Karl Barths Auslegung von Mt 19,23f in KD I/ 2 284ff. 139 So Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche von Deutschland, 2013, 66.

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c) Eignet sich Mt 19,16-26 als sozialpolitisches Konzept? Heute gibt es eine Tendenz der Auslegung, die sich als „radikal“ und damit ursprünglichjesuanisch verstehen will, und die von einem „fundamentalen Gegensatz zwischen weltlichem Besitz und dem kommenden Gottesreich“ ausgeht.140 Ob es in dieser Tendenz zu Entscheidungen wie bei Waldus und Franziskus gekommen ist, wissen wir nicht. Doch enthält diese Tendenz auch eine Spitze gegen die gegenwärtigen Kirchen, die „zu einer Veränderung im Bereich der Finanzen“141 bereit sein sollten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die europäischen Kirchen nicht genügend Geld haben, um die Hilfeschreie der verfolgten Christen zu erhören. Jesu Zielrichtung in Mt 19,16-26 ist jedenfalls eine total andere: Sein Bemühen gilt den Menschen aller Schichten, um möglichst viele in das Reich Gottes zu führen. 6. Die Wirkungsgeschichte von Mt 19,16-26 zu schreiben, würde Bände erfordern. Nur wenige Hinweise: Hebräer- und Nazaräerevangelium beschäftigen sich mit unserer Perikope, in der Didache finden sich Spuren (2,1ff; 6,1f ), auch im Hirten des Hermas, im Thomasevangelium, bei Justinus Martyr, Tertullian, Clemens Alexandrinus, Basilius d. Gr.142 Über reformatorische und nachreformatorische Deutungen orientiert Luz.143 Dass Mt 19,16-26 über die Lebensläufe von Waldus und Franziskus (und anderer) als mächtiger Geschichtsimpuls wirkte, haben wir schon erwähnt. Eine wichtige Rolle spielte es unter den consilia evangelica („evangelischen Räten“144). Noch zu wenig aufgearbeitet ist der Einfluss, den Mt 19,16ff und ähnliche Stellen auf den Pietismus und die Erweckungsbewegungen ausübten. Als Beispiele nur zwei selten herangezogene Stellen: 1) In der Lebensbeschreibung von Anton Egeler (1770–1850), einem Mitbegründer der Hahn’schen Gemeinschaft in Württemberg, wurde 1851 u.a. festgehalten: „Er mußte sich aber ganz zur Armuth – und zuletzt in seinem Sinn bis zum Betteln – verstehen“. 2) In der Vorrede des Pfarrers K. Chr. E. Ehmann auf die Epistelpredigten Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) findet sich der Hinweis, er sei „den Weg des Kreuzes und der Selbstverleugnung“ gegangen.145 – Wir erinnern uns, dass sich auch die Täufer, in manchem die Vorläufer des Pietismus, auf Mt 19 bezogen, wenn sie vom Leben „in freiden und lusten diser welt“ sprachen.146 140 141 142 143 144

So Luz mehrfach (Luz III 127.136.131 im Anschluss an Ernst Bloch; Fiedler 315). Luz III 136. Vgl. Aland, Syn, 340; Texte KV IV 487.531; Luz III 131ff. Luz III 134ff. Leider auch in Standardwerken wie Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte nur knapp behandelt. 145 Friedrich Christoph Oetinger, Die Epistelpredigten, Metzingen, 1978, XI. 146 So Spittelmaier, vgl. Maier, JO, 248.

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10.5 Der Lohn der Nachfolge, 19,27-30

I Übersetzung 27 Da ergriff Petrus das Wort und sagte zu ihm: Sieh, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was haben wir dann davon? 28 Jesus aber sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet in der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, ebenfalls auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. 29 Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Väter oder Mütter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür ein Hundertfaches erhalten und dazu das ewige Leben erben. 30 Viele aber, die die Ersten sind, werden die Letzten sein, und die die Letzten sind, werden die Ersten sein.

II Struktur Die Struktur des kleinen Abschnitts ist denkbar einfach: 1) Petrus stellt eine Frage (V. 27), und 2) Jesus antwortet darauf (V. 28-30). Gaechter betrachtet V. 27 als eine „Doppelfrage“.147 Das erscheint als künstlich. Denn mit dem ἄρα [ara] in V. 27 verklammert Matthäus alles von Petrus Gesagte zu einer Einheit. Der Anschluss an die Verse 16-26 ist eng. Aber die betonten Personalpronomina ἡμεῖς [hēmeis] (V. 27), ἡμῖν [hēmin] (V. 27), ὑμῖν [hymin], ὑμεῖς [hymeis] (V. 28) zeigen doch, dass Matthäus V. 27-30 als eigenes Sujet aufgefasst hat. In allen synoptischen Evangelien folgt unser Abschnitt unmittelbar auf die Begegnung mit dem reichen Jüngling. Letztere ist also der Hintergrund, auf dem Mt 19,27ff parr. gelesen sein will.

III Einzelexegese Da ergriff Petrus das Wort (V. 27): So übersetzen wir Τότε ἀποκριθεὶς ὁ Πέτρος [Tote apokritheis ho Petros], vgl. auch das ἤρξατο [ērxato] bei Markus (10,28).148 Solche oder ähnliche Redewendungen sind bei Matthäus häufig (vgl. 14,28; 15,15; 16,16; 17,4; 18,21). Unzweifelhaft genießt Petrus im Matthäusevangelium eine hohe Wertschätzung. Man darf aber nicht in den Fehler verfallen, darüber den Zwölferkreis aus den Augen zu verlieren. So auch hier. 147 Gaechter 626. 148 Tasker 189 nach Knox: „took occasion to say“.

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Petrus spricht betont vom wir und auch Jesu Antwort gilt den Zwölfen insgesamt. Demnach kommt Petrus in V. 27 nicht nur mit persönlichen Überlieferungen, sondern trägt vor, was alle Zölf bewegt: Sieh, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was haben wir dann davon? Auf dem Hintergrund der Begegnung mit dem reichen Jüngling ist diese Frage Ausdruck einer starken Spannung. Einerseits kann keiner der Zwölf das Streben nach Besitz in seinem Herzen leugnen, jeder sieht deshalb, dass es menschlich gesehen für ihn keine Rettung gibt („Wer kann dann gerettet werden?“, V. 25). Andererseits lässt sich ja nicht wegdisputieren, dass sie alle viel geopfert haben: 1) Wir haben alles verlassen. Man denke an Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes als Unternehmer am See (4,18ff ), an Matthäus am Zoll (9,9), die ihren bisherigen Beruf aufgaben, sich von Eltern, Frau und Familie trennten, ihren bisherigen Besitz verließen. 2) Und sind dir nachgefolgt: Dabei handelt es sich nicht nur um Wegstrapazen und Armutsprobleme. Gaechter hat diese Situation sehr gut beschrieben: „Die Zwölf waren damals praktisch die einzigen, welche noch öffentlich zu Jesus hielten und mit ihm einherzogen“ (unter Verweis auf Lk 22,28; Joh 6,60ff ).149 Soll das alles umsonst sein? Damit wird aber eine bis heute umstrittene Dimension aufgerissen, nämlich die des Lohnes für menschliche Handlungen. Exkurs: Der Lohngedanke im Evangelium Der philosophische Humanismus möchte den Lohngedanken überwinden. Eine Tugendlehre, die sich auf die Absicht gründet, „Lohn“ zu erhalten, ist für ihn minderwertig. Klassisch kam dies zum Ausdruck in Gotthold Ephraim Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts von 1777. Lessing beschreibt dort in §80 die Aufgabe, eine „Reinigkeit des Herzens“ hervorzubringen, „die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht“. Er lebt in der Gewissheit, dass „die Zeit der Vollendung“ kommt, in der der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind“ (§85). Diese Überlegungen sind ohne Weiteres verständlich, weil sie davon ausgehen, dass das Gute im Menschleben nicht von Eigennutz oder Eigenliebe abhängen darf. Aber gleichzeitig leiden sie unter dem Defizit, dass sie vom Zielgedanken, der jedem menschlichen Handeln innewohnt, abstrahieren wollen. Zum Menschsein gehört untrennbar der Gedanke: Was ist das Ziel meines Handelns? „Was habe ich davon?“ Die christliche Dogmatik war sich der Gefahr des Eigennutzes und der Selbstliebe ebenfalls bewusst, wenn von „Lohn“ die Rede war. Je stärker der philosophische oder humanistische Einfluss auf sie einwirkte, desto mehr 149 Gaechter 626f.

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Schwierigkeiten hatte sie mit dem Lohngedanken. Man merkt dies beispielsweise an den grundlegenden Ausführungen, die Hermann Gunkel und Adolf Jülicher unter dem Stichwort „Lohn“ in der 1. Auflage der RGG (1912) machen,150 aber auch am „Lexikon der katholischen Dogmatik“ von 1987.151 Dort ist als ökumenische Einsicht formuliert, biblisch sei Lohn „immer Gnadenlohn Gottes, auf den kein Anspruch besteht“.152 Mit dem Konzept des „Gnadenlohnes“ versuchte man, beidem gerecht zu werden: der unleugbaren Verheißung eines Lohnes in der Bibel und der Abwehr der Eigensucht. Der Lohn darf niemals „Triebfeder“ für das christliche Handeln werden.153 Im Alten Testament finden sich schon beide Linien. Einerseits weiß der Fromme: Wer die Gebote Gottes „hält, der hat großen Lohn“ (Ps 19,12). Andererseits handelt Gott in seiner Barmherzigkeit und lohnt in freier Souveränität, ohne dass der Mensch den geringsten Anspruch geltend machen kann. So bei der Erwählung Israels (Deut 7,7f ). So beim Einzelnen (Gen 15,1). Die zunächst imponierende humanistische Losung „das Gute tun, weil es das Gute ist“ kann dagegen mit einem Eingreifen Gottes in unsere Raum-Zeit-Welt letztlich nicht mehr rechnen. Die biblische und jüdische Geschichte war im Übrigen auch die Geschichte eines ständigen Ringens um und mit dem Gott, der vergibt. Schon in alter Zeit hörte man von den Gottlosen: „Wie sollte Gott es wissen? Wie sollte der Höchste etwas merken?“ (Ps 73,11; vgl. Mal 3,14f ). Vor allem das Sirachbuch legt Zeugnis ab von diesem Ringen. Es besteht auf der Verantwortung des Menschen und auf der göttlichen Vergeltung für jedes Handeln (15,11–17,24). Zugleich aber lobt es die Barmherzigkeit Gottes, von der wir unverdient leben (Sir 17,25–18,14). Bei den frühjüdischen Lehrern und den Rabbinen setzen sich die genannten Linien fort. Natürlich wird man bei der Vielfalt des Talmud immer wieder Aussagen finden, die eine Werkgerechtigkeit zum Ausdruck bringen. Aber eine nachhaltige wesentliche Formulierung steht an der Spitze der „Sprüche der Väter“, wo Antigonas von Socho um 200 v.Chr. sagt: „Seid nicht wie Diener, die dem Herrn dienen in der Absicht, Lohn zu erhalten, sondern seid Diener, die dem Herrn dienen ohne die Absicht, Lohn zu erhalten“ (P. Abot I, 3). Ehrfurcht soll die Grundlage unseres Verhältnisses zu Gott sein. Nur wenig später folgt in denselben „Sprüchen der Väter“ der Lehrsatz des berühmten Rabbi: „All deine Taten werden in ein Buch eingeschrieben“ (vgl. Mal 3,16). Das heißt, Gott vergilt alle unsere Taten mit Lohn oder Strafe (P. Abot II, 1). Das Neue Testament hält als Gesamtsumme fest: „wer zu Gott kommen will, der muss glauben, dass er ist und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt“ 150 151 152 153

Art. Lohn, RGG, 1. Aufl., 3. Bd., 1912, 2357ff. Siehe Stichwort „Lohn“ im Sachregister. A.a.O. 533, wobei u.a. Mt 20,1-16 zitiert wird. So Jülicher im RGG-Artikel, 2365f.

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(Hebr 11,6). Hier steht das griech. Wort μισθαποδότης [misthapodotēs], das heißt „Lohngeber“, „Entlohner“. Die andere Hälfte der neutestamentlichen Grundlage wird von dem Satz Jesu gebildet, dass nur Gott in seiner Liebe die unverdiente Rettung des Menschen „möglich“ machen kann (Mt 19,26). Damit stehen wir wieder bei Mt 19,16-30. Die biblische Botschaft enthält also gewissermaßen zwei Brennpunkte einer Ellipse: 1) den gerechten Willen Gottes, je nach dem Verhalten des Menschen Lohn oder Strafe zu geben, und 2) den barmherzigen, von Liebe bestimmten Willen, den sündigen Menschen zu retten, worauf wir in Glauben und Vertrauen antworten. Wer einen dieser beiden Brennpunkte eliminiert, hat die Realität verloren.154

Zurück zu Mt 19,27: Die Frage des Petrus: Was haben wir dann155 davon? ist also verständlich. Mehr noch: Sie ist auch der biblischen Botschaft angemessen.156 Jesus tadelt sie auch nicht.157 Wir kommen nun zur Antwort Jesu, die mit Spannung erwartet wird: Amen, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet in der Wiedergeburt (ἐν τῇ παλιγγενεσίᾳ [en tē palingenesia]), wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, ebenfalls auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten (V. 28). Dies ist eine spezielle Verheißung für die zwölf Apostel, während nachher in V. 29 eine allgemeine Verheißung für alle Menschen folgte. Das feierliche Amen unterstreicht die Wichtigkeit der Aussage. Die Betonung des ihr (ὑμεῖς [hymeis]) stellt klar, dass es jetzt nur um die zwölf Apostel geht. Die ihr mir nachgefolgt seid erinnert uns daran, dass es im Evangelium eine Ehre bedeutet, Nachfolger Jesu zu sein (vgl. Mt 10,12ff.40ff; 18,6ff; 25,31ff; Lk 10,16; 22,28ff ). Jesus weiß, was das in sich schließt (Mt 10,16ff; Joh 15,18ff ). Ihr seid mir nachgefolgt steht ferner in scharfem Gegensatz zu dem reichen Jüngling, der in V. 21 und 22 die Nachfolge abgelehnt hatte. Im Übrigen spricht Jesus in Mt 19,28 nicht von irgendwelchen Leistungen der Apostel, sondern schlicht von der treuen Nachfolge (vgl. 1Kor 4,2). Die Verheißung, die jetzt folgt, bezieht sich auf die Zukunft. In dieser von Gott längst vorherbestimmten Zukunft wird der Menschensohn, also Jesus,158 auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen. Es geht um das Christus-Reich, das der neuen 154 155 156 157 158

Vgl. Hengel-Schwemer 440. Vgl. BDR § 440,4. France 287. Zahn 603: „Jesus antwortet mit großer Milde“; Fiedler 316. Gaechters Übersetzung „er, dieser Mensch“ (S. 627), geht an der Sprachwelt des Matthäusevangeliums vorbei.

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Schöpfung vorangehen wird. Mehrfach ist davon bei Matthäus die Rede (13,40ff; 16,27f; 19,28; 20,21; 24,30f; 26,64), wie auch bei Paulus (1Kor 15,23ff; 1Thess 4,16f; 2Thess 2,8) und in der Johannesoffenbarung (Offb 19,11ff; 20,1ff ).159 Jesus nennt hier die betreffende Zukunftsepoche die Wiedergeburt (ἡ παλιγγενεσία [ palingenesia]). Seit Philo ist der Begriff der παλιγγενεσία im Judentum nachweisbar.160 Er bedeutet grundsätzlich die Welterneuerung im kommenden Äon. Wo man mit dem Kommen des Messias rechnet, ist es die messianische Erneuerung der Welt.161 Interessanterweise hat Lk 22,30 ἐν τῇ βασιλείᾳ μου [en tē basileia mou] als Parallelbegriff zu ἐν τῇ παλιγγενεσίᾳ [en tē palingenesia] Mt 19,28,162 wodurch die obige Deutung auf das Christus-Reich bestätigt wird. Dann also werden die zwölf Apostel ebenfalls (καὶ ὑμεῖς [kai hymeis]) auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Richten, κρίνειν [krinein], hat hier wohl den weiteren Sinn von „regieren“.163 Was Jesus in Mt 19,28 sagt, stimmt der Sache nach mit Offb 20,4ff, ja sogar 2Tim 2,12 und 1Kor 6,2f überein. Siehe auch das Stichwort von den Thronen.164 Man muss jedoch unterscheiden zwischen der Teilhabe an der Herrschaft des Christus und der Teilnahme an der Funktion des Richters im Endgericht.165 Viel zu rasch sprechen Klostermann und Strack-Billerbeck von einer „aktiven Teilnahme am Endgericht“ durch die Apostel.166 Streng genommen heißt jedoch κρίνειν [krinein] in Mt 19,28 nur „herrschen“, „regieren“ und nicht „richten“ im Sinne von „das Urteil sprechen“.167 Die zwölf Stämme Israels sind die in der Endzeit wiedervereinigten Stämme (Sir 48,10). Die zwölf Apostel werden ihnen ebenso speziell zugeordnet wie in Offb 21,10ff. Erneut bestätigt sich, dass Jesus die Zwölf in Analogie zu den zwölf Stämmen Israels ausgewählt hat. Dass die erlöste Ge159 Dass vom „Tausendjährigen Reich“ des Christus nur an einer Stelle der Bibel, nämlich Offb 20,1-6, die Rede sei, ist eine für Theologen unmögliche Auskunft. Jeremias, Gleichnisse, 80 nennt „die Vorstellung vom Christusreich … der ältesten Überlieferung fremd“. Warum eigentlich? 160 So F. Büchsel, Art. γίνομαι usw., ThWNT, I, 1933, 687. 161 So Büchsel a.a.O.; Strack-Billerbeck I 828; Bauer-Aland 1226; Klostermann 158; syrApkBar 32,6; Carson 425. Anders Luz III 129: Es sei die Totenauferstehung. 162 Büchsel a.a.O. 163 Klostermann 159; Beare 399. 164 Dazu O. Schmitz, Art. θρόνος, ThWNT, III, 1938, 165. 165 So auch Schmitz a.a.O. 166 Klostermann a.a.O.; Strack-Billerbeck a.a.O. 167 Nicht nur Klostermann a.a.O., sondern auch F. Büchsel, Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 922; Schniewind 207; France 288; Zahn 604f; PsSal 17,26. Anders Luz III 128 („Mit-Richter“); Hengel-Schwemer 367; Carson 426; Schlatter 302; Theißen-Merz 243f.

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meinde an der Herrschaft des Messias beteiligt ist, wird schon in Dan 7,18ff prophezeit. Jesus erweitert seine Verheißungen in V. 29 über den Kreis der Zwölf hinaus auf alle Gläubigen: jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür ein Hundertfaches erhalten und dazu das ewige Leben erben. Beachten wir zuerst, dass es heißt um meines Namens willen (vgl. Mt 5,11; 10,18.39; 16,25). Es geht also um die Jesus-Nachfolge. Ein philosophischer oder idealistischer Altruismus wird hier nicht einbezogen. Warum? Weil es auf das Zeugnis vom Messias in einer Gott entfremdeten Welt ankommt. Verlassen hat (ἀφῆκεν [aphēken]) nimmt das verlassen (ἀφήκαμεν [aphēkamen]) von V. 27 wieder auf und schließt noch einmal an das Beispiel der Jünger an. Zu Häuser vgl. Mt 4,20.22; 9,9, zu Brüder oder Schwestern, Vater oder Mutter oder Kinder dieselben Stellen, zu Äcker Apg 4,32ff. Die Aufzählung entspricht nicht nur dem lebhaften hebräischen Erzählstil, sondern macht auch klar, dass sich Jesus der Größe des Opfers wohl bewusst ist. In diese Aufzählung fügen viele Handschriften nach Mutter ein: „oder Frau (ἢ γυναῖκα [ē gynaika])“. Es ist sehr wohl möglich, dass diese Lesart die ursprüngliche168 ist und die spätere Überlieferung zum Teil bestrebt war, die „Frau“ zu tilgen, weil sie die Apostel lieber unverheiratet sah. Dann wäre das Opfer noch größer. Der Lohn ist ein doppelter: Zuerst werden die Gläubigen – Männer und Frauen – dafür ein Hundertfaches169 erhalten. Die Zahlenangabe hundertfach ist eine Hyperbel170, das heißt, sie darf nicht mathematisch nachgezählt werden, sondern steht für das, was wir im Deutschen durch die Worte „unglaublich viel mehr“ ausdrücken würden. Dagegen sagt Matthäus nicht, wo dieser hundertfache Lohn gegeben wird. Nur Mk 10,30 und Lk 18,30 stellen sicher, dass er noch in dieser Erdenzeit erwartet werden darf.171 Voraussetzung für das Verständnis ist hier die geistliche Interpretation.172 Das heißt, dass Kinder, Häuser, Äcker usw. kaum einmal in natura geschenkt werden,173 sondern dass wir sie in Form geistlicher Segnungen erhalten (vgl. Eph 1,3). Strack-Billerbeck stellen interessanterweise fest, dass die Rabbinen öfter von einem dopplten Lohn, aber nicht von einem vielfältigen oder gar 168 169 170 171 172 173

Entschieden anders Zahn 605,79. πολλαπλασίονα ist aus Lk 18,30 nachträglich in einige HSS eingedrungen. Vgl. BDR § 495,5. Schniewind 207. Carson 426. Ausgeschlossen ist das freilich nicht!

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hundertfältigen sprechen.174 Das Zweite, was Jesus uns verheißt, ist das ewige Leben. Das Stichwort erben (κληρονομεῖν [klēronomein]) wird nach BauerAland „bes. v. d. Teilnahme am messian. Heil“ gebraucht.175 Es geht in der Tradition zurück auf die Einnahme des Verheißenen Landes, bei der die Stämme ihren Anteil als „Erbe“ erhalten (Deut 10,9; 18,1; 12,10).176 Für die Redewendung das ewige Leben erben sehen Strack-Billerbeck in äthHen 40,9 den frühesten Beleg. Jesus hat solche oder ähnliche Wendungen gerne gebraucht (vgl. Mt 5,5; 19,29; 25,34). Die Verheißung des ewigen Lebens für seine treuen Nachfolger ist unüberbietbar. Sie schließt die Auferstehung zum Leben, den Freispruch im Gericht, die Teilnahme am Christus-Reich und an der neuen Schöpfung, und die ewige Gemeinschaft mit Vater, Sohn und Heiligem Geist ein. Sie lohnt daher jedes Opfer. Zugleich aber macht uns Mt 19,29 klar, dass dieser himmlische Lohn weit entfernt ist von jeder Berechnung und jedem menschlichen Verdienstgedanken. Denn womit könnten wir dies alles je verdienen? Geheimnisvoll bleibt V. 30: Viele aber, die die Ersten sind, werden die Letzten sein, und die die Letzten sind, werden die Ersten sein. Bei Jesus taucht ein solches oder ähnliches Wort mehrfach auf (vgl. Mt 20,16; Lk 13,30). Es scheint sich um ein Sprichwort zu handeln,177 das sich bis heute mit der Lebenserfahrung deckt. Am ehesten kann man V. 30 als eine Warnung verstehen:178 Wer die höchsten Verheißungen hat, kann auch am tiefsten fallen. Ist nicht Petrus, der hier mit Jesus spricht und die Verheißung von Mt 16,18f hatte, bald darauf am tiefsten gefallen? Und scheiterte nicht der junge Mann, der „alles gehalten“ hatte, soeben am ersten Gebot? Hat nicht Paulus, das auserwählte Werkzeug Gottes (Apg 9,15), davor am meisten Angst gehabt, dass er „anderen predigt und selbst verwerflich wird“ (1Kor 9,27)? Zahllose Beispiele ziehen sich durch Theologie- und Gemeindegeschichte. Wir sollen, so will Jesus offenbar sagen, nicht aus dem in V. 29 verheißenen Lohn eine unabänderliche Garantie machen, die uns in Sicherheit wiegt. Wir brauchen eine certitudo (Gewissheit), aber keine securitas (Sicherheit). „Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle“ (1Kor 10,12). Siehe auch 1Kor 1,28; 4,9; 15,8ff – vielleicht auch ein Echo auf Mt 19,30. Anders versteht Joachim Jeremias unseren 30. Vers. Er verkünde „die Umkehrung der Rangordnung am jüngsten Tage“: Wer heute auf Erden ganz oben 174 175 176 177 178

Strack-Billerbeck I 829. Bauer-Aland 884. Vgl. J. Herrmann im Art. κλῆρος usw., ThWNT, III, 1938, 768ff. Carson 426. So Schniewind 207, Zahn 606; Schlatter 303.

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rangiert, wird dann ganz unten sein.179 Eine solche Erklärung bleibt möglich. Naheliegend ist sie unseres Erachtens nicht.180

IV Zusammenfassung 1. Mt 19,27-30 konzentriert sich auf das Thema des Lohnes: „Was haben wir davon? 2. Die Frage ist berechtigt und wird von Jesus ausführlich beantwortet. Er unterscheidet dabei zwischen den Zwölfen und der Jüngerschaft insgesamt. Erneut wird uns bewusst, dass im Reiche Gottes Lohn und Strafe nach dem Maßstab göttlicher Gerechtigkeit erfolgen und deshalb für die einzelnen Menschen verschieden sind. 3. Die Verheißung der zwölf Throne für die zwölf Apostel wird ausdrücklich mit dem kommenden Christus-Reich verbunden (V. 28). Dadurch ist Mt 19,28 neben Mt 13,40ff; 16,27f; 20,21; 24,30f; 26,64 ein weiterer Beleg für das Christus-Reich (nach Offb 20,1ff auch Tausendjähriges Reich genannt), das seinen geschichtlichen Ort noch vor der ewigen Neuschöpfung hat. 4. Der Lohn, den Jesus in Mt 19,27ff verheißt, ist um ein Vielfaches größer als jede menschliche Erwartung und menschliche Hingabe. Die dogmatische Bezeichnung „Gnadenlohn“ sollte man besser aufgeben. Sie suggeriert in Parallele zu Begriffen wie „Gnadenbrot“, „Begnadigung“ usw., dass Gott uns eben gerade noch etwas Unverdienstes zukommen lässt, während doch seine schenkende Liebe unendlich viel reicher ist. 5. Die Historizität von Mt 19,27-30 wurde teilweise summarisch geleugnet („hier spricht fraglos der Auferstandene“ – „Auf alle Fälle … eine Bildung der Urgemeinde“181). Mit Recht hat Rainer Riesner die dabei gefällten Urteile als „apodiktisch“ zurückgewiesen.182 Wir sind auf keine überzeugende Begründung gestoßen, die an der Historizität zweifeln ließe.

10.6 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, 20,1-16

I Übersetzung 1 Denn mit dem Reich Gottes verhält es sich wie mit einem Grundherrn, der sich früh am Morgen sofort auf den Weg machte, um Arbeiter für 179 Jeremias, Gleichnisse, 30f. Ähnlich Carson 426. 180 Luz III 130: Deutung muss offenbleiben. Fiedler 317 erwägt eine weitere Deutung: Will Jesus sagen, dass im Eschaton Erste und Letzte gleich sein werden? France 288 wie Luz. Strack-Billerbeck I 830 weisen auf b BB 10b hin. 181 Bultmann, Gesch, 170f.176. Im Ergebnis ähnlich Hengel-Schwemer 363. 182 Riesner 83.

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seinen Weinberg anzuwerben. 2 Nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen Denar pro Tag geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. 3 Und als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere untätig auf dem Marktplatz herumstehen, 4 und er sagte zu ihnen: Geht doch auch ihr in den Weinberg, und ich werde euch geben, was recht ist. 5 Sie gingen hin. Noch einmal ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und machte es genauso. 6 Als er aber um die elfte Stunde ausging, fand er immer noch andere herumstehen, und sagt dann zu ihnen: Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? 7 Sie sagen zu ihm: Weil uns niemand angeworben hat. Er sagt zu ihnen: Geht doch auch ihr in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sagt der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, angefangen von den letzten bis zu den ersten. 9 Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie jeder einen Denar. 10 Und als die Ersten kamen, glaubten sie, dass sie mehr erhalten würden. Aber auch sie erhielten jeder einen Denar. 11 Als sie ihn bekommen hatten, murrten sie gegen den Grundherrn 12 und sagten: Diese Letzten da haben nur eine einzige Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir die Last des Tages und die Hitze getragen haben. 13 Er aber gab zur Antwort und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir zu einem Denar einig geworden? 14 Nimm das Deine und geh. Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder steht es mir nicht frei, mit dem Meinigen zu machen, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.183

II Struktur Das letzte Peräa-Ereignis besteht aus einem Gleichnis, das Jesus erzählt. Es ist eines der längsten. Bis auf den letzten Satz ist es Sondergut des Matthäus. Der Anfang Ὁμοία γάρ [Homoia gar] (V. 1) zeigt, dass es Matthäus mit dem Vorhergehenden verbinden will. Wir werden also den Bezug auf die Lohn-Thematik von 19,27ff und die Petrusfrage „Was haben wir davon?“ ernst nehmen müssen. Dagegen setzt Mt 20,17 ganz neu ein. Zwischen Mt 20,1ff und Mt 20,17ff liegt also eine Zäsur.

183 Der Satz πολλοὶ γάρ εἰσιν usw. ist sekundär.

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Mt 20,1ff ist äußerst dramatisch – früh / 3. Stunde / 6. Stunde / 9. Stunde / 11. Stunde / Abend – und in großen Teilen lebensnah.184 Wer oder was steht im Zentrum? Nach Joachim Jeremias ist „Der Arbeitsherr … die Hauptperson“.185 Dementsprechend nennt er das Gleichnis das „Gleichnis vom gütigen Arbeitsherrn“.186 Willibald Bösen folgt ihm darin.187 Doch David Flusser bleibt beim „Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“.188 Und Peter Fiedler weist mit Recht darauf hin, dass es in Mt 20,1-16 um die „Gewährung des göttlichen Lohns“189 geht. Jesus will hier ja nicht in erster Linie Gott darstellen, sondern das, was wir am Ende als Lohn von Gott empfangen. So bleiben auch wir bei der Überschrift „Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“.190

III Einzelexegese Der Gleichnisanfang es verhält sich mit dem Reich Gottes wie (V. 1: Ὁμοία γάρ ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [Homoia gar estin hē basileia tōn ouranōn]) ist uns längst vertraut (13,44.45.47). Jesus vergleicht also das „Reich Gottes“ mit einem Vorgang.191 Seine Geschichte nimmt ihren Ausgang bei einem Grundherrn. Das ἀνθρώπῳ [anthrōpō] vor οἰκοδεσπότῃ [oikodespotē] entspricht einem τις [tis] / τινι [tini],192 muss also mit unbetontem einem übersetzt werden.193 Schwieriger zu übersetzen ist οἰκοδεσπότης [oikodespotēs]. „Arbeitsherr“, „Hausherr“194, „Hausbesitzer“, „Grundbesitzer“195, „Gutsherr“196, „Gutsbesitzer“197, „Weinbergbesitzer“198 sind einige Übersetzungsvorschläge. Wir wählten Grundherr. Vermutlich geht dieses οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] auf hebr. ‫[ ַבַּעל ַה ַבִּית‬ba‘al habbajit] zurück.199 Es geht

184 Flusser 34: „ganz aus dem damaligen Leben genommen“. 185 Jeremias, Gleichnisse, 136,1. 186 A.a.O. 136. Vgl. seine ausführliche Begründung S. 29ff, die aber jenseits des Mt-Textes angesiedelt ist. 187 Bösen 197; auch Theißen-Merz 310.516. 188 Flusser 31.34.36.53.68.170.298.303. Auch Hengel-Schwemer 235.441. 189 Fiedler 317. 190 Auch Luz III 138ff. 191 Jeremias, Gleichnisse, 136: „so geht es zu“. 192 BDR § 301,5. 193 Anders K. H. Rengstorf in seinem Art. δεσπότης usw., ThWNT, II, 1935, 48, der in ἀνθρώπῳ den betonten Gegensatz zu Gott sieht. 194 Jeremias a.a.O.; Bauer-Aland 1131. 195 Rengstorf a.a.O. 196 Bösen 192. 197 BasisBibel; NGÜ. 198 Gute Nachricht. 199 Rengstorf a.a.O.; Flusser 48,5.

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um einen großen Grundbesitzer, der zugleich Haus und Güter als „Chef “200 leitet. Erstaunlich, wie er sich einsetzt! Schon früh am Morgen, gleich bei Sonnenaufgang (ἅμα πρωΐ [hama prōï ]), machte er sich sofort auf den Weg (ἐξῆλθεν [exēlthen]: wörtlich „er ging hinaus“), um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Die Arbeiter sind Tagelöhner, die man auch nur für einen Tag „mieten“201 (μισθώσασθαι [misthōsasthai]) konnte. Wahrscheinlich kamen diese Tagelöhner billiger zu stehen, als längerfristig Angestellte. Wenn der Grundherr jetzt Tagelöhner sucht, dann war wohl die Zeit der Traubenernte. Das Geschehen „zeigt, daß die Arbeit ganz ungewöhnlich drängt. Die Traubenlese muß vor dem Einsetzen der Regenzeit mit ihrer Nachtkühle beendet sein; bei guter Ernte konnte der Wettlauf mit der Zeit kritisch werden.“202 Bevor wir uns V. 2 zuwenden, sind zwei Erinnerungen angebracht. Zunächst fällt auf, dass uns das Thema Weinberg mit dem berühmten Weinberglied in Jes 5,1ff verbindet. Der οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] wird also sofort durchsichtig auf Gott hin. Die Arbeit im Weinberg bedeutet demnach den Dienst für Gott. Von Anfang an ist das Gleichnis sehr transparent. Die zweite Erinnerung geht dahin, dass Jesus mit Leichtigkeit in seinen Gleichnissen und Reden an die Wein-Erzeugung in Israel anknüpfen konnte, denn Israel war ein berühmtes Weinland (und wird es heute wieder). Siehe auch Deut 6,11; 1Kön 5,5; Ps 4,8; 104,15; Jes 5,1ff; Jer 31,5; Am 5,17; 9,14; Joel 2,22; Joh 2,1ff; 15,1ff sowie Mt 21,28ff; 21,33ff.203 Sachlich und kurz ist V. 2: Nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen Denar pro Tag204 geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. συμφωνεῖν [symphōnein] ist hier die „erfolgreiche geschäftliche Abmachung“ in Gestalt einer „mündlichen Vereinbarung des Arbeitslohnes für einen Tag“.205 Es ist wohl kein Zufall, dass in ἀποστέλλω [apostello] = schicken, „senden“ die Worte „Apostel“, „Gesandter“ anklingen. Zu den wenigen Vorteilen eines Tagelöhners gehörte neben der Freiheit auch die Möglichkeit, einen Lohn auszuhandeln. Zwangsarbeit kannte man ursprünglich in Israel nur für die Sklaven.206 Waren die Tagelöhner/Arbeiter schon bei Sonnenaufgang anzutreffen, dann sprach das für ihre Arbeitswilligkeit. Nach Jeremias war ein 200 201 202 203 204 205 206

Flusser a.a.O.: „Boss“. Bauer-Aland 1060; H. Preisker im Art. μισθός usw., ThWNT, IV, 1942, 705, vgl. S. 701. Jeremias, Gleichnisse, 136. Siehe Bösen 52f. BDR § 179,2. Nach § 252,4 ist gemeint „für den betreffenden Tag“. O. Betz, Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, 301. Vgl. Bösen 199f.

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Denar pro Tag der „übliche Tageslohn für einen Tagelöhner“.207 Heute, im Zeitalter des Mindestlohnes, kann man 1 Denar etwa mit 70–90 Euro gleichsetzen. Ab V. 3 steigt die Spannung. Denn nun kommt eine zweite Gruppe ins Spiel: Und als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere untätig auf dem Marktplatz herumstehen, und er sagt zu ihnen: Geht doch auch ihr in den Weinberg, und ich werde euch geben, was recht ist. Um die dritte Stunde: Das ist ca. 9 Uhr. Der Grundherr hat offenbar festgestellt, dass er weitere Arbeiter brauchen kann. Von 9 Uhr bis Tagesschluss, der ca. 18 Uhr anzusetzen ist, verbleiben noch 9 Stunden. Das lohnt. „Die Ernte ist groß“ (Mt 9,37). Neu ist die Erwähnung der ἀγορά [agora] (Marktplatz), doch vgl. Mt 11,16; 23,7; Mk 6,56; 7,4. Für Arbeitssuchende war dies ein guter Platz, um einen Arbeitgeber zu finden. In der Tat trifft der Grundherr solche, die noch untätig herumstehen.208 ἀργός [argos] heißt hier nicht „faul“, sondern „arbeitslos“,209 „untätig“. Der Grundherr stellt jetzt auch diese anderen an. Seine Vereinbarung ist klar: 1) wird ihnen gesagt, dass schon eine Gruppe von Arbeitern im Weinberg tätig ist (auch ihr!); 2) bekommen sie keine abgesprochene Summe, sondern das, was recht ist. Die griech. Wendung ὃ ἐὰν ᾖ δίκαιον [ho ean ē dikaion] lässt den genauen Betrag offen (V. 4). Sie sollen also das bekommen, „was sie als recht und billig beanspruchen dürfen“.210 Einen vollen Denar konnten sie nicht mehr erwarten. Siehe auch Kol 4,1.211 Haben wir – so schreibt es Luz212 – einen „schlecht planenden Bauern“ vor uns? Griechisch wäre das eher ein γεωργός [geōrgos]. Der Grundherr in Mt 20,1ff weiß aber sehr wohl, was er will (V. 14f ), und plant auch dort sehr sorgfältig, wo die Hörer über ihn staunen. Überdies setzt er sich vom ersten Moment an (ἅμα πρωΐ [hama prōï ]) persönlich ein. Kurz gesagt: Er ist eine Figur, die durchaus angemessen den Gott Israels repräsentiert. Kurz wird die Reaktion der zweiten Gruppe erzählt: Sie gingen hin (V. 5). „Man kann die Kunst Jesu nicht genug bewundern, mit der er seine Epik stilistisch an die abstrakten Gesetze des Sujets anpasst“.213 Weitere Einzelheiten sind uninteressant.

207 208 209 210 211

Jeremias a.a.O. nach Strack-Billerbeck I 830f. Genauer: „Sie sitzen … untätig schwatzend auf dem Markt herum“ (Jeremias a.a.O.). Bauer-Aland 210; G. Delling, Art. ἀργός usw., ThWNT, I, 1933, 452. So G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 189. Ein „Bruchteil eines Denars“ (Jeremias a.a.O.; Schröder 92) ist allerdings wieder allzu billig. 212 Luz III 147. 213 Flusser 305.

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Noch einmal ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde (V. 5): Es ist jetzt ca. 12 Uhr bzw. ca. 15 Uhr. Immer noch findet er arbeitslose Tagelöhner: er machte es genauso (ἐποίησεν ὡσαύτως [epoiēsen hōsautōs]). Das heißt, er schickte sie in den Weinberg. Das ist nicht unvernünftig. Die Betreffenden können dann immer noch ½ oder ¼ Tag (6 oder 3 Stunden) arbeiten. Drängt die Ernte, lässt sich das Handeln des Grundherrn gut erklären.214 Genauso bedeutet zugleich: Er nennt auch hier keine feste Lohnsumme, sondern sichert nur zu zu geben, was recht ist. Im 6. Vers erreicht Jesus den Punkt, den er erreichen wollte: Als er aber um die elfte Stunde ausging, fand er immer noch andere herumstehen (εὗρεν ἄλλους ἑστῶτας [heuren allous hestōtas]). Hier kann man mit Recht sagen, das Verhalten des Grundherrn sei ungewöhnlich. Flusser nennt es „pseudorealistisch“.215 Aus diesem 6. Vers kann F.W. Beare anscheinend zu Recht seine Überschrift „The Parable of the Eccentric Employer“216 ableiten. Um die elfte Stunde ist ca. 4–5 Uhr nachmittags. Um ca. 18 Uhr endet der Tag. Warum noch andere mieten? Aber während sich Hörer und Ausleger bis auf den heutigen Tag über diesen Punkt wundern, siedelt Jesus die Verwunderung in seinem Gleichnis bei einem ganz anderen an: beim Grundherrn.217 Warum (τί [ti]) steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? fragt er die Untätigen auf dem Marktplatz. Die Gegenwartsformen (sagt – sagen) deuten an, dass wir jetzt dem Höhepunkt zustreben. Der Grundherr setzt also voraus, dass diese letzten Untätigen auch schon den ganzen Tag (ὅλην τὴν ἡμέραν [holēn tēn hēmeran]) hier sind. Deshalb sollte man nicht vorschnell wie J. Jeremias eine „faule Ausrede“218 unterstellen. Vielleicht ist ihre Antwort: Weil uns niemand angeworben hat doch berechtigt (V. 7). So oder so: Der Grundherr des Gleichnisses will gerade das: sie anwerben. Geht doch auch ihr (καὶ ὑμεῖς [kai hymeis] wie V. 4) in den Weinberg. Ist es wirklich die Zeit der Traubenlese, ist wirklich „der Wettlauf mit der Zeit kritisch“,219 dann kann man sogar noch ökonomisch verstehen, dass der Grundherr alle Kräfte ins Gefecht wirft.220 Er jedenfalls lässt es an nichts fehlen, ist voller Energie, geht auch ungewöhnliche Schritte und will auf jeden Fall ein Doppeltes erreichen: die Sicherstellung der Ernte und möglichst viele Mitarbeiter. Und der Lohn für 214 Schwieriger wäre sein Handeln zu erklären, wenn sie nur „im Frühling den Rebberg jäten“ müssten, wie Luz III 147 erwägt. 215 Flusser 303. 216 Beare 402. Vgl. dazu France 289. 217 Anders Jeremias, Gleichnisse, 136: „nicht Verwunderung, sondern Vorwurf “. 218 So Jeremias a.a.O. Dagegen lassen France 289f; Luz III 147 die Bewertung offen. 219 Jeremias a.a.O. 220 Auch Schröder 92; Flusser 34.

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diese Letzten? Wir müssen voraussetzen, dass der Grundherr auch hier keine exakte Summe nannte, sondern wie in V. 4-5 geben wollte, was recht ist.221 Am Abend (V. 8) spielt das entscheidende Geschehen. Dabei haben wir es mit zwei Dimensionen zu tun. Die erste liegt in der symbolischen Bedeutung des Abends als Ende des Einzel-Lebens (Ps 90,6) und als Ende der Welt (Sach 14,7). Die zweite besteht in der Realbedeutung: Der Abend ist die Zeit um Sonnenuntergang, ca. 18 Uhr. Am Abend eines Arbeitstages musste nach alttestamentlicher Vorschrift dem Tagelöhner der Lohn ausgezahlt werden (Lev 19,13; Deut 24,14f ). Genau nach dieser Vorschrift handelt der Grundherr, der in V. 8 Weinbergbesitzer, „Herr des Weinbergs“ (κύριος τοῦ ἀμπελῶνος [kyrios tou ampelōnos]) genannt wird. Auffallenderweise händigt er nicht selbst den Lohn aus, sondern beauftragt damit seinen Verwalter (ἐπίτροπος [epitropos]): Rufe die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, angefangen von den letzten bis zu den ersten. Nach W. Bösen ist dieser ἐπίτροπος [epitropos] „in der oberen Hälfte der palästinischen Sozialpyramide“ angesiedelt.222 Offenbar hat er das volle Vertrauen des Grundherrn, den Bösen als „einen reichen Großgrundbesitzer“ einstuft.223 Seine Anordnung lautet, dass die Lohnauszahlung bei den letzten beginnen und bei den ersten endigen solle. Auf diese Weise ist gesichert, dass die Arbeiter der ersten Stunde mitbekommen, was mit denen der letzten Stunde geschieht. Hätte man bei den Ersten begonnen, dann wären viele vielleicht schon verschwunden, sobald sie ihren Denar erhalten hätten, ohne zu sehen, wie es den Letzten erging.224 Halten wir einen Augenblick inne. Der ganze 8. Vers wimmelt von biblischen Symbolwörtern: „Herr“ (κύριος [kyrios]), „Weinberg“, „Arbeiter“, „Lohn“, „auszahlen“, „Abend“. Sie sind für die Hörer leicht zugänglich. Alle müssen begreifen, dass es um ein Gerichtsgeschehen am Ende der Zeiten geht. Doch eine Figur scheint aus dem Rahmen zu fallen: der Verwalter. Vor unserem Vers wurde er nicht erwähnt. Er kommt nur hier in V. 8 vor. Wer ist es? Es kann nur der Messias sein, der „Knecht“ und „Siegelring“ Gottes (Hag 2,23).225 Die V. 9 und 10 bauen die Spannung auf: Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie jeder einen Denar (V. 9). Jeder einen Denar: Das ist genau der Lohn, den der Gutsherr mit den Ersten vereinbahrt hatte (V. 2). Eine Überraschung! Ein Denar war für die Letzten weder vereinbart (V. 7), 221 222 223 224 225

Genau so haben es viele HS am Ende von V. 7 eingefügt. Bösen 197. Bösen 193. Tasker 192; Luz III 148; Fiedler 318. Fiedler 318; Theißen-Merz 306,42.

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noch war er den Gepflogenheiten entsprechend zu erwarten. Die Spannung ist förmlich zu spüren. Was würde danach geschehen? Jesus übergeht alle dazwischenliegenden Gruppen und richtet die Aufmerksamkeit sofort auf die erste Gruppe: Und als die Ersten kamen, glaubten sie, dass sie mehr erhalten würden. Aber226 auch sie (καὶ αὐτοί [kai autoi]) erhielten jeder einen Denar. Die Schilderung ist relativ kurz, und ganz auf das Entscheidende fixiert (V. 10). Der Versanfang καὶ ἐλθόντες [kai elthontes] entspricht genau V. 9. Was sie glaubten (νομίζειν [nomizein], nicht πιστεύειν [ pisteuein]), deckt sich mit der durchschnittlichen menschlichen Lebenserfahrung. Doch blenden sie in jenen Augenblicken einen entscheidenden Faktor aus: Sie hatten sich durch mündlichen Vertrag mit dem Grundherrn ja auf einen Denar geeinigt. Und den bekommen sie auch – ganz der Vereinbarung gemäß. Was der Grundherr mit den Letzten macht, liegt außerhalb ihres Vertrages. Ab jetzt ist das Maschal Jesu nur mit dem Grundherrn und den Arbeitern der ersten Stunde beschäftigt. Das heißt: Jesus hat das Gleichnis wegen der Arbeiter der ersten Stunde erzählt. Als sie ihn bekommen hatten (V. 11): Sie lehnen also die Annahme nicht ab. Was wollen sie dann darüber hinaus? Dass den anderen weniger, und dafür ihnen mehr gegeben wird. Das ist das Problem der Christen bis auf den heutigen Tag geblieben. Sie murrten gegen den Grundherrn (V. 11): Hier sind sich Christen und Nichtchristen bis auf den heutigen Tag einig. Der Mensch ist schnell bereit, gegen Gott zu murren. Noch immer gilt die alte Mahnung aus Klgl 3,39: „Was murren denn die Leute im Leben? Ein jeder murre wider seine Sünde!“ K. H. Rengstorf weist hin auf j Ber 5c 24f, wo ein ähnliches Gleichnis erzählt wird.227 Gegen den Grundherrn ist das Murren gerichtet. Der Mensch ist also mit Gott nicht einig. Warum? Das erklärt V. 12: sie sagten: Diese Letzten da haben nur eine einzige Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir die Last des Tages und die Hitze getragen haben. Diese Letzten da (οὗτοι οἱ ἔσχατοι [houtoi hoi eschatoi]) klingt verächtlich. Ja, es ist wahr: sie haben nur eine einzige Stunde gearbeitet, wir dagegen haben die Last des Tages (τὸ βάρος τῆς ἡμέρας [to baros tēs hēmeras]) und die Hitze getragen. Jesus bestritt ja nirgends, dass „jeder Tag seine Plage habe“ (Mt 6,34). Last des Tages: Zwölf Stunden Arbeit. Die Hitze: Sonne und/oder Wüstenwind. Sie haben nicht wenig getan. Davon wird bei ihnen so wenig abgebrochen wie bei Marta (Lk 10,41). Sonst würde im NT die égalité der 226 Adversatives καί, BDR § 442,3. 227 Im Art. γογγύζω usw., ThWNT, I, 1933, 732.

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Französischen Revolution und des Sozialismus gelehrt. Sonst träfe der Vorwurf zu: du hast sie uns gleichgemacht (ἴσους ἡμῖν αὐτοὺς ἐποίησας [isous hēmin autous epoiēsas]). „In ihrer Empörung lassen sie die Anrede fort.“228 Auch heute wird diesen Ersten viel Verständnis entgegengebracht. So schreibt Jeremias. „Eine krasse zweifache Ungerechtigkeit ist ihnen wiederfahren“: nämlich die viel längere Arbeitszeit und die Hitze statt der Abendkühle.229 Eine der besten Anmerkungen zu V. 12 macht Dick France: Dass wir eine „natürliche Sympathie“ mit dem Vorwurf von V. 12 fühlten, zeige, dass wir Gottes Werte von Natur aus nicht teilten.230 Vers 12 zeigt überdies deutlich, dass der Grundherr selbst bei der Lohnauszahlung anwesend ist und keineswegs fortgegangen war, wie manche Ausleger meinen.231 Es kommt nun alles auf die Antwort des Grundherrn an (V. 13-15). Er sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir zu einem Denar einig geworden? (V. 13). Einem von ihnen: dem Anführer oder Wortführer der Gruppe.232 Mein Freund (ἑταῖρε [hetaire]): Ist es Ironie? Herablassung?233 Steckt darin wie in Mt 22,12; 26,50 ein Vorwurf?234 Jeremias schätzt die Anrede als „gütig und vorwurfsvoll zugleich“ ein235 und bemerkt, dieser Hausherr beschäme den Murrenden durch die gewährte Anrede.236 Ich tue dir nicht unrecht: Der Grundherr kann darauf hinweisen, dass er die Arbeiter der ersten Gruppe absolut gerecht behandelt hat. Auf einen Denar hatten sie sich geeinigt (V. 2), und den haben sie bekommen.237 Am Verhalten des Grundherrn fällt auf, dass er ruhige Festigkeit mit einer erstaunlichen Freundlichkeit verbindet.238 Er lässt sich nicht provozieren und zu keinem Unrecht hinreißen. Entschieden sind seine Worte in V. 14 und 15: Nimm das Deine und geh! Der Mann hat seinen Denar verdient, er soll ihn behalten. Aber er hat nicht das 228 Jeremias, Gleichnisse, 137. 229 Jeremias a.a.O.; ähnlich Beare 403. Nach Luz III 149 sind die Beschwerdeführer Vertreter des „Grundsatzes der Gerechtigkeit“. 230 France 290. 231 So Jeremias, Gleichnisse, 136f; Schröder 93; Fiedler 318. Wie wir Beare 403. 232 Jeremias, Gleichnisse, 137: „Hauptschreier“. 233 Luz III 149. 234 So K. H. Rengstorf, Art. ἑταῖρος, ThWNT, II, 1935, 698; ebenso Jeremias, Gleichnisse, 137. 235 Jeremias a.a.O. 236 A.a.O. 237 Fiedler 318 sieht darin eine „Verhöhnung“ der ersten Gruppe. Aber es geht um eine Frage der Gerechtigkeit. 238 Hengel-Schwemer 441: „freundlich, aber entschieden“.

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Recht, auf dem Grundstück des Grundherrn diesem unberechtigte Vorwürfe zu machen. Anschließend tut der Grundherr etwas, wozu er gar nicht verpflichtet wäre: Er erklärt dem rebellierenden Tagelöhner, wie er in dieser Sache verfahren will: Ich will aber diesem Letzten geben wie (auch) dir (ὡς καὶ σοί [hōs kai soi]). Ich will, θέλω [thelō], sagt er. An dieser Stelle wird hinter der Gestalt des Weinbergbesitzers Gott selbst erkennbar. Im θέλειν [thelein] enthüllt sich sein „Charakter absoluter Bestimmtheit, souveräner Selbstsicherheit und wirksamen Handelns“.239 Er kann, ohne die Ersten zu schädigen, auch den Letzten dasselbe geben wie dir. Die folgende Frage in V. 15 kann ja nur mit einem Ja beantwortet werden: Oder steht es mir nicht frei (ἢ οὐκ ἔξεστίν μοι [ē ouk exestin moi]), mit dem Meinigen zu machen, was ich will (ὃ θέλω [ho thelō])? Ein Urteil über das ἔξεστιν [exestin] Gottes, also über das, was Gott „erlaubt ist“ / freisteht, kommt dem Menschen nicht zu. Paulus lehnt ein solches Urteilenwollen in Röm 9,14ff nachdrücklich ab (vgl. Hi 33,13f ). Gottlob Schrenk spricht hier von der „selbstmächtige(n), unabhängige(n) Verfügungsgewalt“ Gottes.240 Die zweite Frage in V. 15 enthüllt uns einen grundlegenden Wesenszug Gottes: Oder ist dein Auge böse, weil ich gütig bin (ὅτι ἐγὼ ἀγαθός εἰμι [hoti egō agathos eimi])? Ein böses Auge ist uns schon in Mt 6,23 begegnet. Die Wendung steht für Missgunst und Neid, ja überhaupt für eine Art von Wahrnehmung und Denken, die dem Willen Gottes entgegengesetzt ist. In einer solchen weiten Bedeutung muss sie auch in Mt 20,15 genommen werden.241 Das böse Auge des rebellierenden Wortführers nimmt daran Anstoß, dass der Grundherr gütig ist. Für gütig steht ἀγαθός [agathos] = hebr. ‫[ טוֹב‬thōb], ein Wort, das „gütig“ und „gut“ zugleich bedeutet.242 Die Schriften Israels sind allesamt durchzogen von dem Bekenntnis ‫[ טוֹב יהוה‬thōb jhwh], „Der HERR ist gütig“ (Nah 1,7; Jona 4,2; Ps 25,8 u.ö.). Seine Güte entfaltet sich in der Selbstprädikation Ex 24,6f. Dreitausend Jahre Glaubensgeschichte in Israel und Jesusgemeinde teilen die Erfahrung, die klassisch formuliert wird in EG 631 „Der Herr ist gut, in dessen Dienst wir stehn“ oder in EG 324 „Ich singe dir mit Herz und Mund“. Von Gott, der nur „gut“ ist, kommt deshalb nach Jak 1,17 „alle gute Gabe“. Undenkbar, dass von ihm Böses ausgeht! Jetzt wird dies alles in Mt 20,15 von Jesus bestätigt. Noch einmal: Gottes Güte zeigt sich hier darin, dass er den Letzten unverdientermaßen ebenso viel gibt wie den Ersten, ohne dadurch den Ersten etwas wegzunehmen oder sie irgendwie zu schädigen. Siehe auch Mt 19,17. 239 240 241 242

So G. Schrenk, Art. θέλω usw., ThWNT, III, 1938, 47. A.a.O. Ebenso W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, 378. Bauer-Aland 4f.

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Umstritten ist die Deutung des letzten Verses (V. 16): So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten. Handelt es sich um eine Warnung an denjenigen, der „sich um seines Werkes willen bläht“, der anderen die Gnade missgönnt?243 Oder eine Warnung an denjenigen, der die Güte Gottes auf die christliche Gemeinde begrenzen will?244 Oder ist dieses Wort gegen die religiösen Führer gerichtet – vergleichbar der Parabel vom Verlorenen Sohn –, die Jesu Erbarmen mit den Sündern in Israel attackieren?245 Oder gehört V. 16 gar nicht in den ursprünglichen Zusammenhang von Mt 20,1ff und betrifft ein ganz anderes Thema, nämlich „die Umkehrung der Rangordnung am jüngsten Tage“?246 Oder wollte Matthäus „bewußt eine Leerstelle“ schaffen, „in die seine Leser/innen sich selbst verschieden einsetzen müssen“?247 Entscheidend sind unseres Erachtens zwei Beobachtungen: 1) konnte Jesus solche sprichwörtlichen Wendungen an mehreren Stellen benutzen;248 2) schafft das οὕτως [houtōs] an der Spitze des Verses einen festen Zusammenhang mit den vorausgehenden Versen und zugleich zusammen mit Mt 19,30 eine inclusio für Mt 20,1-15.249 So, also wenn man sich so verhält wie die in V. 1-15 auftretenden Personen, werden die Letzten die Ersten sein, das heißt durch Gottes wunderbare Güte einen Himmelslohn ohne Abstriche empfangen, und zugleich die Ersten, die zuerst Berufenen, wegen ihrer Missgunst die Letzten sein, also Gottes Kritik verfallen. Beides bedeutet nicht – darin ist Zahn recht zu geben250 –, dass nun plötzlich die Ersten nichts mehr erhalten und nur die Letzten gnädig behandelt werden. Der Lohn, der „Denar“ des Gleichnisses, besteht ja im ewigen Leben.251 Dieser Lohn verbleibt aber nach dem Gleichnis allen. Doch spitzt V. 16 das Gleichnis noch einmal auf eine ernste Warnung zu: Sieh zu, dass du dich nicht selbst durch deine Missgunst um dieses ewige Leben bringst! Jetzt fällt auch Licht auf den Kontext: Petrus, ja die gesamte Jüngerschaft,252 wird durch Jesus in Mt 20,1-16 ernstlich verwarnt, sich nicht durch Einbildung („wir haben alles verlassen“, 19,27) und

243 244 245 246 247 248 249 250 251 252

So Schlatter 305. So Fiedler 318. So France 289. Ähnlich Schniewind 209. So Jeremias, Gleichnisse, 30ff.105.109f. Ähnlich Flusser 68; Hengel-Schwemer 405.439; Wilckens I/1 202. So Luz III 154f. So auch Carson 426. Vgl. Lk 13,30. Maier II 123; Carson 426.428. Zahn 607ff. Zahn 607. Vgl. das „wir“ (ἡμεῖς) in 19,27.

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Missgunst gegenüber später Hinzugekommenen um ihren geistlichen Segen zu bringen.253

IV Zusammenfassung 1. Mt 20,1-16, nach Stuhlmacher eines der „berühmtesten Gleichnisse Jesu“,254 beantwortet zuerst die Frage nach dem Lohn, den Jesu Jünger zu erwarten haben. Jesu Antwort: Auch die Jünger der „letzten Stunde“ erhalten den vollen Lohn, das heißt das ewige Leben im vollen Sinne. 2. Dadurch wird niemand geschädigt. Nur Neid könnte es ihnen missgönnen. Vor einem solchen Neid warnt Jesus in Mt 20,1-16. 3. Seelsorgerlich und praktisch mussten allerdings die Prediger des Evangeliums immer wieder die Christen, die schon lange im „Weinberg des Herrn“ arbeiteten und sich abplagten, ermahnen, deshalb weder mürrisch noch müde zu werden. In seiner Predigt vom 24. Januar 1529 hat es Martin Luther auf den Punkt gebracht: „wir sollten frei umsonst Gott loben und nichts dafür begehren … Auge und Herz sehen nicht auf die Taschen … sondern auf die Gütigkeit des Hausvaters“.255 4. Was hier in überwältigender Weise zutage tritt, ist die Güte Gottes.256 Er ist frei, diese Güte unbegrenzt jedem seiner Geschöpfe, besonders seinen Kindern, zuzuwenden. 5. Man sollte Jesu Verkündigung in Mt 20,1-16 aber nicht in das Raster einer reformatorischen Leistungs-Lohn-Debatte257 hineinpressen und auch nicht vereinfachend von einer pauschalen Korrektur jüdischer Lohnvorstellungen sprechen. Noch nicht einmal die beliebte Redeweise vom „Gnadenlohn“258 ist empfehlenswert. Denn welcher Gotteslohn wäre kein „Gnadenlohn“? 6. Nachdenklich macht die Bemerkung von R.T. France: „It is a measure of our failure to share God’s values that we feel a natural sympathy with the complaint of v. 12“ („Unsere natürliche Sympathie, die wir für die Beschwerde von V. 12 empfinden, ist ein Maßstab dafür, wie wenig wir Gottes Wertvorstellungen teilen“).259

253 Vgl. France 289f. 254 Stuhlmacher II 88. 255 Abgdruckt in: Predigten D. Martin Luthers, bearb. von Georg Buchwald, I, Gütersloh, 1925, 222. 256 Vgl. Stuhlmacher a.a.O.; Luther a.a.O. 219ff; G. Bornkamm, Verdienst, Sp. 1264. 257 Gegen Bornkamm a.a.O. 258 Sogar Hengel-Schwemer 441 wollen sich „mit gutem Recht“ darauf berufen. 259 France 290.

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11. Auf dem Weg von Peräa nach Jerusalem, 20,17-34 In diesen relativ kurzen Abschnitt hat Matthäus drei Berichte aufgenommen: 1) Die dritte Weissagung von Leiden und Auferstehung (20,17-19); 2) das Selbstverständnis Jesu von seinem Dienst (20,20-28); 3) die Heilung der beiden Blinden bei Jericho (20,29-34). Danach beginnt mit Mt 21 die Passionsgeschichte. Jedenfalls gehört die sogenannte dritte Leidensweissagung noch in das Gebiet „östlich vom Jordan“,1 also nach Peräa.

11.1 Die dritte Weissagung von Leiden und Auferstehung, 20,17-19

I Übersetzung 17 Und auf dem Weg hinauf nach Jerusalem nahm Jesus die Zwölf beiseite und sagte unterwegs zu ihnen: 18 Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem. Und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert werden. Und sie werden ihn zum Tod verurteilen 19 und ihn den Heiden ausliefern zur Verspottung und Geißelung und Kreuzigung. Und am dritten Tag wird er auferweckt werden.

II Struktur Nach Mt 16,21 und 17,22f liegt hier in Mt 20,17-19 die dritte Ankündigung von Leiden und Auferstehung in konzentrierter Form vor. Das darf uns jedoch nicht vergessen lassen, dass Jesus seine Passion noch öfter prophezeit hat (Mt 9,15; 10,24f.38; 12,39f; 16,4; 17,12). Einziger Inhalt der Verse 17-19 ist die diesbezügliche Mitteilung Jesu an die Jünger. Die Seitenreferenten Markus (10,32-34) und Lukas (18,31-34) ordnen in denselben Zusammenhang und in denselben Zeitabschnitt ein. Über Matthäus hinaus berichten sie von den Reaktionen und Empfindungen der Jünger.

III Einzelexegese Man sei auf dem Weg hinauf nach Jerusalem gewesen, sagen alle drei Synoptiker (Mt 20,17; Mk 10,32; Lk 18,31).2 Vermutlich befanden sich Jesus und seine Jünger noch östlich des Jordan, also in Peräa. Jericho war noch nicht erreicht (Mk 10,46; Lk 18,35; 19,1). 1 Dalman 207. 2 Gegen die BasisBibel gehört ἐν τῇ ὁδῷ zu εἶπεν und nicht zu παρέλαβεν.

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Das Folgende geschah ganz auf die Initiative Jesu. Er nahm die Zwölf beiseite (παρέλαβεν τοὺς δώδεκα κατ᾿ ἰδίαν [ parelaben tous dōdeka kat’ idian]). Das heißt, er trennte sie von der mitwanderenden Menge, die mit ihnen zum Passafest in Jerusalem strebte. Erneut erkennen wir die Bedeutung der Jüngergespräche. Er sagte unterwegs3 zu ihnen lässt vermuten, dass die folgenden Worte während des Wanderens gesprochen wurden.4 V. 18-19 bringt die Prophetie Jesu in scharf gemeißelter Form. Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem (ἰδοὺ ἀναβαίνομεν εἰς Ἱεροσόλυμα/Ἰερουσαλήμ [idou anabainomen eis Hierosolyma/Ierusalēm] bei allen drei Synoptikern) drückt den festen Entschluss Jesu aus.5 Und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert werden: Wer ausliefert, wird nicht gesagt. Aber später heißt Judas Iskariot in den Apostellisten „der, der ihn auslieferte“ bzw. „verriet“. Hohepriester und Schriftgelehrte sind die maßgebenden Mitglieder des Hohen Rats, Erstere in der Regel sadduzäisch, Letztere meist pharisäisch. Ausliefern oder „übergeben“ bleibt für uns eine auffallende Formulierung. Sie besagt, dass der Betreffende in einen Machtbereich gebracht wird, dem er vorher nicht angehörte. Und sie werden ihn zum Tod verurteilen: In den Tagen Jesu war eine solche Aussage erstaunlich. Denn das ius capitis, das Hinrichtungsrecht, lag bei den Römern, aber nicht bei der jüdischen Behörde, dem Hohen Rat. Immerhin, ein Todesurteil konnte vom Hohen Rat gesprochen werden. Auffallend ist die Prophezeiung am Anfang von V. 19: sie [= die jüdischen Autoritäten] werden ihn den Heiden ausliefern. Wie Strack-Billerbeck feststellen, findet man vergleichbare Aussagen in den jüdischen Quellen nicht vor dem 10. Jh.6 Dass Mt 20,19 par. eine „sekundäre Gemeindebildung“ erst nach den diesbezüglichen Ereignissen darstelle,7 ist eine durch nichts begründete Meinung. In Israel war freilich eine Auslieferung des Messias an die Heiden = Römer eine erschreckende Vorstellung. Dort, bei den Heiden (ἔθνεσιν [ethnesin]) kommt es zur Verspottung (εἰς τὸ ἐμπαῖξαι [eis to empaixai]) und Geißelung (μαστιγῶσαι [mastigōsai]) und Kreuzigung (σταυρῶσαι [staurōsai]). Siehe auch Mt 27,26.29.30.31; Joh 19,1. Das von Jesus Vorausgesagte traf ein. Erstmals wird im Rahmen der Leidensweissagungen von 16,21; 17,22f und 20,17ff die

3 Wörtlich ἀναβαίνων, „hinaufziehend“. Vgl. dazu Carson 429; Luz III 157. 4 Ebenso Zahn 610. 5 Tasker 193. Ist es zugleich eine Erinnerung an die unausweichliche Kreuzesnachfolge der Jünger nach Mt 10,38f? So Zahn 610. 6 Strack-Billerbeck I 835. 7 So Bultmann, Gesch, 163; Hengel-Schwemer 540.

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Kreuzigung8 erwähnt. Alle diese Beobachtungen bestätigen das Urteil von R.T. France und anderen, dass diese dritte Leidensweissagung „more specific“ sei9 als die vorausgehenden. Nun wird Mt 20,17-19 im Allgemeinen unter der Überschrift „Dritte Leidensweissagung“ behandelt.10 Doch der Schluss von V. 19 zeigt, dass dies unzureichend ist. Nach dem Gesetz des Achtergewichts sind nämlich die Schlussworte besonders betont: Und am dritten Tag wird er auferweckt werden. Schon dass wir nach den Infinitiven ἐμπαῖξαι [empaixai], μαστιγῶσαι [mastigōsai] und σταυρῶσαι [staurōsai] hier ein Verbum finitum (ἐγερθήσεται [egerthēsetai]) vor uns haben, macht deutlich, dass diese Worte ein besonderes Gewicht besitzen. Kurz gesagt: Das Ziel aller drei Weissagungen in 16,21; 17,22f und 20,17ff liegt nicht im Tode, sondern in der Auferstehung Jesu! Dass die Jünger dies so schwer verstanden, gehört mit zu dem Belastenden der Passion. Es handelt sich hier also um Zukunftsweissagungen Jesu, die sowohl sein Leiden als auch seine wunderbare Auferstehung einschließen. Am dritten Tag: Jesus hat diese Prophetie auf Jona 2,1 gestützt (Mt 12,39ff; 16,4). Bei den Rabbinen – allerdings in späterer Zeit – findet sich für die Erneuerung der Welt auch die Angabe, dass dies am dritten Tag nach Hos 6,2 geschehen werde.11 So ist es gut möglich, dass Jesus neben Jona 2,1 auch Hos 6,2 (und evtl. 2Kön 20,5?) als Grundlage seiner Prophetie betrachtet hat. Er wird auferweckt werden (ἐγερθήσεται [egerthēsetai]): Das Passivum divinum besagt, dass Gott, sein himmlischer Vater, ihn vom Tode auferwecken wird. Mit dieser festen Hoffnung beschritt er den Passionsweg. Schlatters Überschrift zu Mt 20,17-28 „Der Weg zur Herrschaft“ ist von daher ein Stück weit gerechtfertigt.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 20,17-19 kündigt Jesus das dritte Mal in hervorgehobener Form sein Leiden und seine Auferstehung an. Diese dritte Weissagung ist die präziseste. Jetzt ist klar, dass er gekreuzigt werden wird. 2. Dreimal hat er die Versuchung in der Wüste erlitten (Mt 4,1ff ). Dreimal wird er in Gethsemane beten, dass der Kelch an ihm vorübergehe (Mt 26,36ff ). Dreimal handelt Gott auf besondere Weise im Menschenleben (Hi 33,29). An einem dreimaligen Vorgang haftet der Charakter des Endgültigen 8 Vgl. Nolland 815. 9 France 291. 10 So Aland, Syn, 350; Schniewind 210; Tasker 192; France a.a.O.; Carson 156; BasisBibel; Gute Nachricht. 11 Vgl. Strack-Billerbeck I 835; b Sanh 97a.

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(vgl. 2Kor 12,8f ). So ist durch diese dreimalige solenne Weissagung der Kreuzestod endgültig zur Gewissheit geworden. 3. Gewiss erwartet Jesus aber auch die Auferstehung. Auf ihrer Prophezeiung liegt sogar ein besonderer Akzent. 4. Aus dem Evangelium lässt sich schließen, dass Jesus im Gebet und im Heiligen Geist zunehmende Klarheit über Passion und Auferstehung erhielt.12 5. Bis heute bewundert man seine Entschlusskraft, in der er diesen Weg ging. 6. Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) vertrat noch 1813 die Auffassung: „Was die Äußerungen Jesu über seinen Tod betrifft, so hat er diesen unleugbar vorausgesehen.“13 Für „die Vorhersagung seiner Auferstehung“ nahm er dies allerdings nicht an. Seit Georg Lorenz Bauer (1755–1806) wurden jedoch beide Weissagungen in der historisch-kritischen Exegese mehr und mehr in Zweifel gezogen.14 Julius Wellhausen (1844–1918) war sich „Sicher …, daß … Jesus seine Jünger nicht zum voraus über seinen Tod und seine Auferstehung belehrt hat“.15 Ohne nähere Begründung kann dann Rudolf Bultmann davon ausgehen, dass die „Leidens- und Auferstehungs-Weissagungen … längst als sekundäre Gemeindebildungen erkannt sind“.16 Längst allerdings waren diese Weissagungen Jesu vom Koran abgelehnt worden. Für den Koran gibt es keine Passion („sie haben ihn nicht getötet“) und keine Auferstehung („Allah hat ihn zu sich erhoben“).17 Im Kern liegen der Bestreitung der Echtheit der Weissagungen keine historischen, sondern dogmatische Überlegungen zugrunde. Die Historizität von Mt 10,17ff parr. stand für die Evangelisten fest und kann aus rein historischen Gründen auch nicht infrage gestellt werden.

11.2 Das Selbstverständnis Jesu von seinem Dienst, 20,20-28

I Übersetzung 20 Danach kam die Mutter der Zebedäussöhne mit ihren Söhnen zu ihm, fiel nieder und wollte etwas von ihm erbitten: 21 Er sagte zu ihr: Was willst du? Sie sagt zu ihm: Bestimme, dass diese meine beiden Söhne in deinem Reich neben dir sitzen sollen, einer zu deiner Rechten und einer 12 13 14 15 16 17

Maier II 126. Kümmel, NT, 127. Kümmel, NT, 134. Kümmel, NT, 360 Bultmann, Gesch, 164. Sure 4,158f.

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zu deiner Linken. 22 Jesus aber gab zur Antwort: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken soll? Sie sagen zu ihm: Wir können es. 23 Er sagt zu ihnen: Meinen Kelch trinkt ihr zwar, aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken, das habe ich nicht zu vergeben.18 Sondern es kommt denen zu, die mein Vater dafür vorgesehen hat. 24 Und als die Zehn davon hörten, wurden sie ärgerlich über die beiden Brüder. 25 Jesus aber rief sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die Herrscher der Völker sie unterjochen und die Großen sie ihre Macht fühlen lassen. 26 So soll es bei euch nicht sein! Sondern wer bei euch groß werden will, soll euer Diener sein, 27 und wer bei euch ein Erster werden will, der soll euer Knecht sein. 28 Gerade so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.

II Struktur Mt 20,20-28 berichtet von zwei Ereignissen auf dem Weg von Peräa nach Jerusalem.19 Das eine ist die Bitte um die höchsten Plätze im messianischen Reich (V. 20-23), das andere die Erklärung seines Dienstes, die Jesus selbst gibt (V. 24-28). Doch sind beide so ineinander verschlungen, dass man sie schlecht auseinanderenehmen kann.20 Eine ähnliche Verknüpfung von Ereignissen begegnet auch an anderen Stellen des Evangeliums (Mt 9,9ff.18ff; 14,22ff; 19,16ff ). Über die Doppelheit der Ereignisse hinaus finden wir eine Fülle von Motiven. Da ist das Auftreten der Mutter des Jakobus und Johannes (V. 20). Da ist die Frage nach dem Kelch (V. 22). Da ist der Hinweis auf die alleinige Verfügungsmacht des Vaters (V. 23), und dann die Spannung im Zwölferkreis (V. 24), die Beurteilung der menschlichen Herrscher durch Jesus (V. 25) und eine erneute Aussage über die Größe innerhalb der Jüngerschaft (V. 26f, vgl. Mt 18,1ff; 19,30; 20,16).21 Bei dieser Fülle von Aussagen erfordert Mt 20,2028 ein besonders konzentriertes Hören. Mt 20,20-28 gliedert sich wie folgt: 1) Die Bitte der Mutter der ZebedäusSöhne (V. 20); 2) das Gespräch mit Jesus über die Spitzenplätze im Gottesreich (V. 21-23); 3) der Ärger der Zehn (V. 24); 4) Jesu Aussage über Größe und Dienst im Jüngerkreis, und zwar vor allen Zwölfen (V. 25-27); 5) Jesu Aussage über sich selbst (V. 28). 18 19 20 21

Vgl. BDR § 285,7. Vgl. Dalman 207. So auch Aland, Syn, 352. Zu Letzterem France 291f.

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Entsprechend der Inhaltsfülle in Mt 20,20-28 differieren hier die Überschriften stark: „Leiden und Dienst“,22 „Jesus und die Zebedäus-Söhne“,23 „erneutes Jüngermissverständnis“,24 „James and John: greatness in service“25 usw. Da V. 28 so etwas wie den Skopus von V. 20-28 darstellt, haben wir unsere Überschrift an diesem Vers orientiert.

III Einzelexegese Τότε [Tote] in V. 20 bedeutet vermutlich „dann“, danach.26 Das legt jedenfalls der Kontext auch in Mk 10 nahe. Überraschend ist aber das Auftreten der Mutter der Zebedäussöhne. Mt 4,21; 10,2; Mk 10,35; Joh 21,2 weisen darauf hin, dass die Zebedäussöhne im Apostelkreis und auch in den frühen christlichen Gemeinden ein feststehender Begriff waren. Siehe auch unsere Erklärungen zu Mt 4,21; 10,2. Dort äußerten wir die Vermutung, dass Zebedäus selbst ein Jesusgläubiger war. Jetzt bestätigt sich diese Vermutung im Blick auf die Mutter, also seine Ehefrau. Die Söhne sind selbstverständlich Jakobus und Johannes. Und noch etwas Weiteres ergibt sich aus Mt 20,20: Die Mutter von Jakobus und Johannes muss um diese Zeit ebenfalls auf dem Pilgerweg zum Passafest in Jerusalem gewesen sein. Gehörte sie sogar zeitweise zu den Frauen, die nach Lk 8,1-3 Jesus begleiteten und der Jüngergruppe dienten? Jedenfalls wurde sie nach Mt 27,55f eine Zeugin der Kreuzigung (vgl. Mk 15,40f ).27 Ihren Namen nennt Matthäus leider weder in 20,30 noch in 27,56. Zahn erschloss aus der Kombination von Mt 27,56; Mk 15,40 und Joh 19,25, dass sie Salome hieß – eine gut begründete Vermutung.28 Vielleicht war sie die Schwester der Mutter Jesu.29 Sie kam zu ihm, fiel nieder und wollte etwas von ihm erbitten (προσκυνοῦσα καὶ αἰτοῦσά τι ἀπ᾿ αὐτοῦ [ proskynousa kai aitousa ti ap’ autou]): Vorläufig sagt sie noch nicht, was (τι [ti]) sie erbitten will.30 Demnach handelt es sich um etwas Schwerwiegendes. War sie wirklich die Schwester der Mutter Jesu, dann wird ihr Verhalten und die spätere Bitte ein Stück weit verständlicher.31 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Luz III 158; Carson 430. Schniewind 210; ähnlich Tasker 193. Fiedler 318. France 291. Gute Nachricht; Einheitsübersetzung: „damals“. Revidierte Elberfelder Bibel: „dann“. Vgl. France 291f. Zahn 610,85. Zahn a.a.O. Vgl. Hengel-Schwemer 368,132. Zahn 611 schreibt nur: „noch … unbestimmt“. Carson 430.

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Sie ist nicht allein. Ihre beiden Söhne, Jakobus und Johannes, kamen mit ihr. Nach Mk 10,35 sind es sogar nur Jakobus und Johannes, die damals kamen. Von der Mutter schweigt Markus. Es gibt übrigens mehrere Fälle, in denen die konkrete Bitte erst in einem zweiten Gesprächsgang geäußert wird (vgl. 2Kön 4,11ff; Mt 20,29ff ). Jesus ermutigt sie, ihre Bitte auszusprechen: Was willst du? (V. 21). An der Bibel kann man lernen, knapp auf den Punkt zu kommen und nicht lange drum herumzureden. Die Bitte der Mutter lautet: Bestimme,32 dass diese meine beiden Söhne in deinem Reich neben dir sitzen sollen, einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken. Nach Mk 10,35 tragen die beiden Zebedäussöhne, Jakobus und Johannes, selbst diese Bitte vor. Wir schließen daraus, dass es die gemeinsame Bitte der Mutter und der Söhne war, evtl. die Mutter „speaker“ (Sprecherin) für die drei gewesen ist.33 Man denke an die Bitte der Batseba für ihren Sohn Salomo (1Kön 1,11ff ). Ist die Bitte in Mt 20,21 nun eine „doch recht frech formulierte Bitte“?34 Sehen wir sie genauer an: Es geht um die Ehrenplätze neben dem Messiaskönig Jesus. Der Platz zu deiner Rechten ist dabei noch ehrenvoller als der zu deiner Linken.35 Dort also, wo es darauf ankommt, nämlich im Christusreich, sollen und wollen Jakobus und Johannes die Vornehmsten unter den Zwölfen sein. Ist das befremdend? Ein vorschnelles Urteil ist in Gefahr, folgende Tatbestände zu übersehen: 1) Wer so bittet, ist fest davon überzeugt, dass Jesus der Messias ist; 2) er geht wie alle Jünger von einer raschen Errichtung des messianischen Reiches aus (vgl. Apg 1,6); 3) er hat die Überzeugung, dass Jesu Entscheidung (bestimme – εἰπέ [eipe]) vollkommen im Einklang mit Gott geschieht; 4) er rechnet mit einem realen Reich auf Erden; 5) außerdem können sich die beiden Zebedäussöhne darauf stützen, dass sie früh berufen sind (Mt 4,21f ) und dass sie mehrere Male zu besonderen Zeugen auserwählt wurden (Mt 17,1; Mk 5,37), evtl. sogar auf eine Verwandtschaft mit Jesus. Was die Mutter anbelangt, so muss sie einen tiefen Glauben an Jesus gehabt haben. Ihre Mutterliebe fordert Respekt. Alles in allem haben wir keinen Grund, auf Jakobus, Johannes und ihre Mutter herabzusehen.36 Beachtung fordert die Formulierung in deinem Reich. Das Reich des Christus ist nicht einfach identisch mit dem Reich Gottes. Vielmehr ist es eine εἰπέ: nach Carson 430 „grant“. Carson 430. So Luz III 161 zu Mk 10,35; Fiedler 320: „egoistisch verkehrt“. W. Grundmann, Art. δέξιος, ThWNT, II, 1935, 37. Vgl. Strack-Billerbeck I 835; b Joma 37a. 36 Vgl. Schlatter 306; Luz III 161; France 292. 32 33 34 35

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heilsgeschichtliche Epoche, die dem ewigen Gottesreich vorangeht, eine Epoche, in der Christus in Macht und Herrlichkeit dem Bösen ein Ende macht, die Bösen von den Guten scheidet, alle gottfeindlichen Mächte beseitigt und die Welt richtet (vgl. Mt 13,41; 16,28; 19,28; 25,31ff; Joh 18,36; 1Kor 15,23ff; Offb 19,11–20,15).37 Aber die Zebedaiden und ihre Mutter stellten sich damals den heilsgeschichtlichen Ablauf anders vor. Sie sahen das Christusreich unmittelbar vor sich, ihr geliebtes Jerusalem als seine Hauptstadt, und das von Jesus angekündigte Leiden vermutlich nur als kurze Zwischenepisode. Dass Jesus die Zebedaiden schon in 19,28 auf Thronen sitzen sah, kann ihre Bitte mit verursacht haben.38 Jesus antwortet in V. 22 mit einer Gegenfrage: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken soll? Gegenfragen sind ein häufiges pädagogisches Mittel, um den Beteiligten zur Einsicht zu helfen. So auch hier. Jesus stellt ausdrücklich fest: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Weder die Voraussetzungen noch die Konsequenzen sind den Zebedaiden klar. Hier liegt ein besonderer Fall des Jünger-Unverständnisses vor (vgl. Mt 13,51; 16,9ff; 16,23; 19,11f; 191,4). Die Anrede ihr fasst zwar die Mutter mit den Söhnen zusammen, ist aber inhaltlich doch schon stärker auf die Söhne fokussiert. Sie sind es, denen jetzt die Gegenfrage gilt. Der Kelch, den Jesus nach seinen eigenen Worten trinken soll, kann nur der Leidenskelch sein (vgl. Mt 26,39; Mk 14,36; Lk 22,42; Joh 18,11 sowie Ps 75,9; Jes 51,17.22; Klgl 4,21; Hes 23,32f ). Können (δύνασθε [dynasthe]!) die Brüder überhaupt, wenn sie auf die eigene Größe hin orientiert sind, einen Leidenskelch trinken? Können sie – dem Text zufolge – genauer noch den Kelch Jesu trinken = das Kreuz auf sich nehmen (vgl. Mt 10,38; 16,24)? Was die Brüder und ihre Mutter wollen, ist „die Krone vor dem Kreuz“.39 Ihre Antwort ist umwerfend: Wir können es (δυνάμεθα [dynametha]). Aber den Zebedaiden nimmt man es ab, dass sie ehrlich sind.40 Wir können es heißt: Ja, wir sind bereit, das Martyrium auf uns zu nehmen. Eine solche Bereitschaft ist im nordatlantischen Christentum kaum zu entdecken.41 In b Taan 4a besprechen die Rabbinen einer späteren Zeit, was ungehörige Bitten sind und wie Gott mit ihnen umgeht.42 Aber sicherlich beschäftigte das 37 Falsch Jeremias, Gleichnisse, 80: das Reich Christi sei eine „Bezeichnung der Kirche“. 38 Vgl. Carson 431; Schlatter 306; France 292. 39 Maier II 129. Die Worte vom „sich taufen lassen“ mit der Leidenstaufe sind später aus Mk 10,38 eingedrungen. 40 Carson 431: „bold response“; Schlatter 307: „ihre Zuversicht“; Luz III 162: „vollmundige Beteuerung“; Schniewind 211: „Stolz“. 41 Sie fehlt aber nicht ganz, vgl. die Vorgänge in Malatya (Türkei). 42 Vgl. Strack-Billerbeck I 836.

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Thema „ungehörige“ Bitten die Menschen auch schon zur Zeit Jesu. Umso eindrücklicher ist es, dass Jesus die Brüder und ihre Mutter weder tadelt noch kurzerhand zurückweist. Vielmehr antwortet Jesus in V. 23 ernst und liebevoll zugleich. Wie Carson formuliert: er „mingles firmness with probing“.43 Seine Antwort hat zwei Teile. Zuerst prophezeit er den Brüdern, wie ihr Weg in Zukunft verlaufen wird: Meinen Kelch trinkt ihr zwar … Das heißt, er prophezeit ihnen das Martyrium. Damit hat er recht behalten. Denn Jakobus wurde 44 n.Chr., also 14 Jahre später, von Herodes Agrippa I. enthauptet (Apg 12,2). Und Johannes wurde unter Domitian (81–96 n.Chr.) noch als alter Mann auf die Insel Patmos verbannt (Offb 1,9). Sodann weist er ihre Bitte um die Ehrenplätze ab, weil die Vergabe dieser Plätze allein beim himmlischen Vater liegt: … aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken, das habe ich nicht zu vergeben. Sondern es kommt denen zu, die mein Vater dafür vorgesehen hat. ἑτοιμάζειν [hetoimazein] heißt „zubereiten“, „vorbereiten“, „bestimmen“, in diesem Sinne vorsehen.44 Von Ewigkeit her (Mt 25,34) hat der Vater den Gang der Geschichte vorausgesehen und dementsprechend die Ehrenplätze im Reich Christi zugeteilt (ἡτοίμασται [hētoimastai] Perf.!). Mit Prädestination darf dies nicht verwechselt werden. An Mt 20,23 hängen für die Auslegung drei wichtige Fragen: 1) Konnte Jesus die Zukunft der Brüder voraussehen oder handelt es sich in V. 23a um vaticinia ex eventu? 2) Wie haben wir im Blick auf das göttliche Vorauswissen (die göttliche Prädestination) zu urteilen? 3) Liegt hier eine subordinatianische Christologie vor, in der Christus als der Sohn dem Vater untergeordnet ist? Zu 1: Die Antworten kommen hier letztlich nicht aus der Arbeit des Historikers, sondern aus der Dogmatik. Hält man Jesus für den Messias, wird man an seiner prophetischen Gabe nicht zweifeln (vgl. Jes 11,2; Mt 3,16; 11,27; 12,18; 17,5). Hält man ihn nicht für den Messias, dann kann man ohne Begründung Mt 20,23 „ein deutliches Vaticinium ex eventu“ nennen.45 Zu 2: Das göttliche Vorauswissen wird überall im AT und NT angenommen (vgl. Jes 44,6ff; Dan 2,22; Am 3,7f; Eph 1,4ff ). Speziell gilt dies für das Leben des Menschen (Ps 138,1ff ). Von diesem Vorauswissen, auf das Gott von Ewigkeit an seine Pläne baut, ist die Prädestination zu unterscheiden. Zwar sind Schöpfung und Geschichte prädestiniert (vgl. Mt 24,36; Apg 1,7; Gal 4,4; Offb 1,1.19), aber die Entscheidung, die der Mensch Gott gegenüber trifft, ist dem Menschen freigestellt (Deut 30,15ff; Hes 18; 33,10ff; Sir 15,11ff; Mt 43 Carson 431. Zahn 611: „ungerügt“. 44 Vgl. Strack-Billerbeck I 838. 45 So Bultmann, Gesch, 23; ihm folgend Fiedler 320.

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23,37). Aufgrund seines Vorauswissens und seiner Geschichtslenkung hat der Vater im Himmel schon längst über die Ehrenplätze im messianischen Reich entschieden. Ob ein solcher Ehrenplatz für einen Zebedaiden vorgesehen ist, bleibt völlig offen. Jesus lehnt es nur kategorisch ab, dem Vater in sein gerechtes Weltregiment hineinzureden (das habe ich nicht zu vergeben). Bis zum Kreuz, ja „bis zum Tode war er gehorsam“ (Phil 2,8). Zu 3: Subordinatianisch ist die ganze Christologie des NT in dem Sinn, dass der Sohn dem Vater niemals ungehorsam war (Phil 2,6ff ). Jeder Ungehorsam hätte das unvergleichliche Vater-Sohn-Verhältnis der Trinität zerbrochen. Was der Vater von Ewigkeit geordnet hat, tastet der Sohn auch in Mt 20,23 nicht an. Daraus abzuleiten, Matthäus habe Jesus nur „funktional …, aber gerade nicht ontologisch mit Gott identifiziert“ (so Luz III, 162), ist nach Mt 11,25ff und 1,18ff; 3,17; 17,5 völlig unmöglich. Mit Recht halten die Glaubensbekenntnisse der Kirche gerade unter Kenntnis von Mt 20,23; 24,36; Apg 1,7 fest, dass Jesus „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, … eines Wesens mit dem Vater ist“.46 Allerdings hat die frühe christliche Auslegung auch damit Ernst gemacht, dass der Sohn Gottes für die Zeit seines Erdenlebens seine göttliche Allwissenheit ablegte und deshalb manches nicht wusste (Mt 24,36; Apg 1,7; Phil 2,6ff ).47 Mit dem kurzen Vers 24 nimmt das Geschehen noch einmal eine andere Wendung: als die Zehn (οἱ δέκα [hoi deka]) davon hörten, wurden sie ärgerlich über die beiden Brüder. Der Ausdruck sie hörten (ἀκούσαντες [akousantes]) deutet an, dass die zehn übrigen Apostel keine direkten Zeugen des Gesprächs zwischen Jesus und den Zebedaiden wurden.48 Es muss ja auch von der Sache her ein vertrauliches Gespräch gewesen sein. Die Zehn (οἱ δέκα [hoi deka]): Nur in Mt 20,24; Mk 10,41 taucht diese Bezeichnung für eine Gruppe der Apostel auf, eben als reale Zahl für die Apostel unter Abrechnung der beiden Brüder Jakobus und Johannes.49 Sie wurden ärgerlich (ἠγανάκτησαν [ēganaktēsan]): Wie menschlich! Das Christentum wird unmenschlich, wo es nicht mehr mit dem Menschlich-Allzumenschlichen rechnet. ἀγανακτέω [aganakteō] heißt „erregt sein“, „unwillig sein“, „aufgebracht sein“, „zürnen“, ärgerlich werden.50 Die Zehn waren sich also einig darin, dass die Bitte

46 So das Nicaenum (EG 687). 47 Luz III 162 weist hier selbst auf Ambrosius und Augustinus hin. Schlatter 307 zu Mt 20,23: „er weiß es selber jetzt noch nicht“. Vgl. Zahn 612. 48 Falsch NGÜ: sie „hatten dem Gespräch zugehört“ (ebenso Gute Nachricht; BasisBibel). 49 BDR § 480,2: „die anderen zehn“. 50 Bauer-Aland 7.

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der Zebedaiden ungehörig war. Ihr Ärger/Zorn richtete sich stärker auf die „Kollegen“, die beiden Brüder, als gegen die Mutter. Ihre Einigkeit enthüllt allerdings auch etwas über sie selbst: Sie waren nicht weniger ehrgeizig und hätten die Ehrenplätze gerne für sich selbst gehabt! Die Sucht nach Größe offenbart sich als ein Ur-Element der frühen Jünger (Mt 18,1ff; 19,27ff; 20,1ff ). Dass die Apostel dann letzten Endes doch zusammenhielten (Apg 1,13; 2,1; 1Kor 15,11), ist ein Wunder Gottes. Daraufhin holt sie Jesus zu sich – wohl wieder abseits der Pilgergruppen – und ermahnt sie erneut (V. 25-27).51 Dem ganzen Vorgang ist abzuspüren, wie sehr ihn das Trachten nach Größe und das Verhältnis innerhalb des Jüngerkreises beschäftigte (vgl. Mt 18,1ff.21ff; 19,27ff; 20,1ff; Mk 10,35ff; Lk 22,24ff ). Von Mt 20,25ff aus versteht man Joh 13,34f erst richtig. Jesus stellt zunächst das Verhalten der weltlichen Herrscher dar: Ihr wisst, dass die Herrscher der Völker sie unterjochen und die Großen sie ihre Macht fühlen lassen. Was für eine nüchterne Aussage! Sie deckt sich ein gutes Stück weit mit der Beurteilung Samuels (1Sam 8,10ff ). Sie bestreitet nicht, dass auch die Herrscher der Völker (οἱ ἄρχοντες τῶν ἐθνῶν [hoi archontes tōn ethnōn])52 ein Recht zur Herrschaft haben, ja dass ihnen diese Herrschaft von Gott gegeben ist (Dan 2,20ff; 4,31ff; 5,26ff; 7–11; Jes 44,24ff; 45,1; Joh 19,11; Röm 13,1ff ). Sie ruft nicht zur Rebellion auf – im Gegensatz zu den Zeloten, die schon in jenen Tagen gegen Rom kämpften. Es kann freilich nicht übersehen werden, dass die Archonten (Herrscher) der Völker eine Affinität zum „Archonten dieser Welt“ (ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου [archōn tou kosmou toutou], Joh 12,31ff; Eph 2,2) haben (vgl. die Versuchungsgeschichte Mt 4,1ff ). Aber was Jesus hier ins Auge fasst, das ist „die real existierende“ Herrschaft, die auf Erden ausgeübt wird. Ihr wisst: Ja, sie wissen es von den Römern, den Herodianern und den Makkabäern. Zwei Kennzeichen nennt Jesus: 1) Sie unterjochen (κατακυριεύουσιν [katakyrieuousin]). Das heißt, sie üben ihre Herrschaft „zu eignem Vorteil“, „gegen jemand“ aus.53 Wörtlich bedeutet κατακυριεύειν [katakyrieuein] „niederherrschen“. 2) Sie, die Großen, die Mächtigen, lassen ihre Macht fühlen (κατεξουσιάζουσιν [katexousiazousin]). κατεξουσιάζειν54 [katexousiazein] heißt:

51 „Sie“ (αὐτούς) schließt alle Apostel ein, also auch die Zebedaiden. Zahn 612. 52 Gemeint sind alle Völker dieser Erde, nicht nur die „Heiden“ bzw. „Nationen“. Gegen Revidierte Elberfelder Bibel; Luz III 159.163; Carson 430.432; Beare 405.408; Schlatter 308. Wie wir Zahn 612; Sand 407; Schniewind 210f. 53 So W. Foerster im Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, 1098. 54 Ntl. Hapaxlegomenon.

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„sie gebrauchen Gewalt“, mit der „Tendenz zur Vergewaltigung“.55 Selbst die Reklame für eine „Politik des Gehörtwerdens“ kann darin enden. Es versteht sich von selbst, dass die Worte Jesu nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden sind, sondern alle Staatsformen (Monarchie, Republik, Demokratie usw.) betreffen. Zur Nüchternheit der Worte Jesu gehört auch die Einsicht, dass es in irdischen Verhältnissen ganz ohne Gewalt nicht geht. Man vgl. die Debatte über das „Gewaltmonopol“ des Staates oder Röm 13,1ff.56 Im Übrigen kann die Herrscher der Völker auch religiöse, ideologische und ähnliche Herrscher einschließen. So soll es bei euch nicht sein! (οὐχ οὕτως ἔσται ἐν ὑμῖν [ouch houtōs estai en hymin]) lautet die strikte Anweisung Jesu (V. 26). Petrus hat daraus in 1Petr 5,3 die Konsequenz gezogen, für Johannes vgl. 3Joh 9. Auf den ersten Blick erscheint diese Anweisung als fast selbstverständlich. Aber die langen Erörterungen im babylonischen Traktat Qidduschin 32ff57 und ebenso Mt 23,6ff zeigen, dass die Ehrsucht sogar unter den Rabbinen weit verbreitet war. Jesus belässt es nicht bei diesem Verbot, sondern gibt eine positive Perspektive: wer bei euch groß werden (oder: sein58) will, soll euer Diener (διάκονος [diakonos]) sein, und wer bei euch ein Erster (πρῶτος [ prōtos]) werden will, der soll euer Knecht (δοῦλος [doulos]) sein (V. 26-27). Groß – Erster:59 Das sind heute noch unsere Begriffe, die an der Spitze der Sehnsucht stehen. Damals nicht anders. Der heutige Streit um die Ämter der Kirche ist weithin ein Streit um die Leitungsämter. Am anderen Ende der Skala steht zunächst der διάκονος [diakonos], der „Bedienende bei der Mahlzeit“ oder der „Diener eines Herrn“.60 Groß nennt Jesus also in seiner Gemeinde diejenigen, die die anderen bedienen und deren Anordnungen Folge leisten – wirklich eine Umwertung unserer gewöhnlichen Werte! Eine solche Umwertung wird nicht zuletzt daran sichtbar, dass der zeitgenössische Synagogenvorsteher ‫[ ֹראשׁ־ַה ְכֶּנֶסת‬ro’sch-hakkenäs̀ ät] („Haupt der Synagoge“) oder ἀρχισυνάγωγος [archisynagōgos] (Synagogenvorsteher, Mk 5,22) heißt. Später wird „Diakon“ (διάκονος [diakonos]) allerdings ein ehrenvolles Amt in der 55 W. Foerster im Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 572. Luz III 163,25 will beiden Verben auch eine positive Bedeutung zugestehen, die aber nicht zu V. 26 passt. Ähnlich France 293; Carson 432. 56 Immer noch lesenswert: M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523). 57 Vgl. Strack-Billerbeck I 838. 58 Beides gleich gut möglich. Für werden auch Luz III 158ff. 59 Zu πρῶτος = „der erste dem Range nach“ vgl. W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, 869. 60 H. W. Beyer, Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, 88.

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Kirche (Phil 1,1; 1Tim 3,1ff ), bei Ignatius v. Antiochien ca. 110 n.Chr. der Drittplatzierte nach Bischof und Presbyter (IgnMagn 2,1; 6,1; IgnTrall 3,1).61 Am anderen Ende der Skala steht sodann der Knecht, der δοῦλος [doulos]. Die Niedrigkeit ist hier wohl noch schärfer ausgeprägt als beim διάκονος [diakonos] = Diener. Einerseits kann Knecht durchaus eine Ehrenstellung bezeichnen, am auffälligsten beim „Knecht Gottes“ (‫‘[ ֶעֶבד יהוה‬äbäd jhwh]). Andererseits dient Knecht als Bezeichnung der Untertanen „in der despotischen Monarchie des vorderen Orients“62 oder schlechthin des Sklaven. Nach Karl Heinrich Rengstorf ist δοῦλος [doulos], Knecht, „auch für das NT … das klassische Bild der Unfreiheit und Beschränkung“.63 Und wieder gilt: Jesus nennt denjenigen in seiner Gemeinde den Ersten, der als Knecht am Ende der Werteskala steht. Es gehört zur Freiheit und Kraft des Evangeliums, dass wir als Christen jedermanns Knecht werden dürfen. Siehe auch Paulus in 1Kor 9,19ff. Interessanterweise ist aus dem diakonos ein Amt geworden, nicht aber aus dem doulos (Knecht). Die Härte, die in diesem Jesuswort liegt, sei nicht verschwiegen. Ein Satz wie „Ich will mein eigenes Leben leben“ oder „Ich will mich selbst verwirklichen“ steht auf der extremen Gegenseite. Unsere Dichter haben etwas von der Kraft des Jesuswortes gespürt, wenn sie wie Tersteegen dichteten „Wir entsagen willig allen Eitelkeiten“ (EG 165,3) oder „Geht’s der Natur entgegen, so geht’s gerad und fein“ (EG 393,3). Wir sollten auch in der Konjunktur der Liebesreligion der Spitze des Jesuswortes nichts abbrechen. Ein ganz anderer Fragehorizont wird dort betreten, wo man aus Mt 20,2427 ableiten will, „daß es in der Gemeinde grundsätzlich kein „Groß-sein“ und kein „Der-Erste-sein“ geben darf.64 Man rückt mit solchen Thesen nahe an die Täufer von Schleitheim am Randen, die bei Christen überhaupt keine Obrigkeit dulden wollten.65 Jedoch kann nur ein Missverständnis der Worte Jesu zu solchen Schlussfolgerungen führen. Zunächst sagt Jesus nicht: „Es soll in meiner Gemeinde weder Große noch Erste geben.“ Wie leicht hätte er dies sagen können! Stattdessen erklärt er, was wahre Große und wahre Erste sind. Das steht in Übereinstimmung mit den Stufen, die es bei Lohn (Lk 19,11ff ) und Strafe (Lk 12,47ff ) gibt. Siehe auch noch Mt 11,11. Zweitens aber hat sein Jüngerkreis Ordnung und Struktur: Einer tritt als Sprecher der Zwölf auf (Mt 16,13ff; 17,4), einer verwaltet die Finanzen (Joh 12,6), drei sind auserwählte 61 62 63 64 65

Vgl. Beyer a.a.O. 89ff. K. H. Rengstorf, Art. δοῦλος usw., ThWNT, II, 1935, 269. A.a.O. 273. So Luz III 163. Luz III 164,30 mit Verweis auf den 6. Schleitheimer Artikel von 1527.

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Zeugen (Mt 17,1), Jesus anerkennt die Kathedra/Lehrgewalt der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,2), er sendet selbst „Propheten und Weise und Schriftgelehrte“ (Mt 23,34). Der Übergang vom Charisma zum Amt66 in der frühen Gemeinde war keine Abirrung, sondern beides war vom Anfang der christlichen Gemeinde an miteinander verbunden. Der Ruf jener frühen Christen: „Erkennt diejenigen an, die euch vorstehen“ (εἰδέναι τοὺς … προϊσταμένους ὑμῶν [eidenai tous … proïstamenous hymōn], 1Thess 5,12) gilt auch uns. Wir merken noch an, dass das wollen (zweimal θέλῃ [thelē] V. 26!) von Jesus per se nicht verurteilt wird. Es muss aber die gottgemäße Richtung einschlagen.67 Maßstab der Jüngerschaft ist er selbst: Gerade so (ὥσπερ [hōsper]) wie der Menschensohn … (V. 28). Er selbst: Das bedeutet mehr als seine Lehre, seine Predigt, seine Anordnungen. Es bedeutet seine Lebenspraxis, sein gesamtes Verhalten, sein Wollen, Tun und Leben. Eine aufwühlende Aussage! Wer sonst könnte so sprechen? Wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld (λύτρον [lytron]) für viele zu geben. Wir stehen hier an einem der christlichen Gipfel des Matthäusevangeliums. Beinahe jedes einzelne Wort wird diskutiert.68 Halten wir zum Ganzen zunächst fest: Jesu Selbstaussage in Mt 20,28 beinhaltet sein Selbstverständnis. Sie hat eine alttestamentliche Parallele an den Selbstprädikationen Gottes z.B. in Ex 3,14f; 34,6ff. Wer in Mt 20,28 „den Gedanken vom Bilde Jesu nach der hellenistisch-christlichen Erlösungslehre“ finden will,69 geht völlig an unserer Stelle vorbei. Zu den Einzelheiten: Der Menschensohn ist seit Mt 8,20 eine von Jesus bevorzugte Bezeichnung für sich selbst. Er ist gekommen (ἦλθεν [ēlthen]) meint seit Mt 5,17 seine Sendung und seine Herkunft vom himmlischen Vater. Nicht um sich dienen zu lassen (διακονηθῆναι [diakonēthēnai]):70 Wie es alle Herren dieser Welt – auch die religiösen Herren – erwarten. Sondern um zu dienen (διακονῆσαι [diakonēsai]): Also „Diakon“ und „Knecht“. Aber nicht nur als „Gottes Knecht“ (Jes 42–53), sondern als „Knecht“ aller Menschen, indem er sein Leben als Lösegeld für viele gibt. Er stirbt nicht nur dahin, sondern für andere (ἀντὶ πολλῶν [anti pollōn]). Mit Recht sieht Hermann Wolfgang Beyer darin den „Vollzug eines ganzen Opfers“ und den Inbe-

66 67 68 69 70

Vgl. die eindringliche Untersuchung von Ulrich Brockhaus. Ebenso Zahn 612; Carson 432. Anders Luz III 163f. Stuhlmacher I 120: „christologisch heiß umstritten“. So Bultmann, Gesch, 154 zu Mk 10,45. BDR § 312,1; 314,2.

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griff „des Für-die-Anderen-daseins“: Damit erreiche „der Begriff des διακονεῖν seine letzte theologische Tiefe“.71 ψυχή [ psychē] bedeutet hier das individuelle Leben.72 Die Lebenshingabe im Auftrag des Vaters stand Jesus von der Taufe an vor Augen (Mt 3,17) und wurde als sein Lebensziel immer wieder in den Leidensweissagungen formuliert (Mt 16,21; 17,22f; 20,17ff ). Doch nun, wenige Tage vor der Kreuzigung, rückt er seine Lebenshingabe an zwei Stellen schärfer ins Licht: 1) Sie geschieht als Lösegeld (λύτρον [lytron]). Lösegeld begegnet uns in Num 3,40ff bei der Auslösung der Erstgeburt, und zwar in der Pluralform τὰ λύτρα [ta lytra] (LXX) bzw. hebr. als ‫ [ ִפּדוֵּיי‬pidūjē], ‫ [ ִפְּדיוֹם‬pidjōm], ‫ [ ְפֻּדִים‬pedujim]. Statt der Erstgeburt, deren Leben verfallen wäre, darf Mose auf Gottes Befehl eine andere Gabe an Gott darbringen – eben das sog. Lösegeld. Lösegeld ist also ein Barmherzigkeitsakt Gottes, und die für Menschen überraschende Möglichkeit, etwas Geschuldetes durch eine andere Gabe zu ersetzen. Auf Mt 20,28 angewandt: Statt (hebr. in Num 3,40ff ‫[ ַתַּחת‬tachat], griech. ἀντί [anti]) des Lebens der sündigen Menschen, das sie wegen ihrer Sünden verlieren und Gott schulden müssten, gibt Jesus sein Leben hin. Wenn Bultmann diesen geschichtlichen Barmherzigkeitsakt Gottes als „primitive Mythologie“, als „primitiver Gottesbegriff “, als „primitiven Begriff(e) von Schuld und Gerechtigkeit“ beurteilt,73 dann ist das eine ganz andere Denkwelt. Erweitert man den Blick über Num 3,40ff hinaus, dann kann man feststellen, dass λύτρον [lytron] im AT „stets eine Ersatzgabe, deren Wert als Deckung für eine Schuld gilt“,74 zum Ausdruck bringt. Was aber das NT betrifft, so finden wir das Substantiv λύτρον [lytron] nur in Mt 20,28 und Mk 10,45. Büchsel kommt auch hier zu einem ähnlichen Ergebnis: „Das Lösegeldwort enthält auf jeden Fall einen „Stellvertretungsgedanken“.75 2) Jesus sagt, dass er sein Leben für viele (ἀντὶ πολλῶν [anti pollōn]) hingibt. Über den Sinn von ἀντί [anti] = ‫[ ַתַּחת‬tachat] besteht wenig Streit. Das griech. Wort bedeutet „anstatt“, „anstelle“, „zugunsten von“, für.76 Das hebr. Äquivalent hat zwei Bedeutungen: einmal „unter“, sodann „anstatt“, „anstelle“.77 Die zweite Bedeutung kommt also mit dem Griechischen überein. Doch was ist mit πολλοί [ polloi] (viele)? Hier scheiden sich die Ausleger. Eine starke Gruppe, die vor allem von Joachim Jeremias repräsentiert wird, vertritt für Mt 71 72 73 74 75 76 77

Im Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, 85. E. Schweizer im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, 636. KuM 20. O. Procksch im Art. λύω usw., ThWNT, IV, 1942, 330. F. Büchsel a.a.O. 344. Bauer-Aland 145f; BDR § 208,5. Gesenius 876.

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20,28 / Mk 10,45 eine inkludierende Bedeutung und versteht deshalb ἀντὶ πολλῶν [anti pollōn] im Sinne von „alle“. Jeremias beruft sich dabei auf den semitischen Sprachstil, rekurriert also auf das hebr. ‫[ ַר ִבּים‬rabbīm].78 Aber die Verfasser des entsprechenden Artikels im ThWAT, E. Blum und H. Ringgren, sind sehr viel vorsichtiger. Blum geht durchweg von der Bedeutung „groß“/ „viel“ für ‫[ ַרב‬rab] aus, und Ringgren schreibt zwar: „Der Pl. rabbim „viele“ hat oft eine inkludierende Bedeutung … = … ‚alle‘“,79 zählt dann aber nur relativ wenige Beispiele auf. Es stimmt also nicht, wenn Jeremias die inkludierende Bedeutung von (οἱ) πολλοί [(hoi) polloi] im Sinne von „alle“ als semitische Normalform behandelt und deshalb auch in Mt 20,28 für viele mit „für alle“ gleichsetzt. Auszugehen ist vielmehr von der Bedeutung viele als Bezeichnung einer „Vielheit“ oder „Mehrzahl“ sowohl im Griechischen wie im Hebräischen.80 Doch warum wählte Jesus nicht eine Formulierung, die wirklich von allen (πᾶς [ pas], ἕκαστος [hekastos] o.Ä.) sprach? Ein Grund liegt sehr wahrscheinlich in seiner Bezugnahme auf Jesaja, von der gleich zu sprechen ist. Ein weiterer Grund liegt – ebenfalls mit Wahrscheinlichkeit – in seiner Sicht, dass keineswegs alle Menschen seinen Kreuzestod als Lösegeld für ihre Sünden annehmen werden (vgl. Joh 1,12; 3,16). Fassen wir zusammen: Seine Lebenshingabe am Kreuz reicht zwar als „Lösegeld“ für alle Menschen aus (ist insofern eine universale Erlösung), kommt aber nur denen zugute, die sie im Glauben für sich in Anspruch nehmen. Kürzer formuliert: „der geretteten Gemeinde“.81 Besondere Beachtung fordert das Verhältnis von Mt 20,28 zu Jesaja. Hier hat Jeremias recht: Eine solche Beachtung ist „schon deshalb“ nötig, „weil die auffällige fünfmalige Wiederkehr von ‫([ )ָה(ַר ִבּים‬hā)rabbīm] in Jes 52,13– 53,12 das Wort geradezu zu einem Kennzeichen dieses Kapitels macht“. Es handelt sich um Jes 53,11.12.14 und 52,14.15. Der Gottesknecht wird nach diesen Stellen „den Vielen (‫[ ָלַר ִ ּבים‬lārabbīm]) Gerechtigkeit schaffen“, Gott „wird ihm die Vielen (oder Großen) zum Erbteil geben“, „er hat die Sünden vieler getragen“, „viele werden sich über ihn entsetzen“ und „er wird viele Heiden besprengen“. Daneben steht die Aussage in Jes 53,10: „er hat sein ׁ ָ ‫’[ ָא‬āschām]) eingesetzt“. Über die Begriffe „vieLeben als Schuldopfer (‫שם‬ 78 Art. πολλοί, ThWNT, VI, 1959, 536ff. 79 Art. ‫ַרב‬, ThWAT, VII, 1993, 315. 80 Bauer-Aland 1380; Gesenius 739f; Fabry/Blum/Ringgren im ThWAT-Artikel (Bd. VII, 294ff ); F. Büchsel im Art. λύω usw., ThWNT, IV, 1942, 344; für Jes 52–53 auch Delitzsch, Jes, 556ff; ferner Luz III 166,42. 81 Jeremias’ Ausführungen im oben erwähnten ThWNT-Artikel 543 sind leider missverständlich.

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le“, „sein Leben einsetzen“ und „Schuldopfer“ ist Jes 52,13–53,12 unbestreitbar eng mit Mt 20,28 verbunden.82 Diese Verbindung verstärkt sich, wenn man die Hauptfiguren „Knecht (Gottes)“ und Jesus als „Diener“ (διακονῆσαι [diakonēsai]) miteinander vergleicht. Die griech. Formulierungen der LXX verstärken teilweise diese Verbindung (53,12: παρεδόθη εἰς θάνατον ἡ ψυχὴ αὐτοῦ [ paredothē eis thanaton hē psychē autou]). Der Schluss ist nahezu unausweichlich: Jesus hat seinen Dienst wie auch sein Selbstverständnis weitgehend auf Jes 52,13–53,12 gegründet. Hier, bei Jesaja, liegt alttestamentlich eine Hauptwurzel für Mt 20,28.83 Zutreffend beschreibt Friedrich Büchsel die Aussage Jesu in Mt 20,28 / Mk 10,45 „als willige Gehorsamstat Gott gegenüber, nicht als bloßes Erliegen „gegenüber den Verhältnissen oder persönlichen Gegnern.84 Gal 1,4; Eph 5,2; 1Tim 2,6; Tit 2,14 nehmen später die Aussage von Mt 20,28 auf.85

IV Zusammenfassung 1. Der Abschnitt Mt 20,20-28 enthält in V. 28 einen christologischen Höhepunkt des Evangeliums. Dieser Vers deckt sich bis auf eine winzige Stelle am Anfang (ὥσπερ [hōsper] und καὶ γάρ [kai gar]) wortwörtlich mit der Markusparallele in 10,45. Hier definiert Jesus seinen Auftrag: Er dient Gott und den Menschen. Biblisch hat er diesen Auftrag auf den Knecht Gottes in Jes 52,15– 53,12 gegründet. Der Dienst besteht darin, sein Leben zu opfern, um die verlorenen, sündigen Menschen zu retten. Kurz gesagt: Er erlöst uns durch seinen Sühnetod. Als Lösegeld für viele hat sein Erlösungstod universale Bedeutung und kann die gesamte Menschheit erlösen. Zugute kommt er aber nur den Menschen, die glauben – deshalb der auch von prophetischer Voraussicht geprägte Ausdruck für viele. 2. Sein Beispiel ist maßgeblich für die Jüngerschaft, die nicht nach menschlicher Größe, sondern ebenfalls nach dem Dienst für Gott, die Gemeinde und die Menschen streben soll (V. 25-27). 3. Die Bitte der Zebedaiden um die Ehrenplätze im Christusreich erfüllt Jesus nicht. Denn sie setzt zunächst voraus, dass sie mit ihm den Leidensweg 82 Ganz anders und für mich unverständlich die Bewertung bei Luz III 166: Es gebe zu Jes 53,10-12 „kaum Wortbrücken“, für Matthäus habe die Passage „auch sonst keine grundlegende Bedeutung“. 83 Ebenso Neue Jerusalemer Bibel 1413; Cullmann 64; Jeremias a.a.O. 544f; Stuhlmacher I 120f (der aber Jes 43,3-4 hervorhebt). Gegen Fiedler 320, der Mt 20,28 von „Märtyrertexten des hellenistischen Judentums“ ableitet. 84 Im Art. λύω usw. ThWNT, IV, 1942, 344. 85 Vgl. Stuhlmacher I 120f.

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gehen. Und was noch stärker wiegt: Die Vergabe der Plätze am Ende der Zeiten ist allein die Sache des himmlischen Vaters. Als gehorsamer Messias und Gottessohn überlässt ihm Jesus diese Entscheidung ganz. Nicht die Unwissenheit Jesu, sondern sein Gehorsam ist der springende Punkt, auf den es ankommt. Insofern sie eine „Christologie des Gehorsams und des Einigseins mit dem Vater“ ist, kann man diese Christologie subordinationisch nennen (V. 20-23). 4. Für die christliche Glaubenslehre stellt sich hier die Frage der Kenosis, das heißt, inwieweit Jesus für seine Erdenzeit die Gottgleichheit opferte (ἑαυτὸν ἐκένωσεν [heauton ekenōsen], Phil 2,7). Noch die Reformationszeit war von der kenotischen Diskussion geprägt: Hat Jesus bestimmte göttliche Eigenschaften verhüllt oder hat er auf sie verzichtet? Interessanterweise spielt die Kenosis in der russischen religiösen Philosophie des 19. Jh.s eine erhebliche Rolle (Alexej S. Chomjakov, Vladimir S. Solovev, Antonij Chrapovickij, Michail M. Tareev).86 Man wird an zwei Eckpunkten festhalten müssen: 1) Jesu freiwilliger Weg in die Menschwerdung führte tatsächlich dazu, dass ihm auf Erden bestimmte Dinge verborgen blieben (vgl. Mt 24,36); 2) nach seiner Himmelfahrt teilt er wieder die Allwissenheit des Vaters (vgl. Offb 1,1; 22,13 und Mt 28,18). 5. Mt 20,20-24 weist darauf hin, dass es im Reich Gottes verschiedene Rangstufen und verschiedene Dienste gibt. 6. Wie bei der Einzelexegese angedeutet, wird die Historizität von Mt 20,20-28 heftig angefochten. Stuhlmacher urteilte 1992 im Blick auf das Logion Mt 20,28 / Mk 10,45: Es „gilt in der Regel als ‚Gemeindebildung‘“.87 Dieses Urteil betrifft unter anderen Bultmann in seiner Geschichte der synoptischen Tradition, der für Mt 20,28 die hellenistisch-christliche Gemeinde verantwortlich macht.88 Für uns ergab sich jedoch kein Grund, Mt 20,20-28 als unhistorisch aufzufassen, und so halten wir mit Cullmann, Stuhlmacher, Riesner, Carson und anderen an der Historizität fest.89 7. Bis heute hat Mt 20,20-28 die Christenheit stark geprägt. Im NT wiesen wir schon auf Gal 1,4; Eph 5,2; 1Tim 2,6; Tit 2,14 hin. Im 2. Jh. sind es Polykarp und die Kleinasiaten, die sich diese Jesusworte zur Richtschnur nehmen (Polyc 5,2; MartPol 14,2). Ein Beispiel aus der frühen Kirche des 3. Jh.s ist Clemens Alexandrinus.90 Vorbild ist Mt 20,28 später insbesondere für den 86 87 88 89 90

Vgl. darüber Reinhard Slenczka in Handbuch DTG III 533ff. Stuhlmacher II 120. Bultmann, Gesch, 154.160. Fiedler 320 folgt ihm. Cullmann 64; Stuhlmacher II 120f; Riesner 260.434.458; Carson 432f. Texte KV II 147.

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Pietismus wie etwa Carl Heinrich Rieger beweist: „Ohne Christi Vorgang, ohne Kenntniß, ohne Liebe solcher Fußstapfen, bringt uns freilich nichts in diesen Sinn hinein.“ Doch werden auch weiter Inhalte von Mt 20,20-28 hervorgehoben, so durch Philipp Matthäus Hahn die verschiedenen Rangstufen: „Es ist nicht einer dem anderen gleich in der Herrlichkeit.“91 In der Dogmatik des letzten Jahrhunderts sind es besonders Karl Barth92 und die „Barthianer“, die Mt 20,28 aufgreifen. Beispielhaft sei hier Otto Weber erwähnt. In seiner Versöhnungslehre geht er relativ ausführlich auf Mk 10,45 / Mt 20,28 ein. Er unterstreicht die „Selbsthingabe Jesu für alle“93 und betont: „Jesus ist unser ‚Stellvertreter‘.“94 So schafft also Christus für eine schuldverhaftete Menschheit die Versöhnung mit Gott.

11.3 Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho, 20,29-34

I Übersetzung 29 Und als sie Jericho verließen, folgte ihm eine große Menge. 30 Und siehe, zwei Blinde saßen am Straßenrand. Als sie hörten: Jesus geht vorbei, schrien sie laut: Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser! 31 Die Menge aber kritisierte sie scharf, sie sollten still sein. Doch sie schrien noch lauter. Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser! 32 Und Jesus blieb stehen, rief sie zu sich und fragte: Was wollt ihr? Was soll ich für euch tun? 33 Sie sagen zu ihm: Herr, dass unsere Augen geöffnet werden. 34 Da packte Jesus das Erbarmen, und er berührte ihre Augen, und sofort konnten sie sehen und folgten ihm nach.

II Struktur Der Aufbau dieses Berichtes ist einfach. Der Situationsangabe (V. 29) folgt die Bitte der Blinden (V. 30-31), die Heilung (V. 32-34a) und eine kurze Bemerkung zum Resultat des Ganzen (V. 34b). Vorwärts und rückwärts ist der Bericht gut abgegrenzt. Der Bericht hat Parallelen bei Markus (10,46-52) und Lukas (18,35-43). Die zeitliche Einordnung ist bei Markus und Lukas gleich, nämlich nach der dritten Leidensankündigung. Aber nur Matthäus berichtet von zwei Blinden. Es ist hier offenbar so wie bei der Heilung von Gergesa, dass Matthäus auf die

91 92 93 94

Brüdersegen 301. Vgl. KDV IV 1-3. Weber II 218. Weber II 228.

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volle Zahl Wert legt, wohingegen die beiden anderen nur exemplarisch arbeiten (vgl. Mt 8,28ff; Mk 5,1ff; Lk 8,26ff ). Öfter wird Mt 20,29ff als Doublette zu Mt 9,27ff aufgefasst. Das ist ein Irrtum. Denn 1. ist Mt 20,29ff parr. fest bei Jericho verortet, während Mt 9,27ff in die Gegend von Kapernaum gehört; 2. geschieht die Heilung von Mt 9,27 im Haus, während sich Mt 20,29ff am Straßenrand abspielt; 3. verbietet Jesus in Mt 9,30 die Propaganda, in 20,29ff jedoch nicht; 4. werden aus den Blinden bei Jericho Nachfolger, während dies in Mt 9,27ff nicht der Fall ist; 5. spielt in Mt 20,29ff die Menge eine Rolle, in Mt 9,27ff hingegen nicht; 6. ist für Mt 9,27ff das Glaubensthema wichtig, während es in Mt 20,29ff nicht vorkommt. Überdies muss man bei Jesus mit einer ganzen Reihe von Blindenheilungen rechnen (vgl. Mt 11,5 und 9,27ff; 12,22; 15,30f; 21,14; Mk 8,22ff; Lk 7,21; Joh 9,1ff ).95 So besteht keinerlei Anlass, Mt 9,27ff und 20,29ff zu Doubletten zu erklären.96

III Einzelexegese Mt 20,29 bringt uns an einen neuen Schauplatz. Jesus befindet sich jetzt mit seinen Jüngern in und bei Jericho. Das heißt, er hat das Ostjordanland (Peräa) verlassen und ist dabei, von dem westlich des Jordan gelegenen Jericho aus zur letzten Etappe nach Jerusalem aufzubrechen. Auch das moderne Straßensystem orientiert sich an der geografischen Linie Jericho – Jerusalem bzw. umgekehrt. Es folgte ihm eine große Menge (ὄχλος πολύς [ochlos polys]): wahrscheinlich Scharen von Festpilgern aus Galiläa und Peräa. Jericho, „ein kleines Paradies“,97 ist mit 259 m unter dem Meeresspiegel „die am tiefsten gelegene Stadt der Welt“.98 In Deut 34,3; 2Chron 28,15 heißt sie die Palmenstadt. Ihre Palmen nennt Josephus „zahlreich und exzellent“.99 Am kostbarsten sei der Balsam, der dort erzeugt werde.100 Im Bellum Judaicum schwärmt er geradezu von Jericho.101 Die Elisa-Quelle, die wir heute noch in der alten Stadt bewundern, sei die Ursache einer wunderbaren Fruchtbarkeit. Diese Quelle „bewässert mehr Land als alle anderen [heute berechnet man ihre Wasserschüttung auf 4500 l pro Minute102] … und nährt … beson95 Vgl. Maier II 140. 96 Wie wir Hendriksen 753; Carson 434. Für eine Doublette votieren Gaechter 652; Luz III 167f; Hengel-Schwemer 481,90; Schniewind 212; Sand 408; Beare 410; Luck 224. 97 Hendriksen 751. 98 R. Riesner, Art. Jericho, GBL 2, 655. 99 Ant XV, 96; XIV, 54. 100 Ant XV, 96. 101 Vgl. hier und im Folgenden Bell IV, 459ff. 102 Riesner a.a.O.

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ders schöne und dichtstehende Gärten“. Dattelpalmen, Honig, Balsamstauden, Kyprosblumen begründen den Ruhm der Gegend. Das Klima von Jericho ist weit besser als dasjenige Jerusalems, es empfiehlt sich als Winterresidenz. Allerdings neigte die Bevölkerung zu Gewaltätigkeit.103 Entscheidend für die Geschichte der Stadt wurde die Bautätigkeit von Herodes dem Großen. Er baute praktisch ein neues Jericho, ca. 1,5 km westlich vom heutigen Jericho.104 So bleiben die Angaben in neutestamentlicher Zeit mit gewissen Unsicherheiten behaftet: Ist das alte Jericho gemeint oder das neue herodianische? Problematisch für die Ausleger sind unterschiedliche Ortsangaben bei Matthäus/Markus einerseits und Lukas andererseits. Nach Mt 20,29 / Mk 10,46 geschah die Blindenheilung „als sie Jericho verließen“. Nach Lk 18,35 geschah sie jedoch, „als er nahe an Jericho herangekommen war“. Es liegt nahe, eine Lösung in der Richtung zu suchen, dass Jesus hier das alte Jericho verließ (Matthäus/Markus), aber das neue noch nicht erreicht hatte (Lukas). Da die Pilger generell von Osten kamen und dann nach Westen zum Wadi Kelt weitergingen, wäre eine solche Annahme nicht unmöglich. Kopp wendet dagegen allerdings ein, dass damals „die alte Stadt … völlig ausgelöscht“ war: „man ging auch nicht einmal über ihren Ruinenhügel“.105 Dürfte man ἐγγίζειν [engizein] in Lk 18,35 mit „in die Nähe kommen“ übersetzen,106 dann gäbe es ebenfalls keinen Widerspruch. Schließlich könnte Lk 19,5 einen längeren Aufenthalt in Jericho andeuten, in dessen Verlauf Jesus im Bereich der alten wie der neuen Stadt unterwegs war: Auch dann ließen sich die Angaben bei Matthäus, Markus und Lukas miteinander versöhnen. Fassen wir zusammen: Weil es verschiedene Lösungsmöglichkeiten gibt, kann man nicht von einem Widerspruch reden. Jedoch bleibt die Unsicherheit bezüglich der genaueren Umstände.107 Eins allerdings steht fest: Die Blindenheilung fand nicht im Ortskern statt, sondern in der Peripherie am Straßenrand.108 Jerichos Bedeutung für die jüdische und christliche Geschichte ist vielfältig. Es ist die Heimat Rahabs (Jos 2), wurde von Josua erobert (Jos 6), gehörte zum Stamm Benjamin (Jos 18,12), war unter David Grenzstadt gegen Ammon (2Sam 10,5), wurde von Hiel wieder aufgebaut (1Kön 16,34), war Sitz einer Prophetenschule zur Zeit Elias und Elisas (2Kön 2,4f ), wurde nach dem Exil 103 104 105 106 107 108

Vgl. Ant XVII, 254. Ant XVI, 145; Riesner a.a.O. 655.659; Arch BL 209ff, Dalman 190.206; Kopp 313ff. Kopp 315. Ablehnend auch Riesner a.a.O. 659. Vgl. Bauer-Aland 430. Vgl. Luz III 167,4; Gaechter 652f. Vgl. Maier, Lukas II, 415f; Hendriksen 752f; Carson 435.

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wieder besiedelt (Esr 2,34), in den Makkabäerkämpfen befestigt (1Makk 9,50) und von Herodes und Archelaus prächtig ausgebaut. Noch in der byzantinischen Zeit spielte es eine Rolle, unter anderem als Sitz eines christlichen Bischofs (seit dem 4. Jh.). In moderner Zeit wuchs die arabische Bevölkerung stark an. Die Stadt gewinnt dadurch Bedeutung für die Palästinenser. Bei aller Würdigung für die jüdische und christliche Geschichte darf aber auch nicht vergessen werden, dass Jericho zu den ältesten Städten der Welt gehört. Eine Besiedelung ist dort seit dem 9. Jahrtausend vor Christus nachgewiesen.109 Jesus traf während seines irdischen Wirkens dort Zachäus (Lk 19,1ff ), heilte zwei Blinde (Mt 20,29ff parr.), nahm die Stadt in sein Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf (Lk 10,25ff ) und begann von dort seinen Weg zum Todespassa in Jerusalem. Und siehe, zwei Blinde saßen am Straßenrand (V. 30): Es waren Bettler. Am Straßenrand, an der Passage vieler Menschen besonders zu den Festzeiten, durften sie gute Einnahmen erwarten. So konnten, ja mussten sie zum Unterhalt ihrer Familien beitragen. Man kann aus Mt 20,30 sogar den Schluss ziehen, dass Jesus damals den üblichen Pilgerweg hinauf nach Jerusalem benutzte. Aber warum redet Matthäus von zwei Blinden? Mk 10,46 und Lk 18,35 reden nur von einem. Bei der Antwort ist ein Doppeltes zu bedenken. Erstens bestand für die Evangelisten die Freiheit, entweder die volle Zahl zu erwähnen (das tat Matthäus) oder sich beispielhaft auf einen zu konzentrieren (das taten Markus und Lukas). Im Falle des Markus kommt aber noch ein Zweites hinzu: Er nennt den Namen des einen, nämlich Bar-Timäus = Sohn des Timäus. Nach Hengel-Schwemer ist dieser Name „auffallend und keine Erfindung“.110 Sie rechnen Bartimäus wie Simon von Kyrene, seine beiden Söhne und Josef von Arimathäa zu den für Markus typischen „Zeugen“ der Passionszeit.111 In der Tat kann man vermuten, dass Bartimäus eine in der frühesten Gemeinde bekannte Gestalt war, dass sich Markus gerade deshalb auf ihn konzentrierte und dass auch Petrus von ihm erzählte.112 Zurück zu den zweien von Matthäus. Als sie hörten, Jesus geht vorbei, schrien sie laut …: Hier fällt der einfache Name Jesus auf. Markus und Lukas ergänzen zu „Jesus von Nazaret“. So oder so: Jesus muss damals in der ganzen Judenschaft ein Begriff gewesen sein. Man kann hinter diesen Worten schon die messianische Spannung spüren. Und genau diese Spannung artikuliert sich 109 110 111 112

Vgl. Riesner a.a.O. 657ff. Hengel-Schwemer 481,90. A.a.O. 580. Vgl. a.a.O. 256: „mögliche Garanten von Erinnerung“. Eusebius HistEccl III, 39,15. Ebenso Tasker 196.

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jetzt in ihrem lauten Aufschrei: Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser! Ihr Aufschrei ist ein Hilfeschrei.113 Und er ist an den messianischen Wundertäter gerichtet, der über solche Heilungskräfte verfügt. Denn Sohn Davids ist wie in Mt 9,27; 12,23; 15,22; 21,9 messianische Bezeichnung. Ob das κύριε [kyrie] (Herr) in V. 30 ursprünglich ist, lässt sich kaum mehr entscheiden.114 Noch einmal erinnern wir uns, wie tief das erbarme dich unser die christliche Liturgie geprägt hat. Nun interveniert die Menge, die Jesus begleitet: Sie kritisierte sie scharf, sie sollten still sein (V. 31). Das griech. ἐπετίμησεν [epetimēsen] lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. „Sie fuhr sie tadelnd an“,115 „sie schalt“, „sie redete ihnen ernstlich zu“ sind Möglichkeiten der Übersetzung.116 Jedenfalls will die Mehrheit der Begleiter Jesu nicht, dass die Blinden nach Jesus schreien.117 Sie sollten still sein! Wir müssen wohl annehmen, dass Jesus mitten in der Menge steckte. Sie hätten sonst nicht so laut schreien müssen. Was störte die Menge? Versuchte sie wie die Jünger in Mt 19,13 Jesus abzuschirmen? Musste sich ihrer Meinung nach jetzt alles auf den entscheidenden Vorgang konzentrieren, nämlich auf die Einsetzung Jesu als Messiaskönig in Jerusalem? Sah sie in jeder Verzögerung eine Gefährdung jenes Unternehmens? Vermutlich ist R.T. France nicht weit von der Wahrheit: Sie „do not want their ‚Messiah‘ troubled with so everyday a problem as a beggar’s blindness“.118 Die Intervention bleibt ohne Erfolg: Doch sie schrien noch lauter: Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser! Was für ein Durchhalten! Hier lernt man, was neutestamentlich die ὑπομονή [hypomonē], das „Drunterbleiben“, die „Geduld“ bedeutet. Solche Mitarbeiter brauchen wir heute. Hier beginnt schon im geistlichen Sinne das Jesus-Nachfolgen, von dem der letzte Vers berichtet. Wieder handelt Jesus anders, als die Menschen es für richtig hielten: Er blieb stehen, rief sie zu sich und fragte: Was wollt ihr? Was soll ich für 113 W. Grundmann, Art. κράζω usw., ThWNT, III, 1938, 901. 114 Die Variantenfülle in V. 30 ist groß. Sie erstreckt sich u.a. auf das ἔκραξαν (Metzger, Text, 180). Luz III 167ff lässt das κύριε in V. 30 weg, ebenso Zahn 617. Nicht aber Schlatter 310; Carson 434f; Fiedler 321; Schniewind 212; Beare 410; Hengel-Schwemer 292,93. 115 Vgl. Gute Nachricht; BasisBibel; NGÜ; Lutherbibel. 116 Revidierte Elberfelder Bibel; BGS: „(be)drohte“; Einheitsübersetzung: „sie wurden ärgerlich“. 117 Vgl. E. Stauffer, Art. ἐπιτιμάω usw., ThWNT, II, 1935, 621: „eine drohende Haltung“. Ähnlich BDR § 392,5: „drohend auffordern“. 118 France 295. Natürlich wissen wir die genauen Gründe deshalb nicht, weil sie die Bibel nicht erwähnt (Hendriksen 754).

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euch tun? (V. 32). Jesu Denken war völlig selbstständig. Er entschied sich in diesem Augenblick für die zwei Blinden und nicht für die Meinung der Menge. Haben wir als Christen dieselbe Kraft der Entscheidung? Seine Entscheidung erfolgt gegen den Trend aller menschlichen Revolutionen und Reformen. Was zählen zwei Blinde, wenn es um eine Weltrevolution geht? Lassen wir uns durch zwei Blinde aufhalten, wenn unsere Ideologie oder unsere Religion siegen soll? Die französische Revolution und Khomeinis Revolution, Hitler, Stalin, Mao und Timurlan sind über alle Widerstände und sogar Leichen hinweggegangen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber für Jesus sind zwei Blinde wichtiger als die Sympathie der Tausenden, die ihn zum Gipfel emporheben wollen.119 Beachten wir das θέλετε [thelete] (ihr wollt). Wieder stellt Jesus auf Willen und Entscheidung des Menschen ab, gegen alle „reine“ Prädestinationslehre (vgl. Mt 15,28; 23,27; 26,39; Joh 5,6). Er will die betroffenen Menschen in den Wundervorgang hineinnehmen. Das ist ihm wichtiger, als mit einer großartigen Geste – die ausgereicht hätte! – die Blindheit wegzunehmen und der Menge zu imponieren. Schließlich beachten wir, dass Jesus die Bezeichnung Sohn Davids weder korrigiert noch zurückweist. Durch sein Verhalten bestätigt er sie vielmehr.120 Sowohl die Anrede als auch die Bestätigung gehen eindeutig davon aus, dass Jesus wirklich der Davidsfamilie entstammt.121 Die Blinden bitten um Heilung (V. 33). Die Bitte wird ihnen gewährt (V. 34). Interessant ist hier der Vergleich mit Markus (10,52) und Lukas (18,42). Die beiden Letzteren haben die Worte „dein Glaube hat dir geholfen“ – Matthäus nicht, obwohl ihm das Thema „Glaube“ wichtig war (vgl. Mt 8,26; 9,2.22; 15,28). Hier jedoch betont er das Erbarmen Jesu: Da packte Jesus das Erbarmen (σπλαγχνισθείς122 [splanchnistheis]), und er berührte ihre Augen, und sofort konnten sie sehen. Offensichtlich will er den Hauptakzent auf die Barmherzigkeit des Messias legen. Barmherzig bis in die letzten Tage und Stunden hinein: Dieses Bild soll sich den Lesern einprägen. Dazu passt, dass nur Matthäus von der Berührung der Augen erzählt.123 Ausleger wie Bonnard und France machen darauf aufmerksam, dass Jesus selbst in der 119 120 121 122 123

Vgl. France 295. Schlatter 310; Cullmann 128ff. Vgl. Cullmann a.a.O. Ingressiver Aorist, BDR § 331. Vgl. Tasker 196. Die Bezeichnung ὄμματα für die Augen in V. 34 ist poetisch („bei Dichtern häufiger als in Prosa“, Bauer-Aland 1147) und begegnet öfter für die „Augen der Seele“.

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höchsten Spannung vor der kommenden Konfrontation nicht nachgelassen hat, die Leidenden wahrzunehmen und ihnen hingebungsvoll zu dienen – das pure Gegenteil eines politischen oder triumphalen Messias.124 Seine Heilungsmacht ist ungebrochen: und sofort konnten sie sehen. Das sofort steht bei allen drei Evangelisten. Die letzten Worte des 34. Verses fallen noch einmal auf: und sie folgten ihm nach (καὶ ἠκολούθησαν αὐτῷ [kai ēkolouthēsan autō]). Siehe auch Mk 10,52; Lk 18,43. Wie der Vergleich mit Mt 4,20.22; 9,9 zeigt, ist mehr gemeint als ein äußerliches Nachlaufen. Vielmehr handelt es sich um den Anschluss an die Jüngerschaft. Die vormals Blinden sind also Jesu Jünger geworden. 125 Von daher versteht man es leicht, dass der Name Bartimäus bei den frühesten Christen gut bekannt war. Es spricht viel für die Annahme, dass für Matthäus die Blindheit in den Versen 20,29-34 nicht nur eine äußere, physische Blindheit bedeutete, sondern zugleich transparent war für die innere Blindheit der „Augen der Seele“, die Jesus erst noch erkennen mussten.126 So setzte sich die Reihe der messianischen Wunder bei Jericho fort (Jes 29,18; 35,5; 42,7).

IV Zusammenfassung 1. Mt 20,29-34 spielt in der Auslegungsgeschichte eine weitaus bescheidenere Rolle als der Parallelbericht in Mk 10,46-52. Den blinden Bartimäus kennen heute noch die Kinderkirchkinder. Die zwei Blinden von Mt 20,2934 kennt man weniger, bzw. vermischt sie mit Mt 9,27ff. 2. Die symbolische Bedeutung: „zur Erkenntnis Jesu kommen“ als Interpretation für die Öffnung der Augen hat sich überraschenderweise auch in der modernen Exegese durchgesetzt.127 Interessant bleibt, dass auch solche Autoren, die Vorbehalte gegen die allegorische Auslegung der Alten Kirche haben, hier plötzlich zur allegorischen Deutung greifen.128 3. Die Historizität wird auch von Auslegern der Moderne zunehmend betont. Einer der Wortführer ist hier Ulrich Luz: „Nur als Bericht über eine wirkliche Heilung wird … auch diese Geschichte transparent“.129

124 125 126 127 128 129

Vgl. France 295. Ebenso Grundmann 447. So France a.a.O.; Tasker a.a.O.; Schlatter a.a.O.; Zahn 617; Fiedler 321. Vgl. Luz III 171; Wiefel 353f; Luck 225. Vgl. Luz III 170f. A.a.O. 169. Ganz anders noch Bultmann, Gesch, 228: „sekundär“.

1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11

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IV. Die Passion, 21,1–27,66 Der Passionsbericht teilt sich in zwei große Teile: 1) Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46 2) Sein Leiden und Sterben am Kreuz, 26,1–27,66

Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11 I Übersetzung 1 Und als sie sich Jerusalem näherten und nach Betfage an den Ölberg kamen, da entsandte Jesus zwei Jünger 2 und sagte zu ihnen: Geht in das Dorf, das vor euch liegt! Und ihr werdet gleich eine Eselin angebunden finden1 und ein Füllen bei ihr. Bindet sie los und bringt sie mir! 3 Und wenn jemand etwas zu euch sagt, dann erklärt: Der Herr braucht sie, er wird sie aber sofort zurückschicken. 4 Das aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesprochen wurde, wenn dieser sagt: 5 Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einem Esel reitend und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers. 6 Die Jünger aber gingen und taten, wie es ihnen Jesus aufgetragen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten die Kleider auf die Tiere, und er setzte sich auf sie. 8 Die meisten Menschen aber breiteten ihre Kleider auf dem Weg aus, andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Die Menge aber, die vor ihm herzog und die ihm nachfolgte, brach in laute Rufe aus: Hosianna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt! Hosianna in der Höhe! 10 Und als er in Jerusalem einzog, ging ein Beben durch die ganze Stadt und man fragte: Wer ist das? 11 Die Menge sagte: Das ist der Prophet Jesus von Nazaret in Galiläa.2

1 „Gleich am Ortseingang“ (Gute Nachricht; NGÜ) impliziert schon eine Deutung. 2 Chorographischer Genitiv, BDR § 164,7.

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II Struktur An dieser entscheidenden Stelle der Jesusgeschichte vereinigen sich alle vier Evangelisten mit ihren Berichten (Mt 21,1-11; Mk 11,1-11; Lk 19,28-40; Joh 12,12-19). Wenn auch die synoptischen Evangelien im Unterschied zu Johannes (vgl. Joh 2,13ff; 5,1ff; 7,10ff ) keine früheren Jerusalembesuche Jesu erwähnen (Ausnahme: Lk 2,41ff ), so ergibt sich doch aus dem Vergleich von Mt 14,19; 23,37; Mk 6,39; Joh 6,4 mit Deut 16,1ff, dass Jesus mehr als einmal in Jerusalem gewesen sein muss.3 Aber jetzt, wenige Tage vor der Kreuzigung, erfolgt ein unvergleichlicher, triumphaler Einzug in Jerusalem. Die Etappen dieses Weges: Jericho – Betanien – Betfage – Ölberg – Tempelberg werden genau vermerkt. An sie alle heften sich besondere Erzählungen (zu Jericho vgl. Mt 20,29ff ). In seinem kurzen Abschnitt 21,1-11 bringt Matthäus zwei Schriftzitate, eines aus den Propheten (Sach 9,9) und eines aus den Psalmen (Ps 118,25f ), was noch einmal die Bedeutung jener Ereignisse unterstreicht. Matthäus gliedert seinen Bericht wie folgt: 1) Die Entsendung der Jünger, um das Reittier zu bringen (V. 1-5); 2) Jesus besteigt das Reittier (V. 6-7); 3) der begleitende Jubel der Menge (V. 8-9); 4) die Reaktion in Jerusalem (V. 1011).

III Einzelexegese Und als sie sich Jerusalem näherten (V. 1): Man beneidet Matthäus fast um die Schlankheit seiner Berichte. Es handelt sich um eine weltgeschichtliche Stunde, und dennoch bleibt er karg und fährt in seiner Erzählung fort, als ginge es eben um ein normales, an das vorige anschließendes Ereignis. Jesus und die Jünger näherten sich Jerusalem auf der alten Straße durch das Wadi Kelt, deren Spuren heute noch erkennbar sind. Dalman beschreibt die „erste Hälfte des Weges von Jericho nach Jerusalem“ so:4 Jesus musste zuerst „südlich vom wadi el-kelt den steilen … Aufstieg ins Gebirge“ vollziehen, dann die Adumimsteige (vgl. Jos 15,7; 18,17) benutzen. Von hier führte die alte Römerstraße zum Wadi es-sidr. Doch besteht über den genauen Weg Jesu auf der zweiten Hälfte der Strecke Jericho–Jerusalem keine Klarheit.5 Sicher ist jedoch, dass er mit seinen Jüngern bei Betfage an den Ölberg kam. Beide Ortsangaben lassen sich recht gut identifizieren: 1) Betfage, auf 3 Vgl. France 295. 4 Dalman 207. Vgl. Kopp 319ff. 5 Vgl. Kopp a.a.O.; Dalman 208; Kroll 396.

1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11

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deutsch „Feigenhausen“,6 von hebr. ‫[ ַבִּית‬bajit] = Haus und ‫ [ ַפּג‬pag] = Feige, Frühfeige,7 taucht oft in rabbinischen Texten auf. In der Mischna Menachot XI, 2 wird Beth Phage als Teil Jerusalems betrachtet und in der Gemara Men 78b wird die Frage gestellt: „Was heißt außerhalb der Mauer [Jerusalems]?“, wobei die Antwort lautet: „Das sei „außerhalb der Mauer von Beth Phage“.8 Betfage war also, wie Strack-Billerbeck feststellen, „entlegenster Stadteil“ von Jerusalem.9 Doch bleibt die genaue Ortslage umstritten. Dalman dachte zuerst an den „Gipfel des ras esch-schijah“, konnte aber dort keine „alte Ortslage“ erkennen.10 Riesner denkt an die Stätte des Franziskaner-Klosters „auf dem Sattel zwischen der russischen Kuppe des Ölbergs und dem ras es-schija“.11 Dort seien „landwirtschaftliche Anlagen und Gräber aus der Zeit zwischen dem 2. Jh. v.Chr. und dem 8. Jh. n.Chr. gefunden“ worden. Das neutestamentliche Betfage müsse „in der Nähe des Klosters gelegen haben“.12 Dann hätte die Entfernung zum Lazarusgrab in Betanien knapp 1km betragen. Auch Kroll vermutet Betfage auf dem kleinen „Sattel zwischen der Himmelfahrtskuppe und dem … Ras esch-Schijah“.13 Aus den Angaben des NT können wir als sicher erheben: Betfage war ein Dorf (κώμη [kōmē], V. 2), also mindestens eine Ansammlung von Häusern, und es lag am Ölberg, nicht weit entfernt von Betanien (Mk 11,1; Lk 19,29). 2) Der Ölberg, griech. τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν [to oros tōn elaiōn] = Berg der Ölbäume (Mt 21,1; Mk 11,1) oder einfach Ἐλαιῶν [Elaiōn] = Olivenhain14 (Lk 19,29). Er spielt schon im AT eine Rolle. David floh vor Absalom zunächst auf den Ölberg (2Sam 15,30, hebr. ‫[ ַהֵזּיִתים‬hassētīm]). Stand damals auf dem Ölberg eine Gebetsstätte (2Sam 15,32)?15 Der „Berg, der im Osten vor der Stadt liegt“, in Hes 11,23 muss ebenfalls mit dem Ölberg identifiziert werden. In der Endzeit wird der Ölberg noch einmal eine Rolle spielen (Sach 14,4). Zahllose rabbinische Stellen erwähnen ebenfalls den Ölberg,16 außerdem Josephus.17 Besonders interessant ist der Targum zu Hld 8,5: „Salomo hat als Prophet gesagt: Wenn die Toten wiederauf6 R. Riesner, Art. Betfage, GBL 1, 196; Strack-Billerbeck I 8,39: „Feigenstätte“; Kopp 324. 7 Andere Ableitung von Dalman 217: „Ort der pagi“ = Landbezirk von Jerusalem. 8 Vgl. b Pes 98a; b Sanh 14b; b Sota 45a; b BM 90a. 9 A.a.O. 839. 10 Dalman 314. 11 Riesner a.a.O. 12 Riesner a.a.O. Ebenso Kopp 324. 13 Kroll 404. Etwas anders S. 403: „auf dem Ras esch-Schijah“. 14 BDR § 143,3. 15 Bejahend R. Riesner, Art. Ölberg, GBL 2, 1088. 16 Strack-Billerbeck I 840ff. 17 So Ant VII, 202; Bell V, 70.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

leben, wird sich der Ölberg spalten und alle Toten Israels werden unterhalb von ihm hervorkommen.“18 Eine solche Erwartung hat zu den riesigen Gräberfeldern am Ölberg geführt. In neutestamentlicher Zeit ist der Ölberg eng mit der Geschichte Jesu und der Apostel verwoben (Mt 21,1 parr.; 24,3 par.; 26,30 parr.; 26,36 parr.; Lk 19,37.41ff; 21,37; Joh 8,1; Apg 1,12). Geografisch ist zu beachten, dass der Ölberg im engeren Sinne, arab. Dschebel Et-Tur, in der Himmelfahrtskuppe auf 809 m über Meereshöhe ansteigend, nur einen Teil der Ölberg-Kette im Norden und Osten Jerusalems bildet. Diese ÖlbergKette gilt als „klar ausgeprägte Klima- und Vegetationsscheide“.19 Auf ihrer östlichen Abdachung zum Toten Meer hin beginnt rasch die Steppe und Halbwüste. Die Ölberg-Kette umfasst von Nord nach Süd: den Ras Abu Chalawi (835 m), den Ras El-Mescharif (819 m), den El-Medbase (827 m), den Umm Et-Tala (815 m), den Dschebel Et-Tur (809 m), den Baten El-Hawa („Berg des Ärgernisses“, 742 m) und den Ras Esch-Schijach, (767 m, vgl. Betfage).20 Nun sind also Jesus und seine Jünger am Ölberg angelangt, und zwar in der Nähe von Betfage (V. 1). Matthäus will hier mit ὅτε [hote] (als) und τότε [tote] (da) offensichtlich einen deutlichen Einschnitt in der Jesusgeschichte setzen. Die Initiative zum Folgenden liegt ganz bei Jesus: da entsandte (ἀπέστειλεν [apesteilen]) Jesus zwei Jünger. Mit ἀπέστειλεν spielt Matthäus sehr wahrscheinlich auf die „Apostel“ an. Zwei und zwei sind auch die Lehrer Israels in der alten Traditionskette P. Abot I, 4ff geordnet. Mindestens „zwei Zeugen“ braucht man nach Deut 17,6; 19,15; Num 35,30. Jesus genügt also dem Zeugenrecht des AT. Aber auch aus praktischen Gründen – zwei Tiere in V. 2! – sind beide Jünger erforderlich. In prophetischer Hellsicht sieht Jesus voraus, was sich in der nächsten Stunde ereignen wird (V. 2), und erteilt von daher seine Aufträge. Es fällt überhaupt auf, wie häufig Jesus kurz vor der Kreuzigung im Heiligen Geist prophetisch spricht: beim Holen des Reittiers (Mt 21,2ff ), beim Feigenbaum, der verdorrt (Mt 21,19ff ), über das Schicksal Jerusalems (Lk 19,41ff ), über die Zukunft der Welt (Mt 24,3ff ), über Verleugnung und Verrat (Mt 26,31ff; Joh 13,21ff ), über das Finden des Abendmahlssaales (Mt 26,17ff ). Eine – allerdings weit entfernte – Parallele schildert Josephus in Gestalt des Propheten Jesus, Sohn des Ananias (= Chananja), der 62 n.Chr. den Untergang Jerusalems voraussagte.21

18 19 20 21

Nach Strack-Billerbeck I 840. Riesner a.a.O. Vgl. Kroll 402; Dalman 223ff. Nach Riesner a.a.O. Bell VI, 300ff.

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Geht in das Dorf, das vor euch (oder: euch gegenüber) liegt! lautet Jesu Auftrag an die beiden Jünger, deren Namen wir nicht erfahren. Dorf kann nur das in V. 1 genannte Betfage meinen.22 Und ihr werdet gleich eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr: Gleich (εὐθέως [eutheōs]) meint wohl „nach kurzer Zeit“, nicht unbedingt am Ortseingang. Dass eine Eselin und ihr Jungtier nebeneinander stehen, beobachtet man noch heute im Orient. Eine Eselin und ein Füllen bringt schon die messianische Verheißung des Jakobssegens miteinander in Verbindung (Gen 49,11). Der messianische Einzug soll nach Sach 9,9 LXX „auf einem Zugtier und einem jungen (oder: bisher nicht benutzten) Füllen“ geschehen. Im Hintergrund stehen Stellen wie Num 19,2; Deut 21,3 oder 1Sam 6,7, wonach für Gott nur Tiere infrage kommen, die bisher noch nicht dem Menschen gedient haben. Indem Jesus ein solches Füllen fordert, macht er von seinem Recht als Herr der Schöpfung und Gottessohn Gebrauch.23 Bindet sie los und bringt sie mir! Das Füllen wird folgen, wenn man das Muttertier zu Jesus bringt, und umgekehrt. Eselin und Füllen lassen sich nicht trennen. Siehe auch Mk 11,2; Lk 19,30. Über das Problem der Übersetzung von Gen 49,11 und Sach 9,9 vgl. später. Der Auftrag setzt sich fort in V. 3: Und wenn jemand etwas zu euch sagt, dann erklärt:24 Der Herr braucht sie (αὐτῶν χρείαν ἔχει [autōn chreian echei]), er wird sie aber sofort zurückschicken (ἀποστελεῖ αὐτούς [apostelei autous]). Die Seitenreferenten formulieren hier direkter: „Warum tut ihr das?“ (Mk 11,3) / „Warum bindet ihr los?“ (Lk 19,31). Die Antwort, die die Jünger geben sollen, stimmt jedoch bei allen drei Evangelisten fast wörtlich überein: Der Herr braucht sie bzw. „es“ (ὁ κύριος αὐτῶν/αὐτοῦ χρείαν ἔχει [ho kyrios autōn/autou chreian echei]). Matthäus und Markus fügen hinzu: er (der κύριος [kyrios]) wird sie/„es“ sofort zurückschicken. Die Esel nehmen und nach Gebrauch sofort zurückschicken: Juristisch bedeutet das, die Esel mieten. Über die Miete eines Esels macht die Mischna in b Baba Mezia längere Ausführungen.25 Ergänzt werden diese Ausführungen durch Baba Bathra V, 3, wonach derjenige, der „eine Eselin verkauft hat, das Füllen mitverkauft hat“. Auch hier gehören Eselin und Füllen engstens zusammen. Allerdings taucht am Ende von Mt 21,3 ein sprachliches Problem auf. Müssen wir über-

22 Anders Fiedler 322: Es sei Betanien; ebenso Beare 412. 23 Ein Bezug auf die römische ἀγγαρεία (Fronpflicht) liegt sehr viel ferner. Vgl. Luz III 180,33; France 297. 24 Vgl. BDR § 362,3. 25 b BM VI, 3ff. Vgl. Strack-Billerbeck I 842.

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setzen: „Er (= der Besitzer) wird sie sofort schicken“,26 oder gar: „Er (= der Besitzer) wird selbst ihre Sendung betreiben“?27 Oder doch – so wie wir es getan haben – „Er (= Jesus) wird sie sofort zurückschicken“?28 Man wird diese Frage offenlassen müssen.29 Sachlich treffen ja beide Aussagen zu. Da Mk 11,3 aber eindeutig formuliert: „Er wird ihn sofort wieder hierher zurückschicken“, geben wir auch in Mt 21,3 dieser Übersetzung den Vorzug. Der entscheidende Punkt ist damit allerdings noch nicht berührt. Er liegt darin, dass die Erklärung Der Herr braucht sie alle Türen öffnet. Wir erinnern uns, dass die Bezeichnung κύριος [kyrios] (Herr) ein breites Spektrum von der Höflichkeitsanrede bis zur Anrede Gottes abdeckt. Hier, in Mt 21,3, ist sie offensichtlich mehr als eine Höflichkeitsanrede. Sie bezeichnet vielmehr eine Respektsperson mit hoher oder höchster Autorität.30 Der Herr (ὁ κύριος [ho kyrios]) steht sogar absolut. Es liegt nahe zu vermuten, dass der Eigentümer der Eselin und des Füllens in Betfage Jesus kennt, vermutlich sogar ein Jünger Jesu ist.31 Immerhin liegt Betanien, wo es relativ viele Jesusjünger gibt (vgl. Mt 26,6ff; Lk 10,38ff; Joh 11,1ff; 12,1ff ), nur einen knappen Kilometer von Betfage entfernt. Man darf wohl noch einen Schritt weitergehen. Wenn Jesus als der Herr der Schöpfung die Tiere braucht, dann werden die Tiere als Vertreter der Schöpfung in den Gang zum Kreuz einbezogen, so wie die Sonnenfinsternis und das Erdbeben die Trauer der Schöpfung über den sterbenden Gottessohn zum Ausdruck bringen (vgl. Mt 27,45.51f ).32 An die Worte Jesu V. 2f schließt sich in V. 4 und 5 ein Schriftzitat an. Wie öfter bei Matthäus wird es eingeleitet durch Das aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesprochen wurde, wenn dieser sagt. Siehe auch Mt 1,22; 2,15.17; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35. Matthäus als christlicher Schriftgelehrter sieht sozusagen auf Schritt und Tritt die Schrift erfüllt. Doch handelt es sich hier tatsächlich um ein Reflexionszitat des Evangelisten? Oder spricht in V. 4 und 5 noch Jesus selbst? Tasker hält Letzteres für möglich.33 Man wird diese Möglichkeit offenlassen müssen. Doch weisen die 26 So Luz III 175.180; Lutherbibel; BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ; BGS; Schlatter 311; Sand 413. 27 So Bauer-Aland 199; Zahn 619. 28 So unser Kommentar (Maier II 148f ); Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; Jeremias, Gleichnisse, 197,3; Fiedler 322f. 29 Auch Luz III 180,32 nennt seine Übersetzung nur „vermutlich“ richtig. Wie wir France 298. 30 France 298 erwägt jedoch, ob der „Herr“ den Besitzer selbst bezeichnet, der als Jünger Jesu von Jericho mit herauf wanderte. Wie wir Sand 413. 31 Vgl. Mt 26,18. Ebenso Zahn 619; Tasker 199. 32 Siehe meinen Kommentar Maier II 149. 33 Tasker 197. Ebenso Carson 437.

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oben genannten Beispiele eher in die andere Richtung, dass nämlich der Evangelist das Geschehen durch die Heilige Schrift beleuchten möchte.34 Das Schriftzitat (V. 5) setzt sich aus Jes 62,11 und Sach 9,9 zusammen. Es handelt sich also um ein Kombinationszitat. Dennoch ist es üblich, in der Einleitung nur von einem Propheten zu sprechen (was durch den Propheten gesprochen wurde). In Mt 21,5 liegt der Akzent eindeutig auf Sach 9,9. Sehen wir die Einzelheiten an. Die erste Zeile Sagt der Tochter Zion hat denselben Text wie Jes 62,11 LXX. Dabei sollten wir beachten, dass sich diese Worte zwar an Jerusalem = Israel richten, zuvor aber im selben Vers von den „Enden der Erde“ die Rede ist, also ein weltgeschichtlicher Bezug hergestellt wird. Siehe, dein König kommt zu dir entspricht genau sowohl dem hebr. wie dem griech. Text in Sach 9,9. König meint hier den endzeitlichen Erlöser, den Messias. Erneut ist ganz klar: Jesus ist der seit Jahrhunderten prophezeite Messias, der Einzug in Jerusalem ein Beweis seiner Messianität. Ihm wird der Kreuzestitel entsprechen (Mt 27,37). Die folgende Zeile lautet: sanftmütig und auf einem Esel reitend. Auch hier besteht Übereinstimmung mit dem hebr. und griech. Text (MT, LXX). ἐπὶ ὄνον [epi onon] ist sogar ein wenig näher am hebr. ‫‘[ ַעל־ֲחמוֹר‬al-chamōr].35 Man sagt, „Beherrschend im Mittelpunkt“ stünde das sanftmütig.36 Aber so wichtig auch das Leitthema „Sanftmut“ im Matthäusevangelium ist (5,5; 11,29; 21,5), so hat Matthäus doch an dieser Stelle das Prophetenwort aus Sach 9,9 nicht wegen der Sanftmut Jesu aufgenommen, sondern weil er auf einem Esel seinen Einzug hält. Betont wird also, dass Jesus kein Pferd, sondern das Reittier des einfachen Mannes, den Esel, benutzte. Betont wird dadurch die Verbundenheit mit Mose (Ex 4,20; Num 16,15), mit den Richtern (Ri 10,4; vgl. Sir 46,14) und mit den frühen Königen Israels (1Sam 9,3ff; 10,2ff ). Betont wird dadurch nicht zuletzt, dass Jesus im Unterschied zu den gewöhnlichen Königen und Eroberern ein König des Friedens ist. Man muss ja doch Sach 9,9 im Kontext hören, in dem von der Abschaffung der Waffen die Rede ist und wo es heißt: „er wird Frieden gebieten den Völkern“ (9,10). Den Auslegern fällt allerdings auf, dass Matthäus bei seinem Zitat aus Sach 9,9 die Worte δίκαιος καὶ σῴζων αὐτός [dikaios kai ׁ ָ ‫[ ַצ ִ ּדיק ְונוֹ‬zaddīq wenōschā‘ hū’] auslässt. sōzōn autos] (LXX) bzw. ‫שע הוּא‬ Man darf daraus jedoch keine übereilten Schlüsse ziehen. Matthäus geht ja doch nicht auf Distanz zu den betreffenden Aussagen (vgl. Mt 5,17ff; 22,16), sondern konzentriert sich auf das Reittier. Vermutlich enthielt für ihn die 34 Ebenso Luz III 181. 35 Das ὑποζύγιον der LXX entspricht allerdings dem Koinegriechisch für „Esel“ (BauerAland 1463). 36 Luz III 181.

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Kennzeichnung sanftmütig (πραΰς [ praÿs]) zugleich das „gerecht und ein Helfer“.37 Spätestens am Ende von V. 5 erheben sich zwei gewichtige Fragen. Die Erste lautet: Hat Jesus dies alles bewusst arrangiert? Man kann das bewusste Arrangement so weit hinausspinnen, dass man von einem „Plan“ Jesu redet, der sich die Esel bereitstellen ließ, sodass sie auf ein bestimmtes „Passwort“ hin übergeben wurden.38 Aber von einem solchen Plan spricht der Text nun nicht. Von einer anderen Seite her kommt Gustaf Dalman: „nach einer fünfstündigen Wanderung von Jericho her konnte Jesus in der heißen Mittagszeit erschöpft sein und guten Grund haben, wenn er einen Esel forderte.“39 Doch damit ist die Ankündigung des Auffindens der beiden Esel und die Bezugnahme auf Sach 9,9 noch nicht ganz erklärt. Oder ist dies alles „nur eben mal so“ passiert, ohne dass Jesus Sach 9,9 im Kopf hatte? Auch eine solche Annahme fällt schwer, erst recht bei einem Schriftkenner, wie Jesus es war. Die für uns nächstliegende Annahme ist deshalb die: Jesus war überzeugt, dass für ihn als Messias der Einzug gemäß Sach 9,9 verlaufen musste, er sah sich bestätigt durch das, was er im prophetischen Geist erkannte, und er traf deshalb die Anordnungen, von denen die Verse 2 und 3 berichten. Er hat also seinen Einzug als Bezugnahme auf Sach 9,9 bewusst gestaltet und in diesem Sinne arrangiert.40 Die zweite Frage lautet: Wie viele Tiere waren es? Und damit zusammenhängend: Auf welchem Tier ritt Jesus in Jerusalem ein? Markus (11,1ff ) und Lukas (19,28ff ) berichten nur von einem Tier und zwar von einem Füllen (πῶλος [ pōlos]). Matthäus aber spricht durchgehend von zwei Tieren, einer ὄνος [onos] (Eselin) und ihrem Füllen (πῶλος, V. 2.3.7). Wer hat recht? Otto Michel hat sich in zwei ThWNT-Artikeln leidenschaftlich dafür eingesetzt, dass es sich tatsächlich nur um ein Tier handelte.41 Er nimmt „legendare Einzelzüge“ in der Einzugsgeschichte an. Bei Matthäus sieht er „sachliche Schwierigkeiten“.42 Man müsse fragen: „Legen die Jünger auf beide Tiere ihre Kleider? … Setzt sich Jesus auf beide Tiere?“ Der Einzug auf zwei Eseln stimme nicht mit der Messiaserwartung überein.43 In einem späteren Artikel meint Michel dann, Matthäus habe „offenbar an einen orientalischen Thron37 38 39 40 41 42 43

So LXX. MT besagt dagegen: „gerecht und einer, der Hilfe erfährt“. Dies als Möglichkeit bei France 297 aufgeführt. Dalman 218. Ebenso Zahn 620. Im Art. ὄνος usw., ThWNT, V, 1954, 283 und im Art. πῶλος, ThWNT, VI, 1959, 959ff. Im ὄνος-Artikel S. 286 unter Berufung auf Rudolf Bultmann. A.a.O.

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sitz über zwei Tieren“ gedacht.44 Nun müssen wir allerdings voraussetzen, dass an den beiden relevanten Stellen des AT, nämlich Gen 49,11 und Sach 9,9, mit großer Wahrscheinlichkeit ein Parallelismus membrorum vorliegt. Das heißt, ‫‘[ ַעִיר‬ajir] / ‫[ ְ ּבִני ָאתוֹן‬benī ’ātōn] in Gen 49,11 und ‫ַעִיר ֶ ּבן־ֲאֹתנוֹת‬ [‘ajir bän-’atonōt] / ‫[ ֲחמוֹר‬chamōr] in Sach 9,9 meinen beide Male ein und dasselbe Tier. Prinzipiell besteht freilich auch eine – ziemlich seltene – Möglichkeit, den Parallelismus in zwei verschiedene Glieder zu zerlegen.45 Es ist eine offene, von uns nicht zu lösende Frage, ob die LXX in Sach 9,9 bei ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον [epi hypozygion kai pōlon neon] an zwei Tiere dachte.46 Steht es so, dann werden die zwei Tiere bei Matthäus erst recht zu einem Rätsel. Soll man ihm, dem Judenchristen, dem im AT beheimateten Schriftgelehrten, zutrauen, dass er sein AT „mißverstanden hat“47? Das wäre mehr als verwegen. Die Sache steht, wie schon Theodor Zahn gesehen hat,48 mit aller Wahrscheinlichkeit vielmehr so: Matthäus berichtet deshalb von zwei Tieren, einer Eselin und ihrem Füllen, weil es geschichtlich so war! Wie Tasker konstatiert: „he is recording a fact.“49 Dies ist die einzige Annahme, die wirklich Sinn ergibt. Markus und Lukas konnten sich auf das eine De-factoReittier, das Füllen, beschränken, wie sie ja auch sonst der exemplarischen Einzahl den Vorzug geben. Matthäus aber, der auch sonst auf vollständige Zahlen Wert legt (Mt 8,28ff, 20,29ff ), wollte nach den geschichtlichen Umständen von beiden Tieren sprechen. Ohne weitere Diskussion gingen die von Jesus beauftragten Jünger nach Betfage und erfüllten ihren Auftrag genau so, wie es ihnen Jesus aufgetragen hatte (V. 6). Siehe auch Mt 26,19. Und brachten die Eselin und das Füllen und legten die Kleider auf die Tiere, und er setzte sich auf sie (V. 7): Dieser Vers enthält zahlreiche Varianten, weil die Schreiber der Handschriften offensichtlich das Missverständnis ausschalten wollten, Jesus sei auf zwei Tieren geritten. Halten wir zuerst fest: Die Jünger fanden alles so vor, wie es Jesus prophezeit hatte. Sie trafen die Eselin angebunden mit ihrem Füllen, sie bekamen die Erlaubnis, beide Tiere loszubinden (vgl. Mk 11,4-6), und sie brachten nun beide zu Jesus. Nach den Regeln von Deut 13,2ff; 18,21f war Jesus also ein wahrer Prophet. Jetzt aber geschieht etwas, das Jesus nicht angeordnet hatte: sie legten ihre Kleider auf 44 45 46 47 48 49

Im πῶλος-Artikel S. 961. So Michel, Art. ὄνος, a.a.O. 286. Eher nicht. So Michel a.a.O.; Theißen-Merz 109. Dagegen France 298. Zahn 618f. Tasker 198; France 298.

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die Tiere (eigentlich nur: „auf sie“, ἐπ᾿ αὐτῶν [ep’ autōn]). Hier korrigieren D; Φ; it; sy P; Θ; 33; pc das αὐτῶν [autōn] und schreiben αὐτόν [auton] oder αὐτῷ [autō], weil sie dem Leser nur das Füllen als das Reittier vor Augen stellen wollen. Dieser Minderheiten-Variante hat sich z.B. Zahn angeschlossen.50 Aber es bleibt dann doch beschwerlich, dass nur eine Minderheit von Handschriften diese Lesart vertritt, und wir überdies der lectio difficilior folgen sollten, also dem Plural. Dass man beide Tiere schmückte, ist auch keineswegs unverständlich.51 Man überließ dadurch Jesus die Freiheit der Wahl, welches der Tiere er nehmen wollte. Man unterstrich durch den doppelten Schmuck die Feierlichkeit des Einzugs. Schließlich konnte Jesus auf das kräftigere Muttertier wechseln, wenn das Füllen erschöpft sein sollte. Ob sie als regierendes Substantiv in V. 7 nur die beiden abgesandten Jünger meint, oder alle Apostel, oder sogar noch weitere Jünger, muss offenbleiben. Wir haben τὰ ἱμάτια [ta himatia] hier mit Kleider übersetzt, da ἱμάτιον [himation] jedes Kleidungsstück bezeichnen kann.52 Er setzte sich auf sie (ἐπεκάθισεν ἐπάνω αὐτῶν [epekathisen epanō autōn]), oder: „auf sie drauf “, kann nur meinen: Jesus setzte sich auf die Kleider.53 Dass er sich auf beide Tiere setzte, könnte man sich kaum vorstellen. Außerdem ritt er nach den Parallelberichten bei Markus, Lukas und Johannes (Joh 12,12ff ) ja nur auf einem Tier. Dieses eine Tier war das Füllen (Mk 11,2ff; Lk 19,30ff; Joh 12,14: ὀνάριον [onarion]). Auf ihm hatte noch nie ein Mensch gesessen (Mk 11,2; Lk 19,30; vgl. Num 19,2; Deut 21,3; 1Sam 6,7). Dass Jesus sich auf die Kleider setzte, bedeutet: Er ließ sich diese Huldigung gefallen. Er bejahte durch dieses Verhalten, dass er der Messias ist.54 Einen unmessianischen Jesus hat es nie gegeben. Mt 21,7 stellt also klar, dass manche Überlegungen in der Literatur, etwa ob Jesus abwechselnd auf beiden Tieren geritten sei oder einen „Orientalischen Thronsitz über zwei Tieren“ benutzt habe,55 überflüssig sind. Die Huldigung durch den Kleider-Schmuck hat ihr alttestamentliches Vorbild in 2Kön 9,13. Jesus wird demnach als messianischer König gefeiert. Siehe auch 1Kön 1,33ff. Nach Ri 10,4; 12,14 (MT, LXX) konnte man auf einem kräftigen Esels-Füllen reiten.56 Gemeint ist ein junger, männlicher Esel.57 50 Zahn 619,8. Auch Tasker 198. 51 Ebenso France 299; Carson 438; Schlatter 311. 52 So Bauer-Aland 763f. Ebenso Lutherbibel; Neue Jerusalember Bibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Einheitsübersetzung; Gute Nachricht. Spezieller BasisBibel und NGÜ („Mäntel“) oder BGS („Umhänge“). 53 Vgl. Bauer-Aland 573. Ebenso Zahn 619,8; Luz III 181; Tasker 198; Carson 438. 54 Vgl. Zahn a.a.O. 55 Vgl. Michel, πῶλος-Artikel im ThWNT, VI, 1959, 961; Zahn a.a.O.; Luz III 182. 56 Michel, πῶλος-Artikel a.a.O. 960; im ὄνος-Artikel a.a.O., 286.

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Die einzigartig festliche Atmosphäre erfasst viele Menschen (V. 8): Die meisten Menschen aber (ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος [ho de pleistos ochlos]) breiteten ihre Kleider auf dem Weg aus, andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Der biblische Bericht lässt hier und in Lk 19,39 erkennen, dass es auch eine kritische Minderheit gab, die Jesu Messianität bezweifelte und nicht in den Jubel einstimmte. Die große Menge der galiläischen und ostjordanischen Festpilger jedoch (die meisten Menschen – andere)58 huldigte ihm. Wieder ist das Kleider-Ausbreiten eine Ehrung für den König (2Kön 9,13). Hinzu kommen Elemente des Laubhüttenfestes, zunächst das streuen der Zweige auf den Weg59 (vgl. Lev 23,40; 2Makk 10,6f ). Für den festlichen Einzug insgesamt vgl. man noch Ex 15,20f; Ri 11,34; 1Sam 18,6; 1Makk 13,51f. Interessant ist ein talmudischer Bericht, wonach man im 1. Jh. n.Chr. vor dem reichen Nikodemon ben Gorjon ebenfalls Kleider („feine Wollstoffe“) ausbreitete.60 Man brauchte sich also beim Einzug Jesu nicht nur an die Geschichte der Könige Israels zu erinnern. In der Auslegung stellt man dem Einzug Jesu oft den „Gegensatz“ der „Kriegswagen, Streitrosse und Waffen“ gegenüber, „womit sonst Israel und seine Könige, wie die heidnischen Völker und Könige zu prunken … pflegten“.61 In Jesus dagegen erscheine der demütige, schlichte Friedensherrscher von Sach 9,9.62 Diese Sicht hat sich durchgesetzt und sie hat ihr großes Recht. Siehe Friedrich Rückerts „dein König kommt in niedern Hüllen, ihn trägt der lastbarn Es’lin Füllen“ (EG 14,1; auch Michael Schirmer in EG 9,2). Man darf aber darüber die doppelte Spannung nicht vergessen, die von Anfang an über diesem Einzug liegt. Sie besteht erstens darin, dass einer jubelnden Volksmenge eine kritische, zu allem bereite Partei gegenübersteht, die mehr und mehr an Boden gewinnt. Und sie besteht zweitens darin, dass die jubelnde Mehrheit einen ganz anderen Messias erwartet, als es Jesus ist, nämlich einen Messias, der den Königsthron und nicht das Kreuz besteigt. Akklamationen nennt man die lauten Rufe (ἔκραζον λέγοντες [ekrazon legontes]), in die die Menge (οἱ δὲ ὄχλοι [hoi de ochloi]) nach V. 9 ausbrach. Was für ein blutleeres Wort! „Akklamationen“ sind auch die verlogenen Zurufe an einen verlogenen Herrscher (Apg 12,21ff ). Hier, bei Jesus, handelt es 57 Michel a.a.O. und S. 284 im ὄνος-Artikel. 58 Vgl. BDR § 245,1; Zahn 621. 59 Duratives oder iteratives Imperfekt, BDR § 325. An Laubhütten gedachte man des Auszugs aus Ägypten und der kommenden messianischen Erlösung. 60 b Ket 66b/67a. Vgl. noch Strack-Billerbeck I 844. 61 Zahn 620. 62 Zahn a.a.O.

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sich um ein Ergriffensein von der Wahrheit, nachdem man Jesus mehr als zwei Jahre in der Öffentlichkeit beobachtet hatte. Es ist die Menge, die vor ihm herzog und die ihm nachfolgte, folglich die Schar der Festpilger, die mit ihm nach Jerusalem unterwegs waren (vgl. Lk 19,37). Als ersten Ruf erwähnen Matthäus, Markus (11,9) und Johannes (12,13) übereinstimmend ὡσαννά [hōsanna]. Matthäus fügt hinzu τῷ υἱῷ Δαυίδ [tō hyiō Dauid], und auch Markus erwähnt David (Mk 11,10). ὡσαννά ׁ ִ ‫[ הוֹ‬hōschī‘āh nā’] aus Ps 118,25, in ist die Transskription des hebr. ‫שיָעה ָנּא‬ der LXX σῶσον δή [sōson dē], zu deutsch: „Hilf doch!“ Gerichtet ist dieser Ruf an den HERRN (Jahwe). Er soll Rettung und Erlösung Israels vollenden. Schon damals hat man Ps 118 „mit dem messian. Gedanken in Verbindung gebracht“.63 Die Worte τῷ υἱῷ Δαυίδ [tō hyiō Dauid], die so nicht in Ps 118 stehen, stellen grammatikalisch wohl einen Dativus commodi dar.64 Der Sinn ist demgemäß: „Hilf doch dem Sohne Davids [= dem König Israels], o Jahwe, seine messianische Erlösung zu bewirken.“65 Dieser Sinn wird in der Übersetzung „Gepriesen sei der Sohn Davids!“66 verdunkelt. Erst recht stellt ihn die Übersetzung „Hilf doch, Nachkomme Davids!“67 auf den Kopf – als sollte der Davidide den Menschen helfen, der doch zuerst selbst die Hilfe Gottes braucht! Zu Sohn Davids als Messiasbezeichnung und häufige Anrede an Jesus vgl. Mt 9,27; 12,23; 15,22; 20,30; 21,15; 22,42.68 Als zweiten Ruf nennt Matthäus Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt (εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου [eulogēmenos ho erchomenos en onomati kyriou])! Diese Worte stimmen sogar bei allen vier Evangelisten überein (vgl. Mk 11,9; Lk 19,38; Joh 12,13). Lukas schiebt allerdings „der König“ in die Mitte dieser Worte ein. Zum „König“ vgl. das „Reich“ in Mk 10,10 sowie die Aussage in Joh 12,13. Dass Matthäus etwas gegen den Titel „König“ habe, wird man nicht sagen können, denn er berichtet von ihm geradezu herausfordernd in der Kreuzesinschrift (Mt 27,37). Vielmehr ist der Königstitel für ihn in der Doppelbezeichnung Sohn Davids (21,9 und 21,5) eingeschlossen. Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt! stammt 63 Strack-Billerbeck I 849. 64 Dativ-Übersetzungen auch bei Lutherbibel; Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; Revidierte Elberfelder Bibel; BasisBibel. 65 Ebenso Schlatter 312. 66 Gute Nachricht; NGÜ. 67 BGS. 68 Wir vermerken jedoch, dass der Hosianna-Ruf häufig als ein „Hoch“ auf den Sohn Davids verstanden wird. So Zahn 621f; Luz III 183; Schniewind 214; Tasker 199; France 299; Fiedler 323; Carson 439; wir selbst in Maier II 155; E. Lohse, Art. ὡσαννά ThWNT, IX, 1973, 682ff.

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ganz aus Ps 118: ‫שם ְיהָוה‬ ׁ ֵ ‫[ ָ ּברוְּך ַה ָ ּבא ְ ּב‬bārūk habbā’ beschem jhwh] (MT) und stimmt wortwörtlich mit der LXX (V. 26a) überein. Wieder müssen wir festhalten, dass auch diese Aussage bei den Rabbinen „auf die messianische Enderlösung gedeutet“ wird.69 Dabei muss man berücksichtigen, dass vermutlich sehr viele messianische Zeugnisse der frühen Rabbinen aufgrund der Erfahrungen im Jüdisch-römischen Krieg von 66–73 n.Chr. ausgetilgt wurden. In Ps 118,26 ist ‫[ ַה ָ ּבא‬habbā’] = ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos] wohl als Messiastitel verstanden („der Kommende“). Vermutlich ist diese Wendung in der Täuferanfage Mt 11,3 „Bist du der Kommende?“ gemeint. Jesus hat sie selbst in Mt 23,39 benutzt. Der Ruf Gepriesen (oder: gesegnet) sei usw. preist und lobt also Jesus als den Messias, den Gott gesandt hat, ja, der wirklich im Namen des Herrn (= Gottes, ursprünglich Jahwes) gehandelt hat und weiter handeln wird. Ein hohes Bekenntnis zu Jesus! Der dritte Ruf bei Matthäus lautet: Hosianna in der Höhe (ὡσαννὰ ἐν τοῖς ὑψίστοις [hōsanna en tois hypsistois])! Mk 11,10b lautet gleich, Lk 19,38 hat am Ende „Ehre in der Höhe“ (δόξα ἐν ὑψίστοις [doxa en hypsistois]). Es braucht nicht zu verwundern, dass die Evangelisten die Rufe teilweise verschieden formulieren. Bei der großen Menge werden auch in der Realität die verschiedensten Rufe erklungen sein. Überraschend ist vielmehr, wie stark diese Rufe in der Bibel verankert und wie oft sie übereinstimmend waren. Zu ὡσαννά [hōsanna] = „Hilf doch!“ vgl. oben. Gemeint ist am Ende von Mt 21,9 vermutlich ebenfalls ein Gebets- und Hilferuf, der sich an den Gott richtet, der in der Höhe wohnt.70 Siehe auch dazu Jes 57,15; Lk 1,32; 2,14; Ps 148,1; Hi 16,19; Koh 5,1. Eine andere Deutung bezieht die Höhe auf die Engelwelt.71 Der Sinn wäre dann: „du, der du unter den Engeln wohnst“, oder: „ihr Engel, lobt ihn!“ Unter solchen ständig wiederholten72 Rufen zog Jesus also in Jerusalem ein (V. 10). Matthäus ist der einzige unter den Evangelisten, der den Eindruck auf die ganze Stadt schildert: es ging ein Beben durch die ganze Stadt (ἐσείσθη73 πᾶσα ἡ πόλις [eseisthē pasa hē polis]) und man fragte:74 Wer ist das? Jerusalem hat durch die Jesusgeschichte viel Unruhe erfahren (vgl. Mt 2,3). War es eine heilsame Unruhe? Nein, antworten Matthäus (23,37) und das 69 Strack-Billerbeck I 850. 70 Ebenso Bauer-Aland 1694; BasisBibel; BGS; Gute Nachricht; NGÜ; G. Bertram, Art. ὕψος usw., ThWNT, VIII, 1969, 617f; Zahn 621; Schlatter 312. 71 Von Strack-Billerbeck I 850 für möglich gehalten; z.B. vertreten von Luz III 184; Maier II 156. 72 ἔκραζον ist duratives und iteratives Imperfekt; Fiedler 232; Sand 414. 73 Es köntte auch ein ingressiver Aorist vorliegen: „erfasste ein Beben die ganze Stadt“. 74 λέγουσα bezieht sich auf die Stadt.

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Neue Testament, und deshalb weinte Jesus über Jerusalem (Lk 19,41ff ). Die Frage Wer ist das (τίς ἐστιν οὗτος [tis estin houtos])? schließt die Frage: „Was für einer ist das?“ mit ein. Die völlig ungewöhnliche Erscheinung Jesu provozierte ständig solche Fragen (vgl. Mt 8,27; Lk 19,3). Selbst wenn Jesus schon einige Male in Jerusalem war, war eine solche Frage gerade jetzt berechtigt. Denn der predigende und heilende Jesus (vgl. Joh 2,13ff; 5,1ff; 7,10ff; 10,22ff ) ist beim Einzug während des letzten Passafestes abgelöst worden durch den königlich und offen messianisch einreitenden Jesus. Man kann annehmen, dass damals viele Jerusalemer den Ölberg hinanströmten, um ihn zu empfangen (so Joh 12,13.18), evtl. auch Festpilger. Die Antwort kommt aus der Menge (οἱ δὲ ὄχλοι [hoi de ochloi] wie V. 9), „die vor ihm herzog und die ihm nachfolgte“: Das ist der Prophet Jesus von Nazaret in Galiläa (οὗτός ἐστιν ὁ προφήτης Ἰησοῦς ὁ ἀπὸ Ναζαρὲθ τῆς Γαλιλαίας [houtos estin ho prophētēs Iēsous ho apo Nazareth tēs Galilaias]), V. 11. Die Erwähnung von Galiläa zeigt, dass hier vor allem galiläische Festpilger mit einem gewissen Stolz antworteten. Für sie war es offenbar kein Problem, dass der Messias aus Galiläa kommen sollte (vgl. dazu aber Joh 1,45f; 7,41ff ). Im Hintergrund stand hier die Reihe der galiläischen MessiasKandidaten, die ihren Anhang um sich versammelt hatten: Hiskia zur Zeit des jungen Herodes, sein Sohn Judas der Galiläer (Apg 5,37), später die Söhne des Judas (Jakobus, Simon, Menachem).75 Vor diesem Hintergrund konnte Jesus als Galiläer gut der Messias sein. Interessant ist ferner die Erwähnung von Nazaret. Die Ankündigung von Mt 2,23, dass er „der Nazarener“ genannt werden sollte, hat sich also bewahrheitet. Dieses Nazaret ist auch in den Kreuzestitel eingegangen (Joh 19,19). Da der Name Jesus so häufig war, musste er durch eine Apposition näher bestimmt werden. Wichtiger noch ist der Titel der Prophet Jesus. Hier kann man auf zweierlei Weise lesen. Die Möglichkeit a) ist: „Der Prophet, nämlich Jesus.“ Dann bestünde die Aussage in der Erklärung, dass Jesus der Prophet aus Deut 18,15 sei, also der zweite Mose.76 Die Möglichkeit b) ist: „Der Jesus von Nazaret, der ein Prophet ist.“ Dann würde Jesus als ein schon weithin bekannter Prophet aus Nazaret vorgestellt,77 wie es ja damals so manche Propheten gab, zum Beispiel den Täufer oder essenische Propheten.78 Mt 16,14 läge auf dieser Linie. Aber sollen wir nach den Absichten des Evangelisten überhaupt solche Unterschiede machen? Sieht er in der der Erklärung der Menge nicht vielmehr beides: die Identifizie75 76 77 78

Vgl. Mayer 45ff.251ff. So z.B. Zahn 622. Dahin neigt offenbar Luz III 184; Schniewind 215. Zu Letzteren vgl. Josephus Bell II, 159.

1. Der Einzug in Jerusalem, 21,1-11

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rung des einreitenden Jesus als eines Propheten aus Nazaret in Galiläa, der aber gleichzeitig der zweite Mose, also der messianische Erlöser der Endzeit, ist? Wir meinen, dass hier tatsächlich beides vorliegt.79 Siehe auch Mt 21,46; 26,68; Lk 7,16; 24,19; Joh 6,14. Trifft unsere Sicht zu, dann war es für Matthäus ebenso wie für Johannes (6,14) wichtig, dass Jesus der in Deut 18,15 verheißene zweite Mose ist.

IV Zusammenfassung 1. Beim Einzug Jesu in Jerusalem huldigt ihm das zum Passafest versammelte Volk als seinem Messias. Wie wäre die Weltgeschichte verlaufen, wenn Israel bei diesem Bekenntnis geblieben wäre! 2. Hier erfüllen sich die messianischen Weissagungen aus Gen 49,11, Sach 9,9; Deut 18,15 und Ps 118,25f. 3. Jesus wollte seinen Einzug bewusst nach diesen Weissagungen, besonders Sach 9,9 gestalten. Er konnte im Auffinden der Eselin und ihres Füllens eine Bestätigung vonseiten des Vaters sehen, dass er auf dem rechten Weg war. 4. Die Rufe in Mt 21,9 bringen eine Wahrheit zum Ausdruck, die noch heute Grundlage christlicher Dogmatik ist. Sie kennzeichnen Jesus als Davidssohn = Messias und König Israels,80 als den Kommenden = Messias/ Christus, als den, der im Namen des Herrn = in vollkommener Übereinstimmung mit Gott auftritt, als den, der die Hilfe (ὡσαννά [hōsanna]) des Vaters in allen Dingen erfährt (vgl. Hebr 5,7). 5. Gerade Mt 21,1ff zeigt, wie tief Jesus und Matthäus in ihrem Volk verwurzelt sind.81 Die Hallel-Psalmen (Ps 113–118), aus denen Mt 21,9 geschöpft ist, kannte jeder. Sie gehörten zur Laubhütten-Liturgie, aber auch zu den messianischen Erwartungen des Volkes. Während in den Pseudepigraphen nirgends auf Sach 9,9 Bezug genommen wird, ist die messianische Deutung von Sach 9,9 bei den Rabbinen „gang und gäbe“.82 Auch Gen 49,11 wird nachweislich seit der Mitte des 2. Jh.s n.Chr. messianisch gedeutet.83 Später verbindet man Dan 7,13 mit Sach 9,9.84 Gelegentlich zieht man aus der Zusammenschau von Ex 4,20 und Sach 9,9 den Schluss: „Wie der erste Erlöser, so der letzte Erlöser“ (mit dem Esel).85 79 80 81 82 83 84 85

Wie wir France 300; Carson 440; Cullmann 34. Vgl. Cullmann 133f. Vgl. Lohse a.a.O. 682f. Strack-Billerbeck I 842. Strack-Billerbeck I 842f. Strack-Billerbeck I 843; b Sanh 98a. Midr Qoh 1,9. Vgl. P. REl 31 sowie insgesamt b Ber 56b; b Sanh 98a/b.

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6. Historische Einwände, die man gegen Mt 21,1ff parr. vorgebracht hat, lassen sich nicht aufrecht erhalten. Ohne Begründung nannte Bultmann unseren Bericht „legendarisch“ und teilweise „absurd“.86 Hengel-Schwemer wiesen dies zurück und sahen solche Urteile „von allzu aufgeklärter Jesuspsychologie und seinem [Bultmann] ‚Dogma‘ eines unmessianischen Jesus bestimmt“.87 In der Tat passen die Umstände des Einzuges Jesu ohne Probleme in die damaligen Zeitverhältnisse. Auch die von den Texten verursachten Fragen zum Reittier Jesu lassen sich lösen, sobald man mit angelsächsischen Forschern davon ausgeht, dass „The authors of Scripture did not write nonsense“.88 7. Unser Bericht hat eine ungewöhnlich reichhaltige Wirkungsgeschichte hervorgebracht. Dazu nur wenige Stichworte: die Didache (10,6; 12,1) und das Martyrium des Polykarp (8,1) nehmen darauf Bezug. Cyrill von Jerusalem (315–386? n.Chr.) sah in Mt 21,1-9 auch die Wiederkunft Jesu gespiegelt.89 Für die reformatorische und pietistische Auslegung (Philipp Matthäus Hahn, Johann Albrecht Bengel, Carl Heinrich Rieger, Friedrich Christoph Ötinger, Otto Stockmayer) sind zwei Pole maßgebend: 1) erfahren wir hier, wer Jesus ist; 2) ruft uns dieser biblische Bericht dazu auf, Jesus in unser Herz und Leben einziehen zu lassen.90 Eindrücklich hat Karl Barth „Das Wunder der Weihnacht“ auch von Mt 21,9 her beleuchtet.91 In der Tat sind es ja gerade unsere Advents- und Weihnachtslieder, die überdurchschnittlich viele Textstellen aus Mt 21,1-11 zitieren (EG 1,1.2.4; 9,2; 11,2; 14,1; im württembergischen Teil 536,1; 537,1).92

2. Jesus im Tempel, 21,12-17 I Übersetzung 12 Und Jesus ging in den Tempel1 und trieb alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften, und stürzte die Tische der Geldwechsler und die Sitze der Taubenverkäufer um, 13 und sagt zu ihnen: Es steht geschrie86 87 88 89 90 91 92 1

Bultmann, Gesch, 281.333. Hengel-Schwemer 554. Tasker 198; Carson 438. Texte KV IV 536. Brüdersegen 307ff. KD I/2 191. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Luz III 190ff. Zahn 623 hält τὸ ἱερὸν τοῦ θεοῦ für ursprünglich.

2. Jesus im Tempel, 21,12-17

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ben: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden. Ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle. 14 Und es kamen Blinde und Lahme zu ihm im Tempel, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die laut im Tempel riefen: Hosianna dem Sohn Davids!, da wurden sie ärgerlich 16 und sagten zu ihm: Hörst du, was die da sagen? Jesus aber sagt zu ihnen: Ja. Habt ihr noch nie gelesen: Aus dem Mund von kleinen Kindern und Säuglingen hast du ein Lob zugerichtet? 17 Und er ließ sie stehen und ging hinaus aus der Stadt nach Betanien und übernachtete dort.

II Struktur Unter dem Titel „Tempelreinigung“ ist diese Geschichte weithin bekannt geworden. Aber mit diesem Titel ist nur die erste, kleinere Hälfte abgedeckt. In der zweiten Hälfte geht es jedoch um Jesu Wunder im Tempel und die Lobrufe der Kinder. Wir entschieden uns deshalb für den weiter gefassten Titel „Jesus im Tempel“. Die Abgrenzung gegenüber Mt 21,1ff ist strittig. Viele ziehen die Verse 10 und 11 noch zu Mt 21,12ff, was unter der Thematik „Jesus in Jerusalem“ berechtigt erscheint. Andererseits hat das Verhältnis Jesu zum Jerusalemer Tempel in seinen letzten Tagen doch eine besondere Bedeutung, die auch durch die Parallelberichte (Mk 11,5ff; Lk 19,45f ) unterstrichen wird. Deshalb lassen wir unseren Abschnitt erst mit V. 12 beginnen. Gegenüber dem „verdorrten Feigenbaum“ (Mt 21,18ff ) ist dann Mt 21,12ff wieder klar abgesetzt. Es ist schon berührt worden, dass in Mt 21,12-17 verschiedene Ereignisse zusammengestellt sind.2 Genau genommen sind es vier: Die Austreibung der Händler aus dem Tempel (V. 12-13), die Heilungen im Tempel (V. 14), die Reaktion der Hohenpriester und Schriftgelehrten (V. 15-16) und die Übernachtung in Betanien (V. 17). Damit ist schon die Gliederung für die Auslegung vorgegeben. Es fällt auf, dass Matthäus gerade hier ausführlicher ist als die beiden Parallelberichte in Markus (11,11.15-17) und Lukas (19,45f ). Johannes stellt einen Sonderfall dar, da Joh 2,13ff wohl einen anderen Vorgang schildert.3 Man muss hier mit verschiedenen Interessen des Matthäus rechnen: einmal mit dem eschatologisch bestimmten Vorgehen Jesu gegen den missbrauchten Tempel, dann mit der Fortsetzung des Bildes vom barmherzigen und heilenden Messias (Mt 21,14 hat keine Entsprechung bei den anderen Evangelisten), 2 Vgl. die Überschrift bei Aland, Syn, 370. 3 Maier, Joh I, 93f.

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schließlich mit dem verstärkten Schriftbeweis für Jesu Messianität, der schon in Mt 21,1-11 zu beobachten war (nur Matthäus hat im Bereich 21,12-17 zwei Schriftzitate). Insgesamt bleibt in Mt 21,12-17 der zeitliche Ablauf offen.4 Es fehlt z.B. das für die matthäische Gliederung typische τότε [tote] oder ὅτε [hote]. Es gibt nur Anschlüsse mit καί [kai]. Man darf also die Anordnung in Mt 21,12ff nicht gegen die markinische Chronologie in Mk 11,11ff ausspielen.

III Einzelexegese Und Jesus ging in den Tempel (V. 12): Dass Jesus noch am Einzugstag den Tempel besuchte, ist durch Mk 11,11 gesichert. Dieser Besuch hatte demonstrative Züge. Denn Jesus machte dadurch klar, dass es ihm um das Verhältnis zu Gott ging und nicht um politische Ziele. Das griech. Wort für Tempel, τὸ ἱερόν [to hieron], bezeichnet hier den „gesamten Tempelbereich mit seinen Gebäuden, Höfen usw.“.5 Wie beim Einzug auf einem Esel, wollte Jesus durch seinen Tempelbesuch nicht zuletzt die alttestamentlichen Verheißungen erfüllen. Hier geht es zunächst um Mal 3,1: „zu seinem Tempel kommt der Herr“ (LXX: ἥξει εἰς τὸν ναὸν ἑαυτοῦ κύριος [hēxei eis ton naon heautou kyrios]). Nach dem Zusammenhang bei Maleachi kommt der Herr zum Gericht.6 So geschieht es in der Tat bei Matthäus/Markus/Lukas, denn Jesus treibt die Händler aus und verkündigt den Untergang des Tempels (Mt 24,3ff parr.). Und Jesus trieb alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften, und stürzte die Tische der Geldwechsler und die Sitze der Taubenverkäufer um: An dieser Stelle bekommt Sach 14,21 seine Bedeutung. Denn wenn die Heilszeit anbricht, „wird es keinen Händler mehr geben im Hause des HERRN Zebaoth“. Den Propheten war das Händlerwesen um den Tempel immer suspekt (vgl. Jer 7,11; Zef 1,11 neben Sach 14,21). Nun setzt Jesus mit der Austreibung der Händler ein Zeichen, dass die Heilszeit begonnen hat.7 Sie ist im besonderen Sinn eine Zeit der Reinigung des Gottesdienstes (vgl. Joh 4,20ff ). Wo fand die Konfrontation mit den Händlern und Käufern statt? Gottlob Schrenk lokalisiert sie im Vorhof der Heiden.8 Jostein Ådna gibt noch genauer die Königliche Säulenhalle als Schauplatz an.9 Welch enormes 4 5 6 7 8 9

Ebenso Zahn 623; France 301. Bauer-Aland 756; G. Schrenk, Art. ἱερός usw., ThWNT, III, 1938, 234. Vgl. Maier, Haggai/Maleachi, 166ff. Jeremias, Gleichnisse, 225: „Sinnbild der Weltenwende“. A.a.O. 234f. Im Art. Tempel, GBL 3, 1539. So schon Dalman 237.

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Treiben dort herrschte, kann man der Anekdote über Baba ben Buta entnehmen. Dieser soll in der Zeit Herodes’ des Großen einmal „3000 Stück Kleinvieh“ in den Tempelhof gebracht haben.10 Heute steht die Aksa-Moschee auf diesem Platz. Um der Gerechtigkeit willen muss man sagen, dass zum Beispiel die Festpilger und die Weitgereisten ihre Opfertiere nicht von zu Hause mitbringen konnten und auf den Erwerb in Jerusalem angewiesen waren. Aber musste dieser Erwerb im Heiligtum (τὸ ἱερόν [to hieron]) selbst stattfinden? Weiter ist von den Tischen der Geldwechsler die Rede, die Jesus umgestürzt habe (κατέστρεψεν [katestrepsen]). Diese Tische waren im Orient eine bekannte Einrichtung: „Während die übrigen Händler ihre Waren vielfach auf dem Boden auslegten, breiteten sie die Münzsorten auf einem Tisch aus.“11 Zur Zeit Jesu kannte man im Israelland drei verschiedene Münzsysteme, das römische, das griechische und das jüdische.12 Manche Abgaben mussten jedoch einheitlich entrichtet werden. So z.B. die Tempelsteuer, die auf einen halben Schekel pro Person berechnet wurde (vgl. Mt 17,24ff ). Sie „wurde in der alten heiligen Währung entrichtet.“13 Dafür brauchte man die Geldwechsler. Sie hatten ihren Platz ebenfalls im Vorhof der Heiden14 und in der Passazeit Hochkonjunktur.15 Wenn Jesus ihre Tische umstürzte, nötigte er sie zum raschen Einpacken der Münzen und Verlassen des Tempels. Sicher erlitten sie auch materielle Verluste, ohne dass sich doch Jesus an ihrem Eigentum vergriff. Umgestürzt wurden auch die Sitze der Taubenverkäufer (τὰς καθέδρας τῶν πωλούντων τὰς περιστεράς [tas kathedras tōn pōlountōn tas peristeras]). Solche Sitze waren wohl einfache Stühle, neben denen in Käfigen die Tauben feilgeboten wurden. Tauben benötigte man als Opfertiere. Zum Opfer erlaubte Lev 1,14 zwei Arten, nämlich die Turteltaube (‫[ תּוֹר‬tōr]) und die Felsentaube (‫ [ יוָֹנה‬jōnāh]).16 Siehe auch Gen 15,9; Lev 12,6.8; 14,22; 15,14.29; Num 6,10. Das Taubenopfer war ein ausgeprochenes Armenopfer

10 Strack-Billerbeck I 852; Schrenk a.a.O. 235. Dadurch wird die manchmal bezweifelte Angabe in Joh 2,14, dass im Tempel Rinder und Schafe verkauft wurden, bestätigt. Auch Schekalim VII, 2 spricht von „Viehhändlern“. Gegen Dalman 26; Hengel-Schwemer 559; Fiedler 325. 11 L. Goppelt, Art. τράπεζα, ThWNT, VIII, 1969, 211. 12 Vgl. D.H. Wheaton / S. Mittmann, Art. Geld, GBL 1, 430ff. 13 Strack-Billerbeck I 762,2. 14 So Mischna Schekalim I, 3: „Wechseltische … im Tempel errichtet“; Wheaton/Mittmann a.a.O. 15 Dalman 234, lokalisiert sie im Frauenvorhof. 16 H. Greeven, Art. περιστερά usw., ThWNT, VI, 1959, 66. Vgl. G.S. Cansdale / M. SchützSchuffert, Art. Tiere, GBL 3, 1565. Für Felsentauben übersetzt man gewöhnlich „junge Tauben“.

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(Lev 5,7.11; 12,8; 14,22.30).17 Jesus trat also nicht als Sozialrevolutionär gegen die reichen Händler oder gegen die Priesteraristokratie auf, denn sonst hätte er die Opfer der Armen schonen müssen. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung. Tauben hatte ja seine eigene Mutter Maria dargebracht, und zwar gerade für ihn, den neugeborenen Jesus. Vermutlich musste sie sich, arm aus Bethlehem kommend, solcher Taubenverkäufer bedienen (vgl. Lk 2,22ff ). Aber auch die Erinnerung daran hielt Jesus nicht davon ab, gegen die Taubenverkäufer vorzugehen. Es ist im Unterschied zu Joh 2,13ff auch nirgends in der Passionserzählung von einer „Geißel“ die Rede, die Jesus geschwungen hätte. Weil sowohl Mt 21,12 als auch Mk 11,15 nur vom Umstürzen der Sitze der Verkäufer reden, hat Jesus offenbar die Taubenkäfige stehen lassen, sie jedenfalls nicht beschädigt. Ob es sich bei den Taubenverkäufern um „freie Händler oder Beauftragte der Tempelverwaltung“ handelte, will Greeven offenlassen.18 Nach Strack-Billerbeck konnte man die Tauben „jederzeit im Tempelheiligtum von der Tempelverwaltung“ erwerben, aber auch „freihändig“ von den Händlern. Beim ganzen Vorgang der Tempelaustreibung liegt der Zielpunkt in dem Wort, das Jesus in V. 13 spricht:19 Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden. Ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle. Zu wem ist dieses Wort gesprochen? Das unbestimmte zu ihnen schließt alle auf dem riesigen Platz des Vorhofs der Heiden ein: Die Käufer und die Verkäufer, die Geldwechsler und die Taubenverkäufer, die Pilger und die Einheimischen, die neugierigen Heiden und die Angehörigen der Tempelverwaltung, auch die Gelehrten und die Gelehrtenschüler in den Lehrhallen. Es ist ein Wort an ganz Israel. Deshalb kann Jesus mit den heiligen Schriften Israels argumentieren. Es steht geschrieben (γέγραπται [gegraptai]): So argumentiert kein Sozialrevolutionär, kein Machtpolitiker, sondern ein Frommer, ein Schriftgelehrter, ein Prophet – aber auch der Messias Gottes. Es liegt eine Hoheit in diesem Wort, heute würde man sagen: Die Deutungshoheit über die Schrift, wie sie nur dem Messias zukommt. Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden deckt sich wörtlich mit Jes 56,7 nach der griech. Bibel (LXX). Die dortige Fortsetzung „für alle Völker“ (πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν [ pasin tois ethnesin]) lässt Matthäus weg, weil es ihm betont um Israel geht (anders Mk 11,17). Ein Bethaus: Das verträgt sich in den Augen Jesu nicht mit dem unruhigen Umtrieb der Geschäftsvorgänge. Ihr macht es zu einer Räuberhöhle: Das σπήλαιον 17 Greeven a.a.O. 18 Greeven a.a.O. 69. 19 So auch Hengel-Schwemer 560.

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λῃστῶν [spēlaion lēstōn] deckt sich mit Jer 7,11 LXX. Dort wird der Tempel durch die unbereinigte Sünde der Tempelbesucher entweiht. Mit dieser Jeremia-Stelle im Hintergrund wird Jesu Ausspruch zu einem Bußruf. Die Präsensform ihr macht (betontes ὑμεῖς [hymeis] und ποιεῖτε [ poieite]) unterstreicht nur die Dringlichkeit dieses Bußrufes. Damit wird zugleich Unheil für den Tempel und ganz Israel angekündigt, falls die Umkehr ausbleibt.20 Inwieweit Jesus mit dem Gebrauch der Vokabel Räuber auf die Zeloten seiner Zeit anspielen will, die man häufig so bezeichnete,21 ist eine offene Frage. Oder ist mit der Räuberhöhle gar ein „Schlupfwinkel“ für die Zeloten gemeint?22 Vermutlich geht eine solche Interpretation zu weit. Deutlich ist auf jeden Fall, dass Jesus unter der Entweihung des Tempels leidet. An die beiden Verse Mt 21,12-13 knüpfen sich Fragen und Diskussionen.23 Erste Beobachtung: Weder Matthäus noch Markus noch Lukas (auch nicht Johannes in 2,13ff ) berichten von einem Widerstand gegen Jesu Aktion. Natürlich diskutierte man schon damals über Jesu Vorgehen (Mk 11,18; vgl. Joh 2,18). Aber es gibt nicht eimal eine Andeutung, dass sich jemand zur Wehr gesetzt hat. Auch aus dieser Beobachtung kann man nur den Schluss ziehen, dass es sich um eine prophetische, nicht-politische Aktion, um ein echtes prophetisches Zeichen handelte, das von den Festbesuchern und Pilgern auch so wahrgenommen wurde. Zweite Bobachtung: Jesus tastete weder die Opfer noch die Gottesdienste an, ja vermied es offenbar, Priestervorhof, Israelitenvorhof oder Frauenvorhof einzubeziehen. Keiner der grundlegenden Tempeldienste wurde angegriffen. Das führt zu dem Schluss, dass er kein grundsätzlicher Gegner des Kultus war, folglich auch der essenischen Tempelkritik nicht zustimmte. Er wollte einen reinen Tempel, aber keine Tempelrevolution. Auf einem anderen Blatt steht, dass er voraussah, dass Israel nicht umkehren würde und der Tempel unter Zulassung Gottes zerstört würde (Mt 24,2). Darüber hinaus musste der Neue Bund auch einen neuen Gottesdienst bringen. Aus dieser Verkündigung Jesu machte man dann im Prozess eine falsche Anklage (vgl. Mt 26,60ff; Joh 2,19ff; Apg 6,14). Dritte Beobachtung: Weder Jesus noch die Jünger gebrauchen Waffen. Die „Geißel aus Stricken“ (Joh 2,14) gehört wahrscheinlich zu einem früheren Vorgang. Weder Matthäus noch Markus oder Lukas erwähnen eine solche bei der Tempelaustreibung in den letzten Tagen Jesu. Und selbst wenn sie Jesus damals gebraucht hätte, wäre dies wie die Verfluchung des Feigenbaums ein prophetisches Zeichen gewesen und 20 21 22 23

K. H. Rengstorf, Art. λῃστής, ThWNT, IV, 1942, 266. Vgl. Rengstorf a.a.O. 263ff. Vgl. wieder Rengstorf a.a.O. 265. Luz III 185: „eine heftige und nach wie vor unabgeschlossene Diskussion“.

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kein zelotischer Waffengang. Erst recht gab es keine militärische oder auch nur politische Aktion gegen die Römer. Nähert man sich von diesen Ausgangspunkten her, die textlich feststehen, der modernen Diskussion, dann lassen sich die hier geäußerten Bedenken und Fragen zureichend beantworten. Auf einige sei hingewiesen: 1) Luz und Fiedler konstatieren bei Jesus „Gewaltanwendung gegen Menschen und Sachen“ bzw. eine „Spannung zwischen dieser gewaltsamen Aktion“ und der in der Bergpredigt (Mt 5,38-41) geforderten Gewaltlosigkeit.24 Wollte man aber den Begriff der Gewaltanwendung so stark ausweiten, dann wären die Zerstörung des Goldenen Kalbes durch Mose (Ex 32,20) oder der Mauerdurchbruch Hesekiels (Hes 12,1ff ) ebenso schlimme Gewaltanwendungen, und am Ende kaum noch prophetische Zeichen möglich. Im Übrigen wird von einer Gewalt gegen Menschen bei Matthäus/Markus/Lukas nirgends berichtet. 2) Beare hält es für völlig ausgeschlossen, dass man sich eine solche Aktion im Tempel vorstellen könne: Die Pilger hätten sich dagegen wehren müssen, und wohin sollten die hungrigen Tiere gehen („they were left to wander out into the alleys and streets around the temple“)? Sollten Tempelpolizei und römische Truppen tatenlos beiseitestehen?25 Hier haben Hengel-Schwemer hervorgehoben, dass es eben um „eine provozierende profetische Zeichenhandlung“26 und nicht um eine Erstürmung des Tempelberges ging. Der Vorgang müsse „nicht mehr als ein kleinerer Tumult mit anschließendem Wortgefecht gewesen sein, so daß die Tempelbehörde (und die Römer) nicht eingriffen, um diese Unruhe nicht zu vergrößern und Blutvergießen zu vermeiden“.27 Diese Erklärung ist plausibel und findet auch die Zustimmung von Luz.28 3) Heute ist die Deutung beliebt, Jesus habe seine Zeichenhandlung „gegen die wirtschaftliche Macht der Tempelaristokratie“, also die priesterlich-sadduzäische Oberschicht, gerichtet.29 Unleugbar musste sein Vorgehen negative Auswirkungen auf solche Wirtschaftsinteressen haben. Aber war dies der Fokus? Auch wenn protestantische Auslegung und Exegese stark von westlicher Kapitalismuskritik beeinflusst sind, so lässt sich Jesus doch weder für noch gegen irgendwelche wirtschaftlichen Machtstellungen in Anspruch nehmen. Sein Interesse lag von Anfang an eindeutig (und im echten Sinn ein24 Fiedler 325; Luz III 187, der überdies behauptet, eine solche Spannung sei Matthäus „offensichtlich nicht bewußt“ (etwa nur unseren modernen Kommentaren?). 25 Beare 416. 26 Hengel-Schwemer 559. 27 Hengel-Schwemer 560. 28 Luz III 185. 29 Luz III 186f.

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seitig) auf dem, „was seines Vaters ist“ (Lk 2,49), also bei Gottes Retterhandeln für die Menschen. Stärker betonen müsste die moderne Diskussion die Tatsache, dass nirgends auch nur ansatzweise von einem Vorgehen gegen römische Repräsentanten oder Institutionen die Rede ist. Bezeichnenderweise spielt die Tempelfrage nur im jüdischen Prozess eine Rolle, nicht aber im römischen (vgl. Mt 26,60ff ). Auch dies erhärtet unsere These von der messianisch-prophetischen Zeichenhandlung,30 die nicht mit politischen, militärischen31 oder wirtschaftlichen Aktionen verwechselt werden darf.32 In V. 14 hält Matthäus eine weitere Szene aus dem Tempel fest. Er ist der Einzige, der sie berichtet: Und es kamen Blinde und Lahme zu ihm im Tempel, und er heilte sie. Wie der zeitliche Zusammenhang mit der Tempelaustreibung (V. 12-13) ist, muss offenbleiben. Matthäus erwähnt Blinde und Lahme und will damit wohl zeigen, dass sich bei Jesus erneut die messianischen Weissagungen des AT erfüllen (Jes 29,18; 35,5; Mt 11,5). Ob auch andere Heilungsuchende kamen, bleibt offen. Immerhin sind Blinde und Lahme genug im Tempel, die dort betteln (vgl. Apg 3,1ff ).33 Sie kamen, weil sie vernommen hatten (vgl. Joh 2,23), dass Jesus heilen konnte. Ihr Kommen setzt Vertrauen voraus, wenigstens die Bereitschaft, ein Glaubenswagnis einzugehen. Fast abrupt, gewissermaßen mit zweifelsfreier Selbstverständlichkeit, nennt Matthäus das Ergebnis: und er heilte sie. Jesus ist immer noch der barmherzige Messias, wie er da vor unseren Augen steht. Der triumphale Einzug und die Aktion der Austreibung haben weder seine Ziele noch sein Wesen verändert. In V. 15 berichtet Matthäus von der Stellung, die die maßgeblichen jüdischen Autoritäten einnahmen, sobald Jesus Jerusalem betreten hatte. Er spricht von den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten (ἀρχιερεῖς [archiereis], γραμματεῖς [grammateis]). Das sind zugleich die Spitzen der Sadduzäer (Hohepriester) und der Pharisäer (Schriftgelehrte). Den Hohenpriestern oblag die Verwaltung des Tempels. Ihre Reaktion auf Jesus drückt Matthäus mit einem einzigen Wort aus: ἠγανάκτησαν [ēganaktēsan], „sie wurden erregt“34, „sie wurden unwillig“, „sie wurden aufgebracht“, „sie zürn30 Hengel-Schwemer 560: „zeichenhafte Gleichnishandlung“; France 301: „an acted parable“. 31 Gegen K. Kautsky, R. Eisler, S.G.F. Brandon u.a. Vgl. Hengel-Schwemer 559; Luz III 185. 32 Ähnlich France 301f. 33 Der Zutritt zum Vorhof der Heiden war ihnen erlaubt. Fiedler 326; Luz III 188; Schlatter 315. 34 Ingressiver Aorist.

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ten“,35 sie wurden ärgerlich. Dass sie gemeinsam reagierten, zeigt, dass sich die Führungsspitzen der Pharisäer und Sadduzäer schon einig waren. Und zwar einig in der Ablehnung Jesu als des Messias. Was für ein Unterschied zu Simon bar Kochba runde 100 Jahre später, den Rabbi Akiba, „der bedeutendste Lehrer seiner Zeit“, gewissermaßen „als messianischer Prophet“ in seiner Messianität bestätigte, und den auch Priester unterstützten!36 Die Stellungnahme der Hohenpriester und Schriftgelehrten wurde nach V. 15 durch zweierlei hervorgerufen: a) durch die Wunder (θαυμάσια [thaumasia]), die Jesus tat, b) durch die Rufe der Kinder (παῖδες [ paides]). Was die Wunder betrifft, so bezeichnet das griech. Wort vor allem das „Staunenerregende“.37 Das Volk staunt. Aber in dem Begriff liegt auch eine gewisse Distanzierung: Wir, die Gesetzeskundigen, lassen uns durch Jesu Taten nicht so leicht überzeugen (vgl. Joh 11,46ff; 12,19). Möglicherweise sind bei den erwähnten Wundern noch andere als die in V. 14 genannten gemeint. Zu b): Die Kinder riefen wie die Festmenge beim Einzug Hosianna dem Sohn Davids! (vgl. die Erklärung dort). παῖδες [ paides], Kinder, sind nach Oepke „Knaben von 7-14 Jahren“.38 Dabei sind jüdische Sitten und Vorschriften variabel. „Die Verpflichtung zum Schütteln des Feststraußes, zum Tragen des Gebetsmantels u der Kleiderquasten, zum Erlernen der btr Fähigkeit.“39 Es handelt sich demnach in Mt 21,15 um Kinder, die schon in der Lage waren, die Hallel-Psalmen zu lernen und Ps 118,25 auswendig wussten.40 Wir müssen weiter voraussetzen, dass sie die messianische Bedeutung des Psalmes kannten. Denn sie rufen dem Sohn Davids zu. Folglich ist Jesus für sie der Messias. Gerade dieser Lobpreis Jesu als der Messias bewegt die Hohenpriester und Schriftgelehrten, ihre bisherige Zurückhaltung aufzugeben. Ob Matthäus bei dem seltenen θαυμάσια [thaumasia], das er in V. 15 benutzte, an solche θαυμάσια-Aussagen (Wunder-) wie in Ps 71,18; 77,4; 85,10 LXX gedacht hat? Dann würde er mit dem Wunder-Tun Jesu zugleich dessen Göttlichkeit unterstreichen. Man kann ferner fragen, weshalb im Tempel nur die Kinder in Hosianna-Rufe ausbrechen. Doch bleiben alle Antworten hypothetisch: War die Festmenge schon abgekühlt? Wollten die Erwachsenen eine

35 Vgl. Bauer-Aland 7. 36 Mayer 91 und S. 86ff passim. 37 G. Bertram, Art. θαῦμα usw., ThWNT, III, 1938, 27ff; Bauer-Aland 716; Hengel-Schwemer 472. 38 Im Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, 637. 39 Oepke a.a.O. 646 nach Strack-Billerbeck II 145f; vgl. Strack-Billerbeck I 853; Sukka III, 15; b Sota 30b. 40 Strack-Billerbeck I 845.

2. Jesus im Tempel, 21,12-17

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Provokation der Römer vermeiden? Oder fürchteten die Erwachsenen einen Zusammenstoß mit der sadduzäischen Tempelpolizei? Und sie sagten zu ihm: Hörst du, was die da sagen? (V. 16): Vermutlich war es ein Hauptmann der Tempelpolizei (vgl. Lk 22,52), der die Anfrage der Hohenpriester und Schriftgelehrten überbrachte. Die Formulierung die da (οὗτοι [houtoi]) ist verächtlich. Hörst du hat eine doppelte Bedeutung. Genau, wie jüdische Schriftgelehrte nun einmal sind, soll festgestellt werden, ob Jesus die Rufe der Kinder überhaupt gehört hat. Es handelte sich also nur um bestimmte Gruppen. Wenn du sie aber gehört hast – das ist die zweite Bedeutung –, dann musst du sie abstellen. Denn, so lautet nach Schlatter ihre Voraussetzung, „du bist doch nimmermehr zum Christus berufen“!41 Jesu Antwort ist überraschend scharf. Ja, er hat die Rufe gehört. Habt ihr noch nie gelesen: Aus dem Mund von kleinen Kindern und Säuglingen (νηπίων καὶ θηλαζόντων [nēpiōn kai thēlazontōn]) hast du ein Lob zugerichtet? Das ist ein wörtliches Zitat von Ps 8,3 nach der griech. Bibel (LXX). Er behaftet seine Gegner also bei der Schrift. Habt ihr nicht gelesen? fragt er immer wieder die Gesetzeskundigen in Israel. Nichts soll neben oder gar gegen die Schrift geschehen (vgl. Mt 12,3; 19,4; 21,16.42; 22,31). Ob Ps 8 damals schon messianisch verstanden wurde, muss offenbleiben.42 Jedenfalls wurde der Psalm bei den Rabbinen häufig diskutiert.43 In den Augen Jesu ist es fast beschämend, dass er jetzt den Hohenpriestern und Schriftgelehrten nicht mehr gewärtig ist. Angewandt auf die Ereignisse im Tempel, besagt er: Gott selbst veranlasst die Kinder zu ihren Rufen (du hast zugerichtet). Das Lob, das sie Jesus als dem Davidssohn und Messias spenden, ist völlig in Ordnung. Gott könnte noch Größeres tun und sogar kleine Kinder und Säuglinge zu einem solchen Lob bewegen. G. Bertram versteht νήπιος [nēpios] „vom Kleinkind bis zum 5. oder 6. Jahre oder vom Kind bis zur Pubertät“.44 Jetzt aber, im Tempel, sind es sogar unterrichtete, einsichtsfähige Kinder, die so rufen. Umso mehr sind sie im Recht. F.W. Beare äußerte etwas indigniert, in Mt 21,16 hätten wir keine „babes and sucklings“ vor uns.45 Doch gerade dieser Sachverhalt stärkt die Argumentation Jesu. Siehe auch noch Mt 11,25. Der abrupte Schluss unseres Abschnitts in V. 17 ist vermutlich von Matthäus bewusst so gestaltet: Und er ließ sie stehen und ging hinaus aus der Stadt nach Betanien und übernachtete dort. In den griech. Worten καταλι41 42 43 44 45

Schlatter 315. Vgl. France 302f; Schniewind 215. Strack-Billerbeck I 854. Im Art. νήπιος usw., ThWNT, IV, 1942, 913. Beare 418.

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πὼν αὐτούς [katalipōn autous] steckt beides: dass Jesus den Tempelbereich verließ und dass er die Gegner nach seiner Antwort stehen ließ. Ähnliches geschah schon in 16,4. Die folgenden Worte er ging hinaus aus der Stadt usw. sind keine freundliche Übernachtungsnotiz, wie sie etwa Fiedler versteht („dass sich Jesus unbehelligt aus der Stadt nach Betanien zum Übernachten begibt“)46 oder auch France („to find sleeping accommodation“ wie andere Pilger47). Sondern es handelt sich um die neutestamentliche Parallele zu dem alttestamentlichen Vorgang von Hes 11,22ff, bei dem Gottes Herrlichkeit den Tempel und Jerusalem verlässt, um das Gericht einzuleiten. Nach dem Bericht in der LXX lautet Hes 11,23: καὶ ἀνέβη ἡ δόξα κυρίου ἐκ μέσης τῆς πόλεως καὶ ἔστη ἐπὶ τοῦ ὄρους, ὃ ἦν ἀπέναντι τῆς πόλεως [kai anebē hē doxa kyriou ek mesēs tēs poleōs kai estē epi tou orous, ho ēn apenanti tēs poleōs] (= Ölberg). Siehe auch Lk 21,37: τὰς δὲ νύκτας ἐξερχόμενος ηὐλίζετο εἰς τὸ ὄρος τὸ καλούμενον Ἐλαιῶν [tas de nyktas exerchomenos ēylizeto eis to oros to kaloumenon Elaiōn]. Deuten wir richtig, dann will Jesus durch das tägliche Verlassen der Stadt (ἐξῆλθεν ἔξω τῆς πόλεως [exēlthen exō tēs poleōs]) an Hes 11,22ff erinnern und zugleich vor dem drohenden Gericht warnen. Über Lage und Namen des neutestamentlichen Betanien herrscht keine völlige Klarheit („Dattelstätte“? „Haus des Armen“? „Haus des Ananja“?).48 Man kann jedoch Folgendes festhalten: Der heutige arabische Ort El-Azarije geht auf das byzantinische Lazarium zurück, das seinerseits vom Lazarusgrab abzuleiten ist. In der Tat gehört das heute gezeigte Lazarusgrab, das auch für Touristen zugänglich ist, zu einem Gräberfeld der neutestamentlichen Zeit. Die heutige Ortschaft scheint sich um bzw. anschließend an dieses Grab entwickelt zu haben. Die Lage am Ölberg ist von daher gesichert. Die Angabe bei Johannes (11,18), Betanien sei etwa 15 Stadien = knappe 3 Kilometer von Jerusalem entfernt, stimmt damit vorzüglich zusammen. Vermutlich ist Betanien identisch mit dem in Neh 11,32 erwähnten Ananja. Wir können jedenfalls davon ausgehen, dass Betanien und El-Azarije grundsätzlich denselben Ort bezeichnen. In Betanien geschah eines der größten Wunder Jesu, die Auferweckung des Lazarus (Joh 11). In Betanien gab es zwei Häuser (Hausgemeinden?), in denen Jesus-Anhänger wohnten, das Haus des Lazarus, der Marta und Maria (Joh 11,1ff; Lk 10,38) und das Haus Simons des Aussätzigen (Mt 26,6ff ). Lukas erwähnt Betanien außerdem beim Bericht von der Himmelfahrt 46 Fiedler 326. 47 France 303. 48 Vgl. Strack-Billerbeck I 855; R. Riesner, Art. Betanien I., GBL 1, 193; Kopp 332ff; Kroll 371ff.

2. Jesus im Tempel, 21,12-17

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(24,50). Dass Jesus in Betanien übernachten konnte, ist angesichts dieser Verbindungen ohne Weiteres verständlich.49 Lk 21,37 spricht etwas allgemeiner von einem Übernachten am Ölberg, doch „dürfte die eine Angabe die andere nicht ausschließen“.50

IV Zusammenfassung 1. Die wenigen Verse Mt 21,12-17 sind voller Dramatik. Zunächst trifft Jesus eine grundlegende Entscheidung: Er wendet sich dem Tempel zu. Damit ist eine scharfe Grenzlinie gezogen. Nicht die politisch-messianischen Aktionen sind sein Kennzeichen wie bei seinen Vorgängern als Messiasprätendenten (Hiskia, Judas der Galiläer, Theudas) oder den folgenden zelotischen Anführern, sondern der Ruf zur Umkehr und die Bereitschaft, sein Leben für die Erlösung zu opfern.51 2. Gerade die sogenannte Tempelreinigung ist charakteristisch für seinen Ruf zu Gott. Sie war ein prophetisches Zeichen – das er übrigens nicht wiederholte – und wurde auch als solches wahrgenommen. Deshalb gab es keinen Kampf im Tempelvorhof und kein Einschreiten der Römer oder der Tempelpolizei. 3. Die Heilungen (V. 14) sind Zeichen seiner Messianität (Jes 29,18; 35,5; 61,1ff ) und zugleich Hinweise, dass es letztlich um unsere Heilung von den Sünden geht (vgl. Mt 1,21; Jes 53; Mt 20,28). 4. Gegenüber den Hohenpriestern und Schriftgelehrten bekennt sich Jesus eindeutig als der Messias, indem er die Rufe der Kinder im Tempel verteidigt. 5. Seine Übernachtung außerhalb der Stadt soll analog Hes 11,22ff vor dem drohenden Gericht über Jerusalem warnen. 6. Die Historizität dieser Ereignisse wird heute kaum mehr bezweifelt.52 Das damalige Bündnis sadduzäischer Hoherpriester und pharisäischer Schriftgelehrter war übrigens alles andere als ein Herzensbündnis. Typisch sind die negativen Urteile über die Hohenpriesterfamilien in b Pesachim 57a: „Wehe mir vor der Familie Boethos, wehe mir vor ihren Knütteln; wehe mir vor der Familie Hanin, wehe mir vor ihrem Getuschel; wehe mir vor der Familie Kathros,53 wehe mir vor ihrem Schreibrohr; wehe mir vor der Familie Jischmael b. Phabi, wehe mir vor ihrer Faust.“

49 50 51 52 53

Riesner a.a.O.: „scheint Jesus in B. relativ sicher gewesen zu sein“. Dalman 223. Vgl. Sand 419ff. Siehe Luz III 185ff; Hengel-Schwemer 557. Gegen Beare 416ff. Heute bekannt durch das Burnt House in Jerusalem.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

7. Für die heutigen Kirchen ergeben sich aus Mt 21,12-17 bestimmte Folgerungen. Sie können keine „Theorie einer geheiligten Gewalt“ aufstellen, die mit Berufung auf die Tempelreinigung irdische Revolutionen, Kriege, Aufstände oder gewaltsame Demonstrationen rechtfertigen will. Stattdessen sind sie selbst gefragt, ob sie wirklich ein „Bethaus“ bilden, oder ob sie eher ein Aktionshaus polititscher, wirtschaftlicher oder kultureller Art darstellen. Gefragt sind sie weiter, ob in ihrer Lehre und in ihrer Botschaft die Heilung von Sünden zentrale Bedeutung hat und ob deshalb der sein Leben opfernde Messias und Gottessohn Jesus im Mittelpunkt steht.

3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22 I Übersetzung 18 Als er aber am frühen Morgen wieder in die Stadt hinaufzog, hatte er Hunger. 19 Und als er einen Feigenbaum am1 Wege sah, ging er hin. Aber er fand nichts als Blätter daran. Da sagt er zu ihm: Auf ewig soll aus dir keine Frucht mehr kommen! Und der Feigenbaum verdorrte auf der Stelle. 20 Und die Jünger sahen es, staunten und sagten: Wie konnte der Feigenbaum so plötzlich verdorren? 21 Jesus aber gab ihnen zur Antwort: Amen, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht nur das mit dem Feigenbaum vollbringen, sondern wenn2 ihr zu diesem Berg sagt: Hebe dich und wirf dich ins Meer!, dann wird es geschehen. 22 Und alles, was ihr im Gebet erbittet, werdet ihr bekommen, wenn ihr glaubt.

II Struktur Nicht „Der Feigenbaum“ steht hier im Mittelpunkt, sondern Jesus. Deshalb formulieren wir „Die Verfluchung des Feigenbaums“ als Überschrift. Die Verse 18f und 20ff gehören so eng zusammen, dass man sie nicht auf zwei verschiedene Abschnitte aufteilen sollte.3 Im Makrokosmos des matthäischen Passionsberichtes hat Mt 21,18-22 wie viele Abschnitte in dem Sektor 21,12–25,46 die Aufgabe, vor dem kommenden Gericht zu warnen. Im Rahmen dieser Aufgabe schließt dieser Textab1 Bauer-Aland 579; BDR § 234,3. 2 Genauer: „selbst wenn“, BDR § 374,5. 3 Gegen Aland, Syn, 371ff; Luz III 197ff; Carson 443ff.

3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22

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schnitt direkt und logisch stringent an das Verlassen Jerusalems in 21,17 an. Thematisch wird 21,18-22 dann fortgesetzt in den Gerichtsgleichnissen 21,28–22,14, in der Gerichtsrede 23,1-39 und in Jesu Worten über die Zukunft 24,1–25,46. Es bleibt eindrücklich, wie viel Raum hier die Eschatologie im Allgemeinen und die intensive Warnung vor dem Gericht über Israel im Besonderen gewinnt. Demgegenüber tritt die Jüngerunterweisung und die Vorbereitung auf die Gemeinde des Neuen Bundes, die in den Kapiteln 16–20 dominierte, erkennbar zurück. Einen Parallelbericht zu Mt 21,18-22 bietet nur Markus (11,12-14.20-26). Lukas und Johannes enthalten nur vereinzelte Topoi, die mit Mt 21,18-22 verwandt sind, z.B. Lk 13,6-9; 17,6 oder Joh 14,13f; 15,7. Solche über die Evangelien verteilten Lehraussagen bestätigen unsere frühere Beobachtung, wonach Jesus gleiche oder verwandte Lehraussagen bei verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen hat.

III Einzelexegese Als er aber am frühen Morgen wieder in die Stadt hinaufzog, hatte er Hunger (V. 18): Das griech. πρωΐ [ prōï ] (am frühen Morgen) bezeichnet die vierte und letzte Nachtwache, also „d. Zeit v. drei bis sechs Uhr“.4 Ab sechs Uhr beginnt der Tag. Jesus wollte also mit Tagesbeginn wieder in Jerusalem sein.5 Offenbar hatte er wegen des frühen Aufbruchs noch nichts zu sich genommen und deshalb Hunger. Zweierlei gibt uns diese kurze Bemerkung zu bedenken: 1) Hunger und Durst (Joh 4,6ff ) drücken ebenso wie Schmerzen und Müdigkeit (Mt 26,38; Joh 4,6) die wahre Menschlichkeit aus. 2) Es bleibt erstaunlich, dass er so rasch und zielbewusst wieder der Stadt zustrebte, in der er so Schweres (Mt 21,12ff ) erlebt hatte. Schlatter: Er „war am anderen Morgen bereit, alles auf sich zu nehmen, was aus den Ereignissen des gestrigen Tages kommen mußte“.6 Übrigens beginnt mit Mt 21,18 unseres Erachtens der dritte Tag in Jerusalem, und nicht der zweite, wie Ulrich Luz annimmt7 (erster Tag: Einzug und ein erster Kurzbesuch im Tempel; zweiter Tag: die Ereignisse von V. 12-17; dritter Tag: ab V. 18). 4 5 6 7

Bauer-Aland 1450f. „Hinauf “: Betanien liegt ca. 680 m, der Tempelplatz ca. 740 m hoch. Schlatter 316. Luz III 198: Was Luz schon in den ersten Tag hineinstecken will: Einritt mit dem Esel, Besuch im Tempel, Austreibung der Händler und Käufer, Heilungen von Blinden und Lahmen, Auseinandersetzung mit Hohenpriestern und Schriftgelehrten, abendliche Rückkehr 3 km bis Betanien, lässt sich wohl kaum an einem einzigen Tag unterbringen.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

Vers 19 führt uns in das Feld heißer Diskussionen: Und als er einen8 Feigenbaum am Wege sah, ging er hin. Zur Topografie bemerkt Dalman: „Die Feigenbäume lieben eine warme Lage, während der Ölbaum die Kälte vorzüglich verträgt. Deshalb ist ein Feigenbaum am Ostabhange des Ölberges an geschützter Stelle ganz an seinem Platz.“9 Aber Feigen im April? ClausHunno Hunzinger empfiehlt eine radikale Lösung: Mt 21,28ff par. gehöre ursprünglich gar nicht in die Passazeit, sondern in die „Feigenzeit“. Das wäre Mai/Juni bis Oktober.10 Wenn man ihm folgen wollte, müsste man freilich Matthäus und Markus auf den Kopf stellen.11 Im Übrigen hat Markus ein sehr deutliches Bild von der ungünstigen Jahreszeit (Mk 11,13). Hunzinger erwägt deshalb noch eine andere Lösung: Unsere Erzählung könnte eine „ätiologische Legende“ sein, „durch einen markanten verdorrten Feigenbaum hervorgerufen“.12 Ähnliches hatte schon Dalman für möglich gehalten.13 Gelegentlich findet sich die Annahme, die Verfluchung des Feigenbaumes sei „vielleicht aus einer Gleichniserzählung herausgewachsen“.14 Das Problem ist dann nur, dass Matthäus und Markus umgekehrt die lehrhafte Anwendung aus dem Handeln Jesu herauswachsen lassen, und schließlich keine Antwort auf die Frage erfolgt, warum es ausgerechnet Feigen in der Passazeit sein sollen. Was war in der Passazeit (April) zu erwarten? Erstens unentwickelte Feigen, arab. ʿadschr. Zweitens noch saftlose Früchte, arab. faddsch. Beides kann man essen, auch wenn die Qualität der Frühfeigen (Mai/Juni) oder der Spätfeigen (August/Oktober) bei Weitem nicht erreicht wird.15 Aber Jesus will ja keine qualitätvollen Früchte, sondern nur den Hunger stillen. Schließlich bescherte die Landschaft am See Genezareth Josephus zufolge16 „zehn Monate lang ununterbrochen“ Feigen. Man kann diese Angabe nicht einfach für Mt 21,19 beiseiteschieben.17 Gerade der Umstand, dass der Feigenbaum von Mt 21,19 Blätter aufwies (vgl. Mk 11,13), konnte die Hoffnung auf Früchte stüt-

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. BDR § 247,5. Dalman 223. Im Art. συκῆ usw., ThWNT, VII, 1964, 756f. Dasselbe ist gegenüber T.W. Manson, J. v. Goudoever und C.W.F. Smith (Hunzinger a.a.O. 756,48) einzuwenden. Hunzinger a.a.O. 757. Dalman a.a.O. Hunzinger nennt a.a.O. 757,54 Eduard Schwartz als ersten Vertreter dieser Hypothese. Hengel-Schwemer 565; bei Hunzinger a.a.O. 757, „am ehesten“ denkbar. Dalman 223f. Vgl. Hunzinger a.a.O. 751f; Zohary 58f. Bell III, 519. So aber Hunzinger a.a.O. 756,48: „gilt jedenfalls nicht für das Jerusalemer Gebiet“.

3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22

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zen.18 Umso größer die Enttäuschung Jesu: „Aber er fand nichts als Blätter daran.“19 Darauf berichtet Matthäus von einer ungewöhnlichen Handlung Jesu. Er sagt zu ihm: Auf ewig soll aus dir keine Frucht mehr kommen! Mit BlassDebrunner-Rehkopf lesen wir hier den Konjunktiv Aor. γένηται [genētai], gemeint im prohibitiven Sinne: „nie mehr soll aus dir Frucht kommen“.20 Ein „Strafwunder“, wie zum Beispiel Hengel-Schwemer klassifizieren?21 Sicher wird der Baum „verurteilt“.22 Und Petrus hat recht, wenn er in Mk 11,21 sagt, Jesus habe den Baum „verflucht“. Aber geht darin das ganze Geschehen auf? Dies könnte man nur behaupten, wenn man alle Assoziationen vom Feigenbaum abstreifte. Nach Zohary23 ist die Feige „die erste mit Namen erwähnte Frucht in der Bibel“ (vgl. Gen 3,7). Weinstock und Feigenbaum sind königliche Gewächse (Ri 9,7ff ).24 Insbesondere stehen sie zu Israel in einem engen Verhältnis. Sie sind Exponenten eines Israel, das Frieden erlangt hat, wenn „jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“ sitzt (1Kön 5,5; Mi 4,4; Sach 3,10). Bei den Propheten sind der Feigenbaum und die Feigen mehrfach ein Symbol oder Bildwort für Israel (Jer 8,13; 24,1ff; Hos 9,10; Mi 7,1; Nah 3,12). Angesichts dieser Sachlage bedeutet der Feigenbaum in Mt 21,19 offenkundig ein Symbol für Israel. Dabei gibt es keinen Grund, Israel und Jerusalem voneinander zu unterscheiden.25 Auffällig ist die Nähe von Mt 21,19 zu Mi 7,1. Dort heißt es von Gott: „es geht mir wie einem, der Obst pflücken will, der im Weinberge Nachlese hält, da man keine Trauben findet zu essen, und ich wollte doch gerne die besten Früchte haben!“ Ersetzt man den Weinberg durch den Feigenbaum, dann hat man ziemlich genau die Situation Jesu vor sich. Es kann nur die Frage sein, ob Jesus sein Verhalten damals bewusst nach Mi 7,1.6 eingerichtet hat, oder ob die Parallele zu Mi 7,1.6 sich gewissermaßen von selbst ergab. Eindeutig aber ist der grundsätzliche Sinn des Geschehens: Jesus verflucht den Feigenbaum wegen seiner Fruchtlosigkeit und setzt damit ein prophetisches Zeichen. Dieses Zeichen besagt: Auch Israel kommt ins Gericht, weil es die Frucht = die Umkehr zu 18 Schlatter 316. Luz III 201 traut Matthäus wenig Ahnung zu: Er sei in solchen Dingen „sorglos“. 19 Schlatter a.a.O. macht daraus die Überschrift: „Der Jesu täuschende Feigenbaum“. 20 BDR § 365,1. Als futurisch-apokalyptische Aussage verstanden bei H.-W. Bartsch, ZNW, 53, 1962, 256ff; Jeremias, Gleichnisse, 226,4; Tasker 201. 21 S. 463 als einziges Beispiel in den Evangelien. Dagegen Fiedler 326f: „Unsinn“. 22 Zahn 625. 23 Zohary 58. 24 Vgl. Hunzinger a.a.O. 752. 25 Gegen Zahn 625.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

Gott und seinem Messias verweigert.26 Allerdings wird dies nur ein Gericht auf Zeit sein, wie Jesus in Mt 23,39 betont.27 Und der Feigenbaum verdorrrte auf der Stelle (παραχρῆμα [ parachrēma]): Das unterstreicht den Ernst des soeben vollbrachten Zeichens. Zugleich wird Jesu göttliche Vollmacht offenbar. Siehe auch noch Hos 9,16; Hab 3,17. Manche sehen in Lk 13,6-9 eine Paralle zu Mt 21,9.28 Eine Verwandtschaft beider Stoffe ist nicht zu leugnen. Beide Male symbolisiert der „Feigenbaum“ Israel. Aber es bleiben doch zwei Grundunterschiede: 1) ist Lk 13,6-9 ein Gleichnis, Mt 21,19 jedoch ein prophetisches Zeichen (bei den Angelsachsen: „acted parable“29); 2) in Lk 13,6-9 erweitert sich die Bußfrist, in Mt 21,19 ist sie abgelaufen. Eine christliche Exegese sollte nicht übersehen, dass Jesus ein göttliches Vollmachtswort und Verfügungsrecht über die „Natur“ besitzt, besser formuliert: über die Schöpfung. Das ist schon früher klar geworden: bei seiner Herrschaft über Sturm und Wellen, über Tod und Krankheit, bei den Speisungen und Dämonenaustreibungen. Jetzt ist es beim Feigenbaum noch einmal zutage getreten. Hier liegt eine der biblischen Wurzeln für die Glaubensaussage: Jesus als Gottessohn ist der Schöpfer aller Dinge (im NT schon Joh 1,3; 1Kor 8,6; Kol 1,16; EG 23,3; 27,3; 37,2). Die Verfluchung des Feigenbaums weist eine Verwandtschaft mit anderen Schriftaussagen auf, die von Gottes „Schelten“ der Wasserfluten (Hi 38,11; Ps 104,7; 106,9) oder von der Verfluchung des Ackers (Gen 3,17) reden. Überall liegt das Bild einer belebten Schöpfung zugrunde, die das Gegenteil einer „nature morte“ darstellt, wie sie von den holländischen und flämischen Künstlern so oft gemalt wurde. Erst die Zeit der Ökologie öffnete dazu wieder erste Zugänge. Auffällig bleibt, dass Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik auch auf Mt 21,17f zurückgriff, als er „das Gleichnis“ der „Gottheit Jesu Christi“ zu beschreiben versuchte.30 Die erstaunte Jünger-Frage in V. 2031 betrifft wohl beides: 1) dass der Feigenbaum tatsächlich verdorrte; 2) dass es so plötzlich geschah. Beides ist ja ein Wunder.32 Notieren wir noch, dass die Jünger erstmals seit V. 6f wieder 26 Wie wir Dalman 224: Schlatter 316f; Zahn 625f; Luz III 201f; Carson 444ff. Dagegen Fiedler 326f. 27 „Auf ewig“ = εἰς τὸν αἰῶνα bezeichnet hier eine Epoche, nicht die Ewigkeit als unbegrenzten Zustand, was eher durch εἰς τοὺς αἰῶνας oder εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων ausgedrückt würde. Vgl. Bauer-Aland 51ff. 28 So Hunzinger a.a.O. 757. 29 France 303. 30 Barth, KD I/2, 25. 31 Carson 446: „a question or an exclamation“. 32 Vgl. Tasker 201.

3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22

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erwähnt werden. Mt 21,20ff ist ein Beweis dafür, dass die Jüngergespräche auch in der Passionszeit weitergehen. Das staunen begleitet die Jesusgeschichte seit Mt 8,27 (9,33; 15,31; 21,20; 22,22; 27,14).33 Die Antwort Jesu (V. 21) wird als Lehraussage in den Kommentaren so hoch gewichtet, dass man manchmal das Geschehen mit dem Feigenbaum als nachträgliches Produkt aus den Worten Jesu erklärt.34 Halten wir jedoch fest: Sowohl die Antwort Jesu als auch das Jüngergespräch im Ganzen drehen sich gar nicht um das prophetische Gerichtszeichen, sondern um das Wunder des verdorrten Baumes! Warum? Wir vermuten, dass das Gerichtszeichen als solches klar war. Deshalb die Konzentration auf das augenscheinlich Vordergründige, das Verdorren. Wie konnte (πῶς [ pōs]) das geschehen? lautete die Frage der Jünger. Jesu Antwort: Durch Glauben. Gemeint ist zunächst sein eigener Glaube (πίστις [ pistis] = Vertrauen und Verbundensein) an Allmacht und Hilfsbereitschaft des Vaters. Intendiert ist aber auch der Glaube der Jünger, den diese in Zukunft haben sollen. Es soll ein Glaube ohne Zweifel sein: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt … Paulus und Jakobus haben diese Lehraussage ohne Wenn und Aber aufgenommen (Röm 4,20; Jak 1,6).35 Was heißt μὴ διακριθῆτε [mē diakrithēte]? Friedrich Büchsel hat unseres Erachtens den Kern der Sache getroffen: Wer zweifelt, „vertraut und vertraut zugleich nicht“.36 Nicht zweifelt heißt demnach: Er traut Gottes Allmacht alles zu, sogar eine neue Schöpfung. Aber es ist zugleich ein ganzes Zutrauen gemeint, kein gespaltenes, mit Zweifeln durchsetztes. Man muss es klar sagen: Dieses reine Vertrauen hatte nur Jesus.37 Wir als seine Jünger haben es nicht.38 Deshalb bitten wir mit den Aposteln: „Herr, stärke uns den Glauben!“ (Lk 17,5). Das Wort Jesu hat jedoch noch immer seine Gültigkeit: Wer nicht zweifelt, wird nicht nur das mit dem Feigenbaum vollbringen, sondern kann auch zu einem Berg sagen: Hebe dich und wirf dich ins Meer!, dann wird es geschehen. Paulus hat dies in 1Kor 13,2 aufgenommen. Dass man hier speziell an Sach 14,4 dachte, ist verständlich. Dieser Berg ist doch wohl am ehesten der Ölberg.39 Die Lehraussage Jesu gehört in einen weiten Kranz von Glaubensaussagen. Siehe auch Mt 17,20; Lk 17,5-6; Mk 9,23; Joh 11,26f ). Sie gehört zugleich in 33 34 35 36 37 38

Hengel-Schwemer 472ff; Cullmann 328. Vgl. Bultmann, Gesch, 246. Vgl. meinen Jakobus-Kommentar (jetzt 3. Aufl.) 63. Im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 949. Schniewind 316. Die Reduktion auf ein alltägliches „Gottvertrauen“ bei Fiedler 327 verfehlt die Aussage Jesu. 39 Vgl. Carson 446; France 304.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

eine Linie, die von Gen 15,6 über Ex 14,31; Jes 7,9; 28,16; Jona 3,5; Mt 8,13; Joh 3,15f; 20,29; Apg 8,37; 16,31; Röm 1,16; 10,9; Hebr 4,3; 10,39 bis zu Offb 2,13.19; 13,10 führt. Siehe auch zum Ganzen noch Mt 6,7f.30; 7,7ff; 17,20; 18,19f. In V. 22 wiederholt Jesus einen Satz aus seiner Lehrunterweisung: Und alles, was ihr im Gebet erbittet, werdet ihr bekommen, wenn ihr glaubt. Zu ähnlichen Aussagen in anderen Situationen vgl. Mt 7,7; 17,20; 18,19; Joh 14,13. Mit dieser Zusage der Erhörung steht Jesus in der prophetischen Tradition Israels (Jes 58,9; Jer 29,12ff; Hos 2,23). Sie setzt sich in der apostolischen Tradition fort (Jak 1,5f ). Siehe auch die Erklärungen bei Mt 7,7 und 18,19. Die Jünger verfügen nicht über das Vollmachtswort Jesu, deshalb können sie solche Erfahrungen wie die mit dem verdorrten Feigenbaum nur über das Gebet machen. Siehe auch Mk 9,29.

IV Zusammenfassung 1. Die Erzählung vom verdorrten Feigenbaum ist bei den meisten Auslegern nicht beliebt. Negative Urteile lassen sich über Jahrhunderte hinweg verfolgen. Für J. Welhausen war der verdorrte Feigenbaum ein „sonderbarer Beweis des Glaubens“.40 U. Luz findet hier „sinnlose Allmachtsphantasien“.41 Auch für P. Fiedler „ist die Versetzung eines Berges ins Meer ebenso sinnlos wie die Verfluchung des Feigenbaums“.42 Die Handlung Jesu bleibe „irrational“.43 Selbst der konservative J. Schniewind sagt, Mt 21,18-22 sei die „merkwürdigste Wundergeschichte“.44 Den Eindruck auf angelsächsische Leser beschreibt R.T. France so: „many have been embarrassed by its destructiveness and even apparently vindictiveness“.45 Die historischen Urteile waren hart. F.W. Beare schreibt, Mt 21,18-22 könne niemals ein tatsächlicher Vorfall sein („an actual incident“). Man müsse sich wundern, wie so etwas in ein Evangelium gelange.46 Für Bultmann geht unsere Geschichte auf „Gemeindebildung“ zurück, sie ist „kein historischer Bericht“.47 2. Jedoch besitzt Mt 21,18-22 einen verständlichen Sinn, der vollkommen in die Jesusgeschichte passt. Die Verfluchung des Feigenbaums ist nichts anderes als ein prophetisches Zeichen, das Israel das Gericht ankündigt. In diese 40 41 42 43 44 45 46 47

Bei Bultmann, Gesch, 233. Luz III 203. Fiedler 327. A.a.O. Schniewind 215. France 303. Beare 419. Bultmann, Gesch, 57.60.

3. Die Verfluchung des Feigenbaums, 21,18-22

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Richtung deuteten bereits die Kirchenväter (Origenes, Hieronymus u.a.).48 Grund des Gerichts sind die Verweigerung der Umkehr und deshalb der Mangel an „Früchten der Buße“. Auffallend bleibt die Nähe zum Täuferwort in Mt 3,7ff. Einem solchen Handeln Jesu Judenfeindlichkeit zu unterstellen,49 bedeutet eine Verdrehung seiner Ziele und Absichten. Man müsste sonst der gesamten Prophetie Israels von Mose bis Maleachi Judenfeindlichkeit vorwerfen. Nicht anders können wir den Vorwurf der Lieblosigkeit beurteilen, den beispielsweise Luz gegen Jesus erhebt („Dieses Wunder widerspricht … dem Geist der Liebe Jesu“).50 Zur wahren Liebe im Sinne der Bibel gehört auch der Ernst der Warnung und die Erinnerung an das Gericht Gottes (vgl. Lev 19,17; Jer 6,14; 8,11). Beides hat Jesus als Messias Israels im Sinn gehabt, als er den Feigenbaum verfluchte.51 3. Sein Handeln gehört außerdem in die lange Reihe der Gleichnishandlungen, engl. acted parables. Im Schlussteil seines Buches über „Die Gleichnisse Jesu“ hat J. Jeremias darauf hingewiesen, „daß Jesus nicht nur in Gleichnissen geredet, sondern auch gehandelt hat“.52 Jeremias rechnet dazu u.a. die Zöllnermahle, den Einzug in Jerusalem, die Tempelreinigung, das Weinen über Jerusalem und die Fußwaschung.53 Ob auch die Verfluchung des Feigenbaums dazugehört, bleibt ihm freilich „fraglich“.54 Die Einheit von Handeln und Wort in Mt 21,19 empfiehlt es jedoch, auch diesen Vorgang in die Reihe der Gleichnishandlungen einzuordnen. 4. Von einem „Strafwunder“ redet man besser nicht, weil die Verfluchung des Feigenbaums eine Ankündigung enthält, die im Falle einer Umkehr Israels aufgehoben werden kann (Jona 4,1ff ), jedoch noch keine vollzogene Strafe aussagt. 5. Der heutige Leser muss eine Reihe von kirchlichen und säkularen Denkschablonen hinter sich lassen, wenn er sich dem Geschehen von Mt 21,18-22 nähern will. Es bleibt eine positive Provokation, dass Jesus von einem Gericht Gottes spricht und tatsächlich damit rechnet. Wenn dies aber schon Israel als 48 Nachweise bei Luz III 199f. 49 So bei Luz III 200 und erst recht bei Fiedler 327 („Die judenfeindliche Wirkung der damit behaupteten Verwerfung ist garantiert“). 50 Luz III 199. 51 Unerträglich ist es, wenn Luz (III 203) seine eigene Liebe höher einstuft als die Liebe Jesu: „entlockt dieser etwas mißglückte Textabschnitt mir als heutigem Leser den Wunsch, der Glaube möge nur dann allmächtig sein, wenn er Taten der Liebe wirken möchte“. 52 Vor ihm z.B. Gustav Stählin, vgl. Jeremias, Gleichnisse, 224. 53 Jeremias, Gleichnisse, 224ff 54 A.a.O. 226,5.

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dem auserwählten und geliebten Volk Gottes (Deut 7,7f; Jer 31,3) droht, um wie viel mehr den christianisierten Völkern Europas, Amerikas usw.? Und droht es nicht auch einer Kirche, die „weder warm noch kalt“ ist (Offb 3,16)?

4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27 I Übersetzung 23 Und als er in den Tempel gekommen war, traten die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes an ihn heran, während er lehrte, und stellten ihm die Frage: In welcher Vollmacht tust du das? Und wer hat dir diese Vollmacht gegeben? 24 Jesus gab ihnen zur Antwort: Auch ich will euch eine1 Frage stellen. Wenn ihr sie mir beantwortet, werde auch ich euch sagen, in welcher Vollmacht ich das tue. 25 Die Taufe des Johannes – woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen? Sie aber überlegten untereinander und sagten: Wenn wir sagen, vom Himmel, dann wird er uns fragen: Warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt? 26 Wenn wir aber sagen, von Menschen, müssen wir uns vor der Menge fürchten, denn alle halten den Johannes für einen Propheten. 27 Und sie gaben Jesus die Antwort: Wir wissen es nicht. Darauf erwiderte auch er: Dann sage auch ich euch nicht, in welcher Vollmacht ich das tue.

II Struktur Die beiden Parallelberichte in Mk 11,27-33 und Lk 20,1-8 stimmen weitgehend mit Mt 21,23-27 überein. Mehr noch: Sie sind chronologisch in denselben Zeitraum eingeordnet, obwohl Lukas einige Besonderheiten aufweist. Wir können deshalb ziemlich sicher sein, dass dieser Vorgang sich in den ersten Tagen des Passionspassas in Jerusalem ereignete. Der kurze Bericht bei Matthäus könnte dazu verführen, ihn als eine Art Anekdote zu betrachten. Er betrifft jedoch eine wichtige Weichenstellung: Der Hohe Rat beginnt damit, Jesus zu verhören. Die Situation wird brandgefährlich. Es wird sofort der Kern der Dinge angesprochen: Ist Jesus der von Gott gesandte Messias? Oder ein Verführer, den Gottes Gegenspieler mit Kräften ausrüstet? Jedem christlichen Theologen, ja jedem Christenmenschen ist klar, dass bei Verneinung der ersten Frage das Christentum nur eine Religion ist, die täuscht und ent-täuscht. 1 εἷς entspricht τις (BDR § 247).

4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27

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Mit Καὶ ἐλθόντος [Kai elthontos] (V. 23) setzt erkennbar ein neuer Abschnitt ein. Problematisch ist es, einen Abschluss zu erkennen. V. 28 erscheint ja doch wie die unmittelbare Fortsetzung von V. 23-27. Andererseits eröffnet V. 28 eine Gleichnisreihe, die bis Mt 22,14 reicht: Man könnte sogar größere Zusammenhänge bis Mt 22,46 oder gar 23,39 in Betracht ziehen. Alle diese Möglichkeiten spiegeln sich in den Kommentaren: Luz nimmt Mt 21,23-32 zusammen2 („das Nein zu Johannes dem Täufer“), Fiedler 21,23–22,463 mit dem Unterabschnitt 21,23-32 (wie Luz), Zahn und Schlatter 21,23–22,144, France 21,23–23,39 usw. Wir haben es vorgezogen, wie im früheren Kommentar5 den Abschnitt Mt 21,23-27 für sich zu stellen. Denn erstens unterscheiden sich die anschließenden Gleichnisse und Streitgespräche in den Kapiteln 21 und 22 stilistisch deutlich von dem Verhör in den Versen 23-27. Zweitens kommt diesem Verhör ein hohes eigenes Gewicht zu. Der Aufbau der Verse 23-27 lässt sich gut erkennen: 1) Gleich zu Beginn stellen die Vertreter des Hohen Rates die entscheidende Frage (V. 23); 2) Jesus antwortet mit einer Gegenfrage (V. 24-25a); 3) die Vertreter des Hohen Rates geben keine Antwort (V. 25b-27a); 4) darauf gibt auch Jesus keine Antwort (V. 27b).

III Einzelexegese Die griech. Eingangsworte Καὶ ἐλθόντος αὐτοῦ εἰς τὸ ἱερόν [Kai elthontos autou eis to hieron] lassen den genauen Zeitpunkt offen (V. 23). Ebenso unbestimmt sind die Eingangsbemerkungen bei Markus (11,27) und Lukas (20,1). Wir müssen es also ebenfalls offenlassen, ob der Tag gemeint ist, an dem der Feigenbaum verdorrte, oder ein anderer Tag. Jesus ist wieder im Tempel. Er macht gewissermaßen den Tempel in diesen Tagen zu seinem Hauptquartier – einem ganz und gar religiösen Hauptquartier (Mt 24,1; 26,55; Lk 19,47). V. 23 sagt sodann, er habe dort gelehrt (διδάσκοντι [didaskonti], vgl. wieder 26,55). Das muss in einer der Tempelhallen gewesen sein, die den äußeren Vorhof umgaben, evtl. in der Halle Salomos (Joh 10,23). So erfüllt sich ein zweites Mal das Wort des zwölfjährigen Jesus: „Ich muss sein in dem, was meines Vaters ist“ (Lk 2,49). Nun traten die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes an ihn heran. Zusammen mit den Schriftgelehrten, die zumeist Pharisäer waren, bildeten die 2 3 4 5

Ebenso Tasker. Ähnlich Carson; Schniewind. Ebenso Beare. Maier II 174ff.

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in der Regel sadduzäischen Hohenpriester und die den Laien zuzurechnenden Ältesten des Volkes den Sanhedrin (Synedrion), den Hohen Rat. Vermutlich hatten beide Gruppen eine Delegation zusammengestellt, die Jesus verhören sollte. Siehe auch Joh 1,19ff. Dieses Verhör fand also im Tempel statt, vermutlich öffentlich. Zu den Hohenpriestern (ἀρχιερεῖς [archiereis]): Seit den Makkabäerkriegen und der Hasmonäerherrschaft, die die Zadokiden aus dem Amt verdrängte, hatten sie eine wechselvolle Geschichte. Gottlob Schrenk zählt von 37 v.Chr. bis 70 n.Chr. 28 Hohepriester aus verschiedenen Priestergeschlechtern.6 Unter ihnen standen die Familien des Boethos, Hannas Phiabi und Kamith an vorderster Stelle, was sich zum Beispiel in b Pesachim 57a niederschlug.7 Der Hohepriester ist oberster Leiter der Priesterschaft, Vorsitzender des Hohen Rats mit seinen 71 Mitgliedern und höchster Vertreter des Volkes (vgl. Apg 23,5). Die Mehrzahl ἀρχιερεῖς [archiereis] bezeichnet wahrscheinlich die Oberpriester der damaligen Zeit, die auch im Hohen Rat vertreten waren.8 Wie Schrenk bemerkt,9 entwickelte dieser ganze Priesteradel eine ausgeprägte Feindschaft gegen Jesus: „Sie alle stoßen den Christus zu den Verbrechern“. Zu den Ältesten des Volkes (πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ [ presbyteroi tou laou]): Diese Gruppe ist am schwierigsten zu bestimmen. Eine Anzahl neutestamentlicher Stellen nennt alle drei Gruppen des Hohen Rates (Sanhedrin, Synedrion) zusammen: „Älteste und Hohepriester und Schriftgelehrte“ (Mt 16,21 u.a.). Josephus formuliert in Bell II, 411 ganz ähnlich:10 οἱ δυνατοί [hoi dynatoi] – οἱ ἀρχιερεῖς [hoi archiereis] – οἱ τῶν Φαρισαίων γνώριμοι [hoi tōn Pharisaiōn gnōrimoi]. Andere neutestamentlichen Stellen erwähnen nur Hohepriester und Älteste nebeneinander (so Mt 21,23; 26,3.47; 27,3.12; 28,11f ).11 Nur ganz selten werden im NT Älteste und Schriftgelehrte ohne die Hohenpriester zusammengestellt (Mt 26,57; Apg 6,12). Das führt – zusammen mit anderen Beobachtungen – zu dem Schluss, dass die Ältesten als Laienadel eine besondere Nähe zur Priesteraristokratie hatten. Günther Bornkamm formuliert noch schärfer:12 Die Ältesten als Vertreter des privilegierten Jerusalemer Patriziates“ waren „in der Regel die Gefolgsleute der priesterlich-sadduzäischen Richtung“. Das Institut der Ältesten ist in Israel uralt. Mose musste 6 7 8 9 10 11 12

Im Art. ἱερός usw., ThWNT, III, 1938, 268. Schrenk a.a.O. Vgl. seinen Artikel auch im Folgenden. Schrenk a.a.O. 271. A.a.O. 272. Schrenk a.a.O. 271. Vgl. Schrenk a.a.O. 272. Im Art. πρέσβυς usw., ThWNT, VI, 1959, 659.

4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27

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zu seiner Unterstützung siebzig Älteste auswählen (Num 11,6ff ).13 Durch viele Wechselfälle hindurch behauptete sich die Ältesten-Verfassung auch über die Zeit der babylonischen Gefangenschaft hinweg und mündete schließlich um 200 v.Chr. in einen Jerusalemer Ältestenrat, der γερουσία [gerousia]. Aus dieser γερουσία ging das συνέδριον [synedrion] hervor, der Hohe Rat.14 Darin behielten die Ältesten Sitz und Stimme. Jedoch verloren sie die Führung schon vor der Zeit Jesu an die beiden anderen Gruppen, die meist sadduzäischen Hohenpriester und die meist pharisäischen Schriftgelehrten.15 Die Angabe von Mischna Sanh I, 6, wonach der Hohe Rat „aus einundsiebzig“ bestand, dürfte jedenfalls schon für die Zeit Jesu zutreffen (70 Mitglieder + der vorsitzende Hohepriester wie Mose + 70 Älteste).16 Nun lässt sich der Vorgang, von dem Mt 21,23 berichtet, besser einschätzen. Als Vertreter des Hohen Rates traten die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes, repräsentiert durch ihre Delegierten, an Jesus heran. Wenn Matthäus die Schriftgelehrten, die in Mk 11,27 und Lk 20,1 ebenfalls genannt sind, nicht erwähnt, dann gibt er damit zu erkennen, dass jetzt die Hohenpriester im Prozess gegen Jesus die führende Rolle übernehmen. Die Ältesten sind offenbar auch hier nur ihre „Gefolgsleute“.17 Die entscheidende Frage, die Jesus gestellt wird, lautet: In welcher Vollmacht (ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ [en poia exousia]) tust du das?18 Die zweite Frage erläutert19 die erste: Und wer hat dir diese Vollmacht gegeben? Das (ταῦτα [tauta]) bezieht sich gegen Foerster20 wohl nicht nur auf die Tempelreinigung, sondern auf das gesamte Handeln Jesu von seinem Einzug in Jerusalem an. Die Vollmacht, das heißt die Beauftragung und das Recht zum Handeln,21 kann ja von verschiedenen Vollmacht-Gebern stammen: 1) man hat sie sich selbst gegeben, 2) Satan hat sie gegeben, 3) Gott hat sie gegeben. Ist die Sache „von Gott (ἐκ θεοῦ [ek theou])“, um es mit den Worten Gamaliels in Apg 5,39 auszudrücken, dann muss der Hohe Rat Jesus gewähren lassen. Ist sie aber vom obersten Dämonen oder Beelzebul – Satan, wie bestimmte galiläische Kreise schon in 9,34; 12,24 argumentierten, dann darf ihn der Hohe Rat nicht gewähren lassen. Wir er13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Bornkamm a.a.O. 655. Bornkamm a.a.O. 655ff. Vgl. E. Lohse, Art. συνέδριον, ThWNT, VII, 1964, 859ff. Vgl. Lohse a.a.O. 861. Vgl. Bornkamm a.a.O. 659. In allen Synoptikern gleicher Wortlaut. Vgl. das kopulative καί (BDR § 442,1). Im Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 566; wie wir Carson 447; Schlatter 318; Zahn 626. 21 Vgl. Foerster a.a.O. 559.

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innern uns auch an die wiederholten Zeichenforderungen in Mt 12,38 und 16,1. Es geht in alledem um die Kernfrage, die auch den Täufer umtrieb (Mt 11,3): Ist Jesus der wahre Messias und Sohn Gottes?22 Siehe auch Joh 2,18; Apg 4,7. Jesu Antwort (V. 24) besteht in einer Gegenfrage. Was auf den ersten Blick als Ausweichen erscheint, ist die normale und übliche Reaktion eines Lehrers:23 Auch ich (κἀγώ [kagō]) will euch eine Frage24 stellen. Rabbinische Diskussionen verlaufen oft im Schema Frage-Gegenfrage, ja sie enden oft mit Letzterer: „It was customary to stop well-known teachers and ask them questions … and the crowds deligthed in these exchanges.“25 Man vgl. nur Lk 2,46f; Mk 10,3. Jesus kündigt zugleich an, dass er dem Hohen Rat eine exakte Auskunft geben werde (ich werde euch sagen, in welcher Vollmacht ich das tue), wenn dieser seinerseits die Frage Jesu beantworte. Als Ausleger wird man hier noch einmal nachdenklich. Wenn ein solches Lehrgespräch in aller Öffentlichkeit stattfindet, wenn es manchem Zeitgenossen eher zugunsten Jesu auszugehen scheint, dann müssen wohl im Hohen Rat selbst noch nicht alle Zweifel ausgeräumt sein, ob man Jesus wirklich verurteilen dürfe. Könnte er nicht doch der Messias sein? Die Taufe des Johannes – woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen? (V. 25): Diese Gegenfrage ist alles andere als akademisch. Sie rührt an den Nerv der Dinge, um die es jetzt geht, und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage des Hohen Rates. Denn mit Johannes macht Jesus, wie Fiedler sagt, „einen Zeugen für seine Sendung durch Gott geltend“.26 Die Taufe des Johannes ist vermutlich eine Bezeichnung für das gesamte Wirken des Johannes,27 vgl. Joh 1,25.33. Vom Himmel als Umschreibung für „von Gott“ ist typisch jüdische Sprechweise. Hat sich also Johannes sein Auftreten selbst angemaßt oder war er von Gott gesandt? lautet die Alternative. Ist er von Gott gesandt (Joh 1,6.33), dann ist er ein echter Prophet. In diesem Falle aber gewinnt sein Zeugnis für Jesus eine unwiderlegliche Kraft. Dann ist Jesus der Stärkere, der mit dem heiligen Geist und mit Feuer Taufende, das Lamm Gottes, mit einem Wort: der Messias Gottes (Mt 3,11ff; Joh 1,6ff.19ff.29ff ). Dann ist die Frage des Hohen Rates in V. 23 geklärt. Insofern ist Jesu Gegen22 23 24 25

Vgl. Hengel-Schwemer 560f. Strack-Billerbeck I 861. Zu λόγος als Frage vgl. Bauer-Aland 968. Hebr. ‫ ָדָּבר‬. Carson 447 sowie Fiedler 329; Luz III 209 („stilgemäß“); Schniewind 216; Tasker 202; France 305. 26 Fiedler 329. 27 Carson 447.

4. Die Frage nach der Vollmacht Jesu, 21,23-27

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frage tatsächlich „masterful“.28 Bei dieser Gelegenheit kommt zum Vorschein, wie eng Johannes und Jesus, der Täufer und die Christenheit, miteinander verbunden sind. Die Art, wie die vier Evangelisten vom Täufer berichten, wird durch dieses Jesuswort gerechtfertigt. Was werden die Vertreter des Hohen Rates in der Öffentlichkeit antworten? Sie aber überlegten untereinander und sagten: Wenn wir sagen, vom Himmel, dann wird er uns fragen: Warum habt ihr ihm dann (οὖν [oun]) nicht geglaubt? Wenn wir aber sagen, von Menschen, müssen wir uns vor der Menge fürchten, denn alle (πάντες [ pantes]) halten den Johannes für einen Propheten (V. 25-26): Das Dilemma ist echt. διαλογίζεσθαι [dialogizesthai] hat den Sinn von „sich besprechen“, „sich Gedanken machen und sie austauschen“.29 Vom Himmel = „von Gott“ wäre die eine mögliche Antwort. Im Endeffekt haben die führenden Kreise des damaligen Judentums Johannes aber abgelehnt. Deshalb müsste Jesu Folgerung bei der erstgenannten Antwort selbstverständlich lauten: Warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt? Siehe auch Mt 21,28ff. Dabei geht es nicht nur um ein allgemeines glauben, sondern auch und besonders um das Glauben der prophetischen Aussage, dass Jesus der Messias sei. Die andere mögliche Antwort von Menschen brächte die Vertreter des Hohen Rates in größte Gefahr. Tausende erregbarer, ja teils schon erregter Besucher sind im Tempel, Pilger, Ausländer, Einheimische. Der Tempel war und blieb ein Pulverfass (2Chron 24,21; Jer 28,1ff; Joh 10,21ff; Apg 21,27ff, die Geschichte Jerusalems und der Zeloten 66–70 n.Chr.). Wir müssen uns fürchten vor der Menge (τὸν ὄχλον [ton ochlon]) trifft die Situation haargenau. Die Wortwahl Menge statt „Volk“ ist vermutlich gut überlegt (auch Mk 11,32). Lukas hat in 20,6 „Volk“, schildert dafür aber drastischer (καταλιθάσει [katalithasei]). Alle halten den Johannes für einen Propheten: Das wird durch Mt 11,9; 14,5; 21,32; Lk 7,29f bestätigt. Dass man ihr den Propheten nahm, hätte die Menge nicht geduldet. Der Einwurf von F.W. Beare, der Hohe Rat hätte die Möglichkeit gehabt, „if necessary call in the Roman garrison“,30 geht völlig an der Realität jener Zeit vorbei. Am Ende erhält Jesus die Antwort: Wir wissen es nicht (V. 27). Die Vertreter des Hohen Rates haben damit zweierlei vermieden: 1) Unruhen, evtl. sogar einen Aufstand im Tempel, der vielleicht sogar ein Eingreifen der verhassten Römer nach sich gezogen hätte (vgl. Joh 11,48); 2) eine Zustimmung zu Johannes, die in der Konsequenz auf die Bejahung der Messianität Jesu 28 Carson 447. 29 Bauer-Aland 372. In Mt 21,25 / Mk 11,31 ist διελογίζοντο iteratives Imperfekt. 30 Beare 423.

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hinausgelaufen wäre. Während sie dieses beides vermieden, blieb anderes offen, ja konnte sich sehr nachteilig entwickeln: 1) standen sie in den Augen der Öffentlichkeit als Führer da, die an wesentlichen Punkten nicht Bescheid wussten; 2) brachten sie sich selbst um eine Antwort Jesu, die sie später im Prozess hätten verwerten können. Hinzu kam eine dritte negative Folge: Jesus und seine Jünger konnten jetzt nicht mehr im Unklaren darüber sein, dass der Hohe Rat mit schwersten Anklagen gegen sie vorgehen würde. Der Schluss des Abschnitts ist kurz (V. 27). Jesus bleibt bei seinem Wort: Dann sage auch ich (betontes ἐγώ [egō]) euch nicht, in welcher Vollmacht ich das tue. Die Verantwortung liegt bei ihnen, den Vertretern des Hohen Rates.

IV Zusammenfassung 1. Mt 21,23-27 zeigt, dass der Hohe Rat überraschend schnell nach dem Einzug den Prozess gegen Jesus eröffnet.31 2. Bei den Berichten der Evangelisten scheint seit dem Einzug Jesu in Jerusalem die Gemeinsamkeit zuzunehmen. 3. Ein gewisses Rätsel bleibt das Verhalten der galiläischen Begleiter Jesu und der jubelnden Menge vom Anfang. Offenbar hat die Konzentration Jesu auf den Tempel, seine Konzentration auf die Lehre, sein starkes Wertlegen auf Israels Buße und die Reinheit des Tempels, bei gleichzeitigem Verzicht auf die Versammlung der Massen, viele enttäuscht. In der Verlängerung dieser Enttäuschung kann man sich auch den Judas-Verrat vorstellen. 4. Das Verhör von Mt 21,23-27 war im Großen und Ganzen eine Niederlage der Vertreter des Hohen Rates. Auf indirekte Weise wurde die Messiasberufung Jesu bestätigt. Aber man fürchtet unwillkürlich einen Fortgang der Verfolgungsmaßnahmen. 5. Historisch gesehen bleibt der Verzicht Jesu auf Machtmittel und Gewalt ein Rätsel. Er hat sich deutlich für das Reich Gottes in überirdischer Gestalt und die Erlösung des Menschen von seiner Schuld entschieden. Das schafft einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Koran und den Zeloten. 6. Was sagt die Kirche heute? Stellt sie referierend die verschiedenen Aussagen nebeneinander und resümiert dann: „Wir wissen es nicht.“?

31 Vgl. Strack-Billerbeck I 860.

5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28–22,14

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5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28–22,14 Einleitung Der Zusammenhang dieser drei Gleichnisse wird in den Kommentaren fast überall erkannt.1 Sie spiegeln die Auseinandersetzung mit Israels damaligen Führern (21,28-46), aber auch das fortdauernde Ringen um ganz Israel (22,14). Es ist nicht so, dass Jesus infolge des Prozesses und der Auseinandersetzungen das Ringen um sein Volk aufgegeben hätte. Im Gegenteil: Er setzt es nach Kräften fort. Das spiegelt sich auch in diesen Gleichnissen. Es fällt auf, dass die chronologische Einordnung unter den Synoptikern übereinstimmt. Ebenso fällt auf, dass wir in diesem Bereich keine Parallelen bei Johannes haben. Des Weiteren stellt das erste matthäische Gleichnis (21,28-32) ein Sondergut dar. Andererseits hat Lukas das Gleichnis vom großen Abendmahl an ganz anderer Stelle (14,15-24). Ist es also doch von der königlichen Hochzeit in Mt 22,1-14 zu unterscheiden? Abgesehen von allen Einzelentscheidungen bleibt eines festzuhalten: Während der Passionszeit greift Jesus wie in Kap. 13 vermehrt zum pädagogischen Mittel der Gleichnisse.

5.1 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen, 21,28-32

I Übersetzung 28 Was meint ihr? Ein Mann hatte zwei Söhne. Und er ging zum Ersten und sagte: Kind, geh und arbeite heute im Weinberg. 29 Der gab zur Antwort: Ich will nicht. Später aber reute es ihn und er ging doch. 30 Er ging zum Zweiten und sagte genau dasselbe. Der gab zur Antwort: Ja, Herr, ging aber nicht. 31 Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: Der Erste. Da sagt Jesus zu ihnen: Amen, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. 32 Denn Johannes ist auf dem Weg der Gerechtigkeit zu euch gekommen und ihr habt ihm nicht geglaubt. Die Zöllner und Huren aber haben ihm geglaubt. Ihr aber habt es gesehen, und doch hat es euch nicht einmal später gereut, dass ihr ihm geglaubt hättet.

1 Vgl. Aland, Syn, 376ff; Jeremias, Gleichnisse, 92

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II Struktur Dieses Gleichnis gehört nach Kurt und Barbara Aland „ohne Frage zu den schwierigsten Aufgaben neutestamentlicher Textkritik“. In der handschriftlichen Überlieferung begegnet es uns in dreierlei Schemata. Nach Schema I lehnt der erste Sohn zunächst ab, erfüllt dann aber den Willen des Vaters, während der zweite zunächst zusagt, dann aber nichts tut. Schema II sieht so aus, dass der zuerst befragte Sohn zunächst zusagt, dann aber nicht geht, während der zweite Sohn zuerst ablehnt, dann aber geht. Schema III ist eine Mischform.2 Bei meinem ersten Kommentar (1980) habe ich mich noch nach der damaligen Lutherbibel gerichtet und deshalb Schema II vorausgesetzt. Seit 1984 folgt unsere Lutherbibel aber dem Schema I und auch wir werden es bevorzugen. Man muss aber sehr nüchtern sehen, dass die handschriftliche Überlieferung von den äußeren Kriterien her sowohl das Schema I wie das Schema II nahelegen kann.3 K. und B. Aland zufolge geben allein die „inneren Kriterien“ den Ausschlag zugunsten des ersten Schemas.4 Durchschlagend ist für sie die Überlegung, dass der Vater nur deshalb zum zweiten Sohn geht, weil der erste zunächst abgelehnt hat.5 Aber wie tragfähig ist eine solche Überlegung? Warum sollte denn der Vater nicht beide Söhne in den Weinberg schicken wollen (vgl. Mt 20,1ff )? Man muss überdies sehen, dass der Hauptpunkt von den Unterschieden der Schemata I und II unberührt bleibt: Beides sind Söhne desselben Vaters (vgl. Mal 2,10), beide werden in gleicher Weise gefragt, doch nur einer – im Klartext: die Zöllner und Huren – tut den Willen des Vaters. Zwar betont Luz, dass die Unterschiede der Lesarten „nicht ohne Folgen für die Exegese“6 seien. Aber man darf diese Folgen auch nicht überbetonen. Im Wesentlichen kommt die Auslegung zu denselben Ergebnissen.7 Ausgehend von Schema I ergibt sich folgende Gliederung: 1) In wenigen Worten wird die Situation beschrieben (V. 28a), 2) es folgt das Gespräch mit dem ersten Sohn (V. 28b-29), 3) das Gespräch mit dem zweiten Sohn (V. 30), 4) die Befragung der Hörer (V. 31a), 5) schließlich die Nutzanwendung aus dem Gleichnis (V. 31b-32).

2 3 4 5 6 7

K. und B. Aland 318. K. und B. Aland 317. A.a.O. A.a.O. Ebenso Schniewind 217; schon Zahn 627. Luz III 204. Vgl. Carson 449.

5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28–22,14

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Dass es sich bei Mt 21,28-32 um ein Sondergut des Matthäus handelt, wurde schon bemerkt. Lk 7,29f erinnert in manchem an unser Gleichnis, gehört aber in die Zeit von Mt 11,7ff und an einen anderen Ort.8

III Einzelexegese Was meint ihr? (V. 28): Damit wendet sich Jesus direkt an die noch anwesenden Vertreter des Hohen Rates. Noch immer erlaubt die Atmosphäre einen solchen Austausch (vgl. Mt 17,25; 18,12). Ein Mann9 hatte zwei Söhne10: Für Söhne steht hier τέκνα [tekna]. Es ist also eine liebevolle Sohnesbeziehung zu beiden gemeint. Sofort erinnert uns das Bild vom Mann = Vater und den Söhnen an das Verhältnis Gottes zu Israel. Unter Verwendung dieses Bildwortes gibt es zahlreiche rabbinische Gleichnisse.11 Insofern existieren also keinerlei Verständnisschwierigkeiten zwischen Jesus und seinen Hörern. Auch in Lk 15,11ff erzählte Jesus von einem Mann und seinen zwei Söhnen. Und er ging zum Ersten und sagte: Kind, geh und arbeite heute im Weinberg: Wieder fällt die „liebevoll-zärtliche Anrede“,12 Kind, τέκνον [teknon], auf. Man beachte auch, dass die Initiative beim Vater liegt. Die auf Israel deutenden Bildworte häufen sich in rascher Folge: Kind, arbeite, Weinberg. Siehe auch Jes 5,1ff; Jer 2,21; Ps 80,9; Mt 20,1ff; Joh 15,1ff. Der Erste (Sohn) ist wohl der Erstgeborene.13 Ihm oblag in erster Linie die Unterstützung des Vaters. Es ist ein starkes Stück, wenn nun dieser Erste zum Vater sagt: Ich will nicht (οὐ θέλω [ou thelō]). Auch noch ohne Anrede und ohne Begründung!14 Später aber reute es ihn und er ging doch (V. 29). Jesus geht hier nicht in die Tiefen der Psychologie oder in die Analyse der Umstände. Es zählt nur das Ergebnis: er ging. Er (= der Vater) ging zum Zweiten und sagte genau dasselbe (ὡσαύτως [hōsautōs]), V. 30. Dessen Antwort lautete: Ja, Herr (ἐγώ, κύριε [egō, kyrie]), er ging aber nicht. Das οὐκ ἀπῆλθεν [ouk apēlthen] steht dem ἀπῆλθεν [apēlthen] von V. 29 diametral gegenüber. Ob das Zugehen auf den Zweiten (wörtlich: „anderen“) mit der Ablehnung durch den ersten Sohn zusammenhängt, ist strittig. Jesus sagt darüber nichts, und es könnte auch sehr gut sein, dass der Vater in gleicher Liebe zu den Söhnen eben beide beteiligen will. Sehr 8 9 10 11 12 13 14

Schniewind 217. So ist ἄνθρωπος hier zu übersetzen (= ‫)ִאישׁ‬. τέκνον als Sohn Bauer-Aland 1612. Flusser 32.39.57. Bauer-Aland 1612. Vgl. Lk 2,48; 15,31. Carson 449. Man könnte von daher zweifeln, ob die Kriterien so eindeutig für Schema I der Textüberlieferung sprechen (gegen K. und B. Aland 317: „jedenfalls“!).

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profiliert ist die Antwort: ἐγώ [egō] entspricht wohl hebr. „Siehe, hier bin ich“, sinngemäß also einem Ja. Während der Vater liebevoll die Anrede Kind benutzt, antwortet der zweite Sohn mit Herr (κύριε [kyrie]). Letzteres kann durchaus auch einem Vater gegenüber benutzt werden,15 ist aber im Verhältnis Herr/Knecht oder Herr/Sklave weitaus üblicher. Man empfindet das Herr von Mt 21,30 teilweise sogar als „devot“. Umso schreiender der Gegensatz zum Tun: er ging aber nicht. Was für ein Misstrauen, welche Emanzipation gegenüber dem Vater! Welche Erfahrungen muss Jesus in Israel gemacht haben, wenn er solche Metaphern zur Beschreibung des Verhältnisses seines Volks zu Gott benutzt!16 In V. 31 geht Jesus vom Gleichnis zur direkten Verkündigung über: Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Er liebt solche direkten Anreden (vgl. Mt 17,25; 18,12; 21,28.40). Die Antwort kann nur heißen: Der Erste. Darauf kann Jesus das Gleichnis deuten: Amen, ich sage euch. Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Wer will, kann ihm daraus wieder den Vorwurf machen, er sei „ein Freund der Zöllner und Sünder“ (vgl. Mt 11,19). In der Tat hat Jesus von allem Anfang an um die Zöllner und Sünder geworben (vgl. Mt 9,9ff; Lk 15,1ff; 18,9ff; 19,1ff ). Tat nicht Johannes dasselbe (Lk 3,12f )? Beide sahen ihren Auftrag darin, die „verlorenen Schafe“ Israels wieder zur Herde = zum Volk Gottes zu bringen, deshalb sich ihnen zuzuwenden und sie zur Buße zu rufen (vgl. Mt 9,12.36; 10,6). Mt 21,28ff dokumentiert, wie stark die Verbundenheit Jesu mit dem Täufer war. Was im Blick auf die Zöllner gilt, gilt auch im Blick auf die Huren (vgl. Lk 7,36ff ). Dabei war Jesus weit entfernt von jeder Sozialromantik (vgl. Mt 5,46f; 18,7). Aber was heißt nun προάγουσιν ὑμᾶς [ proagousin hymas]? Zwei Deutungen stehen sich gegenüber: 1) die exkludierende, vor allem von J. Jeremias vertreten.17 Dann würde Jesus den Vertretern des Hohen Rates entgegenschleudern: „Ihr nicht!“; 2) die inkludierende. Dann würde Jesus einen Vorrang feststellen: „die Zöllner kommen vor euch ins Reich Gottes“.18 Aber die Vertreter des Hohen Rates und die von ihnen Repräsentierten hätten dann noch die Möglichkeit, später ebenfalls ins Reich Gottes zu kommen. Wir ziehen 15 Bauer-Aland 932. Jedoch W. Foerster, Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, 1085: „was noch etwas Besonderes ist“. 16 Oder öffnet er das Gleichnis beim κύριε gewissermaßen, um direkt die Gottesanrede seitens des Hohen Rates zu benutzen? 17 Jeremias, Gleichnisse, 125f. Gefolgt von BDR § 246,6; France 307; Hengel-Schwemer 427; Carson 450. 18 So Bauer-Aland 1406; O. Michel, Art. τελώνης, ThWNT, VIII, 1969, 105,158 lässt es offen. Wie Bauer-Aland und wir auch Fiedler 329,73; Zahn 628; Luz III 211.

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hier die inkludierende Deutung vor. Denn erstens ist eine exkludierende Bedeutung von προάγειν [ proagein] im griechischen Sprachraum kaum nachweisbar.19 Zweitens hat Jesus bis zum Schluss um sein ganzes Volk, auch die führende Schicht, gerungen. Da ist es schwer vorstellbar, dass er schon auf dem Tempelplatz eine ganze Gruppe vom Reich Gottes endültig ausgeschlossen haben sollte. Sinngemäß besagt V. 31 also, dass die Zöllner und Huren rascher ins Reich Gottes kommen als die damaligen höchsten Repräsentanten Israels. Ein Bußruf an diese Repräsentanten! Auch diese möchte Jesus retten. Vers 32 begründet, was Jesus in V. 31 gesagt hatte: Denn Johannes ist auf dem Weg der Gerechtigkeit zu euch gekommen, und ihr habt ihm nicht geglaubt. Die Zöllner und Huren aber haben ihm geglaubt. Jetzt ist es endgültig klar: Die Zöllner und Huren sind der erste Sohn des Gleichnisses, der zuerst ablehnte und dann doch den Willen des Vaters tat. Ihr = die Vertreter des Hohen Rates sind der zweite Sohn, der voll Ehrerbietung Ja sagte und dann doch den Willen des Vaters nicht erfüllte. Zu den Einzelheiten: Weg der Gerechtigkeit (ὁδὸς δικαιοσύνης [hodos dikaiosynēs]) muss von Mt 3,15 her erklärt werden. Gerechtigkeit ist demnach „Entsprechung zum Willen Gottes“, Weg der Gerechtigkeit = „Weg nach dem Willen Gottes“.20 Allerdings decken sich die Deutungen der Ausleger nicht. Gottlob Schrenk betrachtet δικαιοσύνη [dikaiosynē] hier als „Lebensgerechtigkeit“ und fasst Mt 21,32 so auf: Johannes habe „die dem Willen Gottes entsprechende Lebensgerechtigkeit“ gefordert.21 Wilhelm Michaelis dagegen versteht unsere Stelle so, dass sie nicht die Forderung der Lebensgerechtigkeit anspricht, sondern die Gerechtigkeit, die Johannes selbst praktiziert habe: „er trat euch als ein Gerechter entgegen“.22 Vielleicht sollte aber der Weg der Gerechtigkeit doch eher vom Auftrag des Johannes her verstanden werden.23 Denn es geht nicht nur um Predigt und Lebenswandel des Johannes, sondern um seine Sendung als wahrer Prophet (vgl. V. 26). Nur so schließt der Weg der Gerechtigkeit ja auch sein Zeugnis für Jesus ein. Nur im Blick auf seine ganze Sendung rechtfertigt sich die Wendung ihm glauben (vgl. Ex 14,31; 19,9; 2Chron 20,20). Dass ihr ihm nicht geglaubt habt, bedeutet demnach: Letztendlich habt ihr ihn nicht als Propheten akzeptiert. Zwar sind sie am Anfang in Scharen an den 19 Auch K. L. Schmidt bringt dafür in seinem Artikel über προάγειν im ThWNT (I, 1933, 130f ) keine Belege. Jeremias (a.a.O.) muss diese Sachlage selbst einräumen. 20 Vgl. auch Spr 8,20; 12,28; 16,31; 21,16 (LXX). 21 Im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 201; auch Tasker 203; Strack-Billerbeck I 866f. 22 Im Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 90f. Eine interessante Diskussion zwischen Bern und Zürich! Wie Michaelis auch Luz III 212. 23 Von Michaelis a.a.O., 90 abgelehnt. Aber wie wir Schlatter 321; Carson 450; Zahn 628.

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Jordan gepilgert (Mt 3,5ff ). Zwar ließen sich am Anfang auch viele Pharisäer und Sadduzäer von ihm taufen (Mt 3,7). Aber am Ende versagten sie ihm die Anerkennung als Prophet. Schon seine Hinrichtung ertrugen sie ohne für uns erkennbaren Widerstand. Ganz anders die Zöllner und Huren. Sie hatten sich zuvor vom Gesetz und damit vom Willen Gottes abgewandt. Sie waren es also, die zuerst dem Vater im Himmel ein Nein sagten (V. 29). Aber dann kamen sie doch zum Täufer, ließen sich taufen, fragten nach dem Weg der Gerechtigkeit (Lk 3,12) und strömten sogar zu Jesus, um seine Nachfolger zu werden (Mt 9,9ff; 11,19.25; Lk 7,29f.36ff; 15,1ff; 18,9ff; 19,1ff ). Für sie war Johannes sein Prophet, dem sie geglaubt haben (vgl. noch V. 26). Im Schlusssatz erweitert Jesus seine Beurteilung um ein neues Argument: Ihr aber [= ihr Vertreter des Hohen Rates] habt es gesehen, nämlich dass Zöllner und Huren dem Johannes und Jesus glaubten und Buße taten,24 und doch hat es euch nicht einmal später gereut, dass ihr ihm geglaubt hättet. Das Beispiel der Zöllner und Huren hätte also Israels Führungsschicht wenigstens nachträglich zum Glauben an Johannes bewegen müssen. Wie im ganzen Abschnitt meint die Zöllner und Huren nicht „alle Zöllner und Huren“, sondern ist hyperbolisch gemeint, also im Sinne von „Zöllner und Huren in erstaunlicher Anzahl“.25 Zur Diskussion steht V. 32 aus zwei Gründen: 1) Er wird von einer Reihe von Exegeten als sekundär betrachtet. Nach Jeremias26 ist V. 32 an V. 31 nachträglich „angewachsen“. Begründung: V. 32 finde sich bei Lk 7,29f „als selbständiges Logion“ und außerdem sei V. 31 durch das ἀμὴν λέγω ὑμῖν [amēn legō hymin] deutlich als Abschluss des Gleichnisses markiert. Beide Begründungen tragen nicht. Denn Lukas konnte in seinen Bericht im 7. Kapitel durchaus schon aufnehmen, was Jesus bei späterer Gelegenheit sagte.27 Außerdem gibt es im NT kein Gesetz, wonach ein „Amen“-Wort den Schlusssatz eines Gleichnisses anzeige.28 2) Mt 21,32 wird ferner für eine sozialgeschichtliche Auslegung in Anspruch genommen. Als Beispiel nennen wir TheißenMerz. Ihnen zufolge hat Jesus „eine besondere Botschaft für die Armen und Schwachen“, wobei er „den Zöllnern und Prostituierten … die Gottesherr24 Hengel-Schwemer 304 beziehen ἰδόντες jedoch auf das Aufsuchen des Täufers. Wie wir Tasker 203; Schlatter 321; France 307; Zahn 628. 25 Vgl. BDR § 495,5. 26 Gleichnisse 78f.84.107.125. Schon Bultmann, Gesch, 192. 27 Vgl. auch Schniewind 217. 28 Alle von Jeremias außerhalb von Mt 21,32 genannten Beispiele: Mt 5,26; Lk 14,24; 15,7.10; 18,14 enthalten kein Amen! (Gleichnisse 79,1). Es gibt übrigens keine Überlieferung, die V. 32 nicht enthielte. Für die Ursprünglichkeit auch Flusser 74.

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schaft“ zuspreche.29 Auch diese Deutung verfehlt Mt 21,31f. Denn die Gottesherrschaft wird allen zugesprochen, die glauben und umkehren, nicht nur besonderen Gruppen mit besonderem Privileg verheißen. Insgesamt ist zu bemerken, dass auf dem Tun des Willens Gottes (ποιεῖν τὸ θέλημα τοῦ πατρός [ poiein to thelēma tou patros], V. 31) eine starke Betonung liegt.30 Siehe auch Mt 7,21ff; 12,46ff sowie Jak 1,22ff; 1Joh 3,10.18.

IV Zusammenfassung 1. Mit dem Gleichnis von den ungleichen Söhnen rückt die Passion Jesu näher. Es ist ein Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit dem Hohen Rat. 2. Der dringliche Ruf zur Umkehr an den Hohen Rat darf aber die andere Dimension nicht verdecken, dass Jesus um das ganze Volk wirbt. Insofern passt die Bezeichnung „Gerichtsgleichnis“ nur bedingt. Besser wäre „Warnungsgleichnis“. 3. Unser Gleichnis belegt, dass Jesus Israel als Einheit gesehen hat. Im Gleichnis gibt es nur einen Vater (Mal 2,10), nur einen Weinberg (Jes 5,1ff ), nur einen göttlichen Willen (die Tora), nur einen Auftrag (arbeite) für beide Söhne. Das Gleichnis ist auf seine Art eine Illustration zu Jes 64,8: „Sieh doch an, dass wir alle dein Volk sind!“31 4. Eine heilsgeschichtliche Deutung,32 wonach der reumütige und schließlich handelnde Sohn die Heiden, der bloß Ja sagende Sohn die Juden darstelle, hat am Gleichnis selbst keinen Anhalt. Dort geht es allein um Israel. 5. Doch hat das Gleichnis typische Züge, die im Wege einer typologischen Deutung zu einer Anrede an die heutige Kirche werden. Das gilt zunächst für das Gewicht, das dem Tun zukommt. Die Aufforderung ἐργάζου [ergazou] (arbeite), das mehrfache ὕπαγε/ἀπῆλθεν [hypage/apēlthen] und das ποιεῖν τὸ θέλημα τοῦ πατρός [ poiein to thelēma tou patros] belegen dieses Gewicht. Es wird verstärkt durch die Verwandtschaft mit der Bergpredigt (Mt 5,17ff; 7,12.21ff ), durch viele Aussagen Jesu in den Evangelien (z.B. Mt 12,46ff; 23,3.23; 25,27) und durch die Unterstützung in der apostolischen Tradition (Tit 2,14; 1Joh 3,10.18; Jak 1,22ff; Offb 14,13). Vor allem die schnellfüßige Argumentation mit der „Werkgerechtigkeit“ im Protestantismus bedarf von daher einer Revision. Eine Anrede an die heutige Kirche ist ferner der beharrliche Bußruf, der sich ganz auf das „Religiöse“ konzentriert und keine Verführung zum politischen Handeln zulässt. Jesu Werben um Israel ist das große Vorbild. 29 30 31 32

Theißen-Merz 336. Vgl. S. 222. So mit Recht Fiedler 329. Vgl. Lk 13,16; 19,9. Für Luz „im Vordergrund“ als „allegorischer“ Sinn des Gleichnisses (III 213f ).

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Wieweit hat sich die Kirche ins politische Wort und politische Handeln verrannt? Wieweit ist sie noch missionarische, beharrlich werbende Kirche?

5.2 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, 21,33-46

I Übersetzung 33 Hört ein anderes Gleichnis: Es war ein Grundbesitzer, der einen Weinberg pflanzte und ihn mit einem Zaun umgab und in ihm eine Kelter aushob und einen Turm baute und ihn dann an Weingärtner verpachtete und außer Landes zog. 34 Als aber die Zeit kam, in der man ernten konnte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. 35 Aber die Weingärtner packten seine Knechte. Den einen schlugen sie, den anderen töteten sie, den nächsten steinigten sie. 36 Noch einmal sandte er andere Knechte, und zwar mehr als vorher, doch sie handelten mit ihnen genauso. 37 Zuletzt aber sandte er zu ihnen seinen Sohn, denn er sagte: Meinen Sohn werden sie respektieren. 38 Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe! Auf! Wir töten ihn, und dann gehört sein Erbe uns. 39 Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und töteten ihn. 40 Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt – was wird er mit jenen Weingärtnern tun? 41 Sie sagen zu ihm: Er wird die Übeltäter übel umbringen und den Weinberg anderen Weingärtnern verpachten, die ihm zur rechten Zeit die Früchte geben. 42 Jesus sagt zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden? Vom Herrn ist das geschehen, und ist ein Wunder in unseren Augen? 43 Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben, das seine Früchte bringt. 44 Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen. Aber auf wen er fällt, den wird er zermalmen. 45 Und als die Hohenpriester und die Pharisäer seine Gleichnisse hörten, erkannten sie, dass er von ihnen sprach. 46 Und sie hätten ihn gerne verhaftet, fürchteten jedoch die Menge, weil sie ihn für einen Propheten hielt.

II Struktur Das Gleichnis überrascht durch seine Direktheit. Es gibt ja kaum etwas, das erst noch mühsam enthüllt werden müsste. Grundbesitzer, Weinberg, Weingärtner, Knechte, Sohn: Das alles sind vertraute Metaphern.33 33 Flusser 125.

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Immerhin unterscheidet sich dieses zweite „Gerichtsgleichnis“ vom ersten (21,28-32) und dritten (22,1-14) dadurch, dass es verhältnismäßig ausführlich die Reaktion der Hörer schildert (V. 45-46). Man könnte deshalb überlegen, ob man nicht Mt 21,45-46 als eigenen Abschnitt behandelt.34 Markus und Lukas bieten Parallelen (Mk 12,1-12; Lk 20,9-19). Diese schließen die Reaktion der Hörer ein (Mk 12,12; Lk 20,19). Das Wort vom Stein in Mt 21,44 hat eine Parallele in Lk 20,18, nicht aber bei Markus. Keine Parallele hat Mt 21,43. Offenbar ist jede dieser Überlieferungen, die matthäische, die markinische und die lukanische, ihren eigenen Weg gegangen. Wenig befriedigend ist, was Luz zur Herkunft des Gleichnisses bei Matthäus ausführt. Seine „alleinige Quelle“ sei Mk 12,1-12.35 Er änderte seine Vorlage 1) durch „eigene Stileigentümlichkeiten“, 2) „erzählerische Anpassungen“, 3) „Verbesserungen“, 4) „Anpassungen an die griechische Bibel“, 5) „bewußte inhaltliche Änderungen“.36 Außerdem gebe es „Stellen, wo Schwierigkeiten bleiben“.37 Wie soll man sich solche Arbeitsgänge historisch vorstellen? Sie passen besser in ein deutsches oder schweizerisches Studierzimmer als in die Anfänge der Evangelienüberlieferung. Am Ende muss sich Matthäus belehren lassen, er habe „ungeschickt“ gearbeitet38 und manches sei ihm „mißglückt“.39 Wenn man der Hypothese einer Markusvorlage aber solche Opfer bringen muss, dann ist es besser, auf eine solche Hypothese zu verzichten. Mt 21,33-46 hat drei Teile: 1) Das Gleichnis selbst (V. 32-39); 2) seine Deutung im Dialog (V. 40-44); 3) die Reaktion der Hohenpriester und Pharisäer.

III Einzelexegese Die Aufforderung Hört! (V. 33) muss sich auf dieselbe Personengruppe beziehen wie ὑμεῖς [hymeis] V. 32 und ὑμῖν [hymin] V. 28.31. Sie ergeht also an die Vertreter des Hohen Rats.40 Seit Mt 21,27 hat Jesus die Initiative im Gespräch mit dem Hohen Rat. Sie setzt sich fort in V. 33. Man kann nur staunen über die Beharrlichkeit seiner Werbung um den Hohen Rat.

34 35 36 37 38 39 40

So mein früherer Kommentar. Luz III 216. Luz III 216f. Luz III 217. Luz III 218. Luz III 211. Ebenso Zahn 629. Lk 20,9 widerspricht dem nicht.

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Ein anderes Gleichnis ist eine Wendung, die wir aus Mt 13,24.31.33 kennen. Jesus hat also mehrfach Gleichnisse aneinandergereiht, um eine Veränderung beim Gesprächspartner zu erreichen. Die Worte Es war ein Grundbesitzer (ἄνθρωπος οἰκοδεσπότης [anthrōpos oikodespotēs]) versetzen die Hörer sofort in eine bestimmte, wohlbekannte Welt. Siehe auch Mt 13,52; 20,1ff.41 Es ist nicht nur die Welt der Rabbinen,42 sondern auch die des AT: der einen Weinberg pflanzte bis einen Turm baute ist eine Nacherzählung von Jes 5,1f, die dicht an der LXX bleibt.43 Am Ende von V. 33 kommt aber gegenüber Jes 5 ein neuer Zug hinein:44 Der Grundbesitzer verpachtete den Weinberg an irgendwelche Weingärtner, dann zog er außer Landes. Es ist mit Händen zu greifen, dass Jesus hier die Verhältnisse seiner eigenen Zeit einflicht. Dass ein Gleichnis außerdem hyperbolische Elemente, ja Unwahrscheinliches enthalten darf, versteht sich vom Charakter eines Maschal her von selbst. Eine beckmesserische westliche Art, die alles und jedes rationalen Wahrscheinlichkeitsurteilen unterwerfen will, verbietet sich hier.45 Die Weingärtner sind Pächter, nach Strack-Billerbeck „Kolonen“, ‫אריסין‬.46 Der Plural ist berechtigt, denn es konnten ohne Weiteres mehrere an der Pacht beteiligt werden.47 Dass der Grundbesitzer außer Landes zog (ἀπεδήμησεν [apedēmēsen]), ist ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Entweder war er Ausländer,48 oder er lebte als Jude im Ausland, etwa in Rom oder Alexandria.49 Bei Jesus kommt aber eine weitere Dimension hinzu: Er hat die Transzendenz Gottes oder des Messias öfter so zur Sprache gebracht, dass er vom abwesenden Herrn oder vom „außer Landes“ ziehenden Herrn redete (Mt 24,45ff; 25,1ff.14ff; Lk 12,35ff; 13,6ff ). So ist auch das Ziehen außer Landes ein Hinweis darauf, dass wir es mit Gott zu tun haben. Vers 34 führt die Geschichte fort: Als aber die Zeit kam, in der man ernten konnte: Den Ertrag von Fruchtbäumen konnte man erst im fünften Jahr nach der Pflanzung verwerten (Lev 19,23ff ). Hier muss man das Gleich41 Flusser 125. 42 Flusser 125ff; Strack-Billerbeck I 869ff. 43 Die Aufzählung der einzelnen Arbeiten weist nach Strack-Billerbeck I 867 auf die „Sorgfalt“ des Weinbergbesitzers hin. Vgl. zu LXX-Nähe Jeremias, Gleichnisse, 68. Vgl. weiter Carson 452. 44 Zahn 629. 45 Ebenso Flusser 125. 46 Strack-Billerbeck I 869.871; Bösen 198. 47 Strack-Billerbeck I 871; Bösen, a.a.O. Vgl. Pea V 5. 48 Dafür nennt Jeremias, Gleichnisse, 73,1 eine Reihe von Beispielen. 49 Auch Flusser 126: das „kommt zu allen Zeiten vor“.

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nis genau lesen: „Als aber die Zeit der Früchte nahe kam …“. Die Früchte darf man nicht auf „Weinkulturen“ beschränken.50 In den Weinbergen oder Obstgärten wuchsen oft Wein, Fruchtbäume, Kräuter, sogar Getreide miteinander. Ein schönes Beispiel bietet b BM 109 (BM IX, 9). Dort werden Sykomoren, Kräuter, Mangold, Palmen, Gartensafran und Olivenbäume erwähnt. Da sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. Es gab nach Strack-Billerbeck dreierlei Arten von Pacht:51 1) Der Grundbesitzer erhielt einen bestimmten Prozentsatz aller Früchte, die in seinem Weinberg wuchsen. Wieder ist b BM 109a/b ein gutes Beispiel. Dort werden die Hälfte, ein Drittel, ein Viertel und ein Sechstel als mögliche Anteile erwähnt. 2) Der Grundbesitzer erhielt ein festes Quantum. Während die Erträge von 1) je nach dem Ausfall der Ernte schwankten, war das Quantum eine sichere, stets gleichbleibende Größe. 3) Der Grundbesitzer erhielt eine festgesetzte Geldsumme, wiederum unabhängig vom tatsächlichen Ausfall der Ernte. – Im Gleichnis Jesu war es wohl so, dass der Grundbesitzer einen bestimmten Prozentsatz von allen Früchten erhielt (oben Nr. 1).52 Sonst hätte er nicht so viele Knechte schicken müssen: er sandte seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. Siehe auch Lk 13,6. Mit den Knechten, die vom Grundbesitzer = Gott ge-sandt sind, werden wir sofort an Israels „Propheten, seine Knechte“ erinnert (Jer 7,25; 25,4; Dan 9,6; Am 3,7; Sach 1,6). Der Grundbesitzer verlangt nur, was recht und billig ist: seine Früchte, das heißt, den ihm zustehenden Ertrag. Knechte sollte man hier nicht mit „Sklaven“ übersetzen,53 denn 1) ist „Knecht Gottes“ ein Ehrentitel (Num 12,7); 2) haben die „Knechte“ des Gleichnisses eine verantwortliche Position. Die Verse 35 und 36 schildern das Schicksal der Knechte: die Weingärtner packten sie. Den einen schlugen sie, den anderen töteten sie, den nächsten steinigten sie. Der Vorgang ist in Mk 12,3-5 und Lk 20,10-12 grundsätzlich derselbe. Es gibt nur leichte Differenzen über die Zahl der Knechte und die Einzelheiten ihrer Behandlung. Man kann sich diese Differenzen sehr natürlich aus der mündlichen Überlieferung erklären. Den Sinn des Gleichnisses verändern sie nicht.54 Allen gemeinsam ist die Dreizahl – typisch für Gleich-

50 51 52 53 54

Strack-Billerbeck I 872. Strack-Billerbeck I 869. Tasker 205. Anders Luz III 215ff; Beare 425ff; Hengel-Schwemer 565. Tasker 205: „natural consequence of oral tradition, in no way affect the meaning of the parable“. Ebenso France 308.

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nisse55 – und die Steigerung.56 Man hat das Vorgehen der Weingärtner schon als „Übersteigerung“ oder „Vorwegnahme des Schicksals“ des Sohnes kritisiert.57 Aber ganz abgesehen davon, dass jeder Gleichniserzähler das Recht auf Zuspitzung und Hyperbel hat, ja sogar auf „pseudorealistische Gebilde“,58 lässt sich das Vorgehen der Weingärtner durchaus in „die revolutionäre Stimmung der galiläischen Bauern gegen die landfremden Großgrundbesitzer“ einordnen. So hat es Dodd beschrieben,59 so haben es dann Jeremias60 und andere übernommen.61 Im Übrigen bezeichnen die Knechte, wie wir gesehen haben, die Propheten. Und alle drei Erfahrungen lassen sich in der Prophetengeschichte nachweisen. Zu schlagen vgl. Jer 20,2 (ἐπάταξεν [epataxen]), zu töten 1Kön 19,14 (ἀπέκτειναν [apekteinan]), zu steinigen 2Chron 24,21 (ἐλιθοβόλησαν [elithobolēsan]).62 Dass rabbinische Gleichnisse ähnliche Stoffe aufgreifen, zeigen Strack-Billerbeck.63 Noch einmal (πάλιν [ palin]) sandte er andere Knechte, und zwar mehr als vorher (V. 36): Hier steigert Jesus ganz bewusst. Die Ausleger empfinden diese Überschreitung der Regel de tri teilweise als Stilbruch, ja als ein „verderben“ des ansonsten meisterlichen Gleichnisses.64 Jeremias meint sogar, Matthäus habe den ursprünglichen Gang der Erzählung „völlig vernichtet“.65 Doch Jesus kommt es gerade darauf an, das Ungewöhnliche dieser Geschichte hervorzuheben. Dass er tatsächlich von mehr Knechten sprach, macht Markus fest (Mt 21,36: πλείονας [ pleionas], Mk 12,5: πολλοὺς ἄλλους [ pollous allous]). Mit dem Hinweis auf die anderen Knechte, mehr als vorher kennzeichnet Jesus die unendliche Liebe und Geduld Gottes mit seinem Volk einschließlich seiner Führer.66 Siehe auch Jes 1,4ff; 43,24; Nah 1,3. Doch sie handelten mit ihnen genauso. Ähnlich schildern die Geschichtspsalmen 78 und 106 und die Bußgebete Neh 9 und Dan 9 die Geschichte Israels.

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Flusser 303ff. Flusser 304. Jeremias, Gleichnisse, 69. Flusser 125. C.H. Dodd, The Parables of the Kingdom, Revised Edition, London, 1938, 124ff. A.a.O. 72. Riesner 301 unter Berufung auf Hengel; Bösen 198. Vgl. weiter 1Kön 18,4ff; Jer 26,23; Neh 9,26; Mt 23,35; Hebr 11,35ff; Zahn 629f. Strack-Billerbeck I 869.872.875. So Flusser 304. Jeremias, Gleichnisse, 70. Schlatter 322.

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Mit V. 37 kommen wir zum „Höhepunkt“:67 Zuletzt68 aber sandte er zu ihnen seinen Sohn, denn er sagte: Meinen Sohn werden sie respektieren. Matthäus bleibt auch hier knapp und zurückhaltend: Statt des „geliebten (ἀγαπητός [agapētos]) Sohnes“ wie Mk 12,6 und Lk 20,13 hat er nur den Sohn. Doch wie soll man sich die Sendung des Sohnes inmitten der realen Verhältnisse in der Zeit Jesu vorstellen? Hier antwortet auch Jeremias: Ja, das kann man sich in den teilweise revolutionären Verhältnissen des damaligen Galiläa durchaus vorstellen.69 Ist der Grundbesitzer im Ausland, dann muss er sich „nach einem Boten umsehen, der eine Respektsperson für die Aufsässigen ist“.70 Wie viel er (im Ausland?) überhaupt von den Vorgängen mitbekommen hat, muss nach irdischen Maßstäben offenbleiben. Klar ist jedenfalls: Der Eigentümer sendet das Teuerste, eben seinen Sohn. Kümmels Bemerkung, die Jeremias zitiert:71 „Kein Jude konnte sich … dadurch veranlaßt sehen, an die Sendung des Messias zu denken“, ist doppelt verfehlt. Erstens geht es Jesus darum, das Gleichnis zu einem Höhepunkt zu führen, der eben nach dem Scheitern der Knechte nur durch den Sohn bezeichnet werden kann. Zweitens will er den Hörern nahebringen, dass er mehr als ein Prophet, eben Gottes Sohn ist. Siehe auch sein weiteres Zeugnis vor dem Hohen Rat in Mt 26,63f sowie 3,17; 11,25ff; 17,5. Flusser hat das Gleichnis besser verstanden, wenn er hier „von der Todesahnung Jesu, des einzigen Sohnes“ spricht.72 In V. 38 und 39 erreicht das Gleichnis seinen dramatischen Schluss: Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe! Auf! Wir töten ihn,73 und dann gehört sein Erbe uns. Es handelt sich um ein Komplott. Wusste Jesus von dem Komplott, das der Hohe Rat schon nach Joh 11,47ff gegen ihn geschmiedet hatte? Das ist der Erbe (ὁ κληρονόμος [ho klēronomos]) heißt: der Alleinerbe74 (vgl. ἀγαπητός [agapētos] und ἕνα [hena] Mk 12,6; Lk 20,13). Sich an ihm, dem Sohn des Besitzers, zu vergreifen, bedeutet noch einmal eine ganz andere Kategorie. Aber konnten die Pächter überhaupt auf eine solche „unglaublich törichte Berechnung“ kommen, „es werde ihnen gelingen, nach der Beseitigung des Alleinerben ungehindert in den Besitz des Grundstücks zu gelangen“?75 Auf der irdischen 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Luz III 223. Bauer-Aland 1693. Jeremias, Gleichnisse, 72. A.a.O. 73. A.a.O. 71. Flusser 126. Analog zu Gen 37,20 LXX. Jeremias, Gleichnisse, 73. Jeremias a.a.O.

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Ebene ist diese Erwartung nicht so hoffnungslos, wie es auf den ersten Blick erscheint. Ein längerer Pachtbesitz in unruhigen Zeiten konnte die Hoffnung beflügeln, dass der Grundbesitzer nach all seinen traurigen Erfahrungen resignierte.76 Jeremias verweist auf einen „Rechtssatz“, wonach man sich ein „herrenloses Gut“ aneignen konnte.77 Aber der Weinberg war ja nach dem Tod des Erben nicht herrenlos, und die von Jeremias genannten Belegstellen Mischna BB III, 3 und b BB 54a tragen eine so weitgehende Aussage nicht. Die weitergehenden Erwägungen von Jeremias, die Pächter würden „annehmen, daß der Besitzer verstorben sei“, oder von Ernst Bammel, „daß der Sohn schon bei Lebzeiten des Vaters durch Schenkung Besitzer des Landes geworden“ sein könnte „und daß er kinderlos ist“,78 führen schon über den Rahmen des Gleichnisses hinaus. Am besten lässt man V. 38 als so ungewöhnlich, so bizarr79 stehen, wie das Wort Jesu überliefert ist. Gerade so zeichnet das Gleichnis die menschliche Hybris.80 Zweierlei ist noch anzumerken: 1) Der Erbe wurzelt im messianischen Psalm 2 (V. 8: κληρονομία [klēronomia]) und wird später einer der christologischen Hoheitstitel (Hebr 1,2). 2) Durch die ganze Geschichte Israels zieht sich die Versuchung, dass Israel von seinen Führern nicht als das Volk Gottes, sondern als ihr eigenes betrachtet wird (1Sam 8,10ff; Jer 9,1ff; 23,1ff; Hes 34,1ff; Mi 2,1ff; 3,1ff; Sach 11,4ff ). Dann gehört sein Erbe uns spiegelt diese Geschichte. Mit wenigen Strichen zeichnet Jesus, was dem Sohn passiert: Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und töteten ihn (V. 39). Es geht ihm wie den Knechten: sie packten ihn (λαβόντες [labontes], vgl. V. 35). Im Klartext: Es geht dem Messias wie den Propheten (Lk 13,33). Das hinauswerfen aus dem Weinberg enthält beides: Die Verachtung für den Sohn in schreiendem Gegensatz zu V. 37, und die Sorge für die Reinhaltung des Weinbergs, der nicht durch die Leiche verunreinigt werden darf. Hinaus (ἔξω [exō]): Jesus starb tatsächlich außerhalb der damaligen Stadtmauer auf Golgatha (Joh 19,17; Hebr 13,12f ).81 Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich: Das Weinberggleichnis ist eine Leidensweissagung. Sie richtet sich diesmal nicht 76 77 78 79 80

Vgl. Strack-Billerbeck I 871f. Jeremias, Gleichnisse, 73f. Beides bei Jeremias a.a.O. 74. Nach Flusser 125 „pseudorealistisch“. Vgl. France 309: „the story smacks more of instinctive rejection and unthinking greed than of careful legal reasoning“. 81 Die Reihenfolge „hinauswerfen“ – „töten“ ist bei Mt 21,39 und Mk 12,8 verschieden. Die Kommentare widmen diesem Unterschied viel Zeit und spitzen ihn gelegentlich zu einem Gegensatz zu. Es ist aber mehr als fraglich, ob hier ein chronologischer Ablauf dargestellt

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an die Jünger, sondern direkt an die Führer Israels. Insofern ist sie gleichzeitig eine äußerst ernste Warnung: Wollt ihr wirklich so handeln wie die Pächter? Mit den Worten sie töteten ihn berühren wir zugleich eine äußerst heftige Debatte: Haben Israels Führer Schuld am Tod Jesu? Eine starke Gruppe von Exegeten lehnt das heute ab. Luz schließt seine Erklärung von V. 37-39 mit dem Satz: „Ganz selbstverständlich (historisch natürlich nicht mit Recht!) setzt Matthäus … voraus, daß die jüdischen Führer Jesus getötet haben, und nicht etwa die Römer.“82 Krasser noch Fiedler: „obwohl die Pharisäer mit Jesu Tod nichts zu tun haben … schiebt er [= Mt] ihnen die Schuld am Tod Jesu zu.“83 Die Frage ist nur, ob man Jesu Aussage im Weinberggleichnis so einfach auf den Kopf stellen darf. Manche entgehen dieser Fragesstellung dadurch, dass sie das Gleichnis gar nicht auf Jesus zurückführen, sondern zur „Gemeindebildung“ erklären.84 Doch wie kommt dann Paulus, echter Pharisäer (Phlm 3,5) und einige Zeit Christenverfolger, zu seiner Aussage in 1Thess 2,15? Ist das alles nur christliche Polemik, wie Fiedler sagt?85 Wir kommen später auf diese Debatte zurück. Schlatter macht auf eine weitere Dimension der Aussage Jesu aufmerksam, die in den Kommentaren selten beachtet wird: „Jesus sagt ihnen, daß sie die Macht haben, ihn wegzuschaffen. Gott wird es nicht verhindern; die himmlischen Heerscharen werden ihn nicht beschirmen. Er ist in ihre Hand gegeben, er wird es leiden.“86 In V. 40 beginnt Jesus den Dialog, der zur Deutung führt: Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt – was wird er mit jenen Weingärtnern tun? Der Herr des Weinbergs erinnert wieder an Jesajas Weinberglied (Jes 5,7: κύριος σαβαωθ [kyrios sabaōth] LXX).87 Der Zusammenhang mit Jesaja macht auch klar, dass es um „das Haus Israel“ geht. Eine Einschränkung auf Jerusalem empfiehlt sich deshalb nicht. Der Herr des Weinbergs kommt: Das ist eine schlichte Tatsche, die keiner Begründung bedarf. Gott kommt: Das steckt schon im offenbarten Jahwe-Namen (Ex 3,14), das ist die Verkündigung der Propheten (Jes 40,10; 60,1; Hes 43,2; Sach 14,5), das wird als ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos] feststehende Gottesbezeichnung im NT (Offb

82 83 84 85 86 87

werden sollte und nicht vielmehr eben beide Teile der jesuanischen Prophetie bewahrt werden sollten: das Hinauswerfen aus dem Weinberg und das Töten. Luz III 224. Auch Theißen-Merz 378. Fiedler 330f. Bultmann, Gesch, 191; Fiedler 330. Unsicher Theißen-Merz a.a.O. Fiedler 332. Schlatter 323. Jeremias, Gleichnisse, 72; Luz III 224.

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1,4.8; 4,8). Was wird er mit jenen Weingärtnern tun?88 ist direkte Frage an die Vertreter des Hohen Rats als Adressaten des Gleichnisses. So einfach die Frage formuliert ist, so umfassend ist ihre Voraussetzung. Denn sie erwartet, dass die Antwort im Sinne von Jes 5 gegeben wird. Das heißt: Gott vollzieht ein Gericht. Sie sagen89 zu ihm: Er wird die Übeltäter übel umbringen und den Weinberg anderen Weingärtnern verpachten, die ihm zur rechten Zeit die Früchte geben (V. 41). Die Vertreter des Hohen Rates fällen ein Urteil, das der Gerechtigkeit und insbesondere der Tora entspricht. Die Weingärtner des Gleichnisses sind „Böse“, sind Übeltäter. Aufgrund von Ex 21,12: „Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben (muss getötet werden, wird mit dem Tod bestraft)“ verdienen sie es, dass der Herr des Weinbergs sie übel umbringen wird. Die griech. Wendung κακούς κακῶς ἀπολέσει [kakous kakōs apolesei] gilt als Schulbeispiel einer Paronomasie.90 Aber auch hebräisch ließe sich das gut ausdrücken (‫ [ ָיַרע ָלָרִעים‬jāraʿ lārāʿīm]).91 Die Vertreter des Hohen Rates können sich nicht vorstellen, dass der Grundbesitzer den Weinberg aufgibt. Nein, er wird ihn anderen Weingärtnern verpachten. Weder Rechtsverzicht noch Resignation kommt für ihn infrage. Die anderen Weingärtner aber sind verpflichtet, ihm [= dem Grundbesitzer] die Früchte zur rechten Zeit92 zu geben. Ist es Zufall, dass sie sich hier an Ps 1,3 anlehnen (LXX: ὃ τὸν καρπὸν αὐτοῦ δώσει ἐν καιρῷ αὐτοῦ [ho ton karpon autou dōsei en kairō autou])? Oder bringen sie nicht doch sehr bestimmt zum Ausdruck, dass der Weinberg von den bösen Weingärtnern (= den Sündern) zu den guten Weingärtnern (= den Frommen) wechseln muss? Unstrittig ist ja, dass der Weinbergbesitzer den Anspruch auf gute Früchte hat. Was die Vertreter des Hohen Rates in V. 41 sagen, wird oft so empfunden, dass sie „sich ihr eigenes Urteil sprechen“.93 Manchmal wird noch angemerkt, sie hätten dies ahnungslos getan.94 Aber stimmt das? Sowohl Matthäus als auch Markus und Lukas notieren erst am Ende des Dialogs (Mt 21,45; Mk 12,12; Lk 20,19), dass sie erkannten, dass das Gleichnis auf sie gemünzt war. Dann aber muss man die Frage stellen: Wer konnte denn im Gleichnis überhaupt gemeint sein? Antwort: Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Jesus konnte 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. BDR § 157,2. Praesens historicum: lebhaft, vergegenwärtigend, BDR § 321. BDR § 488,1. Ähnlich wie wir Zahn 630,32. Vgl. Bauer-Aland 801; BDR § 206,1. Luz III 224; Zahn 630. So Zahn a.a.O. Ähnlich Jeremias, Gleichnisse, 25: „ohne es zu merken“; ebenso Fiedler 330,78.

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die Besatzungsmächte meinen, Syrer und Römer, die Israel seinem rechtmäßigen Besitzer, nämlich Gott und seinem Messias, wegnehmen wollten. Er konnte auch die Herodianer meinen, die zu Unrecht über Israel herrschten, ohne Davididen zu sein. Zwar entstanden die pharisäischen Psalmen Salomos noch vor Herodes dem Großen.95 Aber was sie sagen, gilt auch für die Tage Jesu, nämlich der Wunsch: „die Frommen des Herrn mögen die Verheißungen des Herrn erben“,96 und die Überzeugung: „Ihre Pflanzung ist verwurzelt für die Ewigkeit“.97 Auf der Linie der Psalmen Salomos könnten Jesu Dialogpartner das Gleichnis durchaus anti-herodianisch verstanden haben. Eine dritte Möglichkeit liegt darin, dass sie es antizelotisch verstanden. Waren nicht gerade damals Zeloten in Jerusalem gefangen (Mt 27,15ff; 27,38)? Und hatte Jesus nicht schon früher die Zeloten unter dem Bild von Dieben und Räubern verurteilt (Joh 10,1ff )? Standen nicht auch Pharisäer wie Gamaliel im Gegensatz zu den Zeloten (Apg 5,36f )? Es konnte also durchaus Sinn ergeben, dass sich Jesus von solchen Leuten absetzte. Waren die Vertreter des Hohen Rates außerdem davon überzeugt, dass sie als fromme Menschen Gott zur rechten Zeit seine Früchte brachten, dann verurteilten sie sich nach ihrer Auffassung keineswegs selbst, als sie die Antwort von V. 41 gaben. Im Vergleich zu Mk 12,9; Lk 20,16 fällt auf, dass dort Jesus selbst die Antwort gibt, die in Mt 21,41 die Vertreter des Hohen Rates formulieren. Eine solche verkürzte Berichterstattung wie bei Markus und Lukas ist aber durchaus möglich. Denn es bleibt ja in jedem Fall diejenige Antwort, die Jesus erzielen wollte. In Carson’s Formulierung: „Of course the conclusion remains his, regardless of how he gets it across.“98 Der Dialog nimmt in V. 42 eine überrraschende Wendung. Jesus sagt99 zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: Der Stein, den100 die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden? Vom Herrn ist das101 geschehen, und es ist ein Wunder in unseren Augen? Zunächst die Einzelheiten: Im Gespräch mit schriftgelehrten Diskussionsgegnern verwendet Jesus öfter den Hinweis Habt ihr nie gelesen? (Mt 12,3.5; 19,4; 21,16.42; 22,31). Es handelt sich um den Hinweis auf die Heilige Schrift, hier verdeutlicht durch das in den Schriften (ἐν ταῖς γραφαῖς [en tais graphais], vgl. Lk 95 96 97 98 99 100 101

Holm-Nielsen 58. PsSal 12,6. PsSal 14,4. Carson 453. Wieder Praesens historicum. Zu λίθον ὅν vgl. BDR § 295,2. αὕτη = ‫ ֹזאת‬ist Übersetzungssemitismus, BDR § 4,3; 138,2.

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24,27.45; Joh 5,39; Röm 1,2; 1Kor 15,3; 2Tim 3,15).102 Die konstante Bezugnahme auf die Heilige Schrift zeigt, a) dass Jesus sie kannte, b) dass er sie als oberste Regel und Richtschnur ansah. Das sola scriptura war eben nicht nur eine einsame Entdeckung der Reformatoren. Das ganze Zitat in Mt 21,42 stimmt von Der Stein bis Augen mit Ps 117,22f LXX überein, das wiederum ziemlich genau dem hebr. Text von Ps 118,22f entspricht.103 A. S. Kapelrud nimmt für Ps 118,22f MT den Ursprung in einer „sprichwörtliche(n) Redensart“ an.104 Jedenfalls ist schon im Hebräischen der Stein im übertragenen Sinne gebraucht: „der Verachtete ist durch Erniedrigung und Schmach zur Ehre gekommen“.105 Dabei besteht eine Verbindungslinie zu Jes 28,16 einerseits und Jes 8,14f andererseits.106 Außerdem weist Kapelrud auf die messianische Deutung sowohl von Jes 28,16 wie von Ps 118,22 hin.107 Im rabbinischen Schrifttum entdecken Strack-Billerbeck Deutungen des Steins auf Abraham, auf David und auf den Messias.108 Bauleute sind dort „öfter“ Gelehrte.109 Der Eckstein, κεφαλὴ γωνίας [kephalē gōnias] = ‫[ ֹראשׁ ִפּ ָנּה‬roʾsch pinnāh], war verschiedentlich Gegenstand von Untersuchungen. J. Jeremias plädiert für die Bedeutung „Schlussstein“ („der den Bau krönende Stein“).110 Infrage kommt daneben die Bedeutung „Grundstein“, das heißt der Stein, der dem ganzen Bau zugrunde liegt und nach dem sich der Bau orientiert.111 Nach beiden Bedeutungen wird der von Menschen Verworfene von Gott zum Kostbarsten, ja zum Entscheidenden beim Bau seines Reiches gemacht. Das Handeln des Herrn (LXX: κύριος [kyrios], MT: ‫ [ יהוה‬jhwh]) steht also in einem scharfen und unerwarteten Gegensatz zum Handeln der menschlichen Bauleute. Dieses Wunderbar-Unerwartete heißt im Hebr. ‫[ ִנְפָלאת‬niphlāʾt], und wird hier ausdrücklich unter die Wunder Gottes eingereiht. Unsere Augen sind die Augen der Zeugen.

102 Es ist allerdings auch möglich, mit Flusser 75 und 111,27 die „Schriften“ auf die Ketubim (dritte Abteilung des AT) zu beziehen. Anders Sand 434. 103 Zahn 632,34. 104 Im Art. ‫ֶאֶבן‬, ThWAT, I, 1973, 53. 105 Kapelrud a.a.O. 106 Vgl. wieder Kapelrud a.a.O. 107 A.a.O. Auch Hengel-Schwemer 565. 108 Strack-Billerbeck I 875. 109 Strack-Billerbeck I 876. 110 Im Art. λίθος usw., ThWNT, IV, 1942, 278; vgl. seinen Art. γωνία usw., ThWNT, I, 1933, 793. 111 Jeremias im Art. λίθος, a.a.O., 277ff; S.S. Smalley, Art. Stein, GBL 3, 1480f; France 309; Sand 434.

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Wie kommt Jesus im Zusammenhang mit dem Weingärtnergleichnis auf Ps 118,22f zu sprechen?112 Antwort: Das Verbindende liegt in dem Stichwort verworfen. So wie das hebr. ‫[ מאס‬mʾs] in Ps 118,22 „verachten“, „verwerfen“ und „Widerwillen haben“ in sich schließt, so haben die Weingärtner den Sohn verachtet (Gegensatz zu ἐντραπήσονται [entrapēsontai] V. 37!), gegen den Willen des Besitzers gehandelt, und ihn verworfen, indem sie ihn hinauswarfen und töteten. Aber nun bedeutet V. 42 doch eine ganze bestimmte Wende in diesem Gespräch: Statt des Interesses an denen, die künftig als Weingärtner arbeiten dürfen – einem Interesse, das offensichtlich seine Gesprächspartner in V. 41 bewegte – fokussierte Jesus sein Interesse auf den, der nach dem Gleichnis ja längst tot ist, nämlich den Sohn.113 Er wird mitnichten tot bleiben. Nein – und darauf sollen die Gesprächspartner jetzt achten – er wird durch ein Wunder Gottes wieder Leben empfangen und in Gottes Heilsplan eine zentrale Rolle spielen. Sagen wir es ohne Bild: Der Messias wird zwar von Vertretern seines Volkes getötet, aber durch ein Wunder Gottes wieder auferstehen. Jesus vertritt dabei die messianische Deutung von Ps 118, und es ist anzunehmen, dass er eine solche messianische Deutung auch bei seinen Gesprächspartnern voraussetzen durfte.114 Ein eigenes Problem brachte die Auslegungsgeschichte mit sich. In den letzten Jahrzehnten gab es relativ viele Exegeten, die das in Mt 21,33ff Erzählte ursprünglich mit der Frage von V. 40 enden ließen.115 Dazu gibt die textliche Überlieferung aber keinen Anlass.116 Die Arbeitshypothese von J. Jeremias, wonach die „schlichte Erzählung“ des Thomasevangeliums die Grundlage unserer Auslegung bilden muss,117 weil nur dort keine Gefahr der Allegorisierung droht, ist mehr als fragwürdig. D. Flusser hat inzwischen einleuchtend gezeigt, dass die „Entallegorisierung“ einen Fehlweg darstellt, an dessen Ende nur eine „öde Ruine“ übrig bleibt.118 In der Tat lässt der „Sinn des Gleichnisses“, den Jeremias erhebt, nämlich dass der Weinberg den Armen übergeben wird und Mt 21,33 „die Darbietung der Frohbotschaft an die Armen rechtfertigen“ soll,119 von Mt 21,33ff nur einen kümmerlichen Rest übrig. Die arg subjektiven Urteile darüber, wo Mt 21,33ff einmal geendet ha112 113 114 115 116 117 118 119

Beare 430 empfindet den Übergang als „not an appropriate application of the parable“. Ähnlich Zahn 631: Jesus will seine Gesprächspartner „berichtigen“. Vgl. Flusser 74f.125. So Bultmann, Gesch, 191; Beare 430; Hengel-Schwemer 565,89; Jeremias, Gleichnisse, 72; Luz III 225. Vgl. K. und B. Aland 238ff. Jeremias, Gleichnisse, 70. Flusser 125. Jeremias, Gleichnisse, 74.

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ben soll, können die Exegese nicht tragen. Wir bleiben deshalb beim überlieferten Text. In V. 43 drückt Jesus in direkter Rede aus, was das Gleichnis meinte und was die Hörer zum Teil schon in ihrer Antwort V. 41 vorbereiteten: Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben, das seine Früchte bringt. Von euch (ἀφ᾿ ὑμῶν [aph’ hymōn]) ist hart. Es identifiziert die bösen Weingärtner mit den zeitgenössischen Führern Israels, die sich ja als „Fromme“ und gute Weingärtner betrachteten. Das von euch muss in die Hörer hineingefahren sein wie das „Du bist der Mann!“ Nathans gegenüber David (2Sam 12,7). Das Reich Gottes (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ [hē basileia tou theou]) bedeutet die gnädige Herrschaft Gottes über sein Volk mit der Perspektive der endzeitlichen Vollendung. Sagten der Täufer und Jesus selbst nicht schon, dass diese Vollendung nahe gekommen sei (Mt 3,2; 4,17)? Und was heißt einem Volk gegeben (nämlich von Gott gegeben, Pass. div.), das seine Früchte bringt, nämlich die Früchte des Reiches Gottes120 (αὐτῆς [autēs])? Ist Volk hier nur „eine Gruppe innerhalb“ Israels?121 Sodass also nur die Führung innerhalb Israels wechselt? Das ist mit dem sonstigen Sprachgebrauch von ἔθνος [ethnos] im Matthäusevangelium nicht zu vereinbaren.122 Weil seine Führer Israel repräsentieren, nimmt Gott sein Reich von Israel und gibt es einem anderen Volk. Dieses andere Volk kann jedoch keine theokratische oder nationale Größe sein, wie es Israel ist, denn nur Israel ist ein „auserwähltes Volk“ in diesem Sinne (Deut 7,7f ). Es muss und kann nur das Messiasvolk des Neuen Bundes sein, nach Dan 7,14.27 „das Volk der Heiligen“ im ewigen Gottesreich,123 ein Volk „aus so vielen verschiedenen Sprachen“, mit einem Wort: das Volk der Christus-Gläubigen,124 die Gemeinde Jesu. So hat es Jesus schon in Mt 8,11f angekündigt. So lag es in der Abrahamsverheißung. So taucht es in den ἔθνη [ethnē] des Taufbefehls wieder auf (Mt 28,19). Wichtig ist: Weder Vorstellung noch Sprache waren für Jesu Hörer fremd. Schon nach der Mose-Tora will Gott im Falle schweren Ungehorsams Israel aus seinem Lande treiben und „unter die Völer zerstreuen“ (Lev 26,27ff ). Und nach Hes 11,22ff verlässt Gottes Schechina den Tempel 120 121 122 123

Vgl. Gal 5,22f; Eph 5,9. So Fiedler 332. Dagegen Zahn 633f, Luz III 226f; France 310. Vgl. Bauer-Aland 440; K. L. Schmidt im Art. ἔθνος usw., ThWNT, II, 1935, 366ff. Vgl. K. L. Schmidt a.a.O.; W. Grundmann, im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 588. 124 Auch Fiedler 332. So Zahn 633f; Schniewind 219. Die Ablehnung der Deutung auf die Kirche bei Luz III 226f hat wohl kaum sachliche Gründe. Die Einschränkung auf die „Heidenkirche“ bei Jeremias (Gleichnisse 68) ist unberechtigt, denn die Gemeinde Jesu besteht aus Juden und Heiden (Eph 2,14ff ).

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und Jerusalem. Wichtig ist ferner, dass in b Chag 5b Rabbinen davon sprechen, dass der Stolz „Israel abgenommen und den weltlichen Völkern gegeben worden ist“.125 Wir bleiben also mit Mt 21,43 ganz im jüdischen Verstehenshorizont.126 Ist Israel demnach verstoßen? In einem hat Peter Fiedler recht: Mt 21,43 besagt nicht „die Ersetzung Israels durch die Kirche“.127 Es hat ja doch seine Bedeutung, dass es nicht heißt: „Der Weinberg wird von euch genommen“, sondern: Das Reich Gottes wird von euch genommen. Der Weinberg als solcher bleibt bestehen, und das heißt zugleich: Israel als solches bleibt bestehen. Aber es muss für die nächste Epoche der Heilsgeschichte einem anderen Volk, nämlich den Christusgläubigen, den Vortritt lassen. Der Gedankengang ist also ein ähnlicher wie in Mt 21,28-32. Dass Jesus mit der eschatologischen Annahme Israels rechnet, geht klar aus Mt 23,39 hervor. Paulus hat die Verkündigung Jesu vollkommen richtig interpretiert, wenn er sagt: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (Röm 11,29), und Israel müsse warten, „bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist“, dann aber werde „ganz Israel gerettet werden“ (Röm 11,25-26). Vers 44 enthält ein textkritisches Problem. Ist er ursrpünglich oder aus Lk 20,18 ins Matthäusevangelium eingedrungen? Da er in einer ansehnlichen Handschriftengruppe fehlt und anscheinend auch im Duktus von Mt 21,33ff gut fehlen könnte, liegt der Verdacht nahe, dass er sekundär hinzugesetzt wurde. Aber die „äußere Bezeugung ist … außerordentlich stark“, wie K. und B. Aland notieren,128 und so sprechen schon die äußeren Kriterien für seinen Verbleib. Gerade der Umstand, dass sich der Vers nicht ganz glatt in die Gedankengänge von Mt 21,33ff einfügt, kann ihn zusätzlich, gewissermaßen als lectio difficilior, empfehlen. Wir gehen hier von seiner Ursprünglichkeit aus, auch wenn noch „ein leichter Zweifel“ fortbesteht.129 Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen: Dieser Stein ist der in V. 42 erwähnte, also der Messias. Die Wendung ὁ πεσὼν ἐπὶ τὸν λίθον τοῦτον [ho pesōn epi ton lithon touton] ist nicht im Sinne Bauer-Alands zu verstehen: „Der Mensch fällt herunter … auf den Stein“,130 sondern im Sinne von Jes 8,14. Dort lesen wir von einem πρόσκομμα λίθον [ proskomma lithon], 125 Vgl. Strack-Billerbeck I 876. 126 Dass Mt 21,43 bei Markus und Lukas keine Parallele hat, ist noch lange kein Grund, den Vers als sekundär zu betrachten, Tasker 205f. 127 Fiedler a.a.O. 128 S. 241. 129 Mit K. und B. Aland a.a.O.; Jeremias, Gleichnisse, 75,3. Anders Fiedler 330,79; Carson 454; Sand 435. 130 Bauer-Aland 1327.

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das heißt einem „Stein, an dem man sich stößt, über den man stolpert“,131 nach unserem sprichwörtlichen Sprachgebrauch eben einem „Stein des Anstoßes“. Wem also der Messias zum Anstoß wird, der wird zerschellen (vgl. Röm 9,33; 1Petr 2,8 sowie Mt 11,6; 15,12), wörtlich: „der wird zerdrückt/zerquetscht werden“. Der Kampf gegen diesen Messias scheitert also. Umgekehrt: Die Feinde Gottes, gegen die der Messias kämpft, werden unterliegen. Sie wird er zermalmen (λικμήσει [likmēsei]132), wie unser Text sagt. Dort wird das Bild des Steines noch einmal aufgegriffen, der wie im Gebirge oder von der Stadtmauer auf jemanden fällt. Ohne Zweifel steht hier Dan 2,34f.44f im Hintergrund (LXX: λίθος … ἐπάταξε [lithos … epataxe], λίθον … συνηλόησε [lithon … synēloēse]). Den Hörern war also diese Welt sehr vertraut. Wie Flusser bemerkt: „Die damaligen gleichnisgewohnten Hörer hatten einen unmittelbaren Zugang zur stellvertretenden Bedeutung der Motive.“133 Zum Sieg des Messias über die Gottesfeinde vgl. PsSal 17f vonseiten der Pharisäer, die Rolle 1QM vonseiten Qumrans, schon im AT Gen 49,8ff; Ps 2; 118,15ff; Dan 2; dann christlich 1Kor 15,21ff; Offb 19,11ff. In Mt 21,44 verschränken sich die präsentische und die futurische (συνθλασθήσεται [synthlasthēsetai], λικμήσει [likmēsei]) Dimension. Der Kampf des Hohen Rates gegen den Messias Jesus wird scheitern, aber ebenso im Eschaton und im Endgericht der Anlauf der Gottesfeinde gegen den Christus. In der Formulierung sowohl bei Mt 21,44 als auch bei Lk 20,18 fällt auf, dass von „euch“ und „ihr“ nicht mehr die Rede ist. Es geht also um eine universale Feststellung. Interessant ist weiter, dass wie in V. 43 Daniel eine eminente Rolle spielt, wie dann auch später im Prozess (Mt 26,64). Jesu Worte sind aber keine israel-„feindlichen“ Worte, sondern eine ernste Mahnung zur Umkehr im Werben um sein Volk.134 In V. 45-46 berichtet Matthäus die Reaktion des Hohen Rates. Markus (12,12) und Lukas (20,19) stimmen im Wesentlichen damit überein. Und als die Hohenpriester und die Pharisäer seine Gleichnisse hörten, erkannten sie, dass er von ihnen sprach:135 In V. 23 waren „die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes“ als Vertreter des Hohen Rates genannt. Jetzt spricht Matthäus von den Hohenpriestern und Pharisäern. Sachlich macht das keinen Unterschied. Denn der Hohe Rat bestand aus allen drei Gruppen: „Hohenprie131 132 133 134

Bauer-Aland 1434. Bauer-Aland 963. Flusser 125. Schlatter 324: Jesus „versucht, sie zur Furcht Gottes zu bringen“; Carson 454: eine „warning“; die Bezeichnung „Drohruf “ (Schniewind 219) greift zu kurz. Dagegen bewertet Luz III 227 V. 44 negativ: seine Aussage gehöre „leider“ auch zu Mt 21,33ff. 135 Zu λέγει vgl. BDR § 324,2.

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stern“, „Ältesten“ und schriftgelehrten „Pharisäern“. Hatte es Jesus – wie wir annehmen – mit einer Delegation des Hohen Rates zu tun, dann mussten auch die Pharisäer in irgendeiner Weise beteiligt sein.136 Mt 21,45 klingt so, als wolle Matthäus die Angabe von V. 23 nun durch die Pharisäer ergänzen, was durch Mk 11,27 und Lk 20,1 nur bestätigt werden kann. Die schriftgelehrte Argumentation Jesu in Mt 21,33-44 musste ja gerade auch die Pharisäer berühren. Wann erkannten die Vertreter des Hohen Rates, dass er von ihnen sprach? Viele Kommentare setzen den Zeitpunkt schon bei V. 40 an, was wir oben – mit guten Gründen, wie wir meinen – abgelehnt haben. Wir können dieses ἔγνωσαν [egnōsan] nur auf das ἀρθήσεται ἀφ᾿ ὑμῶν [arthēsetai aph’ hymōn] (wird von euch genommen) in V. 43 beziehen. Von da an liegt die Aussage-Richtung der bisherigen Gleichnisse (Mt 21,28-32; 21,33-44 mit einer Fülle darin enthaltener Bildworte) für sie fest: Sie, die führende Schicht in Israel, die Repräsentanten des ganzen Volkes, waren mit ihrer Verweigerung der Anerkennung Jesu hier gemeint. Ist das gesagt, dann ruft die obige Feststellung erst recht das Nachdenken christlicher Hörer heraus. Wenn die Verweigerung der Christusnachfolge solche Konsequenzen hat, was ist dann mit der „inklusiven“ Christologie des modernen Christentums, die mit mehreren Christussen rechnet, in deren Schar Jesus nur einer unter mehreren ist? Was ist mit der These, Christus hätte ein solches Mahn- und Gerichtswort gar nicht sprechen dürfen?137 Und: Haben wir immer beachtet, dass der damalige Hohe Rat nicht „gegen Gott selbst in den offenen Kampf “ ziehen wollte,138 sondern meinte, er müsse das alles für den Gott Israels tun? Hatte nicht auch Paulus die Überzeugung, er täte Gott einen Dienst, wenn er die Gemeinde Jesu verfolgte? Es liegt eine unheimliche Tragik über dem Passionsgeschehen. Hätte nur der damalige Hohe Rat befolgt, was später Gamaliel sagte (Apg 5,38-39)! Der entscheidende Mangel war wohl, dass die Offenheit für Jesu Predigt und Handeln fehlte (Joh 10,37f ) und deshalb auch die von Jesus angebotene Probe (Joh 7,17) nicht gemacht wurde. Und sie hätten ihn gerne verhaftet, fürchteten jedoch die Menge, weil sie ihn für einen Propheten hielt (V. 46): Die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) hielt also noch zu Jesus. Vermutlich haben die galiläischen Festpilger den „harten Kern“ dieser Menge gebildet. Es ist typisch, dass bald darauf Petrus 136 Ins Spekulative gleitet Luz ab: Die Pharisäer seien „am Tod Jesu historisch ganz sicher unbeteiligt gewesen“, III 227. 137 Vgl. das „leider!“ bei Luz III 227. 138 So Schlatter 322.

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als Galiläer verdächtigt wird (Mt 26,69ff ). Immerhin bleibt erstaunlich, dass Jesus auch in Jerusalem einen solchen Rückhalt fand. Mt 21,46 ist ein indirekter Beleg dafür, dass Jesus schon früher in Jerusalem gewesen sein muss und daher Johannes mit den mehrfachen Reisen nach Jerusalem (Joh 2,13ff; 5,1ff; 7,1ff; 12,12ff ) Glaubwürdigkeit verdient. Jetzt war der Zeitpunkt für die Verhaftung noch nicht gekommen. Aber das Netz zieht sich über Jesus zusammen. Bald bricht seine „Stunde“ an (Mt 2,45). Dass man Jesus für einen Propheten hielt, wird in den Evangelien immer wieder ausgesprochen (Mt 16,14; 21,11; 26,68; Lk 7,16.39; 24,19; Joh 6,14). Es liegt in der Tat eine „tragic irony“139 darin, dass der Hohe Rat, der von der Gottesfurcht geleitet sein sollte, jetzt von der Menschenfurcht (sie fürchteten jedoch die Menge) bestimmt wird. Aber dies ist ein ehernes Gesetz der Geschichte: Wer Gott nicht fürchtet, muss die Menschen fürchten. Um gerecht zu sein, muss man allerdings feststellen, dass in dem aufgewühlten Jerusalem jener Tage mit seinen leicht entflammbaren Massen für den Hohen Rat eine echte Gefahr bestand, wenn er gegen Jesus vorging.140 Siehe auch Mt 14,5; 21,26.

IV Zusammenfassung 1. Carson nennt die Auslegung dieses Gleichnisses „a battleground for complex debate“.141 In der Tat fand Mt 21,33ff parr. eine hervorgehobene Aufmerksamkeit sowohl in den Kommentaren wie in der speziellen Gleichnisforschung. 2. Die Aufmerksamkeit gilt einerseits der formgeschichtlichen Fragestellung: Ist das Gleichnis von den bösen Weingärtnern ein „echtes“ Gleichnis im Sinne der historisch-kritischen Typologie oder haben die Evangelisten daraus eine Allegorie gemacht? Die klassische Alternative hat Adolf Jülicher (1857–1938) herausgearbeitet: „Nach der Theorie der Evangelisten sind die „Gleichnisse“ Allegorien, also uneigentliche … Rede, in Wirklichkeit sind sie … immer eigentliche Rede.“142 Ein rundes halbes Jahrhundert später ist es Joachim Jeremias, der noch einmal eine international renommierte Untersuchung über „Die Gleichnisse Jesu“ vorlegt.143 Für Jeremias hat Jülicher

139 140 141 142

Carson 454. Schlatter 325. Carson 451. Vgl. Riesner 301. Die Gleichnisreden Jesu, I, 1. Aufl., 1886, 2. Aufl. 1899; II, 1898. Daraus zitiert bei Kümmel, NT, 233. 143 In der 1. Aufl. 1947; 6. Aufl. 1962 (woraus wir zitieren).

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„nur die halbe Arbeit getan“.144 Er habe zwar den „Staub“ der „allegorischen Deutung“ abgewischt.145 Aber jetzt müsse man zum „ursprünglichen Sinn der Gleichnisse“ vordringen. Der liege nun nicht in der „religiösen Humanität“, sondern in „ihrer eschatologischen Wucht“.146 Auf dem Wege dahin befolgt Jeremias eine entschlossene „Entallegorisierung“.147 Auf das Weingärtnergleichnis angewandt: Weil es im Thomasevangelium in der schlichtesten, am wenigsten „allegorischen“ Form vorliegt, exegesiert Jeremias von diesem Ausgangspunkt her. Das Gleichnis endet dann mit Mk 12,9. Als sein Inhalt bleibt: „Ihr … Führer des Volkes“ habt euch Gott widersetzt, deshalb „wird Gottes Weinberg ‚anderen‘ gegeben“ (= den Armen).148 Die Verse 42-44 bei Matthäus haben nur sekundären Charakter, wodurch die christologische Aussage entscheidend verkürzt wird. Dagegen hat David Flusser entschieden eine andere Sicht der Dinge geltend gemacht (Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, 1. Teil, 1981). Seiner Meinung nach hat die mit Jülicher beginnende moderne Forschung „das ganze Problem der Allegorie in den Gleichnissen Jesu von einem falschen Winkel aus angepeilt“.149 In Wirklichkeit zielten die Gleichnisse ganz allgemein auf eine „Moral der Geschichte“ und insofern seien die Gleichnisse Jesu eben auch „Allegorien“.150 Mit anderen Worten: Es gibt keinen „garstigen Graben“ zwischen Gleichnis und Allegorie, im Grunde hat jedes Gleichnis ein allegorisches Potenzial. Im Blick auf die Gleichnisse Jesu sagt Flusser pointiert: „Wurden … die Gleichnisse Jesu nachträglich in den Evangelien allegorisiert?“ Mit Ausnahme von Mt 13,37b-40 wird man dies kaum behaupten können.151 Wir gewinnen von daher die Freiheit, einem Gleichnis auch seine allegorische Bedeutung zu belassen, ohne in den Zwang und „Staub“ der Allegorese zurückzufallen.152 3. Eng mit der Problematik der Allegorie verbunden sind in Mt 21,33ff parr. die Historizitätsfragen. Die historisch-kritische Exegese des letzten Jahrhunderts kam teilweise zu radikalen Urteilen. So erklärte R. Bultmann Mk 12,1-9 parr. kurzerhand zur „Gemeindebildung“, Mk 12,10f sei nur ein angehängtes

144 145 146 147 148 149 150 151 152

Jeremias, Gleichnisse, 15. A.a.O. 16. A.a.O. 16.15. Der Begriff bei Flusser 125. Jeremias a.a.O. 74. Flusser 121. A.a.O. A.a.O. 122. Grundsätzlich ebenso France 307f; Carson 451f.

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„polemisches Zitat“.153 Inzwischen beginnt man, solche Urteile zu korrigieren. So lesen wir bei Hengel-Schwemer: Unser Gleichnis sei „nicht, wie gerne behauptet wird, eine spätere allegorische Gemeindebildung“, sondern beleuchte „die letzte Auseinandersetzung Jesu in Jerusalem“.154 Vom Inhalt des Gleichnisses her hat sich uns nichts ergeben, was der Annahme der Historizität entgegenstünde. Zusammen mit Carson, France, Hengel-Schwemer, Riesner, Zahn, Schlatter, Flusser gehen wir davon aus, dass Mt 21,33-46 eine historische Begebenheit im Leben Jesu darstellt, und zwar am Eingang der Passion.155 4. Die Spitze des Gleichnisses und des Gesprächs, das es auslöst, liegt in der Christologie. Denn der Sohn ist es, der hier im Mittelpunkt steht. Luz schreibt, bei dieser Gelegenheit hätten die Pharisäer „zum ersten Mal aus Jesu eigenem Mund gehört, daß er Gottes Sohn (V. 37f ) ist“.156 Angesichts dessen, dass Jesus häufig von seinem „Vater im Himmel“ sprach, ist diese Aussage mindestens zweifelhaft. Aber dass Jesus in Mt 21,33ff parr. das zentrale Interesse auf den Sohn lenkt, daran kann man kaum zweifeln. Er tut dies im Wege prophetischer Aussagen über sein Geschick: den Tod, den er durch die bösen Weingärtner erleidet, seine Auferstehung, seine entscheidende Bedeutung als Stein im Heilsplan Gottes, und die Gründung eines neuen Gottesvolkes. Carson spricht von einer „messianic self-reference“.157 Dabei ist stets zu beachten, dass es Jesus um beides geht: die Warnung der Führer und des ganzen Volkes158 vor dem Gericht, und gleichzeitig die werbende Einladung in seine Nachfolge. 5. Unausweichlich wird durch Mt 21,33ff die Frage nach der Schuld gestellt. Wer ist schuld am Tod Jesu, Juden oder Römer? Hat man in früheren Jahrhunderten vor allem „die Juden“ dafür haftbar gemacht, so sind es jetzt vor allem die Römer. Unzählige Juden mussten sterben, weil man ihr Volk für schuldig erklärte. Heute neigt sich die Waage anders. Für Luz sind die Pharisäer „historisch ganz sicher unbeteiligt“ am Tod Jesu.159 Nach Fiedler haben „die Pharisäer mit dem Tod Jesu nichts zu tun“.160 Wenn Matthäus von einer 153 Bultmann, Gesch, 191. Noch Beare 430: „the fruit of early Christian hermeneutic“. 154 Hengel-Schwemer 564f. 155 Carson 451ff; France 307ff; Hengel-Schwemer a.a.O.; Riesner 301; Zahn 629ff; Schlatter 322ff; Flusser 74f.124ff. Sogar Luz III 219: eine „Grundschicht …, die auf Jesus zurückgeht“. 156 Luz III 228. 157 Carson 452. 158 Beides sollte man nicht gegeneinander ausspielen. 159 Luz III 227. 160 Fiedler 330.

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Beteiligung der Pharisäer spreche, dann „schiebt er ihnen die Schuld am Tod Jesu zu“161 – entgegen der historischen Wahrheit. Manchmal wundert man sich, wie die Ausleger nach zweitausend Jahren besser Bescheid wissen wollen als die Texte des Neuen Testaments. Von Mt 21,33ff aus ist Folgendes zu sagen: Unleugbar spricht Jesus hier von einer Schuld der damaligen Führer seines Volkes, und das Volk macht sich mitschuldig, wenn es ihnen folgt. Aber dreierlei bleibt zu beachten: 1) Es handelt sich nicht um eine Alleinschuld der damaligen Vertreter Israels, sondern auch die Römer werden schuldig (Mt 27,15ff ). 2) Der Weinberg wird von Gott nicht vernichtet, sondern erhalten und in andere Hände übergeben.162 Ebenso bleibt Israel bis zu Jesu Wiederkunft erhalten (Mt 23,39) und wir sollten uns nicht an ihm vergreifen. 3) Das Schuldurteil wird nicht pauschal über jeden einzelnen jüdischen Menschen gefällt, sondern lässt Raum dafür, dass viele Einzelne sich an den Messias Jesus anschließen. Das ist nach den Berichten der Apostelgeschichte auch der Fall gewesen (Apg 1,15; 2,41.47; 4,4; 6,1.7; 9,1ff.31; 15,5), und das geschah durch die ganze seitherige Geschichte hindurch bis in die Gegenwart. Im Übrigen ist das Hin- und Herwälzen von Schuld selbst ein Zeichen unserer Gefallenheit. Fazit: Die Schuld liegt in gleichem Maß bei Israel und den Römern = Heiden, so wie Jesus auch für beide starb (vgl. Eph 2,14ff; Gal 3,28).163 6. Hingewiesen sei auf das Fortwirken des Bildes vom Stein für den Messias in Apg 4,11; Röm 9,32f; 1Kor 3,11ff; 1Petr 2,4ff; Eph 2,20ff; Irenäus AdvHaer IV, 36,1f.

5.3 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl, 22,1-14

I Übersetzung 1 Und Jesus ergriff wieder das Wort und sagte zu ihnen in Gleichnissen: 2 Es verhält sich mit dem Reich Gottes wie mit einem König,164 der für seinen Sohn ein Hochzeitsfest veranstaltete. 3 Und er sandte seine Knechte, um die Eingeladenen zum Hochzeitsfest herbeizuholen, aber sie wollten nicht kommen. 4 Noch einmal sandte er andere Knechte mit dem Auf161 Fiedler 331. 162 Dies sieht Fiedler 332 richtig. 163 Es kann also keine Rede davon sein, dass nach Matthäus „das ganze Volk seine Erwählung“ verliere und dass er „einer der Väter der später dominierenden kirchlichen ‚Sukzessionstheorie‘“ sei (gegen Luz III 228). Luz sieht den Text von Mt 21,43f als „Schuld“ (III 228). Von wem? 164 Vgl. BDR § 242.

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trag: Sagt den Eingeladenen: Siehe, ich habe mein Mahl bereitet, meine Stiere und mein Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit! Kommt zum Hochzeitsfest! 5 Sie aber kümmerten sich nicht darum und gingen anderem nach, der eine auf seinen Acker, der andere seinem Handel. 6 Wieder andere nahmen seine Knechte fest, misshandelten und töteten sie. 7 Der König aber wurde zornig und schickte seine Truppen und ließ jene Mörder umbringen und ihre Stadt brannte er nieder. 8 Darauf sagt er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, die Eingeladenen aber waren es nicht wert. 9 So geht nun an die Ausgänge der Straßen und ladet zum Hochzeitsfest ein, wen ihr findet! 10 Und jene Knechte gingen hinaus auf die Straßen und brachten alle mit, die sie fanden, Böse wie Gute. Und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen. 11 Als aber der König hineinging, um sich die Gäste anzuschauen, sah er dort einen Mann, der kein Hochzeitsgewand trug. 12 Und er sagt zu ihm: Freund, wie bist du ohne Hochzeitsgewand hier hereingekommen? Er aber blieb stumm. 13 Da sagte der König zu den Dienern: Bindet ihm Füße und Hände und werft ihn hinaus in die Finsternis draußen! Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein. 14 Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.

II Struktur Bevor wir uns Einzelfragen zuwenden können, ist die Frage zu klären: Bildet – wie auch Alands Synopse vermuten lässt – Lk 14,15-24 den Parallelbericht zu Mt 22,1-14? Viele bejahen es. So nennt Luz Lk 14,15ff eine „Variante“ von Mt 22,114.165 Meist wird noch Logion 64 aus dem Thomasevangelium als dritte Variante hinzugenommen.166 Wäre es so, dann müsste die Überschrift wirklich „Gleichnis vom großen Abendmahl“ lauten.167 Auffallenderweise sind hier die moderen Übersetzungen vorsichtiger. Sie nennen Mt 22,1-14 das „Gleichnis vom Hochzeitsfest“.168 Sieht man genauer hin, dann stellt man folgende Unterschiede zwischen Mt 22,1-14 und Lk 14,15-24 fest: 1. Lukas 14 enthält in V. 15.19.20.21.24 Angaben, die bei Matthäus fehlen. 2. Umgekehrt fehlen die Verse 4.7.8.11165 Luz III 233. Ebenso Fiedler 333; Jeremias, Gleichnisse, 61ff; Flusser 31ff; HengelSchwemer 414; Beare 432ff; Schniewind 220; Theißen-Merz 242; Bultmann, Gesch, 189. 166 Luz a.a.O.; Jeremias a.a.O. 167 So Aland, Syn, 380; Jeremias, Gleichnisse, 175. 168 BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ. Aber auch Luz III 229; Flusser 37f.

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14 aus Matthäus bei Lukas ganz oder teilweise. 3. Bei Matthäus gehört das Gleichnis in die letzten Auseinandersetzungen Jesu in Jerusalem, bei Lukas in den Mittelteil seines Wirkens. 4. Bei Lukas ist Jesus selbst Gast in einem pharisäischen Haus, bei Matthäus spricht er im Tempel zu pharisäischen Gegnern. 5. Bei Lukas geht es um ein gesellschaftliches Abendmahl am Sabbat, bei Matthäus um ein Hochzeitsfest. 6. Mt 22,1ff spricht in durchsichtiger Bildsprache von einem „König“, einem „Sohn“ und einer „Hochzeit“, Lk 14,15ff dagegen von einem Reichen und seinem „Abendmahl“ (δεῖπνον [deipnon]). 7. In Mt 22,1ff gibt es Widerstand bis zum Mord gegenüber den Knechten, in Lk 14,15ff werden sie nur nicht ernst genommen. 8. Lk 14,15ff legt viel Gewicht auf die Entschuldigungen, Mt 22,1ff erwähnt sie nur nebenbei. 9. In Mt 22,1ff sorgt der König für den Untergang der zuerst Eingeladenen, in Lk 14,15ff steht nichts davon. 10. Bei Lk 14,15ff entfällt natürlich das Thema „Hochzeitsgewand“ ganz und gar. 11. In Mt 22,1ff haben wir ein Gerichtsgleichnis vor uns, das an die Repräsentanten Israels gerichtet ist, in Lk 14,15ff dagegen ein Gleichnis darüber, wer innerhalb Israels in den Genuss des Reiches Gottes kommen wird.169 Angesichts solcher Unterschiede lassen sich Mt 22,1ff und Lk 14,15ff nur durch Gewalt zu einem einzigen Gleichnis zusammenbiegen. Viel näherliegend ist die Annahme, dass Jesus bei zwei verschiedenen Gelegenheiten ein verwandtes Bildmaterial benutzt hat, um zwei verschiedene Gleichnisse zu bilden.170 Jedoch erhebt sich nun die Frage, ob nicht die Verse 1-10 ursprünglich ein selbstständiges Gleichnis darstellten, das später um ein zweites Gleichnis, nämlich die Verse 11-14 vom Hochzeitsgewand, erweitert wurde. Spricht nicht Matthäus selbst in 22,1 von Gleichnissen (Plural), um anzudeuten, dass in V. 2-14 zwei verschiedene Gleichnisse folgen? Eine Reihe von Forschern vertritt in der Tat die Auffassung, dass es sich um zwei verschiedene Gleichnisse – Hochzeitsmahl und Hochzeitsgewand – handle.171 Eine solche Auffassung bleibt möglich. Jedoch gehen wir in unserem Kommentar aufgrund der Personalidentität (derselbe König, dieselbe Hochzeit, dieselben Gäste) und des engen Verwobenseins der Verse (kein Neueinsatz in V. 11, aber deutlicher Abschluss mit V. 14) davon aus, dass Mt 22,1-14 ein einziges Gleichnis darstellt, allerdings mit einer Doppelspitze. Die erste Spitze liegt im Geschick der

169 Vgl. Maier II 200ff. 170 Ebenso Carson 455f; Zahn 635; France 311. 171 So Jeremias, Gleichnisse, 63.242; Bultmann, Gesch, 189.211f.

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göttlichen Einladung, die zweite in der Berechtigung der Teilnahme am Gottesreich.

III Einzelexegese ἀποκριθεὶς πάλιν [apokritheis palin] setzt sehr wahrscheinlich voraus, dass die Situation in V. 1 derjenigen von V. 23.33 entspricht. Das heißt, Jesus befindet sich immer noch im Tempelvorhof im Gespräch mit den Vertretern des Hohen Rates. Die Bezeichnung „drittes Gerichtsgleichnis“ ist also berechtigt. Das ἀποκριθείς [apokritheis] meint nicht, dass Jesus auf eine Frage Antwort gibt, sondern dass er das Wort ergreift. Auffällig ist der Plural παραβολαῖς [ parabolais], in Gleichnissen. Entweder bezieht sich dieser Plural auf die zwei Bilder, die in V. 2-10 einerseits und V. 11-14 andererseits vorliegen, oder es wird sein Redestil charakterisiert: „in Gleichnisform“, „im Gleichnisstil“.172 In V. 2 taucht das wohlbekannte „Inventar“ vieler Gleichnisse auf: der König = Gott (Mt 5,35; 18,23; Ps 10,16; 29,10; 47,8; 93,1; 95,3; 96,10; 97,1; 99,1.4; 146,10; 1Tim 1,17), das Hochzeitsfest (vgl. Mt 9,15; Joh 3,29) als Bild für die herrliche messianische Endzeit. Siehe auch Offb 19,7.8; 21,2.9. Die Einleitung Es verhält sich mit dem Reich Gottes wie mit … ist uns schon vertraut (Mt 13,24.31.33.44.45.47). Auf verwandte Züge in rabbinischen Gleichnissen hat David Flusser hingewiesen.173 Eine Diskussion eigener Art erhob sich unter der Fragestellung, ob Jesus selbst schon von Gott als einem König gesprochen habe.174 Theißen-Merz schreiben: „Jesus spricht nie von Gott als ‚König‘“.175 Angesichts der oben zitierten alttestamentlichen Belege, angesichts aber auch von Mt 5,35; 18,23; 22,2 ist eine solche Korrektur an Matthäus unglaubwürdig. Zum König und zum Hochzeitsfest tritt in V. 2 der Sohn. Auf ihm liegt in diesem dritten Gerichtsgleichnis kein besonderer Ton. Und dennoch ist seine Erwähnung bemerkenswert, weil sie den Hörern klarmacht, dass der König und sein Sohn = der Messias zusammengehören. Der Sohn verbindet zugleich das Hochzeitsmahl-Gleichnis mit dem Weingärtnergleichnis. Zum Vorstellungskreis von Mt 22,2 gehören außerdem: die Sorgfalt, mit der man seit alten Zeiten Hochzeitsfeste veranstaltete (Gen 29,22 LXX: ἐποίησεν γάμον [epoiēsen gamon]), die Pracht, mit der die Könige ihre Hochzeitsfeste feierten (Est 2,18 LXX: ὕψωσεν τοὺς γάμους Εσθηρ [hypsōsen tous gamous Esthēr]), die Verantwortung, die der Vater für das 172 Letzteres bei Luz III 239: „das Grundsätzliche an Jesu Parabelreden“. 173 Flusser 37f.66.124.298.304; 182ff. Zwei solcher Gleichnisse z.B. in b Schab 152b; 153a. Vgl. Hengel-Schwemer 414,41; Strack-Billerbeck I 878. 174 Verneinend Flusser 67; Theißen-Merz 250. 175 A.a.O.

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Hochzeitsmahl seines Sohnes trägt (Challa II, 7).176 Auch im Blick auf Mt 22,1ff gilt, was Ethelbert Stauffer von den messianischen Hochzeitsbildern Jesu sagt: „Jesus bewegt sich ganz in dem Vorstellungskreis seiner Volksgenossen.“177 Im Hintergrund steht schließlich auch die Verheißung vom eschatologischen Freudenmahl (Jes 25,6ff; Mt 8,11; Offb 19,7.9; 21,2.9).178 Und er sandte seine Knechte,179 um die Eingeladenen zum Hochzeitsfest herbeizuholen (V. 3): Bei größeren Festen wurden die Einladungen wiederholt.180 Der Anfang von V. 3 erinnert sofort an das vorausgehende Gleichnis (21,34.36). Wie dort ist V. 3 also transparent auf die Sendung der Propheten zu Israel hier (2Chron 24,19; Jer 7,13.25; 25,3; Sach 1,4ff ).181 Die Antwort fasst Jesus kurz zusammen: Aber sie wollten nicht kommen (καὶ οὐκ ἤθελον ἐλθεῖν [kai ouk ēthelon elthein]). Man vgl. das bald darauf folgende „und ihr habt nicht gewollt“ (καὶ οὐκ ἠθελήσατε [kai ouk ēthelēsate], 23,37).182 In aller Klarheit ergibt sich daraus, dass Jesus für das innere Gottesverhältnis die Prädestination ablehnt – ebenso wie Deut 30,15ff; Hes 18,1ff; 33,10ff; Jer 7,13; 25,3; Sach 1,4ff; Sir 15,11ff; P. Abot III, 19. Man hat das Verhalten der Eingeladenen als „Wahnwitzigkeit“ empfunden.183 Man muss aber immer wieder bedenken, dass Gleichnisse auch „pseudorealistische“184 Züge aufweisen, vor allem wenn die Deutung vorbereitet werden soll. Im Übrigen zeigt das Imperfekt ἤθελον [ēthelon], dass die Eingeladenen hartnäckig ablehnen und bei ihrer Ablehnung verbleiben.185 Jedoch wird die Tatsache nicht aufgehoben, dass der König die Betreffenden früher eingeladen hat (κεκλημένοι [keklēmenoi]!) und offenbar früher einmal Zusagen erhielt.186 Die nächste Einladung schildert Jesus noch ausführlicher. Offensichtlich will er das liebevolle Werben um die Gäste unterstreichen:187 Noch einmal sandte er andere Knechte mit dem Auftrag: Sagt den Eingeladenen: Sie176 Vgl. E. Stauffer, Art. γαμέω usw., ThWNT, I, 1933, 646ff; Strack-Billerbeck I 879; b Ber 31a. 177 A.a.O. 652. 178 Nach Flusser 182.184.186 ist Mt 22,2 „sekundär“: ohne überzeugende Begründung. 179 Die Übersetzung „Sklaven“ ist völlig unangebracht, Gegen Luz III 230ff; Schniewind 221. 180 Carson 456; Luz III 240; Schniewind 220; France 312; Strack-Billerbeck I 880. 181 Die Verwandtschaft zu den Rabbinen unterstreicht K. L. Schmidt, Art. καλέω usw., ThWNT, III, 1938, 492. Vgl. Strack-Billerbeck I 880. 182 Auch Joh 5,40. 183 Luz III 240 nach Jülicher; Jeremias, Gleichnisse, 177: „unwirklich“. 184 Flusser 125. 185 Carson, a.a.O. Vgl. BDR § 327. 186 France 312. Zum Thema Einladung vgl. b BQ 79b; Strack-Billerbeck I 880. 187 Eigenartig die Bewertung durch Luz III 240; „geradezu rührend“.

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he, ich habe mein Mahl bereitet, meine Stiere und mein Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit! Kommt zum Hochzeitsfest! (V. 4). Der Versanfang πάλιν ἀπέστειλεν ἄλλους δούλους [ palin apesteilen allous doulous] stimmt wörtlich mit dem Anfang von 22,36 überein. Das kann kein Zufall sein. Offenbar liebte Jesus als hervorragender Pädagoge und „meisterhafter Gleichniserzähler“188 die Wiederholung189 ebenso wie die Wiederverwendung von Bildern.190 Manches spricht dafür, dass Adressatenkreis, Ort und Zielrichtung Jesu bei den drei Gerichtsgleichnissen Mt 21,28–22,14 in der Tat gleich waren. Die Einladung von V. 3 wird also in V. 4 wiederholt, offenbar als letzte vor dem Fest gedacht (πάντα ἕτοιμα [ panta hetoima]!). Erstaunlicherweise bleiben die Angesprochenen Eingeladene, Gäste des Königs. Wie im alttestamentlichen Weinberggleichnis (Jes 5,1ff; vgl. Mt 21,33) hat der Gastgeber alles getan, was er tun konnte: Siehe, ich habe mein Mahl bereitet. In dieser Aussage stecken eine Reihe biblischer Anknüpfungen und Anspielungen. Schon das Verb ἑτοιμάζειν [hetoimazein], zurückgehend vermutlich auf hebr. ‫[ כּוּן‬kūn],191 ist ein charakteristischer Ausdruck für Gottes fürsorgliches Handeln in Schöpfung, Geschichte und Gericht.192 Sodann fasst sich im Mahl, das Gott bereitet, seine Einladung für die messianische Zeit zusammen (Jes 25,6; Mt 8,11; 26,29; Lk 14,15ff; 17,7; Offb 19,7.9).193 Zugleich hat das Wort vom Mahl aber auch eine bedrohliche Komponente, (vgl. Hes 39,4.17ff; Offb 19,17). Es deutet sich in Mt 22,4 eine zweite AussageEbene an: „Kommt zu meinem Freudenmahl, es sollte euch nicht zum Gerichtsmahl werden!“ Das Mahl wird hier griech. durch ἄριστον [ariston], nicht durch δεῖπνον [deipnon] (Lk 14,16), ausgedrückt. Es handelt sich also nicht um ein spezielles Abendessen, sondern um ein Frühstück (so der eigentliche Wortsinn) oder – viel wahrscheinlicher – ein Mittagessen oder eben eine Mahlzeit im allgemeinen Sinne.194 Um die Größe des Mahles zu unterstreichen, lässt der König ausrichten: Meine Stiere sind geschlachtet. Josephus gibt uns ein Beispiel für ein solches Festmahl. In der Zeit von Johannes Hyrkanus (135–105 v.Chr.) wurden als besondere Opfergabe an Antiochus Sidetes (Eusebes) „Stiere mit vergoldeten Hörnern“ gesandt.195 Zu den Stieren als 188 189 190 191 192 193 194 195

Flusser 220.303.304. Repetitio est mater studiorum. Vgl. Riesner 402ff. W. Grundmann, Art. ἕτοιμος usw., ThWNT, II, 1935, 702. Grundmann a.a.O. 702ff. Grundmann a.a.O. 703. Bauer-Aland 214. Ant XIII, 242. Rabbinische Beispiele b Ket 3b; 4a; Ker IV, 7. Vgl. Strack-Billerbeck I 881.

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wertvolle Opfertiere in der Tora vgl. Num 28–29. Die Wertschätzung der Gäste spiegelt sich also in der Schlachtung wertvoller Tiere. Neben die Stiere tritt das Mastvieh (τὰ σιτιστά [ta sitista]).196 σιτιστά ist neutestamentliches Hapaxlegomenon. Josephus stellt σιτιστοὺς βόας [sitistous boas] und νομάδας βόας [nomadas boas] nebeneinander,197 also gemästete Ochsen und Ochsen von der Weide. Offensichtlich sind die Erstgenannten fetter. Danach könnte das Mastvieh in Mt 22,4 fette, nicht auf der Weide großgezogene Ochsen bedeuten. Jedenfalls gibt der König das Beste, was er hat. In dem Begriff geschlachtet (τεθυμένα [tethymena]) fällt wieder die nahe Verwandtschaft mit der Kultsprache auf. Denn θύειν [thyein] heißt sowohl „schlachten“ als auch „opfern“.198 Außerdem gibt es einen sehr speziellen Bezug zur Einladung der Weisheit in Spr 9,2-5: „Sie hat ihr Vieh geschlachtet … und ihren Tisch bereitet und sandte ihre Knechte aus, zu rufen … Kommt, esst von meinem Brot …“ (LXX: ἔσφαξεν τὰ ἑαυτῆς θύματα … καὶ ἡτοιμάσατο τὴν ἑαυτῆς τράπεζαν· ἀπέστειλεν τοὺς ἑαυτῆς δούλους συγκαλούσα … Ἔλθατε φάγετε … [esphaxen ta heautēs thymata … kai hētoimasato tēn heautēs trapezan: apesteilen tous heautēs doulous synkalousa … Elthate phagete …]). Man kann sich kaum vorstellen, dass Jesus sein Mahlgleichnis in Mt 22,1ff ohne bewusste Bezugnahme auf Spr 9,1ff formuliert haben sollte. Ferner erinnert das es ist alles bereit! nicht umsonst an die Abendmahlsagende unserer Kirchen. Denn auch das Gleichnis vermittelt die Botschaft an die Gäste: „Es ist alles zu eurem Heil getan.“ Nur eins fehlt noch: ihr Kommen – „Kommt (δεῦτε [deute]) zum Hochzeitsfest!“ Die Reaktion der Gäste Sie aber kümmerten sich nicht darum (οἱ δὲ ἀμελήσαντες [hoi de amelēsantes], V. 5) steht in schreiendem Gegensatz zu der Sorgfalt, der Langmut und dem Werben des Königs. Das griech. ἀμελέω [ameleō] bedeutet sowohl sich nicht kümmern als auch „vernachlässigen“.199 Mit einem Wort: Anderes war ihnen wichtiger. Sie gingen anderem nach (ἀμελήσαντες ἀπῆλθον [amelēsantes apēlthon]), der eine auf seinen200 Acker, der andere seinem Handel: Landwirtschaft und Handel sind die beiden Haupterwerbsquellen Israels. So unmöglich uns das Ganze vorkommt, so darf man doch nicht vergessen, dass Entschuldigungen, ja sogar das Ablehnen von Einladungen im damaligen Judentum „nicht gerade selten“ waren.201 Als 196 197 198 199 200 201

Vgl. BDR § 112,1. Ant VIII, 40. Vgl. nur Josephus Bell I, 56: θύσας τῷ θεῷ. Bauer-Aland 746. Bauer-Aland 87. ἴδιος ist hier unbetont (= ἑαυτοῦ), BDR § 286,4. Strack-Billerbeck I 880.

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„Gepflogenheit in Jerusalem“ notiert z.B. b Sanh 23a: „sie setzten sich zur Tafel nur dann, wenn sie wussten, wer mit ihnen speist“.202 Man muss bei Mt 22,5 allerdings voraussetzen, dass die Königseinladung für sittenstrenge Gäste keinerlei Anstoß bot. Siehe auch Lk 14,18-20 mit der noch größeren Vielfalt von Entschuldigungen. Die weitere Aussage in V. 6 bedeutet nach modern-europäischer Auffassung sicher eine Übersteigerung:203 Wieder andere nahmen seine Knechte fest, misshandelten und töteten sie. Bei synchroner Betrachtung muss man ja wirklich fragen: Wie soll man sich während einer königlichen Einladungsaktion vorstellen, dass manche Boten (Knechte) getötet wurden? Wechselt man aber den Standort des Betrachters, dann ändern sich die Dinge. Denn bei diachroner Betrachtung der Dinge entdeckt man, dass in Israel tatsächlich Gottes Knechte, nämlich Propheten, verhaftet, misshandelt und getötet wurden. In der Sachaussage ist Mt 22,6 eng verwandt mit dem Bußgebet Neh 9,26: „sie [= die Israeliten] empörten sich gegen dich … und sie brachten deine Propheten um, die als Zeugen gegen sie auftraten, um sie zu dir zurückzuführen“ (vgl. Dan 9,6ff; Esr 9,5ff; dazu im NT Mt 23,29ff.37; Lk 13,33; Apg 7,52). Man vgl. 2Chron 30,15, wo Hiskias Boten, die zum Passa einluden, verlacht und verspottet wurden; die Festnahme Jeremias in Jer 26,1ff; 37ff; die Misshandlung Jeremias in Jer 19,14ff; die Tötung des Propheten Uria nach Jer 26,20ff und des Propheten Secharja nach 2Chron 24,20ff. Schon in Mt 21,35f hat Jesus diese Vorgänge angesprochen, die soeben durch die Hinrichtung des Täufers ergänzt wurden. Bezieht man Jesu Gleichnis auf die Geschichte Israels, dann stellt es keineswegs Unmögliches oder Unbegreifliches dar. Siehe auch 1Kön 19,14. Was am Ende mit den Einladungen passiert, sagt V. 7: Der König aber wurde zornig und schickte seine Truppen und ließ jene Mörder umbringen und ihre Stadt brannte er nieder. Noch immer ist der König die Hauptperson. Der Sohn, der in Mt 21,33-46 eine so wichtige Rolle spielte, tritt im Gleichnis vom Hochzeitsmahl nicht mehr auf. Es geht also um das Gottesverhältnis Israels. Zum Zorn204 des Königs vgl. 18,34. Wie der Täufer (Mt 3,7ff ) rechnet Jesus mit dem endzeitlichen Zorn Gottes (Mt 5,25f.29f; 7,2.23; 11,20ff; 12,31f; 13,30.39ff; 18,7ff.23ff; 21,40ff ). Wieder sträubt sich modern-europäisches Empfinden gegen die Aussagen und Bilder von V. 7. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der biblischen Geschichte. Schon ganz zu 202 Andere talmudische Aussagen: Ned VIII, 7. 203 Vgl. Luz III 241. Schniewind 220: „Züge …, die zum Gesamtbild des Gleichnisses nicht passen“; France 312: „beyond the bounds of real-life probability“. 204 ὠργίσθη ingressiver Aorist, BDR § 331.

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Anfang beschreibt Gen 19,24f, dass Gott Sodom und Gomorra wegen ihrer Gottlosigkeit verbrennt und die schuldige Einwohnerschaft umbringt. Später wendet sich Gottes Zorn gegen das gottlose Jerusalem, vernichtet es und lässt wiederum die schuldige Einwohnerschaft umkommen (2Chron 24,18; 36,17; Jer 25,8ff; 52,3ff ). In Offb 6,17; 11,18; 14,10; 16,1ff; 18,1ff wird Ähnliches für die Endzeit geschildert. Nichts also von dem, was Jesus in V. 7 sagt, ist seinen Hörern fremd: Gottes (des Königs) Zorn, das Schicken seiner Truppen (vgl. Jerusalems Untergang 587/6 v.Chr.), das umbringen jener Mörder (vgl. V. 6 und Mt 21,35-39), das Vorgehen gegen ihre Stadt, die ganz selbstverständlich zum König gehört, und ihr Niederbrennen. Wie groß die Furcht vor den Römern und vor einer Wiederholung der Katastrophe von 586 v.Chr. war, zeigt Joh 11,48.205 Aber gerade dies haben Israels damalige Führer und ihre Anhänger zu erwarten: Den Untergang Jerusalems analog zu den Geschehnissen der babylonischen Katastrophe im 6. Jh. v.Chr. Nun schlägt aber an dieser Stelle eine ganz andere Deutung herein. Eine große Zahl von Autoren betrachtet Mt 22,7 als ein vaticinium ex eventu, in dem auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. zurückgeblickt wird. Ja, Mt 22,7 wird geradzu Hauptstützpunkt für die These, dass Matthäus nicht vor 70 n.Chr. geschrieben sein könne und am besten in die Zeit ca. 80–100 n.Chr. gesetzt werde. Werner Georg Kümmel hat es in seiner „Einleitung in das Neue Testament“ klassisch formuliert: „Sicher führt auf eine Entstehung nach 70 der Zusatz zum Gleichnis vom Hochzeitsmahl 22,7.“206 Positiv ist bei solchen Urteilen die Bestätigung der Genauigkeit der Prophetie Jesu. Negativ zu bewerten ist die Ablehnung einer prophetischen Ansage aus rein dogmatischen Gründen. Wir haben keinen Grund, eine solche dem Evangelium fremde Betrachtungsweise einzunehmen.207 Ebenso wenig hat Bultmanns These, Mt 22,6f sei „Sicher … sekundäre Allegorese“, also nachträgliche Einfügung,208 Anspruch auf Zustimmung. Er hat sie nicht einmal in seiner Geschichte der synoptischen Tradition begründet, sondern nur behauptet. Die Textkritik gibt keinerlei Anlass für solche Vermutungen.209 Vielmehr wird die Weissagung von Mt 22,7 in Mt 23,38; 24,2 und Lk 19,43f bekräftigt. 205 Vgl. auch die rabbinischen Diskussionen, die Strack-Billerbeck erwähnen (I 881). 206 Einleitung in das Neue Testament, 21. Aufl., 1983, 90. Auch Hengel, Evglien, 326,980.331f; Luz III 242; Theißen-Merz 4-6. 207 Wie wir Carson 457, der sich auf Bo Reicke beruft; im Ergebnis auch Riesner 27f. 208 Bultmann, Gesch, 189.211f; auch Hengel a.a.O.; Jeremias, Gleichnisse, 29; TheißenMerz 303. 209 Vgl. Sand 437.

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Wer erwartet hat, dass das Hochzeitsmahl nun ausfallen müsse, wird in V. 8-10 eines Besseren belehrt. Darauf sagt der König zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, die Eingeladenen aber waren es nicht wert (V. 8). Nichts und niemand wird diesen König davon abbringen, seine Hochzeit zu seiner Zeit stattfinden zu lassen (Dan 2,21; Gal 4,4). Für uns Menschen bleibt die Frage: „Wer ist dabei? Wer ist es wert (ἄξιος [axios])? Siehe auch Apg 13,46. Nun sucht der König andere Gäste, die es wert sind. Aber er tut dies in einer überraschenden Richtung. Er sucht nicht die Eliten, die besonders Edlen oder Gebildeten. Sondern er geht in die entgegengesetzte Richtung: zu den weit Entfernten. Denn er befiehlt: So geht nun an die Ausgänge der Straßen und ladet zum Hochzeitsfest ein, wen ihr findet! (V. 9). Philologisch schwierig ist das Wort, das wir mit Ausgänge übersetzt haben.210 Das griech. διέξοδος [diexodos] enthält zwei Grundbedeutungen: 1) den Endpunkt eines Weges / einer Straße, 2) den Durchgang/Ausgang einer Straße durch die Stadtmauer oder durch das Stadttor, wo also die städtische Straße endet und die Landstraße beginnt. Die gelegentlichen Übersetzungen „Kreuzungen“211 oder „Scheidewege“ lassen sich offenbar nicht belegen.212 Ein Straßen-„Endpunkt“ passt weniger gut in das Bild der Verse 8ff als ein Straßen-Ausgang mit Fortsetzung in einer Landstraße.213 Aber die philologischen Differenzen können den Gesamtsinn nicht trüben. Eines bleibt klar: Die Einladung geht jetzt an Menschen, die weit vom bisherigen Kreis der Eingeladenen entfernt sind. Und sie geht an bisher überhaupt nicht Wert-geschätzte: Ladet ein, „ruft herbei“, „beruft“ (καλέσατε [kalesate]), wen ihr (wie viele ihr; alle, welche ihr, ὅσους ἐὰν εὕρητε [hosous ean heurēte]) findet! Jetzt entscheidet nur eines: die Annahme der Einladung. Die überraschende Einladung von V. 9 ist erfolgreich: Und jene Knechte gingen hinaus auf die Straßen und brachten alle mit, die sie fanden, Böse wie Gute. Und der Hochzeitssaal214 füllte sich mit Gästen (V 10). Von alleine stellen sich die Gäste nicht ein. Man muss sie holen. Es ist einer der schlimmsten kirchlichen Irrtümer, dass die Menschen „in die Kirche kommen“ müssten. Nach der Reformation hat man das sogar mit Polizeiverordnungen durchgesetzt. Aber in V. 9f sind πορεύεσθαι [ poreuesthai], ἐξέρχεσθαι [exerchesthai], συνάγειν [synagein] und εὑρίσκειν [heuriskein] die tragenden Verben. Sie erinnern an den Missionsbefehl in Mt 28,19. Alle, die sie fanden 210 211 212 213 214

Vgl. W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 112f; Bauer-Aland 390. Strack-Billerbeck I 881: „Kreuzwege“. Michaelis a.a.O. 112. Dagegen Carson 457. Der „Endpunkt“ bleibt freilich möglich. Dafür Luz III 243. Wie wir Fiedler 333. Bauer-Aland 303.

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werden unterschiedslos mitgebracht. Ähnliches steckt im Fischnetzgleichnis Mt 13,47ff. Das Sortieren beginnt erst später (V. 11ff ). So hat es Jesus seinen Jüngern wieder und wieder eingeschärft (Mt 13,36ff.47ff; Lk 14,15ff ). Matthäus schreibt von Bösen und Guten, die mitgebracht wurden. Das erinnert an τὰ καλά [ta kala] und τὰ σαπρά [ta sapra] in Mt 13,48, aber auch die Bösen und Guten, denen in Mt 5,45 die große Güte Gottes gilt. Sie alle dürfen zunächst unterschiedslos kommen. Erstaunlich Jesu Zuversicht: Er rechnet damit, dass der Hochzeitssaal sich mit Gästen (wörtlicher noch: mit zu Tische Liegenden / zum Mahl Gelagerten215) füllt. Aus nordatlantischer moderner Perspektive, in der die Kirchen sich leeren, abgerissen oder an andere Religionsgemeinschaften verkauft werden, klingt das eigenartig. Aber so zuversichtlich blieb Jesus während seines ganzen Dienstes, und die Missionsgeschichte hat ihm recht gegeben. Mit V. 10 ist endgültig klar, was Jesus mit dem Gleichnis meinte. Es schildert die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Geschichte des Reiches Gottes (V. 2): Gott lädt Israel zur messianischen Freudenzeit ein, und zwar durch seine Knechte, die Propheten. Trotz Unwillen, Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit setzt er mit unbegreiflicher Liebe und Geduld seine Einladung fort (V. 3-6). Als alles nichts fruchtet, führt er Israel ins Gericht wie schon einmal in der Zeit der Babylonier: Hier in V. 7 beginnt Jesus die Zukunft Israels zu schildern. Das Hochzeitsfest wird trotz der Abweisung durch Israel gefeiert (V. 8), was durch das Wirken des Messias Jesus geschieht. Danach werden die bisher Fernstehenden, nämlich die Heidenvölker, eingeladen, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Würdigkeit (V. 9-10, vgl. Eph 2,17: „die ihr ferne wart“, τοῖς μακράν [tois makran]). Deren Einladung durch Apostel und Missionare ist nicht umsonst. Gottes Haus (der Hochzeitssaal) wird voll (vgl. Lk 14,21; Eph 2,19ff ). Man sollte hier nicht von einer „Allegorisierung“ des Gleichnisses sprechen.216 Vielmehr liegt in jedem Gleichnis ein allegorisches Potenzial, das nicht erst durch äußere Bearbeitung hinzugefügt werden muss. So auch hier in Mt 22,1ff, wobei freilich dieses allegorische Potenzial groß ist. Zurückhaltung ist auch geboten gegenüber Charakterisierungen wie „Abriß der Heilsgeschichte“217 oder ähnlichen. Denn Mt 22,1-14 ist eindeutig konzentriert auf das Thema „Hochzeitsfest“, das heißt auf das Kommen des Messias, freilich heilsgeschichtlich gerahmt durch Propheten und Apostel. Um es zugespitzt zu 215 Bauer-Aland 109. 216 Gegen Jeremias, Gleichnisse, 64ff. 217 Gegen Jeremias a.a.O. 66.

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sagen: Mt 22,1-14 ist im Grunde ein christologisches Gleichnis, wie es auf jene Situation im Tempelvorhof passt. Die Verse 11-14 bilden die zweite Spitze des Gleichnisses. Wer ist würdig, am Hochzeitsmahl des Messias teilzunehmen (vgl. Mt 9,15; Joh 3,29; Offb 19,14)? Als aber der König hineinging, um sich die Gäste anzuschauen, sah er dort einen Mann, der kein Hochzeitsgewand trug (V. 11): Der König betritt den Hochzeitssaal, wenn die Gäste versammelt sind.218 Er ist gespannt auf diese Gäste, die ja von seinen Knechten aus allen Winkeln zusammengebracht wurden. Im griech. θεάομαι [theaomai] vereinigen sich die Bedeutungen „sehen“, „sehen nach“, „besuchen“, auch prüfendes anschauen.219 Nun greift Jesus eine Begegnung heraus, weil sie für ihn viele andere repräsentiert: Er sah dort (hier: εἶδεν [eiden]) einen Mann (oder: Menschen), der kein Hochzeitsgewand trug. Man darf hier nicht fragen, warum gerade dieser eine Mann angesprochen wird, warum ausgerechnet er kein Hochzeitsgewand trug, woher es denn die anderen Gäste hatten, die doch ebenfalls von der Straße kamen (V. 10), usw. Es gehört zur „Gleichnispredigt Jesu“ – und überhaupt zur Gleichnispredigt!220 – „daß seine Gleichnisse … ungewöhnliche Züge aufweisen, die die Aufmerksamkeit der Hörer erregen sollen und auf denen meistens ein besonderer Nachdruck liegt“.221 In Kurzform lautet also Jesu Botschaft in V. 11: Zwar kommen die Gäste von der Straße, aber im Endgericht benötigten sie ein Hochzeitsgewand, um vor Gott, dem König, zu bestehen. Offensichtlich nimmt Jesus hier Jes 61,10 auf:222 „Der HERR hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.“223 Damit ist auch das Rätsel gelöst, wie ein von der Straße Aufgelesener zu einem Hochzeitsgewand kommen soll: Man bekommt es vom König geschenkt, muss es allerdings auch benutzen.224 Die Ausleger haben eine Fülle rabbinischer Parallelen zusammengetragen.225 Bekannt ist ein Gleichnis aus b Schab 152b, das mit den Worten beginnt: „Einst verteilte ein König aus

218 219 220 221 222 223 224

Vgl. Luz III 244. Bauer-Aland 717f. Flusser 31ff.119ff. Jeremias, Gleichnisse, 25. So auch Jeremias, Gleichnisse, 187f. Vgl. J. Gamberoni, Art. ‫ָלֵבשׁ‬, ThWAT, IV, 1984, 478. Jeremias, Gleichnisse, 186 deutet es auf „ein reingewaschenes Kleid“; ebenso France 313. 225 Strack-Billerbeck I 882; Flusser 31.38.67.299.

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Fleisch und Blut unter seine Diener königliche Gewänder …“226 Jesus konnte also von der eschatologischen Verkündigung Jesajas wie von den rabbinischen Gleichniserzählern her mit einem unmittelbaren Verständnis seiner Hörer rechnen. Im NT vgl. man noch Offb 19,8, im AT die Vorgänge bei Jehu 2Kön 10,22ff. Fazit: Es geht beim Hochzeitsgewand um die Gerechtigkeit, die Gott jedem der Gäste schenken will, die aber von diesen angenommen werden muss.227 Hätte der König die Auffassung vieler „moderner“ Christen geteilt, dass letztlich „jeder in den Himmel komme“, dann hätte er auch den Mann ohne Hochzeitsgewand mit einer lässigen Handbewegung durchgewunken. Jesus erzählt aber das Gegenteil: Und er sagt zu ihm: Freund, wie bist du ohne Hochzeitsgewand hier hereingekommen? Er aber blieb stumm (V. 12). Das Präsens er sagt unterstreicht die Bedeutung des Vorgangs. Der König geht nicht einfach über das Beobachtete hinweg, sondern zieht Konsequenzen. Freund (ἑταῖρε [hetaire]) ist wie in Mt 20,13; 26,50 eine ernste und tief eindringliche Anrede.228 Sie setzt ein Gemeinschaftsverhältnis voraus, das vorher bestanden hat. Darum ist hier der Punkt, an dem mit Recht davon gesprochen werden kann, dass es sich um Glieder der Gemeinde Jesu handelt.229 Allerdings darf man das nicht auf „Heidenchristen“ verengen, da sich ja die Gemeinde der Zukunft sowohl aus Heidenchristen wie aus Judenchristen zusammensetzen wird. In der Frage des Königs liegt auch Verwunderung: wie (πῶς [ pōs]) bist du ohne Hochzeitsgewand hier (ὧδε [hōde]) hereingekommen? Es könnte und sollte so etwas ja gar nicht vorkommen! Die letzten drei griechischen Worte des Verses wirken wie die Signale einer Katastrophe: Er aber blieb stumm. Griech. ἐφιμώθη [ephimōthē] heißt auch: „Er wurde zum Schweigen gebracht“, „ihm wurde der Mund verschlossen“.230 Das Gewicht seiner Schuld, das Unrecht, das er mit seiner schmutzigen Kleidung dem König, seinem Sohn, dem Hochzeitsfest angetan hat, die Unentschuldbarkeit seines Verhaltens, verschließen ihm den Mund.231 Und doch – lag in der Tatsache, dass der König mit ihm spricht, bevor er verurteilt wird, nicht doch eine Art letzter Chance? Man wird diese Frage offenlassen müssen, obwohl 226 Vgl. ein verwandtes Gleichnis in b Schab 153a, das von Jochanan b. Zakkaj stammt. 227 Vgl. auch Schniewind 221; Zahn 638f. 228 Luz III 244 hört das Gegenteil heraus: „freundlich herablassend“. Aber ob sich die Urgemeinde Gott jemals als „freundlich herablassend“ vorgestellt hat? Besser Jeremias, Gleichnisse, 137: „gütig und vorwurfsvoll zugleich“. Dagegen Davies-Allison III 205: „ironic“. 229 Fiedler 334. 230 Bauer-Aland 1718. 231 Ähnlich Carson 457. Davies-Allison III 205: „silence implies no excuses“.

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man überlegen kann, weshalb er nicht in den Ruf des Zöllners ausbricht: „Sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13). Offenbar will uns Jesus hier aber sagen: Es gibt ein Zuspät. Mt 22,12 steht nahe bei Hi 9,3: „Er kann ihm auf tausend nicht eins antworten.“232 Erst nach der eindringlichen Frage von V. 12, die keine Antwort findet – und an die Paradiesesgeschichte von Gen 3,8ff erinnert – ergeht das Urteil in V. 13. Dieses Urteil steht im Mittelpunkt der Kritik vieler Kommentare. Luz nennt es „hart und kompromißlos“.233 Fiedler erblickt darin eine „scharfe(n) Strafandrohung“, die eher „kontraproduktiv“ sei.234 Für Sand ist es „überhart“.235 Da sagte der König zu den Dienern: Bindet ihm Füße und Hände und werft ihn hinaus in die Finsternis draußen! Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein: Der Befehl ergeht an die Diener, διάκονοι [diakonoi]. Diener sind etwas anderes als die „Knechte“ (V. 3ff ). Mit Davies-Allison muss man sie in eins setzen mit den Gerichtsengeln von Mt 13,39ff.49f. Binden vollzieht man an aggressiven Besessenen (Mk 5,3), es gehört zur Beisetzung von Verstorbenen, vor allem aber bindet man Gefangene236 (Mt 14,3; 27,2; Apg 9,14; 21,11ff; 22,5). Das binden von Händen und Füßen ist die Sicherstellung, dass der Gefangene nicht mehr entrinnen kann (Apg 21,11), darüber hinaus ist es schimpflich (Apg 22,29). Wer die Würde des Königs durch sein schmutziges Erscheinen zur Hochzeit beleidigt hat, verliert nun selbst seine Würde und kann der Strafe nicht mehr entrinnen. Es geht nicht nur um eine „privation of power“,237 sondern um eine schwere Strafe, die allerdings dem gerechten Talionsprinzip entspricht. Bemerkenswert ist, dass nach dem äthiopischen Henochbuch „der erste der gefallenen Engel“,238 nämlich Asasel (Lev 16,8ff ), ebenfalls an Händen und Füßen gebunden und in die Finsternis geworfen wird (äthHen 10,4; vgl. 88,1). Möglicherweise waren diese Inhalte des Henochbuches bei Jesus und seinen Hörern bekannt,239 sodass Jesus hier in Anlehnung an diese Tradition formulierte. Noch näher liegt wohl das Vorbild von Zef 1,7f.240 Eine Erzählung in b Git 55b/56a zeigt,

232 Ganz anders wieder Luz a.a.O.: Der Mann hätte „gute Gründe“, um dem König zu widersprechen! 233 Luz III 244. 234 Fiedler 335. 235 Sand 439. 236 Vgl. Bauer-Aland 355f. 237 So Davies-Allison a.a.O. 238 Uhlig 521. 239 Vgl. Uhlig 682 und Jud 6.13.14; 2Petr 2,4; Davies-Allison III 206. 240 Vgl. Davies-Allison III 205.

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wie schimpflich es war, bei einem Gastmahl hinausgeworfen zu werden.241 Hier wird allerdings der Rahmen solcher irdischen Ereignisse weit überschritten. Mit den Worten werft ihn hinaus in die Finsternis draußen!242 Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein wiederholt Jesus, was er schon in Mt 8,12 gesagt hatte243 (vgl. Ps 112,10; Weish 17,2; Mt 13,42.50; 24,51; 25,30). Mt 22,13 ist also ein eschatologischer Warnspruch. Davies-Allison sagen kurz und knapp: „the ‚outer darkness‘ is hell.“244 Die Parallelen im äthiopischen Henochbuch raten uns hier jedoch zur Vorsicht. Denn dort ist das Binden und Hinauswerfen in die Finsternis ein vorläufiger Akt, dem erst später das Endgericht im Vollsinne folgt (äthHen 10,4f.12ff; 88,1). Nicht anders ist es in Lk 16,19ff; 2Petr 2,4; Jud 6.9.13. Wir können also nicht eindeutig entscheiden, ob Jesus in Mt 22,13 die Verwahrung vor dem Endgericht oder schon das Endgericht selbst meint. Vielleicht sollen wir als Hörer des Gleichnisses auch eine solche Entscheidung gar nicht treffen, sondern uns mit der Erkenntnis begnügen: Wer ohne die Kleider der Gerechtigkeit zum messianischen Freudenfest kommt, ist unrettbar verloren. Und noch eins sagt die Wendung vom Weinen und Zähneknirschen: Der Verurteilte von V. 11-13 ist dort nicht allein, vielmehr sind es unbestimmt viele, deren Weinen und Zähneknirschen vernehmbar wird. Vers 14 ist erneut ein Warnspruch, in Form einer allgemeinen, weisheitlichen Sentenz. Ob ihn Jesus selbst an das Ende von Mt 22,1ff gesetzt hat, oder erst Matthäus, kann offenbleiben. Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt: Oft vergleicht man damit 4Esr 8,3: „Viele sind zwar geschaffen, aber nur wenige werden gerettet“ (s. auch 4Esr 8,1.41; 7,47; 9,15).245 Doch das 4. Esrabuch ist „um 100 n.Chr. entstanden“246 und kommt damit als Quelle für Mt 22,14 nicht infrage. Immerhin zeigt 4Esr 8,1ff, dass Jesus mit seinen Aussagen durchaus Überlegungen der damaligen Schriftgelehrten ansprechen konnte. Der Sinn von V. 13 ist klar: „Zur Gemeinde gerufen zu sein bedeutet noch längst nicht, gerettet zu sein.“247 Jesus hat im Lauf seiner Lehrtätigkeit immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen (vgl. Mt 7,21ff; 13,41ff.47ff;

241 242 243 244 245

Strack-Billerbeck I 882. Oder mit BDR § 62,3 „in die äußerste Finsternis“. Davies-Allison III 205. A.a.O. Ebenso Beare 436. Vgl. Strack-Billerbeck I 883; Davies-Allison III 206. Im rabbinischen Bereich vgl. b Men 29b. 246 Schreiner 301. 247 Luz III 246.

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18,15ff ).248 Das bedeutet zugleich: Die Bekehrung genügt nicht, sie muss vielmehr in die Praxis der Nachfolge münden. Mit den Worten des Jakobus: „der Mensch wird durch Werke gerecht, nicht durch Glauben allein“ (μόνον [monon], was in Röm 3,28 fehlt), Jak 2,24. Es empfiehlt sich jedoch nicht, unsere abendländische „Erwählungs“-Thematik in Mt 22,14 einzutragen.249 Auserwählt, ἐκλεκτός [eklektos], hat hier den Sinn: „Gläubige, die am Ende gerettet werden.“250 Karl Ludwig Schmidt empfand Mt 22,14 als crux interpretum und ging bei seiner Erklärung davon aus, dass κλητός [klētos] und ἐκλεκτός [eklektos] „als Worte und Begriffe von gleicher Bedeutung zu verstehen“ sind.251 So weit braucht man aber nicht zu gehen. Denn κλητοί [klētoi] (berufen) hat seinen Hintergrund im καλέσατε [kalesate] (ladet ein) von V. 9, heißt also zur Gottesherrschaft „Eingeladene“, „Gerufene“, während ἐκλεκτοί [eklektoi] „die Endauslese Gottes“,252 die endgültig Geretteten sind. Ebenso wenig wie die Lehre von einem vorzeitlichen Beschluss Gottes sollte die Lehre von Taufe und Taufkleid mit Mt 22,14 vermengt werden, wogegen sich vor allem Zahn gewandt hat.253 Die endgültige Rettung in Mt 22,14 hängt allein daran, ob die Eingeladenen „gehorchten“,254 wie schon Irenäus betonte.255

IV Zusammenfassung 1. Das dritte „Gerichtsgleichnis“ in Mt 22,1-14 (nach 21,28-32 und 21,3346) enthüllt sich eher als Werbegleichnis in fast verzweifelter Situation und als Prophetie mit weiter Perspektive. 2. Die scharfe Trennung zwischen Allegorie und Gleichnis, die einst Joachim Jeremias forderte und gegen die David Flusser eindrücklich protestierte,256 die aber immer noch für Davies-Allison beispielsweise eine Rolle spielt,257 wird gerade in Mt 22,1-14 fragwürdig. Unseres Erachtens hat jedes 248 Vgl. Kahlefeld 113. 249 Eine diesbezügliche Warnung auch bei Davies-Allison III 207; ähnlich Bauer-Aland 488f; Zahn 640; France 314. 250 Vgl. Mt 24,22. 251 Im Art. καλέω usw., ThWNT, III, 1938, 496. 252 So G. Schrenk im Art. λέγω usw., ThWNT, IV, 1942, 191. 253 Zahn 639. 254 Falsch ist es, aus Mt 22,14 abzulesen, dass nur ganz wenige verloren gehen. So aber Beare 437: „only one is cast out“. Richtig France 314: „representative of many“. Ebenso Zahn 640; Schlatter 329; Luz III 246; Fiedler 335; Davies-Allison III 207; Kahlefeld 114. 255 AdvHaer IV, 39, 3. 256 Flusser 119ff. 257 Davies-Allison 205.

5. Die Gerichtsgleichnisse Jesu, 21,28–22,14

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Gleichnis (Maschal) ein allegorisches Potenzial, das einmal stärker und einmal schwächer ausgedrückt wird. Von da her ist auch die Urteilsbildung, was primär und was „sekundär“, was passend und was „unpassend“ sei,258 für die späten Ausleger des 20. und 21. Jahrhunderts ein äußerst schwieriges Unternehmen. Es leuchtet gerade bei Mt 22,1-14 wenig ein. Denn das Sammeln der Gäste (V. 9f ), verbunden mit der Frage, wer des Hochzeitsmahles würdig sei (V. 8), ruft geradezu nach der Fortsetzung des Gleichnisses in V. 11ff. 3. Verfehlt ist es, aus Mt 22,7 ein Argument für die Datierung des Evangeliums zu machen. Denn die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier verbunden mit den prophetischen Androhungen der Mose-Tora (Lev 26; Deut 28) lieferte genug Anschauungsmaterial, um die Ankündigung in V. 7 zu formulieren. 4. Die Einzelexegese hat bestätigt, dass es ratsam ist, Mt 22,1-14 nicht mit Lk 14,15ff zu vermengen.259 5. Theologisch herausfordernd bleibt die Schärfe des königlichen Urteils in V. 7 einerseits und in V. 13 andererseits. Ablehnende Stimmen haben wir bei der Auslegung von V. 13 notiert. Im Grunde gibt es nur zwei Wege: entweder die theologische Zurückweisung bzw. Korrektur dieses Urteils260 oder seine Anerkennung. Der erstgenannte Weg bedeutet den Widerspruch gegen die gesamte alttestamentliche und neutestamentliche Tradition zugunsten eines modernen, selbst entworfenen Gottesbildes. Der zweite Weg bedeutet, die Gottesbotschaft von AT und NT in allen ihren Teilen zu hören: den König wahrzunehmen, der mit unbegreiflicher Liebe und Sorgfalt immer wieder einlädt und wirbt, sogar jetzt noch durch Jesus kurz vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer; der aber zugleich diejenigen, die den Weg der Gerechtigkeit wieder und wieder ablehnen, in vollkommener Gerechtigkeit verurteilt. In einem muss man Hengel-Schwemer261 und anderen recht geben: Matthäus, der als Lehrer unter den Evangelisten dem Weg der Gerechtigkeit besonders verpflichtet war, hat tatsächlich „Gottes drohendes Gerichtsurteil“ mehr als die anderen Evangelisten in den Vordergrund gestellt. 6. Eine weitere theologische Herausforderung liegt in V. 14: Lehrt dieser Vers nicht die Prädestination? Aufgrund des Kontextes kann die Antwort nur lauten: Nein. Siehe auch V. 5-6.8-9. Entscheidend ist der Gehorsam, nicht ein „vorzeitlicher Beschluß Gottes“.262 In der Formulierung von Davies-Alli258 259 260 261 262

Gegen Schniewind 220. Die cross views bei J. Jeremias sind eher verwirrend als erhellend. So Luz III 244.249f; Fiedler 335; Sand 439. Vgl. dort S. 234.335.444. Zahn 640.

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son:263 „individuals make their own choices“. Von Irenäus an herrscht hier breiter Konsens.264 7. Klar ist, dass ab V. 11 die Kirche im Fokus ist. Jesus gründet sie bewusst als Gemeinde des Messias (Mt 16,15ff; 18,1ff; 23,34; 24,29ff; 25,14ff; 28,9ff ). Weil er sie prophetisch voraussieht, kann er von ihrer Zukunft sprechen, auch von der im Endgericht erfolgenden Scheidung zwischen wahren und bloß scheinbaren Gemeindegliedern (Mt 7,21ff; 13,36ff.47ff; 22,11ff ).265 Hier wird die Verantwortung des Auslegers und des Predigers sichtbar: Helfen zum Heil oder Produktion eines eigenen Gottesbildes?

6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46 Ab V. 15 schildert das 22. Kapitel vier Gespräche Jesu mit seinen schriftgelehrten Gegnern in Jerusalem. Gemeinhin nennt man sie „Streitgespräche“.1 Andere Benennungen sind „Fragen“ oder „Questions“,2 oder auch „Disputationen“.3 Eduard Schweizer hat jedenfalls recht mit seiner Feststellung: Die vier „Streitgespräche“ bilden für Matthäus „eine Einheit“.4 In der Benennung „Fragen“ oder „Streitgespräche“ liegt jedoch eine Gefahr. Es ist die Gefahr, den Charakter und die Zielrichtung dieser „Gespräche“ zu verkennen. Über die Situation schriftgelehrter Unterhaltung sind wir ja längst hinaus. Das, worum es in Mt 22,15ff geht, ist die Fortsetzung eines Verhörs, das in Mt 21,23 begonnen hat und das zielgerichtet auf die Verurteilung hin geführt wird. Im Grunde stand dieses Urteil für die Mehrheitsfraktionen im Hohen Rat schon vor der abschließenden Verhandlung fest (Mt 12,14; 26,1-5; Joh 11,47-53).

6.1 Die Frage der Steuer („Zinsgroschen“), 22,15-22

I Übersetzung 15 Darauf gingen die Pharisäer hin und fassten einen Beschluss, dass sie ihn durch eine Aussage in die Falle locken wollten. 16 Und sie senden ihre Jünger zusammen mit den Herodianern zu ihm. Die sagten zu ihm: Rab263 III 207. 264 Irenäus AdvHaer IV, 39,3; Zahn a.a.O.; Kahlefeld 113f; Davies-Allison a.a.O.; Fiedler 335; France 314; Jeremias, Gleichnisse, 186ff; Luz III 246; Schlatter 327ff. 265 Jeremias, Gleichnisse, 224; Davies-Allison III 208; Beare 436. 1 Luz III 251; Riesner 59; Schweizer NTD 1976, 276; Sand 440. 2 Bultmann, Gesch, 25; Schniewind 222f; Beare 437; Tasker 209; France 314ff. 3 Zahn 640. 4 Schweizer a.a.O.

6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46

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bi, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrst und nach niemand fragst.5 Denn du richtest dich nicht nach den Menschen. 17 Sage uns nun: Was meinst du? Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? 18 Jesus aber erkannte ihre Bosheit und sagte: Warum versucht ihr mich, ihr Heuchler? 19 Zeigt mir die Steuermünze! Da brachten sie ihm einen Denar. 20 Und er sagt zu ihnen: Wessen ist dieses Bild und die Aufschrift? 21 Sie sagen zu ihm: Des Kaisers. Darauf sagt er zu ihnen: Dann gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. 22 Und sie staunten, als sie das hörten, und ließen ihn in Ruhe und gingen davon.

II Struktur Für die ersten drei Gespräche ist es typisch, dass sie von den Gegnern begonnen werden (22,15.23.34). Die Situation gleicht also derjenigen in 21,23. Demnach geht das Verhör weiter. Dass das Urteil mehr oder weniger feststeht, ergibt sich aus dem Begriff παγιδεύω [ pagideuō] V. 15: in die Falle locken, „eine Schlinge legen“. Hier laufen Matthäus, Markus und Lukas wieder weitgehend parallel. Nur bei der Frage nach dem höchsten Gebot fällt Lukas aus. Ansonsten setzen alle drei die Gespräche in die Jerusalemer Passazeit.

III Einzelexegese Der nächste Vorstoß geht von den Pharisäern aus (V. 15). Sie waren schon in 21,33–22,14 beteiligt. Jetzt trauen sie es den Sadduzäern und dem weltlichen Adel („Älteste des Volkes“, 21,23) offenbar nicht mehr zu, die richtigen Fragen zu stellen. Mk 12,13 besagt dasselbe. Die griech. Worte συμβούλιον ἔλαβον [symboulion elabon] kann man verschieden übersetzen. Entweder handelt es sich um einen Latinismus, der lat. consilium capere wiedergibt und also einen Beschluss fassen bedeutet.6 Oder man bleibt bei der griech. Normalbedeutung und übersetzt dann „sie hielten eine Beratung ab“, „sie berieten“.7 Beides ist hier möglich, und die Differenz für die Auslegung ist minimal. Zweierlei fällt auf. Da ist erstens das Stellen einer Falle.8 Zur Überführung eines Schuldigen ist ein solches Fallenstellen nach den rabbinischen Regeln 5 Vgl. Bauer-Aland 1013. 6 BDR § 5,4 (Nr. 18); Bauer-Aland 1552; Zahn 640; Luz III 252; Beare 437f. 7 So mein früherer Kommentar (Maier II 212); Joh. Schneider, Art. παγίς usw., ThWNT, V, 1954, 595. 8 Vgl. Schneider a.a.O. 595f.

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erlaubt.9 Da ist zweitens der wiederholte Versuch, Jesus aufgrund seiner Halacha, seiner Lehre, zu verurteilen (vgl. Mt 12,14). Wenn hier ganz allgemein von den Pharisäern die Rede ist, dann muss wieder beachtet werden, dass nur die führende Gruppe der Jerusalemer Pharisäer bzw. die Mehrheit der Pharisäer gemeint ist, nicht aber alle zeitgenössischen Pharisäer.10 Die erste Folge des Beschlusses von V. 15 ist die Bildung einer Delegation aus Jüngern (μαθηταί [mathētai]) der Pharisäer und aus Herodianern (V. 16). Schon die Zusammensetzung lässt darauf schließen, dass es um ein Problem gehen soll, das sowohl religiösen (Pharisäer!) als auch politischen (Herodianer!) Charakter hat. Interessant ist die Formulierung ihre Jünger = „Jünger der Pharisäer“ (οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων [hoi mathētai tōn Pharisaiōn], Mk 2,18). Bis heute wird die These vertreten, „Daß die Pharisäer keine ‚Jünger‘ haben“.11 Das Gegenteil ist richtig.12 Wenn Matthäus und Markus über schriftgelehrte Diskussionen mit Pharisäern berichten, meinen sie selbstverständlich pharisäische Schriftgelehrte. Und für den ganzen Schriftgelehrtenstand, das Rabbinat, war es geradezu konstitutiv, Jünger, ‫[ ַתְּלִמיִדים‬talmīdīm], zu haben.13 Zu den frühesten Anweisungen der Sprüche der Väter gehört auch diese: „Schaffe dir einen Lehrer!“ (P. Abot I, 6); und P. Abot I, 11 spricht von „Schülern, die euch folgen“. Neben Mt 22,16; Mk 2,18 vgl. noch Mt 12,27; Joh 9,28. In seiner gründlichen Untersuchung über μανθάνω [manthanō] usw., kommt K. H. Rengstorf deshalb zu dem Ergebnis, dass die Redewendung οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων [hoi mathētai tōn Pharisaiōn] „vom zeitgenössischen Sprachgebrauch aus zu Bedenken keinen Anlaß gibt“.14 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wer die Herodianer von Mt 22,16 sind.15 Auch in Mk 3,6; 8,15; 12,3 verbünden sich Pharisäer und Herodianer. In Mt 16,14 wird eine Meinung referiert, die in Mt 14,2 Herodes zugeschrieben wird. Nach Apg 13,1 befindet sich unter den christlichen Lehrern und Propheten in Antiochien unter anderen ein σύντροφος [syntrophos] („Milchbruder“, „Jugendgenosse“, „Vertrauter“) des Herodes. Die Beziehungen waren also kompliziert.16 So viel

9 Deshalb sollte man ihr Verhalten auch nicht als „tückisch“ bezeichnen (gegen Schneider a.a.O. 596) oder „bösartig“ (gegen Luz III 251). 10 Auch Schweizer NTD 1976, 276 teilt die häufige protestantische Tendenz, viel zu allgemein von „den“ Pharisäern zu reden. 11 So Luz III 254. 12 Vgl. K. H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 444ff. 13 Rengstorf a.a.O. 403ff.428ff. 14 Rengstorf a.a.O. 446. 15 Vgl. noch Lk 8,3; 13,31ff. 16 Ringshausen 115.

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ist allerdings deutlich: Mit Herodianer werden „Parteigänger“17 des herodianischen Herrscherhauses bezeichnet, also Repräsentanten der Zusammenarbeit mit Rom. Was nun die Jünger der Pharisäer angeht, die ihre Lehrer vertreten müssen, so merkt Schlatter mit Recht an: „Die alten, bekannten Männer hielten sich zurück; in ihrem Mund klang die Frage nicht wahrscheinlich, weil sie sich ja längst öffentlich über sie ausgesprochen hatten. Die Pharisäer hatten das Volk schon oft … vor der Steuerverweigerung gewarnt. Sie stellten darum junge Männer voran, ihre Schüler, bei denen es unverfänglich schien, daß diese Bedenken sie ernstlich beschäftigten und ihnen rechte Gewissensnot bereiteten“.18 Die Fragesteller beginnen mit einer Beurteilung Jesu: Rabbi, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrst und nach niemand fragst. Denn du richtest dich nicht nach den Menschen (V. 16). Das griech. διδάσκαλε [didaskale] muss mit Rabbi wiedergegeben werden. Schon diese Anrede verrät hohe Wertschätzung, umso mehr, als Jesus keine rabbinische Ausbildung nach den damaligen Gepflogenheiten erhalten und auch keine Ordination zum Rabbi erfahren hatte. Die Worte Rabbi, wir wissen, dass … erinnern an Joh 3,2. Dreierlei wird Jesus öffentlich bescheinigt: 1) Er ist persönlich wahrhaftig: Das bedeutet mehr als „aufrichtig, ehrlich“.19 Wie das vielleicht dahinter stehende ‫[ ֶנֱאַמן‬näʾᵆman] bedeutet es „für wahr befunden“,20 ähnlich dem Ausspruch Jesu über Nathanael: „wahrhaftig (ἀληθῶς [alēthōs]) ein Israelit, in dem kein Falsch ist“ (Joh 1,47). Man vgl. Zef 3,13: „in ihrem Mund wird keine trügerische Zunge gefunden werden“. Kurzum: Von Jesus wird erwartet, dass er nicht mit Trug und Tricks umgeht. 2) Er lehrt den Weg Gottes in Wahrheit. Der Weg Gottes ist „der dem Menschen vom Herrn gebotene Wandel“.21 Dass Jesu bisherige Tätigkeit als ein Lehren (διδάσκεις [didaskeis]) zusammengefasst wird, fällt auf. Demnach galt Jesus den Zeitgenossen, die ihm distanziert oder feindlich gegenüberstanden, doch als ein Rabbi. In der captatio benevolentiae von Mt 22,16 heißt es nun ausdrücklich, er habe in Wahrheit (ἐν ἀληθείᾳ [en alētheia]) gelehrt. Ein größeres Kompliment konnten ihm die Rabbinen-Schüler nicht machen, als dass sie seine Lehre mit dem Gütesiegel der ἀλήθεια [alētheia] = ‫[ ֱאֶמת‬ʾᵆmät]

17 Hengel-Schwemer 132. Vgl. überhaupt Hengel-Schwemer s.v. „Herodianer“ (S. 732); Ringshausen 124. 18 Schlatter 330. 19 So R. Bultmann im Art. ἀλήθεια usw., ThWNT, I, 1933, 249. 20 Vgl. Gesenius 48. 21 W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 51.

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versahen.22 Es scheint, dass Jesus auch nach dem öffentlich vorgetragenen Urteil seiner Gegner keine falsche Halacha vertreten hat. Alles an seiner Lehre konnte aus der Schrift begründet werden – mochte man auch über die Schriftauslegung im Einzelnen streiten. Mt 22,16 ist geradezu ein Schlüssel zum Geheimnis der Passion. Denn wenn Jesus in Bezug auf seine Lehre kein Irrlehrer war, dann konnte nur eins unter den Verdacht fallen, dass er ein Verführer sei (Mt 27,63): nämlich seine Person bzw. die Aussage darüber, wer er sei. Die zahllosen Begründungen für seine Hinrichtung, die man in den letzten Jahrzehnten nannte und zum Teil von den Konfirmanden vortragen ließ, wie: Er offenbarte, „daß Gott am Heil der Welt gelegen ist“, oder: „er trat für die Veränderung der Verhältnisse ein und durchbrach die Tradition“,23 sind von da her oberflächlich und dem Geist der betreffenden Zeit geschuldet. 3) Er fragt nach niemand (οὐ μέλει σοι περὶ οὐδενός [ou melei soi peri oudenos]). Diese Bemerkung will nicht seine Sorglosigkeit oder gar Ichbezogenheit hervorheben, sondern seine Geradheit, die das Fähnlein nicht nach dem Wind hängt. Diese Geradheit wird unterstrichen durch die folgenden Worte: Denn du richtest dich nicht nach den Menschen.24 Jesus wird hier derselbe Charakter zugesprochen wie ihn Gott besitzt (1Sam 16,7). Gemeinsam stellen Pharisäer und Herodianer die Frage: Ist es erlaubt (ἔξεστιν [exestin]), dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? (V. 17). So einfach sie klingt, so schwerwiegend können die Konsequenzen sein, die sich aus der Antwort ergeben. Bejaht Jesus die Frage, dann hat er die Zeloten und weite Teile des Volkes gegen sich, denn er erscheint als Römerfreund. Verneint er die Frage, dann erscheint er als Römerfeind und zugleich als Feind der Herodianer. Denn die „herodeischen Fürsten konnten nur mit den Römern, nicht gegen sie regieren“.25 Zu den Einzelheiten: τί σοι δοκεῖ [ti soi dokei] (Was meinst du?) möchte den Gesprächspartner zur Äußerung seiner Meinung herauslocken (vgl. Mt 17,25; 18,12; 21,28; 22,42). Das neutestamentliche ἔξεστιν [exestin] (es ist erlaubt) bezieht sich auf das Gesetz Gottes und seinen Willen.26 Es ist typisch für jüdische, insbesondere pharisäische, Gesetzesdiskussionen27 und wird dort durch ‫[ ְרשׁוּת‬rᵉschūt] ausgedrückt.28 Καῖσαρ [Kaisar], abgeleitet vom römi22 Vgl. hier G. Quell; G. Kittel; R. Bultmann im Art. ἀλήθεια usw., ThWNT, I, 1933, 233ff. 23 Beides in: Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, hg. von Gerhard Ruhbach, Gütersloh, 1971, Nr. 63; 64. 24 Bauer-Aland 286: „du berücksichtigst nicht das Urteil von Menschen“. 25 Schlatter 330. 26 W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 558. 27 Vgl. beispielsweise b Joma 67a/b. 28 Foerster a.a.O. 558f.

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schen Eigennamen Caesar, ist im NT Bezeichnung der römischen Kaiser, so des Augustus (Lk 2,1) und des Tiberius (Lk 3,1). Auch die Rabbinen benutzten das Wort als Fremdwort.29 Die Steuer (κῆνσος [kēnsos] = lat. census, daher unser dt. „Zins“) meint die Kopf- und die Grundsteuer,30 die von den Römern der unterworfenen Bevölkerung auferlegt wurde. Mit Recht weisen Hengel-Schwemer darauf hin, dass die Steuerfrage besser nach Jerusalem als nach Galiläa passt.31 Denn in Galiläa wurden die Abgaben nicht direkt an den Kaiser, sondern an Herodes Antipas gezahlt, der seinerseits jährlich seinen Tribut an die Römer entrichtete. Anders in der römischen Provinz Judäa, zu der Jerusalem gehörte. Dort erhielten die Römer direkt die Kopf- und Grundsteuer. Der Übergang in den Provinzstatus erfolgte 6 n.Chr., als Archelaus, Sohn des Herodes des Großen, als Ethnarch abgesetzt wurde. Mit dem Provinzstatus für Judäa, Idumäa und Samaria war eine tiefe Zäsur verbunden. Damals trat der in Apg 5,37 erwähnte „Judas der Galiläer“, aus der messianischen „Dynastie“32 des Hiskia, auf und verleitete „die Einwohner der soeben genannten Provinz zum Abfall, indem er es für einen Frevel erklärte, wenn sie bei der Steuerzahlung an die Römer bleiben würden“ – so Josephus.33 „Mitsamt dem Pharisäer Zadok soll er die Partei der Zeloten gegründet haben.“34 Fortan bekämpften die Zeloten mit ihrer blutigen Guerilla-Taktik einerseits die Römer, andererseits alle Juden, die mit diesen zusammenarbeiteten.35 Die Antwort „Ja“ auf die Frage von V. 17 konnte also für Jesus absolut tödlich sein. Aber auch die Antwort „Nein“ konnte ihm den Tod bringen. Denn sie bedeutete, den Aufstand gegen Rom zu predigen. Es gehört zu den üblen Seiten des Prozesses, den man gegen ihn führte, dass man ihm genau dies zum Vorwurf machte: „wir haben ihn befunden als einen, der unsere Nation verführt und wehrt, dem Kaiser Steuer zu geben“ (Lk 23,2) – was nun partout nicht stimmte. Schließlich sei ein Punkt betont, der nicht immer die nötige Beachtung findet: Die Frage von V. 17 fordert Jesus nicht nur als Lehrer heraus, sondern auch als denjenigen, der der Messias sein will. Beantwortet er die Frage mit „Ja“, dann kann er unmöglich der Messias sein, denn nach der geläufigen jüdischen Erwartung musste er Jerusalem von den Römern befreien und nicht 29 30 31 32 33 34 35

Bauer-Aland 803; BDR § 5,4. Strack-Billerbeck I 884 sehen darunter nur die Kopfsteuer begriffen. Hengel-Schwemer 563. So Mayer 45ff. Bell II, 118. Mayer 48. Vgl. zum ganzen Komplex die Anm. 34 von Michel-Bauernfeind zu Buch 2 des Bell von Josephus; Hengel-Schwemer 563f; Bösen 165ff.

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die Steuerzahlung an die Römer unterstützen. Beantwortet er die Frage mit „Nein“, dann bleibt nur der Weg in die Gewalt, den Jesus bisher abgelehnt hatte (Mt 11,12). Was tut er in diesem Dilemma? Jesus aber erkannte ihre Bosheit (τὴν πονηρίαν αὐτῶν [tēn ponērian autōn]) und sagte: Warum versucht ihr mich, ihr Heuchler? (V. 18). Sein erkennen ist wohl ein „wahrnehmen“36 durch den Heiligen Geist (vgl. Mt 12,15; 16,8; 26,10; Joh 2,24f ). Die Bosheit seiner Gesprächspartner besteht darin, „dass sie ihn in die Falle locken wollten“ (V. 15). Ihr versuchen gleicht nicht dem pädagogisch-positiven Prüfen Gottes, sondern dem Bemühen des satanischen Versuchers, Jesus vom geradlinigen Weg Gottes abzuziehen. Der Vorwurf Heuchler erscheint öfter im Munde Jesu. Er kann sich an Jünger (Mt 7,5) oder Gegner (Mt 15,7; 23,13ff; 24,51) richten. Siehe auch die Erklärungen bei Mt 6,2; 7,5; 15,7. Der Vorwurf Heuchler ist milder als „Sprösslinge von Schlangen“ (Mt 3,7; 12,34; 23,33), „Teufelssohn“ (Apg 13,10) oder „Söhne Belials“ = des Teufels (so die Essener). Sachlich berechtigt weist er auf den Widerspruch hin zwischen der schmeichelhaften Anrede in V. 16 und dem Ziel, Jesus zu töten (V. 15). Welch schreiender Widerspruch zwischen der Beurteilung Jesu, wahrhaftig zu sein, und der Beurteilung, dass er sich Heuchlern gegenübersieht! Johannes Heermann hat die Dimensionen, um die es hier geht, in die Zeilen gefasst: „Der Fromme stirbt, der recht und richtig wandelt, der Böse lebt, der wider Gott gehandelt“ (EG 81,5). Jesus reagiert mit einer Handlungsanweisung: Zeigt mir die Steuermünze! (V. 19). Der Artikel ebenso wie der Begriff νόμισμα τοῦ κήνσου [nomisma tou kēnsou] zeigen, dass nur eine einzige Münze infrage kommt. Heute ist allgemein klar: Diese Steuermünze ist der römische Silber-Denar. Damals handelte es sich wahrscheinlich um einen Denar des Tiberius (14–37 n.Chr., vgl. Lk 3,1). Geprägt in Lugdunum = Lyon, lautete die Aufschrift meistens Tiberius Caesar Divi Augusti Filius Augustus. Auf der Rückseite ist Concordia (= Livia, Mutter des Tiberius?) zu sehen, auf einem Thron sitzend, mit Zepter und Zweig. Die Umschrift der Rückseite lautet: Pontifex Maximus = Höchster Priester.37 Beinahe jede Einzelheit war eine Provokation jüdischer Menschen: Die Münze war Eigentum des Kaisers38 und ein Zeichen der Unterwerfung. Die abgebildeten Personen konnten als Götzenbilder gewertet

36 Bauer-Aland 322. 37 Siehe Schröder 44; Hengel-Schwemer 563; D.H. Wheaton / S. Mittmann, Art. Geld, GBL 1, 433f; Bösen 168ff. 38 Hengel-Schwemer 563.

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werden.39 Der römische Pontifex Maximus figurierte als negatives Gegenbild zum Hohenpriester (‫[ ַה ֹכֵּהן ַה ָגּדוֹל‬hakkohen haggādōl]). Die Titulatur des Augustus als Divus („göttlich“) konnte niemals akzeptiert werden. Auch die Hoheitssymbole Thron/Zepter/Zweig mussten Missfallen erzeugen.40 Umso erstaunlicher ist, was jetzt geschieht: Da brachten sie ihm einen Denar. Ist es so, wie Hengel-Schwemer meinen,41 dass sie „des Kaisers Geld bei sich herumtragen“? Griffen sie sich einen Händler auf dem Tempelplatz, der ihnen einen solchen Denar lieh? Oder einen Heiden im Vorhof der Heiden? Nach Mk 12,16 und Lk 20,24 liegt tatsächlich die Annahme näher, dass jemand unter ihnen einen solchen Denar bei sich trug. Das Anfassen, Betrachten und Überreichen machte keine Probleme. Vielleicht sollten wir noch beachten, dass Jesus durch seine Anweisung Zeit gewann, den Vater um Weisheit zu bitten und selbst zu der richtigen Antwort zu finden.42 Und er sagt zu ihnen: Wessen ist dieses Bild und die Aufschrift? (V. 20): Diese Frage bezieht sie ein und macht sie mitverantwortlich für die Antwort: Vom Beginn der Bibel an erinnert Gott durch Fragen den Menschen an seine Verantwortung (Gen 3,9; 4,7f.9f; 4,4.9.10f ). Jesus hat solche Fragen besonders gern benutzt (Mt 9,4f; 12,3ff.11.48; 15,3; 16,3; 18,12; 20,15; 21,31.40). Das Bild (ἡ εἰκών [hē eikōn]) meint die Abbildung des Tiberius auf der Vorderseite des Denars, die Aufschrift (ἡ ἐπιγραφή [hē epigraphē]) die ebenfalls auf der Vorderseite befindliche Umschrift TI CAESAR DIVI AUG F AUGUSTUS. Jesus hat sich also auf die Vorderseite beschränkt. Wessen ist kann entweder heißen: „Von wem stammt“, oder: „Wem gehört“. Hier fließen wohl beide Bedeutungen zusammen.43 In V. 21 fallen die entscheidenden Worte. Zuerst die knappe Antwort der pharisäischen und herodianischen Delegierten: Des Kaisers. Damit ist die Frage von V. 17 teilweise schon beantwortet. Denn was Eigentum des Kaisers ist, kann er auch wieder einfordern. In Schlatters Ausdrucksweise: „Was von Rom kommt, dürft ihr getrost wieder dorthin schicken.“44 Erst recht muss die 39 A.a.O. 40 Ob das Bilderverbot des Dekalogs ebenfalls zur Debatte steht, ist umstritten. vgl. Fiedler 336 (nein); France 315 (ja). 41 A.a.O. Ebenso Zahn 642. 42 Wenn öfter gesagt wird, Jesus habe „mit großer Souveränität“ gehandelt (Luz III 257; Bösen 169), dann steckt dahinter evtl. ein allzu philosophisches Jesusbild (vgl. Hebr 2,17; 5,7f ). 43 Deshalb die übliche Übersetzung: „Wessen Bild ist das und wessen Aufschrift?“ Luz III 252f; Fiedler 335; Schlatter 331; Schniewind 222; Carson 458. Vgl. BDR § 162. 44 Schlatter 331.

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Steuer bezahlt werden, wenn sie, die Schriftgelehrten und Pharisäer, diese Münzen gebrauchen und mit sich herumtragen. Denn dadurch erkennen sie „seine Herrschaft an“.45 Zum Dritten haben die Pharisäer im Unterschied zu den Zeloten längst gelehrt, dass die Steuern gezahlt werden müssten.46 Jetzt ist der erste Satz Jesu klar: Dann47 gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, das heißt, was ihm gehört und ihm zukommt.48 Ohne Verschleierung und ohne Wanken sagt Jesus also: Ja, es ist erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen (vgl. V. 17). Seine Antwort hängt eng damit zusammen, dass er es stets abgelehnt hat, gegen die Römer zu polemisieren. Vielmehr betrachtete Jesus die Römerherrschaft als ein Gericht Gottes wegen der Sünden Israels (Lk 13,1ff; Joh 19,11). Doch was ist mit dem zweiten Teil der Antwort: und gebt Gott, was Gottes ist? Es ist müßig, darüber zu streiten, ob καί [kai] (und) hier kopulativ oder adversativ ist.49 Jedoch wird man nach den Regeln der erzählerischen Überraschung und des Achtergewichts annehmen müssen, dass auf dieser Aussage zu Gott ein stärker Akzent liegt als auf den Worten zum Kaiser. Versucht man, sich den Inhalt dieses zweiten Teils der Antwort bewusst zu machen, dann ergibt sich: 1) Jesus sieht, dass seine Diskussionsgegner Gott nicht geben, was Gott will. Insofern ist Mt 22,21 ebenso ein Bußruf wie Mt 21,28ff.33ff und 22,1ff, und wie es früher schon Lk 13,1ff war. 2) Das Problem Israels liegt in seinen Tagen weniger darin, dass es seine Selbstständigkeit verloren hat, als vielmehr darin, dass es die Bußrede des Täufers und seines Messias Jesus bisher nicht befolgt hat. 3) Das Ertragen der Fremdherrschaft solange, bis Gott selbst nach Dan 7 eingreift, wäre der gewiesene Weg. 4) Weltreich (was des Kaisers ist) und Gottesreich (was Gottes ist) werden bei Jesus wie bei Daniel klar unterschieden. Und sie staunten, als sie das hörten, und ließen ihn in Ruhe und gingen davon (V. 22): Jesus gab weder für eine Anklage bei den Römern – die Steuer sollte ja gezahlt werden! – noch für eine Anklage beim Hohen Rat einen Grund: Es war ja durch und durch in der Schrift begründet, was er sagte: Die Unterscheidung von Gottesreich und Kaiserreich machte es sogar für die Zeloten schwierig, ihn anzugreifen. Dass Luz zufolge der kleine Vers von Mat45 46 47 48

Hengel-Schwemer a.a.O. Vgl. P. Abot III, 2 und 6. Folgendes οὖν, vgl. BDR § 451,1. ἀπόδόοτε wird gelegentlich mit „gebt zurück“ übersetzt so bei Hengel-Schwemer a.a.O.; Tasker 214; France 315. Das ist aber eine unnötige Zuspitzung des Wortsinns, der einfach „geben“, „bezahlen“ bedeutet. Bauer-Aland 180; Luz III 258,42; Carson 460. 49 Für Letzteres Hengel-Schwemer a.a.O.; Bösen 170.

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thäus aus seinem „Papierkorb“ genommen sein soll, um Mk 12,12 nachzutragen,50 gehört eher zu den unterhaltsamen Beiträgen aus der Exegese.

IV Zusammenfassung 1. Im Rückblick erweist sich Mt 22,21 als eine Kernstelle des NT.51 Das gilt zunächst insofern, als die apostolischen Schriften das Verhältnis der Christen zum Staat in Fortführung der Linie von Mt 22,21 und wohl auch in Auslegung dieser Stelle beschreiben. So Paulus in Röm 13,1ff; Petrus in 1Petr 2,13ff; Lukas in Apg 4,19; 5,29; Johannes in Offb 13,10. Die ständig wiederholte Behauptung, Offb 13 bilde einen Gegensatz zu Römer 13,52 wird durch die Wiederholung nicht richtiger. Das gilt aber auch über die apostolischen Schriften des NT hinaus.53 Mt 22,21 wurde immer wieder herangezogen: von Justinus Martyr ca. 150 n.Chr. (Apol I, 17,2), von Irenäus ca. 180 n.Chr. (AdvHaer III, 8,1), inhaltlich von den evangelischen Bekenntnisschriften wie der Confessio Augustana (Art. 16) und der Formula Concordiae (Epitome und Solida Declaratio XII), bis hinein in den Evangelischen Erwachsenenkatechismus, der im fünften Teil bei 3. die Information mit Mt 22,21 beginnt.54 Die ZweiReiche-Lehre stützte sich über Martin Luther hinaus betont auf Mt 22,21. Ein instruktives Beispiel stellt A. Schlatter dar,55 ebenso Th. Zahn.56 Insgesamt hat Donald A. Carson recht mit seiner Feststellung, Jesus lege in Mt 22,21 „the basis for the proper relationship of his people to government“ nieder.57 2. Auch der heutige Ausleger wird zur Stellungnahme herausgefordert. Ist die „traditionelle protestantische“ Zwei-Reiche-Lehre „ein Irrweg“, wie Luz meint?58 Unseres Erachtens steht sie jedenfalls der Unterscheidung, die Jesus in Mt 22,21 zwischen Welt-(Kaiser-)Reich und Gottesreich trifft, wesentlich näher als Karl Barths Lehre von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946).59 Was die Zwei-Reiche-Lehre an Positivem geleistet hat, wird uns gerade heute von Neuem klar, wenn wir uns in den Dialog und die Auseinandersetzung mit dem Islam begeben. Dessen Zusammenfassung dort religiösen 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Luz III 253. Vgl. Carson 460. So z.B. Luz III 260,49. Hier hat Luz III 254ff wieder wichtiges Material gesammelt. Ev Erw Kat 749. Schlatter 333. Zahn 642. Carson 460. Ganz anders Luz III 260. Luz a.a.O. Erst recht gilt dies im Verhältnis zur „Zivilreligion“, die heute heftig (vgl. Karl Richard Ziegert, Zivilreligion, München, 2014) debattiert wird.

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und politischen Lebens in der Umma, der Glaubensgemeinschaft mit ihrem Gottesrecht, bildet den exakten Gegenpol zu Mt 22,21. 3. Wenig Dissens besteht darüber, dass Jesu Aussagen in Mt 22,15-22 antizelotisch sind. Das gilt auf einer ersten Ebene insofern, als er die von den Zeloten heftig abgelehnte Steuerzahlung an Rom befürwortet. Das gilt aber auch auf einer zweiten Ebene insofern, als er ein irdisch-politisches Messiastum überhaupt ablehnt. Das gilt schließlich auf einer dritten Ebene insofern, als er sich im Blick auf die Fremdherrschaft nicht wie die Zeloten am „Eifer“ des Pinhas (Num 25,11 ‫[ ִקְנָאה‬qinʾāh], LXX ζῆλος [zēlos]) orientiert, sondern am Bußruf von Lev 26 und an der prophetischen, vor allem danielischen (Dan 7) Hoffnung auf das Gottesreich.

6.2 Die Frage nach der Auferstehung, 22,23-33

I Übersetzung 23 An jenem Tag kamen Sadduzäer zu ihm, die sagen, es gebe keine Auferstehung, und stellten ihm die Frage: 24 Rabbi, Mose hat gesagt: Wenn einer kinderlos stirbt, dann soll sein Bruder seine Frau zur Schwagerehe nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken. 25 Nun gab es bei uns sieben Brüder. Und der Erste heiratete und starb, und weil er keine Nachkommen hatte, hinterließ er seine Frau seinem Bruder. 26 Ebenso ging es auch dem Zweiten und dem Dritten und so weiter bis zum siebten. 27 Zuletzt von allen starb die Frau. 28 Wem von den sieben wird die Frau nun in der Auferstehung gehören? Denn alle haben sie gehabt. 29 Jesus aber antwortete und sagte zu ihnen: Ihr irrt, weil ihr die Schriften und die Kraft Gottes nicht kennt. 30 Denn in der Auferstehung heiraten sie weder noch lassen sie sich heiraten, sondern sie sind wie Engel im Himmel. 31 Was aber die Auferstehung der Toten betrifft: Habt ihr nicht gelesen, was euch von Gott gesagt ist, wenn er spricht: 32 Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist ja nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. 33 Und als die Menge das hörte, war sie völlig außer sich über seine Lehre.

II Struktur Mt 22,23-33 ist im Dreischritt aufgebaut: 1) Die Sadduzäer treten mit einer ausführlichen Frage an Jesus heran, 2) Jesus antwortet unter Hinweis auf die Schrift, 3) die Reaktion der anwesenden Zuhörer wird geschildert. Vom Makrokosmos des Evangeliums her gesehen ist Mt 22,23-33 keine Anekdote, sondern ein Teil des Verhörs, das in 21,23 begonnen hatte.

6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46

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Auch dieser Teil der Jerusalemer Passion ist dreifach überliefert. Neben Mt 22,23-33 treten Mk 12,18-27 und Lk 20,27-40. Dabei schließen sich auch Markus und Lukas an die Steuerfrage an, die soeben von den Pharisäern gestellt wurde. Mit hinlänglicher historischer Gewissheit kann man jetzt schon sagen, dass Pharisäer, Herodianer, Sadduzäer und die Ältesten des Volkes allesamt in den Prozess Jesu verwickelt waren, und dass die hier berichteten Gespräche tatsächlich in die letzte Zeit in Jerusalem fallen.

III Einzelexegese An jenem Tag kann nur den Sinn haben: „noch an demselben Tag“.60 Wie in 22,15f die Pharisäer und Herodianer, so kamen nun auch Sadduzäer zu Jesus (V. 23). Der Artikel fehlt hier wie in Mk 12,18, sodass Lukas recht hat (20,27) mit seiner Angabe „einige von den Sadduzäern“. Offenbar agieren die sadduzäischen Delegierten – vom Hohen Rat bzw. dessen sadduzäischen Mitgliedern entsandt, wie wir annehmen müssen – für sich allein, ohne Koalitionspartner. Das erinnert uns an die Bemerkung des Josephus in Bell II, 166, dass „die Verkehrsformen“ der Sadduzäer „mit den Volksgenossen schroff wie mit Fremden“ seien. Matthäus kennzeichnet sie nur nach einer Richtung: Sie sagen, es gebe keine Auferstehung (μὴ εἶναι ἀνάστασιν [mē einai anastasin], auch Mk 12,18; Lk 20,27; vgl. Apg 4,2; 23,8; 1Kor 15,12; 2Tim 2,18). Ganz ähnlich die Kennzeichnung bei Josephus: „Die Fortdauer der Seele und die Strafen und Belohnungen im Hades lehnen sie ab.“61 Dasselbe Bild zeichnet der elfte Abschnitt im Talmudtraktat Sanhedrin.62 Gegen die Leugner der Auferstehung bezieht schon die Sapientia Salomonis / Weisheit Salomos (spätes 2. Jh. v.Chr.63) Position (2,1ff ), ebenso das äthiopische Henochbuch in der Epistel Henochs (äthHen 102,6ff; 103,1ff ), die Uhlig in das 1. Jh. v.Chr. setzt.64 Es scheint, dass die Thematik der Auferstehung seit dem 2. Jh. v.Chr. zu einem Gegenstand der schriftgelehrten Auseinandersetzung geworden ist. Aus diesem umstrittenen Bereich resultiert jetzt die Frage, die die verhörenden Sadduzäer an Jesus stellten (V. 23).65 Ihre Anrede Rabbi (διδάσκαλε 60 Vgl. G. Delling im Art. ἡμέρα, ThWNT, II, 1935, 953; Zahn 643. Angesichts der wenigen Tage in Jerusalem würde die Übersetzung „in jener Zeit“ wenig Sinn machen. 61 Bell II, 165. 62 In b Sanh 906 werden die Sadduzäer ausdrücklich erwähnt. Vgl. Strack-Billerbeck I 885. 63 Dieter Georgi in Weisheit Salomos, JSHRZ, III, 4, 396. 64 Uhlig 494. 65 Evtl. sind die Erwähnung der Sadduzäer und des Präsens λέγοντες Hinweise darauf, dass das Matthäusevangelium noch vor 70 n.Chr. geschrieben ist (Maier II 220f ).

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[didaskale]) ist respektvoll66 (V. 24). Im Unterschied zu Pharisäern und Herodianern schneiden sie kein allgemeines Thema an, sondern kommen sofort mit der Schrift: Mose hat gesagt usw. Darauf zitieren sie aus dem Leviratsgesetz Deut 25,5 in gekürzter Form. Wir haben ἐπιγαμβρεύσει [epigambreusei] übersetzt mit er soll zur Schwagerehe nehmen.67 Das Ziel dieses in Deut 25,5-10 niedergelegten Gesetzes ist ein doppeltes: 1) Der Name des Verstorbenen soll in der Nachkommenschaft fortleben, 2) der Familienbesitz soll beieinanderbleiben. – Heutigen Lesern erscheint dieses Gesetz als Einengung der Freiheit, die obigen Gesichtspunkte genießen heute wenig Sympathie. Doch sollte man auch heute bedenken: Die freie Wahl der Ehegatten macht die Ehe keineswegs glücklicher, und auf die Sicherung des Familienbesitzes kann nur eine Luxusgesellschaft verzichten. Der Form nach ist das Mose-Zitat in Mt 22,24 eher ein Sinnzitat.68 Dass es „an die LXX angepaßt“ sei,69 kann man kaum sagen. Dagegen ist es ganz offensichtlich, dass die Sadduzäer von der mosaischen Verfasserschaft des Deuteronomiums ausgehen und von den modernen Pentateuch-Quellen-Hypothesen nichts wissen. Ferner ist klar, dass sich die theologischen Fragen für sie an Mose entscheiden. Nun schildern sie den Fall einer Frau, die im Wege der Schwagerehe nacheinander sieben Brüder heiratete (V. 25-27). Man hat gesagt, dieser Fall sei konstruiert“70, „künstlich ausgesonnen“71, „listig ausgedacht“72. Immerhin gibt es literarische Vorbilder in Gestalt der sieben Männer Saras in Tob 3,8ff, oder der sieben Brüder von 2Makk 7.73 In der Mischna Jebamoth (II,1ff ) werden darüber hinaus ernsthafte Diskussionen über Fälle geführt, in denen eine Frau mehrere Brüder per Leviratsehe heiratet.74 Der von den Sadduzäern geschilderte Fall ist deshalb keineswegs rein hypothetisch.75 Es scheint, als wäre die Leviratsehe auch noch zur Zeit Jesu vorgekommen.76 Diskutiert wird in der modernen Exegese ferner die Absicht, die die Sadduzäer mit ihrer Frage verbanden. Wollten sie Jesus zu „Spott“ machen, ihn „als 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Hier ist Zahn 643 zu kritisch: „Auf eine höfliche Einführung … verzichten sie“. Der Ind. Fut. wird für „die strikten Gebote und Verbote“ verwendet (BDR § 362,1). France 316: ein „summary“; Beare 440: „a paraphrase“. So Luz III 262. Fiedler 337. Zahn 643. Luz III 263. Vgl. Luz a.a.O.; France 317 sowie Jes 4,1. Vgl. Strack-Billerbeck I 886f. Carson 461; France a.a.O. France a.a.O.

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einen kindischen Toren“ darstellen?77 Oder wollten sie den Auferstehungsglauben „ad absurdum führen“?78 Solche Annahmen werden dem theologischen Ernst der Sadduzäer nicht gerecht. Aus den Nachrichten, die wir zur Verfügung haben, nicht zuletzt den rabbinischen, ergibt sich jedenfalls eine beeindruckende Tora-Treue aufseiten der Sadduzäer.79 Erst recht werden Annahmen wie die soeben genannten der Struktur des Evangeliums nicht gerecht, das Jesus seit 21,23 unter dem schweren Druck des Verhörs zeigt. Was also wollten die Sadduzäer mit ihrer Frage erreichen? Am nächsten liegt die Annahme, dass sie Jesus der mangelnden Toratreue überführen wollten. Hätten sie damit Erfolg gehabt, dann wäre eine Anklage wegen Falschprophetie nach Deut 13,2ff möglich geworden. Zuletzt80 starb die Frau (V. 27). Wem von den sieben wird die Frau nun in der Auferstehung gehören? (V. 28): Der Ausdruck in der Auferstehung (ἐν τῇ ἀναστάσει [en tē anastasei]) zeigt, dass hier nicht vom Akt, sondern vom Zustand der Auferstehung die Rede ist (vgl. Joh 5,28f ). Die Bemerkung Denn alle haben sie gehabt soll darauf hinweisen, dass jede Zordnung zu irgendeinem von den sieben ein inzestuöses Verhältnis schafft, das gegen Lev 20,21 verstößt. Solche inzestuösen Verhältnisse bei Mehrfach-Leviratsehen haben auch die pharisäischen Rabbinen in Jeb II, 1ff beschäftigt. Ergo kann es vom Standpunkt der Tora aus betrachtet gar keine Auferstehung geben! Vorausgesetzt wird von den Sadduzäern offensichtlich, dass in der Auferstehung ganz ähnliche Verhältnisse herrschen wie hier auf Erden: Man heiratet, lebt in einer Ehe usw.81 Die Antwort Jesu umfasst vier Verse (V. 29-32). Sie ist so ernsthaft, dass sie zugleich die Ernsthaftigkeit der sadduzäischen Anfrage spiegelt. An der Spitze steht wie bei Markus (12,24) Ihr irrt. Schlatter hat darin recht, dass es in diesem Gespräch um eine „Lehrfrage“ geht.82 Dazu passt das irren, das heißt eine falsche Lehre vertreten.83 Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass man Jesus später ausgerechnet als πλάνος [ planos] anklagte (Mt 27,63). Jesus begründet sein Urteil, dass sie in der Auferstehungsfrage irren, doppelt: 1) weil sie die Schriften nicht kennen, 2) weil sie die Kraft Gottes nicht 77 78 79 80 81 82 83

So Schlatter 333. Ähnlich Strack-Billerbeck I 887: „ins Lächerliche ziehen“. So Luz III 264; Fiedler 337; Carson 461. Vgl. Maier, Mensch und freier Wille, 116ff. BDR § 62,2. Carson 461. Schlatter 333. Vgl. zu unserer Stelle H. Braun, Art. πλανάω usw., ThWNT, VI, 1959, 245, dessen Unterscheidung von „intellektuell“ und „religiös“ aber wenig hilfreich ist.

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kennen. Diese doppelte Begründung fällt auf. Sie erinnert uns von Weitem daran, dass Strack-Billerbeck einmal von einer dreifachen Begründung der Auferstehung durch die Rabbinen sprachen: a) mit der Schrift, b) mit früheren Totenerweckungen, c) mit der Vernunft.84 Da die früheren Totenerweckungen ebenfalls der Schrift entstammen (Elia, Elisa, Hesekiel), sind es auch hier im Grunde nur zwei Säulen, die die Beweislast tragen: Schrift und Vernunft. Und gerade so tritt nun auch ein Unterschied zutage: Statt mit dem Scharfsinn der Vernunft zu argumentieren, beruft sich Jesus auf die allmächtige Kraft Gottes. Jedem Kind in Israel war der Gott bekannt, „der Wunder tut“ (Ps 72,18; 77,15; 136,4 usw.). Durch ihn geschehen ‫[ ִנְפָלאוֹת‬niphlāʾōt], Dinge, die menschlich kaum zu fassen sind. Die Größe dieses Gottes übertrifft sogar alles, was in den Worten der Schrift ausgedrückt werden kann (Ps 139,1ff; Jes 40,12ff ). Wenn nun gerade Jesus von der Kraft Gottes (δύναμις τοῦ θεοῦ [dynamis tou theou]) spricht, dann hat er diese Kraft bei seinen Totenerweckungen und Wundern mehr erfahren als jeder andere in Israel.85 Doch noch vor der Kraft Gottes nennt er die Schriften (τὰς γραφάς [tas graphas]). Dass er die Mehrzahl Schriften (γραφαί [graphai]) gebraucht, hat an dieser Stelle wohl einen ganz bestimmten Sinn. Offensichtlich will er damit sagen, dass nicht nur eine einzelne Stelle in den Propheten (z.B. Jes 26,19) oder Ketubim (z.B. Dan 12,2) oder in der Mose-Tora (Deut 31,16?) infrage kommt, sondern die Gesamtheit der heiligen Schriften die Auferstehung bezeugt. Interessant ist ein Vergleich mit b Sanh 90b. Dort lesen wir: „Die Sadduzäer fragten R. Gamliel: Woher ist zu entnehmen, dass der Heilige, gepriesen sei er, die Toten beleben wird? Dieser erwiderte ihnen: Aus der Tora, aus den Propheten und aus den Hagiographen (Ketubim).“ Die Diskussionslage gleicht frappierend derjenigen von Mt 22,23ff. Erneut zeigen sich die Sadduzäer als toratreue Schriftgelehrte, die mit Gründen der Schrift überwunden werden wollten. R. Gamliel antwortete mit Deut 31,16 aus der Tora, Jes 26,19 aus den Propheten und Hld 7,10 aus den Ketubim. Auch sonst versuchten die Rabbinen, die Auferstehung aus der Mose-Tora zu erweisen, so aus Num 15,30; Deut 32,39; 33,6.86 V. 31 und 32 werden uns zeigen, wie Jesus in dieser Hinsicht verfährt. Zuvor stellt er noch einen wesentlichen Punkt richtig: Die Sadduzäer irren schon deshalb, weil sie in der Auferstehung weder heiraten noch sich hei84 Strack-Billerbeck I 893ff. 85 Vgl. W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, 307. 86 B Sanh im 11. Abschnitt.

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raten lassen (V. 30). Heiraten bezieht sich auf den Mann, sich heiraten lassen auf die Frau. Es ist fraglich, ob sich diese Aussage gegen die „landläufigen Anschauungen zur Zeit Jesu“ richtet.87 Jedenfalls richtet sie sich gegen die sadduzäischen Delegierten, die in V. 28 von irdischen Verhältnissen in der Ewigkeit und deshalb einer Fortsetzung der Ehe der Frau ausgegangen waren. Jesus erweitert seine Aussage aber über den Fragehorizont von V. 28 hinaus, indem er hinzufügt: sie sind wie Engel im Himmel. Da es auch gefallene Engel gibt (Gen 6,1ff; Hi 1,6; 2,1ff; 4,18; Offb 12,7ff ), ist die Bezeichnung Engel im Himmel für die Engel Gottes gerechtfertigt. Wie Engel (der Artikel fehlt!) drückt also eine engelgleiche Existenz (ἰσάγγελοι [isangeloi] Lk 20,36!) in Gottes neuer Welt aus. Ehe und Sexualität sind dort ebenso verschwunden wie Tod und Leid (Lk 20,36; Offb 21,4) – kurzum: Die Verhältnisse dieses Äons, dieser alten Welt, gelten dort nicht mehr.88 Damit hat sich das Fallbeispiel der Sadduzäer erledigt. Die Berührung mit Mt 19,12 ist unübersehbar. Ebenso wenig kann man darüber hinwegsehen, dass Jesus heilsgeschichtlich denkt. Dass auch Israels frühe Lehrer auf die richtige Spur gekommen sind, beweisen Tob 12,19ff, 2Makk 7,1ff.89 Andererseits hat die apostolische Verkündigung Jesu Lehre in Mt 22,29ff weitergegeben (1Kor 15,39f; 35ff ). Im Blick auf manche seelsorgerlichen Fragen sei noch bemerkt, dass in V. 30 gerade nicht das Ende der Liebe proklamiert wird. Der Inhalt von Mt 22,30 bildet vielmehr eine Einheit mit dem Hohen Lied der Liebe in 1Kor 13,8.13. Nur ist unsere Liebe in der Ewigkeit umfassend, rein und ohne jede Beimengung von Eifersucht, Rivalität und Ausgrenzung.90 Nun folgt in V. 31f das Hauptargument aus der Schrift. Was aber die Auferstehung der Toten betrifft: Nur hier und 1Kor 15,42 findet sich im NT die Wendung ἀναστάσεως τῶν νεκρῶν [anasteōs tōn nekrōn]. Sie ist gleichbedeutend mit ἀναστάσεως ἐκ νεκρῶν [anasteōs ek nekrōn] (Röm 1,4; 1Kor 15,12ff ).91 Habt ihr nicht gelesen, was euch von Gott gesagt ist, wenn er spricht: Dieses habt ihr nicht gelesen (V. 31) ist typisch für Jesus (Mt 12,3.5; 19,4; 21,16.42; 22,31). Sich an die Schrift zu halten, von ihr die Antworten zu empfangen, gehört zu seinen stärksten Wesenszügen. Dazu kommt eine unglaubliche Schriftkenntnis. Jesus muss das ganze AT im Kopf gehabt haben. 87 So aber Strack-Billerbeck I 889. 88 Carson 461 weist aber mit Recht drauf hin, dass dies alles nicht die Identität der Person aufhebt. Ebenso Hengel-Schwemer 630. 89 Vgl. b Ber a; äthHen 39,4f; 104,6; syrApkBar 51,5.10. 90 France 317f; Carson 461f. 91 Vgl. Carson 463 sowie BDR § 254,8.

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Da uns dort alles von Gott gesagt ist, wird ein Zweifel an den biblischen Gottesaussagen theologisch und geistlich unmöglich. Ein Satz wie: „Der Ausgangspunkt der exegetischen Arbeit war (und ist) der wissenschaftliche Zweifel“92 stellt den diametralen Gegensatz zu Jesu Schriftgebrauch dar. Das Begründungszitat lautet: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (V. 32). Es entpricht dem hebr. Text von Ex 3,6, nur dass das erste καί [kai] (und) eingefügt ist. Es sind die Worte, mit denen sich Gott dem Mose am Dornbusch vorstellt, also Worte höchster Dignität. Jesus verbindet sie mit einem ganz einfachen Schluss: Er ist ja nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. Zwar könnte man Gott Abrahams auch in einem rein historischen Sinn verstehen, nämlich als den Gott, an den Abraham vor langen Zeiten glaubte. Aber damit wäre dem Wort die Wucht und der Vollsinn genommen. Überdies bliebe dann unberücksichtigt, dass längst schon solche Aussagen wie „Abraham wurde versammelt zu seinen Vätern“ (Gen 15,15; 25,8) auf ein Fortleben nach dem Tode hingewiesen haben. In der Tat: Abraham, Isaak und Jakob sind noch Lebende (vgl. Mt 8,11; Joh 8,56). Damit ist bewiesen, dass unser Leben nach dem Tode weitergeht. Für Gottes Kraft, das heißt seine schöpferische Allmacht, ist es dann ein Leichtes, die Auferstehung zu bewirken. Dass Jesus seine Begründung aus der Tora und nicht aus Propheten und Ketubim nahm, ja sogar aus dem Herzen der Tora mit der Berufung Moses, sollte den Sadduzäern die Zustimmung erleichtern. Hier hätte eine Berufung auf die Lehrer Israels mit ihren mündlichen Traditionen nichts genutzt. Denn für die Sadduzäer galt der Grundsatz: νόμιμα τὰ γεγραμμένα [nomima ta gegrammena], „nur was sich in der heiligen Schrift findet, ist verbindlich“.93 Obwohl sie auch Propheten und Ketubim im biblischen Kanon anerkannten, fiel doch für sie die Entscheidung in theologischen Fragen an der Mose-Tora.94 Vers 33 beschreibt die Reaktion der Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]). Sie war anwesend – mit Recht, denn es handelte sich um ein öffentliches Verhör. Nun, als Jesus seine Antwort auf die Frage der Sadduzäer vorgetragen hatte, war sie völlig außer sich über seine Lehre. Das ἐξεπλήσσοντο [exeplēssonto] entspricht der Reaktion auf die Bergpredigt (Mt 7,28) und in Nazaret (Mt 13,54), gelegentlich auch bei den Jüngern (Mt 19,25). Dabei gibt das Imperfekt zu erkennen, dass es sich um eine lange nachhallende Reaktion handelte. Interes92 Conzelmann-Lindemann 43. 93 Josephus Ant XIII, 297; XVIII, 16. 94 Vgl. R. Meyer, Art. Σαδδουκαῖος, ThWNT, VII, 1964, S. 46ff.

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sant ist, dass Matthäus hier von der Lehre Jesu spricht. Schrifterklärung und Schriftverständnis weisen ihn als messianischen, unvergleichlichen Lehrer aus (Mt 7,28f ). Und die Reaktion der Sadduzäer? Man kann sie nur dem folgenden Abschnitt (V. 34) entnehmen.

IV Zusammenfassung 1. Auch das Verhör durch die Sadduzäer scheitert. Es gibt bis dahin keinen Anklagepunkt gegen Jesus. Am Ende bleibt nur noch die Möglichkeit falscher Zeugen (Mt 26,59ff ). Als auch diese scheitern, kann Jesus nur aufgrund seiner eigenen Aussage verurteilt werden. 2. In der Lehre der Auferstehung sind sich Jesus und die pharisäischen Lehrer einig. Die Bandbreite gemeinsamer Anschauungen (Mt 23,2f ) reicht also von der Auferstehung über die Willensfreiheit (Mt 23,37), die Hochachtung der Schrift in Tora, Propheten und Ketubim (Lk 24,44) und die Erwartung eines Messias bis in wesentliche Punkte der Eschatologie (Apg 23,6.8). 3. Er gibt keine Begründung für die Ansicht, dass Mt 22,23-33 parr. „nur die theologische Arbeit der Gemeinde“ widerspiegelt.95 Vielmehr setzen die Evangelisten diese Perikope mit Recht unter die historischen Abläufe während der letzten Auseinandersetzungen Jesu in Jerusalem.96

6.3 Die Frage nach dem größten Gebot, 22,34-40

I Übersetzung 34 Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie an demselben Ort zusammen. 35 Und einer von ihnen, ein Gesetzeskundiger, fragte ihn in der Absicht, ihn auf die Probe zu stellen: 36 Rabbi, welches Gebot ist das größte im Gesetz? 37 Er aber sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzen Herzen und von all deiner Seele und mit deinem ganzen Verstand. 28 Das ist das größte und erste Gebot. 39 Ein Zweites aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 40 In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

95 So Bultmann, Gesch, 25. 96 Hengel-Schwemer 561f.630.

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II Struktur Der Abschnitt ist kurz. Im Unterschied zu den beiden vorausgehenden „Streitgesprächen“ (Mt 22,15-22; 22,23-33) wird keinerlei Reaktion berichtet. Es scheint, dass das Gespräch Mt 22,41-46 sich unmittelbar anschloss, sodass man Mt 22,34-46 in einen einzigen Abschnitt zusammennehmen könnte. Dem widerrät jedoch das Gewicht der Verse 41-46. Mt 22,34ff beginnt mit einer Situationsangabe (V. 34), berichtet von der gestellten Frage (V. 35-36) und bringt dann Jesu ausführliche Antwort (V. 3740). Für Mt 22,34-40 kommt nur Markus (12,28-34) als wirklicher Seitenreferent infrage. Er ordnet seinen Parallelbericht zeitlich genau so ein wie Matthäus. Allerdings decken sich die beiden Berichte in ihrem Inhalt nur teilweise. Der 34. Vers bei Matthäus hat bei Markus keine Parallele. Umgekehrt fehlt für Mk 12,29 eine Parallele bei Matthäus. Schließlich stellen Mk 12,32-34 ein Sondergut des Markus dar. Hinzu kommen andere, kleinere Abweichungen, etwa bei Mt 22,40 / Mk 12,31. Auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie lassen sich hier keine zureichenden Erklärungen finden. Das hat Martin Hengel 2008 ganz klar herausgestellt, wenn er für Mt 22,35 eine „Abhängigkeit des Matthäus von Lukas“ (nicht von Markus!) als „sinnvollste“ Annahme bezeichnet.97 Die Zwei-Quellen-Theorie kann hier nur mit fantasievollen Spekulationen arbeiten.98 Im Übrigen sollte man darauf verzichten, Lk 10,25-28 als Parallelbericht zu Mt 22,34-40 / Mk 12,28-34 zu behandeln.99 Lk 10,25-37 gehört insgesamt in einen anderen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang und hat mit den Verhören der Jerusalemer Zeit nichts zu tun.

III Einzelexegese Überraschenderweise treten jetzt noch einmal die Pharisäer100 an Jesus heran (V. 34). Siehe auch V. 15ff. Vermutlich waren sie unzufrieden mit dem Gang der Untersuchung durch die Sadduzäer (V. 23ff ). Mt 22,34ff beweist außerdem ihre Hartnäckigkeit. Angesichts der Vorgänge in Jerusalem kann man nicht sagen, dass nur der Priesteradel bzw. die Sadduzäer ein Interesse an der Beseitigung Jesu gehabt hätten. Nein, seine Hinrichtung lag im Interesse aller 97 98 99 100

Hengel, Evglien, 335. Vgl. die komplizierten Darlegungen bei Luz III 270f. Gegen Aland, Syn, 385ff; Bultmann, Gesch, 21. Wie wir Carson 463; France 319. Die Übersetzung „Pharisäer und Pharisäerinnen“ bzw. „pharisäische Männer und Frauen“ (BGS 1874f ) entspricht einem neuzeitlichen Roman, aber nicht dem Matthäusevangelium.

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Führungsgruppen in Jerusalem, der Pharisäer sowohl wie der Sadduzäer, der Ältesten des Volkes (Mt 21,23) sowohl wie der Herodianer. Interessant ist die Bemerkung: Sie hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte. Das griech. φιμόω [ phimoō] hat auch die Bedeutung „den Mund mit einem Maulkorb verschließen“.101 Erst jetzt erfahren wir also, wie das Gespräch in Mt 22,23-33 ausgegangen ist: Die Sadduzäer vermochten Jesus nichts mehr entgegenzusetzen und mussten unverrichteter Dinge abziehen. In Mt 22,34 schwingt eine leise Befriedigung der Pharisäer mit, weil Jesus die auch ihnen wichtige Auferstehung so gut begründet hatte (vgl. Mk 12,28). Sie kamen an demselben Ort (ἐπὶ τὸ αὐτό [epi to auto]) zusammen drückt ein Doppeltes aus: 1) Sie stellten wieder eine pharisäische Delegation zusammen (vgl. V. 15f ); 2) sie trafen Jesus an demselben Ort, an dem das Sadduzäer-Gespräch stattgefunden hatte, also im Vorhof des Tempels (vgl. Mt 21,23ff ).102 Ob Matthäus durch die Worte συνήχθησαν ἐπὶ τὸ αὐτό [synēchthēsan epi to auto] bewusst an Ps 2,2 erinnern wollte (vgl. Apg 4,27), lässt sich nicht sicher sagen (vgl. Ps 2,2 LXX).103 Bisher traten die Delegationen als ganze auf (Mt 21,23.45f; 22,15ff.33ff ). Jetzt (V. 35) führt ein Einzelner die Verhandlung. Matthäus nennt ihn εἷς ἐξ αὐτῶν νομικός104 [heis ex autōn nomikos], einer von ihnen, ein Gesetzeskundiger. Das griech. νομικός [nomikos] wird gebraucht für Schriftgelehrte, die sich in „Handhabung oder … Verständnis des Gesetzes“ auskennen.105 Im Unterschied zu den Pharisäerjüngern in Mt 22,16 muss es sich also jetzt um eine anerkannte pharisäische Autorität handeln. Da sich die Bezeichnung νομικός [nomikos] nur in Mt 22,35 findet und sonst in den Evangelien allein bei Lukas (10,25; 7,30; 11,45f; 14,3), wurde schon erwogen, ob Matthäus in 22,34ff von Lk 10,25ff abhängig sei.106 Aber ein einzelner Begriff kann diese Theorie nicht tragen. Außerdem mussten wir das Matthäusevangelium in der allgemeinen Einleitung zeitlich vor dem Lukasevangelium einordnen.

101 Bauer-Aland 1718. Vgl. Deut 25,4; b Sota 35a. 102 Die Übersetzung bereitet hier Schwierigkeiten, vgl. BasisBibel; BGS; Gute Nachricht; NGÜ; Lutheran Study Bible; Neue Jerusalemer Bibel. Zahn 645 liest συνήχθησαν ἐπ’ αὐτόν. 103 France 319 bejaht. 104 Das νομικός ist so gut bezeugt, dass man es nicht streichen darf. Vgl. Zahn 645; HengelSchwemer 226.419,66.564.619,92; W. Gutbrod im Art. νόμος usw., ThWNT, IV, 1942, 1081. Gegen Tasker 214f; Beare 442; Sand 446. 105 Gutbrod a.a.O.; Strack-Billerbeck I 898. 106 Hengel-Schwemer 226.419,66.564.619,92; Hengel, Evglien, 335.

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Die Fragestellung geschieht erneut in der Absicht, ihn auf die Probe zu stellen (πειράζων αὐτόν [ peirazōn auton]). Jesus soll also zu einer Äußerung bewegt werden, die eine Anklage gegen ihn ermöglicht (vgl. V. 15). Es wäre falsch, sich diese Gespräche nur in der Art einer heutigen Disputation oder eines heutigen Symposiums vorzustellen. Rabbi, welches Gebot ist das größte im Gesetz? (V. 36): Die griech. Formulierung ποία ἐντολὴ μεγάλη [ poia entolē megalē] lässt zwei Übersetzungen zu: a) „welches Gebot ist groß [= wichtig, ausschlaggebend] im Gesetz?, b) welches Gebot ist das größte im Gesetz? Unter Verweis auf das „Vorbild des Semitischen“ entscheiden sich Blass-Debrunner-Rehkopf für den Superlativ, also das größte.107 Die Markus-Parallele (12,28) hat πρώτη [ prōtē], was ebenfalls den Superlativ in Mt 22,36 unterstützt. Sinnvoll wäre es sicher, auch ganz unbestimmt nach einem „großen Gebot“ zu fragen. Aber die Zuspitzung auf das größte bildet doch die stärkere Herausforderung. Schließlich bezeugen die Begriffe πρώτη [ prōtē] und δευτέρα ἐντολή [deutera entolē] in V. 38f, dass Jesus jedenfalls die Frage so verstand, dass er nach dem größten Gebot (Superlativ) gefragt wurde. Gesetz, νόμος [nomos], bedeutet in diesem Zusammenhang wohl das Mose-Gesetz. Die Suche nach einer Zusammenfassung der 613 Gebote im AT108 oder einem regierenden obersten Gebot bewegte die Rabbinen schon lange. Wieder bieten die Sprüche der Väter die beste Illustration. Hier geht beispielsweise R. Simon b. Gamliel von Sach 8,16 aus, wenn er erklärt: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand, auf Recht, Wahrheit und Frieden.“109 Doch warum wird Jesus ausgerechnet mit dieser fast akademisch anmutenden Frage konfrontiert? Die Kommentare geben wenig Klarheit. Auch Markus als Seitenreferent hilft nicht weiter. Erst recht kann Lukas 10,25ff nicht helfen, denn hier zeigt es sich, dass wir es bei Lukas mit einem ganz anderen Vorfall zu tun haben. Ehrlicherweise müssen wir eingestehen, dass Matthäus in 22,34ff zu sparsam ist mit seinen Mitteilungen, sodass sich für uns der Hintergrund nicht mehr ganz erhellen lässt. Nur so viel ist klar: Für die Beurteilung Jesu hatte seine Stellung zum Gesetz zentrale Bedeutung (vgl. Mt 5,17ff ). Möglicherweise war die Frage von V. 36 zunächst nur als Einstiegsfrage gedacht, um aus der Antwort Jesu weitere Untersuchungen abzuleiten.110 Ähnlich wie in 22,29-32 gibt Jesus in V. 37-40 eine ausführliche Antwort. 107 BDR § 245,2. Ebenso W. Grundmann, Art. μέγας usw., ThWNT, IV, 1942, 541; Fiedler 338; Schniewind 224; Beare 442; Tasker 215. Anders Luz III 277f; Sand 445. 108 Simon b. Azzai (ca. 110 n.Chr.) zählte 365 Verbote. Daneben stehen 248 Gebote. 109 P. Abot I, 18. Vgl. b Schab 31a; Strack-Billerbeck I 900ff. 110 Vgl. die Erwägungen in meinem früheren Kommentar (Maier II 227f ).

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Sie beginnt damit, dass Jesus dem Gesetzeskundigen Deut 6,5 zitiert: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzem Herzen und von all deiner Seele und mit deinem ganzen Verstand (V. 37). Das Zitat in Mt 22,37 entspricht der LXX (und dem MT) bis auf zwei kleinere Veränderungen: das ἐξ [ex] der LXX wird ersetzt durch ἐν [en], und das δύναμις [dynamis] LXX = ‫[ ְמֹאד‬mᵉʾod] MT wird ersetzt durch διάνοια [dianoia]. Dieses διάνοια, Verstand,111 interpretiert Johannes Behm als „geistiges Leben“.112 Vielleicht hat Jesus an dieser Stelle διάνοια (hebr. ‫[ ִבּיָנה‬bīnāh]? ‫[ ֵשֶׂכל‬śekäl]?) deshalb bevorzugt, weil es um die Einsicht in den Willen Gottes im Gesetz ging. In Mk 12,30.33 findet sich ebenfalls διάνοια, was vom Gesprächspartner unter Gebrauch des Begriffes σύνεσις [synesis]113 bestätigt wird. Hier gab es also keine Differenz. Jesu Berufung auf Deut 6,5 war meisterhaft. Er griff damit das Schma Jisrael, Israels Glaubensbekenntnis, auf. Diese Gesetzesaussage konnte nicht überboten werden. Die Liebe zu Gott als Spitzengebot schloss den Gehorsam gegen alle Gebote der Tora ein. Man denke an Joh 15,10: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe“, und an den Psalmbeter in Ps 119: „Ich liebe deine Gebote“ (Ps 119,113.127.159.167). Völlig anders als Walter Grundmann meint, ging es für Jesus also nicht darum, ein „Prinzip des Gesetzes“ aufzuzeigen,114 das dann aus dem „Nomismus“ der Einzelgebote herausführt, sondern es ging darum, mit Deut 6,5 die Treue zum ganzen Gesetz zusammenzufassen. Siehe auch Mt 23,2f.23; 5,17ff. Das Schma Jisrael (Deut 6,4-9) kann in seiner Bedeutung für Israel kaum überschätzt werden.115 Mindestens zweimal täglich wurde es im Tempel gesprochen, nämlich beim Morgen- und beim Abendgebet. Kinder haben es früh gelernt. Es prägte die Liebe zu Gott jedem jüdischen Menschen ein, eine Liebe, die bis zum Martyrium durchtrug. Wir lesen in b Ber 61b: „Die Stunde, da man R. Akiba zur Hinrichtung führte [133 n.Chr.], war gerade die Zeit des Schma-Lesens, und man riss sein Fleisch mit eisernen Kämmen; er aber nahm das Joch der himmlischen Herrschaft auf sich. Seine Schüler sprachen zu ihm: Meister, so weit? Er erwiderte ihnen: Mein ganzes Leben grämte ich mich über den Schriftvers: „mit deiner ganzen Seele“, sogar, wenn er deine Seele nimmt, indem ich dachte: wann bietet sich mir die Gelegenheit, und ich will es erfüllen, und jetzt, wo sie sich mir darbietet, sollte ich es nicht erfüllen? Er dehnte solange „einzig“, bis ihm die Seele bei „einzig“ ausging.“ 111 112 113 114 115

J. Behm im Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, 963. Bauer-Aland 375: „Vernunft“. Behm a.a.O. Vgl. Bauer-Aland 1572. So Grundmann a.a.O. 542. Vgl. Umwelt I 214ff hier und im Folgenden.

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Vers 39: Das ist das größte und erste Gebot (αὕτη ἐστὶν ἡ μεγάλη καὶ πρώτη ἐντολή [hautē estin hē megalē kai prōtē entolē]). Dieser kleine Vers wird allzu rasch überlesen. Das hat zur Folge, dass das Auge des Auslegers sofort auf das ὁμοία [homoia] des folgenden Verses fällt. Konsequenz: Man spricht dann gerne davon, dass beide Gebote gleich seien,116 und lässt Jesus auf die Frage von V. 36 gar antworten: „Es sind zwei“, die „eine innere Einheit“ darstellen.117 Wir werden vorsichtiger sein müssen. Wir haben die solenne Feststellung, Deut 6,5 sei das größte und erste Gebot, ernst zu nehmen. Was das größte118 ist, schließt als Spitzengebot alle anderen mit ein, was man vom zweiten nicht ohne Weiteres behaupten kann. Und was das erste ist (πρώτη [ prōtē]), kann in der Rangordnung niemals von einem zweiten (δευτέρα [deutera]) verdrängt werden.119 Man darf diese Art der Verknüpfung nicht einfach der Theologie des Matthäus zuschieben. Bei Markus ist die Rangordnung eher noch schärfer zum Ausdruck gebracht, denn Jesus beginnt seine Antwort in genauer Entsprechung zur Frage des Pharisäers (ποία ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη πάντων; [ poia estin entolē prōtē pantōn?]) mit den Worten: „Das erste ist …“ (πρώτη ἐστίν [ prōtē estin], Mk 12,28f ). In all den protestantischen Beiträgen lebt noch immer der Streit ums Gesetz fort, der einst die reformatorische Bewegung fast gespalten hätte.120 Nun kommt Jesus in V. 39 auf ein zweites Gebot zu sprechen: Ein zweites aber ist ihm gleich (δευτέρα δὲ ὁμοία αὐτῇ [deutera de homoia autē]121): Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Genommen ist dieses Gebot aus Lev 19, einem Kapitel des Heiligkeitsgesetzes, das Jesus besonders liebte, genauer: aus Lev 19,18.122 Jesus hat nach dem Matthäusevangelium diese Stelle öfter ausgelegt (vgl. Mt 5,43; 19,19). Man wird zunächst also sagen müssen: Sie ist typisch für ihn. Bezüglich der „Zusammenordnung“ von Deut 6,4f und Lev 19,18 schreibt Stuhlmacher unter Berufung auf Nissen sogar, es gebe dafür „bisher keine jüdischen Parallelen“.123 Formal mag das zutreffen. Inhaltlich aber ist zu beobachten, dass die pharisäische Tradition auf Liebes116 Schniewind 224. 117 So G. Schrenk im Art. ἐντέλλομαι usw., ThWNT, II, 1935, 545, übernommen von W. Michaelis im ThWNT, VI, 1959, 869. 118 Hier eindeutig Superlativ wegen des Artikels ἡ μεγάλη. 119 Vgl. W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, 868f. Anders Schlatter 337: „kein Unterschied des Ranges“. 120 Vgl. Handbuch DTG II 117ff. 121 Die Textvarianten lassen nur das δέ als fragwürdig erscheinen. 122 Fiedler 339: „wörtlich aus Lev 19,18 LXX“. 123 Stuhlmacher I 100.

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werke und Liebespaxis ein auffallendes Gewicht legt. Schon P. Abot I, 2 beginnt mit dem Satz: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand: Auf der Tora, dem Gottesdienst und den Liebeswerken“. Wenig später (I, 5) heißt es: „Dein Haus sei weitgeöffnet“. Die praxis pietatis ist geradezu ein Kernmerkmal des Pharisäismus. Dementsprechend ist auch Jesu Betonung von Lev 19,18 niemals auf den Widerstand der Pharisäer gestoßen (vgl. Mt 5,43ff; 19,19ff; 22,39f; Mk 12,32ff ). Was aber heißt ὁμοία [homoia] (gleich)? Markus vermeidet dieses Wort. Deshalb steht bei ihm fest, dass Lev 19,18 eben nur den zweiten Rang einnimmt. Im Sprachgebrauch des Matthäus wird ὅμοιος [homoios] dort verwendet, wo sich ein Vergleich durchführen lässt (Mt 11,16; 13,31.33.44.45.47.52; 20,1; 22,39). Kurz gesagt: ὅμοιος bedeutet „gleichartig“, „gleichwertig“, aber nicht identisch. Im Lichte dieses Sprachgebrauchs besagt Mt 22,39: Das Gebot der Nächstenliebe wird auf das Niveau der Gottesliebe emporgehoben – umgekehrt könnte man das nicht sagen! Das Gebot der Gottesliebe bleibt also der erste Orientierungspunkt, der Regens im Verhältnis beider.124 Um welche Liebe geht es? Man sollte Mt 22,39 nicht vorschnell mit der Thematik der Feindesliebe vermengen, sondern das Liebesgebot in der Weite auffassen, die es im Evangelium kennzeichnet. Dabei wird der Nächste von Jesus hier nicht in einem speziellen Sinn bestimmt. Er ist selbstverständlich zunächst bezogen auf seine gesamte Gemeinde (Joh 13,34f ), sodann aber auf jeden Menschen, den uns Gott in den Weg schickt (Lk 10,25ff ), und dann allerdings auch auf unsere Feinde (Mt 5,43ff ).125 Interessant bleibt es, dass Jesus auch im Gespräch mit den Pharisäern aus der Mose-Tora heraus argumentiert (Levitikus). Der letzte Satz, den wir im Gespräch über das größte Gebot lesen, ist ein Satz Jesu:126 In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (V. 40). Der allgemeine Sinn ist sofort klar: An diesen zwei Geboten, nämlich Deut 6,5 und Lev 19,18, lassen sich alle Gebote der Heiligen Schrift Israels – das nämlich bedeutet die Zusammenstellung das Gesetz und die Propheten – festmachen. Doch was ist der genaue philologische Sinn von κρέμαται [krematai]127? Am Kreuzesholz „hängt“ der Verurteilte (Gal 3,13, 124 Vgl. Joh. Schneider, Art. ὅμοιος usw., ThWNT, V, 1954, 188: „gleichwertige“; BauerAland 1148ff: „gleichartig“, „ähnlich“, „ebenso groß“; Neue Jerusalemer Bibel: „ebenso wichtig“; vgl. die modernen Bibelübersetzungen; Gaechter 714. 125 Carson 464; H. Greeven, Art. πλησίον, ThWNT, VI, 1959, 314ff. 126 Als „gesprochenes Wort Jesu“ auch von Gaechter 714 gewertet. Anders Schrenk a.a.O.: von „Mt … hinzugefügt“. 127 Vgl. BDR § 93,5.

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vgl. Apg 5,30; 10,39; Lk 23,39), am Hals „hängt“ der Mühlstein (Mt 18,6), und die Schlange „hängt“ an der Hand des Gebissenen (Apg 28,4). Es geht hier also nicht – darin hat G. Bertram recht – „um eine logische Ableitung … der vielen Gebote“ von den zweien.128 Vielmehr geht es um den tragenden Grund für sie alle.129 Im Bild gesprochen: „wie an Nägeln oder Pflöcken oder wie die Tür in der Angel“ hängen die übrigen Gebote an diesen zweien.130 Vers 40 ist Sondergut des Matthäus. Im Unterschied zu Mk 12,32ff berichtet er von keiner Reaktion des Fragestellers. Nur der Kontext lässt vermuten, dass Jesu Antwort akzeptiert wurde. Jedenfalls erfolgte zu diesem Punkt keine Anklage gegen Jesus.

IV Zusammenfassung Bei der Fülle der Gesichtspunkte in Mt 22,34-40 ist eine Zusammenfassung nicht einfach: 1. Die Stoßrichtung der Frage nach dem größten Gebot ergibt sich nur indirekt aus dem Text. Wir nehmen an, dass sie a) auf die Gesetzestreue Jesu und b) auf seine Messianität zielt. Auf jeden Fall gehört sie in das seit Mt 21,23 begonnene Verhör und will einen Anklagepunkt gegen ihn finden (V. 35 πειράζων αὐτόν [ peirazōn auton] = in der Absicht, ihn auf die Probe zu stellen). 2. Jesus beantwortet die Frage zuerst mit Deut 6,5, einer Kernstelle aus dem Schma Jisrael, dem jüdischen Glaubensbekenntnis, und ergänzt seine Antwort dann durch Lev 19,18. Neben die Gottesliebe tritt damit die Nächstenliebe. Die Auslegung muss dem Verhältnis beider in Mt 22,37-39 gerecht werden. Zu betonen ist einerseits, dass die beiden Gebote nicht identisch sind, dass der Vorrang des „ersten Gebots“ gewahrt bleibt, ja dass es die Quelle des zweiten bildet; und andererseits, dass Jesus die Nächstenliebe auf das Niveau der Gottesliebe hinaufhebt. Gleich (ὁμοία [homoia]) hat den Sinn von „gleichartig“, „gleichwertig“, „ebenso groß“, „ebenso wichtig“. 3. Man hat sich angewöhnt, hier von einem „Doppelgebot der Liebe“ zu sprechen. Mit Recht hat Georg Bertram gerade davor gewarnt,131 weil dadurch die Besonderheit des jeweiligen Gebots verloren zu gehen droht und auch die Rangordnung, die Jesus wichtig war (erstes, „zweites“ Mt 22,38f; Mk 12,28f ). Allzu rasch kommt man dann zu Identifizierungen wie in dem Satze Adolf Schlatters: „Gott … dienen heißt, daß wir dem Menschen die128 G. Bertram, Art. κρεμάννυμι usw., ThWNT, III, 1938, 919f. Ebenso Carson 465; Luz III 282. 129 Bertram a.a.O. 919; Gaechter 715. 130 Zahn 646; Bertram a.a.O.; Bauer-Aland 914; Strack-Billerbeck I 907f; b Ber 63a (‫) ָתּלוּי‬. 131 Bertram a.a.O. 919.

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nen.“132 Im 21. Jh. ist die europäische Kultur mit ihrer Menschenzentrierung sehr anfällig für solche Sätze. Das Stichwort von der Liebe droht hier das Stichwort Gott völlig zuzudecken, während für Jesus die elementare Beziehung zu Gott erst ein Reden von der Liebe möglich macht. 4. Das nötigt zu weiteren Abklärungen. Die Erste besteht in der Erinnerung daran, dass Gebot eine Äußerung des Willens Gottes ist, die unseren Gehorsam fordert. 133 Sie ist unabhängig von unseren Gefühlen.134 Es genügt also nicht, die Gottesliebe als „Hingegebensein“ an Gott135 oder als „Handeln … aus der Kraft der Liebe“136 zu beschreiben. Vielmehr liebt der- oder diejenige Gott, der oder die Gottes Gebote hält (Joh 14,15; 15,10; 1Joh 5,3). Deshalb kann aus der Gottesliebe oder aus der Nächstenliebe auch nie ein „Prinzip“ werden. Es gehört zu den Ur-Versuchungen des Protestantismus (und natürlich auch anderer!), aus einem Gebot ein „Prinzip“ zu machen. Diese Gefahr wird deutlich, wenn beispielsweise Grundmann Mt 22,34ff so auslegt, dass Jesus hier die „Frage nach dem Prinzip des Gesetzes“ beantwortet, und dann schreibt: „das Prinzip des Gesetzes aufzeigen, heißt einen Weg betreten, der aus dem Nomismus des Judentums herausführt.“137 Allzu rasch ist man dann bei der Meinung, die kleineren Gebote als Ausdruck eines „Nomismus“ wären dann nicht mehr gültig.138 Aber das Gegenteil ist der Fall. Jesus liebt auch die sog. „kleinen“ oder „leichten“ Gebote, ja er schützt und befolgt sie.139 Mt 5,17ff; 23,23 und nicht zuletzt 22,40 sind dafür Zeugen. Erst recht kann das Liebesgebot nicht zum „hermeneutischen Kanon“ für die Auslegung des AT oder NT gemacht werden.140 Wir haben es zu oft erlebt, wie im Zeichen der Liebe Nationen vergöttert, Konfessionen verteufelt und Gebote zur Ehe aufgehoben wurden. 5. Für unsere Auslegung hat sich ergeben, dass Jesus wegen seiner Äußerungen zu den Zentralgeboten der Gottes- und der Nächstenliebe nicht mehr attackiert wurde. In der Anklage gegen ihn wird an diesem Punkt keine Kritik sichtbar. Sagen wir es positiv: Hier stimmen Jesus und die Pharisäer überein. Es ist Fiedlers Verdienst, dies noch einmal klar herausgearbeitet zu haben: „Mt 132 133 134 135 136 137 138

Schlatter 337. Vgl. Schrenk a.a.O. 542ff. Fiedler 339. Grundmann a.a.O. 542. Bertram a.a.O. 920. Beides Grundmann a.a.O. 542. Dagegen France 320. So z.B. Bertram a.a.O.: „Der Glaubende ist … nicht an eine Vielzahl von Vorschriften gebunden.“ 139 Hier hat Schrenk a.a.O. 544f recht; ebenso Carson 465f; Luz III 282; Fiedler 339. 140 Carson 465. Gegen Sand 448.

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hütet sich, von pharisäischem Protest zu schreiben – er weiß eben um die Übereinstimmung!“141 In der Tat sind die Versuche etwa von Luz, eine „Neuheit“ bei Jesus gegenüber dem frühen Judentum zu entdecken,142 ziemlich gewunden.143 Ähnlich ist es bei angelsächsischen Auslegern, wo beispielsweise Tasker sagt: „It is probable, though not certain“, dass Jesus als Erster in dieser Weise Deut 6,5 mit Lev 19,18 verband.144 Demgegenüber stellt Schniewind nüchtern fest. „Jesus bringt nicht etwas inhaltlich Neues.“145 Man muss es klar sagen, dass alle einzelnen Elemente sich auch bei den Rabbinen nachweisen lassen, zum Teil sehr früh, so bei Hillel, Akiba, Simon b. Azzai.146 Man kann also christlicherseits nicht sagen, Jesus sei ganz originell gewesen, oder: „Das Judentum der Zeit kannte nichts Vergleichbares.“147 Dass er das Entscheidende so auf den Punkt bringen konnte und dass er eine solche eindeutige Rangordnung aufstellte, das allerdings zeichnet ihn aus. 6. Jesus hat der Christenheit in den beiden Zentralgeboten der Gottes- und der Nächstenliebe einen Leitstern für die Ethik mitgegeben, der kaum überschätzt werden kann. In der Tat wurde „die Liebe zum tragenden Fundament“148 ihrer Verkündigung – und oft auch ihres praktischen Verhaltens. Die apostolische Weitergabe in Röm 13,10; 1Kor 13,1ff; Gal 5,14; 6,10; Jak 2,8 und anderen Aussagen hat daran wesentlichen Anteil. Nur wenige Hinweise mögen als Stichworte dienen. Um 100/120 n.Chr. zitieren Didache und Barnabasbrief aus Mt 22,34ff par. bzw. den alttestamentlichen Geboten (Did 1,2; 2,7; Barn 19,2.5). Um 150 n.Chr. zitiert Justinus Martyr eindeutig aus Mt 22,34ff par. (Apol I, 16,6; Dial c Tryph 93,2). Um 180 n.Chr. beweist Irenäus die eine und selbe Autorschaft für Gesetz und Evangelium daraus, dass „im Gesetz und im Evangelium das erste und größte Gebot ist, Gott den Herrn aus ganzem Herzen zu lieben, und das zweite, diesem ähnlich, den Nächsten wie sich selbst zu lieben“ (AdvHaer IV, 12,3) – eine erstaunlich genaue Exegese von Mt 22,34ff par. Um 400 n.Chr. fasst Augustin in De doctrina christiana Mt 22,34ff par. wie folgt zusammen: „Ziel des ganzen Gesetzes ist demnach

141 142 143 144 145 146

Fiedler 340. Luz III 281ff. Ebenso Schrenk a.a.O. 545f; Gaechter 714. Tasker 215. Schniewind 224. Strack-Billerbeck I 907f; Chag I 8; Hengel-Schwemer 435; Fiedler 339f; Umwelt I 214f. 147 So Gaechter 715. 148 So Gaechter a.a.O.

6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46

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die Liebe, und zwar die doppelte: zu Gott und zum Nächsten.“149 Damit war für die christliche Exegese und Sittenlehre die Spur gelegt, der sie bis heute folgen.

6.4 Die Frage nach Davids Sohn, 22,41-46

I Übersetzung 41 Als aber die Pharisäer versammelt waren, fragte sie Jesus: 42 Was meint ihr vom Messias? Wessen Sohn ist er? Sie sagen zu ihm: Davids. 43 Er sagt zu ihnen: Wie nennt ihn dann David im Geist „Herr“, wenn er sagt: 44 Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege? 45 Wenn ihn also David „Herr“ nennt, wie ist er dann sein Sohn? 46 Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, und es wagte auch von jenem Tage an keiner mehr, ihm eine Frage zu stellen.

II Struktur Die berühmte Davids-Sohn-Frage nimmt einen einfachen Verlauf. Überraschenderweise ist es jedoch Jesus, der das Gespräch hier in Gang setzt und auch seinen Verlauf bestimmt. Dieser Ablauf gliedert sich wie folgt: 1) Situationsangabe (V. 41a), 2) Jesu Frage (V. 42b-42a), 3) die Antwort der Pharisäer (V. 42b), 4) Jesu erneute Frage (V. 43-45), 5) das Resultat des Gesprächs (V. 46). Vers 46 ist Sondergut des Matthäus. Ansonsten aber liegen bei Markus (12,35-37a) und Lukas (20,41-44) enge Parallelen vor. Auch bei den Seitenreferenten des Matthäus werden die Berichte in denselben Zeitraum eingeordnet. Man kann also davon ausgehen, dass Jesus seine Frage im Rahmen desselben Verhörs gestellt hat, in dem wir uns schon seit Mt 21,23 bewegen.150 Allerdings kehrt Jesus sehr entschieden zum Ausgangspunkt des Verhörs zurück. Es hatte ja mit der Frage nach Jesu Vollmacht begonnen. Inzwischen aber hatten sich die Themen „Israel und das Gesetz“ in den Vordergrund geschoben. Jetzt spricht Jesus ganz offen vom Messias: Gerade das ist für ihn die entscheidende Frage.

149 Zitiert nach Texte KV II 452. 150 Gaechter 716.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

III Einzelexegese Die Situationsangabe (V. 41) ist kurz: Als aber die Pharisäer versammelt (συνηγμένων [synēgmenōn]) waren … Versammelt waren sie vermutlich in einer der Lehrhallen des Tempelvorhofs (vgl. Joh 10,23).151 Bei den Pharisäern haben wir wohl in erster Linie an die pharisäischen Mitglieder des Hohen Rates zu denken.152 Jesus fragte sie: Auf welchem Wege dies geschah, bleibt offen. Nach Mk 12,35 hat man den Eindruck, dass Jesus seine Frage während eines eigenen Lehrvortrages stellte, vielleicht sogar in der Halle Salomos (vgl. Joh 10,23). Dann müssten bei seinem Lehrvortrag auch Pharisäer anwesend gewesen sein, was sich schon aus Gründen der Überwachung nahelegte. Jedenfalls kann man sich nur schwer vorstellen, dass Jesus zur Versammlung der Pharisäer (s. oben) zugelassen wurde.153 So viel ist allerdings klar: Für Jesus kam alles auf die Frage an, ob er der Messias ist oder nicht. Die Kennzeichnung der Verse 41ff als „Gegenangriff “154 erfasst nur einen Teil des Vorgangs. Die Frage ist wieder kurz: Was meint ihr vom Messias? (V. 42). Die Formulierung Was meint ihr? möchte wie in Mt 17,25; 18,12; 21,28; 22,17 die Gesprächspartner zu einer Äußerung herauslocken. Mit dem Stichwort Messias (χριστός [christos]) ist dasjenige Thema offen angesprochen, das seit Jesu Einzug (21,1ff ) alle bewegte. Zahn schreibt mit Recht: „wie es längst in Galiläa auf allen Gassen zu hören war, daß Jesus der Messias sei und sein wolle, so mindestens seit dem Ereignis von 21,1-16 auch in Jerusalem“.155 Wie auf dem Boden dieser historischen Verhältnisse in der neutestamentlichen Exegese eine „Messias-Geheimnis-Theorie“ entstehen konnte, bleibt rätselhaft. Wessen Sohn ist er? Eine solche Frage konnte Jesus nur stellen, wenn für ihn selbst die Frage nach seinem Vater oder seiner Mutter nicht peinlich war. An dieser Stelle brechen alle Theorien, er sei ein Mamzer (Bastard), sein Vater sei ein römischer Besatzungssoldat, seine Mutter habe gehurt u.Ä. in sich

151 Anders Gaechter 716: „wohl … ein mehr zufälliges Zusammentreffen“; ähnlich Schlatter 339. 152 BGS fantasiert wieder: „Pharisäer und Pharisäerinnen“. Auch die BasisBibel gegen die griech. Grammatik: „Als die Pharisäer bei Jesus zusammengekommen waren“. Undeutlich Gute Nachricht: „Da die Pharisäer nun einmal versammelt waren“. 153 Die Pharisäer könnten auch im Anschluss an das Gespräch V. 34-40 noch „versammelt“ gewesen sein (Maier II 232). So Tasker 215. Anders Luz III 286: „Er geht zu den noch immer versammelten Pharisäern.“ 154 Gaechter 716. 155 Zahn 647.

6. Weiteres Verhör Jesu in Jerusalem, 22,15-46

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zusammen. Jesus muss sich seiner davidischen Abkunft vollkommen sicher gewesen sein.156 Die Antwort war absehbar: Sie sagen zu ihm: Davids. Das war sowohl die volkstümliche als auch die allgemeine schriftgelehrte Ansicht. Siehe auch Mt 2,4ff; 9,27; 12,23; 15,22; 20,30f; 21,9.15; Joh 7,42. Begründet wird sie durch die Nathans-Weissagung in 2Sam 7,12-14, sodann durch die Prophetie bei Jesaja (11,1ff ); Jeremia (23,5); Hesekiel (34,23); Amos (9,11ff ); Micha (5,1ff ) und Haggai (2,20ff ). Noch heute gibt es eindrückliche Spuren der damaligen davidischen Messias-Erwartung. In PsSal 17,21 steht die Bitte: „richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids“. Im äth Henochbuch verschmilzt der Menschensohn mit dem Davidssohn (äthHen 49,2f ). In Qumran wartet man darauf, „daß kommt der Gesalbte der Gerechtigkeit, der Spross Davids“ (4QPatr 3f ).157 Nicht anders ist es in der rabbinischen Überlieferung.158 Jesus greift in V. 43-45 diese Antwort auf. Die Partikeln πῶς [ pōs] (wie?) und οὖν [oun]159 (dann) führen konsekutiv das Thema „Sohnschaft des Messias“ weiter. Wenn Jesus fragt: Wie nennt ihn dann David im Geist „Herr“? lehnt er ja die Bezeichnung Davids Sohn keineswegs ab.160 Er bestätigt sie vielmehr und macht sie zur Grundlage weiterführender Überlegungen.161 Die Exegeten sprechen hier im Gefolge David Daubes „von einer haggadischen Frage, in der es darum gehe, zwei scheinbar widersprüchliche Schriftstellen miteinander zu verbinden“.162 Dass David im heiligen Geist redete, steht schon in 2Sam 23,2 und wird auch von den Rabbinen gelehrt (b Ar 15b).163 Siehe auch Apg 1,16; 2,25ff; 4,25; 13,35; Röm 4,6; 11,9; Hebr 4,7.164 Wo und wie David den Messias Herr (κύριος [kyrios]) nennt, zeigt Jesus nun an Ps 110,1 auf: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege (V. 44). Das Zitat lautet in Mk 12,36 und Lk 20,42 genau gleich, mit der einen Ausnahme, dass Lukas ὑποκάτω [hypokatō] durch ὑποπόδιον [hypopodion] ersetzt. Lukas scheint nach der LXX korrigiert zu haben, die eben dieses ὑποπόδιον anstelle

156 157 158 159 160 161 162

Riesner 213. Vgl. 4QFlor I, 11ff. E. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT, VIII, 1969, 484f. Vgl. BDR § 451. Gegen Bultmann, Gesch, 144ff. Hengel-Schwemer 293; Sand 449; Beare 445. Luz III 286,7. Riesner a.a.O.: „haggadische Antinomiefrage“. Schon Zahn 646: „wie eine Schulfrage“. Lohse a.a.O. 488; Gaechter 718. 163 Strack-Billerbeck I 909. 164 Lohse a.a.O. 486.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

von ὑποκάτω enthält, ansonsten aber völlig mit Mt/Mk übereinstimmt bis auf den Artikel ὁ [ho] vor κύριος [kyrios] (LXX Ps 109,1). Haben Matthäus, Markus und Lukas auch nur einen Funken historischer Zuverlässigkeit,165 dann hat Jesus selbst den Gebrauch von Ps 110,1 in das christologische Denken seiner Jüngerschaft eingeführt. Denn von nun an spielt Ps 110,1 im NT eine eminente Rolle. Nach Oscar Cullmann gibt es „wohl kaum eine alttestamentliche Stelle, die von allen neutestamentlichen Verfassern so oft zitiert wird wie gerade diese“.166 Er erwähnt Röm 8,34; 1Kor 15,25; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3; 8,1; 10,13; 1Petr 3,22; Apg 2,34; 5,31; 7,55; Offb 3,21; Mt 22,44; 26,64; Mk 12,36; 14,62; 16,19; Lk 20,42; 22,69, dazu 1Klem 36,5; Barn 12,10.167 Die messianische Deutung des Psalms steht dabei außer Frage.168 Entscheidend für den Inhalt von Ps 110,1 ist der Umstand, dass ‫ [ יהוה‬jhwh] und ‫[ ָאדוֹן‬ʾādōn] (das erste und das zweite κύριος [kyrios] der LXX) verschiedene Personen bezeichnen und der ‫ָאדוֹן‬ nicht auf den König David als Sprecher des Psalms, sondern nur auf Davids Herrn bezogen werden kann. Mit anderen Worten: Er muss auf den Messias bezogen werden.169 Ist aber – so die Gedankenlinie Jesu – der Messias Davids Herr, dann muss die Aussage, dass er Davids Sohn ist, ergänzt werden (V. 45). Denn biblisch ist wohl der Vater dem Sohn gegenüber in der Stellung eines Herrn, aber nicht der Sohn dem Vater gegenüber. So bringt Ps 110,1 das ganze Geheimnis der Person Jesu zum Ausdruck. Betrachtet man die Einzelheiten von V. 43-45, dann ergeben sich einige Folgerungen: 1) In der so wichtigen Messias-Frage verlässt sich Jesus ganz auf die Schrift. Dabei gelten für ihn gerade auch die Psalmen als kanonisch. 2) Er kann allgemein voraussetzen, dass Ps 110 messianisch gedeutet wurde.170 Sonst würde der Gebrauch dieser Psalmstelle keinen Sinn ergeben. 3) Er selbst hält David für den Verfasser des Psalmes und weiß sich darin mit den Schriftgelehrten seiner Zeit einig.171 Man deutete also allgemein das ‫ְלָדִוד‬ [lᵉdāwid] auf den Verfasser – fernab von der heutigen „Psalmkritik“. 4) Jesus muss aufgrund von Mt 22,43-45 parr. erwartet haben, dass er zur Rechten Gottes sitzen werde, also in völliger göttlicher Machtstellung, und dass in Zukunft alle seine Feinde unter seine Füße gelegt würden. Das kann man 165 166 167 168 169 170 171

Von Bultmann a.a.O. radikal verneint, der hier nur „Gemeindebildung“ kennt. Cullmann 230. Ebenso Carson 467. A.a.O. Cullmann 87.132f.209. Cullmann a.a.O.; Gaechter 717. Gaechter 717; Delitzsch, Ps, 677; France 322; Carson 467. Gaechter a.a.O.; Delitzsch a.a.O.; France a.a.O.; Lohse a.a.O. 483.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

351

kaum anders deuten, als dass er mit seiner himmlischen Herrschaft beim Vater und mit seiner Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit rechnete. Gerade das wird er im Prozess sagen (Mt 26,64). 5) Daraus ergibt sich zugleich sein Bewusstsein, Gottes Sohn zu sein. Davids Sohn und Gottes Sohn – wie nahe liegt das an der späteren christologischen Aussage „wahrer Mensch und wahrer Gott“ (Joh 20,28).172 Mit einem Vers, der nur dem Matthäusevangelium eigen ist (vgl. aber Mk 12,34; Lk 20,40), schließt unser Abschnitt: Und niemand konnte ihm ein Wort (λόγον [logon]) antworten, und es wagte auch von jenem Tage an keiner mehr, ihm eine Frage zu stellen (V. 46). Daraus ergibt sich zweierlei: 1) Die pharisäischen Schriftgelehrten waren weder in der Lage noch willens, irgendeinen der Gesichtspunkte Jesu zu bestreiten: weder die Verwendung von Ps 110,1 als Schriftzitat, noch die davidische Verfasserschaft, noch die messianische Deutung des Psalms, noch die Erkenntnis, dass der Messias mehr sein muss als der Sohn Davids. Sie waren ehrlich genug zu schweigen, was für uns in unserer Lärm- und Dauerdiskussions-Kultur auffallend bleibt.173 2) Das gesamte, anstrengende Verhör seit Mt 21,23 hat keinen einzigen Anklagepunkt gegen Jesus erbracht. Seine Stellung zu Schrift und Gesetz blieb untadelig. Die Entscheidung musste auf anderem Wege fallen.174

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39 Vorbemerkung Nach Kap. 5–7; 10; 13; 18 ist Mt 23 der fünfte große Redekomplex im Matthäusevangelium.1 Er wirft eine Reihe von Fragen auf, die bis heute zum Teil nicht geklärt werden konnten. Wie soll man abgrenzen? Die Alandsche Synopse sieht Mt 23,1-36 als Einheit und trennt davon Mt 23,37-39 ab.2 Ulrich Luz fasst Mt 23,1–24,2 zusammen. Unseres Erachtens liegt zwischen 23,39 und 24,1 eine Zäsur. Eine

172 Vgl. Delitzsch a.a.O.; Zahn 648f; France 322; Luz III 290. 173 Interessant der Gedanke von Carson 468f, dass damals der junge Paulus in Jerusalem sein könnte (vgl. Röm 1,3f ). 174 Gaechter 720 (etwas zu triumphalistisch): „er war im Theologischen der Sieger“. 1 Vgl. Kümmel, Einl, 77. 2 Ebenso France; Carson.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

solche fehlt zwischen 23,36 und 23,37. Deshalb behandeln wir das ganze Kapitel 23,1-39 als Einheit.3 Wie soll man den Inhalt bestimmen? Die verschiedenen Überschriften verraten, dass man den Inhalt ebenfalls verschieden akzentuieren kann. Eine Reihe von Auslegern betrachtet Mt 23 vor allem unter dem Gesichtspunkt der „Weherufe“.4 Eine andere Gruppe rückt die Anklage oder Stellungnahme gegen Pharisäer und Schriftgelehrte in den Vordergrund.5 Ganz grundsätzlich formuliert Schlatter: „Die Verurteilung der Pharisäer“.6 Sand subsummiert Mt 23 unter „Drohsprüche“.7 Näher am Inhalt scheint Fiedler mit „Warnungen und Verheißung“.8 Für uns selbst ist die enge Verwandschaft mit den prophetischen Gerichtsreden des AT ausschlaggebend, sodass wir die Überschrift „Jesu prophetische Gerichtsrede“ wählen. In Mt 23 häuft sich das matthäische Sondergut. Es gibt kein echtes Seitenstück bei Markus und Lukas. Nur zu Mt 23,37-39 liegt in Lk 13,34-35 eine wirkliche Parallele vor. Woher hat Matthäus seine Überlieferung? Die einfachste Lösung scheint diejenige zu sein, das gesamte Kapitel als unjesuanisch zu betrachten.9 Damit werden dann allerdings die Texte des Matthäus auf den Kopf gestellt. Eine andere Lösung ist sachgemäßer: Matthäus bewahrt diese Überlieferung, weil die judenchristlichen Gemeinden vor der Tempelzerstörung immer noch auf sie angewiesen sind. Eine solche Notwendigkeit entfällt für die anderen Evangelisten. Ein Vergleich der beiden Stücke Mt 23,37-39 / Lk 13,34-35 führt zu der Frage, ob Matthäus evtl. Stoffe aus anderen Abschnitten der Jesusgeschichte in Kap. 23 aufgenommen hat. Man wird diese Frage vorläufig offenlassen müssen, da die Evangelisten bei der Anordnung ihrer Evangelien eine gewisse Freiheit genossen.10 Mt 23,1-39 gliedert sich wie folgt: 1) Lob der Schriftgelehrten und der Pharisäer, V. 1-2; 2) Kritik an ihrer Praxis, V. 3-7; 3) wie die Schriftgelehrsamkeit der künftigen messiansichen Gemeinde aussehen soll, V. 8-12; 4) siebenfaches Wehe über die zeitgenössischen Schriftgelehrten und Phairsäer, V. 1333; 5) Prophetie über die kommenden Propheten, Weisen und Schriftge-

3 4 5 6 7 8 9 10

Ebenso Beare; Fiedler; Schlatter; Tasker; Zahn. Luz; Carson; Bultmann; Zahn. Aland Syn; Beare; France; Schniewind; Tasker. Schlatter 340. Sand 450. Fiedler 342. So Beare 447. Vgl. Papias bei Eusebius HistEccl III, 39,15.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

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lehrten, V. 34-36; 6) Klage und eschatologische Verheißung für Jerusalem, V. 37-39.

7.1 Lob der Schriftgelehrten und der Pharisäer, 23,1-2

I Übersetzung 1 Danach richtete Jesus folgende Worte an die Menge und an seine Jünger: 2 Auf Moses Lehrstuhl sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer.

II Struktur Τότε [Tote] an der Spitze von V. 1 bedeutet wahrscheinlich „darauf “, danach. Es maskiert den Beginn einer neuen Phase in jenen gedrängten Jerusalemer Tagen. Wie in 13,3 bedeutet ἐλάλησεν [elalēsen] die Eröffnung einer längeren Ansprache. Wir haben also zu beachten, dass das Lob der Schriftgelehrten und Pharisäer in einen größeren Zusammenhang eingebettet ist und von vornherein eine Interaktion zwischen Mt 23,1f und dem übrigen Kapitel stattfindet. Dieser Kontext fehlt bei Mk 12,37b-40 und Lk 20,45-47, die eben nur sehr entfernte Parallelen zu Mt 2,1f darstellen. Zwei Adressaten, die Menge (ὄχλοις [ochlois]) bzw. das Volk (λαός [laos]), und die Jünger werden allerdings auch bei Markus und Lukas vorausgesetzt. Einmalig, also Sondergut, ist aber die Erwähnung der καθέδρα Μωϋσέως [kathedra Mōÿseōs] und ferner die Erwähnung beider Gruppen, der Schriftgelehrten und der Pharisäer, bei Matthäus. Wir werden darauf einen Schwerpunkt legen müssen.

III Einzelexegese Die Szene (V. 1) hat sich gegenüber Mt 21,23–22,46 gewandelt. Wir treten in einen neuen Abschnitt der Jerusalemer Abläufe ein (τότε [tote] temporal danach11). Zwar befindet sich Jesus noch immer im Tempelvorhof (vgl. Mk 12,38 mit 12,35; Lk 19,47; Mt 26,55). Aber nun ist es die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]), die er zusammen mit seinen Jüngern anspricht. Seit dem verdorrten Feigenbaum (Mt 21,20) ist es das erste Mal, dass seine Jünger wieder erwähnt werden. Das seit Mt 21,23 laufende Verhör ist offenbar vorläufig beendet. Die Menge war zusammen mit seinen Jüngern auch bei der Bergpredigt (Kap. 5–7) und Gleichnispredigt (Kap. 13) der Adressat. Wir dürfen deshalb 11 Vgl. BDR § 459,2.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

Mt 23,1ff als ein Wort auffassen, das grundsätzlich an das ganze Israel gerichtet ist. In V. 2 trifft Jesus eine knappe, aber inhaltlich weitreichende Feststellung: Auf Moses Lehrstuhl sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Fiedler verweist auf die „große Verlegenheit“, die viele christliche Kommentatoren angesichts dieser Feststellung empfinden, und nennt verschiedene Auswege, mit dieser „Verlegenheit“ fertigzuwerden:12 a) Matthäus wolle den Bruch mit der jüdischen Gemeinde vermeiden; b) Matthäus meine damit nur das, was die Bibel sagt; c) Matthäus überliefere nur weiter, was seine Tradition sagt; d) die Imperative in V. 3 seien ironisch13 oder konzessiv. Dabei hätte es doch Matthäus am einfachsten gehabt, wenn er V. 2 einfach weggelassen und wie Markus und Lukas nur vor den Schriftgelehrten gewarnt hätte! Das Problem sitzt aber noch an einer ganz anderen Stelle: Matthäus ist in 23,2 gar nicht mit sich selbst oder seiner Tradition beschäftigt, sondern berichtet von einer offenbar wichtigen Feststellung Jesu. Sie führt uns ganz in die Welt Israels. ׁ ֶ ‫[ ֹמ‬moschäh], griech. Μωϋσῆς [Mōÿsēs], war der Führer Mose, hebr. ‫שה‬ und menschliche Gesetzgeber Israels beim Auszug aus Ägypten. Josephus beschreibt ihn als einen Mann, „der alle Menschen, die jemals lebten, an Verstand (σύνεσις [synesis]) übertraf “, als „Feldherr“ (στρατηγός [stratēgos]) nur von wenigen erreicht wurde, und als „Prophet“ (προφήτης [ prophētēs]) niemand seinesgleichen fand.14 Nach J. Jeremias war er „für das Spätjudt die wichtigste Gestalt der ganzen bisherigen Heilsgeschichte“.15 Gerade im Judentum des Israellandes galt er als „der Lehrer Israels“ schlechthin.16 Auf ihn geht sowohl die schriftliche wie die mündliche Tradition zurück. Man sieht dies am besten an den „Sprüchen der Väter“, die der Talmud überliefert und die wie folgt beginnen: „Mose empfing die Tora auf dem Sinai, überlieferte sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge“ (P. Abot I, 1). Danach folgt die autoritative Reihe der rabbinischen Gelehrten.17 Wenn Jesus sagt: Auf Moses Lehrstuhl sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer ist dies in vollkommenster Übereinstimmung mit den „Sprüchen der Väter“.

12 13 14 15 16 17

Fiedler 345f. Vgl. France 324: „ironical“; Carson 473: „biting irony“. Ant IV, 327ff. Art. Μωυσῆς, ThWNT, IV, 1942, 854. Jeremias a.a.O. 857. Strack-Billerbeck I 909: Sie werden „als Inhaber der Lehrgewalt bezeichnet“.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

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Sitzen – ἐκάθισαν [ekathisan] für einen gegenwärtigen, dauerhaften Zustand18 – kennzeichnet die typische Haltung rabbinischer Lehrer,19 ist aber auch für die Lehrer in antiken Schulszenen typisch. Siehe auch Mt 5,1; 13,1f; 15,29; 24,3. Griech. κάθημαι [kathēmai] gibt in der Regel hebr. ‫שׁב‬ ַ ‫ [ ָי‬jāschab] wieder, ebenso καθίζω [kathizō].20 Die καθέδρα [kathedra] bezeichnet den „Sitz“ oder Stuhl eines Verkäufers (Mt 21,12) oder Lehrers.21 Die ganze Wortgruppe steht in einem Zusammenhang mit dem „Lehrhaus“, der ‫ְי ִשׁיָבה‬ [ jᵉschībāh] Ben Siras (Sir 51,23.29).22 Inzwischen wurden regelrechte „Lehrstühle“ in antiken Synagogen, z.B. in Chorazin, ausgegraben.23 Jesus spricht von Schriftgelehrten und Pharisäern. Seit Mt 5,20 ist uns diese Zusammenstellung bekannt (vgl. die Erklärung dort). Sie wird sich in den Versen 13.15.23.25.27.29 fortsetzen. J. Jeremias hielt die Worte καὶ οἱ Φαρισαῖοι [kai hoi Pharisaioi] für „sachlich unzutreffend“ und für „sekundär“.24 Sie sind aber textkritisch überhaupt nicht infrage zu stellen und ergeben einen guten Sinn. Offensichtlich wollte Jesus, der soeben eine lehrmäßige Übereinstimmung mit den Pharisäern bewiesen hatte (Steuerfrage, Auferstehungsfrage, sogar in der Benutzung von Ps 110), gerade die Schriftgelehrten der pharisäischen Richtung ansprechen. Sie sind schon in Mt 5,20 die hervorragendsten Ausleger unter den damaligen jüdischen Schulen. Ihnen fühlte sich Jesus seit seinem doch wohl pharisäischen Unterricht in der Synagoge von Nazaret besonders verbunden (vgl. Lk 2,41ff ). Unter ihnen hatte er relativ viele Anhänger (Mt 9,18ff; Mk 12,32ff; Lk 10,25ff; Apg 15,5; Phil 3,5). Gerade diese Verbundenheit wird für uns ein wichtiger Orientierungspunkt werden, wenn wir uns Kap. 23 zuwenden.

IV Zusammenfassung Jesus bejaht die Kontinuität von Mose zu den pharisäischen Schriftgelehrten seiner Zeit.25 Letztere sitzen mit Recht auf Moses Lehrstuhl. Daraus ergibt sich, dass Jesus gerade die Pharisäer als solche betrachtet, die „nicht fern vom Reich Gottes“ sind (vgl. Mk 12,34). Sie jetzt anzusprechen, ergibt gerade

18 BDR § 336,2. Anders Luz III 299: Sie hätten „die Lehrbefugnis … an sich gezogen“. Zahn 650 erklärt das „sitzen“ sogar für eine „Usurpation“. 19 C. Schneider, Art. κάθημαι usw., ThWNT, III, 1938, 446. 20 Schneider a.a.O. 443. 21 Bauer-Aland 788. Bei den Rabbinen als Lehnwort. 22 Vgl. Maier, Mensch und freier Wille, 29ff. 23 Kroll 312ff. 24 Jeremias a.a.O. 869,197. 25 Im Ergebnis ebenso Schlatter 341; Schniewind 226; France 324.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

deshalb Sinn. Offensichtlich standen ihm Sadduzäer, Essener und erst recht die Zeloten ein Stück weit ferner. Es erfasst eben nicht den Sinn der Stelle, wenn Joachim Jeremias zu Mt 23,2 nur bemerkt, Jesus hielte „dem Anspruch der Schriftgelehrten … den Vorwurf “ entgegen, sie täten nicht, was sie lehrten.26 Wo bleiben hier die positiven Ausführungen? Damit berühren wir schon den folgenden Abschnitt.

7.2 Kritik an ihrer Praxis, 23,3-7

I Übersetzung 3 Alles nun, was sie euch sagen, das tut und befolgt! Aber handelt nicht nach ihren Werken! Denn sie sagen es und tuns doch nicht. 4 Sie binden schwere Lasten und legen sie auf die Schultern der Menschen. Sie selbst aber wollen sie nicht einmal mit dem Finger bewegen. 5 Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß. 6 Sie lieben den ersten Platz bei Tisch und die Ehrenplätze in den Synagogen, 7 und auf den Marktplätzen gegrüßt und von den Menschen Rabbi genannt zu werden.

II Struktur Der kleine Abschnitt besteht aus zwei Teilen. Den ersten beherrschen drei Imperative: tut – befolgt – handelt nicht (V. 3). Der zweite (V. 3-7) enthält die Begründungen. Dieser zweite Teil kreist um die Wortgruppe ποιεῖν/ἔργα [ poiein/erga]. Lk 11,46 ist ein Zeugnis dafür, dass Jesu Anklage nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, sondern im Laufe seines Wirkens mehrfach geäußert wurde. Offenbar gehört Lk 11,37ff in eine andere Zeit mit anderen Umständen, während Mk 12,37-39 und Lk 20,45-46 verkürzte Parallelen zu Mt 23,3-7 bilden.

III Einzelexegese An der Spitze steht (V. 3): Alles nun, was sie [= die Schriftgelehrten und Pharisäer] sagen, das tut und befolgt (ποιήσατε καὶ τηρεῖτε [ poiēsate kai tēreite])! Fiedler hat recht: Hier ist nicht „der geringste Vorbehalt … zu erkennen“.27 Zahlreich sind dagegen die Vorbehalte der christlichen Kommentatoren. Einige Beispiele: Luz sagt: „Es ist m. E. unmöglich anzunehmen, daß 26 Jeremias a.a.O. 868f. 27 Fiedler 345.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

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Matthäus seine Gemeinde wirklich zum Gehorsam gegen alle Lehren der Schriftgelehrten und Pharisäer aufgefordert hat.“28 Es handle sich um eine „Konzession“ des Evangelisten, die man so paraphrasieren müsse: „Haltet also meinetwegen alles, was euch die Schriftgelehrten und Pharisäer sagen – das ist nicht so schlimm!, – die Hauptsache ist aber, daß ihr euch nicht an ihre Taten haltet!“29 Konzessiv deutet auch Ulrich Wilckens: Die Jünger sollen tun, was die pharisäischen Schriftgelehrten sagen, „wenn es denn wirklich die Gebote der Tora Gottes sind“.30 Nur als Folie für die Anklage in V. 3ff betrachtet Beare den ersten Satz von V. 3, den er überdies auf „jüdisch-christliche“ Zirkel zurückführt, die noch die Autorität der jüdischen Schriftgelehrten anerkennen.31 Wegen Mt 15,6.9 sei diese Aussage Jesus „kaum“ („scarcely“) zuzutrauen.32 Unter den katholischen Exegeten betont Sand, V. 3a gelte nur dort, „wo menschliches Tun“ mit der Lehre „in Einklang steht“.33 Man wird einen anderen Weg der Erklärung gehen müssen, nämlich den Weg der Auslegung, wie ihn der Kontext durch den Lehrstuhl des Mose zeigt.34 Das heißt: Die biblische Überlieferung, die sie rechtmäßig im Namen des Mose weitergeben, ist in Ordnung. Für sie gilt die Aufforderung: tut und befolgt! Sie bedeutet ja praktisch: Tut, was die Heilige Schrift euch lehrt. Sie ist bei den pharisäischen Schriftgelehrten in guten Händen.35 Das schließt ihre Auslegung mit ein. Dort aber, wo sie eigene Gesetze aufstellen, wie in Gestalt der „Überlieferung der Ältesten“ (Mt 15,1ff ) oder in Gestalt ihrer typischen Schul-Lehren (Mt 16,12) oder konkret in der Ablehnung Jesu als des wahren Messias, da gilt die Aufforderung Tut alles, was sie euch sagen, nicht. Die Formulierung alles (πάντα [ panta]) spannt einen weiten Bogen. Er wird gefüllt durch die Aussagen der Evangelien, der zwischentestamentarischen Literatur und der frühen jüdischen Überlieferung. Demnach rechnet zu den Gemeinsamkeiten zwischen Jesus und den pharisäischen Schriftgelehrten unter anderem: die Hochachtung vor dem biblischen Wort als göttlich inspiriert und vollkommen vertrauenswürdig, die messianische Weissagung etwa in Dan 7 und Ps 110, die Erwartung der Totenauferstehung, die Hauptlinien

28 29 30 31 32 33 34

Luz III 301. Luz III 302. Wilckens I/4 65. Beare 448. Beare 447f. Sand 454. Vgl. das οὖν in V. 3, das folgende (konsekutive) Bedeutung hat. BDR § 451,1; Fiedler 345. 35 Tasker 219: „they are the proper exponents of the Mosaic law“.

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der Eschatologie, die Gliederung der Gebote in „große“ und weniger große, die Pflicht der Steuerzahlung an nichtisraelitische Regierungen, die grundsätzliche Willensfreiheit des Menschen in der Entscheidung für oder gegen Gott (Sir 15,11ff; Mt 23,37; P. Abot III, 19), die Bedeutung des Gebets und des Almosens, die Orientierung am Dekalog, die Wichtigkeit der praxis pietatis. Wir bewegen uns mit dieser Auslegung in der Nähe der frühen Lehrer der Kirche, die einerseits betonen, dass die Schriftgelehrten wirklich „das Gesetz, das von Mose gegeben wurde“, lehrten,36 und andererseits von der rechtmäßigen Amts-„Würde“ der Schriftgelehrten ausgingen.37 Die zweite Hälfte des 3. Verses enthält die Warnung: Aber handelt nicht (μὴ ποιεῖτε [mē poieite]) nach ihren Werken (ἔργα [erga])! Denn sie sagen es und tuns doch nicht! Mit anderen Worten: Sie praktizieren nicht, was sie selbst lehren. Schniewind hat es noch einmal klar auf den Punkt gebracht: „Es wird ihnen in der ganzen Rede nicht vorgeworfen, daß sie Falsches lehren … vielmehr beruht Jesu gesamte Anklage auf dem Widerstreit zwischen Reden und Tun.“38 Dies war schon die Anklage in der Bergpredigt (Mt 5,19f ). Es wäre nun einfach, überheblich oder gar höhnisch auf diesen Widerspruch hinzuweisen. Man muss aber sehen, dass schon das Priestertum von ihm zerrissen wurde (Mal 2,7f ), dass die Qumran-Gemeinschaft unendlich unter ihm litt (1QS XI, 9ff ), und dass er nicht zuletzt von den Rabbinen selbst so empfunden wurde. Man denke an die Geschichte von der Tochter Achers, die in b Chag 15b verzweifelt ruft: „Denke doch seiner Tora und nicht seiner Taten!“39 Als Christen haben wir keinen Grund zur Überheblichkeit.40 Man wird hier den Begriff Werke weit fassen müssen. Er schließt das tägliche Verhalten ebenso ein wie die geistigen Werke eigener Gesetzgebung oder Auslegung.41 Wir stehen hier also vor dem Anfang einer prophetischen Anklage oder Gerichtsrede. Jesus hält seiner Generation einen Spiegel vor, wie es die alttestamentlichen Propheten (z.B. Am 5–6) und Johannes der Täufer (Mt 3,7ff ) getan haben. Die Frage, „Ob es auch gute Schriftgelehrte und Pharisäer gibt,

36 Irenäus AdvHaer IV, 12,4. 37 So Johannes Chrysostomus (Texte KV IV 48.160f ); Augustinus (Texte KV III 78f ). Siehe auch Schniewind 226. 38 Schniewind 226. 39 Vgl. Röm 2,17ff. 40 Vgl. Ps 50,16ff; Jes 1,11ff; Jer 6,20; Am 5,21ff. 41 Vgl. 2Petr 1,20.

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auf die Jesu harte Urteile nicht zutreffen“,42 ist in diesem Zusammenhang nicht am Platz.43 Bevor wir in die Einzelheiten von V. 4ff einsteigen, sind noch zwei Abklärungen nötig. Die erste betrifft die Frage, ob in Mt 23 ein endgültiges „verdammendes Schlußurteil“ vorliege. Das war Schlatters Meinung.44 Eine solche Annahme ist jedoch falsch. In Mt 23 handelt es sich nicht um eine Vorwegnahme des Endgerichts, sondern darum, die Schriftgelehrten und das Volk (die Menge V. 1) gerade in diesen Tagen noch einmal aufzurütteln. Sie sollen nicht in einen neuen Untergang Jerusalems hineintaumeln (vgl. V. 37ff ), sondern rechtzeitig umkehren. Aus demselben Grund muss man auch Luz widersprechen, wenn er schreibt, dass Jesus hier „nicht mehr wirbt“.45 Doch: Er wirbt mit aller Hingabe und Liebe um sein Volk und dessen Repräsentanten. Die zweite Abklärung betrifft das immer mehr um sich greifende Reden von einer „Polemik“ des Matthäus, die ihm Kap. 23 in die Feder diktiert habe.46 Einen Höhepunkt erreicht dieser Vorwurf bei Fiedler, wenn er schreibt: Die „Polemik“ des Matthäus stelle „nach Umfang und Intensität den Tiefpunkt in der langen Kette gezielter den Pharisäern feindlicher Behauptungen des Mt dar, die von 3,7 bis 27,62 reicht“.47 Solche Urteile verfehlen sowohl die Intention Jesu wie die des Matthäus und sie behaupten überdies, eine bessere Sachund Herzenskenntnis zu haben als die Autoren des Neuen Testaments. In V. 4 beginnen die Konkretionen: Sie binden schwere Lasten und legen sie auf die Schultern der Menschen. Sie selbst aber wollen sie nicht einmal mit dem Finger bewegen. Unter den Lasten (φορτία [ phortia]) versteht man zum Teil „kasuistische und ritualistische Pflichten“,48 zum Teil „Gebotserschwerungen“,49 zum Teil die Anklage wegen schwerer Sünden.50 Der allgemeine Inhalt der Aussage ist deutlich: Die pharisäischen Schriftgelehrten machen es den Menschen schwer, ins Reich Gottes zu kommen (vgl. V. 13). Sie bilden damit einen Gegenpol zu Jesus, der zu sich einlädt und sagen kann: 42 So Luz III 299. 43 Bei allen Urteilen über eine Gesamtheit gibt es eine kleine oder auch größere Zahl von Ausnahmen. 44 Schlatter 340. 45 Luz III 299. 46 So bei Luz III 301; Hengel-Schwemer 232.235; Beare 448f; Fiedler 343ff. 47 Fiedler 343. 48 So K. Weiß, Art. φέρω usw., ThWNT, IX, 1973, 88; France 324: „legalism“; ähnlich Strack-Billerbeck I 911. 49 So Fiedler 347; ähnlich Luz III 302. 50 So Johannes Chrysostomus Texte KV III 362f.

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„Kommt her zu mir alle, die ihr euch abmüht und beladen (πεφορτισμένοι [ pephortismenoi]) seid! … Denn mein Joch ist sanft und meine Last (φορτίον [ phortion]) ist leicht“ (Mt 11,28-30). Übrigens kannten auch die damaligen Rabbinen das Problem, dass man durch die Handhabung des Gesetzes den Menschen Zugang zu Gott entweder leichter oder schwerer machen kann. Die Diskussionen zwischen der Hillel- und der Schammai-Schule sind dafür ein Zeugnis. Von Hillel wird der Ausspruch überliefert: „Sei die Menschen liebend und sie der Tora zuführend“ (P. Abot I, 12). Das Bild von den Lasten, die man jemand auf die Schultern legt, erinnert an die Ladungen, die man Eseln, Kamelen und anderen Lasttieren aufpackt (vgl. Gal 6,5; Apg 15,10-28), aber auch an die Bündel, die man bei der Reise oder Ernte trägt (Rut 2,18; Lk 15,5). Der Hauptvorwurf steckt jedoch in der zweiten Hälfte von V. 4: die Schriftgelehrten entziehen sich den Lasten, die sie anderen auferlegen, sie wollen sie nicht einmal mit dem Finger bewegen. Für wollen steht das Verbum finitum θέλουσιν [thelousin]. Das heißt: Sie scheitern nicht trotz guten Willens, sondern richten ihre willensmäßigen Anstrengungen darauf, diesen Lasten zu entkommen. Ein harter Vorwurf! Doch gerade die Beispiele, die Fiedler aus j Sota V, 7 gesammelt hat,51 zeigen, wie oft man der Last des Gesetzes auswich: Es sind keineswegs alle „Liebe-Pharisäer wie Abraham“.52 Jesu Vorwurf trifft ja nicht diejenigen, die sich der Liebe zu Gott hingeben wollen (vgl. Mk 12,34; Joh 1,47), oder diejenigen, die „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6), sondern die Ausweichenden.53 Die Verse 5-7 gehören zusammen. Der Kernvorwurf lautet hier: Sie haben lieber die Ehre bei den Menschen als die Ehre bei Gott (vgl. Joh 12,43). Alle ihre Werke aber tun sie [= ihr gesamtes Verhalten ist darauf ausgerichtet], damit sie von den Leuten gesehen werden: Die Formulierung ist ähnlich wie in der Bergpredigt (Mt 6,1ff: ποιεῖν [ poiein] – ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων [emprosthen tōn anthrōpōn] – θεαθῆναι [theathēnai]). Wir sind also im Bereich jesuanischer Sprache und jesuanischen Urteilens. Zum Beweis dient, dass sie ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß machen (V. 5). Die Gebetsriemen (φυλακτήρια [ phylaktēria], Tefillin)54 gehen auf mosaische Anordnung zurück (Ex 13,9.16; Deut 6,8; 11,18), ebenfalls die Quasten (κράσπεδα 51 Fiedler 344. 52 A.a.O. 53 Luz III 304 lässt sich vom Topos der Polemik leiten, wenn er zu Mt 23,4 anmerkt: „Dieser Vorwurf ist pauschal und ungerecht“. 54 φυλακτήρια kann auch „Amulette“ bedeuten. Aber darum geht es hier offensichtlich nicht (gegen Carson 474; Luz III 295ff; Fiedler 348). Man trug sie an der Stirn und um den linken Arm.

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[kraspeda], Zizit), eine Art Troddeln, die man an den vier Ecken des Obergewands trägt (Num 15,38ff; Deut 22,12). Jesus kritisiert in keiner Weise die mosaische Anordnung. Er trug ja die Quasten selbst (Mt 9,20; 14,36; evtl. nur der „Saum“ seines Gewandes?). Was er kritisiert, ist das Auffällig-seinWollen durch die Verbreiterung bzw. Vergrößerung dieser religiösen Kennzeichen.55 Hinzu treten andere Bestrebungen der Ehrsucht: möglichst die πρωτοκλισία [ prōtoklisia] (den ersten Platz bei Tisch) zu erhalten, was er beispielsweise in Lk 14,7 beobachten konnte, die Ehrenplätze in den Synagogen (τὰς πρωτοκαθεδρίας [tas prōtokathedrias]) anzustreben, was man noch in den christlichen Synagogen tat (Jak 2,2ff ), auf den Marktplätzen als Erste gegrüßt zu werden und überhaupt die Anrede Rabbi zu genießen (V. 6-7). War das so? Luz sagt, „diese Vorwürfe“ seien „sehr ungerecht“.56 Fiedler findet am Verhalten der Schriftgelehrten „nichts Schlimmes“.57 Dahinter steckt die Überzeugung, dass Jesus nicht richtig beobachtet hat. Zum Verständnis hilft die Wahrnehmung, dass eine Reihe von Zeitgenossen ähnliche Beobachtungen machte.58 Zu den ältesten Worten der „Sprüche der Väter“ gehört die Warnung des Antigonos aus Socho: „Seid nicht wie Diener, die dem Herrn dienen, in der Absicht Lohn zu erhalten“ (P. Abot I, 3). Die Warnungen setzen sich fort bei Hillel: „Wer seinen Namen groß machen will, vernichtet ihn“ (P. Abot I, 13). Fiedler weist selbst auf b Sota 21b und b Ned 62a hin,59 wo es heißt: „Ein Mensch sage nicht, ich will die Schrift lesen, damit man mich einen Weisen nenne, ich will lernen, damit man mich Meister nenne, ich will studieren, damit ich Ältester sei und im Kollegium sitze.“60 An ihre Seite tritt Paulus, der auch seine Berufserfahrung als pharisäischer Schriftgelehrter schildert, wenn er im Römerbrief unter anderem schreibt: „Du lehrst nun andere und lehrst dich selbst nicht?“ (Röm 2,21). Dahinter steht aber noch eine ganz andere Linie. Da sind die Priester und falschen Propheten des AT, die immer wieder aus Eigennutz gehandelt haben (Jes 28,7ff; Jer 6,14; Hes 13,1ff; Mal 1,6; 2,8f ). Da ist die Klage über die Verderbnis des Weinbergs Israels (Jes 5,1ff ), in der manches an Mt 23 erinnert. Und da sind die Erfahrungen der schrecklichen Assimilierungskampagne unter Antiochus IV. Epiphanes und anderen, als die Priester ins Stadion liefen, 55 Wie man sich Verbreiterung/Vergrößerung vorstellen kann, s. France 325; Luz III 304f; Fiedler 348. 56 Luz III 306. 57 Fiedler 348. 58 Vgl. Schniewind 228; Strack-Billerbeck I 910; b Ber 17a. 59 Fiedler 348,28. 60 b Ned 62a. Vgl. b Ber 22a; Strack-Billerbeck I 913; P. Abot IV, 6ff.

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statt im Tempel Dienst zu tun (2Makk 4,13ff ). Jedes Mal standen die wahren Propheten bis hin zu Johannes dem Täufer gegen diese Schäden auf. In der Linie dieser prophetischen Anklagen ist auch Mt 23 gesprochen – es will ja wie die Prophetie des Alten Bundes zur Umkehr rufen. Wird dieser prophetische Charakter von Mt 23 nicht wahrgenommen, dann beginnt man nachzurechnen, wie viele „gute Schriftgelehrte und Pharisäer“ es damals gegeben habe, in welchem Maße „Matthäus die Schriftgelehrten und Pharisäer … sehr ungerecht behandelt“ habe61 und verfehlt dabei den Zielpunkt des Kapitels. Im Übrigen kommt Mt 23 weithin mit den Aussagen des Johannesevangelium überein (vgl. Joh 5,41.44; 12,43). Was außerdem nicht unterschlagen werden darf, ist die Ehrsucht der Christen, die im NT ständig aufgedeckt und bekämpft wird (Mt 20,24ff; 1Kor 10,31; Gal 5,26; Phil 2,3; Jak 2,2ff; 3,1ff; Offb 3,17).62

IV Zusammenfassung 1. Mt 23,3-7 ist Teil einer prophetischen Anklagerede. 2. Ihr Ziel ist die Umkehr der pharisäischen Schriftgelehrten, mit denen sich Jesus in vielen Belangen verbunden fühlte.63 3. Weder Polemik noch Bösartigkeit noch Ungerechtigkeit geben hier den Ton an,64 sondern die Wahrnehmung von Schäden in messianischer Klarsicht und das Ringen des der Hinrichtung entgegengehenden Jesus um sein Volk und seine Repräsentanten. 4. Die Wirkungsgeschichte von Mt 23 ruft uns Christen allerdings zur Besinnung. Ein oberflächliches, auch von Neid diktiertes Verständnis hat aus dem Pharisäer „in vielen Sprachen christlicher europäischer Länder“65 ein Zerrbild gemacht. Judenfeindschaft konnte die Aussagen in Mt 23 für ihre Zwecke verwenden. Jetzt aber Matthäus zum Schuldigen zu machen, ihn zur „Wurzel“ der Judenfeindschaft,66 zum Urheber „gezielter“67 Falschbehauptungen, zum Veruntreuer der Jesusbotschaft,68 zu einem Meister der Polemik,

61 Luz III 304. 62 Wie Luz III 307 behaupten kann, es gebe im NT keine „analoge christliche Selbstkritik“, bleibt unerklärlich. 63 Es ist also genau das Gegenteil von dem der Fall, was Luz heraushören will: dass „Jesus nicht mehr wirbt (III 299). 64 Gegen Luz III 293ff; Fiedler 343ff. 65 Luz III 293f. 66 Luz III 294; Fiedler 343. 67 Fiedler 343. 68 Fiedler a.a.O.; Luz a.a.O.

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der „die eigene Klientel bei der Stange … halten“ will,69 ja zu einem der indirekten Verursacher des Holocaust70 zu machen, bedeutet, das Zerrbild von der anderen Seite her aufzubauen.71 Was wir brauchen, ist die praktische und intellektuelle Jesusnachfolge mit den ständigen Korrekturen, die sie an unserem Verhalten und unseren Fehldeutungen übt.

7.3 Wie die Schriftgelehrsamkeit der künftigen messianischen Gemeinde aussehen soll, 23,8-12

I Übersetzung 8 Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen. Denn nur einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder. 9 Und nennt niemand auf Erden euren Vater. Denn nur einer ist euer Vater, nämlich der im Himmel. 10 Ihr sollt euch auch nicht Leiter nennen lassen. Denn euer Leiter ist nur einer: der Messias. 11 Der Größte aber unter euch soll euer Diener sein. 12 Wer sich aber selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

II Struktur Die Verse 8-10 werden durch das betonte ὑμεῖς [hymeis] bzw. ὑμῶν [hymōn] zusammengehalten. Eindeutig sind jetzt die Jünger (V. 1) die Adressaten. Jeder Leser merkt sofort, dass sich Mt 23,8-12 stilistisch vom Rest des Kapitels abhebt. Offensichtlich entwirft Jesus hier ein Gegenbild zu der Beschreibung in den Versen 3-7. Das muss bei der Auslegung immer wieder bedacht werden. Eine Parallele hat Mt 23,8-12 nicht. Jedoch besteht inhaltlich eine gewisse Verwandtschaft mit Joh 13,4ff. Überhaupt rücken sich Matthäus und Johannes seit dem Einzug in Jerusalem näher.

III Einzelexegese Mit Ὑμεῖς δέ [Hymeis de] (V. 8) vollzieht der hier Redende eine entschlossene Wendung zu den Jüngern. Man vgl. das betonte ὑμεῖς [hymeis] in Mt 5,13.14; 16,15. Im Gegensatz zu denen, die es „lieben, Rabbi genannt zu werden“ (καλεῖσθαι ῥαββί [kaleisthai rhabbi]), sollen sich die Jünger nicht Rabbi nen-

69 Fiedler a.a.O. 70 Luz III 293. 71 Schon vor 100 Jahren wehrten sich Strack-Billerbeck I 915f gegen den Vorwurf der „Polemik“ durch Elbogen.

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nen lassen (μὴ κληθῆτε ῥαββί [mē klēthēte rhabbi]).72 Jesus gibt sofort die Begründung: Denn nur einer (εἷς [heis]!) ist euer Lehrer (διδάσκαλος [didaskalos]), nämlich der Messias. So muss aus V. 10 ergänzt werden.73 In der Tat heißt Jesus der Lehrer (ὁ διδάσκαλος [ho didaskalos]), vgl. Mt 26,18; Joh 13,13,74 in der damaligen jüdischen Umgangssprache: „der Rabbi“ (vgl. Joh 3,2), aram. ‫[ ַר ְבּכוֹן‬rabbᵉkōn].75 Was soll also verhindert werden? Dass jemand aus dem Jüngerkreis in eine messiasähnliche Stellung aufrückt. Ihr alle aber (πάντες δὲ ὑμεῖς [ pantes de hymeis]) seid Brüder (ἀδελφοί [adelphoi]): Demnach soll die messianische Gemeinde eine ausgesprochene Brüder-Gemeinde werden. Schon in Mt 18,1ff und 20,24ff war das angezielt. Die historische Umsetzung scheint in der Kirche des Jakobus am besten gelungen (Jak 3,1ff ).76 Jetzt lässt sich auch sagen, was Jesus in Mt 23,8 nicht gemeint hat: Nämlich, dass die Gemeinde überhaupt keine Rabbis, keine Lehrer haben soll. Im Gegenteil: Er selbst wird Lehrer schicken (Mt 23,34: σοφοὺς καὶ γραμματεῖς [sophous kai grammateis]), sie genießen hohe Achtung (Mt 13,52), und es ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn sie äußerlich den Titel Lehrer, „Schriftgelehrter“ (γραμματεύς [grammateus] 13,52; 23,34) oder Rabbi tragen.77 Aber sie selbst sollen nicht nach einem solchen Titel streben, auf seiner Achtung bestehen oder ihn gar voller Ehrsucht einfordern. Sie brauchen die innere Unabhängigkeit, die es auch gerne akzeptiert, wenn sie nur als Brüder tituliert werden.78 Schon an dieser Stelle zerbricht die These von Luz, im NT finde sich keine „analoge christliche Selbstkritik“, die Mt 23,3-7 entsprechen würde.79 Denn Jesus sieht für seine Gemeinde dieselbe Gefahr, in die die Rabbinen nach Mt 23,3-7 gerieten, und will ihr von Anfang an in aller Deutlichkeit wehren. Es liegt nicht an der Verkündigung Jesu oder an mangelnder Selbstkritik des NT, wenn später in der christlichen Kirche analoge Verhältnisse wie in Mt 23 auftraten. Eines muss man allerdings feststellen: Den Titel Rabbi vermieden die frühen Christen.80

72 Seltsam BGS: „nicht Lehrerin oder Lehrer nennen lassen“. 73 Anders Schniewind 228: „Gott“; ebenso Fiedler 349. Wie wir France 325; Schlatter 343; Hengel-Schwemer 358; Carson 474; Sand 455. 74 Wieder sind Mt und Joh nahe beieinander. Hengel, Evglien, 339,1029. 75 Strack-Billerbeck I 918. Vgl. P. Abot IV, 15. 76 Vgl. Maier, Jak, 148ff. 77 Vgl. Apg 13,1; Röm 12,7; 1Kor 12,29; Eph 4,11; Jak 3,1ff. 78 Ähnlich Luz III 308; Zahn 651. 79 Luz III 307. 80 Ob auch in der Kirche des Jakobus, ist fraglich.

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Die Bezeichnung Brüder war schon in der Bergpredigt (Mt 5,22ff; 7,3f ) wichtig, dann in der Gemeinde-Instruktion (Mt 18,15ff ). Siehe auch Mt 12,46ff; 28,10. Sehr wahrscheinlich geht sie auf die eschatologische Verkündigung der Propheten zurück (Jer 31,34; Jes 54,13). Die Anweisung Jesu setzt sich fort in V. 9: Und nennt niemand auf Erden euren Vater. Da hier nicht die Familie,81 sondern die Gemeinde thematisiert wird, geht es also um die Anrede an Gelehrte oder Leiter der Gemeinde. Nun ist nach unserem jetzigen Kenntnisstand damals die Gelehrtenanrede Vater, „mein Vater“ (‫[ ָאִבי‬ʾābī], ‫[ ַא ָבּא‬ʾabbāʾ]), „nicht üblich gewesen“.82 Dennoch hat Jesu Anweisung einen zeitgeschichtlichen Hintergrund: 1) nannte man Abraham, Isaak und Jakob „Väter“, und aus b Ber 16b lässt sich eine Tendenz entnehmen, diese Bezeichung über die drei Erzväter hinaus zu erweitern;83 2) b Ber 16b beweist, dass sogar ein geachteter Sklave als Vater bezeichnet werden konnte; 3) Mischna Edijoth I, 4 nennt Schammai und Hillel „Väter“ und zeigt damit ebenfalls eine Tendenz, geachtete Gelehrte und Repräsentanten mit dem Namen Vater auszuzeichnen; 4) das Epitheton „Abba“ bei Abba Schaul ben Batnith, Abba Chalaphta, Abba Chilqija u.a. ist ein weiterer Beweis für einen im 1. Jh. entstehenden Sprachgebrauch, den Titel Vater an „ehrwürdige Respektspersonen“ zu verleihen.84 In der Wahrnehmung Jesu genügte dieser Tatbestand, um die Warnung vor der Titulatur „Vater“ auszusprechen. Dass Matthäus diese Warnung nicht unterschlug, beweist seine gute historische Kenntnis und seine Überlieferungstreue.85 Wieder gibt Jesus eine Begründung: Denn nur einer ist euer Vater, nämlich der im Himmel.86 Die Formulierung εἷς ἐστιν ὑμῶν ὁ πατήρ [heis estin hymōn ho patēr] erinnert an Deut 6,4 LXX, also ans Glaubensbekenntnis Israels. Sie nimmt außerdem Jes 63,16 und die Bergpredigt (Mt 5,16; 5,45ff; 6,9) auf und lässt zugleich eine gewisse Distanz zu der volkstümlichen Formel „Abraham unser Vater“ (Mt 3,9; Joh 8,37ff ) erkennen. Wie nahe hätte es hier gelegen, auf „Abraham, euer Vater“ Bezug zu nehmen (vgl. b Ber 16b)! Jesus steht jedoch auch hier auf festem alttestamentlichem Boden (Jes 63,16; Jer 31,9; Mal 1,6; 2,10).

81 82 83 84 85 86

Gegen Theißen-Merz 207. Strack-Billerbeck I 919. Vgl. auch 2Kön 2,12; 6,21; 13,14 sowie Röm 4,16; Jak 2,21; 2Makk 14,37. Luz III 307; Fiedler 349. Als historisch durch Riesner 259ff begründet. Zur Übersetzung vgl. Strack-Billerbeck a.a.O.

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Und wieder ist zu bemerken, dass damit der Gebrauch des Titels Vater nicht strikt und nicht absolut ausgeschlossen ist.87 Bald sprach man in der Mission von geistlichen „Vätern“ (1Kor 4,15; Phil 2,22; 1Thess 2,11). Die alten Kirchenlehrer nennen wir „Kirchenväter“, wobei der „Kirchen“-Bezug vor Fehlentwicklungen schützen kann. Ähnlich ist die Situation bei „Vätern“ und „Müttern“ in Pietismus und Erweckung. Allein es ist gerade die kirchengeschichtliche Entwicklung, die uns heute neu hörbereit gegenüber Mt 23,9 macht. Denn im Unterschied zum „Rabbi“ hat der Vater Eingang in die wachsende Kirche gefunden: als Abt (Abbas), als Pater, als Papa = Papst, sowie mit zahllosen „Vätern“ in den einzelnen Kirchen und Institutionen. War alles gut? Es ist leicht, den Stab zu brechen, aber ein Stachel im Gewissen ist berechtigt. Der nächste Vers (V. 10) entfacht bis heute Diskussionen: Ihr sollt euch auch nicht Leiter (καθηγηταί [kathēgētai]) nennen lassen. Was heißt καθηγητής [kathēgētēs]? Im NT ist es ein Hapaxlegomenon. Ist der ganze Vers eine „sekundäre Doublette zu V. 8“88 oder ein „hellenistischer Kommentar“ zu V. 889 oder eben nichtjesuanisch90, dann ist das Problem natürlich weniger drängend. Ist der Vers aber auf Jesus zurückzuführen,91 dann würde man gerne Genaueres wissen.92 Aber die Unsicherheit, die schon Zahn vor einem Jahrhundert zum Ausdruck brachte,93 ist uns geblieben. Dementsprechend ist καθηγητής [kathēgētēs] für Luz „ein offener und unspezifischer Begriff “.94 Folgende Möglichkeiten bieten sich an: 1) Man bleibt bei der Ursprungsbedeutung Leiter, „Führer“;95 2) man hebt die Nähe zum pharisäischen ὁδηγός [hodēgos] (vgl. Mt 15,14; 23,16.24; Röm 2,19) stärker hervor und kommt dann zu der Bedeutung „Seelenführer“, „Erzieher“;96 3) man folgt der Tendenz im Späthellenismus und übersetzt καθηγητής mit „Lehrer“,97 was V. 10 wie eine Art Parallelismus membrorum zu V. 8 erscheinen lässt. Eine annehmbare Lösung bietet hier Luz, der aus der Offenheit des Begriffs folgert, dass καθηγητής in V. 10 „eine Verallgemeinerung“ darstellt, die jede Unterschei87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Strack-Billerbeck I 918. J. Jeremias; G. Dalman (bei Riesner 260); vgl. Bauer-Aland 789. W. Grundmann (bei Riesner a.a.O.). Dahin neigt Bultmann, Gesch, 159f.162. So Riesner 259ff mit guten Gründen. Leider hat hier auch das ThWNT eine Lücke. Zahn 652: „nicht mit Sicherheit zu entscheiden“. Luz III 308. Vgl. Riesner 261; Luz a.a.O. So Riesner 260ff. So Bauer-Aland 789.

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dung von „Leitern“ und „Untergeordneten“ in der Gemeinde ausschließen soll.98 Welches hebr. oder aram. Äquivalent steht hinter καθηγητής? Zahn plädierte für ‫[ ַרבּוֹן‬rabbōn] = ‫[ ַר ָבּן‬rabbān] (vgl. Mk 10,51; Joh 20,16).99 Im Zuge der Beschäftigung mit den Qumran-Funden wurde ‫[ מוֶֹרה‬mōräh] analog zum „Lehrer der Gerechtigkeit“ bzw. „der Gemeinschaft“ favorisiert.100 Strack-Billerbeck hielten ‫ [ ַפְּרָנס‬parnās], ‫ [ ַפְּרָנָסא‬parnāsāʾ] oder ‫[ ַמְנִהיג‬manhīg] für möglich.101 Die Qumran-Schriften lassen jedoch auch den ‫ְמַב ֵקּר‬ [mᵉbaqqer] („Aufseher“?, 1QS VI, 12ff ), den ‫שׂר‬ ַ [śar] („Führer“?, 1QSa I, 24) oder den ‫[ ַמ ְשׂ ִכּיל‬maśkīl] („Unterweiser“?, 1QS III, 13; 1QSb I,1102) in Erwägung ziehen. Da wir nicht vermuten, dass V. 10 eine Doublette zu V. 8 sein soll,103 bleiben wir bei der Ursprungsbedeutung Leiter, „Führer“.104 Denn euer Leiter ist nur einer: der Messias (ὁ Χριστός [ho Christos]): Das kommt mit der Stellung als κύριος [kyrios] und später als „Haupt“ (κεφαλή [kephalē]) der Gemeinde (1Kor 11,3; Eph 1,22; 4,15; Kol 1,18; 2,19) überein. Das εἷς ὁ Χριστός [heis ho Christos] hat offenbar den späteren Sprachgebrauch εἷς κύριος [heis kyrios] mitgeprägt (1Kor 8,6; Eph 4,5; 1Tim 2,5). Erneut ist zu sagen, dass Mt 23,10 kein Verbot für Amtsbezeichnungen, speziell Gemeindeleiter (Bischöfe, Hirten usw.) bedeutet – schließlich ist das Leitungsamt (1Kor 12,28 κυβερνήσεις [kybernēseis]) eine Gabe des Heiligen Geistes. Mt 23,10 wehrt jedoch ebenso wie die Verse 8 und 9 der Ehrsucht, der Titelsucht und damit der Abhängigkeit von Menschen.105 Es ist interessant, dass der Titel καθηγητής [kathēgētēs] in der frühen Christenheit u.W. tatsächlich nicht auftaucht, aber im Neugriechischen „Karriere gemacht“ hat, wo er heute den Professor bezeichnet. Gerade für die künftigen Schriftgelehrten in der Gemeinde Jesu soll V. 11 gelten: Der Größte aber unter euch soll euer Diener sein. Um die Zuspitzung dieses Wortes zu bedenken, muss man sich zweierlei vor Augen halten: 1) „daß ein Größerer der Diener eines Geringeren sei, hat man wohl nie ge-

98 Luz a.a.O. 99 Zahn a.a.O. 100 Vgl. Riesner 263f vor allem unter Hinweis auf C. Spicq. 101 Strack-Billerbeck I 919. 102 J. Maier II 160: „offenbar doch ein Amt“. 103 Anders Carson 476: ein Synonym zu διδάσκαλος; Gute Nachricht „Lehrmeister“, ebenso BasisBibel; NGÜ: „Lehrer“; BGS: „Erzieher oder Erzieherin“; Revidierte Elberfelder Bibel: „Meister“; Einheitsübersetzung und Neue Jerusalemer Bibel: „Lehrer“; Sand 453ff: „Führer“, „Wortführer“; Lutheran Study Bible: „instructor“. 104 Auch Strack-Billerbeck a.a.O.; Schniewind 226; Luz III 296 („Leiter“); Fiedler 345 („Leiter“). 105 Ebenso Zahn 653; Luz III 309; Schniewind 229.

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fordert“;106 2) nach der Meinung der Rabbinen mussten sie von ihren Schülern bedient werden, nicht aber umgekehrt. So heißt es in b Ket 96a: „Wenn jemand seinen Schüler hindert, ihn zu bedienen, so ist es ebenso, als würde er ihm eine Gnade vorenthalten.“107 Jesus stürzt diese Werturteile um. Wenn dies mehrfach in der Jesusüberlieferung berichtet wird (vgl. Mt 20,26 parr.), dann sieht man daran, wie wichtig das „Dienen“ für Jesus war. Die Apostel haben seine Linie fortgesetzt (Joh 12,26; Röm 12,16; 1Kor 4,1; 12,5; 2Kor 3,3; Offb 2,19). Nachdenklich macht jedoch die Bemerkung von R.T. France, heute herrsche „excessive deference to academic qualifications or to authoritative status in the churches“.108 Wer sich aber selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden (V. 12): Auch diese Aussage taucht mehrfach in der Verkündigung Jesu auf (vgl. Mt 18,4; Lk 14,11; 18,14). Sie geht auf ähnliche Aussagen im AT zurück (1Sam 2,7f; Hi 5,11; 22,29; Ps 147,6; Spr 29,23; Hes 17,24; 21,31). Für Gott ist das Groß-seinWollen des Menschen ein Gräuel (von Gen 3,5 bis Offb 3,18), weil er sieht, wie es ins Verderben führt. Das ist der entscheidende Hintergrund zum Beispiel für die Bevorzugung des Praeiudicium auctoritatis alienae vor dem Praeiudicium auctoritatis propriae durch Bengel.109 Hier stehen sich moderne Selbstverwirklichung und christliches Menschenbild unversöhnlich gegenüber. Man muss jedoch sehen, dass in dieser Beziehung die pharisäischen Schriftgelehrten mit Jesus grundsätzlich einer Meinung waren (b Sanh 17a; P. Abot I, 13). Man kommt also mit Mt 23,8-12 nicht zurecht, wenn man darin immer nur den Gegensatz zu den pharisäischen Schriftgelehrten finden will. Wenn Jesus im Futur spricht – wird erniedrigt werden, wird erhöht werden – dann meint er hier das Endgericht. Es wird also eine Erniedrigung oder Erhöhung am Ende durch Gott stattfinden. Jesus stellt damit seine Jünger, insbesondere die künftigen Lehrer, unter die endzeitliche Verantwortung. Jakobus wird später dasselbe tun (3,1ff ). Ob uns das in unserer Generation noch bewusst ist?

IV Zusammenfassung 1. Mt 23,8-12 ist Mahnung und Seelsorge zugleich für die Schriftgelehrten des Neuen Bundes. Kürzer gesagt: Es ist ein Brevier für neutestamentliche Theologen. 106 107 108 109

Strack-Billerbeck I 920. Vgl. b Ber 7b und Strack-Billerbeck a.a.O. France 325. Vgl. Maier, Off, 398f.

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2. Man versteht von hier aus besser, weshalb Charles Haddon Spurgeon dem Prediger „ein blindes Auge und ein taubes Ohr“ wünschte:110 Blind und taub gegenüber den Einflüssen der Ehrsucht, der Repräsentanz, der Akzeptanz, der Wissenschaftlichkeit, und gegenüber den Einflüsterungen anderer und des eigenen Ichs. Können wir noch still, leise und getrost (Jer 28,11!) nach Hause gehen, wenn wir eine Debatte verloren haben? 3. Die Ämter brauchen wir alle: Lehrer, geistliche Väter, Leiter. Mt 23,8-12 ist keine Begründung für Gleichheitsapostel, die im Sinne der Égalité der Französischen Revolution alles gleich machen wollen: nur gleichberechtigte „Brüder“, nur „demokratische“ Gremien in der Kirche.111 Tiefer sah hier Leo der Große in seinem Brief an den Apostolischen Vikar in Thessalonich: „Wer also weiß, daß er anderen vorgesetzt ist, nehme es nicht übel, daß ihm jemand vorgesetzt ist, sondern er leiste den Gehorsam, den er [von anderen] beansprucht, auch selbst.“112

7.4 Siebenfaches Wehe über die zeitgenössischen Schriftgelehrten und Pharisäer, 23,13-33

I Übersetzung 13 Aber weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr schließt das Gottesreich vor den Menschen zu. Denn ihr selbst geht nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen. 15 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr durchzieht Meer und Land, um einen einzigen Menschen für den Glauben Israels zu gewinnen. Und wenn er es wird, macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, doppelt so schlimm113 wie ihr. 16 Weh euch, blinde Führer, die ihr sagt: Wer beim Tempel schwört, das ist nichts. Wer aber beim Gold des Tempels schwört, der muss es halten. 17 Toren und Blinde! Denn was ist größer: Das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt? 18 Und dann sagt ihr: Wer beim Altar schwört, das ist nichts. Wer aber beim Opfer schwört, das auf dem Altar liegt, der muss es halten. 19 Ihr Blinden! Was ist denn größer, das Opfer oder der Altar, der das Opfer heiligt? 20 Wer also beim Altar schwört, der schwört bei ihm und allem, was darauf liegt. 21 Und wer beim Tempel schwört, der schwört bei ihm und bei dem, der ihn bewohnt. 22 Und wer beim Himmel schwört, der schwört bei 110 111 112 113

Ratschläge für Prediger, R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, 1962, 234. Luz III 314 spricht ohne Umschweife von einer „egalitären mt Kirchenstruktur“. Texte KV IV 148. BDR § 61,2.

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Gottes Thron und dem, der darauf sitzt. 23 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gebt den Zehnten von Minze und Dill und Kümmel und lasst außer Acht, was das Schwerwiegendere ist im Gesetz: das Recht und die Barmherzigkeit und den Glauben. Dieses sollte man tun und jenes nicht lassen! 24 Blinde Führer! Die ihr Mücken seiht und Kamele verschluckt! 25 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr reinigt Becher und Schüsseln außen, aber innen sind sie voller Raub und Gier. 26 Blinder Pharisäer! Reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch sein Äußeres rein werden kann! 27 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gleicht getünchten Gräbern, die außen zwar lieblich scheinen, innen aber voller Totengebeine und jeder Unreinheit sind. 28 So scheint auch ihr den Menschen von außen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit. 29 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabstätten der Gerechten, 30 und sagt: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, hätten wir uns am Blut der Propheten nicht mitschuldig gemacht. 31 Gerade so gebt ihr euch selbst das Zeugnis, dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten gemordet haben. 32 Ja, macht auch ihr das Maß eurer Väter voll! 33 Schlangen, Schlangenbrut, wie wollt ihr der Verurteilung zur Hölle entfliehen?

II Struktur Ein siebenfaches Wehe gliedert diesen großen Abschnitt. Die Zahl sieben setzt jedoch voraus, dass der heutige V. 14 nicht ursprünglich ist. Das muss man allerdings aufgrund des Fehlens dieses Verses in wichtigen alten Handschriften annehmen.114 Die Themen sind erstaunlich breit gefächert: Zugang zum Reich Gottes – Mission – Schwören – Zehnt – Reinheitsvorschriften – Wahre Gerechtigkeit – Andenken an die Propheten. Man kann darin eine Kompilation sehen, die Aussprüche aus verschiedenen Zeiten zusammenstellt. Bedenkt man aber, dass Matthäus in diesen Kapiteln sehr zielbewusst auf die Kreuzigung zugeht, dann würde man für eine solche Kompilation eher eine Zeit außerhalb der eigentlichen Passion vermuten. Deshalb liegt es näher, in Mt 23 keine Kompilation aus verschiedenen Zeiten der Verkündigung Jesu zu sehen, sondern eine Gesamtdarstellung der prophetischen Anklage, die Jesus bei seinem letzten Jerusalem-Aufenthalt im Tempelvorhof erhoben hat. 114 Zahn 654,74 („Einschub aus Mr 12,40; Lc 20,47“); K. und B. Aland 304; Carson 477.

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Der Stil ist der der prophetischen Wehe-Rede. Zu Weh euch, Οὐαὶ ὑμῖν [Ouai hymin], vgl. hebr. ‫[ אוֹי ָלנוּ‬ʾōj lānū] Jer 4,13; 6,4 LXX u.a.115 Dieses ‫[ אוֹי‬ʾōj] ist klagend und anklagend zugleich.116 Beim griech. Äquivalent οὐαί [ouai] notieren Bauer-Aland ebenfalls einen Ausruf des „Schmerzes“.117 Hier von Polemik zu sprechen, bedeutet eine Fehldiagnose nach Stil und Motivation.118 Lk 11,37-52 bietet eine Anzahl von Parallelen zu verschiedenen Aussprüchen in Mt 23,13-33. Aber es bleibt die Frage, ob Lk 11,37ff, eingebettet in Dialoge mit Pharisäern, wirklich eine Parallele zu Mt 23,13ff darstellt. Ort, Zeit, Verhältnisse und die innere Struktur sind bei Lukas doch sehr viel anders. Wenn wirklich eine Kompilation anzunehmen ist, dann würde man sie eher bei Lukas vermuten.

III Einzelexegese Das Aber (δέ [de]) in V. 13 ist notwendig, denn Jesus wendet sich von den Jüngern (V. 8-12) den Schriftgelehrten und Pharisäern zu. Sie waren schon in V. 2-7 sein Thema. Jedoch wechselt die Rede von der 3. Person Plural zur 2. Person Plural: weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Das heißt, Jesus spricht sie direkt an. Wir nehmen an, dass sich in der großen Zuhörer-Menge (V.1) im Tempelvorhof auch zahlreiche Schriftgelehrte der pharisäischen Richtung befanden. Zum Wehe-Ruf vgl. das oben unter II. Bemerkte und Jes 5,8ff; 24,16; Jer 4,13; 6,4; 10,19; Jes 3,9.11; Jer 13,27; 48,46; Hos 7,13; 9,12; Hab 2,6ff. Es sind Klage, Schmerz und Anklage, die hier im Stil prophetischer Rede zum Ausdruck kommen. Dreißig Jahre später, im Jahre 62 n.Chr., sprach der Prophet Jesus, Sohn des Ananias (Chananja), ganz ähnlich.119 Beide, Jesus, Sohn des Ananias, und Jesus, Sohn Davids, machen Jerusalem und sein Volk verantwortlich für die kommende Katastrophe. Doch ein Unterschied bleibt: Jesus will noch die Tür zur Umkehr offenhalten, der Sohn des Ananias aber verkündigt die kommende Katastrophe wie ein feststehendes Fatum. Heuchler (ὑποκριταί [hypokritai]) darf nicht moralisiert werden, sondern bringt den Gegensatz von Sein und Schein zum Ausdruck (vgl. V. 27-28) wie auch die Bergpredigt (Mt 6,2ff; 7,5) und Mt 15,7. Die Anklage ist in V. 13

115 116 117 118 119

Zahlreiche ähnliche Stellen bei Gesenius 15. Gesenius a.a.O. Bauer-Aland 1196. Vgl. France 326. Josephus Bell VI, 300ff.

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ganz umfassend: ihr schließt120 das Gottesreich vor den Menschen zu. Sie wiegt schwer, denn auch die pharisäischen Schriftgelehrten wollten das „Joch der Gottesherrschaft“ auf sich nehmen und andere Menschen zum ewigen Leben führen. Beispielsweise sagte Hillel in der Zeit Jesu: „Wer Worte der Tora erworben, hat sich das Leben der zukünftigen Welt erworben.“121 Dennoch kommt Jesus zu dem Urteil: ihr selbst geht nicht hinein, und die hinein wollen,122 lasst ihr nicht hineingehen. Es ist unmöglich, den Ton des Schmerzes nicht zu hören, der durch diese Worte klingt: ihr selbst (ὑμεῖς γάρ [hymeis gar]) geht nicht hinein. Sie verfehlen, was sie wollen. Für Jesus konzentriert sich diese Verfehlung in der Ablehnung, die er als Messias erfährt, und in ihrem Wunsch, ihn zu töten.123 Und die hinein wollen: das ist der Amha-arez, ja die damalige Bevölkerung Israels, vielleicht sogar die damalige Menge der Festpilger (vgl. Joh 12,20ff ), die durch die Schriftgelehrten vor Jesus gewarnt werden. Eine un-messianische Jesus-Exegese wird dazu nie einen Zugang haben. Siehe aber Mt 21,15ff.23ff.33ff; Joh 11,46ff; Apg 7,52ff.124 Der Aussage Jesu die hinein wollen, die lasst ihr nicht hinein konnte man entgegenhalten, dass die pharisäischen Schriftgelehrten doch Mission trieben. Vielleicht schließt sich deshalb V. 15 als ein zweites Wehe an V. 13 an: Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr durchzieht Meer und Land, um einen einzigen Menschen für den Glauben Israels (ἕνα προσήλυτον [hena prosēlyton]) zu gewinnen. Und wenn er es wird, macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr. Dieses kurze Wort Jesu erinnert uns an die damalige lebhafte jüdische Mission. Jesus hat nicht übertrieben.125 Schon im 3. Jh. v.Chr. war die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die sog. Septuaginta, ein wichtiges Mittel zur Ausbreitung jüdischen Glaubens. Literaten wie Philo (geb. vermutlich zwischen 30 und 20 v.Chr.) und Josephus (ca. 37–100 n.Chr.) trugen das Ihre dazu bei, für den jüdischen Glauben zu werben. Philosophisch attraktiv war Zum Begriff „schließen“ vgl. Mt 16,19; Offb 1,18. P. Abot II, 8. BDR § 319,2. Anders der Akzent bei France 327. Er sieht die Hinderung im „legalism“ der Pharisäer; ebenso Luz III 323; Sand 459. 124 Wie wir Zahn 653; Carson 477f. 125 Josephus CAp II, 280: „Die Gesetze sind von uns auch allen anderen Menschen mitgeteilt worden“; K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, 12. Aufl., Tübingen, 1960, 21: „erzielte das Diasporajudentum große Missionserfolge“; K. G. Kuhn, Art. προσήλυτος, ThWNT, VI, 1959, 731,28: „Von dem großen Erfolg der jüd. Mission“; ebenso Strack-Billerbeck I 926. Skeptisch Luz III 324; Beare 454. 120 121 122 123

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der Ein-Gott-Glaube der Juden und der jüdische Verzicht auf Götterbilder, aber auch das unleugbare Alter der jüdischen Religion. Wenn, wie in der Forschung angenommen, eine Reihe von Schriften wie die Sibyllinen oder die Testamente der zwölf Patriarchen auf jüdische Grundschriften zurückgeht, dann muss auch mit einem Einfluss dieser Art von Schriften auf die heidnische Umwelt gerechnet werden. Ferner spiegelt sich die Kraft der jüdischen Mission in der Stärke der antijudaistischen Polemik, an der sich auch Tacitus beteiligte.126 Juvenal konnte in seinen Satiren (Anfang 2. Jh. n.Chr.) über jüdische Proselyten schreiben: „Römische Sitten dagegen pflegen sie zu verachten, während sie jüdisches Recht erlernen und ängstlich befolgen.“127 Als „Der größte Erfolg der jüd Mission“ im 1. Jh. n.Chr. gilt „die Gewinnung des Königs Izates von Adiabene“ samt dessen Mutter und Bruder.128 Es sind zwei Hauptträger für diese Mission zu erkennen: einmal das hellenistische Judentum in der Diaspora, zum anderen das pharisäische Judentum im Israelland. Dass Jesus seine Worte an die Pharisäer adressiert, entspricht deshalb genau der Sachlage. Karl Georg Kuhn nimmt an, dass der aus dem Israelland kommende Eleazar, der König Izates zur Beschneidung bewog, „wohl sicher“ ein Pharisäer war.129 Für den Anschluss an das Judentum gab es zwei Möglichkeiten. Entweder man verzichtete auf die Beschneidung, schloss sich aber ansonsten sozusagen der geistig-religiösen Gemeinschaft des Judentums an und gehörte dann zu den „Gottesfürchtigen“, den σεβόμενοι [sebomenoi] oder φοβούμενοι τὸν θεόν [ phoboumenoi ton theon]. Oder man tat den ganzen Schritt und nahm auch die Beschneidung auf sich und war dann ein προσήλυτος [ prosēlytos].130 Jesus gebraucht in Mt 23,15 ausdrücklich den Begriff προσήλυτος und meint also die zweite Möglichkeit des Ganz-Übertritts. Noch heute sprechen wir von „Proselyten“. Die Formulierung ihr durchzieht Meer und Land (περιάγετε τὴν θάλασσαν καὶ τὴν ξηράν [ periagete tēn thalassan kai tēn xēran]) klingt sprichwörtlich. Der Sinn ist: „Ihr reist an jeden Ort, den ihr erreichen könnt“. Welche Mühe sich pharisäische Schriftgelehrte gaben, Proselyten zu gewinnen, sieht man an den Anekdoten, die in b Schab 31a von Hillel überliefert sind. Ein Proselyt, der sich der Beschneidung und dem Tauchbad unterzog, „gilt in jeder Beziehung als Israelit“ (b Jeb 47b). Unter Umständen setzten sich 126 127 128 129 130

Tacitus Hist V, 3-5. Aus Sat. XIV, 96ff in der Übersetzung von Umwelt des Urchristentums, 247f. Kuhn a.a.O. 735. Josephus, Ant XX, 38ff. Kuhn a.a.O. 735,81; ebenso Strack-Billerbeck I 926,1. Vgl. Kuhn a.a.O. 731.

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Proselyten noch strenger für das Gesetz ein als geborene Juden, so wie heute Konvertiten aus dem Christentum zum Islam oft besonders strenge Muslime sind. Ein Beispiel dafür könnte einer der jüdischen Aufstandsführer im Jüdisch-Römischen Krieg 66–73 n.Chr. sein, nämlich Simon bar Giora (Γιώρα).131 Giora geht auf aram. ‫[ ִגּיּוָֹרא‬gījōrāʾ] zurück.132 „Der Vater des Simon war also Proselyt.“133 Warum sagt dann Jesus: ihr macht aus ihm [= dem durch euch gewonnen Proselyten] einen Sohn der Hölle134 (υἱὸν γεέννης [hyion geennēs]), doppelt so schlimm wie ihr? Antwort: Weil die pharisäischen Schriftgelehrten in ihrer jetzigen Mehrheit „das Gottesreich zuschließen“ (V. 13). Wer aber das Gottesreich verfehlt, endet am Schluss in der γέεννα [geenna], der Hölle, wird also im Endgericht verurteilt. Jesus gebrauchte mehrfach den Begriff γέεννα = Hölle (Mt 5,22.29.30; 10,28; 18,9; 23,15.33; Lk 12,5). Er warnt damit in allem Ernst vor einem Verlorengehen im Gericht. Doppelt so schlimm aber ist ein vom Gottesreich ausgeschlossener Proselyt deshalb dran, weil er erstens sein altes Leben in der Hoffnung auf das ewige Leben aufgegeben hat, und weil er zweitens diese Hoffnung am Schluss gescheitert sieht (vgl. 1Kor 15,32ff ). Welch ein Schmerz kommt in diesem Vers zum Ausdruck!135 Die Gefahr liegt nahe, an diesen Vers Fragen heranzutragen, die er gar nicht behandeln will: Kann nicht ein aufrichtiger Proselyt doch zu den Gerechten des Alten Bundes zählen und wie diese gerettet werden? Doch, das kann er, vgl. Mt 8,5ff. Gibt es nicht auch anerkennenswerte Schriftgelehrte, die eben keine „Söhne der Hölle“ machen, wie Nikodemus, Jaïrus oder derjenige von Mk 12,34? Doch, die gibt es auch nach den Aussagen Jesu. Aber in Mt 23,15 geht es um eine prophetische Anklage gegen einen repräsentativen Stand in Israel, der umkehren soll, bevor das Gericht über Jerusalem und Israel stattfindet. Der dritte Weheruf fällt durch zweierlei auf: 1) Durch seine Länge (V. 1622), 2) durch den Wechsel der Anrede. Hier tritt nämlich das Motiv der Blindheit in den Vordergrund: blinde Führer (ὁδηγοὶ τυφλοί [hodēgoi typhloi], V. 16). Fünfmal taucht dieses Motiv in V. 13-33 auf (V. 16.17.19.24.26), davon 131 132 133 134 135

Josephus Bell II, 521.642; IV, 503; V, 11; VII, 154. D.h. „Proselyt“, verwandt mit dem hebr. ‫„ = ֵגּר‬Fremdling“. Kuhn a.a.O. 735. Vgl. BDR § 162,6: „Höllenkind“ als Semitismus. „Doppelt so schlimm“ (wörtlich eigentlich „doppelt so wie ihr“) meint wohl kaum, dass die Proselyten moralisch schlimmer wären, sondern dass sie schlimmer dran sind. Vgl. Maier II 248. Gegen Schniewind 232; Schlatter 344. Zahn 653f; France 327 heben auf den Fanatismus der Konvertiten ab; ebenso Luz III 325; Beare 454; Tasker 220; Carson 474.

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zweimal in der Form blinde Führer. Das zeigt, dass Jesus Blindheit und Heuchelei in einem Zusammenhang sieht. Warum nehmen ausgerechnet die Schwurformen136 so viel Platz ein? Im Grunde gibt es nur eine Antwort: Weil Matthäus und die anderen Träger seiner Überlieferung noch im Verband der jüdischen Synagogengemeinden lebten, für die solche Schwurformeln praktische Bedeutung hatten. Das aber bedeutet: Das Matthäusevangelium muss vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n.Chr. geschrieben sein,137 und es besitzt einen ausgesprochenen judenchristlichen Charakter. Blinde Führer (ὁδηγοὶ τυφλοί [hodēgoi typhloi]): Schon in Mt 15,14 hatte Jesus die Pharisäer als solche bezeichnet, in den Versen 17.19.24.26 wird er es wiederholen. Siehe auch noch Lk 6,39. In Röm 2,19 spricht Paulus ganz ähnlich vom „Führer der Blinden“. Derselbe Sprachgebrauch liegt bei den „blinden Pharisäern“ in Joh 9,40f vor. In diesen Zusammenhängen meint ὁδηγός [hodēgos] (Führer) jemanden, der anderen den Weg zeigt, sie anleitet und sie unterweist.138 Im jüdischen Bereich hängt der Begriff eng mit der Halacha, der Lehre vom gottgefälligen Weg, zusammen. Ein Drama, wenn der Blindenführer selbst blind ist! Wilhelm Michaelis betrachtet es als einen „wohl sprichwörtliche(n) Gedanke(n), daß man einen Blinden nicht als Führer nehmen dürfe“.139 In unserem Zusammenhang geht es kurz gesagt darum, dass die pharisäischen Schriftgelehrten „den Willen Gottes und die eigentliche Intention des Gesetzes“140 nicht richtig erkennen.141 Das wird sogleich an ihrem Umgang mit den Schwurformeln erklärt: die ihr sagt: Wer beim Tempel schwört, das ist nichts.142 Wer aber beim Gold des Tempels schwört, der muss es halten. Strack-Billerbeck halten fest, „daß die frühere Zeit tatsächlich dergleichen Unterschiede bei den Gelübdeformeln gemacht hat“.143 Häufig schwor man beim Tempel (Qid 71a; Ker I, Ket II, 9; Ned I, 3). Besonders eindrücklich ist b Ned 14b: „Es wird gelehrt: Wenn jemand bei der Tora gelobt, so hat er nichts gesprochen; wenn bei dem, was darin geschrieben ist, so sind seine Worte gültig.“ Von hier aus wird es ver136 Fiedler 352: „Mt unterscheidet nicht zwischen Gelübden … und Schwüren (was auch in der pharisäisch-rabbinischen Tradition nicht immer geschieht)“. 137 Vgl. dazu Carson 480. Wie wir auch Schniewind 233. 138 Vgl. W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 101ff. 139 A.a.O. 103,14. 140 W. Schrage, Art. τυφλός usw., ThWNT, VII, 1969, 293. 141 Viel zu hart, Jeremias, Gleichnisse, 163: „Blind sein heißt verstockt sein“. 142 οὐδέν ἐστιν sehen Strack-Billerbeck (I 932) durch das rabbinische „Er hat nichts gesagt“ ausgedrückt. 143 Strack-Billerbeck I 931. Ebenso O. Michel, Art. ναός, ThWNT, IV, 1942, 887.

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ständlich, dass Jesus in der Bergpredigt für seine Gemeinde jeden Schwur ablehnte (Mt 5,33ff ), ebenso Jakobus (5,12). Das Gold des Tempels wird verschieden erklärt: als sein Schmuck,144 als die goldenen Tempelgeräte,145 als der Tempelschatz.146 Wir können jedoch nicht mehr feststellen, was genau damit gemeint ist,147 und es ist auch für das Verständnis nicht entscheidend. Toren und Blinde! (μωροὶ καὶ τυφλοί [mōroi kai typhloi]) redet Jesus in V. 17 die Schriftgelehrten an. Weil Jesus in Mt 5,22 die Titulierung Tor (μωρέ [mōre]) so streng verurteilt hatte, wird ihm nun ein Widerspruch zu seiner eigenen Lehre vorgeworfen.148 Dieser Vorwurf entspringt einem groben Missverständnis. In Mt 5,21ff handelt es sich um das Verhältnis zweier Einzelpersonen, die einander zur Liebe verpflichtet sind („Brüder“). In Mt 23,17 dagegen handelt es sich um ein prophetisches Gerichtswort an die Repräsentanten Israels analog dem Wort des Mose in Deut 32,6. Vielleicht hat Jesus sogar in ֹ ‫[ ַעם ָנָבל ְו‬ʿam nābāl wᵉloʾ chākām] von Deut 32,6 Anlehnung an das ‫לא ָחָכם‬ formuliert. Jedenfalls hat Bertram recht mit der Beobachtung, dass Jesus hier „den Ehrennamen der Rabbinen in sein Gegenteil“ verkehrt.149 Die Rabbinen wollen „Weise“ (‫ֲחָכִמים‬/σοφοί [chᵃkāmīm/sophoi]) und „Führer“ (ὁδηγοί [hodēgoi]) der Blinden sein, doch ihre Gesetzesauslegung beim Schwören lässt sie als Toren und Blinde erscheinen. Man sollte aber bei der Beobachtung von Bertram nicht stehen bleiben. Denn Jesu Anrede hat ihr Ziel ja nicht in irgendeiner Art von Polemik, sondern ist Ausdruck eines göttlichen Schmerzes und hat die Absicht, die Schriftgelehrten für ihn, den Messias, zu gewinnen. Ohne diesen Aspekt des Gewinnenwollens lässt sich Mt 23 nicht verstehen. Beim Toren, μωρός [mōros], das sehr häufig auf hebr. ‫[ ָנָבל‬nābāl] zurückgeht,150 schwingt ja mehr mit als in unserem deutschen Begriff: „treffender ist ‚nichtig, (sozial) wertlos, gottlos‘“,151 es handelt sich kurz gesagt um „einen Gottlosen“.152 Jesus will also die Schriftgelehrten zurückholen von einem Weg, auf dem sie Gott verfehlen. Er tut dies mit einer Frage, die sie aufgrund ihrer Schriftkenntnis sofort beantworten können: Was ist größer: Das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt? Die Antwort ist von Ex 144 145 146 147 148 149 150 151 152

Schniewind 232. Tasker 220. Luz III 328. Davies-Allison III 291. So bei Davies Allison a.a.O.; Luz III 328; Fiedler 352,46. G. Bertram, Art. μωρός usw., ThWNT, IV, 1942, 846. J. Marböck, Art. ‫ָנָבל‬, ThWAT, V, 1986, 185. Marböck a.a.O. 176. Marböck a.a.O. 178. Die Übersetzung „Dummköpfe“ bei Luz III 325ff wird dem Sachverhalt nicht gerecht.

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29,37 her klar: Der Tempel macht heilig, was ihn berührt.153 Die Rabbinen haben es selbst in Worte gefasst in Zeb IX, 1 und 7: „Der Altar heiligt das, was für ihn geeignet ist“ (vgl. Men XII, 1).154 Auch wenn die genannten Stellen streng genommen nur vom Altar sprechen, so ist es doch ein Heiligkeitsgedanke, der für das ganze Heiligtum anwendbar ist. Für Und dann sagt ihr (V. 18) steht im Griech. bloßes καί [kai]. Jesus greift einen mit V. 16 verwandten Fall auf: Wer beim Altar schwört, das ist nichts. Wer aber beim Opfer schwört, das auf dem Altar liegt, der muss es halten. Zur Erklärung genügt der Hinweis auf das bei V. 16 Ausgeführte. Jesu entgegnet (V. 19): Ihr Blinden! Was ist denn größer (τί γὰρ μεῖζον [ti gar meizon]), das Opfer oder der Altar, der das Opfer heiligt? Hier nennt sie Jesus lediglich Blinde. Seit V. 15 ist die Anrede „Heuchler“ nicht mehr aufgetaucht. Das zeigt, dass es ihm keineswegs nur um den Vorwurf der Heuchelei geht und dass er sich vor der Gefahr eines monotonen Moralisierens hütet. Wieder kommt die sehr rationale Frage: Was ist größer? (vgl. V. 17). Mit dem Beispiel vom Altar sind wir direkt bei Ex 29,37, aber auch bei rabbinischen Stellen wie Ned I, 3; Zeb IX, 1.155 Die Bewertung ist eindeutig: Ein Schwur beim Altar wiegt schwerer als ein Schwur beim Opfer, das auf dem Altar liegt. Natürlich will Jesus hier nicht im Widerspruch zur Bergpredigt (Mt 5,33ff ) bestimmte Schwurformeln empfehlen, sondern die falsche Gesetzesauslegung innerhalb der rabbinischen Argumentationsreihen aufdecken.156 Sand nennt dies eine „Anklage … gegen ihre Tätigkeit als Tora-Interpreten“.157 Vers 20 zieht daraus einen stringenten Schluss, der keiner Erläuterung bedarf: Wer also beim Altar schwört, der schwört bei ihm und allem, was darauf liegt. Ein Schwur beim Altar kann also gar nicht von einem Schwur beim Opfer unterschieden werden. Eine neue Argumentation tritt in V. 21 hervor: Und wer beim Tempel schwört, der schwört bei ihm und bei dem, der ihn bewohnt. Die Unterscheidungen Tempel/Gold oder Altar/Opfer spielen jetzt keine Rolle mehr. Die Frage, die durchaus auch inner-rabbinisch sein kann, ist: Warum kommt dem Tempel ein solches Gewicht zu? Hat er als Gebäude (ναός [naos]) eine solche Heiligkeit? Nein, sagt Jesus. Sein Gewicht rührt daher, dass Gott ihn bewohnt. Denn der, der ihn bewohnt, kann nur Gott sein. Von diesem Be153 154 155 156 157

Davies-Allison III 292. Vgl. Strack-Billerbeck I 932. Davies-Allison a.a.O.; Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. Carson 479. Sand 460. Ähnlich Carson.

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wohnen Gottes sprechen die Tora (Ex 25,22; Num 7,89), die Propheten (1Kön 8,13ff; Jes 6,1; Hes 11,22ff; Hab 2,20), die Psalmen (135,21) und die Schriftgelehrten selbst.158 Ein Schwur, mag er auch rein äußerlich auf Tempelgeräte bezogen sein, bezieht sich also letztlich auf Gott. Das ist der Angelpunkt der Betrachtung. Vom Schwur beim Himmel war bisher noch nicht die Rede. Aber jetzt greift Jesus auch ihn auf, offensichtlich deshalb, weil der Himmel (ὁ οὐρανός [ho ouranos], ‫שַּׁמִים‬ ָ ‫[ ַה‬haschschāmajim]) noch höher steht als der Tempel. Denn „die Himmel“, ‫שַּׁמִים‬ ָ ‫ַה‬, ist eine Umschreibung für Gott selbst.159 Und wer beim Himmel schwört, der schwört bei Gottes Thron und dem, der darauf sitzt (V. 22): Schon einmal, in Mt 5,34, hat Jesus diesen Gedanken berührt. Und wie dort kommt es ihm darauf an, dass der schwörende Mensch Gott für seine egoistischen Ziele in Haft nehmen will. Erneut stützt sich Jesus dabei auf die Heilige Schrift. Denn sie ist es, die sagt, im Himmel sei Gottes Thron oder der Himmel sei Gottes Thron (Ps 11,4; 103,19; Jes 66,1). Aber es gilt nicht nur die Gleichung Himmel = Gottes Thron, sondern auch ein unauflöslicher Zusammenhang von Thron und dem, der darauf sitzt = Gott selbst. Lasst Gott aus dem Spiel! ergibt sich als Konsequenz aus Mt 23,22 ebenso wie aus Mt 5,34.160 Im Rückblick auf die Verse 16-22 sind noch einige Bemerkungen angebracht: 1) Der Schwur war im jüdischen Rechtswesen wichtig. Denn dieses beruhte weitgehend auf menschlichen Zeugen, deren Wahrhaftigkeit entscheidend war (vgl. Mt 26,63). Die Schwurpraxis uferte jedoch aus. Dafür sprechen nicht nur die Worte Jesu in Mt 5,33ff; 23,16ff; sondern auch die Bemühungen der pharisäischen Rabbinen161 und Essener,162 diese Schwurpraxis wieder einzudämmen. Jesus aber forderte mehr, nämlich die ganze Wahrhaftigkeit des Redens und den Verzicht auf den Schwur in der Gemeinde.163 2) Wie Mt 23,16-22 als matthäisches Sondergut zeigt, waren damals die jüdischen Schwurformeln noch von unmittelbarer Bedeutung für die im Israelland lebende messianisch-jesuanische Gemeinde. Beare verfehlt diese Situa158 Auch die essenischen: 11Q Kol XXIX, 7ff. Vgl. O. Michel, Art. οἶκος usw., ThWNT, V, 1954, 155f. 159 Vgl. die Redewendung „Reich der Himmel“ = Reich Gottes. 160 Vgl. Davies-Allison III 292. 161 Vgl. Fiedler 352. 162 Vgl. Josephus Bell II, 135; in einer Spannung dazu stehen allerdings Bell II, 139 und 1QS V, 8. 163 Er tadelt also nicht nur die damalige Kasuistik. Gegen Zahn 654.

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tion, wenn er hinter Mt 23,16-22 nur „an antiquarian interest“ sieht.164 Vielmehr müssen wir aus Mt 23 nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Präsensformen den Schluss ziehen, dass das Matthäusevangelium noch vor dem Jahre 70 n.Chr. abgefasst wurde.165 3) Über das Verhältnis des Matthäus zum Tempelkult gibt Mt 23,16ff keine Auskunft.166 4) Man muss sich davor hüten, die angegriffene jüdisch-pharisäische Schwurpraxis als „alberne Kasuistik“167 oder „lügnerisch“168 zu klassifizieren. Damit würde man über die Nöte des Rechtslebens und das Bemühen der Pharisäer hinwegtäuschen. Man kann aber auch nicht mit Fiedler human-begütigend nur eben von „beliebten Beteuerungsformeln“169 sprechen. Damit wäre die Wahrhaftigkeit, für die wir vor Gott verantwortlich sind, zum bloßen Randthema gemacht. 5) Schwer ist die Frage nach der Schuld. Tasker hat hier einprägsam formuliert: „Stupidity being wilful blindness is a moral failing.“170 Aber nach Joh 9,40f war es ja nicht der Wille der Pharisäer, blind zu sein. In dem Wort blind liegt offenbar schon die Konsequenz aus einem schuldhaften Verhalten. Und dieses schuldhafte Verhalten hat Jesus in dem Vorwurf, Heuchler und Toren zu sein, unbestreitbar zum Ausdruck gebracht. Man muss dabei mit France berücksichtigen, dass Jesus „neither in thoughtless insult nor with personal bitterness“ gesprochen hat.171 Man muss es wohl so zusammenfassen: Aus der Verweigerung der Umkehr, die Gott durch die Sendung des Täufers (vgl. Mt 3,7ff; 21,23ff.28ff ) und des Messias (vgl. Mt 4,17) angeboten hat, erwachsen Verblendung und Blindheit. In dieser Blindheit liegen Schuld und Strafe zusammen, sie ist ein Ausdruck des jetzigen Elends. Noch immer wirbt Jesus um diese Umkehr der pharisäischen Repräsentanten. Das vierte Wehe betrifft zunächst den Zehnten (V. 23): Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gebt den Zehnten von Minze und Dill und Kümmel und lasst außer Acht, was das Schwerwiegendere ist im Gesetz: das Recht und die Barmherzigkeit und den Glauben. Dieses sollte man tun und jenes nicht lassen! Halten wir sofort fest: Hier herrscht in der Lehre zwischen Jesus und den pharisäischen Schriftge164 165 166 167 168 169 170 171

Beare 454. Gegen Davies-Allison III 293. Gegen Hummel 78ff; Schniewind 232. Mit Carson 479; Davies-Allison III 291f. So Bultmann, Gesch, 142. So Schlatter 345. So 352. Tasker 221. France 328.

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lehrten vollkommenes Einverständnis. Es betrifft mindestens vier fundamentale Punkte: 1) Jeder Israelit ist zum Zehnten verpflichtet, weil Gottes Gesetz es besagt; 2) es gibt Leichteres und Schwerwiegenderes (βαρύτερα [barytera]) im Gesetz; 3) zum Schwerwiegenderen gehören Recht (κρίσις [krisis]), Barmherzigkeit (ἔλεος [eleos]) und Glaube (πίστις [ pistis]); 4) die Erkenntnis, dass es Schwerwiegenderes gibt, darf kein Hindernis sein, auch das Leichtere und Geringere zu tun. Hier liegt also ein geradezu klassischer Fall von Mt 23,2f vor, in dem Jesu Wort Anwendung findet: „Alles, was sie euch sagen, das tut.“ Am Anfang von V. 23 hören wir ein Lob: Ihr gebt den Zehnten von Minze und Dill und Kümmel. Die Minze, nach Zohary172 vermutlich die Rossminze, Mentha longifolia, „Wegen ihres aromatischen Öls … gewöhnlich als Gewürz“ verwandt, aber auch als Heilpflanze, wuchs wohl in den Gärten. Ebenso diente der Dill, Anethum graveolens, „seit frühester Zeit in den Ländern der Bibel bekannt“, als Gewürz und Heilpflanze und wurde ebenfalls „im Garten gezogen“.173 Dasselbe gilt für den Kümmel, nach Zohary der Kreuzkümmel, Cuminum cyminum, dessen Ursprungsgebiet der Mittlere Osten ist.174 Indem die Pharisäer den Zehnten von diesen Gartengewächsen und Gewürzen geben, erfüllen sie Deut 14,22ff und Lev 27,30ff. Sie gaben den Zehnten wohl in Gestalt von Geld (Deut 14,24ff ). Mit ihrer Sorgfalt stellen sie viele Christen in den Schatten. Zugleich aber muss man sagen, dass auch viele Christen bis heute den Segen des Zehntgebens (Mal 3,10ff ) erfahren. Die Spuren der Verzehntung von Dill und Kümmel finden sich bis heute im Talmud (Dill: Maasrot IV, 5; Kümmel: Demaj II, 1; Echijot V, 3).175 Wo liegt nun die Verfehlung? Ganz bei dem, das Jesus in Mt 23,3 anspricht: „sie sagen es und tuns doch nicht“. Aber nun nicht im Bereich des Zehnten – in dem sie tadellos sind –, sondern in einem viel wichtigeren Bereich, nämlich dem von Recht, Barmherzigkeit und Glauben. Ihre Lehre ist auch dort in Ordnung.176 Aber nicht ihre Praxis, die vom Unterlassen geprägt ist: ihr lasst außer Acht (ἀφήκατε [aphēkate]), was das Schwerwiegendere (τὰ βαρύτερα [ta barytera]) ist im Gesetz: das Recht (τὴν κρίσιν [tēn krisin]) und die Barmherzigkeit (τὸ ἔλεος [to eleos]) und den Glauben (τὴν πίστιν [tēn pistin]). Statt ihr lasst außer Acht177 kann man auch übersetzen: „ihr habt auf172 173 174 175

Zohary 88. Zohary a.a.O. Zohary a.a.O. Vgl. Strack-Billerbeck I 933 sowie den Grundsatz in Maasrot I, 1: „Alles, was … seine Nahrung aus der Erde zieht, ist zehntpflichtig.“ 176 Fiedler 353. 177 So ähnlich: Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; Lutherbibel; BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ; Schlatter 345; Schniewind 230.

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gegeben“, „ihr habt beiseite gelassen“.178 Der Sinn ist allemal derselbe: Ihr unterlasst es, den genannten Lebensordnungen die geforderte Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei sind alle drei schon in der berühmten Aussage Mi 6,8 zusammengefasst:179 κρίμα [krima] – ἔλεον [eleon]180 – πορεύεσθαι μετὰ ׁ ְ ‫[ ִמ‬mischκυρίου θεοῦ σου [ poreuesthai meta kyriou theou sou] (LXX) = ‫ש ָ ּפט‬ ֹ ‫[ ַהְצֵנַע ֶלֶכת ִעם־ֱא‬hazneaʿ läkät ʿimpāth] – ‫[ ַאֲהַבת ֶחֶסד‬ʾahᵃbat chäsäd] – ‫לֶהיָך‬ ʾᵆlohäjkā] (MT). Wie stark sich diese prophetischen Forderungen in der rabbinischen Diskussion niederschlagen konnten, zeigt P. Abot I, 18, wo R. Simon b. Gamliel sagt: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand, auf Recht, Wahrheit und Frieden.“181 Siehe auch Jes 1,17; 22,3; Hos 6,6; Sach 7,9; 8,16. Aber, so lautet die prophetische Anklage Jesu, euer Tun richtet sich nicht danach. ׁ ְ ‫[ ִמ‬mischpāth], griech. mit der „Standardübersetzung κρίμα Recht, ‫ש ָ ּפט‬ oder κρίσις“,182 ist hier wohl in erster Linie eine Gottes Willen entsprechende und dem Bedrückten sein Recht schaffende Rechtsprechung.183 Neutestamentlich vgl. man als negative Beispiele Mt 15,1ff; Mk 12,40; Lk 18,1ff. Barmherzigkeit, ‫[ ֶחֶסד‬chäsäd] oder ‫[ ַרֲחִמים‬rachᵃmīm], griech. ἔλεος [eleos],184 ist die wohltuende und vergebende Zuwendung.185 Siehe auch Mt 18,21ff; 5,7 und die Erklärungen dort. Beim Bruder Jesu, Jakobus, ist sie ebenfalls hoch angesiedelt (2,13). Immer wieder hat Jesus diese Barmherzigkeit gefordert (Mt 5,7; 9,13; 12,7; 18,21ff; Lk 19,37), ja, er hat sie selbst gelebt (Mt 9,27; 15,22; 20,30f; 9,36; 14,14; 15,32; 20,34). Dabei meint Barmherzigkeit im biblischen Sinn „nicht nur eine … Gesinnung, sondern stets auch die aus dieser Gesinnung fließende Tat“.186 Glaube, ‫[ ֱאֶמת‬ʾᵆmät] oder ‫[ ֱאמוָּנה‬ʾᵆmūnāh], griech. πίστις [ pistis], muss von der Gesamtheit des hebr. ‫אמן‬-Begriffes her bestimmt werden.187 Es ist das Hifil ‫[ ֶהֱאִמן‬häʾᵆmin], das sehr oft dem πιστεύειν [ pisteuein] der LXX zugrunde liegt.188 Dieses ‫ ֶהֱאִמן‬bringt Vertrauen und Treue zum Ausdruck.189 Es geht also um „eine Gottesbeziehung, die den ganzen Menschen in der Gesamtheit 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189

So Revidierte Elberfelder Bibel; Luz III 329; Fiedler 350; Bauer-Aland 253. Vgl. Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. dazu Bauer-Aland 504. Vgl. auch b Sota 14a. B. Johnson, Art ‫ש ָ ּפט‬ ׁ ְ ‫ִמ‬, ThWAT, V, 1986, 106. Johnson a.a.O. 100; F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 943. Schlatters Übersetzung „Gericht“ (345). R. Bultmann, Art. ἔλεος usw., ThWNT, II, 1935, 475. Vgl. Bultmann a.a.O. 479. H.J. Zobel, Art. ‫ֶחֶסד‬, ThWAT, III, 1982, 56. A. Weiser im Art. πιστεύω usw., ThWNT, VI, 1959, 185. Weiser a.a.O. 186. Weiser a.a.O.

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seines äußeren Verhaltens und seines Innenlebens umfasst“.190 Wichtige Teilaspekte, die dann im hebr. Substantiv ‫[ ֱאמוָּנה‬ʾᵆmūnāh] ausgedrückt werden, sind Beständigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verlässlichkeit.191 Man könnte kurz formulieren: Es ist die treue und vertrauende Ganzhingabe an Gott, die Jesus mit der πίστις [ pistis] in Mt 23,23 meint. So entspricht diese πίστις auch dem ֹ ‫[ ֶלֶכת ִעם־ֱא‬läkät ʿim-ʾᵆlohäjkā]) von Mi 6,8.192 „Wandel mit Gott“ (‫לֶהיָך‬ Dass es Schwerwiegenderes und also auch weniger Schwerwiegendes im Gesetz gibt, ist schon oben in Mt 22,34ff klar geworden. Siehe auch die Erklärung dort. Hier ist daran zu erinnern, dass nach der jüdischen Endzeiterwartung auch der Messias keine „neue Thora“ bringt.193 Dass sich Jesus hier wie in Mt 5,17ff und 22,34ff vollkommen auf den Boden der gegebenen Tora stellt und von da aus die pharisäischen Schriftgelehrten anklagt, macht sein Vorgehen auch für sie begreiflich. Dieselbe gemeinsame Grundlage wird noch einmal im Schlusssatz von V. 23 deutlich: Dieses sollte man tun und jenes nicht lassen! Dieses ist Recht, Barmherzigkeit, Glauben, jenes die Verzehntung der Kräuter. Die Erkenntnis der zentralen Anliegen des Geseztes darf nicht daran hindern, auch die übrigen Vorschriften ernst zu nehmen. An dieser Stelle kommt es zu einem totalen Bruch mit dem nur „Prinzipien“ folgenden und stets die „Kasuistik“ verdammenden Humanismus. Schon vor über 70 Jahren schrieb Walter Gutbrod: „Die Ablehnung der Kasuistik durch Jesus ist also nicht zu verstehen als Humanisierung, Rationalisierung oder Moralisierung der at.lichen Gebote.“194 Das muss heute noch weit mehr betont werden. Man vgl. b Sanh 99a: „Wenn einer sagt, die ganze Thora sei vom Himmel, mit Ausnahme von einem Verse, den nicht der Heilige, gepriesen sei er, sondern Mose von sich aus gesagt hat, so gilt von ihm: er hat das Wort des Herrn verachtet.“ Vers 24 bewertet das in V. 23 geschilderte Verhalten. Blinde Führer! lautete schon in V. 16 die Anrede an die pharisäischen Schriftgelehrten (vgl. die dortige Erklärung). Die ihr Mücken seiht und Kamele verschluckt: StrackBillerbeck vermuten hier eine „sprichwörtliche Redensart“.195 Mücken waren nach Lev 11,20.23.41 verboten, man seihte sie (vgl. Schab XX, 2) daher

190 Weiser a.a.O. 188. 191 A. Jepsen, Art.‫ ָאַמן‬, ThWAT, I, 1973, 341ff. 192 Heute übersetzt man πίστις gern mit „Treue“. Das ist eine gut begründbare Übersetzung. Aber zu fragen ist, ob „Treue“ wirklich das ganze Bedeutungsspektrum von πίστις zum Ausdruck bringt. Vgl. Schlatters Anmerkung S. 346. 193 W. Gutbrod, Art. νόμος usw., ThWNT, IV, 1942, 1049. 194 Gutbrod a.a.O. 1056. 195 Strack-Billerbeck I 933. Auch im Deutschen zum Sprichwort geworden.

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aus.196 Sie galten zudem als besonders kleine Tiere und als ekelig (vgl. b Hor 11a).197 Kamele dagegen galten als ein Sinnbild großer Tiere (b Schab 12a). Aber auch sie waren als Speise nicht erlaubt (Lev 11,4). Was also tun die blinden Schriftgelehrten? Mücken seihen sie mit Recht aus = sie verzehnten die Kräuter, aber da, wo man noch mehr aufpassen sollte, nämlich bei den großen Dingen (Kamele) wie Recht, Barmherzigkeit, Glauben, da versagen sie, da verschlucken sie gegen das Gesetz.198 Das fünfte Wehe (V. 25-26) betrifft die Reinigungsvorschriften: Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr reinigt Becher und Schüsseln außen, aber innen sind sie voller Raub und Gier. Der Widerspruch von innen und außen wird auch noch das sechste Wehe durchziehen. Hier geht es aber speziell um die Reinigung der Gefäße. Markus spricht sie in Mk 7,4 ebenfalls an. Seit den Makkabäerkämpfen war die Reinheit der Lebensführung für alle Frommen (Chassidim) und besonders auch die Pharisäer ein wichtiges Anliegen (vgl. 1Makk 2,42ff ). Aus der Zeit nach Jesus bezeugt vor allem der Traktat Kelim, mit welcher Sorgfalt die Pharisäer für die Reinheit von Bechern und Schüsseln sorgten. Gleich zu Anfang wendet sich Kelim den Geräten und Tongefäßen zu (II, 1ff ). Auch hier wird zwischen Innenund Außenseite eines Bechers unterschieden (Kelim XXV, f ).199 Jesus bewegt sich also mit Mt 23,25f ganz im damaligen, realen Leben. Das gilt nicht weniger für seine Forderung nach innerer Reinheit. Auch da entsprechen sich Pharisäer und Jesus in der Lehre. Man vgl. nur b Schab 152b: „Gib den Geist ihm [= Gott] zurück, wie er ihn dir gegeben hat, in Reinheit, ebenso du ihm in Reinheit“, sowie b Nidda 30b; b BM 86a; b Ber 17a; b Sanh 65b. Mit Recht bemerkt Rudolf Meyer zur Lehre der Pharisäer: „Die Forderung der inneren Reinheit erstreckt sich auf das ganze Leben.“200 Was nach den Worten Jesu fehlt, ist eben die Verwirklichung dieser Forderung. Fiedler tut dies wieder ab mit dem Vorwurf, Matthäus wolle seine Gegner „fertig … machen“,201 und nimmt damit nicht einmal den innerpharisäischen Kampf um die Reinheit ernst (b Joma 72b). Jesu Auge blickt in Schmerz und werbender Liebe tiefer:

196 Zum Beispiel mithilfe eines Tuches oder Siebes beim Einschenken von Wein (Schab XX, 2). 197 Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 194. 198 Tasker 221 hält V. 24 für eine sekundäre Glosse, sieht aber selbst, dass es dafür keine ausreichende Begründung gibt. Er nennt den Vers „humorous“, France nennt ihn einen „joke“ und „burlesqued“ (S. 328f ). 199 Vgl. insgesamt R. Meyer im Art. καθαρός usw., ThWNT, III, 1938, 421ff. 200 A.a.O. 426. 201 Fiedler 354.

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aber innen sind sie voller202 Raub und Gier. Hier wechselt das Bild vom äußeren praktischen Gebrauch zu einem übertragenen Sinn.203 Denn nun sind sie es selbst, die pharisäischen Schriftgelehrten, die innen voller Raub und Gier sind. Das griech. ἁρπαγή [harpagē] bezeichnet sowohl das Rauben und die Plünderung, als auch das Geraubte.204 Beides kann in Mt 23,25 gemeint sein. Man vgl. Mk 12,40 / Mt 25,14. Für Gier steht ἀκρασία [akrasia], auch „Unmäßigkeit“ oder „Zügellosigkeit“ im sexuellen Sinn (1Kor 7,5).205 Vermutlich muss man für Mt 23,25 wieder beides annehmen: Jesus geißelt Besitzgier und sexuelles Verlangen über die gottgesetzten Grenzen hinaus. Siehe auch Mt 15,10ff.206 Ein fünftes Mal spricht Jesus von Blindheit: Blinder Pharisäer! (V. 26). Wir nehmen an, dass in der Blindheit beides zusammenliegt: Schuld und Strafe. Vielleicht hat sich Jesus bei seiner Formulierung vom blinden Pharisäer an das Gespräch von Joh 9,39ff erinnert, das ja ebenfalls in Jerusalem stattfand. Seine Weisung: Reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch sein Äußeres rein werden kann! (V. 26) enthält wieder einen Doppelaspekt. Entsprechend der Linie von V. 15 und 23f will Jesus hier die äußere Reinigung nicht verbieten. Aber er besteht zugleich auf der Priorität der inneren, glaubensgemäß-ethischen Reinigung (πρῶτον [ prōton]!). Siehe auch die Seligpreisung des reinen Herzens in Mt 5,8; 15,16ff. Erneut gehen die reale Bedeutung und die übertragene Bedeutung von Becher = Mensch ineinander über. Nur kurz ist der Schritt von V. 25f zu V. 27f, wo Jesus zwar das Gebiet der täglichen Reinigung verlässt, aber zugleich das Thema innen und außen (ἔσωθεν [esōthen] und ἔξωθεν [exōthen]) weiterführt. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gleicht getünchten Gräbern, die außen zwar lieblich scheinen, innen aber voller Totengebeine und jeder Unreinheit sind: Schon die Wortparallelen (Anrede – ἔξωθεν [exōthen] – ἔσωθεν [esōthen] – γέμουσιν [gemousin] – ἀκαθαρσίας/ἀκρασίας [akatharsias/akrasias]) deuten auf die enge Verwandtschaft mit V. 25f hin. Gräber wurden „durch Kalktünche bezeichnet, um Verunreinigungen zu vermei202 γέμειν ἐκ = „voll sein von“ (BDR § 172,2). Die Übersetzung „sind sie voll aufgrund von Raub und Maßlosigkeit“ trifft also das Gemeinte nicht. Gegen Luz III 337. 203 Oft ist das Gefäß ein Bild für den Menschen: Röm 9,21ff; 2Kor 4,7; 2Tim 2,20f. Wie wir Schniewind 234. 204 Bauer-Aland 217f. 205 Bauer-Aland 63. Auch in ἁρπαγή steckt das gierige Nehmen (W. Foerster, Art. ἁρπάζω usw., ThWNT, I, 1933, 471). 206 Dass Jesus hier in einen hillelitisch-schammaitischen Streit über die Durchführung der Reinigung eingreift, ist äußerst unwahrscheinlich. Vgl. Luz III 336ff. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass er über die Pharisäer „spottet“. Gegen Luz III 337.

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den“.207 Im Vergleich zu ihrer Umgebung konnten sie außen mit ihrer weißen Farbe durchaus lieblich scheinen.208 Der Gegensatz zu innen ist stark. Totengebeine, Leichname, verunreinigen nach Num 19,11.209 In V. 27 steht wörtlich „sie sind voll von Knochen von Toten“. Ob hier Ossuarien (Steinbehälter für die Knochen bei der Zweitbestattung) gemeint sind, muss offenbleiben.210 Jedenfalls ist alle Unreinheit, die im Innern des Grabes herrscht, der stärkste Gegensatz zum äußeren lieblichen Erscheinungsbild. Ihnen sollen die pharisäischen Schriftgelehrten gleichen?211 Siehe auch das Schimpfwort „getünchte Wand“ in Apg 23,3 sowie Lk 11,44. Ja, gerade so (οὕτως [houtōs]) ist es nach den Worten Jesu: So scheint auch ihr den Menschen von außen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit (V. 28). Auf breiter Front werden heute diese Worte kritisiert. Es ginge nur darum, „die Gegner … bloß zu stellen“, es handle sich um „Polemik“, man könne „die Haltlosigkeit der einzelnen Vorwürfe“ erweisen.212 Dabei vergisst man, dass Jesu rechtlicher Vater Josef selbst ein Gerechter war (Mt 1,19), dass Jesus während seines ganzen Wirkens der Synagoge verbunden blieb, dass er soeben ein höchstes Lob über die pharisäischen Schriftgelehrten ausgesprochen hatte (V. 2-3), dass seine Worte Ausdruck eines prophetischen Bußrufes sind und gerade nicht den Zweck haben, einen „Gegner bloß zu stellen“. Ihr scheint (φαίνεσθε [ phainesthe]) interpretieren R. Bultmann / D. Lührmann im Sinne von „scheinen als ob“.213 Diese Interpretation bringt einen wichtigen Teilaspekt zum Ausdruck. Aber das Wort reicht weiter. Sie erwecken ja doch den Menschen von außen den Eindruck, dass sie Gerechte (δίκαιοι [dikaioi]) sind, und das nicht ohne Grund. Das Erscheinungsbild der pharisäischen Schriftgelehrten und Genossenschaften war höchst eindrucksvoll. Im Matthäusevangelium ist dies seit 4,20 klar. Josephus beschreibt den allgemeinen Eindruck, den man von den Pharisäern hatte, so: „sie stehen in dem Ruf gewissenhafter Gesetzesauslegung … sie halten die Einigkeit zum gemeinsamen Besten hoch.“214 Wie hoch die Pharisäer in der Urgemeinde angesehen 207 R. Riesner, Art. Begräbnis- und Trauersitten, GBL 1, 178. Vgl. Sheq I, 1; Kel I, 4; MQ I, 2; MSh V, 1. 208 Zahn 655: „Anblick frischer Sauberkeit“; Schniewind 234. 209 Vgl. Num 9,6ff. 210 Nach Riesner a.a.O. 177 seit dem 1. Jh. v.Chr. in Verwendung. Zum Teil denkt man an Urnen (Luz III 341,128). Bejahend France 329 nach S.T. Lachs; auch Tasker 222. 211 παρομοιάζω nur in christl. Literatur nachgewiesen (Bauer-Aland 1271). 212 Alles bei Fiedler 354f. 213 Im Art. φαίνω usw., ThWNT, IX, 1973, 2. 214 Bell II, 162.166.

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waren, kann man Apg 15,1ff; Phil 3,5 entnehmen – trotz der Rede Jesu in Mt 23! Jesus sieht jedoch die innen-Situation der pharisäischen Mehrheit in einem tiefen Gegensatz zum Bild von außen: ihr seid voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit. Heuchelei ist dabei das Bild, das man selbst vor den Menschen erzeugen möchte (vgl. V. 13; Mk 12,15; Lk 12,1; 16,15), Gesetzlosigkeit (ἀνομία [anomia]) das Nicht-Tun des erkannten Willens Gottes (vgl. V. 3). Matthäus ist der einzige Evangelist, der den Begriff ἀνομία verwendet.215 Insgesamt ein harter Vorwurf gegen Menschen, die gerade den praktischen Lebenswandel nach dem Willen Gottes zu ihrem Ziel gemacht hatten, vgl. Mt 7,23. Hier ist auch mitzubedenken, dass die zunehmende Gesetzlosigkeit ein Zeichen der Endzeit ist (Mt 24,12). Das siebente und letzte Wehe (V. 29-33) ist beinahe ebenso lang wie das dritte (V. 16-22). Der Gedankengang ist aber komplizierter. Jesus beginnt damit, dass er die Bemühung um das Andenken vorbildlicher Israeliten hervorhebt: ihr baut (οἰκοδομεῖτε [oikodomeite]) die Gräber der Propheten und schmückt die Grabstätten (oder: Denkmäler) der Gerechten. Die im Tempelvorhof Versammelten hatten das Anschauungsmaterial in nächster Nähe, nämlich in Gestalt des sog. Absalomgrabes, der Grabanlage der Priesterfamilie Bene Hesir und des sog. Sacharjagrabes im Kidrontal.216 Gräber baute man in Gestalt von Felsgräbern, Höhlengräbern und kunstvollen Bauwerken. Denkmäler oder Grabstätten (μνημεῖα [mnēmeia]), in die man hineingehen konnte und die gelegentlich als Behausungen der Besessenen dienten (Mt 8,28), wurden nach jüdischer wie nach heidnischer Sitte geschmückt, um das Andenken in Ehren zu halten. Propheten und Gerechte sind schon in Mt 10,40ff und 13,17 zusammengestellt, vgl. die Erklärungen dort. Es ist interessant, dass Jesus beides nicht verbietet.217 Man darf durchaus an Propheten und Gerechte gedenken, ja sogar Gedenkstätten (Memorials) für sie einrichten (muss es aber auch nicht!). Der Kritikpunkt liegt woanders. … und ihr sagt: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, hätten wir uns am Blut der Propheten nicht mitschuldig gemacht (οὐκ ἂν ἤμεθα αὐτῶν κοινωνοί [ouk an ēmetha autōn koinōnoi]), V. 30. Durch Israels Geschichte zieht sich eine lange Spur der Verfolgung und Tötung von Propheten. F.W. Beare versucht, sie mit einigen leichten Worten aus der Welt zu schaffen, indem er zum Beispiel die Prophetenverfolgung zu Ahabs Zeiten 215 Jeremias, Gleichnisse, 82,16. 216 Vgl. Kroll 432f; Dalman 256; Arch BL 222. Zu erwähnen sind die Gräber der Patriarchen in Hebron, das Grab Rahels südl. von Jerusalem und das Jonagrab bei Kana. Vgl. Josephus Ant VIII, 392ff; XVI, 179ff; Apg 2,29. 217 Zahn 655.

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schlicht als Teil von „Jezebel’s policy of establishing the worship of the Baal“ erklärt.218 Allerdings! Jesus unterscheidet nicht zwischen „politischen“ und „religiösen“ Morden, und beide Lebensbereiche waren an diesen Verfolgungen beteiligt. Sie beginnen schon in der Mose-Zeit (Ex 17,4; Num 14,10; 16,1ff; 17,6ff ). Sie ziehen sich durch die Königszeit (1Kön 18,4; 19,10; 22,27; 2Chron 24,20ff; 36,16), sie finden sich in den Lebensläufen der Propheten (Jer 26,1ff.20ff; Am 7,10ff ), sie werden beklagt in den Psalmen (74,9) und im Geschichtsrückblick Nehemias (9,26), sie werden wieder und wieder im NT erinnert (Mt 5,12; Lk 13,33; Apg 7,52; Jak 5,10). Angesichts der Fülle dieser Aussagen genügt es nicht, wenn Luz dafür nur eine „sog. deuteronomistische Prophetenmordtradition“ verantwortlich macht.219 Schließlich bildete in den Tagen Jesu die Hinrichtung des Täufers das letzte Glied in dieser Kette. Was Jesus tadelt, ist der Standpunkt: Wir sind besser als unsere Väter – ja, wir beweisen es durch unsere Denkmäler. Dieser Standpunkt ist der genaue Gegensatz zu den Bußgebeten Esras (9,6ff ), Nehemias (9,33ff ) und Daniels (9,5ff ), auch Manasses (V. 9ff ). Zahn kommentiert mit Recht: „Anstatt sich die feindselige Haltung ihrer Vorfahren gegen die Zeugen Gottes … als warnendes Beispiel dienen zu lassen“ kommt es „zu einer selbstgefälligen Vergleichung“.220 Aus dieser „selbstgefälligen Vergleichung“ zieht Jesus den Schluss: Gerade so (ὥστε [hōste]) gebt ihr euch selbst das Zeugnis,221 dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten gemordet haben (V. 31). Das ὥστε am Satzanfang drückt eine Folge aus.222 Die Folgerung, die sich aus der selbstgefälligen, überheblichen Haltung von V. 30 ergibt, kann also nur die sein: Sie sind genauso wie ihre Väter. Oder ganz in semitischer Sprechweise ausgedrückt:223 Sie sind Söhne = von gleicher Art wie diejenigen, die die Propheten gemordet haben. Es überrascht, dass gerade in unserer Generation diese Worte Jesu aufs Härteste angegriffen werden. Für Fiedler und Luz bleibt hier „die Logik auf der Strecke“.224 Warum? Wer sich „von den Vorfahren, die sich schuldig gemacht hatten“, distanziere, der belege, dass er das „Gegenteil“ dieser Vorfah218 219 220 221 222 223 224

Beare 457. Luz III 343. Zahn 655f. BDR § 188,1. BDR § 391,2. Vgl. BDR § 4,4. Fiedler 355; Luz III 343f. Ebenso Beare 458.

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ren darstelle!225 Das ist nun wieder eine seltsame Logik. Als ob nicht die lautesten Schreier, die über die Gräuel der Vergangenheit klagen, selbst an diesen Gräueln teilgenommen hätten, wenn sie damals gelebt hätten! Auch sprachlich gehen manche Kommentare an dem in V. 31 Gemeinten vorbei: So, wenn Luz betont: „Söhne dürfen und können anders sein als ihre Väter.“226 Das Problem ist aber nicht, dass Söhne ihre eigenen Entscheidungen treffen können und sollen – was Hes 18,1ff; 33,10ff durchaus bejaht –, sondern dass sich nach den Worten Jesu die Art (Sohn als Bildwort) fortgesetzt hat, in der man den Boten Gottes begegnete. Das zeigt sich am Umgang mit dem Täufer. Und das wird sich erst recht zeigen, wenn man Jesus zu Tode bringt. Dann aber, in dieser Linie, schließt sich V. 32 ganz konsequent an: Ja, macht auch ihr227 das Maß eurer Väter voll! Ironisch ist das nicht.228 Sondern der Gebrauch schwerster Mittel, um die Umkehr zu erreichen, und zugleich Schmerz. Schlatter berührt wichtige Aspekte, wenn er schreibt: „den Christus haben sie [= die Väter] noch nicht getötet; tut, was jene noch nicht tun konnten … Sie sollen wissen, daß er sie kennt, und daß er bereit ist, alles zu tragen.“229 Vielleicht hat sich Paulus in 1Thess 2,16 an dieses Wort Jesu angelehnt.230 Man erinnere sich ferner an den Schluss der Apokalypse: „Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses“ (22,11). Den Schluss der prophetischen Anklage V. 29-33 und zugleich von V. 1333 bildet nun der 33. Vers: Schlangen, Schlangenbrut, wie wollt ihr der Verurteilung zur Hölle entfliehen? Es ist, als wäre der Täufer wieder erstanden (Mt 3,7; γεννήματα ἐχιδνῶν – φυγεῖν ἀπό [gennēmata echidnōn – phygein apo]). Aber auch Jesu eigene Rede in Mt 12,34 ist wieder präsent. In der Auslegung dieses Verses kommen Grundvoraussetzungen der Exegese zum Vorschein. Für Fiedler, der ununterbrochen in Matthäus einen Polemiker und Verfolger der Rabbinen sieht, setzen sich hier die matthäischen „Unterstellungen“ fort.231 Für Luz, der die Gesprächsebene zwischen Matthäus und den Rabbinen längst als zerstört betrachtet, kommt laut V. 33 „nur noch Gottes Vernichtungsgericht“ infrage.232 Nach Beare verwendet Matthäus hier ein

225 226 227 228 229 230 231 232

Fiedler 355. Luz III 344. Verstärkendes καί, BDR § 442,24. Gegen Tasker 222 („ironical“); Schniewind 235: „ein Befehl“, „furchtbare Ironie“; France 330; Luz III 344: „ironisch“, „Sarkasmus“; Zahn 656; Beare 457; Carson 483. Schlatter 348. Vgl. Schniewind a.a.O. Vgl. France 330. Fiedler 355. Luz III 344.

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Täuferwort.233 Auch für Schlatter gibt Jesus hier „die Hoffnung auf ihre Bekehrung auf “.234 Was sich uns jedoch aufgedrängt hat, ist das Werben Jesu um sein Volk und seine Repräsentanten bis zum Schluss. In diesem Ringen der göttlichen Liebe liegt der Schlüssel zum Verständnis all jener Vorgänge. Die Einzelheiten sind schon seit Mt 3,7; 12,34 bekannt. Schlangen, Schlangenbrut bringt zum Ausdruck, dass die so Angesprochenen gegenwärtig unter dem Einfluss des Bösen stehen. Doch die Umkehr zu Gott und seinem Messias würde dies völlig verändern – und diese Umkehr bleibt ihnen möglich. Die Bezeichnungen Schlangen, Schlangenbrut gehören zum Sprachfeld damaliger jüdischer Auseinandersetzungen (Täufer, Qumran). Für Hölle steht γέεννα [geenna], was Matthäus besonders häufig benutzt.235 Die Frage wie (πῶς [ pōs]) macht sinnfällig, dass es kein Entrinnen aus jener Verurteilung gibt, solange die Angesprochenen nicht zur Umkehr bereit sind.

IV Zusammenfassung 1. Es handelt sich um eine prophetische Anklage, die auf die Umkehr der Angesprochenen zielt. Johannes Chrysostomus hat das sehr gut getroffen, wenn er bemerkt, Christus handle hier „nicht wie ein Feind … sondern … wie ein Arzt, der die Medizinen verabreicht“.236 Wäre es sonst nicht sehr unklug gewesen, mitten im Prozessverfahren die untersuchenden Personen auf diese Weise anzugreifen? 2. Sprachstil und Sprachschatz sind in einem Maße „hebraisierend“237 und semitisierend, das Kolorit bis in einzelne Rechtsregeln hinein so kenntnisreich und innerjüdisch, dass man sich weder eine Entstehung später als 70 n.Chr. noch außerhalb des palästinisch-syrischen Raumes vorstellen kann. Dass wir es mit einem ursprünglichen Bestand von Jesusworten zu tun haben, wird selbst in der sehr kritischen „Geschichte der synoptischen Tradition“ Bultmanns nicht bestritten.238 4. Dalman griff einst das Thema „Gedenkstätten“ auf und meinte, man dürfe „nicht mit Recht zwischen den ersten Christen und den Juden, welche der Propheten Gräber bauten und schmückten … eine allzu scharfe Grenzlinie“ ziehen.239 Wir stimmen ihm zu und meinen: Das braucht man auch heute 233 234 235 236 237 238 239

Beare 457. Schlatter 348. Mt 5,22.29f; 10,28; 18,9; 23,15.33. Vgl. Hengel-Schwemer 444. In seinem Mt-Kommentar, Texte KV III 364. BDR § 149,2. Dort 158 für Mt 23,16-19.23f.25f sogar ausdrücklich behauptet. Dalman 303.

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nicht. Unser Glaube ist zwar unabhängig von „heiligen Orten“ und Pilgerwallfahrten, aber wir freuen uns über die Spuren des Gotteshandelns in der Geschichte und können guten Gewissens und mit Ehrfurcht die Stätten besuchen, an denen Jesus lebte und wirkte. 5. Machen auch wir Christen aus den Gliedern unserer Kirche „Söhne der Hölle“ (vgl. Mt 23,15)? Niemand wird es leugnen können, dass der Bruch aller Tabus in unseren Tagen, das Verwerfen aller Traditionen und die Erschütterung des Vertrauens in die Bibel diese Gefahr enthält. Man kann Mt 23,1333 nicht lesen, ohne an die innere Situation der Kirche zu denken.

7.5 Ankündigung der kommenden Propheten, Weisen und Schriftgelehrten, 23,34-36

I Übersetzung 34 Deshalb: Siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte. Einige davon werdet ihr töten und kreuzigen und einige davon werdet ihr geißeln in euren Synagogen und sie von einer Stadt in die andere verfolgen, 35 damit über euch komme all das gerechte Blut, das auf Erden vergossen wurde, angefangen vom Blut des gerechten Abel bis hin zum Blut Sacharjas, des Sohnes Barachjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt. 36 Amen, ich sage euch: Das alles wird schon über dieses Geschlecht kommen.

II Struktur Wohin gehören diese Verse? Viele Ausleger nehmen sie mit Mt 23,1-33 zusammen. Auffällig ist die starke Betonung des Strafcharakters durch die Exegeten: „Das Gericht über diese Generation“,240 „Prediction of Further Crimes and Speedy Punishment“,241 „Denunciation of the Scribes and Pharisees“,242 „Strafandrohung an Israel“243 sind einige der Überschriften. Unseres Erachtens ist jedoch die prophetische Ankündigung die Hauptsache. Deshalb unsere Überschrift „Ankündigung …“. Der Zusammenhang mit V. 1-33 ist in der Tat eng. Vor allem das begründende Διὰ τοῦτο [Dia touto] an der Spitze von V. 34 fordert es, V. 34-36 als Fortsetzung von V. 1-33 zu betrachten und deshalb als Teil der Gesamtkomposition des 23. Kapitels. 240 241 242 243

Luz III 367. Beare 458. Tasker 215; France 326. Sand 472.

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Auch V. 34-36 sind im Tempelvorhof gesprochen (vgl. Mt 24,1). In Lk 11,49-51 liegt eine enge Parallele zu Mt 23,34-36 vor. Aber wie bei der ganzen Rede von Lk 11,37-54, die sich nach Ort, Zeit und Kontext von Mt 23 unterscheidet, ist wohl doch davon auszugehen, dass bei Lukas und Matthäus verschiedene Ereignisse gemeint sind.

III Einzelexegese Deshalb (Διὰ τοῦτο [Dia touto], V. 34) sendet Jesus seine Beauftragten, dass das Maß (τὸ μέτρον [to metron]) eurer Väter voll (V. 32) wird. Diese Aussage enthält eine große Überraschung. Es ist nämlich nicht der Messiasmord, der das Maß voll macht! Voll wird es erst eine ganze Generation später. Es trifft also nicht zu, dass nach der Hinrichtung Jesu „nur noch Gottes Vernichtungsgericht“ bleibt, wie Luz meint.244 Vielmehr muss noch sehr viel geschehen. Jede Einzelheit ist interessant. Das ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω πρὸς ὑμᾶς [idou egō apostellō pros hymas] (Siehe, ich sende zu euch) entspricht genau dem ‫[ ִהְנִני ֹׁשֵלַח‬hinᵉnī scholeach] von Mal 3,1 und dem ‫[ ֶא ְ ׁשַלח ֲאֵליֶכם‬ʾäschlach ʾᵃlēkäm] von Jer 7,25. Ein in der Schrift geübtes Ohr konnte das nicht überhören. In Mal 3,1; Jer 7,25 ist es Gott selbst, der so spricht. Jetzt, in Mt 23,34, spricht es Jesus aus. Er selbst hat also die Macht zu senden, wen er will. Es ist seine göttliche Macht. Eine weitere Überraschung: Er sendet hier seine Beauftragten nicht in die Völkermission, sondern zu Israel, genauer gesagt: „zu euch“, „Schriftgelehrten und Pharisäern“ von V. 13ff. Endgültig kommt jetzt heraus, dass sie nach Jesu Willen noch einmal eine Chance haben sollen – dass V. 13-33 überhaupt nicht auf ihre „Vernichtung“ zielt, wie es moderne Fehlinterpretationen wollen, sondern auf ihre Einsicht und Umkehr. Die Frage ist nur: Nutzen sie ihre Chance? Jesus sendet 1) Propheten. Noch immer ist die Definiton von Gerhard Friedrich hilfreich: Der Prophet ist im NT der biblische „Verkündiger der göttlichen, inspirierten Botschaft“.245 So, als Verkündiger der göttlichen Botschaft im Namen Jesu, des Messias, wird man die Propheten auch in Mt 23,34 auffassen müssen. Leider wird die Erörterung von Mt 23,34 überlagert durch eine von Lukas angestoßene Problematik. Indem eine ganze Reihe von Auslegern Lk 11,49 „einer apokryphen Weisheitsschrift“ zuordnet,246 will man hier nicht mehr von einer Prophetie Jesu ausgehen, sondern von einem apokryphen Dik244 Luz III 344. 245 Im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 829. 246 Friedrich a.a.O. 836.

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tum „für die eigene Verfolgungszeit“.247 Damit entsteht eine doppelte Schieflage: Erstens wird Mt 23,34 von einer in einen ganz anderen Zusammenhang gehörenden Lukas-Aussage her interpretiert, zweitens wird Mt 23,34 aus seinem jesuanischen Kontext herausgenommen. 2) Neben den Propheten als bevollmächtigten Verkündigern nennt Jesus Weise, σοφοί [sophoi]. Dieses σοφοί geht zurück auf den hebr. Stamm ‫חכם‬ [chkm].248 Ein Weiser zu sein, galt als Ehrentitel. Zu den ‫[ ֲחָכִמים‬chᵃkāmīm] zu gehören, war das Ziel jedes rabbinischen Studiums. Man vgl. P. Abot II, 8: „mehr Tora, mehr Leben; mehr ‫ישיבה‬, mehr Weisheit“ (Hillel). Spätestens seit Ben Sira (vgl. 38,25–39,15) rücken die Begriffe Weiser und Schriftgelehrter (Sofer) nahe aneinander.249 Für das Zeitalter der Rabbinen kann Ulrich Wilckens formulieren: „Der ‚Weise‘ ist der vollendete u[nd] anerkannte Thoragelehrte, der ordinierte Rabbi.“250 Wenn Jesus nun von Weisen im Zusammenhang mit Propheten und Schriftgelehrten spricht, dann meint er mit Bestimmtheit Menschen, die das richtige Verständnis der Schrift haben. Gemeint sind sicher nicht die Weisen dieser Welt, sondern solche, die die Weisheit des Heiligen Geistes haben (σοφοὶ κατὰ σάρκα [sophoi kata sarka], vgl. 1Kor 1,26) und die deshalb den in Christus konzentrierten Heilsplan Gottes erkennen. Ein Stück weit konkretisieren sie sich in den späteren „Lehrern“ der Gemeinde (vgl. Jak 3,13). Als 3) kommen die Schriftgelehrten hinzu. Jesus benutzt dafür das übliche Wort γραμματεῖς [grammateis]. Er rechnet also damit, dass es christliche Schriftgelehrte geben wird. Wieder ist der Bezug auf die Heilige Schrift wichtig. Es werden Menschen sein, die „Jünger des Gottesreiches“ geworden sind (Mt 13,52), die wahre christliche Rabbinen sind, ohne Titel und Machtstellung zu erstreben (Mt 23,8), die im Sinne des Jakobus arbeiten (3,1ff ). Man sieht: Verkündigung, Lehre und Schriftstudium stehen für Jesus ebenso obenan wie in der Apostelgeschichte (Apg 13,1) und in den Gabenlisten des NT (Röm 12,6f; 1Kor 12,28). Schon der Bezug auf das Wort des AT schließt es aus, dass Christen das AT gering schätzen oder gar aus ihrer Bibel entfernen. Vers 34 sagt zugleich das Schicksal dieser Boten Jesu voraus. Einige davon werdet ihr töten und kreuzigen und einige davon werdet ihr geißeln in euren Synagogen und sie von einer Stadt in die andere verfolgen … Die westlichen Kirchen haben vergessen, dass wahre Kirche nur dort ist, wo man Martyrien erleidet. Was Jesus hier sagt, hat er schon in Mt 10,17.23 vorausge247 248 249 250

Friedrich a.a.O. G. Fohrer im Art. σοφία usw., ThWNT, VII, 1964, 476. U. Wilckens im Art. σοφία usw., ThWNT, VII, 1964, 505f. A.a.O.

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sagt. Paulus bestätigt es in 1Thess 2,14f, ja erleidet es selbst (2Kor 11,24ff ). Eine besondere Spitze von V. 34 liegt darin, dass Jesus in Form des ihr seine jetzigen Gesprächspartner anspricht, also die Schriftgelehrten und Pharisäer von V. 13ff. Sollen sie, die ja meinten, sie wären niemals am Blut der Propheten schuldig geworden (V. 30), tatsächlich die Propheten, Weisen und Schriftgelehrten der messianischen Gemeinde töten oder geißeln? Und doch geschah es kurz darauf schon beim Tod des Stephanus (Apg 6–8). Die GeißelStrafe begann noch früher (Apg 5,40), bald darauf folgte das Verjagen von einer Stadt in die andere (Apg 8,1ff ).251 In der heutigen Exegese herrscht lebhafter Streit über den geschichtlichen Wahrheitsgehalt dieser Voraussage.252 Mir sind dazu zwei Beobachtungen von Hengel-Schwemer bemerkenswert. Die eine betrifft den Informationsstand des Matthäus: Er scheine „mehr Überlieferungen“ zu kennen, als uns heute zugänglich sind.253 Von da aus kann man nicht nur die uns aus NT und Kirchengeschichte überlieferten Verfolgungen (Jakobus, Stephanus, Paulus) in Anschlag bringen. Die andere Beobachtung ist die, dass offenbar „keiner“ der römischen Statthalter es „nötig hielt, in der Zeit zwischen 30 und 66 n.Chr. in Palästina gegen Christen vorzugehen“.254 Verfolgungen wären demnach in diesem Zeitraum in Palästina nur von Juden ausgangen. Vers 35 ist eines der härtesten Worte, die Jesus gesprochen hat: … damit über euch komme all das gerechte Blut, das auf Erden vergossen wurde, angefangen vom Blut des gerechten Abel bis hin zum Blut Sacharjas, des Sohnes Barachjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt. Jesus hält sich auch hier an die Schrift – ein Zeichen dafür, dass er nicht in blindem Zorn redet. Von der Ermordung Abels, der ein Gerechter war255 (Hebr 11,4), spricht die Schrift in Gen 4,8ff, vom Schreien seines Blutes in Gen 4,10. Von der Ermordung Sacharjas berichtet sie in 2Chron 24,20-22. Jesus zitiert also aus dem ersten (Genesis) und letzten (2. Chronik) Buch seiner Bibel. Da diese hebr. Bibel zwar eine andere Reihenfolge aufweist, sich

251 Beschwer macht die Aussage über das kreuzigen der Boten Jesu. Vgl. France 330; Fiedler 355f; Luz III 371f; Carson 485. Nimmt Jesus sein eigenes Geschick mit dem seiner Jünger zusammen (France a.a.O.; Luz a.a.O.)? Oder geht Jesus von einer Mitschuld der Juden an den späteren Martyrien im Römerreich aus (vgl. Joh 21,18f )? So Carson a.a.O. 252 Vgl. Luz III 370ff; Fiedler 355ff. 253 Hengel-Schwemer 516,88. 254 A.a.O. 90. 255 Zu Abel dem Gerechten in Judentum und NT vgl. K.G. Kuhn, Art. Ἅβελ – Κάϊν, ThWNT, I, 1933, 6f.

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aber dem Umfang nach mit unserer protestantischen Bibel deckt,256 erhalten wir durch V. 35 auch eine Auskunft über die Bibel, die Jesus benutzte. Sie war demnach ohne die Apokryphen. Allerdings heißt Sacharja in der hebr. Bibel „Sohn Jojadas“ (2Chron 24,20). Aber das Geschehen der Ermordung zwischen dem Tempel und dem Altar, also „auf dem heiligsten Boden“,257 lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um den Sacharja von 2Chron 24,20ff handelt. Ζαχαριαν τὸν τοῦ Βαραχιου [Zacharian ton tou Barachiou] heißt der vorletzte der sogenannten Kleinen Propheten in Sach 1,1 LXX. Offenbar hat Matthäus den Vatersnamen des Sacharja verwechselt,258 was aber angesichts der anderen Angaben keine Probleme schafft.259 Die Worte über euch komme all das gerechte Blut (πᾶν αἷμα δίκαιον [ pan haima dikaion] ohne Artikel), das auf Erden vergossen wurde bedeuten nichts anderes, als dass Gott sie als Schuldige richten wird.260 Die Ausdrucksweise ist wieder ganz biblisch und jüdisch (vgl. Mt 27,25; Apg 5,28; 2Sam 1,16; 14,9; 1Kön 2,33; Jer 26,15; 51,35; Hes 33,5 sowie Spr 6,17; Joel 4,19; Jona 1,14). Das einleitende ὅπως [hopōs] an der Spitze von V. 35 hat „finalen Sinn“261 und drückt aus, dass alle in V. 34 geschilderten Verfolgungsmaßnahmen unausweichlich zu der in V. 35 beschriebenen Konsequenz führen. Sinngemäß ist ferner zu beachten, dass es um den Zusammenhang mit „euren Vätern“ geht (V. 30.32), also um Israels Geschichte. Keineswegs darf deshalb all das gerechte Blut, das auf Erden vergossen wurde auf sämtliche Mordtaten in der Geschichte der Menschheit bezogen werden.262 Nein, es geht nur um die Verantwortung Israels. Es ist auch nicht an ein fortlaufendes Strafgericht in allen Zeiten gedacht, sondern streng an diejenigen, mit denen es Jesus jetzt zu tun hat und die ihn und seine Boten in der jetzigen Zeitepoche töten bzw. verfolgen. Aber weil dieses gegenwärtige Israel in seiner maßgeblichen Mehrheit die Gesinnung „eurer Väter“ teilt, die die Propheten verfolgt haben, muss es auch die Schuld der Väter teilen. Ja, seine Taten machen sogar „das Maß eurer Väter voll“ (V. 32), bedeuten also den Gipfel dieser Sünden. Dafür – und nur nach dem Maß ihrer eigenen Schuld (vgl. Hes 18 und 33) – wird sie Gott zur Verantwortung ziehen. Das bedeutet: Israel wird die Katastrophe von 66–73 n.Chr. erleben. 256 257 258 259

Vgl. Josephus CAp I, 37ff. Schlatter 349. Tasker 222: „a slip“. Auch die Inspiration wird dadurch nicht gefährdet, da Gott die Gedächtnisfehler seiner Boten nicht in jedem Fall korrigieren muss. 260 Vgl. J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, 172. 261 BDR § 369. 262 Anders Sand 473.

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Unsere bisherige Auslegung wird durch V. 36 bestätigt: Amen, ich sage euch: Das alles wird schon über dieses Geschlecht kommen. Das ist die Voraussage der Katastrophe 66–73 n.Chr.263 Dieses Geschlecht: Das ist eine Zeitbestimmung, zugleich aber auch eine Begrenzung. Danach geht die Geschichte Israels unter anderen Bedingungen weiter. Die moderne Diskussion kreist vor allem um folgende Fragen: Spricht Jesus in Mt 23,34-36 von einer endgültigen „Vergeltung“?264 Hat seine Prophetie also „einen definitiven und abschließenden Charakter“?265 Ohne Zweifel Letzteres. Denn 1) zielt die ganze Rede Jesu in Mt 23 auf die Umkehr und das Gewinnen seiner Gegner; 2) ist die vierzigjährige Frist bis zur Erfüllung der Prophetie (30–70 n.Chr.) nur als Umkehrfrist zu deuten. Man darf allerdings nicht vergessen, dass Jesus in seinem prophetischen Geist weiß, dass Israel die Umkehrfrist ungenutzt verstreichen lässt. Eine weitere Frage ist die nach dem Recht der Ankündigung in Mt 23,34-36. Fiedler, der nicht von Jesus-Worten, sondern von Matthäus-Worten ausgeht, nennt sie „bösartig“, eine „Gehässigkeit“, die „am ehesten 1Thess 2,14-16“ vergleichbar sei,266 und überdies inkonsequent, weil „der Sündern sonst so gütig begegnende Jesus … nun nichts Anderes als das Gericht“ wolle.267 Weshalb Jesus-Verkündiger wie Paulus und Matthäus, die sich im Sinne von Röm 9,1-5 zu Israel bekennen, nun im Banne einer „Gehässigkeit“ stehen sollen, bleibt unklar, das Jesusbild bleibt ein gedanklicher Selbstentwurf, und der Vorwurf der Bösartigkeit eine rein emotionale Reaktion. Mit dem Blick auf die Geschichte gilt es stattdessen festzuhalten, dass sich die Weissagung von Mt 23,34-36 in doppelter Weise erfüllt hat: 1) wurden die Boten Jesu tatsächlich in Israel verfolgt; 2) erlitt Israel nur eine Generation später ein bis heute spürbares Gericht. – Jesus hat es mit Schmerz und Entsetzen gesehen und prophezeit.268

IV Zusammenfassung 1. Mt 23,34-36 enthält zunächst die Ankündigung, dass Jesus an Israel weitere Boten senden werde. Mit seiner Hinrichtung ist also die messianische Botschaft noch keineswegs zu Ende.

263 264 265 266 267 268

Es handelt sich gegen Schniewind 237 nicht um das Endgericht. Anders Beare 460. Schlatter 349. So Luz III 374. Fiedler 356. Geradezu sanft Luz III 371. Matthäus „übertreibt“. Fiedler 355. Diese Dimension kommt bei denen überhaupt nicht mehr in den Blick, die hier nur Matthäus, und nicht mehr Jesus reden hören.

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2. Mt 23,34-36 enthält sodann die Prophezeiung, dass diese Boten verfolgt werden. 3. Schließlich kündigt Jesus an, dass mit „diesem Geschlecht“ der Gipfel der Schuld gegenüber Propheten und Gerechten erreicht werde, „das Maß eurer Väter voll“ sei. Gottes gerechtes Gericht wird die Strafe sein. Es verwirklicht sich in der Katastrophe der Jahre 66–73 n.Chr. 4. Auch Mt 23,34-36 ist in der Art der biblischen Prophetie gesprochen. Es verkündigt nicht ein absolutes Fatum, sondern zielt auf die Umkehr der Pharisäer und Schriftgelehrten und überhaupt des ganzen Israel. Es bedeutet eine grenzenlose Tragik, aber auch eine Schuld, dass der Raum zur Umkehr nicht genutzt wurde. 5. Hier Kategorien wie „Kollektivschuld“ einzutragen, bedeutet einen Fehlgriff.269 Es handelt sich vielmehr um die Gesamtverantwortung des Gottesvolkes und um die Gesamtschuld einer Glaubensgemeinde. Im Gericht wird jeder nur nach seiner eigenen Schuld bestraft (Hes 18; 33; Lk 12,47f ). 6. Ebenso decken Vorwürfe wie „Bösartigkeit“270 oder Verstoß gegen das „Gebot der Feindesliebe“271 das im Text tatsächlich Gesagte völlig zu. Jesu Liebe ist es vielmehr, die in Mt 23,34-36 spricht, die deshalb der Wahrheit dient und das Unheil verhindern will. 7. Wenn das heilige Volk Gottes (vgl. Lev 19,2) so schuldig werden kann, wie müssen wir dann erst recht als Christen, gerade als „moderne Christen“, unsere Worte und Taten überlegen. Auch uns kann Christus als Weltenrichter einmal sagen: „Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!“ (Mt 7,23).

7.6 Klage und endzeitliche Verheißung für Jerusalem, 23,37-39

I Übersetzung 37 Jerusalem, Jerusalem! Die da tötet die Propheten und steinigt die, die zu ihr gesandt sind. Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Glucke ihre Jungen unter den Flügeln zusammenbringt. Aber ihr habt nicht gewollt. 38 Siehe, euer Haus wird verlassen und verwüstet daliegen. 39 Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht mehr sehen, bis ihr sagt: Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt.

269 Gegen Luz III 375. 270 Fiedler 356. 271 So Luz III 352.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

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II Struktur Dieser kleine Abschnitt hat eine eigenartige Struktur, die die Überschriften der Ausleger zwischen „Gerichtsrede“272 und „Klage“273 pendeln lässt, wenn sie nicht neutrale Begriffe wie z.B. „Jerusalemwort“274 wählen. Nur Wenige wagen es, in ihre Überschrift so wie Fiedler (S. 357) den Begriff der „Verheißung“ aufzunehmen. Dabei ist Mt 23,37-39 nicht gerade der erwartete Abschluss der Rede in Kap. 23, sondern eher überraschend. Offenbar hat Matthäus den 39. Vers ganz gezielt an das Ende des Abschnitts gestellt. Dieser Vers zeigt ja, welch lebendige Hoffnung Matthäus für Jerusalem und Israel hat. Diesem Gefälle muss auch die Auslegung gerecht werden. Markus hat keine Parallele, jedoch Lukas (13,34f ). Allerdings platziert Lukas die entsprechenden Jesusworte wie bei Lk 11,37ff in eine frühere Zeit. Es ist aber gut möglich, dass Lukas seit 9,51ff, also seit dem Aufbruch nach Jerusalem, sich frei fühlte, Worte Jesu über Jerusalem, über das Ende (vgl. Lk 17,20ff ) oder die Repräsentanten Israels schon früher zu bringen als Matthäus. Mt 23,37-39 zerfällt in zwei Untergruppen: V. 37-39 als Klage, und V. 39 als Verheißung.

III Einzelexegese Die Klage beginnt in V. 37 mit dem doppelten Ausruf Jerusalem, Jerusalem!275 Bis heute umschließt der Name Jerusalem unzählbare Facetten von Empfindungen, Erinnerungen und Erwartungen. Biblisch vgl. man Ps 51,20; 122,2ff; 125,2; 137,5; Jes 2,3; 40,2.9; 62,6; Jer 33,16; Dan 6,11; Joel 3,5; 4,1.17.20; Zef 3,14; Sach 9,9; 12,10; 14,11; Mt 5,35. Die Verdoppelung will alle diese Erinnerungen und Erwartungen wachrufen. Sie gibt – ähnlich wie das doppelte ‫[ וּמֲחַנ‬nachᵃmū] in Jes 40,1 – den Worten eine besondere Intensität. Die Aussage die da tötet die Propheten und steinigt die, die zu ihr gesandt sind nimmt die prophetische Anklage von V. 29ff.34 wieder auf. Siehe auch Lk 13,33. Dort wurde auch schon auf 2Chron 24,21; Apg 7,52ff; 1Thess 2,14f hingewiesen, siehe ferner Hebr 11,37. Hier in Mt 23,37 bezieht Jesus wahrscheinlich auch sein eigenes Schicksal in diese Anklage ein. Statt πρὸς αὐτήν [ pros autēn] haben andere Handschriften πρὸς σέ [ pros se]. Aber πρὸς αὐτήν ist besser bezeugt, deshalb empfiehlt sich die Übersetzung die da 272 273 274 275

Sand 474. Bultmann, Gesch, 120 sogar „Drohwort“; auch Luz III 382. Carson 486; Beare 460. Luz III 376. Zur Form Ἰερουσαλήμ BDR § 56,1. Vgl. ferner BDR 493,2: Epanadiplosis „als Wiedergabe der wirklichen Rede“.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

tötet, und nicht „die du tötest“. Am Sinn ändert freilich die letztere Variante nichts. Nun kommt jedoch die entscheidende Aussage: Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Glucke ihre Jungen unter den Flügeln zusammenbringt. Aber ihr habt nicht gewollt. Hier liegt ein prophetisches und geistliches Resümee vor. Es enthält weitreichende Aussagen. Zuerst: In wie oft (ποσάκις [ posakis]) liegt ein Beweis dafür, dass Jesus nicht nur nach Johannes, sondern auch nach den Synoptikern mehrfach in Jerusalem war.276 Sodann: Jesus beschreibt seine ganze Tätigkeit als ein Beschirmen. Das Bild von der Henne oder Glucke277 stammt aus der alltäglichen Anschauungswelt. Die Jungen suchen Schutz unter ihren „Flügeln“, wenn Unglück oder Feinde drohen. Damit vergleicht sich Jesus und sagt dadurch: Ich wollte euch vor dem kommenden Gericht schützen.278 Man wird dies auf das Gericht in doppeltem Sinne beziehen müssen: einmal auf das geschichtliche Gericht der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr., zum anderen auf das göttliche Endgericht. Wären Israels Repräsentanten und das Volk in die Nachfolge Jesu getreten, dann hätte der Krieg 66–73 n.Chr. nicht stattgefunden. Jesus wäre überdies der Fürsprecher im Endgericht gewesen. Um all dies zu formulieren, greift Jesus offensichtlich Jes 31,5 auf. Dort ist es Gott, der sein Volk auf diese Weise beschützen will, ähnlich auch Deut 32,11; Ex 19,4; Ps 36,8; 61,5; 91,4. Jetzt spricht Jesus von sich selbst. Darin drückt sich seine göttliche Würde aus. Zum Dritten: Jesus wurde abgelehnt. Er sieht, dass es bei dieser Ablehnung bleiben wird, vgl. die Vergangenheitsform ihr habt nicht gewollt. Scharf stehen sich ἠθέλησα [ēthelēsa] (ich habe gewollt) und ἠθελήσατε [ēthelēsate] (ihr habt nicht gewollt) gegenüber. Hier geht es um Willensentscheidungen, die nicht mehr revidiert wurden. Sein Wille war Retterwille. Ihr Wille war überlegte Zurückweisung. Das Gewicht der Aussage von V. 37 ist erheblich (vgl. noch Mt 22,3). Es zeigt sich an dieser Stelle, dass Jesus die pharisäische Auffassung vom freien Willen des Menschen teilte.279 Zwar gilt im Bereich der Geschichtslenkung die Vorherbestimmung Gottes (Prädestination), vgl. Mt 10,29f; 18,7. Auch darin stimmt Jesus mit den Pharisäern überein (P. Abot III, 19; Josephus Bell II, 162f ). Aber dort, wo es um die Entscheidung für oder gegen Gott geht, besitzt der Mensch Willensfreiheit (vgl. wieder P. Abot a.a.O.; Josephus

276 277 278 279

Ebenso Schniewind 237; Riesner 449. Zur Wortform ὄρνις oder ὄρνιξ vgl. BDR 47,9. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 168. Vgl. Schlatter 349.

7. Jesu prophetische Gerichtsrede, 23,1-39

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a.a.O.). Jesus hat damit die Linie der frühen jüdischen Lehrer seit Ben Sira (15,11ff ) fortgesetzt. Sie ist zugleich die Linie des AT (Deut 30,15ff; Hes 18,1ff; 33,10ff ). Von hier aus fällt auch Licht auf Mt 23,2f. Die alte Kirche ist dieser Linie treu geblieben (Irenäus AdvHaer IV, 37). Für die Gaubenslehre bleibt es bemerkenswert, dass Gottes Heilsangebot abgelehnt werden kann. Niemand wird zum Glauben, zur Gottesgemeinschaft, zum ewigen Leben gezwungen.280 Schließlich zeigt V. 37, dass unsere obige Deutung, wonach Mt 23 zur Umkehr ruft, zutrifft. Der Vers ist ein Zeugnis von Jesu Liebe und Schmerz um sein Volk.281 Der nächste Vers (38) sagt in kanppen Worten die Folge voraus: Siehe, euer Haus wird verlassen und verwüstet (ἔρημος [erēmos]) daliegen. Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Deutung. Entweder versteht man mit Zahn u.a. unter dem Haus (οἶκος [oikos]) den Tempel, oder ganz Jerusalem, ja in der Annahme eines pars pro toto ganz Israel.282 Beide Möglichkeiten muss man offenlassen. Aber selbst wenn nur der Tempel gemeint wäre – wofür die Wortgruppe ἔρημος/ἐρήμωσις [erēmos/erēmōsis] (vgl. Mt 24,15) spricht –, dann würde auch seine Verwüstung die Verwüstung ganz Israels repräsentieren. Das Passivum ἀφίεται [aphietai] (es wird verlassen) ist auf Gott bezogen, der Jerusalem und seinen Tempel wie in Hes 11,22ff verlässt.283 Mit ἔρημος [erēmos], „öde“ oder verwüstet,284 spielt Jesus vielleicht auf den „Gräuel der Verwüstung“ an, der nach Dan 9,27; 11,31; 12,11 erwartet wurde und den Jesus durch die römische Eroberung des Tempels erfüllt sieht (Mt 24,15). In jedem Fall sieht er voraus, dass aus dem blühenden, fruchtbaren, schönen Israelland eine Ödnis wird. Dass seine Voraussage letztlich ganz Israel betrifft, haben wir oben schon festgehalten. Diese prophetische Ankündigung wird von manchen Autoren285 mit großer Selbstverständlichkeit als vaticinium ex eventu betrachtet. Aber wenn hier ein vaticinium ex eventu vorläge, dann müssten wir im Grunde alle prophetischen Ankündigungen als solche vatici-

280 Vereinzelte Stellen auch im Koran. So Sure 2,257. Daneben viele Stellen in derselben 2. Sure, die zum Töten der Ungläubigen auffordern (2,192.194.219.245). 281 Lk 13,34 stimmt weitestgehend mit Mt 23,37 überein. Mt 23,37 ist nicht „bittere Anklage“ (gegen Schniewind 237), sondern „sorrowful disappointment“ (France 331). 282 Ganz Israel: Fiedler 358; Carson 487. Tempel: Beare 460; Luz III 382; Schniewind 238; France 332. 283 Moderne Übersetzungen meist „Gott wird verlassen“: Gute Nachricht; BasisBibel. 284 ἔρημος ist gut bezeugt. 285 So Fiedler 358.

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nia betrachten, auch 1Kön 9,7f; Jes 3,1ff; Jer 6,1ff; 12,7ff; 22,5; 26,6; usw. Das wäre wenig sinnvoll.286 Der Klage folgt in V. 39 die eschatologische Verheißung: Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht mehr sehen, bis ihr sagt: Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt. Durch das Denn verbindet Jesus zwei wesentliche Tatbestände: Israels Verwüstung und sein Verborgensein vor Israel. Beides läuft parallel. Von jetzt an bezieht sich natürlich nicht auf die nächsten Augenblicke. Vielmehr markiert ἀπ᾿ ἄρτι [ap’ arti] einen Epochenabschnitt287 (vgl. Mt 26,29.64; Joh 14,19) und heißt so viel wie: „nach der Kreuzigung“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sehen hier wie im Johannesevangelium (16,16ff ) auch einen geistlichen Sinn hat. Jesus würde dann voraussehen, dass Israels Mehrheit lange Zeit von ihm als dem Messias nichts wissen will. Ein solcher Sinngehalt würde dann bestens mit den folgenden Worten übereinstimmen: bis ihr sagt usw. Aber was wird Israel am Ende sagen? Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn. Also genau das, was die Menge beim Einzug in Jerusalem rief (Mt 21,9)! Das heißt nichts anderes, als dass Israel ihn bei seiner Wiederkunft als Messias anerkennen wird. Der Kommende, ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos], ist ja ein Messiastitel aus Ps 118,26! Siehe auch Mt 3,11. Der Ausblick ist überwältigend. Wenige Tage vor der Kreuzigung erkennt Jesus, dass Israel ihn anerkennen, lieben und lobpreisen wird. Dieses Resultat der Geschichte wird keine Macht dieser Erde verhindern. Matthäus hat damit denselben Ausblick wie Paulus in Röm 9–11. Und da Matthäus eng mit Petrus verbunden ist, kann man getrost voraussetzen, dass auch Petrus diesen Ausblick hatte. Das Wesentliche in alledem bleibt aber, dass es Jesus selbst ist, der diese Verheißung ausspricht. Das Werben um Israel im 23. Matthäuskapitel ist damit an seinen Höhepunkt und sein Ziel gekommen.

IV Zusammenfassung 1. Der kurze Abschnitt Mt 23,37-39 enthält drei Höhepunkte: 1) ein Resümee Jesu von seiner bisherigen Tätigkeit, 2) eine Aussage zur Willensfreiheit, 3) die Verheißung der endzeitlichen Bekehrung Israels. 2. Ziel und Absicht Jesu war demnach die Sammlung Israels in einer erneuerten messianischen Gemeinde. Das bedeutet zugleich: in einem neuen Bund. Israels Ablehnung hat dies verhindert. 286 Mit echter Prophetie rechnet auch Dalman 275. 287 Auch Luz III 383; France 332.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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3. In Übereinstimmung mit dem AT (Deut 30,15ff; Hes 18,1ff; 33,10ff ) und mit den frühen jüdischen Lehrern (Sir 15,11ff ), insbesondere der pharisäischen Richtung (P. Abot III, 19), vertritt Jesus die Lehre, dass der Mensch frei sei, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Die Alte Kirche blieb dieser Lehre treu (Irenäus AdvHaer IV, 37). Keine spätere Dogmatik kann diese Grundentscheidung Jesu wieder aufheben. 4. Israel hat noch Zukunft. Es wird Jesus als seinen Messias anerkennen, und alle, die das tun, werden im Endgericht gerettet. Wieder gilt: Keine spätere Theologie kann diese Verheißung, die mit Röm 9–11 übereinstimmt, rückgängig machen. Deshalb stellt Luz Mt 23,39 auf den Kopf, wenn er schreibt: „Ohne Lichtblick endet die Weherede … Es gibt für ein Israel, das Jesus ablehnt, keine gute Zukunft mehr, auch nicht beim Weltgericht des kommenden Menschensohns.“288 Es gibt auch keine Basis für eine Substitutionslehre, wonach die Kirche Israel beerbt und damit an die Stelle Israels tritt. Freilich erbt auch die Kirche die göttlichen Verheißungen. Aber sie kann Israel nicht „enterben“. Erst recht ist es eine Häresie, zu behaupten, Israel brauche Jesus nicht. Vielmehr wird der wiederkommende Jesus vom eschatologischen Israel als Retter gepriesen.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46 I Übersetzung In Anbetracht der Länge dieses Teils des Matthäusevangeliums erfolgt die Übersetzung jeweils vor den einzelnen Abschnitten.

II Struktur Im Blick auf den Makrokosmos des Evangeliums stellen wir zunächst fest, dass Mt 24 und 25 einen der größten Redekomplexe des Matthäusevangeliums enthalten. Nach Mt 5–7 (Bergpredigt); 10,4-42 (Instruktionsrede); 13,1-52 (Gleichnisse); 18,1-35 (Gemeindeordnung) und 23,1-39 (Prophetische Anklage) bildet Mt 24f die sechste und letzte große Redekomposition im Matthäusevangelium. Aber wie weit reicht sie? Auf jeden Fall bis 24,31. Bei den folgenden Ausführungen ist die Zuordnung jedoch umstritten. Die Alandsche Synopse rückt Mt 24,1-36 unter die Überschrift „Synoptische Apokalypse“, macht danach 288 Luz III 385. Ähnlich leider auch France 332.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

aber einen scharfen Schnitt (von XIV. Apokalypse zu XV. Abschluss der Darstellung der Zeit vor der Passion). Mt 24,37–25,46 kommt dann unter einen neuen Groß-Abschnitt (XV). Ulrich Luz stellt Mt 21,1–25,46 unter die Gesamtüberschrift „Jesus in Jerusalem“, zieht Mt 24,1f noch zur „Weherede“ 23,1ff und lässt dann Mt 24,3–25,46 zusammen unter der Überschrift „Die Rede vom Gericht“.1 Uns scheint, dass die Inhalte von Kap. 24 und 25 in der Tat so eng zusammengehören (s. Einzelexegese), dass man sie nicht auseinanderreißen sollte.2 Wir möchten deshalb Mt 24,1–25,46 zusammenfassen unter der Überschrift „Die Endzeitverkündigung Jesu“. „Die Rede vom Gericht“ erscheint uns zu eng.

8.1 Die Ankündigung vom Ende des Tempels, 24,1-2

I Übersetzung 1 Und Jesus verließ den Tempel und machte sich auf den Weg. Und seine Jünger traten an ihn heran und wollten ihm die Tempelbauwerke zeigen. 2 Er aber gab ihnen zur Antwort: Seht ihr nicht das alles? Amen, ich sage euch: Es wird hier kein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird.

II Struktur Sie bietet in Mt 24,1-2 keine Schwierigkeiten. Es handelt sich um drei Vorgänge: 1) Jesus verlässt den Tempel; 2) die Jünger machen ihn aufmerksam auf die prächtigen Tempelbauwerke; 3) er prophezeit den völligen Untergang des Tempels. Die synoptischen Parallelen in Mk 13,1-2 und Lk 21,5-6 stimmen im Wesentlichen mit Mt 24,1-2 überein.

III Einzelexegese Die Eingangsbemerkung ist sehr schlicht: Καὶ ἐξελθὼν ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ τοῦ ἱεροῦ ἐπορεύετο [Kai exelthōn ho Iēsous apo tou hierou eporeueto] (V. 1). Sie enthält aber eine wichtige Zäsur. Von 21,23 an war Jesus nach der Darstellung des Matthäus ununterbrochen im Tempel. Jetzt ist diese Zeit des Lehrens und Auftretens in der Öffentlichkeit vorbei. Zwar gebraucht Matthäus hier nicht seine bekannte Abschlussformel ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς [hote ete1 Luz III 386ff. 2 So auch mein früherer Kommentar Maier II 266ff.

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lesen ho Iēsous] usw. (7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1), aber der Sinn des Vorgangs ist dennoch klar: Er verließ den Tempel und machte sich auf den Weg. Das griech. Imperfekt ἐπορεύετο [eporeueto] hat wohl die Bedeutung eines Impf. de conatu3 und drückt dann aus, dass Jesus einen längeren Weg vorhatte, als ihn seine Jünger stoppten. Vielleicht wollte er über den Ölberg zurück nach Betanien (Mt 21,17). Doch seine Jünger unterbrechen den Weiterweg, sie wollen ihm die Tempelbauwerke zeigen. Der nüchterne Matthäus spricht nur von οἰκοδομαί [oikodomai], das heißt „von d. verschiedenen Bauten d. Tempelkomplexes“.4 Dazu gehören das eigentliche Tempelgebäude mit dem Heiligen und dem Allerheiligsten, der große Brandopferaltar, die verschiedenen Vorhöfe, die Hallen wie die Salomonische und die Königliche, die Umfassungsmauer mit den Toren wie dem Osttor und den Huldatoren, sowie die Brücken übers Käsemachertal wie der sogenannte Robinson-Bogen. Von wo aus kann man das alles zeigen? Eigentlich nur vom Ölberg aus. Die Jünger werden also einen ähnlichen Aussichtspunkt benutzt haben wie die heutigen Jerusalem-Touristen. So auch Dalman: da, „wo der Bethanienweg den Ölberg erstiegen hat“.5 Das stimmt auch mit dem vermuteten Heimweg nach Betanien bestens zusammen. Was man dort, vielleicht in der Abendssonne,6 sah, konnte zu den Weltwundern gerechnet werden. „Die Außenwände des Tempelgebäudes waren mit massiven Goldplatten belegt“ – so beschreibt es Jostein Ådna7 – „die es bei Sonnenschein einen derartigen Lichtglanz ausstrahlen ließen, daß die Betrachter, sogar wenn sie durchaus hinsehen wollten, ihre Augen … abwenden mußten“ (Letzteres nach Josephus Bell V, 222). Josephus schwärmt von ihm: „er erschien den nach Jerusalem kommenden Fremden wie eine schneebedeckte Bergkuppe“.8 Die Begeisterung auch der pharisäischen Rabbinen spürt man bis in die Mischna Middot hinein, die alle Maße des Tempels verzeichnet. Aber nun wäre es ein grobes Missverständnis, wenn man das Anliegen der Jünger nur aus der Begeisterung für die Bauwerke erklären wollte.9 Zu einem solchen Missverständnis darf auch die spürbar emotionalere Sprache in Mk 13,1 und Lk 21,5 nicht verführen. Wenn die Jünger jetzt das Thema des Tempels aufgreifen, dann wollen sie vor allem wissen, was die Zukunft des Tem3 4 5 6 7 8 9

Vgl. BDR § 326. Bauer-Aland 1133. Dalman 227. Dalman a.a.O. In seinem Artikel „Tempel“, GBL 3, 1539. Bell V, 223. Vgl. France 336; Zahn 663.

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pels sein wird: Entweihung wie in Dan 9,27; 11,31; 12,11 angesagt? Zerstörung wie in der babylonischen Katastrophe 587/586 v.Chr.? Oder was sonst? Solche Fragen legten sich ja gerade von Jesu Prophezeiungen in Mt 22,7; 23,34ff.38 her nahe. Jesu Antwort: Seht ihr nicht das alles? (V. 2) baut zunächst eine Spannung auf. Offensichtlich teilt Jesus auf der menschlichen Ebene sogar die Bewunderung seiner Jünger.10 Was nun folgt, hat ganz den Stil der alttestamentlichen Prophetie (vgl. Jer 7,14; 9,10f; 26,6ff; Hes 24,21; Mi 3,12): Amen, ich sage euch: Es wird hier kein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird. Allerdings ist die Prophetie Jesu unwahrscheinlich präzise: kein Stein auf dem anderen war tatsächlich das Resultat der Geschichte. Wenn Jesus von den Steinen spricht, erinnert er implizite an den jahrzehntelangen Neubau des Tempels in der herodianischen Zeit. Die Steine dieses Neubaus beschreibt Jostein Ådna11 wie folgt: „Die meisten Quader sind 1 bis 1,20 m hoch und erreichen eine Länge bis zu 7 (in einem Fall sogar 12) m … Die Quader schließen vollkommen ohne Mörtel oder andere Bindemittel.“ Sie wiegen Tonnen. Und dennoch waren sie zur Zerstörung bestimmt. Man kann über Mt 24,2 nicht schreiben, ohne zwei Reflexionen zu erwähnen. Die erste betrifft die Situation heute (2015). Wir können davon ausgehen, dass der heutige Haram asch-Scharif um den Feldsendom der Muslime „identisch“ ist mit dem von Herodes geschaffenen Tempelplatz.12 Würden weitere archäologische Forschungen von den muslimischen Behörden zugelassen, dann würden trotz der „niedergerissenen“ Steine und Bauwerke vermutlich noch viele Einzelheiten des früheren jüdischen Tempels entdeckt. Die zweite Reflexion betrifft die eigenartige Geschichte des Tempels. Das Gottesvolk des Alten Bundes hat ohne einen Tempel begonnen. Sein Symbol war lange Zeit die Stiftshütte. Der Wunsch nach einem Tempelbau kam auch nicht von Gott, sondern von Menschen (2Sam 7,1ff ). Als Salomo dann um 960/950 v.Chr. den ersten Tempel baute, geschah dies aufgrund einer Erlaubnis Gottes. Jahrzehntelang (587–515 v.Chr.) lebte Israel während der babylonischen Gefangenschaft erneut ohne Tempel, bis 515 v.Chr. der zweite, relativ einfache Tempel eingeweiht werden konnte. Dessen grandiose Erweiterung betrieb Herodes der Große aus politischem Kalkül. Sein Ende kam im August 70 n.Chr. durch die Römer. Seither sind über 1900 Jahre verstrichen, in denen Israel wieder auf einen Tempel verzichten musste. Und die Neuschöpfung? Sie kennt nach Offb 10 Luz III 387 interpretiert die Frage als eine Zurückweisung der Jünger – wenig wahrscheinlich. 11 A.a.O. 12 Ådna a.a.O.

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21,22 keinen Tempel mehr. Fazit: Weder das alttestamentliche noch das neutestamentliche Gottesvolk sind jemals von einem Tempel abhängig gewesen. Deshalb sollten wir auch in der heutigen Zeit nicht nach einem Tempel Ausschau halten, sondern nach dem wiederkommenden Jesus Christus.

IV Zusammenfassung 1. Mt 24,1f ist eine erneute Prophetie der Tempelzerstörung und des Untergangs Jerusalems. Jesus hat dies auch schon früher geweissagt (Mt 21,18ff. 42ff; 22,7; 23,38; Lk 19,44). 2. Die Erfüllung dieser Prophetie in der Geschichte (vgl. die jüdisch-römischen Kriege 66–73 n.Chr. und 130–135 n.Chr.) ist ein Hinweis darauf, dass Jesus auch mit seinen anderen Prophezeiungen recht behalten wird.

8.2 Jesu Prophetie von der Zukunft, 24,3-31

I Übersetzung 3 Als er auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger an ihn heran und fragten, während sie allein waren: Sag uns, wann wird das sein? Und was ist das Zeichen für deine Wiederkunft und die Vollendung des Äons? 4 Und Jesus gab ihnen zur Antwort: Passt auf, dass euch niemand irreführt! 5 Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus, und werden viele verführen. 6 Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsnachrichten. Seht zu, dass ihr euch nicht in Schrecken versetzen lasst! Denn es muss geschehen, ist aber noch nicht das Ende. 7 Denn es wird ein Volk gegen das andere aufstehen und ein Reich gegen das andere und es werden Hungersnöte und Erdbeben an verschiedenen Orten sein. 8 All das aber ist erst der Anfang der Wehen. 9 Dann werden sie euch der Bedrängnis ausliefern und euch töten, und ihr werdet von allen Völkern gehasst werden um meines Namens willen. 10 Und dann werden viele zu Fall kommen und einander verraten und einander hassen. 11 Und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen. 12 Und weil sich die Gesetzlosigkeit ausbreitet, wird die Liebe bei den meisten erkalten. 13 Wer aber ausharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden. 14 Und es wird verkündigt werden dieses Evangelium vom Reich auf der ganzen Erde, so weit Menschen wohnen, zum Zeugnis für alle Völker. Und dann wird das Ende kommen. 15 Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung seht, von dem Daniel, der Prophet, gesprochen hat, dass er an heiliger Stätte steht – wer es liest, bedenke, was es bedeutet –, 16 dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen! 17 Wer auf

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dem Dach ist, der steige nicht hinab, um etwas aus seinem Hause zu holen! 18 Und wer auf dem Acker ist, der kehre nicht zurück, um seinen Mantel zu holen. 19 Weh den Schwangeren und stillenden Müttern in jenen Tagen! 20 Betet aber, dass eure Flucht nicht im Winter oder am Sabbat geschehen muss! 21 Denn dann wird eine große Bedrängnis sein, wie sie seit Anfang der Welt bis heute nicht geschehen ist und auch nicht mehr geschehen wird. 22 Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, würde kein Mensch gerettet. Aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt. 23 Wenn dann einer zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus, oder: hier, dann glaubt es nicht! 24 Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder vollbringen, um sogar die Auserwählten zu verführen, wenn das möglich wäre. 25 Siehe, ich habe es euch vorhergesagt! 26 Wenn sie nun zu euch sagen: Siehe, er ist in der Wüste!, geht nicht hinaus! Siehe, er ist in den Geheimgemächern!, glaubt es nicht! 27 Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen leuchtet, so wird die Wiederkunft des Menschensohnes sein. 28 Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier. 29 Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Tage wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond verbirgt sein Licht, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. 30 Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen. Und dann werden sich alle Völker der Erde an die Brust schlagen, und sie werden den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen mit großer Kraft und Herrlichkeit. 31 Und er wird seine Engel senden mit großer Posaune, und sie werden seine Auserwählten sammeln aus den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum anderen.

II Struktur Die Struktur dieses langen Abschnitts ist nicht ganz einfach. In der Zeitlinie sind es Jahrtausende. Die Gesichtspunkte sind teils israel-, teils weltbezogen. Hinzu kommt, dass die prophetische Sprache manchmal in sich kompliziert ist. Insofern spricht die Alandsche Synopse mit einem gewissen Recht von einer „Apokalypse“. Versuchen wir, die Gliederung nachzuzeichnen: Am Anfang steht eine Situationsangabe (V. 3). Es folgt eine Warnung vor Verführung (V. 4-5), die Schilderung des „Anfangs der Wehen“ (V. 6-8), die Schilderung spezieller Leiden der Gemeinde (V. 9-14), eine Prophetie samt Handlungsanweisung für das Israelland (V. 15-20), eine Ankündigung der letzten und größten Be-

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drängnis der Welt (V. 21-28), und die Prophezeiung der Wiederkunft des Menschensohnes (V. 29-31). Ein Vergleich mit den Einteilungen der Alandschen Synopse macht deutlich, dass im Blick auf die formale Gliederung relativ wenig Konfliktpotenzial besteht. Kommen die Ausleger allerdings auf den Sinn für heutige Leser zu sprechen, dann öffnen sich „gaps“ wie beim Auseinanderdriften der Kontinente. Was weiter die Formalia anlangt, muss die überraschende Parallelität im Aufbau von Mt 23,3-31 und der Johannesapokalypse betont werden. Man vgl. die Warnung vor Verführung an der Spitze (Mt 24,4-5 analog den Sendschreiben Offb 2–3), die Schilderung des Anfangs der Wehen (Mt 24,6-8 analog Offb 11–13), die Ankündigung der letzten und größten Bedrängnis (Mt 24,21-28 in teilweiser Analogie zu Offb 13–17) und die Prophezeiung der Wiederkunft Jesu (Mt 24,29-31 analog Offb 19,11-21). Abgekürzt könnte man sagen: Der auferstandene Jesus wiederholt und vertieft in der Apokalypse das, was der irdische gesagt hat. Besonders stark sind in Mt 24,3ff die Rückgriffe auf das AT. Eine Fülle von Begriffen, ja halbe Sentenzen stammen von dort. „Messias“ (Christus) – δεῖ γενέσθαι [dei genesthai] (Dan 2,28f ) – „Pseudopropheten“ – ἀνομία [anomia] – „Gräuel der Verwüstung“ (seit Dan 9,27) – der Lesehinweis auf Daniel in 24,15 – unerhörte θλῖψις [thlipsis] aus Dan 12,1 – „Zeichen und Wunder“ – der halbe Vers in 24,29 aus Jes 13,10 und 34,4 – die Benutzung von Sach 12 in 24,30 – dort auch Zitat aus Dan 7,13. Auffällig ist die häufige Daniel-Benutzung. Die Auslegung muss diesen alttestamentlichen Verbindungen gerecht werden. Ein weiterer Merkpunkt für die Exegese ist die Frage nach der bisherigen Erfüllung von Mt 24,3-31. Im Großen und Ganzen laufen hier die Synoptiker parallel. Stärkere Abweichungen sind nur bei Lukas zu finden. So bringt er Mt 24,23-28; Mk 13,21-23 in seinem 17. Kapitel unter. Aber die große Nähe, die die Synoptiker hier zueinander aufweisen, lässt uns vermuten, dass die Endzeitrede Jesu schon von Anfang an als ein geschlossenes Traditionsstück weitergegeben wurde. Wir haben dann etwas Kostbares vor uns: Einen geschlossenen Zukunftsentwurf aus der Sicht Jesu.

III Einzelexegese Die Situationsangabe in V. 3 ist denkbar spärlich: Als er auf dem Ölberg saß … Sie schließt aber sehr gut an V. 2 an. Es scheint, dass Jesus dort nicht nur einige Minuten Rast halten wollte, sondern am Abend jenes Tages über den

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Abend der Welt sprechen wollte. Das sitzen ist ja die typische Haltung des jüdischen Lehrers (Mt 5,1; 13,1). Wo kann das gewesen sein? Seit dem 2. Jh. n.Chr. gibt es eine Tradition, dass dies in einer Höhle gewesen sei, über der Konstantin der Große 326 n.Chr. die Eleona-Basilika errichten ließ. Höhle und Ruinen wurden 1910 auf dem Gelände des Karmeliterinnen-Klosters ausgegraben.13 Es gibt keinen vernünftigen Grund, an der Lokalisierung von Mt 24,3 bei der Eleona-Kirche zu zweifeln. Mt 24,3 notiert, dass die Jünger Jesus κατ’ ἰδίαν [kat’ idian] befragten, während sie allein waren. Dadurch wird dieses Jünger-Lehrgespräch abgesetzt von den öffentlichen Lehrgesprächen, die Jesus Mt 21,23–23,39 im Tempel geführt hatte. Zwei Fragen stellen die Jünger:14 1) Wann wird das [= die Tempelzerstörung] sein? 2) An welchem Zeichen erkennt man deine Wiederkunft und die Vollendung des Äons? Offenbar verbinden die Jünger die Tempelzerstörung sehr eng mit der Wiederkunft. Es muss ihre Aufmerksamkeit noch einmal neu geweckt haben, dass Jesus in V. 4-31 seine Wiederkunft so spät ansetzte. Mit der Wiederkunft (παρουσία [ parousia]) nennen sie sofort auch die Vollendung des Äons.15 Letztere steht zugleich am Ende des Evangeliums (28,20). Äon ist hier wie in 13,39-40.49 so viel wie das gegenwärtige Weltzeitalter. Kurz gesagt: Sie möchten wissen, was unsere Weltgeschichte noch alles bringt. Dabei kann man sofort festhalten, dass die Wann-Frage weder hier noch sonst wo in der Bibel beantwortet wird. Siehe auch Apg 1,7. Dagegen nennt Jesus nicht nur ein Zeichen für seine Wiederkunft und das Weltende, sondern gleich eine ganze Serie solcher Zeichen. Was das bedeutet, kann man sich durch eine kirchengeschichtliche Erinnerung klarmachen: Luther erwartete nur noch das „Hereinplatzen“ des Jüngsten Tages, Jesus aber zeigt eine ganze Lichterkette, die zum Ufer der Ewigkeit führt. Im Übrigen taucht der griech. Begriff παρουσία [ parousia] ( Wiederkunft) hier zum ersten Mal im NT auf. Davon zu unterscheiden ist der Vorgang des zweiten Kommens Christi in Macht und Herrlichkeit, von dem Jesus schon mehrfach gesprochen hatte (Mt 7,21ff; 13,40ff.49f; 16,27f; 23,39). Es gehört also zu den Grundzügen der von Jesus vertretenen Christologie, dass er zweimal kommt: zuerst als Retter, dann als Richter (vgl. Joh 3,17). An den Satz von Albrecht Oepke: „Die Vokabel [= παρουσία] ist hellenistisch“16 sollte man ein Fragezeichen machen. Uns scheint, dass bei der typischen Wortbil-

13 14 15 16

R. Riesner, Art. Ölberg, GBL 2, 1090; Kopp 453ff; Kroll 554ff. Auch in Mk 13,3; Lk 21,7 stellt eine Mehrzahl von Jüngern die Frage. Gegen France 337 sind beide nicht „descriptions of the same event“. Im Art. παρουσία, ThWNT, V, 1954, 863.

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dung παρουσία in christlichen Kreisen auch die auffallende Messiastitulatur von Ps 118,26 ‫[ ַה ָבּא‬habbāʾ] beteiligt war. Dass Jesus in V. 4 als erstes Zeichen die Verführung nennt, war für die Jünger sicher eine Überraschung: Passt auf, dass euch niemand irreführt! Es gehört zur Ironie der Weltgeschichte, dass Jesus, der unermüdliche Warner vor Verführung, in Mt 27,63 selbst beschuldigt wurde, ein Verführer zu sein. In Anbetracht der Bedeutung, die die Verführung bei Jesus besitzt (vgl. Mt 24 mit Offb 2–3), muss man wohl die Konsequenz ziehen, dass Verführung für ihn schlimmer ist als Verfolgung. Passt auf (βλέπετε [blepete])! betrifft nicht nur die ersten Jünger, sondern beschreibt einen Auftrag an die Kirche aller Zeiten. Es wäre anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 und überhaupt bei kirchlichen Jubiläen eine lohnende Herausforderung, uns als Protestanten immer wieder zu fragen, wann wir jenes eindringliche Passt auf! in unsere Praxis umgesetzt haben. Bei der Konkretisierung beschränkt sich Jesus auf einen einzigen Punkt, nämlich die falschen Christusse (vgl. V. 24 ψευδόχριστοι [ pseudochristoi]): Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus, und werden viele verführen, V. 5. Gemeint ist hier der Christus = Messias-Name, nicht der Jesus-Name. Mit keiner anderen Prophezeiung hätte Jesus den Zeitabschnitt 30–70 n.Chr. besser charakterisieren können. Eine große Zahl (viele) von Messiasprätendenten gab diesem Zeitabschnitt sein Gepräge, wie schon Gamaliel in Apg 5,36f erraten lässt. Bei Josephus spielen vor allem Menachem aus der Familie Judas’ des Galiläers und Simon bar Giora eine Rolle.17 Hinzu kam eine Flut von Vorzeichen künftiger Verwüstung, die das Volk mitsamt seinen Schriftgelehrten und Priestern in hohe Erregung versetzten.18 Aus dem Rückblick kann man nur urteilen, dass sich Jesu Ankündigung in Mt 24,5 in erstaunlichem Maße erfüllt hat.19 Können wir Mt 24,5 damit ad acta legen? Schon die Verse 23-28 würden dem widersprechen. Erst recht würde dies 1Joh 2,18ff tun, wo das Ringen der frühen Kirche mit „vielen Anti-Christoi“ spürbar wird. Wir müssen also auch im Blick auf die Endzeit sagen, dass sich Jesu Wort in Mt 24,5 erneut erfüllen wird. In alledem bleibt Jesus höchst nüchtern: sie werden viele verführen. Andere Märkte verfallen. Der Markt für Verführer bleibt immer.

17 Bell II, 433ff, IV, 503ff; Mayer 67ff. 18 Josephus Bell VI, 288ff. 19 Anders Luz III 420: Nicht jüdische Messiasanwärter seien gemeint, sondern Propheten in der christlichen Gemeinde. Wie wir Fiedler 363. Zahn 664,5 erinnert daneben an Simon Magus Apg 8.

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Der Warnung vor Verführung lässt Jesus eine kurze Schilderung des „Anfangs der Wehen“ folgen (V. 6-8). Sie beginnt mit Kriegen und Kriegsnachrichten. Ist das nicht sehr allgemein? Gibt es nicht seit der Steinzeit Schlachten und Kriege? Man wird aber nicht leugnen können, dass die Entwicklung des jüdischen Aufstandes gegen Rom 66–73 n.Chr. diese Voraussage Jesu sehr genau trifft. Die Frage ist nur, ob Mt 24,6 darüber hinaus reicht. Ein Blick auf die Apokalypse (6,3ff ) lässt nur ein Ja auf die Frage zu. Das bedeutet: Jesus sieht die Menschheitsgeschichte zunehmend von Kriegen (πόλεμοι [ polemoi]) und Kriegsnachrichten (ἀκοαὶ πολέμων [akoai polemōn]) bestimmt. Letztere schaffen permanente Unruhe bis hin zur Panik. Das ist ein total anderes Zukunftskonzept als das der europäischen Aufklärung, wie sie z.B. in Gotthold Ephraim Lessings berühmter Abhandlung Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777) repräsentiert wird. Im Banne der Aufklärung bejubelte Europa die „Arabellion“ als Beginn der demokratischen Emanzipation der arabischen Völker. In Wirklichkeit war sie der Auftakt zu einem der grausamsten Schauspiele der menschlichen Geschichte. Es kam nicht die von Lessing erwartete Zeit, in der der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist“ (§ 85 der oben erwähnten Schrift), sondern die zunehmende Versetzung der Welt in den Kriegs-Zustand. Seit dem 21. Jh. ist es kaum mehr möglich, die Gesamtzahl der Kriege pro Jahr festzustellen. Die Ansage Jesu hat einen frappierenden Genauigkeitswert. Umso wichtiger ist die daran geknüpfte Aufforderung: Seht zu (ὁρᾶτε [horate]), dass ihr euch nicht in Schrecken versetzen lasst! μὴ θροεῖσθε [mē throeisthe] ist kein billiger Trostspruch, sondern ein Ruf zur Nüchternheit, mit der man auf solche Situationen antwortet. Meiner Generation ist unvergesslich, wie die Friedensbewegung die Losung ausgab „Es ist fünf vor zwölf “ und damit ein völlig irrationales Handeln auslösen wollte. Jesu Wort zielt in eine andere Richtung, und er begründet es auch rational: Denn es muss geschehen, ist aber noch nicht das Ende. Daran fällt zweierlei auf: In δεῖ γενέσθαι [dei genesthai] erkennen wir eine bewusste Aufnahme des ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai] in Dan 2,28f LXX, ebenso wie es später in Offb 1,1.19; 4,1; 22,6 der Fall sein wird. Luz zeigt sich ganz verwundert über die starke „Prägung durch Daniel“ in diesen Jesus-Worten.20 Aber es handelt sich ja um weit mehr als um eine „Prägung“. Es geht doch darum, dass Jesus die danielische Zukunftsprophetie bestätigt und die seine daran anknüpft. Das heißt: Alles in Mt 24,3ff Gesagte steht in Übereinstimmung mit den Propheten Israels. Als Zweites fällt der Riegel auf, den Jesus hier gegen die Naherwartung vorschiebt: aber es ist noch nicht das Ende. Im 20 Luz III 411.

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gesamten 24. und 25. Kapitel ist Jesus damit befasst, einer Naherwartung den Boden zu entziehen und seine Gemeinde mit einem langen Atem auszurüsten. Unsere Auslegung hat wohl auch deutlich gemacht, dass wir nicht mit „apokalyptischen Topoi“21 aus antiken Requisitenkammern rechnen, sondern mit Aussagen, die Jesus in persönlicher Autorität für seine Gemeinde machen wollte. In V. 7 ist noch einmal eine genaue Reihe solcher Aussagen enthalten: Völker ringen mit Völkern, Reiche mit Reichen, es kommen Hungersnöte und Erdbeben. Auch das sind keine „apokalyptischen“ Requisiten,22 sondern bewusst gewählte Charakteristika einer Zukunft, die Jesus vor sich sieht. Was den Kampf zwischen den Völkern und zwischen den Reichen betrifft, so gibt es verwandte Aussagen im AT und der intertestamentarischen Literatur (Jes 19,2; 2Chron 15,6; äthHen 99,4). Die Sicherheit schwindet, der Druck auf die Menschen nimmt zu. Beachtung fordert der Begriff βασιλεία [basileia]. Denn er geht über die Bezeichnung eines Territoriums hinaus, und schließt „Königswürde“ und „Herrschaft“ im allgemeinen Sinne ein. Modern ausgedrückt: βασιλεία kann auch ein „System“ meinen, das gerade nicht an eine Ethnie gebunden ist. Unsere Gegenwart liefert dafür Anschauungsbeispiele genug: „Kommunismus“, „Sozialismus“, „Islamischer Staat“, „Al Kaida“ usw. Der politische Raum hört zunehmend auf, ein Bereich des Schutzes und Vertrauens zu sein. Wenn Jesus jetzt auch Hungersnöte zu den Zeichen zählt, dann können damit nicht die üblichen Hunger- oder Heuschrecken-Plagen des Orients gemeint sein. Es muss sich um solche Hungersnöte handeln, die den Menschen großer Regionen oder in der ganzen Welt Angst machen. Unsere Gegenwart prägte für diesen Bereich ganz neue Begriffe: „Welthungerhilfe“, „Brot für die Welt“, „Aufzehren der Weltressourcen“. Während sich die Christen vergangener Jahrhunderte noch schwertaten, Mt 24,7 in vollem Ausmaß zu verstehen, spiegelt sich dieser Vers heute in der Tagespresse als längst bewusster Vorgang. Wiederum überrascht die Genauigkeit der Voraussage Jesu. Erdbeben (σεισμοί [seismoi]) stellen das vierte Zeichen in Mt 24,7 dar.23 Nun haben Erdbeben die ganze Menschheitsgeschichte begleitet. Manche prägen sogar die Historiografie, wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Aber in Mt 24,7 scheint etwas anderes hinzuzutreten, so etwas wie eine apokalyptische Unruhe, die sich vor dem Zerfall der Welt ängstet. Inzwischen sehen wir unsere Tsunamis nicht mehr als „Zufälle“ an, sondern als tektonisch 21 Anders Fiedler 363. 22 Gegen Fiedler a.a.O. 23 Vgl. Hes 38,19f.

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geradezu vorausberechenbare Verschiebungen der unterirdischen Kontinentalplatten, deren letztes Ziel offenbleibt. Blickt man noch einmal auf Mt 24,67 zurück, dann bemerkt man, dass ethisch relevantes Verhalten der Menschen (Kriege, System-Auseinandersetzungen) und Vorgänge in der Schöpfung (Hungersnöte, Erdbeben) ineinandergreifen. Von beiden Seiten her wird die bisherige Weltordnung gefährdet. Doch achten wir auch auf die Einschränkung: Hungersnöte und Erdbeben werden nicht überall, sondern nur κατὰ τόπους [kata topous] sein, „in verschiedenen Gegenden“, an verschiedenen Orten.24 Andere Orte sind also nicht betroffen. Das ist ein Gedanke, der später in der Apokalypse (6,6ff ) noch stärkere Bedeutung gewinnt. Jesus vertritt also keine Katastrophentheorie, wonach alles einfach schlimmer wird, sondern sieht prophetisch genau unsere Zukunft voraus. Und jetzt kommt noch einmal eine Einschränkung, sozusagen eine Ebene höher: All das aber ist erst der Anfang der Wehen (V. 8). Man spürt förmlich, wie Jesus die Jünger davon zurückhält, in jedem dieser Vorgänge schon das Anzeichen des Weltuntergangs erblicken zu wollen. Ende (V. 6) und Wehen (V. 8) müssen miteinander verbunden werden. Die Wehen bedeuten also die schmerzhafte Geburt einer neuen Welt, über mehrere Stationen und über einen längeren Zeitraum hinweg. Der Gebrauch des Begriffes Wehen ist schon im AT vorbereitet, z.B. Jes 26,16ff.25 Er wird dann in äthHen 62,4 und 4Esr 4,40ff aufgenommen.26 Später beschäftigen sich die Rabbinen mit diesem Thema, wobei die „messianischen Leiden“ eine Phase der Not und Bedrängnis vor dem Erreichen des Heilszustandes darstellen.27 Jesus konnte also voraussetzen, dass der Begriff Anfang der Wehen von den Jüngern gut verstanden wurde. Wir unterstreichen noch einmal das Gewicht der retardierenden Bemerkungen, die schon Georg Bertram aufgefallen waren.28 Bertram macht für sie fatalerweise die „Parusieverzögerung“ verantwortlich, die spätere Stadien der Überlieferung zu solchen einschränkenden Korrekturen gezwungen hätten, statt dass er die Lehre Jesu als den Ort solcher Einschränkungen erkennt. Nur deshalb, weil Jesus als „der Meister“ (Mt 23,8) vor übereilten Parusie-Erwartungen gewarnt hatte, konnte überhaupt das Phänomen einer irrtümlichen „Parusieverzögerung“ überwunden werden. Doch wenn schon der Anfang der Wehen so Schlimmes bringt, was wird danach kommen? 24 25 26 27 28

Vgl. Bauer-Aland 1639f. Vgl. G. Bertram, Art. ὠδίν usw., ThWNT, IX, 1973, 670ff. Bertram a.a.O. 672. B Ket 111a; b Sanh 98b; b Schab 118a. Bertram a.a.O. 673.

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Die anschließenden Verse 9-14 werden allgemein als ein spezieller Unterabschnitt betrachtet. Was fügt sie zu dieser Einheit zusammen? Meist erblickt man im Verfolgungsmotiv diese Klammer. Daher die Überschriften „Ankündigung von Verfolgungen“29, „Effects of Persecution“30 u.Ä. Aber das hier Geschilderte reicht weiter und tiefer. Es umfasst den Christen- und den Christus-Hass, den Abfall vieler Christen vom Glauben, den Verrat der Christen untereinander, die Spaltung der christlichen Gemeinschaften, das Auftreten falscher Propheten, den Übergang großer Teile der Christenheit zur Gesetzlosigkeit, aber auch die Ankündigung unwahrscheinlicher Treue und der Mission bis zur letzten Stunde. Wir haben dies alles sehr vorläufig und vorsichtig „das spezielle Leiden der Gemeinde“ genannt. Wir wollten dadurch das in V. 9-14 Angekündigte von der letzten großen Trübsal unterscheiden und damit deutlich machen, dass das in V. 9-14 Angekündigte im Verlauf der ganzen Geschichte erlebt wird, einmal mehr und einmal weniger. Theodor Zahn hat auch hier in seiner nüchternen Art recht: Das alles „gehört zum Weltlauf “.31 Und er hat ein zweites Mal recht, wenn er doch zugleich in V. 9-14 eine Entwicklung wahrnimmt, nämlich eine „allmähliche Entlastung der Gemeinde“.32 Näheres in der Einzelexegese. Jesus hätte dies alles zu einer eigenen Bußrede an seine Gemeinde machen können, analog Mt 23. Das hat er nicht getan. Er fügte diesen Ausblick vielmehr in die Zukunftsschau vom Ölberg ein. Vielleicht – aber mit Hypothesen muss man vorsichtig sein! – deshalb, weil diese Geschehnisse im göttlichen Geschichtsplan schon feststehen (V. 6: es muss geschehen). Vielleicht, weil er mit der Gemeinde als seinem Leib viel enger verbunden ist, und die Verse 914 deshalb für ihn als Haupt des Leibes einen besonderen Schmerz bedeuten. Er beginnt mit dem, was die Gemeinde von außen erlebt: Dann werden sie euch der Bedrängnis ausliefern und euch töten, und ihr werdet von allen Völkern gehasst werden um meines Namens willen (V. 9). Dann, τότε [tote], ist unbestimmt. Es bedeutet „in den kommenden Zeitläuften“. Offenbar haben da Kriege und Auseinandersetzungen nach V. 6-7 schon angefangen. Da erfassen die Auseinandersetzungen auch die Gemeinde. Das positive Signal von V. 9 lautet: Ihr, die Gemeinde, seid als bekannte und definierbare Größe in der Welt. Ihr seid nach zaghaften Versuchen im Israelland nicht einfach untergegangen. Aber jetzt werdet ihr attackiert. Bedrängnis, θλῖψις [thlipsis], die in Mt 5,11; 10,21ff; 13,21 längst angekündigt war, bricht über 29 30 31 32

Aland, Syn, 398; ähnlich Sand 481; Schniewind 240. Beare 465. Zahn 665. Zahn a.a.O.

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euch herein. Details nennt Jesus nicht, aber er erwähnt als einen Gipfel der Bedrängnis, dass sie [= ganz allgemein die Menschen] euch töten werden. Das Blutmartyrium wird tatsächlich erlitten. Eigenartig ist die Formulierung der Bedrängnis ausliefern (παραδιδόναι εἰς θλῖψιν [ paradidonai eis thlipsin]).33 Heißt das, dass bisherige Schutzmächte die messianische Gemeinde preisgeben, sich von ihr zurückziehen? Beispielsweise die Synagogengemeinschaft, die ihr bisher Schutz gewährte? Ein Statthalter wie Plinius, der durch ganz andere ersetzt wird? Ein byzantinischer Kaiser wie Julian Apostata, der gerade das Gegenteil von Konstantin dem Großen will? Eine europäische Gesellschaft, die nur noch humanistisch, aber nicht mehr christlich sein will? Jesu Worte entwerfen ein Modell, das sich ungezählte Male in der Weltgeschichte realisiert hat. Er geht noch eine Stufe tiefer: Er spricht vom Hass. So wie der Christus-Hass unausrottbar in der Menschheit sitzt, so wird auch die Gemeinde um meines Namens willen von allen Völkern gehasst werden. Erneut stellen wir die Nähe zur Bergpredigt (Mt 5,11) und Instruktionsrede (Mt 10,17), aber auch zum Johannesevangelium fest (Joh 15,18ff ). Es bleibt einer der beeindruckendsten Züge am Evangelium, dass Jesus von der ersten Einladung an (5,11) die Kosten der Nachfolge auf den Tisch gelegt hat und alle seine Anhänger für die Verfolgung präpariert. Wie schnell zerplatzen da die Träume von der Christianisierung der Welt, von der Überlegenheit der christlich-abendländischen Werteordnung, von einer kuschelig-friedlichen Bürgerwelt! Sehr früh schon haben die Völker die Prophetie von Mt 24,9 umgedreht, indem sie ihrerseits vom „Hass“ der Christen gegen das Menschengeschlecht sprachen. Hengel-Schwemer zitieren hier Tacitus Annalen XV, 44, der die Christen anklagt: odium humani generis convicti sunt.34 Mit V. 10 erfolgt ein Umschlag. Jetzt geht es um das, was die Gemeinde von innen erlebt, um „die inneren Zustände der Jüngerschaft“.35 Jesus sagt den Glaubensabfall großer Teile der Christenheit voraus: Und dann werden viele zu Fall kommen. Man stelle sich noch einmal die Situation am Ölberg vor: die Zwölf, fixiert auf den Prozess und den Tempel, Jesus, der nur noch wenige Tage vor sich hat. Und da beginnt er, von einer unzählbaren Jüngerschaft in der ganzen Welt zu sprechen und gleichzeitig den Glaubensabfall unbeschreiblich vieler anzukündigen! τότε [tote] ist wieder unbestimmtes dann, σκανδαλισθήσονται [skandalisthēsontai] im absoluten Sinn das „abfallen“.36 Er nennt sogar Details: sie werden einander verraten, wörtlich: „aus33 34 35 36

Vgl. Bauer-Aland 1243. Hengel-Schwemer 569. Zahn 665. Bauer-Aland 1504.

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liefern“. Damit wird Mt 10,21; 10,35f wieder aufgenommen. Manche Christen salvieren sich in der Verfolgung dadurch, dass sie die Namen von Mitchristen preisgeben, ihre Adressen und Kommunikation den Verfolgern verraten, der Anklage sogar recht geben. Es genügt schon die Denunziation. Das alles scheint die Gemeinde selbst nicht mehr aufzuregen. Die heutige Welt macht das in bedrückender Weise anschaulich. Während jedes Behördenversagen bei einer Baumfällaktion tagelang in den Medien debattiert wird, ist der Tod von Tausenden und Abertausenden von Christen keine Zeile, keinen Twitter wert. Und sie werden einander hassen: Das geht nur, wenn man sich gegen den Heiligen Geist sperrt. Dann gewinnen politisch-strategische Erwägungen und eine grenzenlose Auf-sich-selbst-Bezogenheit das Übergewicht. Man darf dieses hassen nicht einfach als Emotion verstehen. Es kann sich sogar mit Mitleid verbünden. Aber es wird ein Zusammenleben von Christen ohne Joh 13,34f sein. Vers 11 nennt ein drittes Detail: Und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen. Es ist nicht so, dass die „Falschpropheten (ψευδοπροφῆται [ pseudoprophētai])“ daran schuld sind, dass Auslieferung, Verrat und Hass unter den Gemeindegliedern herrschen. Nein, umgekehrt: „Solche Zeiten“ von Hass und Verrat „sind die günstige Gelegenheit, wo falsches Prophetentum entstehen … kann“.37 Man kann sich gut vorstellen, dass sich diese Propheten als Retter in der Not anbieten: Mit ihnen wird der Heilige Geist wieder in die Gemeinden einziehen, mit ihnen eine säkulare oder pneumatische Heilung erfolgen, mit ihnen Achtung und Respekt der Welt zurückkehren. Wie viel hat der Montanismus schon im 2. Jahrhundert versprochen! Doch die Sternstunde der Falschprophetie wird erst in der Zeit des Antichrist anbrechen (Offb 13–17). Dass sich in der ganzen Kirchengeschichte viele verführen lassen, deutet darauf hin, dass ein nur oberflächliches Christentum zu den Massenerscheinungen gehört. Welche Angst die frühen Christen vor den falschen Propheten hatten, geht auch aus 2Petr 2,1; 1Joh 4,1 sowie 1Tim 4,1ff hervor. Die furchtbaren Zustände in der Gemeinde Jesu münden schließlich in einem: der Gesetzlosigkeit, ἀνομία [anomia] (V. 12). Es gibt zu denken, dass Jesus gerade hier einen Kulminationspunkt sieht. Bisher war er im Gebrauch dieses Begriffes eher sparsam gewesen (Mt 7,23; 13,41; 23,28) – vielleicht auch deshalb, weil die übrigen Rabbinen ihn so häufig gebrauchten. Aber jetzt kommt der Gesetzlosigkeit = dem Verhalten, das Gottes Gesetz wider-

37 Schlatter 353.

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spricht,38 eine zentrale Rolle zu. Sie breitet sich aus, sagt Jesus. Das heißt, sie entwickelt sich zunehmend von ersten Ansätzen in seiner Gemeinde hin zu einer prinzipiellen Vorherrschaft in seiner Kirche. Wer ihr widersteht, ist rückständig. Er gilt als „gesetzlich“, und damit als missratener Christ. Man kann sich eine solche Entwicklung nur vorstellen, wenn Kirchen die Bindung an das sola scriptura aufgeben. Erst von einer solchen Prophetie Jesu her wird es verständich, dass die frühe Kirche mit aller Kraft am AT festgehalten hat. Augustinus hat recht, wenn er im Gottesstaat (XIV, 9) die Furcht zu sündigen aufhören sieht, wenn die Gesetzlosigkeit überhandnimmt. Wie soll man heute noch die Sünde abwehren, wenn man von der Kirche selbst erklärt bekommt: „In allem ist Sünde, deshalb ist es gleichgültig, was du tust“? Man darf sich freilich nicht täuschen: Wo die Gesetzlosigkeit das Gesetz Gottes abschafft, da treten ganz andere, unbarmherzige Gesetze ihre Herrschaft an. Damit sind wir beim zweiten Kulminationspunkt von V. 12: … wird die Liebe bei den meisten39 (wörtlich: ἡ ἀγάπη τῶν πολλῶν [hē agapē tōn pollōn]) erkalten. Das Liebesfeuer wird zur Asche. Der alte Satz: „Seht, wie haben sie einander so lieb!“ gilt nicht mehr. Es war der Irrwahn des europäischen Humanismus, dass man durch Zerschlagen der Tabus die Liebe fördern könne. Man liberalisierte, um der Liebe Platz zu schaffen. In Wahrheit war alles umgekehrt. Die Tabus bildeten einen schützenden Zaun um die Liebe. Die Liberalisierung ertränkte jedes wahre Gefühl, bevor es wachsen konnte. Die Christen vom Gesetz Gottes zu befreien, um sie den unbarmherzigen Gesetzen dieser Welt auszuliefern, lässt die Gottesliebe verschwinden, und wenn sie verschwindet, gibt es auch keine Menschenliebe mehr. Gemeinde Jesu ohne Liebe? Die Zukunft wird gerade das herbeiführen. Es ist erstaunlich, wie wenig sich heutige Ausleger darüber Gedanken machen, dass Jesus diese Perspektiven schon aufzeigte, als seine Gemeinde in den ersten Anfängen war. Warum malte er nicht das Bild einer prosperierenden Gemeinde? Einer welterobernden Kirche? Ein Bild, satt von den Farben der Gnadengaben? Die Antwort aufgrund des ganzen Abschnitts V. 9-14 kann nur sein: Weil er wollte, dass seine Jünger alle ans Ziel kämen. Inzwischen haben wir gemerkt, woran sich die Lieblosigkeit sehr früh erkennen lässt: An einer Inflation des Wortes Liebe. Jesus schließt jetzt die Schilderung der Bedrängnisse, in die seine Gemeinde nach V. 10-12 gerät, und nennt in V. 13 und 14 die Positiva der künftigen Kirchengeschichte. Es ist typisch für ihn, dass er hier mit dem Einzelnen be38 Vgl. W. Gutbrod im Art. νόμος usw., ThWNT, IV, 1942, 1079. 39 Vgl. BDR § 245,1.

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ginnt: Wer aber ausharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden (V. 13). In diesem Wortlaut stimmen Mt 24,13 und Mk 13,13 vollkommen überein. Lk 21,19 drückt dasselbe aus, wenn auch mit einem anderen Sprachschatz. Vor allem aber sind wir genau demselben Wort schon in der Instruktionsrede (Mt 10,22) begegnet. Mt 24,13 gehört also zum Urgestein der Jesusüberlieferung. Hinter dem griech. ὑπομένειν [hypomenein] steht eine ganze Reihe hebr. Begriffe: ‫[ בטח‬bthch], ‫[ קוה‬qwh], ‫ [ יחל‬jchl], ‫[ חכה‬chkh].40 Sie alle kreisen um ein gespanntes Warten oder um ein Standhalten in Bedrängnissen. Beides lässt sich mit dem deutschen ausharren übersetzen. Im Kontext von Mt 24,13 heißt das: Wer auf Gott seine Hoffnung setzt, wer all den Bedrängnissen von außen (V. 9) und innen (V. 10-12) standhält, und das bis zum Ende, der wird gerettet = im Endgericht bestehen.41 So knapp das formuliert ist, so inhaltsreich ist diese Aussage. Zunächst: Jesus rechnet zuversichtlich mit solchen, die tatsächlich ausharren, also weder der äußeren Verfolgung erliegen, noch dem Glauben absagen, noch sich durch die innere Verfassung von Kirche und Gemeinde zur Aufgabe ihres Christseins bewegen lassen, noch den falschen Propheten folgen, noch an der Gesetzlosigkeit teilhaben. Eigentlich unglaublich! Es gibt also bis zur Wiederkunft Jesu wahre Gläubige. Sodann: Es geht wirklich um ein Durchhalten bis zum Ende, wobei das Ende hier in erster Linie das eschatologische Weltenende bedeutet, aber im praktischen Christenleben eben auch das individuelle Lebensende einschließt. „Nicht der Anfang, nur das Ende krönt des Christen Glaubensstreit.“42 Zum Dritten: Jesus denkt auf das Engericht hin. Wer den Gerichtsgedanken aus seiner Verkündigung herausnimmt, der hat das ganze Evangelium zu Fall gebracht. Zu unterstreichen ist aber noch einmal der Fokus von Mt 24,13: Jesu wahre Gemeinde ist durch nichts auszulöschen. Mt 24,13 gehört also mit Mt 16,18 engstens zusammen. Im AT vgl. Dan 12,12, im NT 2Tim 2,12; Hebr 10,36.39; Offb 13,10. Dass für die Jünger „der Trost im nahen Ende der Welt“ liegen soll,43 ist von außen in den Text hineingetragen und völlig falsch. So nah ist das Ende nach Jesu Worten gerade nicht. Ein zweiter überwältigender Ausblick schließt sich in V. 14 an: Und es wird verkündigt werden dieses Evangelium vom Reich auf der ganzen Erde, soweit Menschen wohnen … Die ersten Formulierungen, κηρυχθήσεται [kērychthēsetai] und τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας [to euangelion 40 Vgl. F. Hauck, Art. μένω usw, ThWNT, IV, 1942, 586ff. 41 Hauck a.a.O. 590. 42 Benjamin Schmolck, 1734, im Gemeinschaftsliederbuch „Jesus unsere Freude“, 2. Aufl., 1995, Nr. 447,1. 43 So Luz III 424.

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tēs basileias], erinnern an Mt 4,23 und 9,35. Die Verkündigung Jesu geht also weiter, und keine Macht dieser Welt wird sie aufhalten. Noch vor Mt 28,18-20 ist dies das „great announcement“ der Weltmission. Denn der kleine GaliläaKreis wird längst aufgesprengt sein. Das Evangelium bewegt sich ἐν ὅλῃ τῇ οἰκουμένῃ [en holē tē oikoumenē] = auf der ganzen Erde, soweit Menschen wohnen.44 Das Demonstrativum dieses bedeutet, dass es nicht durch „Gesetzlosigkeit“ o.Ä. entstellt, sondern immer noch das wahre Evangelium Christi ist. Eine Konsequenz wird keineswegs die Christianisierung sein, so wertvoll diese auch sein mag. Vielmehr ist die Konsequenz der Verkündigung, dass für alle Völker ein Zeugnis von Jesus Christus gegeben wurde. Sie können dieses Zeugnis annehmen oder verwerfen. Es gibt für Christen kein „Haus des Friedens“ durch Annahme ihrer Religion und kein „Haus des Krieges“ durch Ablehnung ihrer Religion wie für die Muslime. Viel eher trifft Luthers Bild vom „fahrenden Platzregen“ in Gestalt des Evangeliums zu. Die schwere Frage ist allerdings: Wann haben alle Völker dieses Evangelium ausreichend gehört? Wann also ist dieses wichtige Zeichen vor dem Weltende erfüllt? Antwort: Die Weltmission als Zeichen kann zwar von allen, ob Freunden oder Gegnern, registriert werden, aber niemand ist je in der Lage zu sagen, ob sie ein bestimmtes Volk genügend erreicht hat. Nur Gott kann das beurteilen. Deshalb bleibt „Zeit und Stunde“ des Weltendes auch ihm allein überlassen (Apg 1,7). Und dann wird das Ende kommen: Das Ende kommt also gewiss, und es kommt real für die real existierende Welt.45 Dann hat zeitliche Bedeutung: im Anschluss also an die genannten Zeichen = „danach“. Am Schluss von V. 9-14 steht so nicht „a sombre picture of a church in decline“,46 sondern die Vollkommenheit der Wege Gottes. Eigenartig ist der Abschnitt V. 15-20. Wie schon das erste Lesen zeigt, geht es hier um die Jünger im Israelland und eine sehr spezielle Israel-Perspektive. Man kann in diesem Abschnitt eine Antwort auf die erste Frage von V. 3 erblicken. Schon stilistisch besteht ein erheblicher Bruch zwischen V. 14 und V. 15. In V. 14 ist das Evangelium als Zeichen das Subjekt. In V. 15 sind es die ihr, das heißt die bei Jesus sitzenden Jünger und deren Gemeinden im Israelland. V. 15 ist sozusagen ohne Ansatz formuliert: Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung seht, von dem Daniel, der Prophet, gesprochen hat, dass er an heiliger Stätte steht … Dabei kann es sich nur um den Gräuel der Verwüs44 Vgl. Bauer-Aland 1137. 45 Ganz anders die Theologie Rudolf Bultmanns: „jeder Zurechnungsfähige“ ist davon überzeugt, „daß die Weltgeschichte … weiterlaufen wird“ (NuM 18). 46 France 339.

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tung handeln, von dem Dan 9,27 LXX spricht (ἐπὶ τὸ ἱερὸν βδέλυγμα τῶν ἐρημώσεων ἔσται [epi to hieron bdelugma tōn erēmōseōn estai]), erneut sodann Dan 11,31; 12,11. Jesus weist ja in ungewöhnlicher Weise (doch vgl. Mt 15,7!) auf die notwendige Lektüre von Daniel, dem Propheten hin: wer es liest, bedenke, was es bedeutet (ὁ ἀναγινώσκων νοείτω [ho anaginōskōn noeitō]).47 Die äußerst knappen Aussagen von Mt 24,15 fordern den heutigen Leser mehrfach heraus. Erstens: Den Gräuel der Verwüstung hat man in Israels Geschichte schon einmal identifiziert, nämlich mit der Goldplatte, die Antiochus IV. Epiphanes im Jahr 168 v.Chr. auf den Altar in Jerusalem hatte legen lassen, um darauf Schweine zu opfern (1Makk 1,5; 6,7). Wenn ihn Jesus jetzt als etwas Zukünftiges anspricht, dann muss er mit einer mehrfachen Erfüllung der biblischen Prophetie rechnen. Ein drittes und letztes Mal wird der Gräuel der Verwüstung in der Zeit des Antichrist errichtet (2Thess 2,4; Offb 13,14ff ). Aber wann sehen ihn die Jünger Jesu? Im August 70 n.Chr. Da erobern und zerstören die Römer den Tempel. Dabei passiert Folgendes: „Die Römer tragen ihre Feldzeichen in den heiligen Bezirk (εἰς τὸ ἱερόν [eis to hieron]) und stellten sie dem östlichen Tor gegenüber auf. Eben an dieser Stelle brachten sie ihnen dann Opfer dar.“48 Damit wurde der Gräuel der Verwüstung sichtbar aufgerichtet. Zweitens: In Mt 24,15 ist von Daniel, dem Propheten ebenso die Rede wie früher von „Jeremia, dem Propheten“ (2,17) oder „Jesaja, dem Propheten“ (3,3). Wenn aber Daniel erst um 165 v.Chr. entstanden wäre, wie die moderne Forschung großenteils annimmt, wie hätte er dann in einem vielfach aufgesplitterten Judentum zur Zeit Jesu schon eine so fraglose, allgemein anerkannte Autorität sein können? Drittens: Das apokalyptische νοείτω [noeitō] fällt auf. Es erinnert an Offb 13,18; 17,9, sowie Dan 12,4. Hinter νοεῖν [noein] steht hebr. ‫[ ִבּין‬bīn] oder ‫שַׂכל‬ ָ [śākal].49 Es geht also um mehr als um normale Wahrnehmung, nämlich um ein Erkennen mit bestimmter Qualität. Im Grunde setzt Jesus hier ein Erkennen im Heiligen Geist voraus: er bedenke, was es bedeutet. Viertens: In Mt 24,15 ist nirgendwo von einem Gemeindeleiter oder Ähnlichem die Rede. Jesus nimmt also an, dass die gesamte künftige Gemeinde in der Lage sein wird, die Propheten zu lesen, zu studieren und auszulegen. In seiner Gemeinde wird also Jes 54,13 und Jer 31,34 erfüllt sein. Vers 16 enthält eine Überraschung, nämlich eine ganz konkrete Handlungsanweisung für die Zukunft. Seit V. 15 befinden wir uns noch in der Reichweite 47 Viele Kommentare sehen in diesen Worten allerdings eine Notiz nur des Evangelisten. So Tasker 229; Fiedler 363. Wie wir auf Jesus zurückgehend Carson 500. 48 Josephus Bell VI, 316. 49 J. Behm im Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, 948.

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der Generation der damals Zuhörenden. Folglich muss sich auch V. 16 auf diese damals lebende Generation beziehen. Die immer wieder gestellte Frage:50 Bezieht sich Mt 24,15ff auf die „eigentliche“ Endzeit in ferner Zukunft oder auf die nahe, unmittelbar bevorstehende Zukunft des Israellandes?, muss zugunsten des Letzteren beantwortet werden. Die Anweisung lautet kurz und bündig: Flieht! Das ist dieselbe Bewegung, die die Chasidim (Frommen) der Makkabäerzeit vollzogen (1Makk 2,27ff ). Es ist überdies dieselbe Flucht-Bewegung, die David (1Sam 19,10.18; 20,1; 21,11) und Amos (7,12) vollziehen mussten. Sie prägte das Leben vieler Propheten (Hebr 11,37f ). Sie hat Jeremia für den Auszug aus Babel befohlen (50,8). Diese Flucht hat nichts mit feiger Fahnenflucht zu tun. Sie ist vielmehr die einzige Möglichkeit, sowohl den Gräueln der Zeloten als auch den götzendienerischen Römern zu entkommen. Der Umkreis wird präzise bestimmt. Es geht nur um die, die in Judäa [= im Israelland] sind. Nur sie haben die Möglichkeit, in die Berge (εἰς τὰ ὄρη [eis ta orē]) zu fliehen. Man denke an Davids Masada (‫[ ְמצוָּדה‬mᵉzūdāh], 1Sam 22,4) oder die Situation in Hes 7,16. Um den Kern der Dinge gleich festzuhalten: Jesu Gemeinde hat seine Anweisung im jüdisch-römischen Krieg von 66–73 n.Chr. befolgt. Eusebius von Cäsarea beschrieb den Wegzug der Christen um 325 n.Chr. in seiner Kirchengeschichte: „die Kirchengemeinde in Jerusalem“ habe „noch vor dem Krieg die Stadt verlassen und sich in einer Stadt Peräas namens Pella niedergelassen“.51 Dadurch entkam sie den schlimmsten Schrecken eines Krieges, den sie nicht gewollt und vor dem sie gewarnt hatte. Man kann fragen, ob es nicht für eine Flucht zu spät ist, wenn man erst die Feldzeichen der Römer im Tempel sehen muss? Antwort: Man sieht auch das, was erst im Kommen ist, und der Gräuel der Verwüstung ist ja nun doch der Gipfel einer Entwicklung, die seit 66 n.Chr. abzusehen war. Man darf Mt 24,15 nicht mathematisch auf ein paar Stunden zusammenpressen. Für die Flucht bleibt bei solcher Voraus-Sicht genügend Zeit!52 Die Verse 17-20 illustrieren in der bildhaften Sprache biblischer Prophetie die Dringlichkeit der Anweisung zur Flucht. Wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinab, um etwas aus seinem Hause zu holen! (V. 17): Auf dem Dach waren gelegentlich luftige, angenehme Gemächer (1Sam 9,25; 2Kön 4,6ff ), dort erholte man sich (2Sam 11,2), dorthin zog man sich zurück (Apg 1,13). Man musste dazu keine Treppe 50 Vgl. dazu Luz III 425f. 51 HistEccl III, 5.3. 52 Vgl. Tasker 229f.

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innerhalb des Hauses benutzen, sondern stieg über eine Leiter oder Treppe neben der Hauswand empor (vgl. Mk 2,4). Man soll – so die Worte Jesu – so rasch fliehen, dass man außerhalb des Hauses herabsteigt und nicht mehr ins Haus geht, um dort etwas zu holen. Mt 24,17 erinnert an die Eile, in der Lots Flucht aus Sodom erfolgen musste (Gen 19,15ff ). Jesus sieht also die kommende Katastrophe des Israellandes in einer ähnlichen Größenordnung wie den Untergang Sodoms. Man vgl. dazu Mt 11,24; Lk 17,28ff. Und wer auf dem Acker ist, der kehre nicht zurück, um seinen Mantel zu holen (V. 18): Acker-Leute wie Fischer arbeiteten im schweren Beruf ohne das störende Obergewand (Mantel; vgl. 1Kön 19,19; Joh 21,7). Die Dringlichkeit der Flucht erlaubt es nicht einmal, zu Hause das Obergewand zu holen. V. 18 zeigt klar, dass sich Mt 24,15ff an die ganze judäische Bevölkerung richtet, und nicht nur an Jerusalem.53 Weh den Schwangeren und stillenden Müttern in jenen Tagen! (V. 19): So schnell wie andere können sie nicht fliehen. Die stillenden Mütter trugen den Säugling in der Regel in einem Tuch an ihrem Körper. Jesu Wort ist voll Mitleid, wobei Schlatter bemerkt: „Über das Tempelhaus klagt er nicht; aber vom Jammer der Menschen redet er.“54 Schon zur Zeit der Babylonier hatten Schwangere und stillende Mütter unter den Gräueln des Krieges besonders zu leiden (Klgl 2,11ff ). In unseren Tagen erlebten wir Ähnliches bei der Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges. Siehe auch Lk 23,29. Betet55 aber, dass eure Flucht nicht im Winter oder am Sabbat geschehen muss! (V. 20): Selbst die allerkleinste Erleichterung ist in solchen Notzeiten wertvoll. Wir sind eben nicht im Lande der „Fiktion“, wie Fiedler meint,56 sondern in der realen Situation des jüdisch-römischen Krieges 66– 73 n.Chr., wie sie Jesus in aller Deutlichkeit vorausgesehen hat. Man kann diesen Krieg nicht „hinwegbeten“. Aber man kann um Durchhilfe und Bewahrung mitten in den Kriegsgräueln beten. So meint es Jesus und setzt damit ein Beispiel für ungezählte andere Fälle. Zum Stichwort Winter: Unsere Nachrichten über winterliche Flüchtlingslager in der Bekaa und in Syrien mit ihrer unbeschreiblichen Not können nur unterstreichen, was Jesus mit einer Flucht im Winter meint. Am Sabbat, wo man weder kaufen noch verkaufen noch irgendwelche Haushaltsgeschäfte tätigen kann, wird vieles noch schlimmer.57 53 54 55 56 57

Vgl. Beare 469. Schlatter 356. Das ihr ist das „ihr“ von V. 15. Fiedler 365. Den Hinweis auf Versorgungsschwierigkeiten findet Luz III 429 nur „Lustig“, weil seine von ihm erdachte „mt Gemeinde“ in V. 20 mit der „Retrospektive“ beschäftigt ist.

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Der folgende Abschnitt, V. 21-28, hat es mit weltweiten Endereignissen zu tun. Verschiedene Signale des Textes weisen darauf hin, dass wir uns jetzt in diesem erweiterten Horizont bewegen: wie sie seit Anfang der Welt nicht gewesen ist – wie sie nicht mehr geschehen wird (V. 21) – πᾶσα σάρξ [ pasa sarx] (V. 22) – die Aufnahme des Leitwortes θλῖψις [thlipsis] aus Dan 12,1 (V. 21) – vom Osten bis zum Westen (V. 27). Der innere Grund für den Wechsel vom Israelthema zum Weltthema ist ebenfalls leicht einsehbar: Weil Jesus auf seine universale Rolle bei der Wiederkehr hinzielt (V. 29-31), muss er jetzt auf die universalen Endereignisse zu sprechen kommen. Denn dann wird eine große Bedrängnis sein, wie sie seit Anfang der Welt bis heute nicht geschehen ist und auch nicht mehr geschehen wird (V. 29). Das Denn schlägt einen großen Bogen zurück zu V. 13f. Offenkundig sollen wir im Blick auf die Endereignisse ein doppeltes vor Augen haben: 1) die spezielle Bedrängnis, die der Kirche von innen heraus erwächst (V. 10ff ), und 2) die gesteigerte Bedrängnis, die sie gleichzeitig von innen und von außen erlebt. Letztere kommt am Ende auf einen Gipfel. Sie wird so groß sein, wie sie seit Anfang der Welt bis heute nicht geschehen ist. Was Abel, was Abraham und Mose, was die Propheten, oder was später das ganze Israel unter Antiochus IV. Epiphanes erlebten,58 wird minimal erscheinen im Vergleich zur letzten großen Trübsal. Letztere wird auch nicht überboten werden: So etwas wird auch nicht mehr geschehen. Die Anknüpfung an Dan 12,1 ist offensichtlich. Fazit: Jesus sieht nicht nur Dan 9,27; 11,31; 12,11 erst in der Zukunft ganz erfüllt, sondern auch Dan 12,1. Das ist dieselbe Botschaft wie die in Offb 13. Vers 22 enthält eines der größten Geheimnisse des NT: Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, würde kein Mensch (πᾶσα σάρξ [ pasa sarx]) gerettet. Aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt. Schnell löst sich freilich das Geheimnis der handelnden Person: Es ist Gott (Passivum divinum!), der die Kürzung vornimmt. Jene Tage sind die Tage = die Zeit der Endereignisse. Auffallend ist die Wendung οὐκ ἂν ἐσώθη πᾶσα σάρξ [ouk an esōthē pasa sarx]. Sie ist wie jene Tage ganz hebr. formuliert: ‫[ ֹכּל …ֹלא‬loʾ … kol] usw.59 Die Rede ist nicht etwa von „Gläubigen“. Sondern πᾶσα σάρξ [ pasa sarx] = ‫שׂר‬ ָ ‫[ ֹכּל ָבּ‬kol bāśār] bedeutet „alle, die der schwachen Menschheit angehören“. Es ist also die menschliche Schwäche auch und gerade der Jünger, über die sich Gott erbarmt (vgl. Mt 26,41). Das Handeln der göttlichen Barmherzigkeit resultiert in einem Akt, den wir bis heute nicht 58 Vgl. 1Makk 9,27. 59 BDR § 302,1; 428,3.

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ganz erklären können: Sie verkürzt die Zeit der letzten, größten Bedrängnis. Ein wenig kann man freilich die Umrisse dieses Geheimnisses ahnen. Der Weg dazu führt wieder über das Buch Daniel. Ganz allgemein wird dort konstatiert: Gott verfügt über Zeit und Stunde, ja er kann ohne Weiteres die Zeit wie ein Gefäß formen und ändern (Dan 2,21 LXX: ἀλλοιοῖ καιροὺς καὶ χρόνους [alloioi kairous kai chronous]). Ein danielisches Zeitmaß lautet: „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“ (Dan 7,25; 12,7). Dieses Zeitmaß spielt in der Johannesoffenbarung eine auffallend große Rolle (Offb 11,2; 12,6.14; 13,5). Bei diesem Zeitmaß kommt die letzte Einheit nicht mehr „zur Reife“: Eine halbe Zeit ist eben eine unvollkommene, eine abgekürzte Zeit. Haben wir uns das verkürzt in Mt 23,22 ähnlich vorzustellen? Im Danielbuch liegt noch einmal ein Hinweis auf die Souveränität vor, mit der Gott die Zeit handhaben und verändern kann. Das ist die Dehnung der 1290 Tage auf 1335 Tage in Dan 12,11f. Alles in allem ergibt sich: Gott setzt in der letzten Drangsalszeit andere Zeiten fest, als er ursprünglich plante.60 Dies macht die Drangsalszeit erträglicher. Denn seine Hauptabsicht ist es, dass die Auserwählten nicht im Glauben zu Fall kommen.61 Sie sollen das Ziel der Rettung, der σωτηρία [sōtēria], erreichen. Kann man die Liebe Gottes zu den Seinen eindringlicher beschreiben? Siehe auch Röm 8,31ff. Wir setzen uns mit dieser Auslegung deutlich ab von Gerhard Delling, der in seinem kleinen Artikel über κολοβόω [koloboō]62 Mt 24,22 fälschlich auf die „Notzeit in Judäa“ und auf die Bewahrung vor dem „leiblichen“ Zugrundegehen bezieht.63 Ab V. 23 konzentriert sich Jesus überraschend stark auf das Thema „Verführung“. Noch deutlicher formuliert: Die ganzen Verse 23-28 kreisen um dieses Thema. Schon zu Anfang des Abschnitts, nämlich in V. 4f, hatten wir bemerkt, wie viel Gewicht Jesus auf die Verführung legte. Jetzt wird das noch viel stärker. Und was die Verfolgung anbelangt: Jesus belässt es in unserem Zusammenhang bei seinen Aussagen in den zwei Versen 21 und 22, und widmet dann sechs Verse der Verführung. Seine Priorität ist also klar. Wenn dann (Τότε [Tote]) einer zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus!, oder: hier, dann glaubt es nicht! (V. 23). Τότε bezieht sich wie in V. 21 und 14 auf die Endereignisse. In V. 4f dagegen war es nicht um die Endzeit im engeren Sinne gegangen, sondern um ein Begleitelement der ganzen Kirchengeschichte. Jesus sieht voraus, dass gerade in der Endzeit solche Falschmel60 61 62 63

Gegen Zahn 668. Vgl. Zahn a.a.O. ThWNT, III, 1938, 823. Wie wir grundsätzlich auch Carson 502.

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dungen auftauchen. Einmal soll der Christus = Messias hier sein, dann dort. Der Verfolgungsdruck, der auf ihr lastet, kann die Gemeinde für solche Falschmeldungen besonders empfänglich machen. Interessant bleibt, dass der Titel Christus auch für die Gegenspieler Jesu attraktiv ist. Die Verhaltenslinie für Christen lautet: Keiner dieser Meldungen glauben! Denn keine kann richtig sein. Vers 24 detailliert: Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder vollbringen, um sogar die Auserwählten zu verführen, wenn dies möglich wäre. Der Anklang an V. 5 und 11 ist unüberhörbar. Aber die Warnungen vor den Pseudopropheten setzen bei Jesus schon viel früher ein, nämlich in der Bergpredigt (Mt 7,15). Noch einmal sei an die innere Verwandtschaft der „Pseudo-Christusse“ mit den „Anti-Christussen“ in 1Joh 2,18ff; 4,3; 2Joh 7 erinnert. Siehe zu diesem Thema auch die Hirtenrede Joh 10,1ff. Im AT nimmt die Auseinandersetzung mit den falschen Propheten ebenfalls einen breiten Raum ein (vgl. Deut 13,2ff; 18,20ff; Jes 28,7ff; Jer 7,8ff; 23,9ff; Hes 13,1ff ). Vers 24 enthält nun zwei Besonderheiten. Erstens sagt Jesus voraus, dass die falschen Christusse und falschen Propheten große Zeichen und Wunder vollbringen werden. Er nimmt damit die Ankündigung von Deut 13,2 auf. Auf der anderen Seite knüpft Paulus in 2Thess 2,9f offenkundig an Mt 24,24 an. Ganz deutlich steigern sich solche Erscheinungen in der Endzeit, um dann in der Herrschaft des Antichrist einen einsamen Gipfel zu erreichen (Offb 13,13ff ). Diese Zeichen und Wunder sind keine Einbildung, sondern eine bedrückende Realität. Für vollbringen steht griech. δώσουσιν [dōsousin], also „gewähren“, „darbieten“, oder eben vollbringen.64 Endzeit ist Wunderzeit. Man versteht es von Mt 24,24 her sehr gut, wenn biblisch verwurzelte Christen sich überall dort zurückhalten, wo man Wunder in den Vordergrund schieben will, etwa bei „power evangelism“, „Heilungs-Veranstaltungen“ oder Ähnlichem. Die zweite Besonderheit in Mt 24,24 ist die Bemerkung um sogar die Auserwählten zu verführen, wenn dies möglich wäre (εἰ δυνατόν [ei dynaton]). Was besagt diese Bemerkung? Sie besagt zunächst, dass auch die Auserwählten schwach sind und ein hervorragendes Ziel für die satanischen Angriffe bieten. Genau dies hat schon V. 22 zum Ausdruck gebracht. Sie besagt sodann, dass PseudoChristusse und Pseudo-Propheten alles ihnen Mögliche tun, um die wahren Christusgläubigen zu verführen. Sie besagt zum Dritten, dass die Bewahrung Gottes so stark ist, dass man die wahren Gläubigen letzlich nicht von Christus

64 Vgl. Bauer-Aland 387ff.

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trennen kann: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28). Siehe auch V. 22; Röm 8,31ff. Es wäre ein grobes Missverständnis, wenn man sich diese falschen Christusse und falschen Propheten als finstere, abstoßende Gestalten vorstellen wollte. Sie werden vielmehr sehr „christlich“ auftreten, und – wenn man von den bisherigen Erscheinungen ausgehen darf – rhetorisch beeindruckend, akademisch gebildet, menschenfreundlich-hilfsbereit und in manchen Zügen sympathisch sein. Siehe, ich habe es euch vorhergesagt! (V. 25): Der kleine Satz überrascht: Solche Hinweise kennen wir sonst nur aus dem Johannesevangelium (13,19; 14,29; 16,4). In der Hauptsache geht es darum, dass wir beim Auftreten der in V. 23 und 24 genannten Erscheinungen an Jesu Worte denken. Er, der Erlöser, hat es längst gesagt und hat recht behalten. Das stärkt unseren Glauben an ihn, den wahren Christus.65 Ein zweites glaubt es nicht! (μὴ πιστεύσητε [mē pisteusēte]) ist mit V. 26 verbunden (vgl. V. 23): Wenn sie nun zu euch sagen: Siehe, er ist in der Wüste!, geht nicht hinaus! Siehe, er ist in den Geheimgemächern!, glaubt es nicht! Kurz zusammengefasst: Der wiederkommende Christus wird keine Verborgenheitsphase oder Vorbereitungsphase auf Erden haben. Alles, was man sich hier geheimnisvoll-gläubig zuflüstert oder mit großem medialen Aufwand propagiert, ist falsch. Natürlich wird unter den Schrecken der Endzeit die Sehnsucht nach dem wiederkehrenden Christus wachsen.66 Aber man darf sich von dieser Sehnsucht nicht verführen lassen. Alles, was Jesus anspricht, haben wir in Teilen schon erlebt: In der Wüste agierte der falsche Messias von Apg 21,38; in der Wüste Nordafrikas sammelte sogar der angeblich messianische Mahdi der Muslime Ende des 19. Jh.s sein Heer; in den Geheimgemächern Indiens bereitete sich um 1970 der angeblich schon wiedergekommene Christus auf sein Werk vor. Wie viel liegt noch vor uns? Jedenfalls will Jesus nicht, dass sich seine Gemeinde vor seiner Wiederkunft an einen bestimmten „Sammlungsort“ begibt. Die Verse 27 und 28 gehören eng zusammen. Ihre Botschaft lautet: Die Wiederkunft Jesu wird von allen Menschen wahrgenommen. Es wird dann keine Diskussionen mehr darüber geben, ob er es ist oder nicht. Mt 24,30 und Offb 19,11ff unterstreichen dies. Zum Einzelnen: Der Blitz (ἡ ἀστραπή [hē astrapē]) wird gewöhnlich auf die uns vertraute Wettererscheinung gedeutet. Im biblischen Sprachgebrauch 65 Vgl. Carson 503. 66 Schlatter 357.

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wird seine Lichtkraft und seine Schnelligkeit in den Vordergrund gestellt (Ps 77,19; 97,4; Hab 11,8; Mt 28,3; Lk 10,18; 17,24; Offb 4,5; 8,5).67 Aber auch dass er aus dem himmlischen Bereich kommt, ist für die Deutung von Mt 24,27 wichtig.68 Denn die Wiederkunft Jesu geschieht ebenfalls aus dem himmlischen Bereich (Mt 24,30; 1Thess 1,19; Offb 19,11ff ). Nun findet sich in Mt 24,27 eine weitere Aussage: Er geht vom Osten aus und leuchtet bis zum Westen. Das würde besser zur Sonne passen. In der Tat heißt ἡ ἀστραπή [hē astrapē] auch „der Strahl“, „der Schein“ (Lk 11,36).69 Möglicherweise hat also Jesus in Mt 24,27 an den Strahl der aufgehenden Sonne gedacht, der alles vom Osten bis zum Westen in sein Licht taucht. Aber beide Deutungen treffen sich im Hauptpunkt: Die Wiederkunft des Menschensohnes = Jesu bedarf keiner Diskussionen, um erst mühsam festgestellt zu werden, sondern ist unmittelbare Wahrheit und Realität für Gläubige und Ungläubige.70 Jesus untermauert das Gesagte durch ein Sprichwort: Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier (V. 28). ἀετοί [aetoi], sonst Adler, muss hier mit „Aasgeier“, Geier übersetzt werden.71 Worin liegt die Vergleichbarkeit mit der Wiederkunft? Nicht einmal das bleibt unsichtbar, was in der Wüste starb. Die Geier entdecken es mit Sicherheit und sind rasch zur Stelle. Umso weniger kann die universal so wichtige Gestalt des Menschensohnes unentdeckt bleiben, wenn er kommt!72 Zur Bildhaftigkeit unseres Wortes vgl. Hi 39,27ff; Offb 19,17f. Die Prophezeiung der Wiederkunft in den Versen 29-31 ist das Ziel, auf das die gesamte Endzeitrede Mt 24,4-31 zuläuft. Von daher versteht man das Gewicht, das der Wiederkunft/Parusie im NT theologisch zukommt.73 Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Tage (V. 29), das heißt nach der letzten, schwersten Bedrängnis in der Antichrist-Zeit, treten kosmische Veränderungen ein: 1) die Sonne wird sich verfinstern, also Jes 13,10 erfüllt, 2) der Mond verbirgt sein Licht, wieder in Erfüllung von Jes 13,10, 3) die Sterne werden vom Himmel fallen, in Erfüllung von Jes 34,4. Jesus fasst diese und andere Vorgänge zusammen in dem Satz die Kräfte des Himmels Vgl. W. Foerster, Art. ἀστραπή, ThWNT, I, 1933, 502f. Vgl. Fiedler 366. So Foerster a.a.O. 502; Bauer-Aland 236. Ebenso Carson 503; Luz III 431; Zahn 669. Bauer-Aland 36. Anders Fiedler 366: Die Geier sind die Falschmessiasse und Falschpropheten, ihr Auftreten bezeugt die bevorstehende Parusie. Wieder anders Tasker: Die Adler sind die Legionsadler, das Aas das gefallene Jerusalem (S. 230). Schniewind 244: „die Erklärung fraglich“. 73 Vgl. Bauer-Aland 1272 s.v. παρουσία.

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(wörtlich: der Himmel) werden erschüttert werden (σαλευθήσονται [saleuthēsontai]), vielleicht in Anlehnung an Hag 2,6.21. Aber nicht nur Jesaja und Haggai, sondern auch Hes 32,7f und Joel 2,10; 3,3ff; 4,15 enthalten solche Ankündigungen. Wie ist das alles zu verstehen? Jesus geht offensichtlich von einem chronologischen Ablauf der Endereignisse aus. Die Wiederkunft kann erst stattfinden, nachdem die letzte Bedrängnis eingetreten ist (μετὰ τὴν θλῖψιν [meta tēn thlipsin]). Das ist genau der Ablauf, von dem auch Paulus in 2Thess 2,1ff und Johannes in Offb 13–19 ausgehen. Sodann sieht Jesus die entsprechenden Aussagen in Jes 13; 34; Hes 32; Joel 2; 3; 4 und Hag 2 als noch nicht erfüllt an. Sie sollen erst noch erfüllt werden. Ferner hält der Schluss von V. 29 fest, dass es tatsächlich um kosmische, in der Schöpfung beobachtbare Ereignisse geht. Freilich sind geistliche Deutungen nicht ausgeschlossen,74 so wie Origenes in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium den „Blitz“ in V. 27 auf die göttliche Wahrheit und den Menschensohn in V. 30 auf das „Wort der Wahrheit“ deutete.75 Aber im Vordergrund muss zunächst die reale, kosmische Deutung stehen.76 Das verlangt auch Offb 6,12ff. Halten wir schließlich fest: Weder die Sonne noch der Mond noch der Himmel verschwindet. Die alte Schöpfung ist ebenso wie in Offb 6,12ff noch da. Aber sie ist in Unruhe geraten, wankt, wird erschüttert, ist für die Menschen nicht mehr berechenbar.77 Auf diese Weise hat Jesus V. 3 beantwortet: was ist das Zeichen für deine Wiederkunft? Mit der Annahme, es handle sich eben um ein „Szenarium … der apokalyptischen Literatur“,78 exegesieren manche Ausleger an Mt 24,29 vorbei. Sie sind nicht mehr in der Lage zu sagen, was denn nun in unserer Geschichte kommen wird, und spekulieren nur darüber, was sich Matthäus und seine Gemeinde gedacht haben könnten. Die dogmatische Spitze dieser Abkehr vom Text wird beispielsweise von Wolfgang Trillhaas so formuliert: „Dauer der Welt und künftiges Schicksal der Erde sind naturwissenschaftliche Fragen und als solche aus der Zuständigkeit der Theologie zu entlassen.“79 Man stelle sich einmal vor, ein Pfarrer würde in der Gemeinde eine solche Antwort geben, oder ein Christ in einem interreligiösen Symposium!

74 Das gilt umso mehr, als die „Kräfte“ zugleich personhafte Mächte darstellen. Vgl. BauerAland 418; Maier II 289f. 75 Vgl. Texte KV IV 376. deutet schon Dan 8,10 geistlich? 76 Gegen France 344, der dies für „quite inappropiate“ hält. Wie wir Carson 505. 77 Vgl. σείω in Joel 2,10; Hag 2,6.21. 78 So Fiedler 367. 79 Trillhaas 476.

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Jesu nächste Aussagen sind wiederum durch eine heilsgeschichtliche Chronologie bestimmt. Zweimal taucht in V. 30 das καὶ τότε [kai tote] (Und dann) auf. Nach Bedrängnis und kosmischen Erschütterungen wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen. Am Himmel: Das verbindet es mit V. 27, aber auch mit 1Thess 1,10 und Offb 19,11. Die Lösung der grauenvollen Zustände auf der Erde kann nur vom Himmel her erfolgen. Aber worin besteht das Zeichen? Ist es ein „Flammenglanz am Himmel“?80 Ist es das Kreuz?81 Ist es der wiederkommende Jesus selbst? Schniewind entschied sich für das zuletzt Genannte, unter Berufung auf Offb 1,7.82 Auch wir entscheiden uns für die Deutung des Zeichens auf Jesus selbst (vgl. Lk 2,34; 11,30).83 In jedem Fall wird er als der Christus erkannt, der in Macht und Herrlichkeit wiederkommt. Die Reaktion der Völker der Erde überrascht uns zunächst: Und dann werden sich alle Völker der Erde an die Brust schlagen (κόψονται [kopsontai]). Dann, das heißt nach Erblicken des Zeichens, das niemand im Unklaren darüber lässt, um wen es sich handelt. Alle Völker: Das umfasst die gesamte Menschheit. Vielleicht hat φυλή [ phylē] eher noch wie ἔθνος [ethnos] den Akzent der Nähe, des heimatlichen Volkes. κόπτω [koptō], sich an die Brust schlagen, ist Ausdruck der Betrübnis, der schmerzhaft einschneidenden Trauer. Der Menschensohn als Grund der Trauer? Ja, wenn er nicht als Erlöser empfangen, sondern als Richter erlebt wird. Der Menschensohn, der hier kommt, ist ja von den Menschen verworfen worden (Mt 17,22; 21,42). Nicht die Qual einzelner Sünden steht hier im Vordergrund, sondern die elementare Erkenntnis der christusfernen Menschen: „Ich habe falsch gelebt.“ Und sie werden den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen mit großer Kraft und Herrlichkeit: Zu Sacharja (12,10ff ) tritt jetzt Daniel (7,13) hinzu, um den Vorgang der Wiederkunft zu beschreiben. Jede Einzelheit ist hier wichtig: Jesus ist der Menschensohn von Dan 7,13,84 gerade die vorher Nichtgläubigen werden ihn mit ihren normalen Augen sehen (ὄψονται [opsontai]). Sie sehen ihn als den Kommenden (ἐρχόμενον [erchomenon]), das heißt als den Messias von Ps 118,26; Mt 11,3; 21,9. Er wird getragen von den Wolken des Himmels wie der Men-

80 Vgl. Schniewind 244. 81 Vgl. Schniewind a.a.O. So eine ganze Reihe von Kirchenvätern: Johannes Chrysostomus (Texte KV IV 553); Johannes Damascenus (Texte KV II 220); nach Sand 489 auch Cyrill von Jerusalem; Hieronymus. 82 Schniewind a.a.O. 83 Ablehnend K. H. Rengstorf, Art. σημεῖον usw., ThWNT, VII, 1964, 236. Wie wir außer Schniewind auch Luz III 434f; H. Traub im Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, 522. 84 Gegen Bultmann, Gesch, 128. Mit Cullmann 159.

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schensohn von Dan 7,13, ja wie Gott selbst (Ps 104,3).85 Er kommt nicht mehr als der Gedemütigte, Leidende und Bespuckte wie während seines Erdenlebens, sondern mit großer Kraft und Herrlichkeit, wie er es selbst in Mt 16,27; 19,28 angekündigt hatte. Mt 24,30 wird dann in Offb 1,7 weithin wiederholt. Wir sind hier an der Wurzel der neutestamentlichen Christologie. Denn sie hat – wie Dan 7,13f; Joh 3,13 klarlegen und Phil 2,6ff nachvollzieht – ein Doppeltes in sich, gewissermaßen eine Christologie in zwei Akten: 1) die Herabkunft des Gottessohnes in Niedrigkeit zu unserer Erlösung, und 2) die Wiederkunft des Gottessohnes in Macht und Herrlichkeit zu Gericht und Welterneuerung. Schließlich notieren wir, was in V. 30 nicht steht: Irgendein Ort, an dem der Wiederkommende eintrifft. Weder der Ölberg, noch Jerusalem, noch der Hermon, noch die Wüste wird hier erwähnt. Das ist auch gar nicht möglich. Denn alle Geschehnisse von V. 30 und 31 finden am Himmel bzw. in der Himmelswelt statt. Und in V. 23-28 hat Jesus alle irdischen Ortsangaben für falsch erklärt. Der Wiederkommende zieht nicht in einen irdischen Palast, um dort in der Art der irdischen Könige zu regieren. Er regiert von oben her, und deshalb wird ihm die noch auf Erden lebende Gemeinde „in Wolken in die Luft entgegengerückt werden“ (1Thess 4,17). Und er wird seine Engel senden mit großer Posaune, und sie werden seine Auserwählten sammeln aus den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum anderen (V. 31): Der erste Gedanke des Wiederkommenden gilt den Seinen. Die Auserwählten sind wie in V. 22 und 24 die Erlösten, die endgültig Geretteten. Es bleibt bewegend, dass Jesus nicht in erster Linie vom Sieg über die Feinde spricht (vgl. dagegen Offb 19,11ff ), sondern eben von der Vereinigung mit seiner Gemeinde. Zum Einzelnen: Sein Wiederkommen mit Kraft und Herrlichkeit (μετὰ δυνάμεως καὶ δόξης [meta dynameōs kai doxēs]) schließt ein, dass er von seinen Engeln begleitet wird. Das Possessivpronomen sein bedeutet im biblischen Zusammenhang nicht, dass diese Engel von den Engeln Gottes unterschieden werden könnten. Sie bleiben zugleich Engel des Vaters, über die er als Gottes Sohn verfügen kann (Mt 28,18; 26,53). Zur Engelbegleitung des wiederkommenden Jesus vgl. Mt 13,41; 16,27; 25,31; 1Thess 4,16; Offb 19,14. Zur Formulierung er wird seine Engel senden vgl. Mt 13,41. Die große Posaune (σάλπιγξ μεγάλη [salpinx megalē]) ordnet Luz dem „Tradi-

85 νεφέλη ist hier „nicht die natürliche Wolke“, sondern wohl als Lichtwolke Zeichen des göttlichen Erscheinens. H. Traub im Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, 522.

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tionswissen“ der Leser und Leserinnen zu.86 Sie wird dadurch zu einem apokalyptischen Ornament.87 Die Posaune geht jedoch zurück auf die beiden ‫[ ֲחצוְֹצֹרת‬chᵃzōzᵉrot] von Num 10,1ff.88 Dort dienen diese beiden Posaunen 1) dazu, die ganze Gemeinde zu versammeln, 2) der Anrufung Gottes im Krieg und beim Dankfest. Später konnte dann die ‫[ ֲחֹצְצָרה‬chᵃzozᵉrāh] durch den ‫[ שׁוָֹפר‬schōphār] ersetzt werden, wobei vor allem die große Posaune (‫[ שׁוָֹפר ָג ּדוֹל‬schōphār gādōl]) von Jes 27,13 als Prototyp der großen Posaune bei Jesus und den Aposteln erscheint. Wenn es um die Wiederkunft Jesu geht, dann dient die himmlische „große Posaune“ denselben beiden Zwecken, die schon in Num 10,1ff genannt sind: 1) Sie soll die Gemeinde der Erlösten sammeln; 2) sie soll die Unterwerfung der Gottesfeinde unter Christus signalisieren. Beides ist unauflöslich mit der Wiederkunft Jesu verbunden. In Mt 24,31, steht das sammeln im Vordergrund. Siehe auch 1Kor 15,52; 1Thess 4,16; Offb 8,2ff. In Mt 13,41 und 13,49 sammeln die Engel des Christus zunächst die Bösen. Hier, in Mt 24,31, sammeln sie die Erlösten. Beides muss bei der Wiederkunft geschehen. Die Sammlung von Mt 24,31 geschieht aus den vier Winden. Gemeint sind die „vier Wind- oder Himmelsrichtungen“.89 Offensichtlich bezieht sich diese Definition auf die Erde (vgl. Offb 7,1), sodass der Sinn ist: Aus allen Gegenden der Erde wird jetzt die noch lebende Gemeinde gesammelt. So hat es auch Paulus in 1Kor 15,50ff; 1Thess 4,15ff verstanden. τὸ ἄκρον [to akron] kann die äußerste Grenze oder das Ende bezeichnen, ἀπ᾿ ἄκρων οὐρανῶν ἕως τῶν ἄκρων αὐτῶν [ap’ akrōn ouranōn heōs tōn akrōn autōn] ist von einem Ende des Himmels bis zum anderen.90 Hier wird man an die verstorbenen Gläubigen zu denken haben, an „die Toten, die in Christus gestorben sind“ (1Thess 4,16f ). Die ganze Schöpfung also, Himmel und Erde, wird durchzogen von einer eschatologischen Sammlungsbewegung.91 Wieder wird kein Ort des Geschehens genannt.92 Das bedeutet, dass die Auserwählten bei Christus am Himmel gesammelt werden. Vergleichspunkt ist die irdische Sammlung des zerstreuten Israel in Deut 30,3f.

86 87 88 89 90 91 92

Luz III 435. Beare 471: „imagery of apocalyptic“. G. Friedrich, Art. σάλπιγξ usw., ThWNT, VII, 1964, 75ff. Bauer-Aland 128. Bauer-Aland 65; BDR § 141,4. Carson 506 deutet auch dies auf die Erde. Ganz anders France 345, der auf die Weltmission deutet. Ganz anders Zahn 671,15: Es sei „ein Ort auf Erden als Sammelpunkt gedacht“.

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IV Zusammenfassung 1. Mt 24,3-31 enthüllt sich zum Schluss als wohldurchdachte, zielgerichtete Darstellung der kommenden Zeit. Sie geht in Teilen auf Israels Katastrophe 70 n.Chr., in größeren Teilen jedoch auf die Zukunft der Gemeinde und der Welt. Zielpunkt ist die Wiederkunft Jesu. Erst jetzt wird bei Reflexion der früheren Aussagen Jesu klar, dass wir es mit einer Christologie in zwei Akten zu tun haben: dem ersten Kommen Jesu zur Erlösung durch seine Passion, und dem zweiten Kommen Jesu in Kraft und Herrlichkeit zum Gericht und zur Weltvollendung. 2. Ist Mt 24,3-31 ein Zeugnis der „Naherwartung“? Bei der Beantwortung dieser Frage kann gegen Luz93 nicht „der Eindruck“ der Leser und Leserinnen entscheidend sein. Entscheidend ist vielmehr der Inhalt der Endzeitrede selbst. Und da kann angesichts der Vielfalt der angekündigten Ereignisse, angesichts der erwarteten Weltmission, angesichts der universalen Bedeutung des Evangeliums für alle Völker (V. 9.14.30), angesichts des Rufes zum Ausharren, vor allem aber der wiederholten Warnung es ist noch nicht das Ende (V. 6.8) kein Zweifel sein, dass Mt 24,3ff gerade nicht das Dokument einer Naherwartung, sondern das Dokument einer Zukunftsschau mit langem Atem ist. 3. Im Blick auf die früher geäußerten Zweifel am jesuanischen Ursprung unserer Verse94 genügt der Hinweis, dass heute mit guten Gründen verstärkt an der Historizität festgehalten wird.95 Im Übrigen ist Mt 24,3-31 kongruent mit den sonstigen Ankündigungen Jesu im Evangelium. 4. Die Kernfrage ist jedoch: Was sagt uns Mt 24,3-31 heute? Ulrich Luz überschreibt einen wichtigen Abschnitt seiner Auslegung mit „Heutiger Sinn“.96 Das Endresultat seiner Überlegungen fasst der Satz zusammen: Es handele sich hier um eine „für die meisten heutigen Menschen „mytologische“ Sprache, die so nicht wiederholt werden kann“.97 Dabei beruft er sich ausdrücklich auf Rudolf Bultmanns Alpirsbacher Vortrag von 1941, der die Überschrift trug: „Neues Testament und Mythologie“. Dort sagte Bultmann unter anderem – und Luz zitiert ihn hier –: „Die mythische Eschatologie ist im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief und – wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist – wei93 94 95 96 97

Luz III 430. So bei Bultmann, Gesch, 129. Heute noch Beare 463.469. So Hengel-Schwemer 537. Luz III 437. Luz III 438.

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terlaufen wird.“98 Luz’ Kommentar dazu: „Ich zitiere diesen klassischen Text, weil ich ihn … nach wie vor für voll gültig halte.“99 Aber können wir auf einen 1941er Text rekurrieren? Einen Text überdies, der in einem Kontext vieler falscher Annahmen (angebliche Naherwartung des NT, Benutzung ungeklärter „mythologischer“ Begriffe, die Erwartung, dass der Mensch nicht mehr an Wunder glaube u.a.) steht? Man sollte ja nicht übersehen, dass Bultmanns Position ganz rasch von Fachkollegen abgelehnt wurde (z.B. Julius Schniewind, Friedrich Brunstäd, Helmuth Schreiner).100 Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass sich die moderne nordatlantische Exegese mit solchen – wie man sie nennt – „apokalyptischen“ Texten schwertut, und dass auch viele Menschen unserer Tage nur schwer einen Zugang zu ihnen finden. Woran liegt das? Eines der Hindernisse für ein angemessenes Verständnis liegt in der Begrifflichkeit, mit der man apokalyptische Texte behandelt. Man spricht von einem apokalyptischen „Szenarium“,101 einem typischen „Stil der apokalyptischen Rede“, in der „eine surrealistische Welthaftigkeit himmlischer Vorgänge“ zu Hause ist.102 Mit einer solchen Begrifflichkeit distanziert man sich schon von den betreffenden Texten. Ein weiteres Hindernis liegt in der Schwierigkeit, sich ein „Eingreifen Gottes … in unsere durch Raum und Zeit geschlossene Geschichte“ vorzustellen.103 Seit Spinoza, seit dem Deismus und der dadurch angestoßenen Aufklärung besteht diese Schwierigkeit. Dass Texte wie Mt 24,4-31 das vollkommene Gegenteil dieser Auffassungen vertreten, nötigt zu einer Entscheidung: Welche Auffassung besitzt die größere Relevanz für unser Leben? Welche hat einen Wahrheitsvorsprung? Ein drittes Hindernis hat vor rund 150 Jahren Heinrich Corrodi in Zürich formuliert: In unserer Gegenwart sei „der Glaube an die Gabe der Prophezeyung erloschen“.104 Wo aber der prophetische Blick in die Zukunft so grundsätzlich in Zweifel gezogen wird, da bleibt nur noch der Ausweg, mit vaticinia ex eventu (künstlich in die Zeit vor den Ereignissen verlegten Aussagen) zu rechnen.

98 Vgl. Bultmann, NuM, 18. 99 Luz III 438,182. 100 Vgl. den instruktiven Aufsatz von R. Riesner. Die erste Entmythologisierungsdebatte – eine Kontroverse innerhalb der Bekennenden Kirche, ThBeitr 46, 2015, 111-121. 101 Fiedler 367. 102 Letzteres beides bei Trillhaas 449. 103 So Luz III 437f. 104 Vgl. Maier, JO, 464.

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Ein tiefer Spalt, ein wirklich „garstiger Graben“, tut sich auf diese Weise zwischen kritisch-moderner Exegese und dem überlieferten Glauben der Christenheit auf. Die getroste Zuversicht eines Johannes Chrysostomus, dass „Christus so öffentlich kommt“,105 findet in dieser kritisch-distanzierten Sicht keinen Raum mehr. Wenn Bartholomäus Ringwaldt 1586 nach der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Sequenz „Dies irae, dies illa“ sein Lied dichtete: „Es ist gewisslich an der Zeit, dass Gottes Sohn wird kommen / in seiner großen Herrlichkeit, zu richten Bös und Fromme“ (EG 149), und wenn in zahllosen Gottesdiensten zum Ende des Kirchenjahres dieses Lied angestimmt wird, dann erscheint es nicht nur als ein falscher Ton in kritisch-exegetischer Sicht, sondern sogar als eine in Noten gesetzte falsche Lehre. Noch 1982 hat der Evangelische Erwachsenenkatechismus seine Leserinnen und Leser gelehrt, Jesus Christus werde „am Ende dieser Zeit und Welt so kommen, daß alle ihn erkennen. Er wird die Welt richten.“106 Hat er damit „die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich“ gemacht?107 Es gibt momentan keine Möglichkeit, diese Gegensätze zu überblicken. Jeder Kommentar steht deshalb vor der Entscheidungsfrage: Akzeptieren wir Jesu Sicht, wie sie in Mt 24,4-31 dargelegt ist, oder suchen wir in seinen Worten einen mythologiefreien Sinn, der „unserer modernen Wahrheitserkenntnis“ – was immer das sei – entspricht?108 Sehen wir zu, was bei Ulrich Luz am Ende von Mt 24,4-31 übrig bleibt. Es sind zwei Erkenntnisse: 1) Die „apokalyptischen Zukunftsaussagen“, wonach zum Beispiel der „Menschensohn … raumschiffähnlich in Erscheinung“ tritt,109 sind uns nicht mehr zumutbar. 2) Man kann allerdings die apokalyptische Schwarzmalerei so „gegen den … Strich“ bürsten, dass „erstaunliche Handlungspotentiale“ freigesetzt werden.110 Welche das sind, wird nicht ausgeführt. Das, was hier übrig bleibt, ist mehr als dürftig. Es teilt auch kaum noch Identitätsmerkmale mit Mt 24,4-31. Demgegenüber ist das, was Jesus zu sagen hat, in sich stringent und konkret gefüllt: Es kommen Verführer – die Weltgeschichte wird geprägt von Krieg, Streit, Hunger und Erdbeben – die Christen werden verfolgt – ja verfolgen sich gegenseitig – die Gesetzlosigkeit und Lieblosigkeit breitet sich aus – aber 105 106 107 108 109 110

Texte KV IV 554 aus seinem Matthäus-Kommentar. Ev Erw Kat 405. So Bultmann a.a.O. im Blick auf die traditionelle kirchliche Lehre. So Trillhaas 463. Luz III 437f. Luz III 441.

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treue Glaubensnachfolge und Mission bleiben ein leuchtendes Zeugnis – am Ende steht eine große Bedrängnis – doch Gott bringt die Seinen durch – und die herrliche Wiederkunft Christi führt die Glaubenden ans Ziel des ewigen Lebens. Dazwischen ist die Prophetie über Israels furchtbare Katastrophe von 70 n.Chr. eingeschaltet. 5. Eine Frage, die für die wissenschaftlichen Kommentare erstaunlicherweise kaum existiert, ist die nach der bisherigen Erfüllung dieser Prophetie. An sich liegt es ja doch nahe, eine solche Frage zu stellen, nachdem zweitausend Jahre vergangen sind, seit Jesus seine prophetischen Ankündigungen machte. Die Antwort kann nur lauten: Mit zwei Ausnahmen hat sich bisher alles Vorausgesagte erfüllt. Die beiden Ausnahmen sind die große Bedrängnis am Ende der Zeiten und die Wiederkunft Christi. Beides steht uns Mt 24,4-31 zufolge noch bevor.

8.3 Gleichnisse Jesu von der Wiederkunft, 24,32–25,46 Vorbemerkung In Mt 24,32–25,30 sind offenbar solche Gleichnisse planvoll zusammengestellt, die die Wiederkunft Jesu zum Thema haben. Es handelt sich hier um insgesamt sechs Gleichnisse. Man kann jedoch überlegen, ob man auch Mt 25,31-46 mit hinzunehmen soll.111 Aber Mt 25,31-46 ist eigentlich kein Gleichnis112 und bleibt deshalb besser als Größe für sich stehen.

8.3.1 Das Gleichnis vom Feigenbaum, 24,32-36

I Übersetzung 32 Lasst euch den Feigenbaum zum Gleichnis dienen: Wenn sein Zweig schon zart wird und die Blätter hervorteibt, dann wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. 33 So sollt auch ihr, wenn ihr das alles seht, wissen, dass es nahe vor der Tür ist. 34 Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. 35 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 36 Von jenem Tag aber und von jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater. 111 Man käme dann wie in Mt 13 auf 7 Gleichnisse, die Matthäus evtl. unter der 7-Zahl zusammengestellt hat. Vgl. Maier II 299. 112 Auch für Jeremias, Gleichnisse, 204 ist es kein gewöhnliches Gleichnis, sondern ein Maschal im Sinne von „apokalyptische Offenbarungsrede“.

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II Struktur Die Abgrenzung dieses Gleichnisses ist nicht ganz einfach. Gehört V. 36 noch dazu? Oder schon zum Folgenden? Oder sollte man gar V. 32-44 zusammennehmen? Bibelübersetzungen und Kommentare praktizieren alle drei Möglichkeiten. Für uns ist die Überlegung entscheidend, dass das Thema von der Nähe der Wiederkunft am ehesten zu den Aussagen über Tag und Stunde passt.113 Deshalb ziehen wir V. 36 noch zum Kontext von Mt 24,32ff. Mit dem Blick auf Noah und die Arche (V. 37ff ) sind wir aber schon bei einem anderen Gleichnis. Mt 24,32-36 zerfällt in zwei Teile: 1) Das Gleichnis im engeren Sinn114 (V. 32-33); 2) Lehraussagen, die sich daran anknüpfen (V. 34-36). Bei den Seitenreferenten (Mk 13,28-32; Lk 21,29-33) hat auch Markus den Ausspruch von Mt 24,36, bei Lukas fehlt er.

III Einzelexegese Die Gleichnis-Einleitung ist zugleich eine Aufforderung (V. 32): Lasst euch den Feigenbaum zum Gleichnis dienen (Ἀπὸ δὲ τῆς συκῆς μάθετε τὴν παραβολήν [Apo de tēs sykēs mathete tēn parabolēn]), wörtlich: „vom Feigenbaum aber lernt das Gleichnis.“ Es geht also um einen Lernprozess. Dabei fällt auf, dass der Evangelist keine genauere Einleitung gebildet hat wie z.B.: „Darauf sagte er (Jesus) zu seinen Jüngern …“. Vom Zusammenhang her ist jedoch klar, dass die Jünger, die nach V. 3 auf dem Ölberg saßen, angesprochen sind. Ob sie sich auch jetzt noch auf dem Ölberg befinden, muss offenbleiben. Der Hinweis auf den (Artikel) Feigenbaum legt es immerhin nahe. Wenn sein Zweig [pädagogische Einzahl] schon zart wird und die Blätter hervortreibt, dann wisst ihr, dass der Sommer nahe ist: Das Zeichen ist untrüglich. Den Naturvorgang beschreiben Zohary und Jeremias so: Die Blätter „werden zu Beginn des Winters abgeworfen und treiben im zeitigen Frühjahr aus“115; „Der Feigenbaum unterscheidet sich … dadurch von anderen Bäumen Palästinas …, daß er im Winter sein Laub verliert und durch seine hervorstechenden kahlen Zweige wie völlig erstorben aussieht, so daß man an ihm die Wiederkehr des kreisenden Saftes besonders deutlich beobachten kann“.116

113 Vgl. die Überschrift bei Aland, Syn, 405: „Der Zeitpunkt der Wiederkunft“. 114 Auch Jeremias, Gleichnisse, 119.242 zählt nur Mt 24,32f zum Gleichnis vom sprossenden Feigenbaum. 115 Zohary 58. 116 Jeremias, Gleichnisse, 120. Vgl. Hld 2,13; Dalman 1.

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Hinter dem Naturvorgang, der hier wie so oft als Gleichnis dient, werden Begriffe sichtbar, die Flusser als „Gleichnisbilder“ bezeichnet117 und die in der Verkündigung Jesu eine ganz bestimmte Bedeutung haben. So ist der Sommer (τὸ θέρος [to theros]) eng verbunden mit der Ernte (ὁ θερισμός [ho therismos]), das heißt mit der Zeit der Weltvollendung und des Gerichts (vgl. Joh 4,35 sowie Mt 9,37f; 13,30.39; Mk 4,29; Lk 10,2; Offb 14,15). So gehört das nahe (ἐγγύς [engys]) zusammen mit der Botschaft vom Gottesreich (Mt 3,2; 4,17), von der Parusie (Jak 5,8) und vom Ende aller Dinge (1Petr 4,7). In einem solchen Zusammenhang steht es auch hier. Ja, auf diesem nahe liegt ein spezieller Akzent des Gleichnisses. Denn Jesus will offensichtlich verdeutlichen, woran man die Nähe der Endereignisse erkennen kann.118 Insofern bildet Mt 24,32-36 einen Teil seiner Antwort auf die Frage nach den Zeichen, die in V. 3 gestellt war. Doch was bedeutet der Feigenbaum? Man kann ihn als bloßes Mittel der Veranschaulichung betrachten und braucht dann nicht weiter zu fragen. Stutzig macht jedoch die Verfluchung des Feigenbaums, von der vor Kurzem berichtet wurde (Mt 21,18ff ). Dort symbolisierte der Feigenbaum Israel. Stutzig machen weiter verschiedene Aussagen in dem von Jesus immer wieder herangezogenen AT, die den Feigenbaum in eine enge Verbindung mit Israel und der Heilszeit bringen (1Kön 5,5; Joel 2,22; Mi 4,4). Unseres Erachtens liegt es also nahe, auch in Mt 24,32 über den bloßen Naturvorgang hinaus den Feigenbaum auf Israel zu deuten. Auf dieser übertragenen Ebene besagt also Mt 24,32: Das wie erstorben wirkende Israel wird neu erstehen. Gerade darin liegt ein Zeichen für die Nähe des Endes. Der kleine V. 33 ist so schwierig, dass jeder Ausleger unsicher bleibt, ob er das Richtige getroffen hat: So sollt auch ihr (οὕτως καὶ ὑμεῖς [houtōs kai hymeis]), wenn ihr das alles seht, wissen, dass es nahe vor der Tür ist (ὅτι ἐγγύς ἐστιν ἐπὶ θύραις [hoti engys estin epi thyrais]). Die General-Aussage ist klar: So wie die Triebe am Feigenbaum den Sommer melden, so sollen auch die Jünger aus bestimmten Ereignissen den Schluss auf die Nähe der Vollendung der Heilsgeschichte ziehen. Doch dann erheben sich drei Fragen: 1) Was heißt wenn ihr das alles119 seht (ὅταν ἴδητε πάντα ταῦτα [hotan idēte panta tauta])? Sicherlich gehören die Ereignisse von V. 29-31 nicht zu das alles, denn V. 29-31 sind schon Teil des Sommers.120 Versteht man ihr streng von 117 Flusser 318,53. 118 Vgl. Sand 496. 119 Die Reihenfolge bei πάντα ταῦτα wechselt in den Handschriften, aber der Wechsel hat schwerlich Gewicht. Vgl. BDR § 292,3. 120 Sonst wäre Matthäus „illogical“ (Carson 507).

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den dasitzenden Jüngern, dann können sie noch den „Gräuel der Verwüstung“ und Israels Katastrophe von 70 n.Chr., also das in V. 15-20 Geschilderte, sehen. So deutet beispielsweise Tasker auf den Untergang Jerusalems.121 Aber ist eine Einschränkung auf Mt 24,15-20 statthaft? Zahn geht davon aus, dass Jesu damalige Jünger noch „die vorbereitenden Anfänge des Endes“ erlebt haben, und dass Jesus die Anfänge mit der ganzen Fortentwicklung zusammenfassen und als das alles bezeichnen konnte. Die Wendung das alles wäre also prophetisch-proleptisch. Sand122 sieht in unserem Vers einen Ausdruck der Naherwartung. Luz lehnt eine Festlegung ab und konstatiert stattdessen, dass „der Text die Assoziationsmöglichkeiten“ frei lasse.123 Unseres Erachtens gibt es zwei Möglichkeiten der Auslegung, die sich ausreichend begründen lassen: a) das alles bezieht sich auf die Wiederbelebung des Feigenbaumes = Israels, sodass Israels Wiedererstehung eines der Haupt-Kennzeichen des nahenden Endes wäre; b) mit ihr ist die gesamte künftige Gemeinde gemeint, nicht nur die auf dem Ölberg sitzenden Jünger, sodass dann, wenn die Gemeinde alle in V. 4-28 erwähnten Ereignisse erlebt hat, mit der angemessenen Vorsicht auf die Nähe der Wiederkunft und des Weltendes geschlossen werden kann.124 Zu berücksichtigen ist aber das Folgende. 2) Die zweite Frage lautet: Wer ist das Subjekt der Worte er/es ist nahe vor der Tür? Jeremias antwortet fast enthusiastisch: „Der Messias!“125 Viele übersetzen: dass er nahe vor der Tür ist. Hätte Jesus gesagt, dass „der Menschensohn“ vor der Tür sei (vgl. V. 30f ), dann wäre dies klar. Doch das nächststehende Subjekt, das nach dem jetzigen Text infrage kommt, ist eben πάντα ταῦτα [ panta tauta] (das alles), und deshalb liegt die neutrische Fassung, dass es nahe vor der Tür ist, mindestens genauso nahe. Da auch der Kontext stärker auf Ereignisse als auf Personen abhebt, bevorzugen wir die Fassung, dass es (neutrisch) nahe vor der Tür ist.126 3) Das Unbestimmtheitselement in der Aussage es ist nahe vor der Tür, fordert Respekt. Was ist dieses nahe vor der Tür?127 Sprachlich und sachlich sind wir hier in größter Nähe zu dem ἤγγικεν [ēngiken] von Mt 3,2 und 4,17. So wie dort noch große menschliche Zwischenräume zwischen der Ankündigung und dem Erreichen des Zieles liegen, so umschließt das nahe vor der Tür unter Umständen beträchtliche Zeiträume. 121 122 123 124 125 126 127

Tasker 231. Sand 496f. Luz III 443. Vgl. C.-H. Hunzinger, Art. συκῆ usw., ThWNT, VII, 1964, 757. A.a.O. 119. Bestätigt durch Lk 21,31, wo das Reich Gottes Subjekt der Aussage ist. Vgl. BDR § 141,8.

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Nahe ist es nach Gottes Uhr, nicht unbedingt nach menschlicher Uhr. Man vgl. den Kampf des Paulus und des Petrus mit den Zeitvorstellungen der Gemeinde (2Thess 2,1ff; 2Petr 3,3ff ), aber auch das ähnliche Ringen im 1. Klemensbrief (1Klem 23,3f ).128 Der nächste Vers ist wieder schwierig und umstritten: Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht (V. 34). γενεά [genea] kann heißen: „Geburt“, „Nachkomme“, „Geschlecht“ im Sinne menschlicher Verwandtschaft, „Zeitalter“ oder „Zeitabschnitt“, „Zeitgenossenschaft“ oder „Generation“, „Art“ (Lk 16,8).129 In Mt 24,34 wird es gewöhnlich als „Generation“ verstanden.130 Im Hintergrund von ἡ γενεὰ αὕτη [hē genea hautē] steht das rabbinische ‫[ ַה ֹדּר ַה ֶזּה‬haddor hazzäh].131 Es sind vor allem drei Auffassungen,132 die für Mt 24,34 infrage kommen: 1) Die Deutung im Sinne der Naherwartung.133 Jesus würde dann sagen, dies alles = alles in V. 4-31 Prophezeite, werde noch in dieser Generation geschehen. Philologisch ist diese Deutung korrekt. Das Problem liegt an einer anderen Stelle: Kann jemand, der ständig vor der Naherwartung warnt (V. 6.8.22), der mit weltumspannenden Vorgängen (V. 14,21) und sehr langen Zeiträumen (Mt 25,5; 25,19) rechnet, nun mit einem Male sagen, dies alles werde noch in dieser Generation passieren?134 2) Eine Deutung, die in die Richtung Theodor Zahns geht.135 Für Zahn steht der Anbruch als pars pro toto auch schon für das Ganze. Wenn also diese Generation das in V. 4-31 Prophezeite wenigstens in den Anfängen erlebt, kann man mit Recht von ihr sagen, sie vergehe nicht, bis dies alles geschieht. Wir fügen hinzu, dass die Situation bei dem „in Kürze“ (ἐν τάχει [en tachei]) Offb 1,1 ähnlich liegt. 3) Eine Deutung, wonach ἡ γενεά [hē genea] im Sinne von „Art“ aufgefasst wird. Jesus würde dann sagen, dass das Geschlecht der Juden bis zum Ende der Weltgeschichte erhalten bleibt und deshalb dies alles erleben wird.136

128 129 130 131 132 133 134 135 136

Im AT vgl. Dan 12,6.7.11-12. F. Büchsel, Art. γενεά usw., ThWNT, I, 1933, 660f; Bauer-Aland 308. So Büchsel a.a.O. 661; Bauer-Aland a.a.O.; Luz III 442. Büchsel a.a.O. Von den anderen sei wenigstens France 346 erwähnt, für den sich alles um die Tempelzerstörung dreht. Sand 496f; Luz III 443; Hunzinger a.a.O. Auch Flusser 77 ist ganz entschieden dagegen, Jesus eine Naherwartung zuzuschreiben. Er formuliert Jesu Standpunkt so: „Benehmt euch nicht wie Schwärmer, und seid nicht Opfer einer unnützen Naherwartung!“ Zahn 673ff. Ähnlich Carson 507; Schlatter 361. Vgl. Maier II 296f. Luz, der diese Auffassung nicht teilt, nennt als ihre Vertreter u.a. Hieronymus, Anselm v. Laon, Albertus Magnus, Zwingli (III 444,19).

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Die beiden zuletzt genannten Deutungen sind am besten begründbar und sollten nebeneinander stehen bleiben. Unser Kommentar neigt jedoch der Deutung unter 3) zu. Die Liebe, die Jesus zu seinem Volk empfand, die Gedanken, die ihn gerade in der Passionswoche zu Israel bewegten (vgl. Mt 21,1ff.18ff.43; 23,37ff; 24,29.32f; Lk 19,41ff; 23,27ff ) – das alles legt für uns die dritte Deutung nahe.137 Weil es um die Gewissheit geht, ob seine Prophetie zutrifft, fügt Jesus in V. 35 und 36 noch zwei Aussagen an. Zunächst V. 35: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte (οἱ δὲ λόγοι μου [hoi de logoi mou]) werden nicht vergehen. Dass der jetzige Himmel und die jetzige Erde vergehen, hat Jesus schon in Mt 5,18 gesagt. Dieselbe Ankündigung finden wir bei Jesaja (51,6; 65,17; 66,22). Sie wird in der Johannesoffenbarung aufgenommen (Offb 21,1ff ). Ein Widerspruch zu Gen 8,22 besteht deshalb nicht, weil es dort nur heißt: „Solange die Erde steht …“ Ewigkeitscharakter haben dagegen seine Worte: meine Worte werden nicht vergehen. Wir werden sofort an Jes 40,8 erinnert: „Das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“ Als Gottes Sohn kann Jesus davon ausgehen, dass auch seine Worte „ewiglich bleiben“. Das heißt, sie haben auch für die neue Schöpfung Geltung und Kraft (vgl. Offb 19,13). Kein Rabbi, kein Lehrer seiner Zeit hätte das sagen können: meine Worte werden nicht vergehen. Die Apostel und alle folgenden christlichen Generationen haben dementsprechend die Worte Jesu mit größter Sorgfalt bewahrt (Lk 1,1-4; Joh 21,23; 2Kor 2,17). Die Bibelkritik hätte sich manche Wege sparen können, wenn sie Mt 24,35 ernster genommen hätte.138 Vers 36 macht auf eine Grenze aufmerksam, die Jesus auch in seiner eigenen Prophetie einhalten möchte: Von jenem Tag aber und von jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater. Kurz gesagt: Es gibt kein Datum für das Weltende oder die Wiederkunft. Jedes Datum, das man uns mitteilt, auch wenn dafür die Autorität des Heiligen Geistes in Anspruch genommen wird, ist falsch. Niemand weiß es (οὐδεὶς οἶδεν [oudeis oiden]): Daran scheiterte ein Michael Stifel mit dem 19. Oktober 1533,139 daran scheiterten die Zeugen Jehovas, daran scheiterten neuapostolische Kreise, ja sogar Bengel mit 1836. Apg 1,7 formuliert der Auferstandene sogar noch schärfer: „Es ist nicht eure Sache, Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, die der Vater in seiner Vollmacht festgesetzt hat.“ Tag und Stunde (ἡμέρα/ὥρα [hēmera/hōra]) bezeichnen schlechthin die 137 Auch Schniewind 246 deutet auf das „Volk“ Israel. 138 Vgl. Hengel-Schwemer 229. 139 Vgl. Maier, JO, 271.

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Zeit. Die Engel im Himmel sind nicht in alles eingeweiht.140 Das ergibt sich auch aus 1Petr 1,12. Der Akzent liegt jedoch auf den Worten auch nicht der Sohn (οὐδὲ ὁ υἱός [oude ho hyios]). Die Formulierung an dieser Stelle ist bemerkenswert. Erstens werden diese Worte von einem breiten Spektrum der Handschriften ausgelassen. Der Grund dafür liegt wohl in dem Bestreben, den Sohn = Jesus nicht herabzusetzen. Als lectio difficilior müssen wir diese Worte jedoch beibehalten. Zweitens überrascht die knappe Selbstbezeichnung der Sohn. Sie enthüllt seine Selbstgewissheit, die sich bis zum Kreuzestod nicht gewandelt hat (Mt 26,39ff.53.63f ). Sie erinnert aber auch an Mt 11,25ff und die Sohnes-Zusagen in Mt 31,7 und 17,5. Zum Sohn-Sein gehört für Jesus unabdingbar der Gehorsam und die Zuständigkeit des Vaters für bestimmte Entscheidungen (vgl. Mt 20,23; 26,39ff mit Mt 24,36). In Mt 24,36 findet sich deshalb weder eine Klage noch eine Forderung, sondern nur das vollständige Einssein mit Gott, dem Vater. Für die Christenheit bedeutet Mt 24,36 eine fortwährende Mahnung. Zahn hat recht mit der Bemerkung, Jesus stelle hier die „Regel auf, daß seiner Gemeinde ein solches Wissen versagt ist und sein soll“.141

IV Zusammenfassung 1. Das Gleichnis Mt 24,32f und die anschließenden Lehraussagen weisen die Gemeinde an, die Geschichtsereignisse zu beobachten und daraus ihre Schlüsse auf die Nähe von Wiederkunft und Weltvollendung zu ziehen. 2. Der Feigenbaum dient einerseits der Veranschaulichung bei diesem Schlussverfahren, symbolisiert aber in einer Doppelfunktion zugleich Israels Wiedererstehen, das dadurch selbst zum Zeichen wird. 3. Auch kritisch eingestellte Ausleger können sich vorstellen, dass Mt 24,32-36 grundsätzlich auf Jesus zurückgeht.142 4. Die angeschlossenen Lehraussagen enthalten Abklärungen und Mahnungen: Die Gewissheit der Aussagen Jesu wird hervorgehoben (V. 35), Israels bleibende Stellung im Heilsplan Gottes versichert (V. 34), jedes Datum und jede Datierung untersagt (V. 36), und mit der Unbestimmtheitsrelation („nahe“/„vor der Tür“/„dies alles geschieht“) sowohl die Offenheit im Blick auf die Zeitabläufe als auch die Bereitschaft für die jederzeitige Wiederkunft gestärkt.

140 Manche Stellen im Talmud lauten anders, z.B. b Sanh 38b. Vgl. Strack-Billerbeck I 961. 141 Zahn 674. 142 Beispiel: Bultmann, Gesch, 129f. Gegen jesuanischen Ursprung Hunzinger a.a.O.

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5. Am heftigsten diskutiert wird Mt 24,34. Wohl die Mehrheit der historisch-kritischen Exegeten ist davon überzeugt, dass dieser Vers die Naherwartung Jesu zum Ausdruck bringt. Demnach sage Jesus, „dies alles“ = Mt 24,431 werde noch in seiner Generation geschehen. Dabei habe er sich getäuscht: „irren ist wirklich menschlich!“143 Luz beschreibt, wie „Reimarus erkannte, daß sich der Text auf die Parusie bezieht … Er entdeckte damit die Naherwartung Jesu und zugleich, daß sich Jesus darin täuschte. Seine Erkenntnis ist heute zum Allgemeingut der neutestamentlichen Forschung geworden.“144 Krasser drückt sich z.B. Francis Wright Beare aus. Er schreibt: „it must be recognized that the entire apocalyptic framework of early Christian preaching is shattered beyond any hope of rescue.“145 Prinzipiell wäre es damit auch erlaubt, bezüglich der ἔσχατα [eschata] zu einer anderen Offenbarungsreligion überzugehen. Doch sind die Begründungszusammenhänge bei dieser kritischen Sicht manchmal seltsam. Wir nehmen als Beispiel noch einmal Luz. Er setzt das Matthäusevangelium in die Zeit nicht lange nach 80 n.Chr., etwa gegen 90 n.Chr.146 Nun soll Matthäus also seinen Leserinnen und Lesern sagen, „dies alles“: Kriege, Hunger, Erdbeben, Zerfall der Christenheit, Gesetzlosigkeit, Mission in allen Völkern der Erde, letzte Bedrängnis, kosmische Veränderungen und die Parusie Christi werde noch in der Generation des 30 n.Chr. hingerichteten Jesus kommen. In einer Fußnote tröstet Luz sich selbst und die Leserinnen/Leser: „Es ist wahrscheinlich, daß z.Z. des Mt einzelne Augenzeugen/innen Jesu noch am Leben waren.“147 Und für diese „einzelnen“ Achtzig- oder Neunzigjährigen ist also das Evangelium geschrieben? Besser wäre es doch, eine andere Deutung zu suchen, als solche Verstandesopfer zu verlangen. Wir haben oben zu begründen versucht, was Jesus unseres Erachtens in Mt 24,34 sagt: dass „dieses Geschlecht“ = Israel alles in Mt 24,431 Prophezeite erleben und nicht untergehen wird, so wie es am Ende nach Mt 23,39 auch dem wiederkommenden Jesus zujubeln wird: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“

143 144 145 146 147

Luz III 445. Luz III 444. Beare 473. Luz I 76. Luz III 443,11.

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8.3.2 Das Gleichnis von der Sintflut, 24,37-41

I Übersetzung 37 Denn wie die Tage Noahs waren, so wird es sein bei der Wiederkunft des Menschensohnes. 38 Denn wie sie in den Tagen vor der Sintflut aßen und tranken, heirateten und verheiratet wurden, bis zu dem Tage, an dem Noah in die Arche ging, 39 und nichts merkten, bis die Sintflut kam und sie alle wegriss: So wird es auch148 bei der Wiederkunft des Menschensohnes sein. 40 Dann werden zwei auf dem Acker sein. Einer wird angenommen, und einer wird zurückgelassen.149 41 Zwei werden an der Handmühle mahlen. Eine wird angenommen, und eine wird zurückgelassen.

II Struktur Hier sind die Abgrenzungen besonders schwierig. Unleugbar schafft das erste γάρ [gar] (V. 37) einen engen Anschluss an V. 36, sodass man V. 36 gut und gerne auch zu 37ff ziehen könnte.150 Andererseits geht es in V. 37ff weniger um das Nichtwissen des Zeitpunkts der Wiederkunft, als um die Nichtbeachtung der Warnungen. So entscheiden wir uns hier mit Aland151 doch für einen Abschnittsbeginn mit V. 37. Doch nehmen wir das γάρ als einen Hinweis darauf, dass Jesus diese Gleichnisse ähnlich wie in Kap. 13 in einem engen zeitlichen Zusammenhang sprach. Das Sintflutgleichnis endet im strengen Sinn mit V. 39. Die Bilder vom Acker und von der Handmühle (V. 40 und 41) haben ein eigenes Profil. Soll man sie als eigenes Gleichnis behandeln? Das wäre die eine Möglichkeit.152 Aber es sind doch relativ kurze Sentenzen, sodass Flusser von „verkürzter Form“ spricht153 und Jeremias darauf verzichtet, Mt 24,40f als eigenes Gleichnis in seine synoptische Gleichnisliste aufzunehmen. Wir betrachten deshalb V. 40f als eine Art Erweiterung zum Sintflutgleichnis. Mit dem Γρηγορεῖτε [Grēgoreite] V. 42 beginnt dann eine neue Thematik. Markus fällt hier als Seitenreferent ganz aus. Dagegen enthält Lk 17,26ff eine Reihe von Parallelen, die bestätigen, dass wir es hier wirklich mit Jesu Endzeitverkündigung zu tun haben. 148 149 150 151 152 153

καί ist sehr unsicher. Argumente dafür und dagegen gleichen sich beinahe aus. Vgl. BDR § 247. So etwa Luz III 446; auch mein früherer Kommentar Maier II 300. Aland, Syn, 409. Vgl. Maier II 302. Flusser 77.

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Auffallend ist sowohl beim Sintflutgleichnis als auch bei den Versen 40 und 41, dass es um das Geschehen bei der Wiederkunft geht. Diese Gleichnisse sind also auf das Thema von Mt 24,29-31 fokussiert, wobei Jesus jetzt seine Jünger zu einem konsequenten Verhalten ermahnt.

III Einzelexegese Mit Denn (γάρ [gar]) vollzieht V. 37 einen engen Anschluss an das Vorige. Zumindest in der Absicht des Matthäus liegt es offenbar, diese Gleichnisse als Erläuterungen mit der Rede in V. 4-31 zu verbinden. Zugleich müssen wir feststellen, dass es nicht ganz sicher ist, ob ursprünglich γάρ [gar] oder δέ [de] hier gestanden hat, auch wenn Zahn überzeugt ist, γάρ sei „besser bezeugt“.154 Wie die Tage Noahs waren (Ὥσπερ γὰρ αἱ ἡμέραι τοῦ Νῶε [Hosper gar hai hēmerai tou Nōe]): Mit Noah kommt eine der wichtigsten Gestalten des AT in den Blick. Schon im AT gilt er als beispielhafter Gerechter und als geschichtliche Leitfigur (Jes 54,9; Hes 14,14). Die alten jüdischen Lehrer nahmen diese Sichtweise auf. So heißt es in Sir 44,17: „Noah wurde als vollkommen gerecht befunden.“ Außer Sir 44,17ff sind auch Sir 16,8ff; Weish 14,6 Belege dafür, dass die Noah-Kapitel der Genesis damals exegetische Aufmerksamkeit fanden. Erst recht war dies bei den Rabbinen der Fall. Man vgl. hier die Mischna Sanh XI, 3 und die langen Diskussionen der anschließenden Gemara oder die Diskussionen in b Sanh 57a ff über die Noachiden.155 Relativ oft wird Noah im NT erwähnt. Jesus setzt die Kenntnis der Noahgeschichte in Mt 24,37f; Lk 17,26f ganz selbstverständlich voraus. Petrus erinnert in 1Petr 3,20 ebenfalls an die Noahgeschichte und nennt Noah in 2Petr 2,5 einen „Prediger der Gerechtigkeit“.156 In Hebr 11,7 ist Noah in die Liste der Glaubensvorbilder aufgenommen. Wir fügen hinzu, dass Noah auch im Koran eine beträchtliche Rolle spielt, und zwar als eine Art Ur-Muslim (vgl. nur Sure 7,70; 37,76ff; 40,6; 57,27ff ). Wie die Tage Noahs waren wird Jesus gleich in V. 38 und 39 erläutern. Wir notieren hier nur zweierlei: 1) Ohne Zweifel war Noah für ihn eine historische Figur; 2) ebenso betrachtete er Gen 6–10 als reale Geschichte. Mit so wird es sein bei der Wiederkunft (ἡ παρουσία [hē parousia], vgl. V. 3.27) des Menschensohnes zieht er die Parallele zu seiner Wiederkunft. Zugleich macht er diese zum Hauptthema des Gleichnisses. 154 Zahn 675,24. 155 Vgl. H. Bräumer, Art. Noah, GBL 2, 1061f; Flusser 77; Josephus Ant I, 74-108. 156 Dasselbe bei Josephus Ant I, 74.

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Warum wird es so (οὕτως [houtōs]) sein? Denn wie sie in den Tagen vor der Sintflut aßen und tranken, heirateten und verheiratet wurden, bis zu dem Tage, an dem Noah in die Arche ging, und nichts merkten … Diese Beschreibung der Sintflut-Tage ist hochinteressant.157 Sie enthält drei Ebenen, die man nicht gegeneinander ausspielen darf. Die erste Ebene ist die eines „life … going on pretty much as usual“.158 Essen und Trinken, Liebe und Sex bestimmen die Tage,159 von irgendwelchen Einschränkungen ist keine Rede. Diese Beschreibung warnt uns davor, eine biblische Zukunftstheorie im Sinne einer reinen Katastrophentheorie zu entwerfen. Auch nach der Johannesoffenbarung gibt es im Antichrist-Reich ein fröhliches „kaufen und verkaufen“ und einen luxuriösen Lebensstil (Offb 13,17; 17,4; 18,11ff ). Wenn manche Kommentare so stark betonen, „daß die Parusie des Menschensohnes eine Katastrophe“ sei,160 dann gehen sie über diese erste Ebene zu schnell hinweg. Übrigens treffen sich hier Josephus und die Rabbinen mit der Beurteilung Jesu. Josephus schreibt von der ἡδονὴ τῶν κακῶν [hēdonē tōn kakōn],161 die Rabbinen sprechen von der „Güte“, mit der Gott die Sintflutgeneration „überhäuft hatte“.162 Die zweite Ebene ist die des überraschenden, plötzlichen Kommens der Sintflut. Sie riss alle weg / „raffte alle weg“ (ἦρεν [ēren]).163 Dieser unerwartete Untergang wird in den Kommentaren ebenfalls besonders betont.164 Wer wird hier ermahnt? In erster Linie die Jüngerschaft, die Jesus soeben zuhört! Mt 24,38 ist erst in zweiter Linie eine Mahnung an Außenstehende. Daraus ergibt sich eine Grundspannung des christlichen Lebens: Einerseits kennt niemand Zeit noch Stunde (V. 36), andererseits sollte man jeden Augenblick für die Wiederkunft – So wird es auch bei der Wiederkunft des Menschensohnes sein – bereit sein. Die dritte Ebene steckt in dem οὐκ ἔγνωσαν [ouk egnōsan] von V. 39.165 Bauer-Aland verstehen es in einem absoluten Sinne.166 Sicher ist es richtig, dass Jesus keine besonderen Sünden der Sintflutgeneration erwähnt.167 Aber der Kontext wirft auf dieses sie merkten nichts doch ein eigenartiges Licht. Sie hätten sich nämlich auf diese Ka157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167

Man vgl. dazu die Gedanken der Rabbinen nach Strack-Billerbeck I 961ff. Carson 509. „Heirateten“ von den Männern, „wurden verheiratet“ von den Frauen, BDR § 101,16. So Luz III 450. Ant I, 74. B Sanh 108a. Ähnlich Josephus Ant I, 89.76 (ἀφανίζονται πάντες). Jeremias, Gleichnisse, 46.163.185. Vgl. Sand 499. Bauer-Aland 322. Luz a.a.O.; Carson 509; Zahn 675.

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tastrophe, dieses Gericht, einstellen sollen. Gerade die Beschreibung des Lebens „as usual“ in V. 38 ist ein Hinweis auf jene Oberflächlichkeit und Weltlichkeit, die Luz wegretuschieren möchte.168 Keine Spur von der Achtsamkeit, die V. 32f fordert, oder von der Wachsamkeit, von der sofort anschließend (V. 45) die Rede ist! Dieser Zug der Erzählung tritt noch klarer hervor, wenn wir Mt 24,37ff in die jüdische Tradition einordnen. Josephus schildert, wie Noah mit seinen Mahnungen an seinen Zeitgenossen scheiterte.169 Die Rabbinen nennen diese Zeitgenossen „übermütig“, „entartet“, „Übertreter“.170 Der 2. Petrusbrief nennt sie Gottlose, die vernichtet wurden (2,5; 3,6). Noch einmal: Jesus betont nicht die Sündhaftigkeit der Sintflutgeneration, aber er macht deutlich, dass sie für die Sintflut = das Gericht171 nicht bereit war. Doch bereit sein hätte sie sollen und können!172 So wird es auch bei der Wiederkunft des Menschensohnes sein (V. 39): Das heißt, sie erfolgt schnell, für viele unerwartet und zum Gericht. Betrachtet man unsere Gegenwart, einschließlich der „christlichen“, dann könnte man sie in ihrer materialistischen Oberflächlichkeit nicht besser beschreiben als durch Mt 24,38f. Die beiden nächsten Verse (40-41) sind verbunden durch den Gedanken der Scheidung, die durch die Wiederkunft bewirkt wird. Eine solche Scheidung gehört schon zu den Grundaussagen der alttestamentlichen Noahgeschichte. Denn hier scheidet sich der „gerechte, vollkommene Mann“ Noah173 mit den Seinen von der verderbten und vertilgten Sintflutgeneration. Das wird sehr deutlich in den Petrusbriefen betont (1Petr 3,20; 2Petr 2,5), noch stärker bei Josephus, der sogar schreibt, Noah habe vor dem Kommen der Flut „das Land verlassen“ (ἐξεχώρησε τῆς γῆς [exechōrēse tēs gēs], Ant I, 74). Und wie ist es bei der Wiederkunft? Jesus entnimmt sein erstes Beispiel der Welt der Männer: Dann werden zwei auf dem Acker sein. Einer wird angenommen, und einer wird zurückgelassen (V. 40). Der Schnitt kann mitten durch die Familien gehen. παραλαμβάνεται [ paralambanetai] kann übersetzt werden als angenommen oder „aufgenommen“ werden.174 Gemeint ist auf jeden Fall die Vereinigung mit dem wiederkehrenden Christus, die V. 31 schildert. In 1Thess 4,15ff beschreibt Paulus diesen Vorgang als „Entrückung“ 168 169 170 171 172 173

Luz a.a.O. Ant I, 74. B Sanh 108a. Jeremias, Gleichnisse, 87. Ebenso France 348; Zahn 675; Schniewind 246f; Sand 499. Vgl. F. Delitzsch, Neuer Kommentar über die Genesis, 5. Aufl., 1887, Nachdruck Gießen, 1999, 168. 174 Bauer-Aland 1251f.

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(V. 17: ἁρπαγησόμεθα [harpagēsometha]), in 1Kor 15,50ff als „Verwandlung“ (V. 51: ἀλλαγησόμεθα [allagēsometha]). In jedem Falle geht es um die Vereinigung der noch auf Erden lebenden Gemeinde mit dem Wiederkommenden. Der Gedanke einer „Entrückung“ vor der Wiederkunft ist dem NT fremd. Einer wird zurückgelassen oder noch schroffer: „stehengelassen“:175 Die Engel übergehen ihn bei der Sammlung der Christusgläubigen (V. 31), er bleibt bei denen, die dem Gericht verfallen. An dieser Stelle kommen bei den Kommentaren teilweise starke Emotionen ins Spiel. Luz zum Beispiel spricht vom „schrecklichen Charakter“, vom „Bedrohlichen und Dunklen“ der Wiederkunft,176 er moniert, dass die Worte Jesu „zum neuzeitlichen Bild eines liebevollen, menschlichen und weltoffenen Jesus überhaupt nicht passen“177 und urteilt zum Schluss: „V 40f sind grausam.“178 Man muss solche Stellungnahmen ernst nehmen, weil sie die Grundlagen christlicher Verkündigung, der Mission und der Evangelisation betreffen. Sollte es ein solches „neuzeitliches Bild“ im pauschalen Sinn überhaupt geben, dann ist es jedenfalls nicht das biblische. Seit zwei Jahrtausenden wird Christus auch als Weltenrichter erwartet – darin sind sich Christen und Juden einig, darin stimmt ein Stück weit auch die koranische Tradition zu.179 Man denke an die zahllosen Darstellungen des Weltgerichts in unserem Kulturraum, besonders eindrücklich wohl am Chorbogen des Ulmer Münsters. Was wäre das für eine Liebe, die nicht mehr vor dem Verderben warnen dürfte! Sie würde nicht einmal der Liebe des Noah als des „Predigers der Gerechtigkeit“ (2Petr 2,5) entsprechen, geschweige denn der Liebe des gekreuzigten Jesus. Das zweite Beispiel entnimmt Jesus der Welt der Frauen: Zwei werden an der Handmühle mahlen. Eine wird angenommen, und eine wird zurückgelassen (V. 41).180 ὁ μύλος [ho mylos] ist hier die kleine Handmühle.181 Seit der frühen Jungsteinzeit benutzte man im Israelland Mühlen, um Korn zu mahlen.182 Eine solche Handmühle bestand aus zwei runden Steinscheiben, von denen die obere mit einem Loch versehen wurde, sodass sie sich auf einem Zapfen drehen konnte. Zugleich schüttete man hier das Korn ein, das durch die Drehung der oberen Scheibe zermahlen wurde. In Israel benötigte man die Handmühle täglich, um Brot herzustellen. Nach Deut 24,6 durfte sie 175 176 177 178 179 180 181 182

Vgl. Bauer-Aland 252f. Luz III 446.450. Ganz anders Jeremias, Gleichnisse, 46 „der große Freudentag“. Luz III 447f. Luz III 451. Beispielsweise Sure 3,53ff. Vgl. dazu Strack-Billerbeck I 966f. Vgl. Bauer-Aland 1071. Vgl. hier und im Folgenden A.R. Millard, Art. Mühle, Mühlstein, GBL 2, 997.

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nicht verpfändet werden. Die Arbeit an der Mühle war schwer (vgl. Ex 11,5; Jes 47,1f ). So sind zwei an der Handmühle gut vorstellbar.183 Vermutlich handelt es sich um einen einzigen Haushalt. Demnach wären die zwei evtl. enge Verwandte wie Mutter und Tochter. Auch da kann der Schnitt mitten durch die Familie gehen: angenommen oder zurückgelassen. Halten wir fest: 1) Jesus hat seine Gleichnisse öfter sowohl aus der Welt der Männer wie aus der Welt der Frauen genommen (vgl. Mt 13,33; 25,1ff; Lk 15,8ff neben Mt 24,40f ). 2) Auch Mt 24,40f richten sich an die Gemeinde Jesu.

IV Zusammenfassung 1. Mt 24,37-41 geht historisch betrachtet auf Jesus selbst zurück.184 Auch kritische Theologen rechnen mit einer solchen Möglichkeit.185 2. Mt 24,37-41 macht klar, dass die Wiederkunft Jesu rasch und unerwartet über die Menschen hereinbrechen wird. 3. Weil sie zum Gericht und zur Scheidung unter den Menschen führt, wird die Überlegung wesentlich: Bin ich186 bei den Angenommenen? Adressaten sind hier in erster Linie die Jünger. 4. Mit Mt 24,37-41 macht Jesus die Parusie zu einem der Hauptthemen der letzten Tage.

8.3.3 Das Gleichnis vom Dieb, 24,42-44

I Übersetzung 42 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. 43 Das sollt ihr aber wissen: Wenn der Hausherr wüsste, in welcher Nachtwache der Dieb kommt, würde er wachen und nicht in sein Haus einbrechen lassen. 44 Darum seid187 auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihrs nicht glaubt.

II Struktur Auch hier erhebt sich die Frage nach den Abgrenzungen. Zwar stellt das Kernstück, V. 43f, ein vollkommenes, in sich abgerundetes Gleichnis dar.188 Wohin 183 184 185 186 187 188

Vgl. Carson 509. Vgl. Hengel-Schwemer 530; Theißen-Merz 245f. Bultmann, Gesch, 163; Luz III 447f. Zum individuellen Charakter vgl. Theißen-Merz a.a.O. BDR § 98,2. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 45ff.242; Flusser 193.

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gehört aber V. 42? Eine solche Aufforderung konnte sich an mehrere Gleichnisse anlagern und auch mehrfach ausgesprochen werden.189 Man kann hier also nur eine relative Lösung finden. Wegen der verschwisterten Thematik Tag/Nachtwache/Stunde des Kommens des Menschensohnes ziehen wir letztendlich V. 42 doch zu den Versen 43 und 44.190 Klar ist dagegen, dass mit V. 45 ein neues Gleichnis einsetzt. Thematisch ist zu beachten, dass es in V. 42-44 nicht mehr um die Scheidung unter den Menschen geht. Auch der Gedanke des Gerichts tritt zurück. Beherrschend ist jetzt das Thema Wachen – Bereitsein (γρηγορεῖν – ἕτοιμοι [grēgorein - hetoimoi]). Allerdings bleibt die Parusie als Hauptthema erhalten. Mk 13,33-35 und Lk 12,39ff bestätigen, dass es sich hier um die eschatologische Verkündigung Jesu handelt.191 Allerdings bringt sie Lukas zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt. Es spricht aber nichts dagegen, dass Jesus solche Aussagen bei mehreren Gelegenheiten gemacht hat.

III Einzelexegese Das erste Wort Γρηγορεῖτε [Grēgoreite] („Wacht!“, Seid wachsam!) rüttelt auf (V. 42). Man fragt sich, woher Jesus in seinen letzten Tagen eine solche Konzentrationskraft nahm. Während die Kommentare oft mit Aufbau- und Quellenanalysen beschäftigt sind, droht die Person dessen, um den es geht, leider in den Hintergrund zu treten. Wachen ist eines der Hauptverben der eschatologischen Paränese im NT (Mt 25,13; Mk 13,33.35.37; Lk 12,37; 21,36; Apg 20,31; 1Kor 16,13; 1Thess 5,6; Offb 16,15).192 Wachen umschließt ein Doppeltes: 1) Die gespannte Beobachtung der Ereignisse, 2) die innere, gläubige Bereitschaft, um den wiederkehrenden Herrn zu empfangen. Hinter dem griech. γρηγορεῖν [grēgorein] steckt evtl. das hebr. ‫שַׁקד‬ ָ [schāqad].193 Die gespannte Beobachtung der „Zeichen der Zeit“ (Mt 16,1ff ) und die gläubige Bereitschaft sind beide nötig, weil wir nicht wissen, an welchem Tag der „Herr kommt“.194 Der ganze Vers 42 ist Jünger-Ermahnung (ihr – euer) und setzt V. 36 voraus. Auch das οὖν [oun] 189 Nach Jeremias a.a.O. 49 gehört sie „von Hause aus zum Gleichnis vom Türhüter (Mk 13,35)“. 190 Ähnlich Flusser 88; Luz III 451ff; Jeremias, Gleichnisse, 107; Carson 509; Riesner 9; Schniewind 247. 191 Flusser 193. 192 Leider gibt es im ThWNT keinen eigenen Artikel über γρηγορέω. Auch die wenigen Zeilen in ThWNT, II, 337 sind kein Ersatz dafür. 193 Vgl. E. Lipinski, Art. ‫שַׁקד‬ ָ , ThWAT, VIII, 1995, 445ff. 194 Es gibt jüdische Traditionen über den Tag, an dem der Messias kommt (z.B. 14. Nisan, nicht an einem Sabbat oder Festtag), Strack-Billerbeck I 967.

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(also) deutet darauf hin, dass V. 42 in einen längeren Kontext gehört. Vom Tag der Wiederkunft war ja schon in V. 36 die Rede. Interessant ist, dass sich Jesus hier euer Herr nennt. Aber das stimmt mit Mt 23,8ff überein. Offenbar hat Jesus gerade in der Passionszeit seine hoheitliche Stellung betont.195 Die Eingangsworte von V. 43 Ἐκεῖνο δὲ γινώσκετε [Ekeino de ginōskete] können auf zweifache Weise übersetzt werden. Entweder liegt ein Indikativ vor: „Das aber wisst ihr“,196 oder ein Imperativ: Das sollt ihr aber wissen. In unseren Augen spricht ein leichtes Plus für den Imperativ,197 weil dadurch der Imperativ von V. 42 eine Fortsetzung findet. Wenn der Hausherr (ὁ οἰκοδεσπότης [ho oikodespotēs]) wüsste, in welcher Nachtwache der Dieb kommt, würde er wachen und nicht in sein Haus einbrechen lassen: Dies kleine Gleichnis fand bei den Exegeten hohes Interesse und wurde auch viel Scharfsinn unterworfen. Notieren wir zuerst, dass es im NT und bei den frühen Kirchenvätern eine breite Spur hinterlassen hat. Paulus hat Mt 24,43 / Lk 12,39 sehr früh aufgenommen: ἡμέρα κυρίου ὡς κλέπτης ἐν νυκτὶ οὕτως ἔρχεται [hēmera kyriou hōs kleptēs en nykti houtōs erchetai] (1Thess 5,2).198 Dabei war dieses Jesuswort in Thessalonich schon bekannt (1Thess 5,1f ). Petrus konnte seine Leser darauf hinweisen (2Petr 3,10). Die Johannesoffenbarung knüpft mehrfach daran an (Offb 3,3; 16,15). Die Didache (16,1) zeigt damit Bekanntschaft. Auch das koptische Thomasevangelium beschäftigt sich damit (EvThom 21; 103). Über Irenäus führt dann die Spur weiter in die Kirchengeschichte (AdvHaer IV, 36,3). Einprägsam ist zunächst der Vergleich der Parusie mit dem Kommen eines Diebes (ὁ κλέπτης [ho kleptēs]). Diebe sind sonst negative Figuren – auch für Jesus (vgl. Mt 6,19f; Joh 10,1.8; 12,6; 1Kor 6,10; 1Petr 4,15).199 Wie kann er sich hier mit einem Dieb vergleichen? Für Flusser und Luz stimmt dieser Vergleich hinten und vorne nicht. Flusser konstatiert eine „absurde Deutung des Kommens des Diebes auf die Parusie des Menschensohnes“ – „eine ausschließliche Erfindung … des Matthäus“.200 Wie diese absurde Erfindung zu einer solch starken Wirkungsgeschichte führte, bleibt dann allerdings ein Rätsel. Luz sieht im Verhältnis von Lk 12,39 zu Lk 12,40 bzw. von Mt 24,42 zu Mt 24,43 lauter Schwierigkeiten und spricht von einem „schwierigen logi-

195 196 197 198 199 200

Vgl. Carson 510, der auf 1Kor 16,22 hinweist. So Carson a.a.O.; Zahn 676. Ähnlich Luz III 452. Vgl. Hengel-Schwemer 199. Schon im AT (Jer 49,9; Hi 24,16). Flusser 89.

450

Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

schen Verhältnis“.201 Unter anderem schreibt er: „Das Wachen war dem Hausbesitzer also gar nicht möglich, weil er den Zeitpunkt des Einbruchs ja nicht kannte. Wie kann dann das Gleichnis von den Hörern eben dies Verhalten fordern, das dem Hausbesitzer unmöglich war …?“202 Fast möchte man fragen, welches Gleichnis Luz gelesen hat. Denn das Gleichnis Jesu hat eine stringente logische Konsequenz: Der Hausherr würde genau in der richtigen Nachtwache wachen, wenn er sie wüsste – der Jünger muss die ganze Zeit wachen, gerade weil er den Zeitpunkt der Parusie nicht weiß. Und wachen kann er! Sonst würde Jesus nicht fordern: Seid auch ihr bereit! (V. 44). Dabei macht sich ein weiterer Gesichtspunkt geltend. Jesus hat Kontrastgleichnisse geliebt.203 So konnte er Gott mit einem ungerechten Richter (Lk 18,1ff ), seine Jünger mit einem betrügerischen Verwalter (Lk 16,1ff ) und sich selbst mit einem Einbrecher (Mt 24,43) vergleichen. Als ein „meisterhafter Gleichniserzähler“204 arbeitete er oft mit Überraschungseffekten, die den Hörern einiges zumuteten. So auch hier. Noch einige Einzelheiten: Nachtwachen (φυλακαί [ phylakai]) gab es in neutestamentlicher Zeit in der Regel vier: Abend (18-21 Uhr), Mitternacht (21-24 Uhr), Hahnenschrei (24-3 Uhr) und Morgen (3-6 Uhr). So jedenfalls nach griech.-röm. Einteilung. In alttestamentlicher Zeit waren es drei (18-22 Uhr; 22-2 Uhr; 2-6 Uhr).205 Für einbrechen steht griech. διορυχθῆναι [diorychthēnai], eigentlich vom „durchgraben“ der Lehmwand des Hauses. Mit Luz nehmen wir an, dass Matthäus dieses Wort aber nur im allgemeinen Sinne von einbrechen gebraucht.206 Mit οὐκ ἂν εἴασεν [ouk an eiasen] kommt ein energisches Entgegentreten zum Ausdruck. Das Eindringen in die Häuser geschah oft gewaltsam (Hi 24,16).207 Mit dem Dieb kann sich „Gewalttätigkeit“ verbinden, wogegen der Hausbesitzer sich wehren muss.208 Es wäre allerdings verfehlt, nun auch im Wiederkunftsgeschehen eine „Gewalttätigkeit“ aufzuspüren. Jeremias vertritt wie C.H. Dodd die These, Jesus hätte in Mt 24,43 „an einen unlängst erfolgten Einbruch“ angeknüpft, was aber reine Vermutung bleibt.209

201 202 203 204 205 206 207 208 209

Luz III 454. Luz III 454f. Vgl. Schniewind 247. Flusser 220. Vgl. GBL 2, 1017 (o. Namen); Bauer-Aland 1730. Luz III 456; auch Bauer-Aland 400. Vgl. H. Preisker, Art. κλέπτω usw., ThWNT, III, 1938, 754. Preisker a.a.O. 754f. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 45. Die Aoriste können auch gnomisch sein.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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Halten wir fest: Im Gleichnis vom Dieb steckt nicht nur „das Plötzliche, Unvermutete“, das der Wiederkunft anhaftet,210 sondern auch das Nichtwissen des Zeitpunkts und der Ruf zu steter Bereitschaft.211 Genau dies sagt nun abschließend V. 44: Darum seid auch ihr (καὶ ὑμεῖς [kai hymeis]) bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihrs nicht glaubt (οὐ δοκεῖτε [ou dokeite]). Man kann aus Mt 24,44 geradezu einen Umkehrschluss ziehen: Wenn in der Christenheit gelehrt und geglaubt wird, er käme nicht, dann ist der Menschensohn schon im Kommen.

IV Zusammenfassung 1. Mt 24,42-44 schärft noch einmal ein, dass wir Christen den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi nicht kennen – so wenig wie die Engel im Himmel. Siehe auch V. 36. 2. Gerade deshalb gilt es, ständig wach zu sein: in innerer lebendiger Beziehung zum Herrn, vor allem im Gebet (vgl. Mt 26,41; Lk 21,36). 3. „Propheten“ in der Kirche, die uns ein Datum der Wiederkunft mitteilen wollen, dienen also nur der Schläfrigkeit in der Kirche.

8.3.4 Das Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht, 24,45-51

I Übersetzung 45 Wer ist also der treue und kluge212 Knecht, den der Herr über seine Dienerschaft gesetzt hat, um ihnen213 zur rechten Zeit das Essen zu geben? 46 Glücklich zu preisen ist der Knecht, den sein Herr so handeln sieht, wenn er kommt. 47 Amen, ich sage euch: Er wird ihn über seinen gesamten Besitz setzen. 48 Wenn aber jener als ein böser Knecht bei sich denkt: Mein Herr kommt noch lange nicht, 49 und seine Mitknechte zu schlagen beginnt, wenn er isst und trinkt mit den Trunkenen, 50 dann wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tage, an dem er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die ihm unbekannt ist, 51 und wird ihn in Stücke hauen und ihm sein Teil bei den Heuchlern geben. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein.

210 So Preisker a.a.O. 755. 211 France 348: „a life of constant readiness“. Mt 24,43f ist also gerade kein „Weckruf an die Menge“ (gegen Jeremias, Gleichnisse, 46.98). Vgl. Schlatter 365; Fiedler 369. 212 Vgl. BDR § 269,8. 213 Vgl. BDR § 400,7.

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II Struktur Die ehrhafte Frage Τίς ἄρα [Tis ara] beherrscht den ganzen Abschnitt Mt 24,45-51. Es geht darum, wer von Gott angenommen wird, wenn Jesus zum Gericht erscheint. Wer wird – in der Sprache von V. 40 – „angenommen“, wer „zurückgelassen“? Damit kehrt das Thema von Mt 24,37-41 wieder. Mehr noch: Τίς ἄρα bildet eine Art Überschrift zu dem gesamten Evangelienteil Mt 24,45–25,46: Wer ist der treue Knecht? Wer ist die kluge Jungfrau? Wer ist der gute Knecht (25,1430)? Wer ist ein Gesegneter des Vaters? Schon dadurch wird enthüllt, dass Mt 24,32–25,46 einen einzigen großen Gleichnisring bildet.214 Und es enthüllt sich überdies, dass Mt 24 und 25 zusammen einen einzigen eschatologischen Redeteil bilden. Dieser ganze Komplex Mt 24f hat seinen natürlichen Sitz im letzten Jerusalemaufenthalt Jesu vor der Passion. Denn er, der fest mit seiner Auferstehung rechnete, musste über den weiteren Weg und das Wirken des Auferstandenen reden. Was tun die Seitenreferenten? Jeder von ihnen handelt selbstständig. Markus, der auf die Taten Jesu konzentriert ist, lässt den größten Teil der Redenstoffe weg. Lukas in seinem historischen Bemühen bringt große Teile dieser Stoffe schon auf dem Wege nach Jerusalem (Kap. 12 und 17) – damit freilich auch in Verbindung mit Jerusalem! –, anderes dann wie Matthäus in Jerusalem selbst (Kap. 19 und 21). Sie mögen aber so verschieden sein, wie sie wollen, in einem Punkt kommen sie zusammen: Jesus hat dies alles tatsächlich gesagt.215 Zur Einzelstruktur von Mt 24,45-51: Die Frage nach dem „treuen und klugen Knecht“ steht an der Spitze (V. 45). Jesus beantwortet sie zunächst positiv, und zwar in Form einer Seligpreisung (V. 46-47). Sodann aber schildert er den „bösen Knecht“, und zwar viel ausführlicher (V. 48-51). Sowohl die Länge der Ausführungen als auch das rhetorische Gesetz des Achtergewichts sind ein sicheres Indiz dafür, dass er hier in erster Linie seine Jünger davor warnen will, ein solcher „böser Knecht“ zu werden. Wir beobachten nun schon seit Mt 24,3, dass die Ausführungen Jesu nicht im Ton des künftigen Triumphs erfolgen, sondern ununterbrochen von seelsorgerlichen Warnungen an die Adresse seiner Jünger geprägt sind.

214 Vgl. Hengel-Schwemer 532. 215 Heute nach Luz III 460 „sehr umstritten“.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

453

III Einzelexegese Die einleitenden Worte Τίς ἄρα [Tis ara] haben nach der griech. Grammatik vorwiegend einen folgernden Sinn.216 Wir übersetzen sie demgemäß mit Wer also.217 Sie deuten darauf hin, dass Jesus schon vorher Ausführungen machte, die er jetzt noch einmal klären will – entweder etwas, das wir nicht mehr wissen, oder (näherliegend) eben die Gleichnisse V. 32-44. Gefragt ist der treue und kluge Knecht (ὁ πιστὸς δοῦλος καὶ φρόνιμος [ho pistos doulos kai phronimos]), V. 45. Den treuen Knecht geben Strack-Billerbeck mit ‫ בן בית נאמן‬wieder.218 Als Urbild eines treuen Knechtes gilt Mose.219 Von seinem Knecht Mose ( ‫[ ַעְב ִ ּדי‬ʿabdī]) sagt der Herr: „ihm ist mein ganzes Haus anvertraut ( ‫[ ְ ּבָכל־ ֵ ּביִתי ֶנֱאָמן הוּא‬bᵉkol-bētī näʾᵆmān hūʾ])“, Num 12,7, LXX: πιστός ἐστιν [ pistos estin]. Vermutlich hat sich Jesus in Mt 24,45 bewusst an Num 12,7ff angelehnt. Denn nachher ist davon die Rede, dass der treue Knecht „über seinen ganzen Besitz gesetzt wird“ (V. 47). Aber nun ist es interessant, dass Jesus die Bezeichnung klug neben die Treue stellt. Wir erinnern uns, dass Jesus diese Bezeichnung φρόνιμος [ phronimos] schon in der Bergpredigt zur Beschreibung wahrer Jünger benutzte (Mt 7,24), später wieder Lk 16,8; Mt 25,2.4. Hier wird die Brücke zur Weisheit Israels geschlagen. Es bleibt ja doch bemerkenswert, dass Jesus den Gehorsam und den Glauben an Gott als ein Gebot der Klugheit betrachtet. Siehe auch Spr 8,1ff; 9,1ff; Sir 24,1ff. So möchte er also seine Jünger haben: als gleichzeitig treue und kluge Knechte. Pädagogisch detailliert nennt er weitere Einzelheiten zu diesem Knecht: den der Herr [= Christus] über seine Dienerschaft (οἰκετεία [oiketeia]) gesetzt hat. Das erinnert gleich doppelt ans AT, nämlich an Mose (Num 12,7f ) und an Josef (Gen 38,4ff ). Als eine seiner Hauptaufgaben (als pars pro toto) nennt Jesus, dass er ihnen [= der Dienerschaft]220 zur rechten Zeit (ἐν καιρῷ [en kairō]) das Essen geben soll. Alles soll „ehrbar und ordentlich“ (1Kor 14,40) zugehen.221 Vers 45 zeichnet kein materialistisches Bild, auch kein patriarchalisch-geschlechterbestimmtes, sondern das Bild eines Hauses, in dem man Gottes Willen achtet und ihm entsprechen will. Zuzugeben ist aber, dass die heutige Einstellung der europäisch-nordatlantischen Welt eine total andere ist. Das Essen ist die Lebensbasis (Spr 30,8; Mt 6,11; 216 217 218 219

Vgl. BDR § 440,4; 451,2. Auch Schlatter 365; Schniewind 247. I 968. Hebr 3,2ff: Mose ist πιστός … ὡς θεράπων. Schon deshalb ist die Übersetzung „Sklave“ (Luz III 458) wenig sinngemäß. 220 BDR § 400,7. 221 Vgl. auch Wendungen wie „recht richten“ (‫ש ֹּפט ְ ּבֶצֶדק‬ ׁ ְ ‫ ) ִ ּת‬Lev 19,15 u.Ä.

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1Tim 6,8), aber auch ein Symbol für die geistliche Speise (vgl. Jes 50,4; Hebr 5,12ff ). Und wieder scheint ein spezieller Bezug zum AT durch. Denn das Essen geben zur rechten Zeit ist genau das, was Gott seinen Menschen und Tieren gewährt. (Ps 104,27; Ps 145,15f ). Knapp und präzise schildert Jesus den Knecht,222 der seinen Auftrag erfüllt (V. 46). Er zeichnet ihn aus mit einer Seligpreisung (Glücklich zu preisen ist ׁ ְ ‫[ ַא‬ʾaschrē-hāʾīsch]). Es genügt ihm zu …, μακάριος [makarios] = ‫שֵרי־ָהִאישׁ‬ sagen, dass ihn sein Herr so handeln sieht (wörtlicher: vorfindet), wenn er kommt (ὁ δοῦλος ἐκεῖνος ὃν ἐλθὼν ὁ κύριος αὐτοῦ εὑρήσει οὕτως ποιοῦντα [ho doulos ekeinos hon elthōn ho kyrios autou heurēsei houtōs poiounta]). Jeder Leser/Hörer ist damit genug informiert. Immerhin fällt auf, dass Jesus keine besonderen Verdienste jenes Knechtes herausstreicht. Für ihn genügt die Treue. Paulus ist hier im Gleichklang mit Jesus, wenn er 1Kor 4,2 schreibt: „Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden“ (πιστός τις εὑρεθῇ [ pistos tis heurethē], vgl. 2Tim 2,15; 1Petr 4,10). Hat er 1Kor 4,2 in Anlehnung an Mt 24,46 / Lk 12,42 formuliert? Mit ἐλθών [elthōn] nimmt V. 46 auf die Wiederkunft Bezug, der κύριος [kyrios] ist also hier wie in V. 45 und 42 Jesus selbst. Für Leser und Leserinnen, die aus dem Kulturkreis des Griechentums und der Aufklärung kommen, muss betont werden, dass Jesus vom Tun des Knechtes spricht, nicht nur von seinem Denken oder seinen Absichten. Dieses Wertlegen auf das Tun teilt er mit dem alttestamentlichen Heiligkeitsgesetz (Lev 18 und 19). Es war schon früher zu beobachten (Mt 7,21ff; Joh 4,34; 7,17; 15,14). In V. 47 sagt Jesus, was mit dem treuen Knecht geschieht. Das einleitende Amen, ich sage euch soll die Jünger im Vertrauen auf seine Prophetie bestärken. Jesus rechnet also damit, dass seine Jünger bald von Zweifel und Angst angefochten sein werden. Er [= der Herr] wird ihn über seinen gesamten Besitz223 setzen: Dem treuen Knecht wird es also ergehen wie einst dem Josef (Gen 39,4f; 41,40ff; Ps 105,21). Schniewind hat dazu die schöne Bemerkung gemacht: „die Treue aber wird mit immer neuem Dienst, mit immer höheren Aufgaben belohnt.“224 Dieses Motiv setzt sich fort in Mt 25,21.23. Da es um eschatologische Aussagen geht, darf man sich hier nicht auf irdische Verhältnisse beschränken. Vielmehr geht es in erster Linie um die Zukunft treuer Knechte im Reich Gottes und in der neuen Schöpfung. Dann aber beinhaltet Mt 24,47 eine weitreichende Perspektive: Jesus spricht von Dienst und Auf222 Ob es im Gleichnis ursprünglich nur einen Knecht gab, wie etwa J. Jeremias (Gleichnis 53) annimmt, ist für das Verständnis des Gleichnisses von geringer Bedeutung. 223 Schniewind 248. 224 Vgl. BDR § 413,9.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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trag des treuen Knechtes in der neuen Welt Gottes, von der „Teilnahme am Weltregiment“, wie Schniewind formuliert.225 Die Versuche von Joachim Jeremias und anderen, das Gleichnis Mt 24,45ff in einen „Weckruf an die Führer des Volkes, insbesondere an die Schriftgelehrten“ umzumodeln,226 verliert diese Perspektive völlig. Im Grunde aber sagt Mt 24,47 dasselbe wie Offb 22,3. Weil die treuen Knechte mit Jesus über die ganze neue Schöpfung (seinen gesamten Besitz) regieren, ist Mt 24,47 „eine der größten Verheißungen der Bibel“.227 Die praktisch-ethische Auslegung von R.T. France zieht daraus mit Recht die Kosequenz: „it is in service to others that we prepare for the parousia“.228 Die Kehrseite schildert V. 48-51: Wenn aber jener als ein böser Knecht bei sich denkt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und seine Mitknechte zu schlagen beginnt, wenn er isst und trinkt mit den Trunkenen … Zunächst begegnen wir hier einem formalen und einem inhaltlichen Problem. Formal weist das textkritisch gut bezeugte ἐκεῖνος [ekeinos] in V. 48 zurück auf den Knecht von V. 45-47. Wir nehmen also an, dass es sich im Beispiel Jesu tatsächlich nur um einen Knecht handelt, der jetzt aber unter der Voraussetzung besprochen wird, dass er böse handelt. Nun greift Jesus Züge auf, die nach Flussers Urteil für die damalige Lebenswelt keineswegs „ganz unrealistisch“ sind.229 „Es war damals für viele eine ausgemachte Sache: Wenn sich der Herr mit seiner Rückkehr verspätet, fängt ein Sklave an, andere Sklaven und Mägde zu schlagen. Er gerät in unmäßiges Essen und Trinken, bis er voll und berauscht ist.“230 So weit zur eher formalen Seite. Inhaltlich aber haben wir davon auszugehen, dass ein und derselbe Knecht entweder treu und klug oder böse sein kann. Wovon hängt das ab? Von seinem eigenen Willen. Selten einmal wird so unmissverständlich klar, dass es für Jesus im Gottesverhältnis keine Prädestination gibt. Es wäre völlig abwegig, das „treue und kluge“ Verhalten auf ein „Geschenk“ zurückzuführen. Nein, der Knecht muss darüber entscheiden, was er tun will. Und weil es auf unsere Entscheidung ankommt, deshalb redet Jesus so eindringlich zu seinen Jüngern. Beachten wir jetzt: Der Knecht denkt im schlimmen Fall bei sich (ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ [en tē kardia autou]), Mein Herr kommt noch lange nicht (χρονίζει μου ὁ κύριος [chronizei mou ho kyrios]). Es bleibt also ausdrücklich 225 226 227 228 229 230

Schniewind a.a.O. Schniewind a.a.O. Maier II 308. France 349. Flusser 42. Flusser a.a.O. Vgl. Fiedler 371.

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dabei, dass es um seinen Herrn geht. Es handelt sich gerade nicht um einen Aufstand. Von der Bildhälfte in die Sachhälfte übertragen: Es handelt sich ausdrücklich um Menschen, die Jünger Jesu bleiben wollen. Aber das dominierende Motiv wird jetzt das χρονίζειν [chronizein]. In Mt 25,5 taucht es noch einmal in ähnlicher Verwendung auf. Siehe auch noch 1Thess 5,1ff; 2Petr 3,4.231 Mehrfach schon hat Jesus darauf hingewiesen, dass sich die Endereignisse länger hinziehen, als es die Jüngerschaft meint (Mt 24,6.8.44). Er warnte vor voreiligen Schlüssen. Um eine solche Warnung geht es auch hier. Jesus bewertet die Einschätzung: Der Herr kommt noch lange nicht eindeutig als negativ. In der falschen Sicherheit, die aus einer solchen falschen Einschätzung resultiert, beginnt jetzt der verantwortliche Knecht, seine Mitknechte zu schlagen. Auch hier verrät die Formulierung Mitknechte (σύνδουλοι [syndouloi]), dass dieser böse Knecht nach wie vor zum Gesinde seines Herrn gehören will. Aber jetzt ist nicht mehr der gute Wille seines Herrn gefragt, sondern die Selbstverwirklichung als Entfaltung der egoistischen Motive: Macht auszuüben, sich durchzusetzen, dem Genuss zu huldigen (er isst und trinkt mit den Trunkenen). Siehe auch Mt 18,28; Lk 21,34; Röm 13,13; Koh 8,11. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass aus den Worten Jesu die Lebenserfahrung spricht: Aber ist es wirklich so, dass ein Mensch, der nicht mehr mit dem Gericht rechnet, egoistisch und böse wird? Die Aufklärung sagt: Nein. Die Bibel sagt: Ja, beim sündigen Menschen ist es so. Erst die erlösten Menschen der neuen Schöpfung können dieses Gesetz durchbrechen. Was dann folgt, schildert Jesus mit den Worten: dann wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tage, an dem er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die ihm unbekannt ist … (V. 50). Der Akzent liegt hier weniger auf der Plötzlichkeit der Wiederkunft als vielmehr auf dem überraschenden Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet. Der betreffende Knecht ist dann völlig unvorbereitet. Eines jedenfalls ist über jeden Zweifel erhaben: Der Herr kommt! Die Wiederkunft wird stattfinden! Siehe auch V. 42. Das Kommen des Herrn bedeutet für den Knecht nicht nur Überraschung und Enttäuschung, sondern auch Strafe: … wird ihn in Stücke hauen und ihm sein Teil bei den Heuchlern geben (V. 51). Warum? Weil er nicht tat, was er schuldig war (vgl. Lk 17,10). Das Gericht ist hart,232 aber auch die 231 Vgl. auch G. Delling, Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, 288. 232 France 349: „a savage feature“; Luz III 464: „brutal“, „schrecklich“; Fiedler 371: „auf brutale Weise“.

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Verfehlung. In Stücke hauen (διχοτομεῖν [dichotomein]) wurde als Strafe bei den Ägyptern,233 den Syrern (Am 1,3), aber auch in Israel (1Sam 15,33; Sus 55.59; Hebr 11,37) und im Mittelalter („vierteilen“) angewandt. Da Jesus vom Endgericht spricht, ist hier das in Stücke hauen als geistliche Strafe zu verstehen. In diesem göttlichen Endgericht teilt der böse Knecht das Schicksal der Heuchler, das heißt der von Gott Verworfenen. Weinen und Zähneknirschen sind schon in Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; Lk 13,28 anschauliche Bilder der Verlorenheit, in denen sich Gram und Verzweiflung ausdrückt. Was Jesus in Mt 24,51 sagt, entspricht übrigens den Diskussionen und Überlieferungen der Rabbinen.234

IV Zusammenfassung 1. Mt 24,45-51 warnt vor einem Erschlaffen der Erwartung der Wiederkunft Jesu und einem daraus resultierenden Ungehorsam. Auf den Versen 4851 liegt, wie Zahn richtig gesehen hat,235 das Schwergewicht. 2. Diese Warnung richtet sich nicht nur an die Apostel und Amtsträger, sondern an alle Jünger.236 3. Dass sich diese Worte237 ursprünglich gegen Pharisäer und Schriftgelehrte gerichtet hätten, wird von Mt 24,45ff und Lk 12,42 eindeutig widerlegt. Nicht die Attacke gegen jüdische Führer, sondern die Sorge um die Jünger für die Zeit nach seiner Hinrichtung bewegt hier Jesus.238 4. Dass den treuen Knecht „Mitmenschlichkeit“ und „Liebe“ auszeichnen,239 ist nur ein Teil der Wahrheit – wenn auch aus der gegenwärtigen religiösen Stimmung Europas erklärbar. Im Vordergrund steht für Jesus die Erwartung der Wiederkunft und daraus resultierend ein gehorsames Handeln. In unserer Sprache ausgedrückt: Die Eschatologie wird zur Quelle der Ethik. 5. All das ergibt nur Sinn, wenn Jesus keine Naherwartung, sondern eine Eschatologie des langen Atems gepredigt hat.

233 234 235 236 237 238 239

Herodot Hist II, 139. B Sanh 59b; p Ber 4,7. Vgl. Strack-Billerbeck I 969. Zahn 677. Luz III 464f; Fiedler 370; Riesner 473; Schniewind 248. Gegen Zahn a.a.O. Zur Historizität vgl. Luz III 460. So auch Fiedler 371; Riesner a.a.O. So Luz III 465.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

8.3.5 Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, 25,1-13

I Übersetzung 1 Dann wird240 es sich mit dem Reich Gottes verhalten wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Fackeln nehmen und hinaus dem Bräutigam241 entgegengingen. 2 Fünf von ihnen waren töricht und fünf klug. 3 Die Törichten nämlich nahmen zwar ihre Fackeln mit, aber kein Öl. 4 Die Klugen aber nahmen auch Öl in den Gefäßen zusammen mit ihren Lampen mit. 5 Als aber der Bräutigam lange nicht kam, waren alle eingenickt und schliefen. 6 Aber mitten in der Nacht erhob sich242 ein Geschrei: Da! Der Bräutigam! Geht ihm entgegen! 7 Da standen jene Jungfrauen alle auf und richteten ihre Fackeln. 8 Die Törichten aber sagten zu den Klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Fackeln verlöschen! 9 Doch die Klugen gaben zur Antwort: Ausgeschlossen! Für uns und euch zusammen reicht es nicht. Geht doch zu den Händlern und kauft für euch ein! 10 Während sie weggingen, um einzukaufen, kam der Bräutigam. Und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeitsfeier, und die Tür wurde verschlossen. 11 Später kommen auch die anderen Jungfrauen und sagen: Herr, Herr, mach uns auf! 12 Er aber gab zur Antwort: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. 13 Bleibt also wachsam! Denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde.

II Struktur Dass die Verse 1-13 eine geschlossene Einheit bilden, steht außer Zweifel. Die Einleitungformel ὁμοιωθήσεται ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [homoiōthēsetai hē basileia tōn ouranōn] führt uns sofort in die Welt der Gleichnisse. David Flusser weist ebenso wie Strack-Billerbeck auf die Verwandtschaft mit rabbinischen Gleichnissen hin.243 Flusser nennt es mehrere Male „schön und kunstvoll“, ein „Beispiel für die vollkommene Kunst des Gleichniserzählers Jesu“.244 Zu Mt 25,1-13 gibt es keine Parallele in den anderen Evangelien.245 Verwandtes findet sich allerdings bei Lukas (12,35ff; 13,25ff ). 240 Für Gaechter 800 ist das Futur „ohne Bedeutung“. 241 Die Einfügung „und der Braut“ ist textlich zu schwach bezeugt (gegen Schniewind 250). 242 Vgl. BDR § 343,3. 243 Flusser 35; Strack-Billerbeck I 969. 244 Flusser 35.178.285.298. 245 Hengel-Schwemer 235: eine „wertvolle Sondergutüberlieferung“.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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Auffällig sind in Mt 25,1-13 die „kontrastiven Rollen“.246 Die fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen werden nicht individuell gezeichnet, sondern agieren als stilisierte, fast stereotype Größen.247 Mag sein, dass Jesus „von einer wirklichen Hochzeit erzählt“.248 Andererseits finden sich hier infolge der Stilisierung und pädagogischen Prägung, die bewusst mit Zahlenreihen (zehn – fünf) arbeitet, so viele „sonderbare“ Züge, dass man Flussers Warnung vor zu viel Realismus gut versteht.249 Zu beachten ist die enge Verschränkung von Motiven und Scopus mit den benachbarten eschatologischen Reden. Das betrifft z.B. die Stichworte klug (φρόνιμος [ phronimos]), lange nicht kommen (χρονίζειν [chronizein]), wachsam bleiben (γρηγορεῖν [grēgorein]), Tag und Stunde nicht kennen (οὐκ οἴδατε τὴν ἡμέραν οὐδὲ τὴν ὥραν [ouk oidate tēn hēmeran oude tēn hōran]). Das betrifft aber auch den Umstand, dass das Gleichnis an die Jüngerschaft gerichtet ist. Zielpunkt des Gleichnisses in der jetzigen Fassung ist jedenfalls V. 13. Freilich herrscht Streit darüber, ob dieser Vers ursprünglich zum Gleichnis gehört. Siehe weiter unten.

III Einzelexegese Es wird sich mit dem Reich Gottes verhalten wie mit … ist uns als Gleichnisanfang vertraut (V. 1; vgl. Mt 13,24ff; 18,23; 22,2). Τότε [Tote] (Dann) an der Spitze von V. 1 setzt voraus, dass Jesus dieselbe oder eine ähnliche Thematik schon vor dem Gleichnis angesprochen hat.250 Im Kontext des Matthäusevangelium ist dies auch der Fall (ab 24,36). Die zehn Jungfrauen sind Brautjungfern. Oft schon hat Jesus von Hochzeit u.Ä. gesprochen (Mt 9,15; 22,2ff.11; Lk 12,36; 14,8). Das geschah in Anlehnung an den alttestamentlichen Bildkreis vom Bräutigam, von der Braut usw., der zur Beschreibung der Heilszeit dient (Jes 49,18; 61,10; 62,5; Jer 2,2ff; 33,11; Hos 2,21ff ). So auch hier in Mt 25,1ff. Darüber hinaus gehören unsere Verse in die Reihe jener Bilder und Gleichnisse, die Jesus aus der Welt der Frauen genommen hat (vgl. Mt 13,33; 24,41). Wenn die zehn Jungfrauen … ihre Fackeln nahmen und hinaus dem Bräutigam entgegengingen, wird offenbar vorausgesetzt, dass der Bräuti246 247 248 249 250

Vgl. Theißen-Merz 299; Flusser 35. Flusser a.a.O. So Jeremias, Gleichnisse, 49. Wieder Flusser a.a.O. Gaechter 799 übersetzt τότε mit „ferner“, was aber eher einem καί oder οὖν entspricht. Auch Tasker 231 setzt hier „a temporal sense“ voraus. Vgl. Carson 512.

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gam (ὁ νυμφίος [ho nymphios]) bei der Hochzeitsfeierlichkeit zum Hochzeitshaus kommt und dabei von den Brautjungfern abgeholt wird. Gerade über diese Einzelheit tobte in der Exegese heftiger Streit. Zum Teil251 wurde die Meinung vertreten, es gebe im rabbinischen Schrifttum keine Einholung des Bräutigams ins Hochzeitshaus. Aber schon Strack-Billerbeck hatten auf Mech Ex 19,17 zu Deut 33,2 hingewiesen, wonach Jahwe vom Sinai kam „wie ein Bräutigam, der der Braut entgegenzieht“.252 Später hat vor allem Joachim Jeremias weitere Nachweise für einen solchen Brauch geliefert.253 Vermutlich hat er recht mit der Beobachtung, dass wir von den Hochzeitsbräuchen in den Tagen Jesu nur „verstreute Einzelnachrichten“ besitzen, und dass zudem die Hochzeitsbräuche regional und zeitlich verschieden waren.254 Soll man sich die λαμπάδες [lampades] als Lampen vorstellen? Ein Auffüllen mit Öl kommt bei Gefäßen mit Docht und Ölbehälter durchaus infrage.255 Näher liegt aber doch die Übersetzung mit Fackeln. Nach der Beschreibung von R.E. Nixon wurden „Für eine Hochzeit“ Fackeln benutzt. „Die Stoffetzen, die dazu als Brennmaterial dienten, mußten vorher in Öl getränkt werden.“256 Jeremias spricht von „Windlichtern“.257 Ist die Zahl zehn mit Bedacht gewählt? Jeremias nennt sie einfach eine „runde Zahl“.258 Flusser erinnert an die zehn Finger unserer Hand, für ihn ist die Zahl zehn „kein Zufall“.259 F. Hauck stellt fest, dass die Zehnzahl im AT wie im Judentum eine beliebte „Zahl für ein abgerundetes Ganze(s)“ war.260 Zehn ist sicher eine pädagogisch einprägsame Zahl. Vielleicht darf man aber doch daran erinnern, dass die zehn gelegentlich mit Erprobung zu tun hat (so Dan 1,12ff ). Immerhin geht es auch in Mt 25,1ff um die Erprobung der Jüngerschaft. Vers 2 schafft die Voraussetzung, um das Folgende zu verstehen: Fünf von ihnen waren töricht (μωραί [mōrai]) und fünf klug (φρόνιμοι [ phronimoi]). Beare bemerkt:261 „Neither the numbers, nor the equal division … have any 251 So bei G. Bornkamm, Die Verzögerung der Parusie, In memoriam E. Lohmeyer, Stuttgart, 1951, 119-126; Fiedler 371,118. 252 Vgl. Strack-Billerbeck I 969. 253 Jeremias, Gleichnisse, 171ff; vgl. Flusser 35. 254 Jeremias, Gleichnisse, 172. Vgl. 1Makk 9,37.39; Luz III 468f; Schniewind 250 und die Verschiedenheit der Beschreibungen bei Jeremias, Gaechter und Luz sowie France 350. 255 So Bauer-Aland 946; Gaechter 800f: „meist an … Katakombenlämpchen“ gedacht; vgl. Luz III 469f. 256 R.E. Nixon, Art. Lampe, Leuchter, GBL 2, 866. 257 Jeremias, Gleichnisse, 174. Vgl. Gaechter 800f: „Fackeln“. 258 A.a.O. ebenso Gaechter 800. Vgl. Kelim II 8. 259 Flusser 35. 260 Im Art. δέκα, ThWNT, II, 1935, 35. 261 Beare 482.

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significance.“ Vielleicht ist diese Bemerkung zu rasch erfolgt. Riesner rechnet mit einer „Symbolzahl“, die „mnemotechnische Funktion“ hat.262 Gaechter zufolge263 ist die „Fünfzahl … nach alter Symbolik die Hochzeitszahl“ (vgl. 1Sam 25,42; Ri 14,11). Jenseits der Zahlenfrage überrascht aber, wie hoch Jesus den Anteil der Törichten (die Hälfte!) in seiner Gemeinde einschätzt! Törichte sind schon in Mt 7,24ff die im Endgericht Verlorenen. Dagegen sollen seine Jünger klug, φρόνιμοι [ phronimoi], sein, weil sie Gott und Jesus vertrauen (Mt 7,24; 10,16; 24,45; Lk 16,8; 12,42). Natürlich handelten die jeweils fünf „nicht korporativ“,264 sondern aufgrund ihrer persönlichen Entscheidung. Dennoch treten sich auf diese Weise zwei gleiche Größen gegenüber. Vers 3 sagt, worin die Torheit besteht: sie nahmen nämlich zwar ihre Fackeln mit, aber kein Öl. Jesus verzichtet auf weitere Detailangaben. Deshalb gibt es heute in der Exegese viele Einzelvermutungen, die zwar interessante Beiträge liefern, aber nur wenig zum Gesamtverständnis helfen. Es kommt in V. 3 nur auf zweierlei an: 1) Auch die törichten Jungfrauen wollen an der Hochzeit teilnehmen und sind bis dato von den klugen kaum zu unterscheiden, 2) was ihnen jedoch fehlt, ist das Öl (ἔλαιον [elaion]) als Brennmaterial, mit dem sie später die Fackeln nachfüllen könnten.265 Die Klugen aber nahmen auch Öl in den Gefäßen zusammen mit ihren Lampen mit (V. 4). Mit anderen Worten: Sie richteten sich auf einen langen Zeitraum ein. Der Begriff ἀγγεῖον [angeion] kommt abgesehen von einer Variante in Mt 13,48 nur hier im NT vor. Er wird jedoch von Josephus mehrfach für Ölgefäße benutzt.266 Unter den Gefäßen kann man sich kleine, gut transportable Krüge vorstellen.267 Die klugen Jungfrauen haben zunächst also mehr Umstände und mehr zu schleppen.268 Aber das lohnt sich! Klugheit bedeutet kein Plus an Bequemlichkeit. Sie bedeutet jedoch die Fähigkeit, auch schwierige und lange Wege zu meistern: die Glaubenswege eingeschlossen. An dieser Stelle legt Fiedler Protest ein: Matthäus bediene sich „extremer Kontrastierung“, während „die Realität“ damals wie heute in „fließenden

262 263 264 265

Riesner 394f. Gaechter 800,2. Gaechter 801. Auch hier macht sich wie in V. 1 bei den alten HSS die Tendenz bemerkbar, Jesu knappe Erzählung zu ergänzen. Schab II, 2 nennt verschiedene Öle als Brennstoff. Vgl. H. Schlier, Art. ἔλαιον, ThWNT, II, 1935, 468ff. 266 Bell III, 272; Ant IX, 48. Vgl. Herodot Hist III, 94. 267 Jeremias a.a.O.: „kleine Krüge mit Griff “. 268 Gaechter 801 notiert: „zuerst war es heller Tag“.

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Übergängen“ bestünde.269 Doch gerade diese „fließenden Übergänge“ will Jesus nicht. Er stellt die Jünger vor die klare Alternative: Entweder bereit zu sein für einen langen Zeitraum bis zur Wiederkunft oder das Reich Gottes zu verlieren. Fragen kann man,270 was in diesem Zusammenhang das Öl bedeutet. Interessanterweise hat man sich in der Kirchengeschichte bemüht, das Öl in einem umfassenden Sinne zu verstehen und nicht auf bestimmte Einzelaspekte des Glaubens zu verengen. Gerade im Pietismus lässt sich dies beobachten. So deutet Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) das Öl ganz allgemein auf den „Zufluß des Heiligen Geistes“271 und Carl Heinrich Rieger272 in ähnlicher Weise „auf das tägliche Nehmen aus der Fülle Jesu“. Später spricht Adolf Schlatter von einem Glauben, der nicht „entstellt“ sei.273 In der Tat wird man das Öl als ein Bild für die geduldige und gläubige Erwartung der Wiederkunft im Ganzen auffassen müssen. Als aber der Bräutigam lange nicht kam (χρονίζοντος [chronizontos]), waren alle eingenickt und schliefen (V. 5): ἐνύσταξαν [enystaxan] ist komplexiver Aorist,274 ἐκάθευδον [ekatheudon] duratives Imperfekt.275 Ein Hauptakzent liegt auf χρονίζοντος [chronizontos]. Dieses Stichwort nimmt das χρονίζει [chronizei] von Mt 24,48 wieder auf. Das eschatologische καθεύδειν [katheudein] findet sich auch bei Markus (13,36) und Paulus (1Thess 5,6f ). Was will Jesus hier sagen? 1) Die Aussage alle (πᾶσαι [ pasai]) hält fest, dass es in V. 5 keinen Unterschied zwischen den klugen und den törichten Jungfrauen gibt. 2) Dann aber kann einnicken und schlafen (durative Formulierung!) nur bedeuten, dass niemand den Zeitpunkt der Ankunft des Bräutigams = der Wiederkunft kennt – auch die Klugen nicht. Die Aussage von Mt 24,36 und 24,42-44 wird also wiederholt.276 3) Es dauert mit dem Kommen des Bräutigams = mit der Wiederkunft Jesu tatsächlich länger, als ursprünglich erhofft und angenommen. Mit anderen Worten: Jesus steuert der Naherwartung seiner Gemeinde entgegen und bereitet sie auf einen langen Zeitraum bis zu seiner Wiederkunft vor. Über den Grund der Verzögerung beim Bräutigam hat man Vermutungen angestellt: Keine Einigung über die Geschenke? Oder „über die Höhe der 269 270 271 272 273 274 275 276

Fiedler 372. Luz III 474 lässt „eine metaphorische Bedeutung“ offen. Vätersegen 371. In seinen Betrachtungen über das Neue Testament, 2. Ausgabe, Stuttgart, 1833, 297. Schlatter 368. Vgl. BDR § 332. Jeremias, Gleichnisse a.a.O.: „ingressiver Aorist“ Vgl. BDR § 325ff. Fiedler 372 deutet das „schlafen“ auf das Sterben.

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Hochzeitsverschreibung“?277 Solche Vermutungen tragen für den Sinn des Gleichnisses wenig aus.278 Wichtiger ist die Beobachtung, dass das Einschlafen nicht getadelt wird.279 Das hindert uns, mit Schniewind zusammen280 anzunehmen, „daß sämtliche Christen … beim Ausbleiben der Parusie … träge werden“. Wichtig ist auch die Beobachtung, dass in b Schab 153a ein ganz ähnliches Gleichnis von R. Jochanan b. Zakkaj erzählt wird und Einzelzüge des Gleichnisses in weiteren Talmudstellen auftauchen.281 Mit Mt 25,1-3 sind wir also ganz im Bereich des Judentums um die Zeitenwende. Zu V. 6: In der orientalischen Festkultur ist es nicht anders möglich, als dass der Bräutigam von lautem Geschrei begleitet wird. Der Bräutigam konnte im damaligen Kontext nur als der Messias verstanden werden. μέσης νυκτός [mesēs nyktos] muss nicht exakt die Mitternacht bezeichnen. Es kann auch einfach die „stockdunkle“ Nacht meinen.282 Bei einem Gleichnis, das gerne detailliert und lokalisiert, wird man jedoch eher an Mitternacht denken.283 Jetzt hört man auch den Ruf an die eingeplanten Jungfrauen: Geht ihm entgegen!,284 das heißt: Holt ihn ab! Hier ist der entscheidende Wendepunkt in der Gleichniserzählung. Jetzt wird gleich zu Tage treten, wer wirklich töricht und wer wirklich klug ist. Da standen jene Jungfrauen alle (πᾶσαι [ pasai]) auf und richteten ihre Fackeln (V. 7): Vermutlich brannten die Fackeln während des Schlafs noch nicht.285 Man muss ja damit rechnen, dass die Wartezeit in einem Haus verbracht wurde,286 wo brennende Fackeln eine Gefahr darstellten. Das richten der Fackeln (ἐκόσμησαν τὰς λαμπάδας [ekosmēsan tas lampadas]) beschreibt Jeremias287 so: „sie befreien die Lampen von den angekohlten Resten des Dochtes und füllen Öl nach“. Für κοσμέω [kosmeō] in Mt 25,7 geben BauerAland an: „in Ordnung bringen“ (Sp. 904), ebenso Hermann Sasse.288 Bei

277 278 279 280 281 282 283 284 285

Jeremias, Gleichnisse, 172f. Oder zu viele Besucher bei ihm? Gaechter 801. Beare 482; France 351; Carson 513. Auch Sand 504. Schniewind 250. So b Pes 120b; b Meg 18b. Vgl. Strack-Billerbeck I 969f; Flusser 179ff. Gaechter 802; Luz III 475. So auch Bauer-Aland 1027. Mk 13,35 spricht ebenfalls dafür. Vgl. 1Thess 4,17. Anders Jeremias a.a.O.: „Sie warteten mit brennenden Windlichtern“; ebenso Beare 482. 286 Luz III 475. 287 A.a.O. 288 Im Art. κοσμέω usw., ThWNT, III, 1938, 867.

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diesem Zum-Gebrauch-Fertigmachen wird jetzt die Sache mit dem Öl bemerkt. Die Törichten aber sagten zu den Klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Fackeln verlöschen (V. 8): Die törichten Jungfrauen sehen, dass für die Abholung des Bräutigams mehr Öl nötig ist als eine einmalige Fackelfüllung. Vermutlich brannten die Fackeln schon einige Zeit, bevor alle einschliefen. Sie schliefen ja nicht in einem einzigen Augenblick ein (sie waren eingenickt)! Jedenfalls brauchen die Törichten wie die Klugen Nachschub. Vorgesorgt hatten allein die Klugen. Können sie teilen? Die Törichten verlangen es: Gebt uns von eurem Öl. Die Begründung stimmt ja: denn unsere Fackeln verlöschen. Das Präsens σβέννυνται [sbennyntai] verrät, dass die Fackeln schon im Begriff sind, ihre Leuchtkraft zu verlieren, und dass sie in Bälde ganz aus sein werden.289 Wie lautet die Antwort der Klugen? Ausgeschlossen (μήποτε [mēpote])! Für uns und euch zusammen reicht es nicht. Geht doch zu den Händlern und kauft für euch ein! (V. 9). Griech. μήποτε οὐ μή [mēpote ou mē] ist eine scharfe Formulierung.290 Wir übersetzten deshalb Ausgeschlossen! Ist diese Antwort zu hart? Wäre nicht „Teilen … doch ein schöner Zug“?291 Zunächst muss man sagen, dass die Antwort durch und durch rational und einsehbar ist: Für uns und euch zusammen reicht es nicht. Auch im Reich Gottes kann man sich über Tatsachen nicht hinwegschummeln. Bliebe der Bräutigam aber ohne jede Fackelbegleitung, wäre das eine Blamage und eine Beleidigung. Die Klugen weisen auf das hin, was wenigstens noch den Hauch einer Chance hat:292 Geht doch293 zu den Händlern (wörtlich: zu den Verkäufern294) und kauft für euch ein! Wer weiß: Vielleicht reicht es gerade noch, wenn alles ganz rasch geht. Die Kommentatoren haben recht: Die Bitte der törichten Jungfrauen ist „gar nicht erfüllbar“,295 die Antwort darauf spiegelt „not harshness but common sense“.296 Manchmal schweifen die Kommentare jedoch ins Spekulative ab. So Fiedler, wenn er schreibt: Der Ratschlag der Klugen diene nur dazu, „dass die Dummen bei der Ankunft des Bräutigams nicht zugegen sind“.297 Der Text bietet für eine solche Auslegung keinerlei Anhalt. Ebenso 289 290 291 292 293 294 295 296 297

Vgl. Carson 513. BDR § 370,6. Vgl. Luz III 476. Ironisch ist das nicht (gegen Schniewind 250). Im Sinne von „statt uns zu fragen“, Bauer-Aland 993. Vgl. Bauer-Aland 1463. Fiedler 373. Beare a.a.O. Ebenso France 351; Gaechter 802. A.a.O.

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wenig bietet er Grund zu der Annahme bei Luz, V. 8 und 9 stünden nur da, „weil es die Geschichte so will“.298 Im Übrigen sind die Ausleger verschiedener Meinung, ob sich die Hochzeitsgesellschaft „ins Haus der Braut“299 oder ins „elterliche Haus“ des Bräutigams300 begab.301 Vers 10 schildert das schreckliche Zuspät, vor dem Jesus die Seinen warnen will: Während sie weggingen, um einzukaufen, kam der Bräutigam. Und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeitsfeier, und die Tür wurde verschlossen. Wieder bleibt alles Zweitrangige weg. Die törichten Jungfrauen folgten also wirklich dem Rat der klugen und gingen weg, um einzukaufen. Grundsätzlich schien es also möglich, mitten in der Nacht (V. 6) einen solchen Einkauf zu tätigen.302 Vers 10 zeigt überdies, dass unter den Gruppen der Törichten und der Klugen keine Feindschaft, nicht einmal Rivalität, bestand. Der Bräutigam kam (ἦλθεν [ēlthen]): Es ist das heilsgeschichtliche ἦλθεν des Gottessohnes. Im Gleichnis gesprochen: Er trifft an der Stelle ein, wo ihn die klugen Jungfrauen, bestens präpariert, erwarten. Als Menschen, die bereit waren (ἕτοιμοι [hetoimoi]), gehen sie mit ihm zusammen hinein zur Hochzeitsfeier. Obwohl griech. γάμος/γάμοι [gamos/gamoi] sehr wahrscheinlich auf hebr. ‫[ ִמ ְשׁ ֶתּה‬mischtäh] zurückgeht,303 ist die weitere Übersetzung Hochzeitsfeier dem engeren „Hochzeitsmahl“ vorzuziehen.304 Aus allem folgenden Geschehen wird nur eines festgehalten: die Tür wurde verschlossen. Gaechter schließt daraus, dass die Hochzeit in einer Stadt gefeiert wurde. Aber darauf kommt hier nichts an. Vielmehr hängt die Aussage an dem eindrücklichen Bild von der geschlossenen Tür. Verschlossene Tür heißt: Der Zugang ist nicht mehr (Jes 22,22); drinnen ist eine eigene Gemeinschaft, die von den Draußenbefindlichen geschieden ist (vgl. Hi 38,8; Koh 12,4; Mt 6,6). Das ἐκλείσθη [ekleisthē] hat etwas Endgültiges.305 Es ist ein gnomischer Aorist, der eine „für alle Zeiten gültige Handlung“ ausdrückt.306 Siehe auch Lk 13,25. Tasker hat recht: „There is a terrible finality about the words ‚and the door was shut‘.“307 298 299 300 301 302 303 304

Luz III 476. So Gaechter a.a.O. So Jeremias a.a.O. Über die Unsicherheit bez. des Hauses vgl. Gundry 498. Auch Luz a.a.O. Vgl. E. Stauffer, Art. γαμέω usw., ThWNT, I, 1933, 646. So auch Stauffer a.a.O. 652; Sand 505. Anders Jeremias a.a.O.: „Hochzeitsmahl“. Auch Bauer-Aland 303. 305 Vgl. Gen 7,16. 306 BDR § 333,1. 307 Tasker 232.

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Die letzten Verse des Gleichnisses rücken die törichten Jungfrauen in den Mittelpunkt. Später308 kommen auch die anderen Jungfrauen und sagen: Herr, Herr, mach uns auf! (V. 11). Erzählt wird hier im Präsens (ἔρχονται – λέγουσαι [erchontai – legousai]). Das steigert die Dramatik. In der Formulierung die anderen (αἱ λοιπαί [hai loipai]) liegt schon der Abstand zur inzwischen vereinigten Hochzeitsgesellschaft. Aber sie wollen unbedingt an der Hochzeitsfeier teilnehmen, vgl. das doppelte κύριε [kyrie] und das dringliche mach uns auf!309 Sie selbst betrachten sich also immer noch als dem Bräutigam zugehörig (ähnlich in Mt 25,44 und 7,22). Vor allem fällt die Verwandtschaft mit Mt 7,21ff in die Augen, aber auch mit Lk 13,25f. Hier ist ein großes Maß an Selbsttäuschung im Spiel, das Jesus offenbar verhindern will. Er aber gab zur Antwort: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht (V. 12). Nicht ein Bote, sondern er selbst, der Bräutigam, spricht mit den törichten Jungfrauen. Deshalb gilt sein Wort (Amen). Natürlich ist das AmenWort ein Hinweis darauf, dass es um den Gottessohn und Messias Jesus geht.310 Die Aussage Ich kenne euch nicht (οὐκ οἶδα ὑμᾶς [ouk oida hymas]) darf nicht oberflächlich-menschlich gedeutet werden im Sinne von: „Ihr seid mir unbekannt“, sondern als ein definitives „Ich habe mit euch nichts zu tun.“311 Es handelt sich also um eine feierliche, dauerhafte Abweisungsformel, „a decisive formula of rejection“.312 So wird es im Endgericht sein (vgl. Mt 7,23). Den modernen Leser mag die „Härte“ der Abweisung befremden.313 Gaechter hat bereits dazu bemerkt, dass die mangelnde Bereitschaft der törichten Jungfrauen und ihr Ausfall bei den Hochzeits-Pflichten eine Beleidigung für den Bräutigam darstelle.314 In der Tat ist die Einholung durch nur fünf Jungfrauen eine eher armselige Begleitung. Auf menschlicher Ebene kommt die Enttäuschung dazu.315 Im Vordergrund steht jedoch etwas anderes: Die törichten Jungfrauen haben ihren Auftrag nicht erfüllt, und zwar durch eigene Sorglosigkeit und Pflichtvergessenheit. Die klugen Jungfrauen dage-

308 309 310 311 312 313 314 315

Bauer-Aland 1693. Carson 514: „intense cries“; vgl. Sand 505. Vgl. Luz III 477. Sand 505; Luz a.a.O.; Carson 514. France 352. Jeremias, Gleichnisse, 175. Gaechter 802f. Auch dann, wenn die Jungfrauen von „maidservants in the bride’s paternal house“ gestellt wurden (so Gundry 501). Auf „Mägde … des väterlichen Haushaltes der Braut“ deutet auch Jeremias a.a.O.

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gen konnten trotz des Schlafes ihren Auftrag erfüllen, weil sie vorbereitet waren und vorgesorgt hatten. Vers 13 schließt den ganzen Abschnitt: Bleibt also wachsam (Γρηγορεῖτε οὖν [Grēgoreite oun])! Denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde. Nach dem Empfinden mancher „paßt“ dieser Schluss „nicht“ zum Gleichnis.316 Er wird dann als „sekundär“ betrachtet.317 Andere beharren darauf, dass der Vers ursprünglich sei.318 Beachtet man, dass Jesus seine Darlegungen gerne mit einer pädagogischen Sentenz abschloss (Mt 5,48; 12,8; 13,52; 18,35; 19,12; 20,16; 21,22; 22,14) und dass die Mahnung zum Wachbleiben etwas anderes ist als die Warnung vor Schlaf,319 dann „passt“ V. 13 durchaus zu V. 1-12. Bleibt wachsam heißt: Seid bereit, seid eingestellt, seid orientiert auf die Wiederkunft eures Herrn. Erneut muss betont werden, dass es sich dabei nicht um die Pflege einzelner Tugenden oder einzelner Glaubensgüter handelt. Es lohnt, hier auf die Stimme Adolf Schlatters zu hören: „Es ist ein Fehler, wenn man bei dieser Erzählung nur an diese oder jene einzelne Pflicht oder Tugend des Christenlebens denkt … Unsere Weisheit hat darin zu bestehen, daß wir nicht nur auf dies oder jenes, sondern auf alles bedacht sind, was zu unserem Christenstand gehört.“320 Zu schnell ist man sonst bei den Tugenden des zeitgenössischen Protestantismus, bei den guten Werken,321 bei der Mitmenschlichkeit,322 bei der Liebe.323 Aber was nützen im Licht von Mt 25,1-13 alle guten Werke, wenn ich den Glauben an die Wiederkunft Jesu verloren habe? Angelsächsische Ausleger sind hier häufig näher am Text: Carson 514: „Be prepared!“; France 352: „constant readiness“; Tasker 234: „be vigilant and ready“; Gundry 502: „preparedness“. Denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde: Wie in Mt 24,42; 24,50 begründet gerade das Nichtwissen des Zeitpunkts der Wiederkunft den Ruf zu permanenter Wachsamkeit.

IV Zusammenfassung 1. Eine der berührendsten Auslegungen von Mt 25,1-13 ist das Lied von Lorenz Lorenzen (1660–1722) im Evangelischen Gesangbuch (Nr. 151). Vor allem die zweite Strophe übersetzt es genial in die Gemeindesituation, wobei 316 317 318 319 320 321 322 323

Jeremias, Gleichnisse, 105.48. A.a.O. S. 105.109f. Auch Gaechter 803. Flusser 178; Carson 514; France 352; Tasker 234. Gundry 502; Carson 514. Schlatter 369. Ähnlich Schniewind 250. Gundry 497.502; Luz III 477. Auch Fiedler 371ff. Luz a.a.O. Luz a.a.O.

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sie der Versuchung entgeht, sich in die Aufzählung von Einzelaspekten zu verlieren: „Macht eure Lampen fertig / und füllet sie mit Öl / und seid des Heils gewärtig, / bereitet Leib und Seel!“ 2. Auch Skeptiker können sich vorstellen, dass Mt 25,1-13 auf den historischen Jesus zurückgeht.324 3. Offenlassen muss man die Frage, wie weit biblische und geistliche Anspielungen im Gleichnis beabsichtig waren. Relativ weit geht hier Gundry, der zum Beispiel μετ’ αὐτοῦ [met autou] in V. 10 mit dem Immanuel von Mt 1,23; 28,20 verbindet.325 Vergleiche auch das λαμπάδες σβέννυνται [lampades sbennyntai] von V. 8 mit Hi 18,5; Spr 13,9. 4. Unstreitig ist dagegen, dass das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen eine starke Prägekraft auf die christliche Geschichte und Tradition gehabt hat. Man vgl. Offb 19,7; Did 16,1 und eine ganze Gruppe von Liedern im EG (Nr. 147; 149; 151; 152; 558). 5. Der Zentralpunkt des Gleichnisses ist der Ruf zu permanenter Bereitschaft326 im Blick auf die Wiederkunft Christi. Sie besteht in einer ganzheitlich-lebendigen Beziehung zu Christus und Gott. Die permanente Bereitschaft muss gerade deshalb vorhanden sein, weil wir den Zeitpunkt der Wiederkunft nicht kennen. Schlatter merkt hier mit Recht an: „Jesus verbietet uns den Gedanken, wir könnten unseren Mangel schon noch gut machen und hätten jetzt noch Zeit, uns einigen Ungehorsam zu gönnen.“327 6. Hier steht unser Heil auf dem Spiel. Dem entspricht die Deutlichkeit des Gerichts. Kritische Ausleger gehen dazu auf Distanz. Sie ist etwa dort spürbar, wo Luz davon schreibt, dass sich das Bild „von der fröhlichen Hochzeit … in eine erschreckende Schilderung des Gerichts des Menschensohnes“ verwandle.328 250 Jahre zuvor hatte Bengel von einer ganz anderen Warte aus angemerkt: „wie oft kommt der Ausschlag zwischen der Klugheit und Thorheit auf ein Geringes an“329 – in der Tat kann inmitten der Festesumstände der Mangel an Ölvorrat von außen betrachtet als „ein Geringes“ erscheinen. 7. Der Schlaf ist, noch einmal sei es betont, die Unkenntnis über den Zeitpunkt der Wiederkunft.330 Dabei warnt das Gleichnis nachdrücklich vor jeder Naherwartung. 324 325 326 327 328 329 330

Vgl. Luz III 472. Gundry 501. Vgl. auch Flusser 179; Schlatter 368f. Schlatter 368. Luz III 477. Siehe besonders Luz III 486ff. Bengel, Gnomon, 173. So auch Gundry 502: „ignorance concerning the exact time of Jesus’ coming“.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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8.3.6 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten, 25,14-30

I Übersetzung 14 Denn es ist wie bei einem Mann, der verreisen wollte: Er rief seine Knechte und übergab ihnen seinen Besitz. 15 Und dem einen gab er fünf Talente, dem anderen zwei, dem dritten eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste er ab. Unverzüglich 16 machte sich der, der die fünf Talente erhalten hatte, ans Werk, wirtschaftete damit und gewann weitere fünf. 17 Ebenso gewann der mit den zweien weitere zwei. 18 Der aber, der das eine erhalten hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn. 19 Nach langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte und hält Abrechnung mit ihnen. 20 Und es kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, und brachte fünf weitere Talente herbei und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir übergeben. Siehe, ich habe noch einmal fünf Talente dazugewonnen. 21 Sein Herr sagte zu ihm: Gut! Du guter und treuer Knecht, du warst über wenigem treu. Ich will dich über viel setzen. Komm herein zum Freudenmahl deines Herrn! 22 Es kam auch der mit den zwei Talenten und sagte: Herr, zwei Talente hast du mir übergeben. Siehe, ich habe noch einmal zwei Talente dazu gewonnen. 23 Sein Herr sagte zu ihm: Gut! Du guter und treuer Knecht, du warst über wenigem treu. Ich will dich über viel setzen. Komm herein zum Freudenmahl deines Herrn! 24 Da kam auch der, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste von dir, dass du ein harter Mann bist, der du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast. 25 Deshalb fürchtete ich mich. Ich ging hin und versteckte dein Talent in der Erde. Siehe, da hast du das Deine! 26 Sein Herr aber gab ihm zur Antwort: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe, 27 dann hättest du mein Geld den Wechslern zur Verfügung stellen sollen, und ich wäre gekommen und hätte das Meine mit Zinsen wiederbekommen. 28 Nehmt ihm also das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! 29 Denn wer da hat, dem wird gegeben, und sogar im Überfluss gegeben. Dem aber, der nicht hat, wird auch noch genommen, was er hat. 30 Und den unnützen Knecht werft hinaus in die Finsternis draußen! Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein.

II Struktur Es fällt sofort auf, dass wir es mit einer anderen Thematik zu tun haben als in Mt 24,32–25,13. Denn nicht mehr der unbekannte Zeitpunkt und der überra-

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schende Eintritt der Wiederkunft bilden das Thema, sondern das Handeln der Jünger vor der Wiederkunft. Dennoch bleibt die innere Verbindung mit Mt 24,32–25,13 stark: Der Horizont der Wiederkunft bleibt erhalten, ebenso der Horizont des mit der Wiederkunft verbundenen Gerichts, und es sind nach wie vor die Jünger angeredet. In Mt 25,14-30 fallen die monoton klingenden Sätze auf. Sie leisten es, Spannung aufzubauen, und gehen den Hörern leicht ein. Die Bewunderung für den Gleichniserzähler Jesus wächst, der so souverän und kreativ mit seinen Materialien umgehen konnte. Eine Art Parallele zu Mt 25,14-30 gibt es nur in Lk 19,11-27. Aber ein genauerer Blick zeigt, dass zwischen Lk 19,11ff und Mt 25,14ff so große Unterschiede bestehen, dass man trotz der Verwandtschaft im Material doch mit zwei verschiedenen Gleichnissen rechnen muss: Lk 19,11ff führt uns in die Welt der jüdischen Thronwirren, Mt 25,14ff in die Welt der reichen Hautevolee; in Lk 19,11ff werden die Feinde vom Herrscher niedergemacht, in Mt 25,14ff werden die untreuen Diener dem göttlichen Gericht überliefert; in Lk 19,11ff sind es zehn Knechte, in Mt 25,14ff drei; Lk 19,11ff spielt außerhalb Jerusalems, Mt 25,14ff wird in Jerusalem mit anderen Kontexten erzählt. Jeremias hat das Richtige gespürt, wenn er Lk 19,11ff als „ein ursprünglich selbständiges zweites Gleichnis vom Thronprätendenten“ bezeichnet.331

III Einzelexegese Die Einleitung des Gleichnisses ist denkbar kurz (V. 14): Ὥσπερ γάρ [Hōsper gar] = „denn es ist so, wie wenn“.332 Das denn (γάρ [gar]) sollte man allerdings nicht unterschlagen. Es weist auf eine frühere, ähnliche Lehrunterweisung Jesu hin. Verglichen wird mit einem Mann, der verreisen wollte (ἄνθρωπος ἀποδημῶν [anthrōpos apodēmōn]). Sein Ziel ist vermutlich das Ausland. Jeremias nennt ihn einen „Großkaufmann“,333 es könnte auch ein Großgrundbesitzer sein. Jedenfalls rief er seine334Knechte. Die Übersetzung „Sklaven“335 vermeidet man besser, denn Jesus geht sehr wahrscheinlich vom hebr. ‫ֶעֶבד‬ 331 Jeremias, Gleichnisse, 56. Ähnlich Luz III 495: „eine unabhängig überlieferte Variante“. Eindeutig Carson 515: „two separate parables“. Wie wir auch France 353; Tasker 236; Schniewind 251. Von „derselben Parabel“ spricht Beare 487; auch Bultmann, Gesch, 190. 332 Bauer-Aland 1794. 333 Jeremias, Gleichnisse, 58. 334 Seine = ἴδιοι betont nicht, dass es wirklich seine eigenen Knechte waren, sondern tritt einfach an die Stelle eines αὐτοῦ. 335 Luz III 493; Carson 515.

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[ʿäbäd] aus, das durchaus geeignet ist, eine Ehrenstellung auszudrücken (vgl. Gen 15,2; 24,2ff; Jes 22,20ff ). Die Worte er übergab ihnen seinen Besitz (τὰ ὑπάρχοντα αὐτοῦ [ta hyparchonta autou]) setzen ein Vertrauensverhältnis voraus. Der Grund, warum er das tat, wird nicht genannt. Traute er ihnen zu, dass sie sein Vermögen mehren würden? Das δύναμιν [dynamin] in V. 15 deutet in diese Richtung. Klar ist dagegen jetzt schon, dass das Gleichnis von seiner christologischen Transparenz lebt. Denn der ἄνθρωπος [anthrōpos] ist kein anderer als der Menschensohn Jesus, die Knechte sind seine Jünger, das verreisen (ἀποδημεῖν [apodēmein]) sein Sterben und seine Himmelfahrt, das übergeben des Besitzes die Erteilung der Aufträge Christi an seine Jünger und die Gabe des Heiligen Geistes. Siehe auch Mk 13,34. Und dem einen336 gab er fünf Talente, dem anderen zwei, dem dritten eines, jedem nach seinen Fähigkeiten (V. 15): Drei exemplarische Fälle. Die Beträge sind hoch. Mit Josephus setzen Jeremias und Schröder 1 Talent auf 10 000 Denare an.337 „Das Talent ist die größte Geldeinheit im ganzen vorderasiatischen Raum.“338 Fünf Talente entsprechen also 50 000 Denar, zwei Talente 20 000 Denar, ein Talent 10 000 Denar. Auffällig sind die Worte jedem nach seinen Fähigkeiten (ἑκάστῳ κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν [hekastō kata tēn idian dynamin]). Hier hat ἴδιος [idios] einen stärkeren Ton als in V. 14. Es meint wirklich die jeweils persönlichen Fähigkeiten, wörtlich: „Kraft“, „Können“.339 Jesus, die Hauptfigur des Gleichnisses, gibt also sehr spezielle, auf die Person zugeschnittene und nicht „pauschalisierte“ Aufträge. Der Heilige Geist verfährt nach Röm 12,3ff genauso. Nicht Privilegien, nicht eine Vorzugsbehandlung verschaffen also dem ersten Knecht fünf Talente, sondern das gerechte und barmherzige Handeln Jesu, der niemand mehr zumutet, als er tragen kann (vgl. Mt 20,22; 1Kor 10,13). Hätte man dies konsequent bedacht, dann wäre die geistlose Brücke zwischen unserer Parabel und dem zeitgenössischen Kapitalismus340 gar nicht erst geschlagen worden. Jesu knappe Erzählweise übergeht alles Weitere und markiert nur kurz den Übergang zum Handeln der Knechte: ἀπεδήμησεν – εὐθέως [apedēmēsen – eutheōs].

336 Vgl. BDR § 293,11. 337 Josephus Ant XVII, 190.323; Jeremias, Gleichnisse, 208; Schröder 191f. 338 Schröder 192. Doch vgl. über die Unsicherheiten der Berechnung Carson 516. Fiedler 374 z.B. rechnet 1 Talent zu 6000 Denaren, auch France 353. 339 Bauer-Aland 418. Vgl. W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, 287. 340 Luz III 498ff.

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Die Verse 16 und 17 berichten von einer erfolgreichen Geschäftsführung der Knechte. Der erste arbeitet unverzüglich (εὐθέως πορευθείς [eutheōs poreutheis]): Zeit ist Geld. Griechisch heißt es nur: „er arbeitete mit ihnen“ = den fünf Talenten. Da die Talente eine Geldsumme darstellen – in Silber oder Gold, eher Ersteres wegen ἀργύριον [argyrion] V. 18341 – kann die Verdoppelung, die er schafft (er gewann weitere fünf), durch verschiedene wirtschaftliche Maßnahmen zustande gekommen sein: Ankauf/Verkauf, Transitgeschäfte, Grundstücksgeschäfte, Viehhandel, Geschäfte mit Kosmetika oder Schmuck usw. Jedenfalls ist κερδαίνειν [kerdainein], gewinnen, ein typischer Terminus der Wirtschaftssprache (Jak 4,13), wird dann aber zu einem „echten Terminus der Missionssprache“.342 Ebenso machte es der Zweite (V. 17). Auch er verdoppelte die anvertraute Summe von zwei auf vier Talente. Jesus bewegt sich ganz selbstverständlich im „spezifischen sozio-ökonomischen“ Milieu343 jener Zeit. Er hat aber niemals ein Wort zum Wirtschaftssystem verfasst, wie es seine heutigen Kirchen so sehr lieben. In dieser Hinsicht war er so wenig revolutionär wie der Täufer (vgl. Lk 3,10ff ).344 Voller Spannung warten die Hörer auf den Dritten. Der aber, der das eine erhalten hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn (V. 18). Gut oder schlecht? Spätere Rabbinen sagen: „Für Geld gibt es keine andere Verwahrung als in der Erde.“345 Die Verwahrung in einem Tuch (Lk 19,20) galt als weniger sicher.346 R.T. France meint, er „substituted security for service“.347 Positiv lässt sich weiter sagen: Unterschlagen wollte er nichts. Er betrachtete sogar weiterhin den Verreisten als seinen Herrn. Man muss es Jesus lassen: Die Spannung seiner Erzählung bleibt bis zum Schluss erhalten! Zu ἀργύριον [argyrion] = Geld, spezieller: Silbergeld, vgl. oben. Doch fällt jetzt schon zweierlei auf: 1) Der dritte Knecht verlässt die Solidargemeinschaft der übrigen Knechte, 2) er tut nichts für die Vermehrung des Vermögens seines Herrn. Verse 19 bringt uns an die Peripetie des Geschehens: Nach langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte. Er kommt! Das steht fest, gerade im Blick auf die Wiederkunft Jesu. Die Präsens-Formen (ἔρχεται, συναίρει [er341 342 343 344

So Carson 516. Vgl. H. Schlier, Art. κέρδος usw., ThWNT, III, 1938, 672. Riesner 94. Beare 486: „This is a table of financial activities“. Absurd ist im gegebenen Zusammenhang, den Hörern sei „der Gedanke an Skrupellosigkeit und Halsabschneiderei“ nicht ferne gelegen (so Luz III 500). 345 B Baba Mezia 42a. 346 Vgl. France 353. 347 France a.a.O.

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chetai, synairei]) unterstreichen die Dramatik. Alle Details des Wiederkunftsgeschehens bleiben hier weg. Jesus konzentriert sich auf das eine: er hält Abrechnung mit ihnen.348 Was haben sie in der Zwischenzeit mit seinem Vermögen gemacht? Erneut verbindet sich der Gerichtsgedanke mit der Wiederkunft. Besondere Beachtung fordert angesichts der gegenwärtigen Diskussionslage das Μετὰ δὲ πολὺν χρόνον [Meta de polyn chronon]. Die gesamte Wortgruppe um χρονίζειν [chronizein] und χρόνος [chronos] in Mt 24,48; 25,5.19; Lk 12,45; 20,9 will ja einschärfen, dass Jesu Wiederkunft länger aussteht, als es sich die Gemeinde wünscht. Mit Recht bemerkt Gerhard Delling zu dieser Wortgruppe, dass die Gemeinde „zu solchem Warten bereit zu sein hat“.349 Man kann sich nur wundern, wie hartnäckig in der protestantischen Theologie demgegenüber eine angebliche Naherwartung Jesu vertreten wird.350 Im Übrigen zeigt sich an Mt 25,19, dass auch Christen ins Gericht kommen und Rechenschaft geben müssen (vgl. Mt 18,23; 22,11ff; 24,45ff; 25,1f; 2Kor 5,10). Die Reihenfolge von V. 15 wird eingehalten: Und es kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, und brachte fünf weitere Talente herbei und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir übergeben. Siehe, ich habe noch einmal fünf Talente dazugewonnen (V. 20). Die Sprache ist streng an den Tatsachen orientiert. Wie so oft in der Bibel bleiben psychologische Erwägungen, Absichten, Rückschläge, Einzelschritte usw. außer Betracht. Was zählt, ist das Ergebnis. Für Luz ist er ein „Geschäftemacher“, nachdem er zuvor schon mit „Skrupellosigkeit“ und „Halsabschneiderei“ in Verbindung gebracht wurde.351 Solche negativen Urteile liegen dem Text fern. Die Talente sind vom Herrn. Ihre Übergabe an den Knecht ist die Basis des Geschehens – dazu konnte der Knecht nichts beitragen. Aber was er mit der Gabe macht, das ist seine Sache, seine Verantwortung, seine Arbeit und Mitarbeit (1Kor 3,12f ). Gottes Gnade besteht darin, dass sie uns zu Mitarbeitern und nicht zu göttlich gesteuerten Computern macht. Vers 21 schildert die Antwort seines Herrn (ὁ κύριος αὐτοῦ [ho kyrios autou]). Er sagte zu ihm: Gut (εὖ [eu])! Du guter und treuer Knecht, du warst über wenigem treu. Ich will dich über viel setzen. Die Wendung sein Herr macht erneut deutlich, dass die Knechte des Gleichnisses die Jünger abbilden. Mt 25,14ff ist ein Jüngergleichnis, und kein Jedermannsgleichnis. 348 Vgl. Mt 18,23. 349 Im Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, 588. 350 Unverständnis dokumentiert der Satz von Sand 508: Die längere Abwesenheit sei „an sich kein wichtiger Zug der Parabel“. 351 Luz III 501.500.

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Das griech. εὖ [eu] geben Bauer-Aland 642 mit „vortrefflich! bravo!“ wieder.352 Es ist ein ermutigendes Lob. Zum treuen Knecht vgl. V. 45ff. Hier tritt noch das gut (ἀγαθός [agathos]) hinzu. Auch das hebr. ‫[ טוֹב‬thōb], das hinter ἀγαθός [agathos] steht, kann den guten Menschen im religiös-sittlichen Sinne bezeichnen. Gesenius kennzeichnet es durch die Begriffe „gut“, „bravo“, „wacker“, „vir bonus“, „honestus“.353 Es fällt auf, dass Gott im Gericht einen Menschen unumwunden als gut bezeichnen kann. Aber die Wortfolge πιστέ – πιστός [ piste – pistos] macht doch deutlich, dass der Hauptakzent auf der Treue des Knechtes liegt. Hier gilt dann, was Davies-Allison zu unseren Versen bemerken: Es komme nicht auf die Qualität dessen an, was die Knechte zuwege bringen, sondern auf die innere Qualität der Treue („the fidelity of one’s commitment“).354 Die Vermutung liegt nahe, dass Paulus 1Kor 4,2 auch in Anlehnung an solche Jesusworte formulierte: „Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu (πιστός [ pistos]) befunden werden.“ Siehe auch Mt 20,1-16. Du warst über wenigem (ἐπὶ ὀλίγα [epi oliga]) treu: Davies-Allison beziehen dies auf „wenige Talente“ („over a few talents“).355 Aber 1) sind fünf Talente = 50 000 Denar nicht wenig, 2) umschließt die Treue ja mehr als den erfolgreichen Umgang mit Geld, zum Beispiel auch den Gehorsam und das innere Einverständnis mit dem Herrn. Deshalb ist es besser, in ἐπὶ ὀλίγα eine bewusst offene Formulierung zu erblicken und es etwa im Sinne von „kleinem Auftrag“ zu verstehen. Die Belohnung ist doppelt. Erstens will der Herr diesen guten und treuen Knecht über viel setzen ( ἐπὶ πολλῶν σε καταστήσω [epi pollōn se katastēsō]). Auch diese Formulierung ist bewusst offen gehalten. Sie zeigt an, dass der Knecht jetzt einen viel größeren Auftrag bekommen soll.356 Denn er wird über das viele (τὰ πολλά [ta polla]) die Verfügungsgewalt haben. Siehe auch Lk 19,17: ἐξουσίαν ἔχων ἐπάνω δέκα πόλεων [exousian echōn epanō deka poleōn]. Hier erfüllt sich, was die Weisheit der alten jüdischen Lehrer so formulierte: „Laufe zu einer geringen gottgefälligen Handlung wie zu einer wichtigen … denn … der Lohn einer gottgefälligen Handlung ist eine gottgefällige Handlung“ (P. Abot IV, 2).357 Mt 25,21 ist zugleich eine Wiederholung von Mt 24,47. Außerdem beachte man, was Schlatter an dieser Stelle sagt: „Sie bleiben seine Diener, die er weiter nach Auch BDR § 102,3: „bravo“. Gesenius 273. Davies-Allison III 408. A.a.O. Tasker 237: „give you a sphere, where you will have more scope“; Luz III 501 denkt an „größere Summen für Geschäfte. 357 Vgl. Davies-Allison III 407.

352 353 354 355 356

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seinem Willen tätig macht.“358 Die zweite Belohnung besteht359 in der Zulassung zum Freudenmahl seines Herrn: Komm herein (εἴσελθε [eiselthe]) zum Freudenmahl (εἰς τὴν χαράν [eis tēn charan]) deines Herrn! Zwar könnte man das εἰς τὴν χαράν auch im Sinne von „zur Freude“ / „für die Freude“ verstehen.360 Die Aufforderung Komm herein lässt jedoch eher an ein Freudenfest, ja sogar ein Freudenmahl denken. Ein solcher Sprachgebrauch lässt sich schon im AT nachweisen. Man denke an die Wendung ‫שׂה‬ ָ ‫ָע‬ ‫[ ִשְׂמָחה‬ʿāśāh śimchāh] in 2Chron 30,23; Neh 8,12; 12,27;361 vgl. 1 Chron 29,22. Deshalb ziehen wir die Übersetzung Freudenmahl vor.362 Klar ist jedenfalls, dass Komm herein / Freude / Freudenmahl eschatologische Geschehnisse ausdrücken. Auch das über viel setzen muss deshalb nach dem Endgericht, schon in der neuen Schöpfung, stattfinden. Zum Dienst der Knechte in der neuen Schöpfung vgl. Offb 22,3. Der zweite Knecht, der mit den zwei Talenten, gab in derselben Weise Rechenschaft wie der erste (V. 22). Die Antwort seines Herrn ist wortwörtlich dieselbe wie beim ersten Knecht (V. 23). Das klingt monoton, baut aber bewusst Spannung auf in der Erwartung des dritten. Weiter bleibt festzuhalten: Das Lob ist beim zweiten Knecht nicht geringer als beim ersten.363 Jesus weist also nachdrücklich darauf hin, dass es beim Endgericht nicht um die Menge der guten Werke (eine quantitative Erfolgsbilanz) geht, sondern um die Hingabe und eben die Treue, in der sie getan wurden. Schon deshalb ist ein menschliches Urteil für das Endgericht untauglich (vgl. 1Sam 16,7; Joh 21,15ff ). Die Begegnung mit dem dritten Knecht wird nun am ausführlichsten geschildert. Daraus ergibt sich, dass Jesus das Gleichnis hauptsächlich wegen dieses dritten Falls erzählt hat.364 Da kam auch der, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste von dir, dass du ein harter Mann bist, der du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast (V. 24): Die bisher „harmonische“ Reihe wird durchbrochen. Die Knechte Nr. 1 und Nr. 2 358 359 360 361

Schlatter 372. Sie fehlt bei Lukas. Vgl. BDR § 205-207; Lutherbibel. Gesenius 788. Vgl. dazu H. Conzelmann im Art. χαίρω usw., ThWNT, IX, 1973, 355 mit Belegen zu den Rabbinica; G. Vanoni, Art. ‫שַׂמח‬ ָ , ThWAT, VII, 1993, 808ff. 362 Ebenso Bauer-Aland 1748 (mit der kritischen Frage „aber ob für Griechen verständl.?“); Davies-Allison III 408 („joy at the messianic banquet“); Schniewind 252; Jeremias, Gleichnisse, 57. 363 France 353. 364 Beare 490.

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hatten kein Glaubensbekenntnis in Worten abgelegt, nur mit der Tat. Der dritte Knecht aber spricht nun sein „negatives“ Bekenntnis aus. Zwar bleibt die Anrede Herr (κύριε [kyrie]). Er gibt damit zu erkennen, dass er sich weiterhin zur Jüngerschaft rechnen will. Aber welch innere Distanz zu diesem Herrn! Ich wusste: Der Aorist ἔγνων σε [egnōn se] kann auch übersetzt werden „ich habe erkannt“, „ich habe erfahren“ = „die Erfahrung mit dir gemacht“.365 Es liegt eine merkwürdige Spannung zwischen diesem ich wusste und der Annahme seines Auftrags. Dass du ein harter Mann bist: hart, „unangenehm“ sind im NT Steine oder negative Worte.366 Bei Personen notieren Bauer-Aland für σκληρός [sklēros]: „schroff “, „hart“, „grausam“, „streng“, „unbarmherzig“.367 Der dritte Knecht kennzeichnet seinen Herrn damit in direktem Gegensatz zum Gottesbild des AT, in dem uns Gott als „barmherzig“, „gnädig“ und „geduldig“ begegnet (Ex 34,6; Nah 1,3). Was er sagte, erinnert uns in bedrückender Weise an den zweiten Sohn des Gleichnisses in Lk 15,11ff, der seinem Vater vorwirft: „So viele Jahre diene ich dir … und du hast mir nie einen Bock gegeben“ (Lk 15,29). Zu beachten ist auch die Formulierung ein Mann (ἄνθρωπος [anthrōpos]). Steckt darin nicht doch ein Hinweis, dass für den dritten Knecht sein Herr eben auch nur ein Mensch ist, nicht aber ein Herr, dem göttliche Ehre zukommt? Ernten, wo du nicht gesät hast, und sammeln, wo du nicht ausgestreut hast, geht vermutlich auf Sprichwörter zurück (vgl. Hi 4,8; Sir 7,3; Spr 22,8; Hos 10,12; Gal 6,7f ).368 Das legt auch der Vergleich mit Joh 4,36ff nahe. Der Sinn dieser Aussage ist. Du lässt andere für dich arbeiten, und du lebst von dem, was sie für dich getan haben. Das mag für die anderen, menschlichen, Religionsführer zutreffen. Es steht aber erneut in direktem Gegensatz zu dem, was Jesus selbst über sich sagte: „Ich bin nicht gekommen, dass ich mir dienen lasse, sondern dass ich diene“ (Mt 20,28). Aus der Bildhälfte in die Sachhälfte übertragen: Der dritte Knecht vertritt geradezu einen Gegenentwurf zur wahren Christologie. Davies-Allison sprechen im Blick auf V. 24b von einer „agricultural metaphor“.369 Mit Recht. Doch ist diese Metapher in der jüdischen Weisheit (vgl. obige Stellen) schon längst auf sittliche und religiöse Sachverhalte angewandt worden.370 Otto Michel lässt es bei διεσκόρπισας [dieskorpisas] offen, ob es 365 366 367 368 369 370

Bauer-Aland 321ff. Vgl. R. Bultmann, Art. γινώσκω usw., ThWNT, I, 1933, 702f. Bauer-Aland 1510. Vgl. Joh 6,60. A.a.O. F. Hauck, Art. θερίζω usw., ThWNT, III, 1938, 132f. Davies-Allison III 409. Vgl. Maier II 326f.

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„dasselbe bedeutet“ wie ἔσπειρας [espeiras] oder vielmehr „das Worfeln des Getreides“ bezeichnet.371 Uns scheint Ersteres näher zu liegen. Eine besondere Spitze von V. 24 liegt darin, dass der Knecht seinen Herrn hart nennt, obwohl doch dieser Herr gerade ihn nicht überfordert hatte (er gab dem Dritten entsprechend seinen Fähigheiten nur ein Talent!), V. 15. Deshalb fürchtete ich mich. Ich ging hin und versteckte dein Talent in der Erde. Siehe, da hast du das Deine! (V. 25): Der dritte Knecht begründet hier sein Handeln. Denn καί [kai] hat konsekutiven Charakter = „so daß“, „daher“.372 Sein Handeln wird von ihm objektiv beschrieben. Siehe auch V. 18 und die Erklärung dort. Schwierig ist aber die Aussage ich fürchtete mich (φοβηθείς [ phobētheis]). Wovor? Viele Ausleger meinen, er habe befürchtet, dass sein Herr „bei Mißlingen der geschäftlichen Operation in äußerste Wut über den Verlust seines Geldes geraten“373 und dann diese Wut an ihm auslassen würde. Etwas anders lautet die Erklärung bei R.T. France. In Anlehnung an Bonnard hört er aus V. 25 „orientalischen Fatalismus“ heraus.374 Ja, der Knecht repräsentiert für ihn eine Jüngerschaft, die es nicht wagt, für Jesus zu handeln.375 Ulrich Luz gesteht ein, dass die Angst schwer zu erklären sei: „Man weiß nicht so recht, wie man sie einordnen soll“ („Trotz, Protest und Furcht“?).376 Uns scheint, dass der Knecht beides gefürchtet hat: 1) die Bestrafung bei Misserfolg, 2) die Vereinnahmung aller Gewinne durch den Herrn selbst, ohne dass für ihn, den Knecht, eine Belohnung abfiele. Siehe, da hast du das Deine: Davies und Allison vermuten, der dritte Knecht habe erwartet, für seine Vorsicht gelobt zu werden.377 Nach dem oben Dargestellten scheint das wenig wahrscheinlich. Man hat auch wenig Grund, den dritten Knecht mit Luz einfach für „frech und ungerecht“ zu erklären.378 In seinen Worten drückt sich eher Selbstgerechtigkeit aus: „Ich habe nichts Falsches gemacht“, „ich habe recht getan“, vielleicht auch Erleichterung: „nun ists überstanden“. Unwillkürlich erinnert Mt 25,25 an 1Joh 4,18: „Furcht ist nicht in der Liebe“. Ausführlich ist auch die Antwort seines Herrn. Sie umfasst V. 26-30, also den gesamten Rest des Gleichnisses.

371 372 373 374 375 376 377 378

O. Michel, Art. σκορίζω usw., ThWNT, VII, 1964, 423. Vgl. BDR § 442,2. Jeremias, Gleichnisse, 58; Schniewind 252; Fiedler 375; Carson 517; Schlatter 372. France 354. A.a.O.: „it represents a discipleship which consists of playing safe“. Luz III 501. Davies-Allison III 408: „to be commended for his caution“. Luz III 508. Dagegen mit Recht Fiedler 375.

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Sein Herr ist hier der Gerichtsherr. Erneut wird deutlich, dass wir Christen ebenfalls dem Endgericht unterliegen (vgl. 2Kor 5,10). Du böser und fauler Knecht! (V. 26): Das ist der Gegensatz zum guten und treuen Knecht von V. 21.23. Zum griech. ὀκνηρός [oknēros] gibt es philologische Diskussionen.379 Doch sollte es bei Bauer-Alands und Haucks Vorschlag bleiben, es im Sinne von „träge“, faul oder auch im Sinne von „lässig“ zu verstehen.380 F. Hauck: „Es schildert den, der aus allerlei Beweggründen u Hemmungen den Entschluß zur Tat nicht findet.“381 Im Folgenden kommt Jesus dem bösen Knecht weit entgegen und stellt sich auf seinen Standpunkt: Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe … Es ist jedoch ein Fehlweg, wenn Luz das Entgegenkommen Jesu so deutet, als öffne es den Raum für ein Verständnis, dass Jesus „vielleicht doch ein ‚harter Mann‘ und die Angst des dritten Sklaven gar nicht so grundlos sei“.382 Im Gegenteil: Gerade das Eingehen Jesu auf dessen Argumentation zeigt, dass er eben kein „harter Mann“ ist! Es hätte ja doch die Möglichkeit gegeben, dass du mein Geld den Wechslern (τοῖς τραπεζίταις [tois trapezitais]) zur Verfügung stellen konntest, und ich wäre gekommen und hätte das Meine mit Zinsen wiederbekommen (V. 27). In diesem Falle hätte der Knecht selbst keine weiteren Operationen durchführen müssen, er wäre von Verantwortung und Furcht befreit gewesen: Nur das Eine wäre die Voraussetzung gewesen: dass er in Treue und Gehorsam an seinen Herrn dachte und für ihn etwas – sei es auch noch so klein – tun wollte. Doch selbst dieses Kleinste fehlte. Gerade von seinem eigenen Standpunkt aus war der Knecht verwerflich. „Aus deinen Worten wirst du verurteilt werden“ (Mt 12,37; vgl. Hi 40,7ff ). Die Wechsler (τραπεζίται [trapezitai], auch im Rabb. als Fremdwort) sind zum Beispiel die Geldwechsler im Tempel (Mt 21,12). Das Wort – eigentlich „Tischleute“ – nimmt dann die Bedeutung „Bankiers“ an, die es auch hier in Mt 25,27 hat. Gemeint sind Geschäftsleute, „die normale Bankgeschäfte durchführten, zu denen etwa Kreditvergabe und Zinsnehmen gehörten“.383 Hier waren also Zinsen zu erwarten. Zwar durfte man in Israel von Israeliten keinen Zins nehmen (Ex 22,24; Lev 25,36f; Deut 23,20f ), wohl aber von Nichtisraeliten (vgl. Mt 17,25ff ). Jesus bewegt sich ganz auf dem Boden

379 380 381 382 383

Vgl. Luz III 501f; Fiedler 375. Bauer-Aland 1141; F. Hauck, Art. ὀκνηρός, ThWNT, V, 1954, 167f. Gegen Luz a.a.O. Hauck a.a.O. 167. Luz III 510. Gegen Luz Beare a.a.O. Jostein Ådna, Art. Wechsler, GBL 3, 1672. Vgl. L. Goppelt, Art. τράπεζα, ThWNT, VIII, 1969, 211.

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dieser Regelungen. Seine Erwartung, das Meine mit Zinsen wiederzubekommen, besteht zu Recht. Auch hier drängen sich Elemente in die neutestamentliche Exegese ein, die dem in den letzten Tagen Jesu gesprochenen Gleichnis fremd sind. Die Hörer, denen die christologische Transparenz des Gleichnisses ja nicht fremd ist, werden den Herrn wegen der Rede vom Zins kaum „für einen Heiden“ gehalten haben.384 Abwegig sind – wieder aufgrund der christologischen Transparenz – Überlegungen, ob er nicht „wirklich ein ‚Blutsauger‘ und ‚menschenfeindlicher Wucherer‘ ist.“385 Jesus will in seinem Gleichnis doch unter anderem sagen – so hat es Schlatter formuliert –, „daß auch wir nie Grund haben, uns über sein Gebot zu beschweren“.386 Schneidend scharf klingt V. 28: Nehmt ihm also (οὖν [oun]) das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Beide Anordnungen sind jedoch folgerichtig (οὖν!).387 Wozu soll das Talent, mit dem der Knecht in keiner Weise arbeiten wollte, bei ihm noch dienen? Wie soll ein Knecht mit dieser Einstellung, ohne Treue und Vertrauen, noch Aufträge des Herrn annehmen? Dagegen kann der, der die zehn Talente hat,388 eine Menge auch mit diesem zusätzlichen Talent machen. Es steht auf einem ganz anderen Blatt, dass das postmoderne Europa seinem Gott ein solches folgerichtiges Handeln nicht mehr erlauben will. Der im Plural gehaltene Befehl Nehmt (ἄρατε [arate])! richtet sich an die Dienerschaft des Herrn, ohne Bild gesprochen: wohl an die Gerichtsengel. Vers 29 wird von vielen Auslegern für sekundär gehalten.389 Hier liegt ein typischer Fall subjektiver Exegese vor. Denn man kann weder beweisen, dass V. 29 zum ursprünglichen Bestand des Gleichnisses gehörte, noch kann man beweisen, dass er nicht dazu gehörte. Immerhin lehrt ein Blick auf Mt 20,16; 21,22; 22,14; 25,13, dass Jesus offenbar seine Darlegungen gerne mit einer allgemeinen Sentenz abschloss. Was den Inhalt anbelangt, so hat er wie V. 24.26 sprichwörtlichen Charakter,390 vielleicht aus ernster Lebenserfahrung gewonnen. In Spr 9,9; 11,25 liegt er in abgewandelter Form vor. Möglicherweise hat Jesus auch Mt 25,29 aus jüdischer Weisheit geschöpft.391 Jedenfalls zeigen Mt 13,12; Mk 4,25; Lk 8,18; 19,26, dass die Aussage von Mt 25,29 384 385 386 387 388 389 390 391

Gegen Luz III 502. Wieder gegen Luz a.a.O. Schlatter 373. Vgl. auch Tasker 237. Zum konsekutiven οὖν vgl. BDR § 451,1. Jesus geht schon von dem verdoppelten Betrag aus! So Jeremias, Gleichnisse, 57; Beare 491; Luz III 502; Bultmann, Gesch, 190. Luz III 502; Schniewind 252. Ähnlich Fiedler 375.

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Jesus nicht fremd gewesen ist. Wir möchten deshalb V. 29 als ursprünglichen Teil des Gleichnisses auffassen.392 Der Sinn ist klar. So wie ein vertrauenswürdiger Mensch immer mehr an Aufträgen und Belohnungen gewinnt, so geht es auch dem Jünger (vgl. V. 21.23). Und wie einer, der das Vertrauen enttäuscht und für seinen Auftraggeber untätig bleibt, Auftrag und Stellung verliert, so geht es auch dem ungetreuen Jünger (Dem wird auch noch genommen, was er hat).393 Schlatter nannte dies „die Regel der Gerechtigkeit“.394 Luz hat jedoch Schwierigkeiten, V. 29 und verwandte Aussagen in seine Theologie zu übernehmen. Ausgehend von einer Parallelität zu Lk 19,25 sieht er Mt 25,29 als „resignierten(r) Hörerprotest“, „der mit dem dritten Sklaven sympathisierte“. Luz meint: „Er zeigt, daß Jesu Parabel nicht aus der Perspektive von armen Leuten formuliert war“, und schreibt mit Bedauern: „In sozialer Hinsicht sind … Jesu Gleichnisse nicht subversiv.“395 In der Tat: Jesus war kein Sozialrevolutionär, keine Gestalt im Sinne von Bert Brecht. Aber wer ihn mit Brechtschen Maßstäben beurteilen will, verändert die gesamte Thematik der jesuanischen Verkündigung, und verliert Sinn und Zweck seiner Sendung. Vers 30 wird ebenfalls oft als sekundär betrachtet.396 Hier gilt das oben bei V. 29 Ausgeführte analog. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die Finsternis draußen (oder: in die äußerste Finsternis397)! Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein: Der Befehl ergeht an die Gerichtsengel. Denn V. 30 ist „direkte Rede über das Jüngste Gericht“,398 die Finsternis draußen demnach die Verdammnis. Ihre Beschreibung durch Weinen und Zähneknirschen entspricht Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; Lk 13,28. Jesu Aussage erscheint sowohl liberalen als auch pietistischen Auslegern als hart – zu hart. Luz, der V. 30 auf Matthäus und nicht auf Jesus zurückführt, beschuldigt Matthäus, er wolle „offenbar seinen Leser/innen gegenüber das Angstmachen nicht lassen“.399 Und eine pietistische Auslegung warnt, man tue dem dritten Knecht unrecht, „wenn man einen ganz Abgefallenen in ihm sieht“.400 Es ist der katholische 392 393 394 395 396 397 398 399 400

Wie wir Sand 509. Passiva divina nach BDR § 130,3. Schlatter 374. Luz III 502f. So Luz III 497.508f; Fiedler 375f; Bultmann a.a.O.; Beare a.a.O.; Flusser 138,10; Jeremias a.a.O.; Sand 509; Davies-Allison III 407. S. Aland-Bauer 566; BDR § 62,3. Luz III 508. Luz III 509. Brüdersegen 378 (Stier).

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Ausleger Alexander Sand, der festhält, dass es hier tatsächlich um „die Verwerfung des unbrauchbaren Knechts“ geht.401 Dabei bedeutet die Kennzeichnung unnütz (ἀρχεῖος [archeios], vgl. Lk 17,10) keine soziologische Kategorie, so als könne ein schwacher Mensch eben nicht den hohen Ansprüchen gerecht werden, sondern eine ganz biblisch-prophetische, wonach der Knecht aus Mangel an Liebe zu Gott und Christus (vgl. Deut 6,4f ) nicht einmal den kleinsten Auftrag anpacken wollte.

IV Zusammenfassung 1. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist eine ernste Warnung an die Jüngerschaft. Es soll sie davor warnen, ihre Aufträge bis zur Wiederkunft Jesu zu versäumen. Siehe auch Lk 19,13.402 2. Diese Warnung geht nicht von einer Naherwartung aus. Ihr Problem ist nicht die „delay of parousia“.403 Im Gegenteil: Jesus stellt seine Jünger auf lange Zeiträume ein (Μετὰ πολὺν χρόνον [Meta polyn chronon] V. 19). 3. Mit Selbstverständlichkeit erwartet Jesus auch hier wie im ganzen Evangelium von seinen Jüngern Taten, „Werke“. Siehe auch Mt 5,16; 7,21ff; 24,45ff. Wer hier die altprotestantische Dogmatik von der „Werkgerechtigkeit“ eintragen will, gerät auf einen Fehlweg. 4. Ein Fehlweg ist auch die Eintragung frühkapitalistischer und spätmarxistischer Kategorien, wie sie zum Beispiel Luz im Anschluss an Bert Brecht vornimmt.404 Schon die Ähnlichkeiten mit rabbinischen Gleichnissen405 zeigen, dass Jesus mit dem damaligen „Lauf der Welt vertraut war“406 und seinen Ausgangspunkt eben in dieser Realität nimmt. 5. Ein Nebenzug des Gleichnisses enthüllt, dass auf die erlösten Menschen auch in der Neuschöpfung eine reiche Tätigkeit wartet (V. 21.23). Schlatter bemerkt hier mit Recht: „Christus kennt kein müßiges Leben, auch nicht im Himmelreich.“407 6. Eine Frage, die in den Kommentaren kaum gestellt wird, ist die: Was bedeutet es für Christen praktisch, ihr „Geld den Wechslern zur Verfügung

401 Sand a.a.O. Auch manche Varianten in den HSS scheinen Jesu Aussage mäßigen zu wollen, vgl. Maier II 329f. 402 Vgl. Basilius den Großen in seinen Regeln (Texte KV III 232f ). 403 Gegen Davies-Allison III 407. 404 Vgl. Luz III 498ff. Auch Beare 486: „The master is a capitalist“. 405 Dazu Flusser 66ff; 122ff. 406 Dalman 72. 407 Schlatter 372.

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zu stellen“? Vielleicht lässt sich die Antwort so zusammenfassen: Andere Christen in ihren Aufträgen, z.B. der Verkündigung, der Diakonie und der Mission, zu unterstützen.

8.3.7 Das Gleichnis vom allgemeinen Weltgericht, 25,31-46

I Übersetzung 31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe auf seine rechte Seite stellen und die Böcke auf die linke. 34 Dann wird der König zu denen auf seiner rechten Seite sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters! Ererbt das Reich, das für euch von Grundlegung der Welt an bereitet ist! 35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt nach mir geschaut. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig, und dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremdling gesehen und dich aufgenommen, oder nackt, und haben dich bekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er zu denen auf der Linken sagen: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist. 42 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet, krank und im Gefängnis, und ihr habt nicht nach mir geschaut. 44 Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen oder durstig oder als Fremdling oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch

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mir nicht getan. 46 Und diese werden in eine ewige Strafe gehen, die anderen aber als Gerechte ins ewige Leben.

II Struktur Bis heute kann man diese Verse nicht ohne eine gewisse innere Erschütterung lesen. Sie geht aller Analyse voraus. Doch dann erheben sich Fragen: Wer ist denn nun letztendlich der Menschensohn? Wer sind diese meine geringsten Brüder, mit denen er sich identifiziert? Gibt es am Ende eine endgültige Scheidung unter den Menschen? Gibt es eine ewige Strafe? Und rein formal betrachtet: Ist Mt 25,31-46 überhaupt ein Gleichnis? An sich ist die Gliederung einfach: 1) Der Menschensohn führt eine Scheidung unter den Menschen herbei (V. 31-33); 2) er segnet die einen mit der Teilnahme am Gottesreich und am ewigen Leben (V. 34-36); 3) die Gesegneten erheben einen Einwand (V. 37-39); 4) der Menschensohn-König bleibt bei seinem Urteil (V. 40); 5) er sendet die anderen in die ewige Verdammnis (V. 41-43); 6) die Verworfenen erheben einen Einwand (V. 44); 7) der Menschensohn-König bleibt bei seinem Urteil (V. 45); 8) das Endergebnis wird festgestellt (V. 46). Diese ganze, große Einheit ist Sondergut des Matthäus. Nur gelegentlich gibt es Anklänge bei Markus (8,38), Lukas (9,26; 13,27f ) und Johannes (5,29). Hengel-Schwemer rechnen gerade Mt 25,31-36 zur „wertvolle(n) Sondergutüberlieferung“ des Matthäus.408 Hengel-Schwemer nennen es ein „Gleichnis“ („Gleichnis vom Weltgericht“).409 Wir haben oben (Vorbemerkung zu 2.3) bemerkt, dass Mt 25,3146 im strengen Sinn kein Gleichnis ist.410 Es handelt sich eher um eine prophetische Ankündigung Jesu. Aber uns scheint doch, dass Matthäus bei seiner Anordnung der Erzählung in 24,32–25,46 von einer Siebenzahl ausgegangen ist. Und da Mt 25,31-46 immerhin als Maschal in weiterem Sinne betrachtet werden kann,411 wählen wir trotz aller Zurückhaltung die Überschrift „Gleichnis vom allgemeinen Weltgericht“.412

408 Hengel-Schwemer 235. Vgl. Riesner 34. 409 A.a.O. 410 Auch Aland, Syn, 416 nennt es nicht „Gleichnis“. Vgl. Carson 518; Schniewind 253; Luz III 517. 411 Jeremias, Gleichnisse, 204. 412 Auch Stuhlmacher I 122 „Gleichnis“.

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III Einzelexegese Ohne jede Überleitungsformel nach V. 14-39, ja ohne jede Einleitungsformel, die den Sprecher, die Adressaten, den Ort o.Ä. angeben würde, beginnt Jesu Rede in V. 31: Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm … So konnte Jesus nur sprechen, wenn den Jüngern bis dahin alle Punkte bekannt waren: Wer der Menschensohn sei, dass sein künftiges kommen zu erwarten sei, dass dies in Herrlichkeit geschehe, dass er von Engeln begleitet werde. In der Tat hat Jesus davon schon längst gesprochen (Mt 8,20; 11,19; 12,8; 10,23; 12,40ff; 13,37ff; 16,27; 17,22; 19,28; 20,18; 24,30f.37ff.44). Den Jüngern von damals wäre die heutige Diskussion um den Menschensohn wenigstens in Teilen wie eine Gespensterdiskussion vorgekommen. Zum heutigen Stand dieser Diskussion sagen Theißen-Merz: „Trotz einer immensen Gelehrtenarbeit ist die Wissenschaft noch nicht in der Lage, zwischen den skizzierten Möglichkeiten wirklich begründet zu entscheiden.“413 Ihre eigene Skepsis findet Ausdruck in der Frage: „Sollte Jesus wirklich geglaubt haben, der zukünftige Weltenrichter zu sein, wo der doch ganz und gar nicht in dieser Rolle auftrat?“414 Dabei ist ihre Voraussetzung ja „doch ganz und gar nicht“ richtig, denn Jesus hat von sich als dem zukünftigen Weltenrichter immer wieder gesprochen (Mt 24,30f. 37ff.44; 13,41ff; 16,27; 19,28; Lk 18,8; Joh 5,22ff ).415 Die ablehnende Position, im 20 Jh. vor allem repräsentiert durch R. Bultmann, G. Bornkamm, E. Tödt, F. Hahn, E. Käsemann, P. Vielhauer, H. Conzelmann,416 ist im kontinentalen Bereich unter anderem durch Carsten Colpe aufgebrochen worden.417 Ihm zufolge kann eine ganze Reihe von Menschensohn-Aussagen in den synoptischen Evangelien „der Traditionskritik standhalten“.418 Um einiges früher (seit 1957) hatte bereits Oscar Cullmann die Worte vom kommenden Richter-Menschensohn als echte Jesusworte und als auf Jesus bezüglich behandelt.419 Mit Cullmann, Hengel-Schwemer,420 Stuhlmacher,421 Carson422 und vielen anderen gehen wir im Folgenden von der grundsätzlichen Authentizität der Jesusworte in Mt 25,31ff und der Identität Menschensohn = 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422

Theißen-Merz 477. Theißen-Merz 471. Vgl. vor allem Luz III 530. Vgl. Hengel-Schwemer 536. C. Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT, VIII, 1969, 403ff. Colpe a.a.O. 435. Vgl. Cullmann 154ff. Vgl. dort 536ff. Stuhlmacher I 95f.107ff.122ff Carson 521.

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Jesus aus. Wenn der Menschensohn [= Jesus] kommen wird: Hier bezieht sich Jesus vor allem auf Mt 24,30f. Es geht also wie in Mt 24,31–25,30 um seine Wiederkunft. Der Wiederkommende wird göttliche Herrlichkeit (δόξα [doxa]) haben (vgl. Mt 16,27; 19,28), wie sie besonders in der Offenbarung begegnet (19,11ff ). Zur Engel-Begleitung vgl. wieder Mt 13,41ff; 16,27; 24,31; Offb 19,11ff. Doch heißt es jetzt alle Engel statt „seine Engel“ – sachlich kein Unterschied.423 Dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen: Siehe wieder Mt 19,28 und Offb 20,4ff.11ff. Es ist der Thron des Weltenrichters. Die ungezählten Maler, die Christus auf diesem Thron dargestellt haben, darunter das größte Fresko nördlich der Alpen im Ulmer Münster, haben also recht. … und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet (V. 32): Das versammeln geschieht durch die Engel.424 Die Engel spielen also beim Jüngsten Gericht eine aktive Rolle (vgl. Mt 13,39.41f.49f; 24,31; 25,28ff; Offb 19,14.20f; 20,10.14f ). Wichtig ist, dass der Blick auf alle Völker = die gesamte Menschheit gerichtet wird.425 Dieser universale Zug bestimmt das ganze Gleichnis. Im Grunde ist das Richten des Menschensohnes über alle Völker schon in Dan 7,14 angesagt. Auch der Gottesknecht von Jes 42,1ff hat die universale Zuständigkeit für „alle Völker“, auch der Davidssohn von Jes 11,10 und der Messias von Ps 2; Jes 9,5f. Im äthiopischen Henochbuch, das eine intensive Auslegung von Dan 7,13f darstellt, wird dann das universale Weltgericht durch den Menschensohn ein zentrales Thema (62,1ff; 61,8; 49,2). Dort ist ebenfalls vom „Thron seiner Herrlichkeit“ die Rede (61,8; 62,3.5), sein Gericht ergeht über die ganze Erde (61,1ff ). Offenbar kann Jesus in Mt 25,31f auf die Lehre früherer jüdischer Lehrer zurückgreifen, die in Auslegung von Dan 7 gewonnen wurde. Als einen ersten Schritt des Gerichts erwähnt Mt 25,32 das scheiden.426 Wieder beschreibt äthHen das Handeln des Menschensohn-Weltenrichters in ähnlicher Weise, wenn dieser „die Gerechten und Heiligen“ aus der Menschheit „auswählen“ wird (61,2). In Mt 25,32 ist das ἀφορίσει αὐτοὺς ἀπ᾿ ἀλλήλων [aphorisei autous ap’ allēlōn] offenbar nicht so zu verstehen, dass ein Volk vom anderen geschieden wird, also nicht ethnisch. Vielmehr muss es im ethischen Sinne verstanden werden, dass also gerechte und ungerechte Menschen „voneinander geschieden“ werden. Als Gleichnis dient das Handeln des Hirten. Wie der Hirte die Schafe von den 423 424 425 426

Doch wohl Anlehnung an Sach 14,5. Fiedler 378. Richtig Luz III 531: „alle Völker einschließlich der Gemeinde“. Vgl. Mt 13,49.

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Böcken scheidet – ein ähnlicher Vorgang wird schon in Gen 30,32ff und Hes 34,17 beschrieben –, so verfährt der Menschensohn. Schon jetzt vermittelt die Bildersprache wichtige Inhalte: Schafe bezeichnet biblisch und nachbiblisch häufig Israel bzw. das Volk Gottes (Num 27,17; 2Sam 24,17; 1Kön 22,17; Ps 74,1; 77,21; 78,52; 80,2; 95,7; 100,3; Hes 34,5.15; äthHen 89ff ). Auch Jesus spricht von Schafen in diesem Sinne (Mt 9,36; 10,6; 15,24; Joh 10,3ff; 21,16f ). Ohne Zweifel meinen die Schafe in Mt 25,32 demnach das Gottesvolk der Erlösten. Die Böcke sind dann jedenfalls das Gegenteil.427 Zum Messias als Hirten vgl. Hes 34,23; 37,24. Jesus hat diese Bezeichnung auf sich selbst angewandt Joh 10,1ff (vgl. 1Petr 2,25; Hebr 13,20). Vers 33 fährt fort: und wird die Schafe auf seine rechte Seite stellen und die Böcke auf die linke. Die rechte Seite ist die der Gnade und des Ehrenplatzes (Ps 16,11; 110,1; Lk 1,11; Offb 7,55; Eph 1,20), die linke Seite wieder das Gegenteil. Siehe auch Hes 34,17. Ganz nahe an der Schilderung in Mt 25,31-33 steht die Schilderung in Offb 20,11-12. Vom Thron = Richterstuhl (βῆμα [bēma]) des Christus her (vgl. 2Kor 5,10; Röm 14,10) spricht dieser die versammelte Menschheit428 an (V. 34). Offenbar sind das die auferstandenen Toten ebenso wie diejenigen, die der Christus bei seiner Wiederkunft als Lebende antraf. Insofern sind 1Thess 4,13ff; Offb 20,11ff die passenden Kommentare dazu. Überraschend ist aber, dass es jetzt in V. 34 heißt: Dann wird der König … sagen. Die Bezeichnung König, βασιλεύς [basileus], ist uns aus vielen rabbinischen Gleichnissen als Bildwort für Gott selbst geläufig, so im Gleichnis des Rabbi Jochanan b. Zakkaj in b Schab 153a. Doch hier ist eindeutig der Menschensohn-Christus als König bezeichnet. Andererseits erscheint diese Königstitulatur keineswegs als neu oder unvorbereitet, vgl. Mt 2,2; 21,5ff und besonders 18,23. Man kann daher kaum behaupten, dass die „Übertragung des Königs-Prädikats auf den Weltrichter Christus schwierig bleibt“.429 Stattdessen trifft Karl Ludwig Schmidt das Richtige, wenn er fest427 Bauer-Aland 627 deuten ἔριφος in Mt 25,33 als „Ziegen“: philologisch fragwürdig (Luz III 533,121). Luz III 533f entscheidet sich für „Zicklein“, sagt aber selbst: „Beweisbar“ sei dies „nicht“. Es bleibt eine gewisse Unsicherheit im Blick auf Bedeutung und DetailGenauigkeit. Fiedler 378: „Böckchen“; Carson 515ff: Ziegen; ebenso Jeremias, Gleichnisse, 204; Beare 491; Schlatter 374; France 356; NGÜ; BasisBibel; Neue Jerusalemer Bibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Zahn 683. Anders Schniewind 253 (Schafe = Schwache, Böcke = Starke); Sand 512; Gute Nachricht; Einheitsübersetzung; Lutherbibel. Vielleicht fällt eines Tages von Hes 34,17 her mehr Licht auf unsere Stelle. Aber auch Hes 34,17 ist bisher nicht ganz deutlich (Zimmerli II 840f ). 428 Stilistisch interessant der Vergleich mit Jean Paul, Rede des toten Christus usw., im Heliand-Heft, 75, 1. Aufl., 1947. 429 So Luz III 519ff. Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 205f. Vgl. Tasker 240; France 356f; Carson 521.

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stellt: dass der Christus den Würdetitel König „in voller Übereinstimmung“ mit dem alttestamentlichen und jüdischen Sprachgebrauch trage.430 Seinen Urteilsspruch richtet der König = Christus zuerst an diejenigen, die auf seiner rechten Seite versammelt sind. Man darf nicht allzu rasch über den Umstand hinweggehen, dass er überhaupt so ausführlich spricht und seine Gründe darlegt. Das Endgerichts-Urteil ist demnach kein Willkür-Urteil, sondern das Ergebnis sorgfältigster Gerechtigkeit. Kommt her (δεῦτε [deute])! bedeutet die Einladung zu seinem messianischen Freudenmahl (vgl. V. 21.23). Es ist dasselbe einladende δεῦτε wie bei der Berufung in die Jüngerschaft (Mt 4,19), wie im Heilandsruf (Mt 11,28) und bei der Einladung zur Hochzeit Mt 22,4. Jesus nennt die Eingeladenen die Gesegneten meines Vaters (οἱ εὐλογημένοι τοῦ πατρός μου [hoi eulogēmenoi tou patros mou]). Damit wird sowohl die Einheit von Vater und Sohn als auch die oberste Lenkung der Dinge durch den Vater im Himmel dokumentiert. Das Reich ererben war schon ein Ziel der Seligpreisungen (Mt 5,3.10ff ). Es geht um den Empfang des persönlich durchaus unterschiedlichen Anteils am Reich Gottes, am ewigen Leben und an der Neuschöpfung (vgl. Mt 25,14ff; Lk 12,47f; 19,11). Auffallend ist die Hinzufügung das für euch von Grundlegung der Welt an bereitet ist. Man könnte denken, man lese im Epheser- oder Kolosserbrief (vgl. Eph 1,3ff; Kol 1,15ff ). Die Anteile am ewigen Heil sind also für jeden Einzelnen schon vor Beginn der Schöpfung vorbereitet (ἡτοιμασμένην [hētoimasmenēn]).431 Das kann nur bedeuten, dass Gott der Vater und Gott der Sohn schon vor ihrem Schöpfungswerk wussten, wer künftig am ewigen Heil teilnehmen werde (vgl. Ps 139). Mit einer Prädestination darf diese praescientia Dei nicht verwechselt werden.432 Wohl aber ist Mt 25,31ff das Dokument einer „Hochchristologie“. Zum gottgegebenen Erbe der Gesegneten des Herrn vgl. die Frömmigkeit der Psalmen (37,22; 115,15; 134,3; ‫[ ְ ּברוִּכים ַליהָוה‬bᵉrūkīm ljhwh (laʾdonāj)]). Sehnsucht und Verheißung der Psalmen, die sich schon in der Bergpredigt ausdrückten (Mt 5,1ff ), finden jetzt bei der Annahme im Endgericht ihre Erfüllung. Die Begründung dafür wird in V. 35-36 ausführlich gegeben. Wie man sofort feststellt, beruht der Urteilsspruch nicht auf der Gesinnung, dem Denken 430 Im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 576. 431 Die allgemeine Bedeutung „schaffen“, von der W. Grundmann, Art. ἕτοιμος usw., ThWNT, II, 1935, 702f ausgeht, bringt das Eigentümliche des Wortes zu wenig zum Ausdruck. 432 Dass Luz III 535 von einem „im damaligen Judentum selbstverständlichen Prädestinationsgedanken“ spricht, ist eher calvinistisch als jüdisch gedacht. Es ist gerade umgekehrt (vgl. Sir 15,11ff; P. Abot III, 19; Mt 23,37). Richtig Fiedler 378f.

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oder den Absichten der Betreffenden, sondern auf ihren Taten: ihr habt mir zu essen gegeben – ihr habt mir zu trinken gegeben – ihr habt mich aufgenommen – ihr habt mich bekleidet – ihr habt nach mir geschaut – ihr seid zu mir gekommen. Alle sechs Liebeswerke finden sich in der biblischen oder frühjüdischen Unterweisung: Zum Speisen der Hungrigen vgl. Jes 58,7; Hes 18,7.16; Hi 31,16f; Spr 25,21; Tob 1,21; 4,17, zum Tränken der Durstigen Hi 22,7; Spr 25,21; Ps 107,9; zum Aufnehmen der Fremdlinge Jes 58,7; Hi 31,32; zum Bekleiden der Nackten Jes 58,7; Hes 18,7.16; Tob 1,21; 4,17; vom Sehen nach den Kranken Sir 7,39; b Sota 14a; zum Besuchen der Gefangenen Sir 7,38; b Sota 14a. Die Taten, die Jesus in V. 35f nennt, sind als solche den Hörern nichts Unbekanntes. Später hat man sie von Gottes eigenem Tun abgeleitet und die allgemeine Regel aufgestellt, „dass man den Handlungen des Heiligen [= Gottes] … folge“.433 Die Überraschung von V. 35f steckt ganz woanders. Sie steckt darin, dass der Weltenrichter sagt: Ich bin hungrig gewesen – Ich bin durstig gewesen usw. Wo sollte das der Fall gewesen sein? Daraus kommen dann die Einwände von V. 37ff und V. 44. Unseres Erachtens scheitert an dieser Stelle die Hypothese, Jesus habe ursprünglich von Gott als dem König und Weltenrichter gesprochen. Denn dass sich Gott auf diese Weise mit den Leidenden als seinen „Brüdern“ identifiziert (vgl. V. 40), ist biblisch weder begründbar noch zu erwarten.434 Es geht jetzt also entscheidend um die Aussage Jesu als des Weltenrichters: Ich bin hungrig gewesen (ἐπείνασα [epeinasa]) usw. Der Einwand in V. 37-39 – Luz spricht von einem „Gerichtsdialog“435 – beeindruckt zuächst dadurch, dass im Endgericht offenbar Raum für Rede und Gegenrede ist. Derselbe Sachverhalt geht aus Mt 22,11ff; 25,24ff hervor. Der Einwand greift sofort den springenden Punkt auf: Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig, und dir zu trinken gegeben? usw. Was in V. 34 „Gesegnete meines Vaters“ hieß, heißt jetzt Gerechte, δίκαιοι [dikaioi]. Die Gerechtsprechung der Erlösten ist also geschehen. Der Begriff δίκαιος [dikaios] erinnert dabei an die paulinische Rechtfertigungslehre und Eschatologie. Nicht umsonst verbindet Basilius der Große in seinen Regeln Mt 25,34f mit paulinischen Aussagen im 2. Korintherbrief und Epheserbrief.436

433 434 435 436

B Sota 14a. Hier hat Luz III 521 recht. Vgl. auch Beare 493. Luz III 535. Texte KV III 232.

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Die Anrede Jesu als Herr (κύριε [kyrie]) macht deutlich, dass er für die Erlösten nicht nur „Bruder“ ist, sondern in alle Ewigkeit der Herr bleibt (vgl. Offb 22,3; 22,20). Doch nun: wann (πότε [ pote]) sollen sie ihn gesehen haben (εἴδομεν [eidomen])? Dreimal, im Sinne eines für sie endgültigen Urteils, müssen sie bekennen: Wir haben dich nicht gesehen. Es spricht für die Gerechten, dass sie das zur Sprache bringen, was für sie negativ zu Buche schlagen kann. Aber sollte der Weltenrichter das nicht wissen? Es fällt auf, dass jetzt schon zum zweiten Mal vom Gefängnis die Rede ist (V. 36.39). Das Gefängnis ist jedoch in den biblischen Vorlagen nirgends direkt zu finden.437 Weshalb hat Jesus das Gefängnis unter seine exemplarischen Beispiele aufgenommen? Wir finden die Antwort in der durch Jesus angekündigten Verfolgung der Christen (Mt 5,10ff; 10,17ff; 23,34; Lk 21,12).438 In der Tat prägte die Gefängnis-Erfahrung die ganze urchristliche Geschichte, wie G. Bertram dargestellt hat (ab Apg 5,18ff; 8,3; 12,4ff; 16,23ff; 2Kor 6,5; 11,23; Hebr 10,34; 13,3; Offb 2,10; 13,10).439 In dieser Situation war „Der Besuch von Gefangenen … wichtig, weil diese in den Gefängnissen nicht verpflegt wurden“.440 Die Antwort des Königs in V. 40 ist kurz und majestätisch: Amen, ich sage euch: Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan. Deutet Jesus bei diesen auf die Danebenstehenden, ähnlich wie er wohl in Joh 4,20f auf „diesen Berg“ deutete (vgl. Mt 4,3)? Wir stehen damit vor einer zentralen Auslegungsfrage. Wer sind diese meine geringsten Brüder? Ulrich Luz hat die hautpsächlichen Deutungstypen in einem instruktiven Überblick zusammengestellt.441 Da ist zuerst der „universale Deutungstyp“.442 Ihm zufolge sind diese geringsten Brüder Jesu „alle notleidenden Menschen der Erde, sowohl Nichtchrist/innen als auch Christ/ innen“.443 Nach den Feststellungen von Luz ist dieser Deutungstyp heute der „verbreiteste und fast Allgemeingut geworden“.444 Was spricht dafür? Was dagegen? Dafür spricht, a) dass die Liebe zu den Spitzengeboten des AT ge437 Jeremias, Gleichnisse, 205; Luz III 535. Die von Fiedler 379,142 genannten Stellen TestJos I, 4-7 und b Sota 14a widerlegen dieses Urteil nicht. Man kann höchstens das Trösten der Trauernden in Sir 7,38; b Sota 14a indirekt mit Gefangenen in Verbindung bringen. 438 Ebenso Luz III 535; G. Bertram, Art. φυλάσσω usw., ThWNT, IX, 1973, 240. 439 A.a.O. 239f. Vgl. Tacitus Ann XV, 44. 440 Luz a.a.O. 441 Luz a.a.O. 442 Luz III 521ff. 443 Luz III 521. 444 Luz III 535.

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Jesu Wirken in Jerusalem, 21,1–25,46

hört (Mi 6,8); b) dass die Barmherzigkeit zu Gottes vorrangigen Eigenschaften gehört; c) dass Jesus der Nächstenliebe einen Höchstrang verliehen hat (Mt 22,34ff ); d) dass ein inneres Gesetz allen Menschen ins Herz geschrieben ist (Röm 2,14ff ). – Dagegen spricht, a) dass Jesus sonst nur seine Jünger als seine Brüder bezeichnet (Mt 12,40ff; 28,10); b) dass diese Geringen ebenfalls typische Jüngerbezeichnung ist (Mt 10,42; 18,6); c) dass bisher nur von Schafen und Böcken in der versammelten Menschheit die Rede war; wo sollen dort nun die Brüder Jesu herkommen, oder haben die Schafe sich untereinander Gutes getan? 2. Als zweiten Deutungstyp nennt Luz den „klassischen Interpretationstyp“. Ihm zufolge sind Jesu geringste Brüder „Glieder der christlichen Gemeinde“.445 Er stellt fest, dass dies „Die bis etwa 1800 allgemein verbreitete kirchliche Interpretation“ war.446 Was spricht dafür? a) Dass sie mit Jesu Sprachgebrauch betr. Brüder und Geringe übereinstimmt; b) dass sie wie viele neutestamentliche Stellen die Erlösten beim Jüngsten Gericht an Jesu Seite sieht (vgl. Mt 19,28; 1Kor 6,2; 1Thess 4,13ff; Offb 2,26ff; 17,14; 20,4ff ). – Was spricht dagegen? a) Dass damit andere Religionen gegenüber der christlichen zurückgesetzt werden, ein Gedanke, der seit der Aufklärung kaum mehr gedacht werden kann.447 b) Das Nichtwissen der Gesegneten nach V. 37-39. Sollten sie wirklich nicht gewusst haben, dass sie Christus etwas Gutes taten? 3. Der dritte Deutungstyp, den Luz nennt, der von ihm als „Der exlusive Interpretationstyp“ bezeichnet wird,448 lässt sich vom zweiten nur schwer unterscheiden. Sein Merkmal ist, dass er unter dem πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē] von V. 32 „alle Heiden“ versteht. Hier geht es also nur um das Gericht über die Nichtchristen. Die Christen stehen an Jesu Seite „und werden nicht gerichtet“.449 In dieser Interpretation werden die Nichtchristen gemäß ihrem Verhalten zu den Christen beurteilt. Mt 25,31ff wird dann eine Trostbotschaft für die verfolgten Jünger. Der Blick in die Deutungsgeschichte lehrt, dass Mt 25,31-46 in jeder Konstellation etwas Überraschendes an sich hatte. So groß die „Faszination“ war,450 die diese Worte ausstrahlten, so schwer schien es immer wieder, sie

445 446 447 448 449 450

Luz III 526. A.a.O. Vgl. Luz III 521ff. Luz III 528ff. Luz III 529. Luz III 521.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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mit den übrigen Worten Jesu aus seinen letzten Tagen in Jerusalem zu verbinden. Berücksichtigt man den Makro-Kontext der Endzeitverkündigung Jesu in Mt 24,32–25,46, dann hebt sich Mt 25,31-46 als etwas sehr Spezifisches ab. Alle sechs Gleichnisse von Mt 24,32 bis 25,30 sind Mahnungen, gerichtet an die Jüngerschaft. In Mt 25,31-46 jedoch wird ein unerwartet positives Endgerichtsurteil sichtbar. Mt 25,31ff ist auch kein Jüngergleichnis im Stil der vorigen, sondern auf das allgemeine Weltgericht bezogen.451 Das Amen, ich sage euch soll wie in Mt 24,34.47; 25,12 das Gewicht der Aussage unterstreichen. Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern (ἑνὶ τούτων τῶν ἀδελφῶν μου τῶν ἐλαχίστων [heni toutōn tōn adelphōn mou tōn elachistōn]) getan habt, das habt ihr mir getan (zweimal ἐποιήσατε [epoiēsate]) hebt zunächst das tun hervor. Dies steht in Übereinstimmung mit der konstanten Verkündigung Jesu (vgl. Mt 5,13ff; 7,21ff; 11,20ff; 12,50; 13,41; 21,28ff; 23,3f; 24,45ff ).452 Immer mehr zeigt sich, dass der protestantische Streit um die Werke teilweise doch ein Fehlweg gewesen ist.453 Das gilt schon für den majoristischen Streit seit 1536, wie ihn Bernhard Lohse beschrieben hat.454 Behauptungen wie die, dass gute Werke „schädlich“ seien,455 hätten nicht entstehen dürfen. Auf die Folgen bei der Auslegung von Mt 25,31ff hat Ulrich Luz hingewiesen: „Im Gefolge von Calvin wurden die Taten der Barmherzigkeit nicht als Grund der Rettung, sondern als „signa“ der Erwählung bezeichnet.456 Ganz anders die altkirchliche Auslegung. Nach Basilius dem Großen soll „jeder … die Unterstützung der Notleidenden im Auge haben … Auf diese Weise entgeht er dem Vorwurf der Eigenliebe und empfängt den Segen der Bruderliebe“.457 Sodann aber stehen diese meine geringsten Brüder im Mittelpunkt. Exegetisch muss man zunächst feststellen, dass beides, Brüder und Geringste Jüngerbezeichnungen sind. Zu diesem Ergebnis kommen die einschlägigen Untersuchungen von Hans v. Soden und Otto Michel im ThWNT,458 dieses Ergebnis bestätigt sich jedenfalls bei der Lektüre des Matthäusevangeliums. 451 Dies gilt auch dann, wenn man πάντα τὰ ἔθνη „nur“ auf die Heiden bezieht. 452 Vgl. Hengel-Schwemer 445. 453 Schniewind 254: „Das Weltgericht geht allenthalben nach den Werken“. Die Einengung auf die Liebe bei Luz III 541ff ist ohne Anhalt am Text. 454 Handbuch DTG II 123ff. 455 A.a.O. 113.116. 456 Luz III 528. 457 Texte KV III 228. 458 H.v. Soden, Art. ἀδελφός, ThWNT, I, 1933, 145; O. Michel, Art. μικρός usw., ThWNT, IV, 1942, 652ff.

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Was den Unterschied zwischen μικρός [mikros] und ἐλάχιστος [elachistos] betrifft, so kommt Michel bei seiner sorgfältigen Abwägung zu dem Schluss: „Der Komparativ zu μικρός, ἐλάττων … und der Superlativ ἐλάχιστος … entsprechen dem Positiv.“ Inhaltlich sieht Michel eine enge Verbindung zwischen Mt 25,40 und 10,42. Mt 10,42 verspricht den endzeitlichen Lohn jedem, der einen Jünger Jesu „auch nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt.“ In Mt 25,40 geht es um größere Taten. Dafür entfällt das „weil es ein Jünger ist“ von Mt 10,42. Stattdessen wissen die „Gesegneten“ nicht, wann und wem sie zuletzt ihre Wohltaten erwiesen haben. Dass sie aber in Unkenntnis bezüglich Christus blieben – das habt ihr mir getan – bedeutet noch lange nicht, dass sie un-bewusst Gutes getan haben. Nein, sie haben Jesu Jüngern alle die in V. 35f genannten Wohltaten bewusst erwiesen, wenn sie auch deren glaubensmäßigen Hintergrund nicht kannten oder kennen wollten. Hier wird eine entfernte Parallele zu den Wechslern von V. 27 erkennbar. Im Ergebnis trifft Michels Erklärung zu, dass sich Jesus hier „mit dem Schicksal der Jünger gleichsetzt und ihre Not zur eigenen macht“.459 Dabei spielt die ununterbrochene Verfolgung der Jüngerschaft eine zentrale Rolle. Mt 25,31ff ist nicht gesagt im Blick auf die oftmals verhätschelten Kirchen des Abendlandes und unsere Luxusverhältnisse, sondern im Blick auf die Not der Verfolgung, die Jesu wahre Kirche vom Spott bis zur Kreuzigung in allen Zeiten begleitet. Von daher gewinnen die Worte vom Weltgericht die Bedeutung einer kaum zu überschätzenden Trostbotschaft. Die sieben Gleichnisse in Mt 24,31–25,46 schließen also mit Trost und Stärkung der Jüngerschaft vor dem Kreuzesleiden, das jetzt sofort (Mt 26,11ff ) beginnt.460 Doch nun zur zweiten Hälfte von Mt 25,31-46. Hier nennt Jesus die Angesprochenen Verfluchte (κατηραμένοι [katēramenoi]), V. 41. Das perfektische Partizip κατηραμένος [katēramenos] wird als Passiv gebraucht, näher als Passivum divinum.461 Gott der Vater hat also die Betreffenden verflucht462 – das genaue Gegenteil zu den „Gesegneten meines Vaters“. Erneut wird klargestellt, dass Jesus das Urteil des Vaters vollzieht und keinerlei Unterschied zwischen dem Richten des Vaters und dem Richten des Sohnes besteht.

459 Michel a.a.O. 659. 460 Anders Schniewind 254; Schlatter 377; Beare 495; Jeremias, Gleichnisse, 205; Fiedler 379f; Sand 512f; Cullmann 161; Wilckens I/1 276ff. 461 Bauer-Aland 848. 462 Vgl. Gen 3,14.17.

8. Die Endzeitverkündigung Jesu, 24,1–25,46

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Geht weg von mir! lautet seine Aufforderung – wiederum die Gegenbewegung zu dem „Kommt her!“ in V. 34.463 Siehe auch noch Mt 7,23; 25,12. Es tritt jetzt immer klarer hervor, dass Jesus in Mt 25,31ff auf der Basis von Deut 30,19 formuliert: „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch (τὴν εὐλογίαν καὶ τὴν κατάραν [tēn eulogian kai tēn kataran], LXX) vorgelegt.“ Die Verbindung zwischen Mt 25,31ff und Deut 30,15ff deutet außerdem darauf hin, dass Jesus hier nicht mit einer Prädestination argumentiert, sondern mit dem Willen und der Wahlmöglichkeit des Menschen, woraus sich die menschliche Schuld ergibt.464 Der Weg der Verfluchten führt in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist. Ein Ende dieser ewigen Strafe wird nicht angedeutet. Vom Feuer als Gerichtsort sprach Jesus öfter (vgl. Mt 5,22; 13,42.50; 18,8f; Mk 9,47), vgl. auch Offb 19,20; 20,10ff. Bei bereitet, ἡτοιμασμένον [hētoimasmenon], wird wieder auf Gottes Handeln Bezug genommen. Von den Engeln des Teufels ist nach frühjüdischer Auffassung schon in Gen 6,14 die Rede,465 neutestamentlich in Offb 12,7.9 sowie 2Petr 2,4; Jud 6. Die Verdammnis, die dem Teufel nach vielen Gelegenheiten zu seiner Umkehr bestimmt ist, wird in Offb 20,10 ausführlicher geschildert. In Mt 25,41 ist jedenfalls die Berührung Jesu mit dem äthHen, mit den pharisäischen Gelehrten, mit dem 2Petr, mit Jud, mit der Offb und mit Paulus besonders stark. Vielleicht sollten wir noch einen Hinweis beachten, den man leicht übersehen kann. Er steckt in dem Gerichtswort: Geht weg von mir (πορεύεσθε ἀπ᾿ ἐμοῦ [ poreuesthe ap’ emou])! Demnach besteht die Hölle vor allem darin, dass wir von Jesus und vom Vater getrennt sind: also so gottlos bleiben, wie wir leben wollten. Nach V. 42 und 43 haben die Verworfenen all das nicht getan, was die Angenommenen getan haben (vgl. V. 35f ). In V. 44 kommt es zu einer ausführlichen Gegenrede der Verworfenen. Auch dafür ist im Endgericht Raum. Wie die Angenommenen fragen sie nach dem Wann (πότε [ pote]), in dem sie dem Christus-Weltenrichter nicht gedient haben sollen. Das zusammenfassende διακονεῖν [diakonein] findet mit Recht die Aufmerksamkeit der Ausleger.466 Ob hier das hebr. ‫[ עבד‬ʿbd] im

463 Vgl. BDR § 336,5. 464 Ebenso Fiedler 378; Sand 513. 465 Vgl. Strack-Billerbeck I 983. Sie erwähnen u.a. äthHen 6–11; 54,6; TestAss 6; TestDan 3; 6; Jub 10,7–11. 466 So Luz III 541.

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Hintergrund steht, lässt sich nicht sicher ausmachen.467 Am besten versteht man διακονεῖν [diakonein] hier im umfassenden Sinne von „Dienste erweisen“.468 Die Aussage der Verworfenen in V. 44 lautet also: „Wir sind dir, dem Christus, nie begegnet. Wären wir dir begegnet, dann hätten wir alle die Liebeswerke, von denen du sprichst, an dir getan.“ Anders formuliert: Der Herrlichkeits-Christus, der jetzt alle Menschen richtet, wäre von ihnen geehrt worden; aber der Niedrigkeits-Christus, der sich für sie kreuzigen ließ, wurde von ihnen nicht akzeptiert. Dennoch stand ihnen eine zweite Ebene offen, nämlich das Wohltun an der Christus-Gemeinde, den Jüngern. Das sagt jetzt V. 45: Dann wird er ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Mit dem Begriff Geringste (ἐλάχιστοι [elachistoi]) werden wieder typisch jesuanisch die Jünger beschrieben (vgl. Mt 10,42; 18,6). Es besteht hier kein Unterschied zwischen „Kleinen“/„Geringen“ (μικροί [mikroi]) und „Geringsten“ (ἐλάχιστοι [elachistoi]).469 Kann man aus dem Fehlen von ἀδελφοί [adelphoi] („Brüder“) den Schluss ziehen, dass jetzt in V. 45 eine andere Personengruppe gemeint ist? Eine solche Annahme weist Luz auf überzeugende Weise zurück: „die Leser/innen werden … V. 45 selbstverständlich von V. 40 her lesen und es stillschweigend ergänzen. Daß Matthäus gerade das Wort ἀδελφοί weggelassen hat, … zeigt nur, dass sein Sinn für ihn offenbar eindeutig war und keiner weiteren Erläuterung bedurfte.“470 Jetzt tritt der Maßstab, den Jesus in Mt 25,31-46 gebraucht, noch einmal deutlich hervor: Es ist die geschehene oder unterlassene Wohltat an seinen Jüngern. Mit ihnen identifiziert er sich wenige Tage vor seiner Kreuzigung erneut explizit, so wie er sich mit ihnen in Mt 10,40-42; 12,46-50; 18,5; Lk 10,16; Joh 13,20 identifiziert hat. Unser Abschnitt schließt mit dem Satz: Und diese werden in eine ewige Strafe gehen, die anderen aber als Gerechte ins ewige Leben (V. 46). So wenig wie in Lk 16,19ff denkt Jesus daran, dass die Verworfenen nur eine zeitlich befristete Strafe erleiden oder dass sie am Ende aus Gottes Erbarmen doch noch gerecht gesprochen werden.471 Das ist umso erstaunlicher, als die 467 Vgl. H. Ringgren / U. Rüterswörden / H. Simian-Yofre, Art. ‫ָעַבד‬, ThWAT, V, 1986, 982ff. 468 H. W. Beyer definiert es im Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, für Mt 25,44 so: „Vollsinn christlicher Liebesbetätigung … und zugleich die rechte Jüngerschaft. 469 Michel a.a.O. 658. 470 Luz III 541. 471 κόλασις ist nicht annihilativ. Vgl. Josephus Bell II, 163 und Joh. Schneider, Art. κολάζω usw., ThWNT, III, 1938, 817.

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alte Synagoge durchaus eine „verschiedene Länge der Höllenstrafe an“-genommen hat.472 Stattdessen stehen sich bei Jesus beide ohne Einschränkung und hart gegenüber: ewige Strafe und ewiges Leben. Dadurch wird das Gleichnis vom allgemeinen Weltgericht am Ende doch noch eine ernste Mahnung – aber nicht wie in Mt 24,32–25,30 an die Jünger, sondern an deren Mitmenschen. Daniel 12,2 hat Ähnliches ausgesprochen, Johannes und die Apostel haben diese Linie fortgesetzt (Joh 5,29; 1Kor 1,18; 2Kor 5,10; Jak 2,13; Offb 14,13; 20,15).

IV Zusammenfassung 1. Im Durchgang durch die Literatur ist klar geworden, dass in unserem Kulturraum nur die universale Deutung die Chance hat, gehört zu werden: Alle Not leidenden Menschen sind „Brüder“ Jesu, im Bedürftigen kommt Christus selbst zu mir.473 Die konservativen Ausleger stehen hier hinter den liberalen nicht zurück: Jesus freue sich „an jeder Guttat der Menschen, freut sich, daß er ihnen dafür mit dem Himmelreich danken kann“.474 Wenn Semler in seiner „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“ (1771–1775) einst über die Lehre von der Verlorenheit der Nichtchristen urteilte: „O entsetzliche ungeheure Lehre!“475, so ist dies heute die allgemeine Überzeugung geworden. Die universale Interpretation von Mt 25,31-46 gibt die Möglichkeit, allen Menschen – und nicht nur den Christen – das ganze Heil zuzusprechen. Sie empfiehlt sich für ein undogmatisches Christentum, als ein Grundtext für die Diakonie, für die Befreiungstheologie, für den jüdisch-christlichen Dialog, für eine Ökumene der Religionen, sogar für eine postchristliche atheistische Gesellschaft.476 2. Umso mehr fällt auf, dass der philologisch-exegetische Befund gegen die universale Deutung spricht.477 „Brüder“ Jesu sind ebenso wie „Kleine“/ „Geringe“/„Geringste“ an allen anderen Stellen Bezeichnungen für die Jünger. Warum dann nicht in Mt 25,31ff? Überall sonst ist der Glaube an Gott und Jesus Christus der Weg zum Heil. Spielt das im Blick auf Mt 25,31ff keine Rolle mehr? Bis um 1800, notiert Luz, sei die Deutung der „geringsten Brüder“ auf Christen die „allgemein verbreitete kirchliche Interpretation“ gewe-

472 473 474 475 476 477

Strack-Billerbeck I 985. Vgl. Luz III 521ff. So Schlatter 377. A.a.O. I 55. Luz a.a.O. Von Luz III 542 klar erkannt: „Sie ist exegetisch von Matthäus her nicht vertretbar.“

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sen.478 Haben sich die christlichen Exegeten rund 1700 Jahre lang geirrt? Muss man also mit Fiedler auf jüdisches Denken rekurrieren und angesichts von Mt 25,31ff feststellen, „dass allein mitmenschliches Handeln oder seine Verweigerung den Ausschlag gibt – und nicht die ausdrückliche Anerkennung oder Ablehnung Jesu als Messias“?479 3. Trotz der überwältigenden Mehrheit, die für die universale Deutung spricht, entscheiden wir uns aus philologisch-exegetischen und auch aus dogmatischen Gründen für diejenige Deutung, die Luz den „klassischen Interpretationstyp“ nennt.480 Sehen wir richtig, dann stehen die auferstandenen Christen neben Jesus dem Weltenrichter. Wenn er sagt: diese (V. 40.45), dann deutet er auf sie.481 Da er sich mit ihnen identifiziert,482 sind die erwiesenen oder verweigerten Wohltaten zugleich ihm selbst erwiesen oder verweigert. Der Christusbezug bleibt also entscheidend für die Annahme oder Verwerfung im Endgericht.483 4. Die dogmatischen Konsequenzen sind bei jeder Art von Deutung – gleichviel, ob „universale“, „klassische“ oder „exklusive“ Interpretation – einschneidend. Das gilt in mehreren Richtungen. Der Protestantismus, ansonsten so stolz auf seine Lehre, dass wir ohne des Gesetzes Werke, ohn all unser Verdienst und Würdigkeit zum Heil gelangen, hat mit der universalen Deutung längst auf die Werke abgehoben. Aber auch in der klassischen Interpretation kommt dem Tun eine ausschlaggebende Rolle zu. Dies steht nun allerdings mit der ganzen Lehre Jesu und der Apostel im Einklang. Dass das Tun auch in Mt 25,31ff eine Rolle spielt, darf also nicht irritieren. Das entscheidende Moment bleibt aber in Mt 25,31ff ebenso wie in Mt 10,40ff der Christusbezug. Was dem Jünger getan wird, wird ihm getan. So bleibt auch Mt 25,31ff auf dem Boden der neutestamentlichen Christologie. Was wir daraus lernen müssen, lässt sich vielleicht mit Theodor Zahn so formulieren: Wir werden hier bewahrt vor einem „engherzigen Fanatismus in der Beurteilung der Menschen“.484 Die Gnade greift so weit hinaus, dass sie auch das Wohltun am Leib Jesu Christi = an den Jüngern mit der Teilnahme am Gottesreich belohnt.

478 479 480 481 482 483

Luz III 526. Fiedler 380. Luz III 526ff. Ebenso Zahn 684. Zur Vorbereitung einer Leib-Christi-Vorstellung durch Mt 25,31ff vgl. France 358. Ähnlich wie wir Zahn 683ff. Hart ist der Vorwurf von Luz gegen unsere Deutung: Sie kennzeichne ein „fast sektiererischer Geist“ (III 529). 484 Zahn 685.

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5. Die Historizität ist hier wie beinahe überall in den Evangelien umstritten.485 Da aber selbst Luz den jesuanischen Ursprung für möglich hält,486 sind weitere Erörterungen nicht nötig.487 6. Die Wirkungsgeschichte von Mt 25,31-46 ist enorm. Kurt Aland erwähnt in seiner Synopse Röm 14,10; 2Kor 5,10; Did 16,7; 2Klem 6,7; Herm v III, 9,2; Justinus Martyr Dial c Tryph 76,5. Zu ergänzen ist mindestens Irenäus AdvHaer IV, 40,1f. Siehe auch noch 2Thess 1,7; Jak 2,13. In den Texten der Kirchenväter, die ja nur eine kleine Auswahl bieten, äußern sich zu Mt 25,31ff Gregor von Nazianz, Origenes, Johannes Chrysostomus, Basilius der Große, Gregor von Nyssa, Cyrill von Jerusalem, Petrus Chrysologus, Augustinus und Gregor der Große. Die Predigtliteratur ist unübersehbar.

485 Negativ beurteilt bei Bultmann, Gesch, 130ff; Colpe a.a.O.; Luz III 521 (dagegen Wilckens I/1 280). 486 Luz III 520. 487 Für im Wesentlichen jesuanisch z.B. Jeremias, Gleichnisse, 205.

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Jesu Passion, 26,1–27,66

Jesu Passion, 26,1–27,66

Vorbemerkung Die Lutherbibel fasst Mt 26,1–28,20 unter der Überschrift „Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu“ zusammen. Umfangmäßig ist dies gerechtfertigt. Alands Synopse behandelt dagegen „Die Leidensgeschichte“ (Mt 26,1– 27,66) und „Der Auferstandene“ (Mt 28,1-15) als zwei gleichgewichtige Hauptteile. Sachlich ist Letzteres berechtigt. Denn Passion und Auferstehung sind die beiden Zielpunkte des Evangeliums. Auch wir behandeln Jesu Passion (26,1–27,66) und Jesu Auferstehung (28,1-20) deshalb als zwei Hauptteile. Ein erster Überblick über die Kapitel 26 und 27 zeigt, wie viele Geschehnisse hier zusammengefasst sind. Man kann die Evangelisten nur bewundern, wie knapp sie ihre Berichte abgefasst haben und wie konstant sie der Versuchung widerstanden haben, uns mit Ausschmückungen ihre Stoffe näherzubringen.1 Wir gliedern in vier große Abschnitte: 1) Auf dem Weg zum Prozess (Mt 26,1-46); 2) Prozess (26,47–27,30); 3) Kreuzigung (27,31-56); 4) Grablegung (27,57-66).

1 Vgl. Zahn 686.

1. Auf dem Weg zum Prozess, 26,1-46

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1. Auf dem Weg zum Prozess, 26,1-46 1.1 Erneute Leidensweissagung, 26,1-21

I Übersetzung 1 Und es geschah, als Jesus mit all diesen Worten zu Ende gekommen war, dass er zu seinen Jüngern sagte: 2 Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passafest stattfindet, und dann2 wird der Menschensohn ausgeliefert, um gekreuzigt zu werden.

II Struktur Die beiden Verse sind schlichte Berichtsverse. V. 1 enthält die typisch matthäische Wendung Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς … [Kai egeneto hote etelesen ho Iēsous] Siehe auch Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1. Sie erklärt den vorausgehenden Redekomplex für abgeschlossen: die Bergpredigt (5–7), die Instruktionsrede (10,5-42), die Gleichnisse (13,1-52), die Gemeindeordnung (18), jetzt die Endzeitverkündigung (24–25). Nur der Redekomplex Mt 23,139 hat keinen solchen Abschluss. Wie in den Kapiteln 24 und 25 sind die Jünger die Adressaten. Auffällig ist die Datierung nach zwei Tagen (V. 2). Sie wird durch Markus (14,1) und Lukas (22,1) bestätigt. Aber auch Johannes datiert, wenn er zur Passion kommt (12,1). Man kann sich diesen Sachverhalt nur so erklären, dass die christlichen Autoren und Evangelisten Kreuzigung und Auferstehung datumsmäßig „festmachen“ wollten und sich bewusst der historischen Kontrolle stellten. In anderer religiöser Literatur, etwa Koran und Schamanenüberlieferungen, fehlen solche Züge. Mt 26,1-2 ist ansonsten Sondergut.

III Einzelexegese Zu V. 1 vgl. das unter II. Bemerkte. In der erwähnten Abschlussformel ist neu das πάντας [ pantas] (τοὺς λόγους τούτους [tous logous toutous]). Dass es in Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1 fehlt, hier aber erscheint, könnte darauf hindeuten, dass Matthäus seinen Lesern signalisieren will, Jesu Reden seien jetzt endgültig zu Ende gekommen.3 1 Wie France 360 nehmen wir Mt 26,1-2 als besonderen Abschnitt. Vgl. Zahn 686; Fiedler 382; Beare 502; Sand 514. 2 Vgl. BDR § 442,2b. 3 Vgl. Luz IV 51; France 360; Zahn 686; Fiedler 382; Beare 503.

500

Jesu Passion, 26,1–27,66

Es hat eine hohe Bedeutung, dass Matthäus seine Passionsgeschichte nicht wie Markus und Lukas mit den Hohenpriestern anfängt (Mt 14,1; Lk 22,2), sondern mit Jesus. Dadurch bleibt Jesus auch in diesem Abschnitt die beherrschende Figur. Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passafest stattfindet (V. 2): τὸ πάσχα [to pascha] bezeichnet das siebentägige Passafest ‫ [( ֶ ּפַסח‬päsach]).4 Siehe auch Ex 12,1ff; 23,14ff; Lev 23,4ff; Num 28,16ff; Deut 16,1ff. Nach zwei Tagen: Der 14. Nisan, der Todestag Jesu, unser Karfreitag, dauerte von Donnerstagbis Freitagabend (von ca. 18 bis 18 Uhr). Zwei Tage muss nach gewöhnlicher Zählung weniger als 48 Stunden sein.5 Demnach sagte Jesus das in V. 2 Berichtete am Dienstagabend.6 Und dann, also am ersten Festtag, dem 14. Nisan, wird Jesus der Menschensohn ausgeliefert (παραδίδοται [ paradidotai]), das heißt in die Hände derer gegeben, die ihn kreuzigen (εἰς τὸ σταυρωθῆναι [eis to staurōthēnai]). Dieses prophetische Wort zeigt seinen Jüngern, dass die Kreuzigung unausweichlich ist. Drei solenne Leidensweisungen an die Jünger sind vorausgegangen (Mt 16,21; 17,22f; 20,17-19). In der dritten war schon von der Kreuzigung die Rede (20,19). Doch gibt es außer den genannten noch weitere Weissagungen seines Leidens im Evangelium.7 Siehe auch Mt 9,25; 10,24f; 17,12; 21,33ff. Fraglich ist, ob das Passivum wird ausgeliefert (παραδίδοται [ paradidotai], im futurischen Sinn8) auf Gott oder die Menschen zu beziehen ist.9 Wir meinen, dass keines das andere ausschließt: Das verantwortliche Handeln von Menschen ist längst in Gottes Plan.

IV Zusammenfassung 1. Jesus prophezeit, was am Passafest geschehen soll und nennt sogar ein Datum. 2. Es bleibt ein historisches Wunder, wie er unerschütterlich und zielbewusst in sein Leiden ging.

4 Wie Pes II 2ff. Vgl. Strack-Billerbeck I 985. 5 Carson 523. 6 Carson a.a.O.: „late Tuesday evening“; Zahn 687: „am Dienstag d. 12. Nisan“. Die Kommentare sind unsicher. France 360: „either Nisan 12 or 13; Maier II 344 „Mittwoch“; Luz IV 51: „Das Passah beginnt … wahrscheinlich am folgenden Tag.“ 7 Hengel-Schwemer 463. 8 BDR § 323. 9 Vgl. France a.a.O; Carson a.a.O.; Tasker 243. Luz IV 52: „Gottes Plan“; Fiedler 383: „Es ist Gott“; auch Beare 503.

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3. Die pauschale Bestreitung der Historizität bei Bultmann10 hat weder einen historischen noch einen dogmatischen Anhaltspunkt.

1.2 Der Hinrichtungsbeschluss der jüdischen Behörden, 26,3-5

I Übersetzung 3 Etwa um die gleiche Zeit versammelten sich die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes im Palast des Hohenpriesters, der Kajaphas genannt wird, 4 und fassten gemeinsam den Beschluss, Jesus mit List festzunehmen und zu töten. 5 Sie sagten jedoch: Ja nicht am Fest, damit kein Aufruhr im Volk entsteht!

II Struktur Matthäus hält wieder alles Wichtige ohne Schnörkel fest. Er schreibt hier transparenter als Markus (14,1-2) und Lukas (22,2). Neben dem Datum von V. 2 scheint ihm der Tagungsort erwähnenswert, nämlich der Palast des Kajaphas. Rede und Gegenrede der Diskussion erwähnt er dagegen nicht. Wichtig ist aber auch die Planung des Verhaftungstermins: „Ja nicht11 am Fest.“

III Einzelexegese Das erste Wort von V. 3, τότε [tote], kann verschieden übersetzt werden. Heißt es „darauf “?12 Es ist jedoch fraglich, ob Matthäus mit dem τότε [tote] in V. 3 und 14 einen chronologischen Ablauf schildern will. Näher liegt die Bedeutung „damals“. Es bringt damit zum Ausdruck, dass einerseits die Ereignisse von V. 1f und V. 3ff „zeitlich eng zusammengehörten“,13 andererseits aber keine völlig präzise Zeittafel aufgestellt wird. Sachlich schien uns die Wendung Etwa um die gleiche Zeit passend.14 Die Versammlung, um die es in V. 3 geht, wird von den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes gebildet. In Mt 21,23 werden dieselben Körperschaften erwähnt. Dadurch lässt Matthäus erkennen, dass Untersuchung und Verhör seit Kap. 21 ununterbrochen andauerten und dass die federführenden Institutionen dieselben waren. Die Kreuzigung geschah also nicht als eine Art Lynchmord, sondern war lange und sorgfältig geplant. Doch wo sind die Pha10 Bultmann, Gesch, 163: alle Leidensweissagungen „längst als sekundäre Gemeindebildungen erkannt“. 11 BDR § 480,9. 12 So z.B. BGS. 13 Zahn 687. 14 Ebenso Neue Jerusalemer Bibel; NGÜ. Vgl. Carson 523.

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risäer? Wir müssen sie nach Mk 14,1; Lk 22,2 und Mt 26,7 ergänzen. Es handelte sich demnach um eine Versammlung des ganzen Hohen Rates unter Einschluss der Pharisäer. Doch warum nennt sie Matthäus nicht ausdrücklich? Wie in 21,23 kann der Grund nur der sein, dass er mit Anklagen gegen die Pharisäer vorsichtig sein will. Sein Verhalten ist also das Gegenteil dessen, was ihm Fiedler mit Bezeichnungen wie „bösartig“ oder „Gehässigkeit“ vorwerfen will.15 Genau wird der Versammlungsort angegeben: im Palast des Hohenpriesters, der Kajaphas genannt wird. Die Angaben halten der historischen Prüfung stand. Kajaphas, dessen eigentlicher Name Josef lautete, wurde von Valerius Gratus 18 n.Chr. als Hoherpriester eingesetzt. Er war ein Schwiegersohn des in Lk 3,2; Joh 18,13.24; Apg 4,6 erwähnten Hannas (Joh 18,13) und „scheint … eng mit diesem zusammengearbeitet zu haben“.16 Im Jahr 36 n.Chr. verlor er unter dem Statthalter Vitellius sein Amt. In der Mischna Para III, 5 ist einmal von einem „Sohn17 des Hakajaph“ die Rede, offensichtlich unseres Kajaphas.18 Wo lag sein Palast (αὐλή [aulē])? Kopp und Kroll sind sich darin einig, dass er am „südwestlichen Rande“ des christlichen Zion lag.19 Sie stützen sich dabei auf den Pilger von Bordeaux (333 n.Chr.) und Cyrill von Jerusalem (Mitte des 4. Jh.s n.Chr.). Die genaue Lage können sie jedoch nicht angeben. Man wird diesen Palast vielleicht doch in der Oberstadt des damaligen Jerusalem, in der Nähe der heutigen Kirche St. Peter in Gallicantu, suchen müssen.20 Sie fassten gemeinsam den Beschluss, Jesus mit List festzunehmen und zu töten (V. 4): Für Matthäus bedeutet dies zweifellos den endgültigen politischen Beschluss der jüdischen Autonomiebehörde, Jesus hinzurichten. Jedoch sind einige Einzelheiten strittig. Was heißt συμβουλεύσαντο [symbouleusanto] genau? Luz verficht die Bedeutung „sie berieten sich“.21 Dagegen sprechen aber mindestens zwei Erwägungen: Erstens wäre eine bloße Beratung ohne Beschlussfassung so wenige Tage, ja Stunden vor der Kreuzigung 15 16 17 18 19 20

Fiedler 356. D.R. Hall, Art. Kajaphas, GBL, 2,747. Genauer ist es ein Enkel. Vgl. Hall a.a.O.; Strack-Billerbeck I 985; Josephus Ant XVIII, 35.95. Kopp 402; Kroll 434. Wenn Luz IV 54 schreibt, eine Sitzung im Palast des Hohenpriesters sei „Historisch … natürlich unzutreffend“, der Sanhedrin habe „sich nicht im Palast des Hohenpriesters versammelt“, möchte man dagegenfragen: Woher weiß er das? Offenbar kennt der Ausleger des 20. Jh.s das damalige Jerusalem besser als der Zeitzeuge Matthäus. StrackBillerbeck I 997ff erwägen nach Josephus, Mischna und Talmud drei verschiedene Versammlungsorte. 21 Luz IV 53.

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ein wenig seltsam, zweitens entwickelt das Wortfeld βούλομαι/βουλή [boulomai/boulē] – wie Gottlob Schrenk gezeigt hat22 – eine starke Tendenz in Richtung „Entschluss“/„Willen“. So bleibt man besser bei der von Bauer-Aland (Sp. 1552) vorgeschlagenen Übersetzung sie fassten gemeinsam den Beschluss. Dass damit der in Joh 11,47ff geschilderte Beschluss bestätigt und konkretisiert wurde, ist eine naheliegende Annahme. δόλος [dolos] hinwiederum bedeutet „List“/„Hinterlist“,23 und nicht die „böse Absicht“, wie Luz meint.24 Wie sollten denn die Ratsmitglieder sich selbst bescheinigen, dass sie mit „böser Absicht“ vorgehen wollten? List dagegen war prozessrechtlich erlaubt.25 Insgesamt zeigt sich, dass die Hinrichtung Jesu sorgfältig und von langer Hand geplant war. Siehe dazu wieder Joh 11,47ff. Auch der Talmud berichtet von einem langen Vorlauf vor der Hinrichtung Jesu: „Vierzig Tage vorher hatte der Herold ausgerufen: Er wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei getrieben und Israel verführt und abtrünnig gemacht hat; wer etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hat, der komme und bringe es vor. Da aber nichts zu seiner Verteidigung vorgebracht wurde, so henkte man ihn am Vorabend des Pesachfestes“.26 Aus dem gefassten Beschluss hebt Matthäus in V. 5 einen für ihn besonders wichtigen Punkt hervor. Sie sagten jedoch: Ja nicht am Fest, damit kein Aufruhr im Volk entsteht! Fest muss hier die ganze Woche des Passa bedeuten.27 Wo liegt das Bedenken? Beim Volk, das hier nicht mit ὄχλος [ochlos] („Volksmenge“, „Masse“) o.Ä. bezeichnet wird, sondern mit dem ehrenvollen Namen λαός [laos]. Das „Volk Israel“ also – so die Befürchtung – würde durch die Verhaftung Jesu in Aufruhr (θόρυβος [thorybos]) geraten. Was θόρυβος [thorybos] bedeutet, kann die Lektüre des Josephus klarmachen, wo die Unruhen im Israelland beim Aufkommen der Herodianer oder auch der Aufruhr zu Beginn des Jüdisch-Römischen Krieges mithilfe dieses Begriffes geschildert werden.28 So groß also schätzte der Sanhedrin die Gefahr bei der Verhaftung Jesu während des Festes ein! Das heißt nichts anderes, als dass Jesus bis zu diesem Zeitpunkt mit der Unterstützung und Anhänglichkeit der Im Art. βούλομαι usw., ThWNT, I, 1933, 628ff. Bauer-Aland 408. Luz a.a.O. Carson 524 sieht in Mt 26,4 eine Anspielung auf Ps 31,14. Zum Prozessrecht vgl. StrackBillerbeck I 985. 26 B Sanh 43a. 27 Zu Recht lehnt Luz IV 53 die Auffassung von J. Jeremias, ἑορτή heiße hier „Festmenge“, ab. 28 Josephus Bell I, 201; II, 611. 22 23 24 25

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Mehrheit des Volkes rechnen konnte. Johannes (11,47ff; 12,19) bestätigt hier den Bericht der Synoptiker (vgl. Mk 14,2; Lk 22,2).29 Entsteht ein Aufruhr im Volk, ist die Gefahr sogar doppelt. Das Volk könnte die Verhaftung verhindern, gleichzeitig aber könnten die Römer alarmiert und zum Eingreifen bewegt werden (vgl. Joh 11,48). Denn in dem zu Festzeiten nervösen Jerusalem, dessen Bevölkerung dann evtl. auf das Fünffache (150 000?) anschwoll, konnten solche Ereignisse unabsehbare Folgen haben. Offensichtlich waren die Pilgermassen nicht anders gesonnen als die in Jerusalem ansässigen Einwohner (vgl. Mt 21,1ff.46; Joh 12,20ff ).30 Man hat gegen Mt 26,5 schon eingewandt, nach dem Fest sei doch eine Verhaftung unmöglich.31 Denn Jesus würde die Stadt ja nach dem Fest verlassen. Dieser Einwand ist gegenstandslos. Denn erstens hielt sich Jesus nach den Wallfahrtsfesten gelegentlich länger in Jerusalem auf (vgl. Joh 2,23–4,3; 9,1– 10,40), zweitens konnte eine Verhaftung ja auch außerhalb Jerusalems stattfinden (Apg 9,1ff ). Mit Theodor Zahn nehmen wir also an, dass der Sanhedrin Jesu Verhaftung „bis nach Ablauf des ganzen Festes und dem Abzug der Festpilger“ aufschieben wollte.32 Doch es kam nach Gottes Willen und der Prophezeiung Jesu gemäß anders.

IV Zusammenfassung 1. Der endgültige Hinrichtungsbeschluss wird während der letzten Tage Jesu in Jerusalem gefasst. 2. Er enthält zwei Konkretisierungen. Die erste betrifft die Festnahme. Sie soll „mit List“ geschehen, also ohne auffälligen operativen Aufwand. 3. Die zweite Konkretisierung betrifft den Termin. Die Verhaftung soll erst nach dem Passafest geschehen, weil man einen „Aufruhr im Volk“ befürchtet. Insofern ist es ein dilatorischer Beschluss. 4. Nach Gottes Willen kommt alles ganz anders. Jesus wird gerade „am Fest“ verhaftet und hingerichtet. Es erfüllt sich also auch an den Feinden das Wort aus Spr 16,9: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg. Aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.“

29 Interessanterweise bemerken Strack-Billerbeck I 985: „Die Festzeit als solche scheint also kein Hinderungsgrund gewesen zu sein.“ 30 Vgl. Zahn 688; Hengel-Schwemer 558. 31 Vgl. France 361. 32 Zahn a.a.O.

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1.3 Die Salbung in Betanien, 26,6-13

I Übersetzung 6 Als sich aber Jesus in Betanien im Hause Simons des Aussätzigen aufhielt, 7 näherte sich ihm eine Frau, die ein Salbgefäß mit kostbarem Salböl bei sich hatte, und goss es auf sein Haupt, während er zu Tische lag. 8 Als es die Jünger sahen, wurden sie ungehalten und sagten: Wozu diese Verschwendung? 9 Das hätte doch teuer verkauft und armen Leuten gegeben werden können! 10 Jesus aber merkte es und sagte zu ihnen: Warum macht ihr dieser Frau Probleme? Sie hat doch ein gutes Werk an mir getan! 11 Denn Arme habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer. 12 Denn als sie dieses Salböl auf meinen Leib goss, hat sie das zu meinem Begräbnis getan. 13 Amen, ich sage euch: Wo immer dieses Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird, da wird man auch von dem sprechen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.

II Struktur Sachlich und knapp ist auch diesmal der Bericht des Matthäus. Markus erzählt farbiger (vgl. Mk 14,3-5), ebenso Johannes in 12,1-8. Die Gliederung ist leicht erkennbar: 1) der Vorgang der Salbung (V. 6-7); 2) die Reaktion der Jünger (V. 8-9); 3) die entscheidenden Worte Jesu (V. 10-13). Ein besonderes Problem ist das Verhältnis zu Lk 7,36-50, das in Alands Synopse als Parallelbericht abgedruckt wird. Zu Unrecht. Denn 1) gehört Lk 7,36ff offensichtlich in eine ganz andere Zeit; 2) gehört Lk 7,36ff nach Galiläa, während die Salbung von Mt 26,6ff in Betanien stattfindet; 3) geschieht die Salbung von Lk 7 bei einem Pharisäer, wogegen die BetanienSalbung im Haus eines Jüngers geschieht; 4) ist Jesus in Lk 7,36ff unter argwöhnischen Blicken, in Mt 26,6ff hingegen im Jüngerkreis; 5) wird Jesus in Lk 7 von einer Sünderin gesalbt, in Mt 26 dagegen von einer Frau, die gerade nicht als Sünderin gekennzeichnet wird (in Joh 12,3 ist es Maria, Martas Schwester!).33 Auch zu Joh 12,1-8 bestehen manche Unterschiede. Doch kann man dessen ungeachtet Joh 12,1ff als Parallelbericht zu Mt 26,6ff; Mk 14,3ff betrachten.

33 Ebenso France 362; Hengel-Schwemer 580f; Carson 525f; Fiedler 384,8. Dagegen sieht Luz IV 57 Lk 7,36ff nur als Variante zu Mt 26,6ff. Ebenso Flusser 106; Beare 504; Bultmann, Gesch, 19.

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III Einzelexegese Einigermaßen überraschend kommen wir jetzt nach Betanien (V. 6). Ganz fremd ist es uns nicht, denn es begegnete uns schon in Mt 21,17 (vgl. die Erklärung dort). Lässt man das andere Betanien von Joh 1,28 beiseite, dann finden wir den Ortsnamen Betanien insgesamt elfmal in den Evangelien. Das ist für einen Ort dieser Größe ungewöhnlich. Heute würde man sagen: Es war ein „Herd“ der Jesusbewegung. Und es sind mindestens zwei Häuser bzw. Hausgemeinden, die zur Jesusbewegung gehörten, nämlich das Haus der Lazarus-Familie (Joh 11,1ff; Lk 10,38ff ) und das Haus Simons des Aussätzigen (Mt 26,6; Mk 14,3).34 Mit großer Selbstverständlichkeit erzählt Matthäus Als sich Jesus (dort) … aufhielt … während er zu Tische lag (V. 6f ). Das klingt so, als wäre Jesus nicht nur einmal dort gewesen, sondern öfter. Betrachtet man das Verhältnis Jesus-Betanien, dann ist es sehr schwer vorstellbar, dass Jesus – wie manche Ausleger meinen – nur einmal in Jerusalem gewesen sein soll, nämlich am Todespassa. Er muss unseres Erachtens mehrfach in Jerusalem gewesen sein, wie es in der Tat das Johannesevangelium schildert. Er befand sich im Hause Simons des Aussätzigen. Dieser Simon – sonst ein häufiger Name – begegnet uns nur hier in Mt 26,6; Mk 14,3. ὁ λεπρός [ho lepros], der Aussätzige, bedeutet natürlich nicht, dass er jetzt noch aussätzig ist.35 Sonst wäre ein Gastmahl in seinem Hause schwer vorstellbar.36 Er war also wohl inzwischen ein Geheilter. Vielleicht hat ihn Jesus geheilt, wie auch Zahn vermutet.37 Joh 12,1ff widerspricht der Darstellung des Matthäus nicht. Denn dort wird nur gesagt, dass Lazarus ebenso wie Jesus ein Tischgast war und dass Marta zu Tische aufwartete (12,2). Das alles kann sehr gut im Hause Simons gewesen sein.38 Man braucht nicht so weit zu gehen wie Fitzsimmonds, der ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Simon und der LazarusFamilie erwägt.39 Da näherte sich ihm eine Frau, die ein Salbgefäß mit kostbarem Salböl bei sich hatte, und goss es auf sein Haupt, während er zu Tische lag (V. 7): Das Verb προσῆλθεν [ prosēlthen] lässt es offen, ob die Frau sich schon bei 34 Vgl. R. Riesner, Art. Betanien I., GBL 1, 193. 35 So könnte man F.S. Fitzsimmonds, Art. Simon, GBL 3, 1447f verstehen. So jedenfalls BGS. 36 Für Fiedler 384 ist er sogar der „Gastgeber“. 37 Zahn 688f. Ebenso France 362. Siehe ferner Tasker 243; Carson 526; Fiedler 384; Sand 520. 38 Ebenso Carson 526. Dass Jesus gemäß Joh 12 „im Haus des Lazarus“ gewesen sei, wie Fiedler 384,8; Beare 504 behaupten, steht gerade nicht in Joh 12,1ff. 39 A.a.O. 1448.

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den Anwesenden im Hause befand oder ob sie von außerhalb des Hauses herbeikam. Joh 12,3 nennt ihren Namen: Maria, offenkundig die Schwester Martas. Demnach war die Salbende schon vorher im Haus. Sie hatte ein Salbgefäß (ἀλάβαστρον [alabastron]) bei sich: ὁ ἀλάβαστρος [ho alabastros] oder τὸ ἀλάβαστρον [to alabastron] kennzeichnet zunächst den marmorähnlichen Werkstoff „Alabaster“, ein „gelblich schimmernder Kalksinter“.40 Die Bezeichnung erweiterte sich jedoch und wurde z.B. auch auf Salbgefäße aus Glas übertragen. Der Form nach handelte es sich um kleine Fläschchen. Wie vielfältig und fantasievoll solche Fläschchen im Altertum angefertigt wurden, lehrt ein Gang durch die Villa Giulia in Rom.41 War das Salbgefäß in Betanien aus Glas, konnte es leichter zerbrochen werden (συντρίψασα [syntripsasa], Mk 14,3). Oft zerbrach man das Fläschchen einfach am dünnen Hals, vor allem, wenn man den ganzen Inhalt ausschütten wollte. So hat es offensichtlich die Frau in Betanien praktiziert. Der Inhalt wird hier als kostbares Salböl beschrieben (μύρου βαρυτίμου [myrou barytimou]). Markus (14,3) und Johannes (12,3) sprechen von Narde. τὸ μύρον [to myron] basiert auf Pflanzenöl, dem „wohlriechende Stoffe beigesetzt waren“.42 Als den Gipfel der Salböle (μύρων [myrōn]) rühmt Josephus diejenigen, die in Jericho gewonnen wurden.43 Vielleicht stellte das Salböl von Mt 26,7 sogar eine Art Kapitalanlage dar. Aber jetzt goss es die Frau auf sein Haupt, während er zu Tische lag. Mit ἀνακειμένου [anakeimenou] kommt zum Ausdruck, dass Jesus mit seinen Jüngern zu einem festlichen Mahl eingeladen war. Man lag auf der κλίνη [klinē], einer niedrigen Liege, vor der ein ebenfalls niedriges Tischchen stand, wie es unzählige Male auf den antiken Bildern bis hinein in die Katakomben dargestellt ist. Siehe auch Mt 9,10; 26,20. Jesus wurde oft eingeladen und hat diese Einladungen gerne angenommen (Mt 9,9ff; Lk 7,36ff; 11,37ff; 14,1ff ). Dass nun sein Haupt gesalbt wurde, bedeutete zunächst eine hohe Ehre44 (vgl. Ps 23,5). Aber es bedeutet noch mehr: Gesalbt wurden Fürsten und Priester, vor allem aber ist die Salbung das Kennzeichen des Messias: „Der Herr hat mich gesalbt“ (Jes 61,1). Bis heute nennen wir den Erlöser „Christus“ = den „Gesalbten“. Welch ein Kontrast! Draußen überlegen die damaligen „politisch Verantwortlichen“, wie sie ihn töten wollen (V. 3-5). 40 Luz IV 58,17 nach G. Fohrer. 41 Man zitiert hier gerne Plinius Nat 13,3: „Salben werden am besten in Alabastergefäßen aufbewahrt (Unguenta optime servantur in alabastris).“ 42 V. Michaelis, Art. μύρον usw., ThWNT, IV, 1942, 807. 43 Ant XIV, 54; vgl. Bell IV, 561. In Offb 18,13 ist μύρον wertvolle Handelsware. 44 So salbte man bei Festlichkeiten auch eingeladene Rabbinen, z.B. b Ket 17b. Vgl. StrackBillerbeck I 986.

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Drinnen widerfährt Jesus die höchste Ehre. Die Salbung ist das Messiasbekenntnis der Frau. „Die Herren halten Rat miteinander wider den HERRN und seinen Gesalbten“ (Ps 2,2) – und doch wird er der Sieger von Golgatha. Es gibt noch eine dritte Dimension, die nicht übersehen werden darf. Das ist die Liebe der Frau zum Messias, für den sie alles opfern will. Schlatter konnte dies angemessen formulieren: „Für ihn war ihr kein Schmuck zu kostbar.“ Er spricht von ihrem „warmen Glauben“.45 Eine Frage bleibt: Warum nennt uns Matthäus nicht den Namen der Frau? Am ehesten überzeugt die Antwort von Zahn: Die Frau „lebte noch, als dies geschrieben wurde“, und Matthäus wurde durch irgendeine „besondere Rücksicht veranlaßt“, ihren Namen zu verschweigen.46 Mehr lässt sich dem Dunkel der Geschichte nicht abringen. Die Ausleger beschäftigt außerdem das Verhältnis zu Joh 12,3. Dort heißt es, dass die „Füße“ Jesu gesalbt wurden. Wir werden nicht mehr jede Einzelheit aufhellen können. Hat die Frau jedoch den ganzen Leib gesalbt47 – worauf Mt 26,12 und Mk 14,8 stark hindeuten –, dann war Matthäus frei, nur die Salbung des Hauptes als Ehrenzeichen zu erwähnen. Johannes konnte seinerseits die Salbung der Füße als auffallendes Detail festhalten. Die Jünger sind empört. Sie wurden ungehalten und sagten: Wozu diese Verschwendung? (V. 8). Das Verb ἠγανάκτησαν [ēganaktēsan] ist dasselbe wie in Mt 20,24. Es ist jedoch kein nüchterner Kaufmannsverstand, der sich hier empört. Zahn hat wohl recht mit seiner Bemerkung, dass die „Eifersucht“ auf die Frau das bestimmende Motiv war.48 Wozu diese Verschwendung (ἀπώλεια [apōleia])? Für ἀπώλεια kommt auch die Bedeutung „Verlust“ infrage.49 In der Tat bedeutet es einen Verlust für die Armenfürsorge, wenn das kostbare Salböl nicht für diakonische Zwecke verwandt wird. Eins fällt hier auf: Für die Jünger hat noch wenige Stunden vor der Kreuzigung die Sozialfürsorge den Primat, für die Frau aber Jesus. An dieser Stelle spürt Luz richtig, „daß Nachfolge Jesu nicht nur eine bestimmte ethische Praxis ist; in erster Linie ist die Treue gegenüber Jesu Person gemeint.“50 In Joh 12,4-6 spricht Judas den Vorwurf aus. Aber offenkundig spricht er aus, was die Apostel insgesamt denken (vgl. Mk 14,4).51 45 46 47 48 49 50 51

Schlatter 380. Zahn 689. So auch Fiedler 384. Zahn 689. Ebenso Schlatter 380. So Strack-Billerbeck I 986. Luz IV 61. Carson 526; France 362.

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Vers 9 überliefert uns das Argument der Jünger: Das hätte doch teuer verkauft und armen Leuten gegeben werden können! In sich ist dieses Argument schlüssig. Die Armenfürsorge war außerdem ein Gebot Jesu (Mt 5,42). Für teuer nennen Markus und Johannes übereinstimmend die Summe von dreihundert Denaren. Ist 1 Denar der Tageslohn eines Arbeiters (Mt 20,2), dann sind 300 Denare der Jahreslohn eines Arbeiters. Für Jesu Zeit dürfte eine solche Summe für das Salböl zutreffen. Was für eine Möglichkeit hätte darin gelegen! France beurteilt die Kalkulation der Jünger mit englischer Nüchternheit: „Their concern for the poor ist admirable.“52 Jesus aber merkte es (γνοὺς δὲ ὁ Ἰησοῦς [gnous de ho Iēsous]), V. 10: Luz findet das „γνούς etwas eigenartig“.53 Hier brauche es doch „keine besondere Erkenntnis“. Aber man sollte in dieses γνούς [gnous] auch nicht zu viel hineingeheimnissen. Es bedeutet einfach so viel wie „er bekam es mit“.54 Im Übrigen hatte sich Judas laut geäußert (Joh 12,4ff ). Er sagte zu ihnen: Warum macht ihr dieser Frau Probleme? Auch diese Bemerkung zeigt, dass sich jemand aus dem Jüngerkreis laut geäußert haben musste. Das griech. κόπους παρέχειν [kopous parechein] bedeutet „jemand Mühe machen / Beschwerden verursachen“.55 Darf man die Frau in ihrem herzlichen Mitgefühl, in ihrer bewundernswerten Entschlossenheit so maßregeln? Wir müssen aufpassen, dass unser Glaubensernst nicht zur Sturheit entartet. Und nun wirbt Jesus geradezu um die Einsicht und Einheit im Jüngerkreis (auch die Frau ist ja eine Jüngerin!): Sie hat doch ein gutes Werk an mir getan!56 Öfter weist man darauf hin, dass bei den Rabbinen Liebeswerke höher geschätzt wurden als Almosen.57 Aber es ist fraglich, ob man solche Diskussionen und Wertungen bis in die Zeit Jesu zurücktragen darf. Vor allem jedoch kommt es Jesus nicht auf eine Abwägung zwischen Liebeswerken und Almosen an (auch Almosen sind ein gutes Werk!), sondern auf die Beziehung zu seiner Person. An mir hat sie das getan! In Entsprechung zum ersten Gebot „Ich bin der HERR, dein Gott“ (Ex 20,2) soll dem Sohn Gottes die höchste Liebe und die höchste Würdigung widerfahren. Die Salbung von Betanien führt uns also ins Herz der Christologie.58

52 53 54 55 56 57

France a.a.O. Luz IV 61. Bauer-Aland 322. BDR § 316,4; Bauer-Aland 901. Vgl. BDR § 153,2; 157,2. Strack-Billerbeck. Vgl. dazu die richtigen Bemerkungen von Luz IV 61. Vgl. ferner Schniewind 257. 58 Vgl. Carson 527: „a high christological claim“.

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In V. 11f begründet Jesus, weshalb das Handeln der Frau wirklich ein gutes Werk war: Denn Arme habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer (V. 11). Der Anklang an Deut 15,11 ist unüberhörbar. Dort heißt es: „Denn der Arme wird nicht aus dem Land verschwinden.“ Dieser Satz aus dem Mosegesetz, jetzt bestätigt durch Jesus, behält seine Wucht auch außerhalb der Betaniengeschichte. Er kennzeichnet ja die ganze folgende Geschichte der Gemeinde Jesu. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass in der Menscheitsgeschichte die Armut, gleich welcher Art, je verschwinden würde. Christen müssen allen Verführern widerstehen, die den Menschen vorgaukeln, man könne die Armut ganz abschaffen. Zugleich steckt ein zweites wichtiges Element in diesem Satz. Er enthält nämlich die fortdauernde Verpflichtung, bei anderen Gelegenheiten und zu anderen Zeiten weiter für die Armen zu sorgen. Auch France betont eine solche Fürsorgepflicht.59 Mt 26,11 steht damit in einer gewissen Parallele zu Mt 9,15. Die soeben vorgetragene Auslegung ist jedoch umstritten. Zwar gibt sie auch die Ansicht einer großen Anzahl von Kirchenvätern wieder. Wir erwähnen als Beispiel Johannes Chrysostomus, der es lobt, „dass die Jünger hochherzig und bereit zum Almosen waren“.60 Andererseits urteilt Ernst Bammel, Jesus gebe in Mk 14,7 / Mt 26,11 eine „Antwort, die die Almosenpflicht abwertet“, er lehne es ab, „sich auf ein soziales Prinzip festlegen zu lassen“.61 Richtig wäre demgegenüber die Feststellung, dass sich Jesus in der Tat nicht auf Prinzipien, sondern auf die Heilige Schrift stützte (vgl. Deut 15,7ff; Spr 3,27; Sir 4,8ff; Tob 4,7ff ), und dass die Almosenpflicht eben nicht abgewertet, sondern der Gottes- und Christusliebe nachgeordnet wird, wie es wiederum der Schrift entspricht.62 Die Fortsetzung in V. 11: mich aber habt ihr nicht immer findet sich ebenso wie der Vordersatz wortwörtlich auch in Mk 14,7 und Joh 12,8. Sie stellt den Armen das mich des Christus gegenüber. Jesus bringt hier zum Ausdruck, dass seine leibliche Gegenwart bei den Jüngern (μεθ᾿ ἑαυτῶν [meth’ heautōn]) begrenzt ist. Insofern schließt er an die Leidensweissagungen an, die das Evangelium seit Mt 9,15 durchziehen. Zu diesem Zeitpunkt, wenige Tage, ja Stunden vor seinem Tode, sollte alle Aufmerksamkeit ihm gelten. Dass dies bei den Jüngern des Zwölferkreises nicht der Fall war, muss er ihnen zum Vorwurf machen. Wie schwach waren unsere Apostel! Deutlich

59 60 61 62

France 362; Zahn 689. Texte KV II 190. Im Art. πτωχός usw., ThWNT, VI, 1959, 902.908. So auch Schlatter 381.

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wird dies von Schlatter herausgearbeitet: „die Jünger warteten zwar eifrig darauf, daß Jesus sie herrlich mache, dachten aber nicht daran, ihn zu ehren“.63 In V. 12 gibt Jesus der Salbung eine Deutung, die wohl alle Anwesenden überrascht hat: Denn als sie dieses Salböl auf meinen Leib goss, hat sie das zu meinem Begräbnis getan. Luz vermutet mit Recht, dass die Frau einen solchen Sinn „wohl nicht im Auge gehabt hat“.64 Betrachten wir zunächst die Einzelheiten. Ähnlich wie in Joh 12,3 („Füße“) ist jetzt nicht mehr nur vom Haupt, sondern vom Leib die Rede. Siehe dazu die Anmerkungen bei V. 7. In neutestamentlicher Zeit wurde, so R. Riesner,65 „Der Leichnam gewaschen und mit wohlriechenden Essenzen gesalbt“.66 Die Evangelien berichten mehrfach von der Salbung des toten Jesus (Mk 16,1; Lk 23,56; 24,1; Joh 19,38ff ). R. Riesner hält auch die Angabe „etwa hundert Pfund“ in Joh 19,39 für „durchaus glaubhaft“.67 Doch das Entscheidende ist hier, dass Jesus dem Handeln der Frau jetzt schon die Bedeutung einer Einbalsamierung gibt. So sicher rechnet er mit Tod und Begräbnis! Und in welcher Ruhe! Vielleicht bedeutet das Handeln der Frau für ihn sogar ein Zeichen des Vaters, dass es mit seiner Hinrichtung nicht mehr lange währen würde. Mehr noch: Er konnte hinter der Liebe der Frau die Liebe des Vaters sehen, der ihn auffangen würde. Unser Abschnitt schließt mit dem Amen-Wort von V. 13: Amen, ich sage euch: Wo immer dieses Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird, da wird man auch von dem sprechen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis. Dieses Wort ist eine Prophetie und eine Anordnung zugleich. Dass die Evangelisten selbst diese Anordnung befolgt haben, zeigen Mt 26,13; Mk 14,9. Dass diese Prophetie sich bis heute erfüllt, zeigen die Abermillionen Bibeln, die gelesen werden. Amen bekräftigt die folgende Aussage. Jesus erwartet also mit Gewissheit, dass dieses Evangelium künftig in der ganzen Welt (ἐν ὅλῳ τῷ κόσμῳ [en holō tō kosmō]) verkündigt wird. Er rechnete fest mit der Weltmission. Siehe auch Mt 24,14. Von daher muten manche Debatten, die heute über den Begriff „Mission“ geführt werden, komisch an. Grundlage seiner Gewissheit waren Jes 42,4, wonach der Gottesknecht = Messias „auf Erden das Recht aufrichten“ wird und „die Inseln“ = die Völkerwelt „auf seine Weisung“ warten, sowie Jes 52,7, wonach „die frohe Botschaft“ durch einen Freudenboten, in der LXX einen εὐαγγελιζόμενος [euangelizomenos], verkündigt werden soll. 63 64 65 66 67

Schlatter 380. Luz IV 62. Im Art. Begräbnis- und Trauersitten, GBL 1, 176. Vgl. Mischna Schab XXIII, 5; b Taan 5b; Strack-Billerbeck I 987. A.a.O.

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Was in Mt 10,7; Lk 10,9 der Auftrag der ersten Jünger war, wird in Mt 24,14; 28,19 zum Auftrag der gesamten Kirche.68 Nun folgt die Verheißung für die Frau, die ihn gesalbt hat: da wird man auch von dem sprechen, was sie (betontes αὕτη [hautē]!) getan hat, zu ihrem Gedächtnis. Sie bleibt in Matthäus und Markus namenlos. Aber ihr Tun, zum Teil verborgen unter dem Schleier eines Geheimnisses, erstrahlt bis heute als ein Vorbild der Verbundenheit mit Jesus. Damit erfüllt sich Spr 10,7: „Das Andenken des Gerechten bleibt im Segen.“ Mt 26,13 und Mk 14,9 haben beide εἰς μνημόσυνον αὐτῆς [eis mnēmosynon autēs], was an die μνήμη [mnēmē] von Spr 10,7 erinnert. Siehe ebenso Neh 5,19; 13,14.22.31. Dass auch den Rabbinen das Andenken an Gerechte ein Anliegen war, sieht man an b BB 21a; b Sanh 13b.69 Der biblische Zusammenhang gewährt auch Klarheit darüber, dass Jesus diese Frau sub specie aeternitatis für eine Gerechte hielt.

IV Zusammenfassung 1. Über der Salbung von Betanien (Mt 26,6-13) schwebt etwas Geheimnisvolles, das sich auch von der Auslegung nicht auflösen lässt. 2. Den Hauptinhalt bildet eine doppelte Prophetie: die wohl unbewusste Prophetie des baldigen Begräbnisses durch die hier namenlose Frau, und die sehr bestimmte Prophetie Jesu, dass von dieser Frau einmal in der ganzen Welt gesprochen werde. 3. Beide Prophetien erfüllten sich. 4. Daneben verblassen andere Züge und Aussagen des Berichts, so z.B. die Frage nach dem genauen Datum (vgl. Mt 26,6ff mit Joh 12,1ff ) oder die moderne Frauenfrage. Luz sieht im Schweigen über den Namen der Frau „ein Zeichen für deren patriarchalen Charakter“.70 Fiedler meint, die Frau sei „Identifikationsfigur“ für die Frauen, „die ihr Leben in der Nachfolge Jesu trotz männlicher Kritik eigenständig gestalten“.71 Ob solche Anschauungen bei Jesus oder den Teilnehmerinnen/Teilnehmern der Salbung präsent waren? Auch die historische Skepsis der vergangenen Jahrzehnte (Beare S. 506: „Jesus did not look forward to a continuing history long enough to permit of a mission spanning the whole world“)72 wirkt viel zu subjektiv, um zu überzeugen. 68 Vgl. Carson 527. Richtig Schlatter 381: „Jesus rechnet seinen Tod zu seinem Evangelium.“ 69 Vgl. insgesamt Strack-Billerbeck I 987 sowie äthHen 103,4. 70 Luz IV 62. 71 Fiedler 385. 72 Andere skeptische Urteile bei Bultmann, Gesch, 64; Hengel-Schwemer 581.

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5. Immer wieder wird dagegen die Problematik der Armenfürsorge erörtert werden. Die Ausleger stehen vor der Frage: Soll man die Jünger loben oder tadeln? Eins steht jedenfalls fest: Jesus hat sie getadelt, und nicht gelobt. Schon in der Alten Kirche differierten die Meinungen. Augustinus betonte im Gottesstaat „das gute Werk des frommen Weibes“.73 Johannes Chrysostomus wollte auch an den Jüngern Gutes sehen: „Beachte indes auch, dass die Jünger hochherzig und bereit zum Almosen waren.“74 Luther urteilte in großer Nüchternheit: „Gott nimmt die Armut nicht von seinen Heiligen, aber er lässt sie auch nicht untergehen und verderben.“75 Es ist das Verdienst von Ulrich Luz, dass er auch hier die Wirkungsgeschichte ausführlich dargestellt hat.76 Was das Betanien-Ereignis betrifft, so entscheidet sich alles daran, ob man – zusammen mit der Stellungnahme Jesu – der Gottes- und Christusliebe die Priorität einräumt.77 Es wird immer wieder Entscheidungen solcher Art in unserem Leben geben. Mt 10,37ff; 16,24ff; 19,16ff; 22,34ff weisen dieselbe Orientierung auf.

1.4 Der Verrat des Judas, 26,14-16

I Übersetzung 14 Danach ging einer von den Zwölfen, Judas Iskariot genannt, zu den Hohenpriestern 15 und sagte: Was wollt ihr mir geben, damit ich ihn euch ausliefere? Sie aber setzten für ihn dreißig Silberstücke fest. 16 Und von da an suchte er eine günstige Gelegenheit, um ihn auszuliefern.

II Struktur Matthäus erzählt hier ebenso karg wie Markus. Lk 22,3-6 ist nur wenig ausführlicher. Johannes berichtet in 13,21ff den internen Vorgang. Die Schilderung in Mt 26,14-16 ist einfach: 1) Judas sucht die Hohenpriester auf; 2) er stellt eine Forderung; 3) sie bewilligen dreißig Silberstücke; 4) er legt es darauf an, ihnen Jesus in die Hände zu spielen. Interessant ist der Bericht vor allem auch hinsichtlich dessen, was er nicht sagt: Was das Motiv des Judas war, weshalb er ausgerechnet zu den Hohenpriestern ging etc.

73 74 75 76 77

DCD I 13. Zitiert nach Texte KV II 190. Nach Lutherlexikon 27. Luz IV 62ff. Vgl. Luz IV 66ff.

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III Einzelexegese Das erste Wort in V. 14, τότε [tote], stellt vor die Frage, wie man es angemessen übersetzt. Heißt es „damals“, „zu dieser Zeit“78? Oder „darauf “, danach? Mit vielen Übersetzungen entscheiden wir uns für danach/„darauf “.79 Wir verstehen es also im Sinne einer Zeitfolge, wonach Judas erst nach der Salbung von Betanien zum Verrat schritt. Es wird nirgends verschwiegen, dass der Verräter einer von den Zwölfen war, also ein berufener Apostel (vgl. Mt 26,14; Mk 14,10; Lk 22,3; Joh 13,1ff ). Es ist ein starkes Zeugnis für die Wahrheitsliebe der frühen Kirche, dass sie diese Tatsache in ihre Verkündigung aufnahm und weder verschwieg noch umbog. Bis heute umgibt die Gestalt des Judas ein Schleier von Geheimnissen, was sich die Häretiker bis hin zur Herausgabe eines „Evangeliums des Judas“ zunutze machten. Man sollte die Angabe einer von den Zwölfen aber nicht nur als eine Notiz über die Vergangenheit betrachten. Die Evangelisten geben hier vielmehr auch zu verstehen, dass immer wieder aus dem engsten Kreis der Kirche Gegner und Verräter aufstehen werden (vgl. Mt 10,21ff; 24,9ff ). Deshalb muss Judas ein Teil unserer Verkündigung bleiben. Matthäus erwähnt nicht nur den Namen Judas, sondern nennt ihn ὁ λεγόμενος Ἰούδας Ἰσκαριώτης [ho legomenos Ioudas Iskariōtēs]. Was sagen uns diese Angaben? Judas, griech. Ἰούδας [Ioudas], hebr. ‫ [ ְיהוָּדה‬jᵉhūdāh], ist vom hebr. ‫ [ ידה‬jdh] „loben“, „preisen“ abgeleitet und wurde in diesem Sinne von Lea für Jakobs vierten Sohn gewählt (Gen 29,35). Weil nach Gen 49,8ff auf Juda die größten Verheißungen ruhten, wurde der Name vor allem nach dem Exil äußerst beliebt. Im Kreis der zwölf Apostel gab es sogar zwei, die den Namen Judas trugen (Lk 6,16; Joh 14,22; Apg 1,13). Wahrscheinlich unterscheidet Matthäus den Verräter Judas vom anderen Judas durch die Hinzufügung von Iskariot. Nun ist gerade dieses Iskariot zum Auslöser einer lebhaften Debatte geworden. Es stehen sich vor allem zwei Möglichkeiten der Deutung gegenüber: 1) Die Rückführung auf das lat. sicarius (vgl. Apg 21,38), wonach Judas ein „Mann“ (hebr. ‫[ ִאישׁ‬ʾīsch]) der Sikarier = Zeloten wäre;80 2) die Rückführung auf das hebr. ‫[ ִאישׁ ְקִריּוֹת‬ʾīsch qᵉrījōt] = „Mann aus Kerijot“.81 Nach der zweiten Möglichkeit würde Judas Iskariot aus Kerijot stammen, wohl kaum aus dem moabitischen Kerijot (Jer 48,24; Am 2,2), sondern wahrscheinlich aus dem in Jos 15,25 erwähnten Kerijot ca. 20 km südlich 78 So BGS. 79 So Neue Jerusalemer Bibel; BasisBibel; NGÜ; Gute Nachricht; Revidierte Elberfelder Bibel; Einheitsübersetzung; Carson 528; Zahn 690. 80 Vgl. BDR § 5,4. 81 Vgl. R.P. Martin, Art. Judas Iskariot, GBL 2, 738.

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von Hebron. Demnach wäre Judas ebenso wie Jesus ein Judäer gewesen. Übrigens der Einzige unter den Zwölfen! Für diese zweite Deutung spricht die alte Textvariante in Joh 6,71; 12,4; 13,2; 13,26; 14,22 ἀπὸ Καρυώτου [apo Karyōtou]. Dafür spricht ferner die Beobachtung, dass auch der Vater des Judas Iskariot genannt wird (Joh 6,71; 13,2; 13,26): Es ist leichter vorstellbar, dass die geografische Herkunft für Vater und Sohn dieselbe war, als dass beide als Zeloten aktiv gewesen wären. So neigen wir der Ansicht zu, dass Iskariot so viel bedeutet wie „der Mann aus Kerijot (in Juda)“.82 Damit enden die spärlichen Angaben von Mt 26,14: Freilich führt Matthäus die Judasgeschichte in 26,21ff; 26,47ff; 27,3ff fort. Daneben sind im NT vor allem Johannes (6,71; 12,4ff; 13,2.26ff; 18,2ff ) und die Apostelgeschichte (1,16ff.25) zu vergleichen. In der modernen Diskussion lässt sich ein gesteigertes Interesse für Judas beobachten. Populär sind u.a. der Judas-Roman des israelischen Schriftstellers Amoz Oz, Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot von Walter Jens oder Ben Beckers Ich, Judas.83 Die populären Darstellungen gipfeln gerne in der Feststellung, dass ohne den Verrat des Judas die Kreuzigung ja gar nicht zustande gekommen wäre, dass sein Handeln also heilsnotwendig war. Gesteigertes Interesse findet neuerdings auch Das Evangelium des Judas.84 Seine Existenz wird von Irenäus bezeugt. Als seinen Ursprung benennt er die gnostische Sekte der Kainiten (2. Jh. n.Chr.). Ihnen zufolge habe Judas „allein die Wahrheit erkannt und das Geheimnis des Verrates vollendet“.85 Wilhelm Schneemelcher vermutete als Entstehungsdatum die Zeit „zwischen 130 und 170“.86 Kehrt man von den gnostisch-häretischen und modernen Spekulationen zu Mt 26,14ff zurück, dann fällt auf, dass V. 14 keinerlei Angaben über die menschlichen Beweggründe des Judas macht. Dieselbe Feststellung ergibt sich bei Markus und Lukas. Johannes spricht zwar von der Geldgier und finanziellen Untreue des Judas, aber in einem anderen Zusammenhang (Joh 12,6). Dass Geldgier bei seinem Verrat eine Rolle spielte, lässt sich allerdings aus seinem Verhalten in V. 15 ablesen. Aber ob dies das einzige Motiv war?87 Vielleicht sollte das Schweigen der Synoptiker über die menschlichen Motive des Judas für uns ein Hinweis sein, dass wir letztlich nicht alle Geheimnisse 82 83 84 85 86 87

Ebenso Martin a.a.O.; Hengel-Schwemer 579. Bequeme Zusammenstellung in idea Spektrum 48 (2015) 14. Vgl. hier und im Folgenden Schneemelcher I 309f. AdvHaer I, 31,1. Vgl. II, 20,5. Schneemelcher I 310. Vgl. Martin a.a.O. 739.

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auflösen können.88 Eins allerdings steht nach allen Evangelisten fest: Es war der Satan, der Judas zu seinem Handeln trieb (Lk 22,3; Joh 13,2.27). Er ging zu den Hohenpriestern: Das war in Jerusalem die stets erreichbare Behörde. Der Hohe Rat hätte ja extra einberufen werden müssen, was die Schnelligkeit des Verfahrens behindert hätte. Dennoch bleibt die Frage, weshalb er keinen Kontakt zum Beispiel mit den Pharisäern suchte.89 Ebenso kann man fragen, weshalb er die Römer offenbar außen vor ließ. Die nächstliegende Antwort ist die: Er wollte sich in den schon angelaufenen jüdischen Strafprozess einschalten. Der lief schon seit einiger Zeit, unter anderem mit der Aufforderung zur Anzeige. Joh 11,57 wird hier durch b Sanh 43a bestätigt. Wenn man derzeit immer wieder versucht, die Hinrichtung Jesu allein als eine Sache der Römer darzustellen,90 dann ist Mt 26,14ff parr. ein starkes Argument gegen diese These. Nach Mt 26,15 stellt Judas selbst die Frage: Was wollt ihr mir geben, damit ich ihn euch ausliefere?91 Immerhin ist so viel deutlich, dass für Judas das Geld doch eine gewisse Rolle spielte. „Geldgier“, „avarice“, ist ein berechtigter Vorwurf.92 Schärfer noch Schlatter: „er hat aus Jesu Tod für sich Vorteil gesucht und Geld damit gemacht“ – eine „Roheit“.93 Aber war dies das einzige Motiv? Euch ausliefern bedeutet so viel wie „in eure Hände liefern“.94 Sie aber setzten für ihn dreißig Silberstücke fest: Die Zahl dreißig hat ׁ ֶ [schäqäl käsäph], nur Matthäus. Unter ἀργύριον [argyrion], hebr. ‫שֶקל ֶ ּכֶסף‬ „Silberstück“/„Silberling“, ist wohl ein Silberschekel zu verstehen.95 Die Summe dreißig Silberstücke hat biblische Hintergründe: 1) In Sach 11,12ff werden dreißig Silberstücke für den Hirten (= den Messias) gezahlt, was Gott nur ironisch kommentieren kann;96 2) in Ex 21,22 sind „dreißig Silberstücke“ die Ersatzsumme für einen von einem Rind getöteten Sklaven. – Einen Sklavenpreis ist also der Sohn Gottes wert! Über die spätere rabbinische Praxis

88 Vgl. Hengel-Schwemer 579; Carson 528; Schlatter 382. 89 Vgl. Carson 528. 90 Bezeichnend etwa Claus Petersen, Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch, DtPfrBl 11 (2015) 648ff. 91 Zur Übersetzung vgl. BDR § 442,9. 92 Luz IV 70; Carson 528; Zahn 690. 93 Schlatter 382. 94 Bauer-Aland 1243. 95 Vgl. Strack-Billerbeck I 987. Ein Schekel hat 4 Drachmen. Über verschiedene Berechnungen vgl. Luz IV 70; Fiedler 385; Beare 507; France 364. 96 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, II, ATD, 25, 8. Aufl., 1982, 162f; Krimmer 166f.

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vgl. Mischna BQ IV, 5; Arach III, 3.97 Der genaue Sinn von ἔστησαν [estēsan] ist nicht ganz klar. Heißt es so viel wie „sie vereinbarten als Bezahlung“? Oder so viel wie „sie bestimmten und zahlten ihm aus“?98 Nach Mt 27,3ff hat Judas das Geld schon in der Hand gehabt. Ohne Geld in der Hand hätte er auch kaum das Verhaftungskommando nach Gethsemane geführt (Mt 26,47ff ). Wir fassen daher das ἔστησαν [estēsan] in dem Sinne auf, dass es sowohl die Vereinbarung als auch die Auszahlung einschließt.99 Und von da an suchte er eine günstige Gelegenheit, um ihn auszuliefern (V. 16): Für suchte steht ein duratives Imperfekt. Das heißt, Judas war von da an (ἀπὸ τότε [apo tote]) intensiv bemüht, den Hohenpriestern eine Gelegenheit zu bieten, bei der sie Jesus ohne viel Aufsehen verhaften konnten (vgl. Lk 22,6). Das war eine Korrektur der bisherigen Planung. Galt bisher die Parole: „Ja nicht am Fest“ (V. 5), so gilt jetzt die Parole: „Möglichst rasch, selbst während des Festes.“ So verlockend war das Angebot des Judas. Es scheint, dass auch die Hohenpriester von der Tatsache überrascht wurden, dass jemand aus dem engsten Kreis um Jesus, einer von den Zwölfen, zum Verrat bereit war. Jesus hat also mit seiner Prophezeiung von Mt 26,2 recht behalten. Das Geschehen verläuft nach Gottes Plan, nicht nach der Planung von Menschen (vgl. Spr 16,9). Ferner beginnt sich Jesu Weissagung von Mt 17,22; 20,18f zu erfüllen.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 26,14-16 fällt ein wesentliches Hindernis für die Hinrichtung Jesu. Judas sorgt dafür, dass man ihn ohne die Gefahr eines Aufruhrs verhaften kann. 2. Wir können den Schleier des Geheimnisses über der Gestalt des Judas nicht zerreißen. Seine Geldgier ist nicht zu leugnen, scheint aber nicht das letzte Motiv zu sein. Wie kann jemand, der über zwei Jahre lang mit Jesus unterwegs, ja beinahe Tag und Nacht mit ihm zusammen war, ihn bewusst zur Hinrichtung ausliefern? Die modernen Kommentare kümmert diese Frage relativ wenig. Aber mir scheint, dass Judas für alle Zeiten aufdeckt, was in uns Christen steckt. Vielleicht ist er sogar so etwas wie eine eschatologische Orientierungsfigur für die letzten Abschnitte der Geschichte.

97 Siehe Strack-Billerbeck I 987. 98 Siehe dazu Bauer-Aland 774. 99 Ebenso Tasker 244.

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3. Unleugbar bleibt er persönlich für sein Tun verantwortlich. Die Passionsgeschichte ist wie alle Geschichte von Gott vorherbestimmt. Aber der Gang zu den Hohenpriestern war seine freie Entscheidung.100 4. Auch Mt 26,14-16 zeigt, dass die gesamte Jesusgeschichte von der Schrift prophezeit ist (Sach 11,12).101 5. Die Wirkungsgeschichte ist zu umfangreich, als dass man sie hier nachzeichnen könnte.102

1.5 Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, 26,17-30

I Übersetzung 17 Aber am ersten Tag der Ungesäuerten Brote kamen die Jünger zu Jesus und sagten: Wo willst du, dass wir das Passa-Essen für dich vorbereiten? 18 Er aber sagte: Geht in die Stadt zu dem und dem und sagt zu ihm: Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe. Bei dir feiere ich das Passa mit meinen Jüngern. 19 Und die Jünger machten es so, wie es Jesus ihnen aufgetragen hatte, und bereiteten das Passa vor. 20 Als es Abend geworden war, legte er sich zu Tisch mit den Zwölfen. 21 Und als sie aßen, sagte er: Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern. 22 Und sie wurden aufs Tiefste betrübt und begannen ihn zu fragen, jeder Einzelne: Ich bins doch nicht etwa, Herr? 23 Er aber gab zur Antwort: Der mit mir die Hand in die Schüssel tauchte, der wird mich ausliefern. 24 Zwar geht der Menschensohn dahin, wie es von ihm geschrieben steht. Weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird. Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nicht geboren wäre. 25 Da nahm Judas das Wort, der ihn auslieferte, und sagte: Ich bins doch nicht etwa, Rabbi? Er sagt zu ihm: Du hast es selbst gesagt. 26 Während sie aßen, nahm Jesus Brot, und sprach den Segen, und brach es und gab es den Jüngern und sagte: Nehmet! Esset! Das ist mein Leib. 27 Und er nahm einen Becher und dankte und gab ihn den Jüngern und sagte: Trinkt alle daraus! 28 Denn das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung von Sünden. 29 Ich sage euch aber: Von jetzt an werde ich nicht mehr trinken von diesem Gewächs des Weinstocks bis zu jenem Tage, an dem ich es mit euch neu trinke im Reich meines Vaters. 30 Und sie sangen den Lobgesang und gingen hinaus an den Ölberg. 100 Auch Luz IV 71. 101 So mit Recht Sand 522. 102 Auch Luz IV 73ff kann sie nur fragmentarisch erwähnen.

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II Struktur Man sollte glauben, je näher man der Kreuzigung rückt, desto klarer würden die Strukturen. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar lässt sich der Bericht in Mt 26,17-30 leicht und schlüssig gliedern: 1) Die Vorbereitung des letzten Mahles, V. 17-19; 2) die Ankündigung der Auslieferung und des Verrats, V. 20-25; 3) die Abendmahlsworte, V. 26-28; 4) die Prophetie über den Wein und die neue Schöpfung, V. 29; 5) der Gang zum Ölberg, V. 30. Die Alandsche Synopse hat aus diesen Berichtsteilen jeweils eigene Abschnitte gemacht (mit einer Ausnahme). Aber über dem Ganzen lasten schwierige Fragen, die sowohl die Struktur wie den Inhalt betreffen. Vorab ist es die historische Frage nach dem Datum der Geschehnisse, die fast alles überlagert. Damit verbindet sich die Frage nach der Art dieses letzten Mahles: Ist es Jesu letztes Passa? Ist es das erste Abendmahl der Geschichte? Oder etwas Drittes? Von da aus erhebt sich die bis in Dogmatik und Kirchenpraxis ausstrahlende Frage nach der Bedeutung der sogenannten Abendmahlsworte. Schließlich geht es um den Neuen Bund. Ganz zu schweigen von weiteren Fragen, die sich mit diesem Geschehen verknüpfen, wie der Frage nach dem Verhältnis Jesus-Judas, der Frage nach der Neuschöpfung (V. 29) oder nach der Prädestination. Kein Ausleger kann versprechen, dass er für alle diese Fragen eine Lösung hat. Wir wollen auch in diesem Teil des Kommentars versuchen, gut Begründetes und bloße Hypothesen deutlich voneinander zu unterscheiden. Weiter werden wir versuchen, die großen Linien im Auge zu behalten und immer wieder nach den geistlichen Orientierungen zu fragen, die sich für heute ergeben.

III Einzelexegese Vers 17 bringt uns sofort in die Datierungsproblematik: Aber am ersten Tag der Ungesäuerten Brote … Das griech. τῇ πρώτῃ [tē prōtē] muss ergänzt werden durch ἡμέρᾳ [hēmera].103 Aber welcher Tag ist nun genau gemeint? Die Berichte der Synoptiker und des Johannes lassen sich nicht ohne Weiteres vereinigen. Wurde Jesus am Tag der Opferung der Passalämmer getötet? Dann kann er kein normales Passamahl gehalten haben. Johannes sagt dann auch klipp und klar: „Vor dem Passafest“ (πρὸ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα [ pro tēs heortēs tou pascha]) habe Jesu letztes Mahl mit den Jüngern stattgefunden (Joh 13,1.29). Oder feierte er mit den anderen Juden das reguläre Passafest? Dann

103 Bauer-Aland 1452; Mk 14,12.

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wurde er erst einen Tag nach der Schlachtung der Lämmer und nach dem Passa-Essen gekreuzigt. Es wäre seltsam, wenn die Synoptiker und Johannes eine unterschiedliche Datierung verträten. Denn diese Datierung hat ja auch Einfluss auf das Datum der Auferstehung. Um zu einer Klärung zu kommen, hat man mit verschiedenen Hypothesen gearbeitet. Beliebt ist die Hypothese, dass Jesus ähnlich wie die Qumran-Essener nicht den offiziellen Mondkalender, sondern einen Sonnenkalender benutzte. Man kann dieser Hypothese auch die Form geben, dass die Synoptiker dem Sonnenkalender folgten, Johannes sich jedoch auf den Mondkalender bezieht.104 Solche Annahmen scheitern u.E. an den Gegenargumenten, die D.A. Carson formulierte: „There is no evidence that Jesus followed a sectarian calendar, and quite certainly sacrifices were not offered in the temple on any day other than the ‚official‘.“ Nach einer anderen Hypothese haben entweder die Synoptiker oder Johannes das Datum aus theologischen Gründen verändert. Bei Johannes sei zum Beispiel seine Jesus-Passalamm-Typologie die Ursache gewesen, weshalb er das Datum anders konstruiert habe als die Synoptiker.105 Aber ist eine solche Hypothese wahrscheinlich? Johannes wäre doch viel zu spät, um die Traditionen der frühen Gemeinde noch zu ändern. Und auch die Synoptiker stünden vor Barrieren: a) Es lebten damals noch viele Augenzeugen (Lk 1,1-4; 1Kor 15,6). Konnte man ihnen ein neu konstruiertes Datum nahebringen? b) Schon in den 50er-Jahren des 1. Jh.s n.Chr. lebte die Gemeinde von fest gefügten Überlieferungen (1Kor 11,23ff; 15,3ff ). Die Einführung eines abweichenden Datums ist unter solchen Umständen kaum denkbar. Und dass von allem Anfang an zwei sich widersprechende Datierungen kursierten, ist ebenfalls schwer vorstellbar. Gehen wir von den feststehenden Daten aus. In allen Überlieferungen wird der erste Wochentag nach jüdischer Zählung (μία [τῶν] σαββάτων [mia (tōn) sabbatōn]) als Tag der Auferstehung bezeichnet (Mt 28,1; Mk 16,2; Lk 24,1; Joh 20,1). Gemeinsam ist den Evangelisten ferner die Angabe, dass Jesus „am dritten Tag“ (Mt 16,21; 17,22; 20,19; Lk 9,22; 18,33; vgl. 1Kor 15,4) oder „nach drei Tagen“ (Mt 27,63; Mk 8,31; 9,31; 10,34) auferstehen werde. Das führt auf den Freitag als Todestag. Einen anderen Todestag als den Freitag hat die Christenheit auch bisher nicht gekannt. Nach Mt 27,46 ist Jesus am Nach104 So „Gesandt zu Israel“, 44, Nr. 6, DHes 2015 (Publikation von Evangeliumsdienst für Israel). 105 So z.B. J. Jeremias, Art. πάσχα, ThWNT, V, 1954, 899.

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mittag dieses Freitags „um die neunte Stunde“, also ca. 15 Uhr, verschieden. Ebenso nach Mk 14,34 und Lk 23,44ff. Frühe jüdische Überlieferungen steuern weitere wichtige Angaben bei. Sowohl in b Sanh 43a als auch in b Sanh 67a wird festgehalten, dass Jesus „am Vorabend des Passafestes“ gehängt wurde. Im MS Florenz wird „am Vorabend des Sabbat“ hinzugesetzt. Peter Schäfer hat diese Stellen gründlich diskutiert. Im Ergebnis stimmt diese Überlieferung „mit Johannes überein“.106 Johannes zufolge sei „das letzte Abendmahl nicht das Passahmahl“ gewesen, vielmehr ein Mahl „vor dem Passahfest“, nämlich „am vierzehnten Nisan“.107 Nicht unwichtig sind auch die Erörterungen in der Mischna Pesachim IX, 5 und im Babli b Pes 96a, wonach Besorgungen und Vorbereitungen schon vor dem Passafest getroffen werden. Nimmt man den Faden der jüdischen Überlieferung auf, dann ergibt sich: Die Hinrichtung Jesu erfolgte an einem Freitag, und der endete ca. 18 Uhr. Dann folgte der Sabbat wieder von 18 bis 18 Uhr. Am Sabbatabend nach dem Freitag fand das allgemeine Passamahl statt, das Fest im Vollsinn begann. Weil Wochensabbat und Festtag zusammenfielen, konnte man mit Recht von einem „großen Sabbattag“ sprechen (Joh 19,31). Hier musste alles ruhen. Die Auferstehung erfolgte dann in der Frühe des ersten jüdischen Wochentages, den wir den Sonntag nennen. Insofern ist der Verlauf der Tage von Kreuzigung und Auferstehung schlüssig. Eine ganze Reihe weiterer Argumente spricht ebenfalls für den hier skizzierten Verlauf. Dazu gehört die Parallelisierung von Jesus und Passalamm, die nicht nur bei Johannes zu finden ist (Joh 1,29.36; 19,36), sondern auch bei Petrus (1Petr 1,19) und Paulus (1Kor 5,7). Dazu gehört die alte christliche Fastensitte, die in der Erinnerung an die Passion das Fasten auf Mittwoch und Freitag legte.108 Bisher blieb jedoch die Frage nach Charakter und Inhalt des letzten Mahles Jesu offen. Ihr müssen wir uns zuwenden, wenn wir jetzt zu Matthäus zurückkehren. Auffällig ist zunächst in Mt 26,17 wie bei allen Synoptikern die Bezeichnung Ungesäuerte Brote statt „Passa“. Ursprünglich waren Passa und Ungesäuerte Brote voneinander unterschieden. Da aber Passa jeweils auf den 14. und die Ungesäuerten Brote jeweils auf den 15. Nisan fielen (Lev 23,6ff; Num 28,16ff; Deut 16,1ff ), so gingen beide Feste mehr und mehr ineinander 106 Schäfer 147. 107 Schäfer a.a.O. 108 Vgl. hier A. Jülicher, Art. Fasten: I. Im NT., RGG 1, 2, 1910, 832.

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über.109 Die Mischna Pesachim ist ein Zeuge dieses Zusammenfließens. Aus dieser Sachlage ergibt sich, dass die Ungesäuerten Brote in Mt 26,17 die gesamte mehrtägige Festzeit meinen. Von daher ist es sinnvoll, vom ersten Tag dieser Festzeit zu sprechen. Immerhin redet Matthäus hier eben nicht vom Passa, sondern von den Ungesäuerten Broten, als wolle er eine vorschnelle Identifizierung vermeiden. Wir sahen, dass die Vorbereitungen auf das Passamahl schon Tage zuvor begannen. Bezüglich des Sauerteiges lehrten die Rabbinen, er müsse „schon am Vorabend des Festes“ fortgeschafft werden.110 Es konnte also nicht auffallen, dass die Jünger noch vor dem 14. Nisan zu Jesus kamen und sagten: Wo willst du, dass wir das Passa-Essen (φαγεῖν τὸ πάσχα [ phagein to pascha]) für dich vorbereiten? Ferner bleibt die Möglichkeit offen, dass für Matthäus der Vorbereitungstag vor dem 14. Nisan, nämlich der 13. Nisan, bereits als erster Tag der Ungesäuerten Brote zählte.111 Jesus gibt klare Anweisungen (V. 18). Die erste lautet: Geht in die Stadt! = Jerusalem. Er befindet sich also mit seinen Jüngern zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Stadt, vermutlich in Betanien (vgl. Mt 21,17; 26,6ff ). Es ist wohl der Morgen des 13. Nisan. Die zweite lautet: Zu dem und dem (πρὸς τὸν δεῖνα [ pros ton deina]). Hat Jesus den Namen genannt, den Matthäus dann aus irgendwelchen Gründen verschwieg?112 Markus (14,13ff ) und Lukas (22,9ff ) führen uns auf eine andere Spur. Nach ihrem Bericht beschrieb Jesus einen Mann, der einen Wasserkrug trug, ihm sollten sie folgen. Es ereignete sich also ein ähnliches Wunder wie beim Finden des Reittieres in Betfage (Mt 21,1ff ).113 Jesu Vertrauen und seine prophetische Gabe sind auch hier beeindruckend. Schlatter schreibt114: „Jesus … war … nicht in Unruhe, sondern handelt in der Überzeugung, der Vater halte ihm alles bereit, was ihm zur letzten Feier mit seinen Jüngern nötig sei.“115 In der Tat war es während der Passazeit nicht leicht, in dem überfüllten Jerusalem einen Raum zu finden.116 Lukas nennt sogar die Namen der beauftragten Jünger: Petrus und Johannes (Lk 22,8). Von da an sind diese beiden die führenden Köpfe der Christenheit. 109 Vgl. Ex 12,14ff; J. Jeremias a.a.O. 897; Luz IV 80; Konradt 403 unter Berufung auf Josephus Bell V, 99; Ant XVIII, 29; XX, 106; Davies-Allison III 457. 110 B Pesachim 5a. 111 Fiedler 386 sagt, die „Datumsangabe“ bei Matthäus sei „unpräzise“. 112 Zahn 691f nennt es „sehr wahrscheinlich, daß es das Elternhaus des Johannes Marcus war“. 113 Vgl. Hengel-Schwemer 464. 114 Schlatter 383. 115 Vgl. Hengel-Schwemer 464. 116 Nach Strack-Billerbeck I 989 waren die Festpilger allerdings „berechtigt, jedermann um Überlassung eines Raumes zur Passahfeier anzugehen“.

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Warum Matthäus – bei aller Liebe zu Petrus! – nichts Näheres sagt, können wir nicht erklären. Die dritte Anweisung lautet: Sagt zu ihm: Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe. Bei dir feiere ich das Passa mit meinen Jüngern. Es fällt auf, dass Jesus hier von sich selbst in der dritten Person spricht. Doch weist Rainer Riesner darauf hin, dass er a) „die Worte der Jünger in direkter Rede vorwegnimmt“; b) es möglicherweise damals schon eine „Höflichkeitsregel“ gab, den Namen des geschätzten Lehrers zu vermeiden.117 Der Auftrag in Mt 22,3 ist ganz analog formuliert. Für griech. διδάσκαλος [didaskalos] muss hebr. „Rabbi“ vorausgesetzt werden. Doch was ist mit den übrigen Aussagen? Meine Zeit ist nahe (ὁ καιρός μου ἐγγύς ἐστιν [ho kairos mou engys estin]) kann auf dem Hintergrund des AT nur bedeuten: „die Zeit meines Sterbens“. Siehe auch Sir 17,3: „er bestimmte ihnen die Zeit ihres Lebens“ sowie Gen 47,9; 2Sam 7,12; Ps 31,16. Es geht ja um den καιρός [kairos], den Gott festsetzt, um den von Gottes Willen bestimmten Zeitpunkt.118 Wenn gerade dies dem geheimnisvollen künftigen Gastgeber mitgeteilt wird, muss dieser mit einer solchen Nachricht etwas anfangen können. Mit anderen Worten: Er muss von den Leidensweissagungen Jesu wissen, er muss ein Jünger sein. Wenn Delling zu Mt 26,18 bemerkt: „Für den Gastgeber … muß dieses Wort zunächst dunkel geblieben sein“,119 dann möchte man eher das Gegenteil annehmen. Zum Vorauswissen Jesu gehört auch der Umstand, dass der Gastgeber genügend Platz anbieten kann: Bei dir feiere ich das Passa (ποιῶ τὸ πάσχα [ poiō to pascha]) mit meinen Jüngern. Die Wendung ποιεῖν τὸ πάσχα [ poiein to pascha] lässt alle Einzelheiten offen. Mt 26,18 ist auch deshalb interessant, weil dieser Vers einige Einblicke in die Jerusalem-Beziehungen Jesu gibt. Uns wurde es immer wahrscheinlicher, dass Mt 21–28 nicht zu erklären sind, wenn man nicht frühere Aufenthalte Jesu in Jerusalem annimmt. Sowohl die Berichte des Johannes als auch die Wallfahrtsgesetze Israels legen eine solche Annahme nahe.120 Die Synoptiker müssen das gewusst haben. Mehrere Einzelzüge der Passionsgeschichte geben davon Kunde. Unter anderem muss zwischen dem Gastgeber von Mt 26,18 und Jesus ein längeres Lehrer-Schüler-Verhältnis bestanden haben, das nicht erst seit dem Einzug in Jerusalem geknüpft sein konnte. Wenn Lukas schon vor Pfingsten von „hundertzwanzig“ Gemeindegliedern in Jerusalem spricht 117 118 119 120

Riesner 255. Vgl. G. Delling, Art. καιρός usw., ThWNT, III, 1938, 459ff. Delling a.a.O. 462. Vgl. Riesner 238.

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(Apg 1,15), dann wird diese Zahl wohl kaum auf zugewanderte Galiläer beschränkt werden können. Vielmehr muss sie auch einheimische Jerusalemer umfasst haben. Eine andere Frage ist es, ob der wasserkrugtragende Mann von Mk 14,13; Lk 22,10 – sonst trugen Frauen die Wasserkrüge (Joh 4,7ff ) – ein Essener war. Das Essener-Viertel von Jerusalem lag in unmittelbarer Nähe späterer christlicher Gedenkorte auf dem Südwesthügel.121 Von da aus öffnet sich ein weites Feld für Vermutungen, die wir in unserem Matthäus-Kommentar (Matthäus erzählt nichts von einem Wasserkrug oder Wohnort oder dgl.) aber nicht weiter verfolgen müssen. Vers 19 schildert kurz die Ausführung der Anweisungen: Und die Jünger machten es so, wie es Jesus ihnen aufgetragen hatte, und bereiteten das Passa vor. Die technische Sprache der Kommentare, die V. 19 als „Ausführungsformel“ bezeichnet,122 verdeckt mehr als dass sie erklärt. Es geht ja um das Zutrauen, das die Jünger zu Jesus gewonnen hatten, und die Treue und die Verlässlichkeit der Mehrzahl der Apostel. Siehe auch Mt 21,6. Wieder bleiben die Einzelheiten offen. In allen drei Synoptikerberichten finden sich die Worte καὶ ἡτοίμασαν τὸ πάσχα [kai hētoimasan to pascha]. Man bekommt den Eindruck, dass die Jünger den Raum sowie die Speisen vorbereiteten.123 Vom Kauf eines Passalammes ist nirgends die Rede, und die permanente Luther-Übersetzung „sie bereiteten das Passalamm“ führt nur in die Irre.124 Das alles war am 13. Nisan (unser Donnerstag). Als es Abend geworden war (Ὀψίας δὲ γενομένης [Opsias de genomenēs]), legte er sich zu Tisch mit den Zwölfen (V. 20): Sowohl Matthäus als auch Markus (14,17) sprechen von den Zwölfen, als wollten sie von vornherein sicherstellen, dass auch Judas dabei war. Der Abend bedeutet die erste von vier Nachtwachen, also die Zeit zwischen 6 und 9 Uhr abends (18 und 21 Uhr).125 Nach jüdischer Zeitrechnung stellte er schon den Anfang des 14. Nisan dar (in unserer Zeitrechung den Anfang des Freitags). Am nächsten Nachmittag zwischen 3 und 5 Uhr mussten die Passalämmer geschlachtet werden. Jetzt, als sich Jesus zu Tisch legte, waren sie noch nicht geschlachtet. Das sich zu Tisch legen auf einer niedrigen Kline war jüdischer Festbrauch. Er galt nicht nur für die Passafeier, sondern auch für andere festliche Gele-

121 122 123 124

W. Rebell, Art. Essener, GBL 1, 354. So Sand 523 nach Pesch; Luz IV 82. Vgl. Strack-Billerbeck I 988. Besser BGS „sie bereiteten das Pessachmahl vor“, ebenso NGÜ; BasisBibel; Gute Nachricht; Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung. 125 Vgl. A. Deubler, Art. Zeitrechnung, GBL 3, 1720f.

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genheiten (Mt 9,10; 22,10f; 26,7; Lk 7,36f ).126 Von anderen Teilnehmern als den zwölf Aposteln (vgl. Lk 22,14) ist nirgends die Rede. Weshalb Fiedler den „Ausschluss von Frauen“ für „historisch unwahrscheinlich“ hält,127 ist bei ihm nicht begründet und auch schwer zu verstehen. Und als sie aßen, sagte er: Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern (V. 21): Die Aussage einer von euch (εἷς ἐξ ὑμῶν [heis ex hymōn]) ist nur sinnvoll, wenn der Teilnehmerkreis beschränkt war. Schon von daher erledigen sich alle Versuche, mit einer unbestimmten Zahl von Jüngern oder gar noch von „Jüngerinnen“128 zu rechnen. Diese Aussage erhält vielmehr ihr scharfes Profil dadurch, dass Jesus nur mit den Zwölfen zusammen war (V. 20; Lk 22,14), dass er jetzt also mit dem Verrat durch einen der Apostel rechnet. Zum ersten Mal erklärt er klipp und klar, dass einer der Apostel ihn ausliefern = in die Hände der jüdischen Strafverfolger spielen wird. Ähnlich kurz ist seine Prophetie in den anderen Evangelien (Mt 14,18; Lk 22,21; Joh 13,21), wobei die Formulierungen von Matthäus und Johannes sich am nächsten stehen. Gewusst hat es Jesus schon länger (Joh 6,70f ). Hat er in der Zwischenzeit auf eine Bekehrung des Judas gehofft? Um die „Bezeichnung des Verräters“129 richtig einzuordnen, muss man mit Zahn festhalten, dass Matthäus aus „dem lange sich ausdehnenden Passamahl … nur zwei Vorgänge“ berichtet, „deren jeder nur wenige Minuten in Anspruch nahm“.130 Schon daraus lässt sich ermessen, dass Jesu Ankündigung wie eine Bombe eingeschlagen haben muss. Die zweite Beobachtung haben wir in unserem früheren Kommentar wie folgt beschrieben: „Wir stoßen hier auf das Geheimnis des Bösen. Der Satan kommt aus der engsten Umgebung Gottes (Hi 1,6ff; 2,1ff; Sach 3,1; Offb 12,7ff ). Abel wurde von seinem Bruder erschlagen. Ahitophel verrät David (2Sam 15,12.34; 16,15ff; 17,1ff ), und Psalm 41,10 klagt: ‚mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen‘. Wie der Einzelne, so muß auch die Gemeinde damit rechnen, daß das Böse aus ihrem innersten Kreis aufsteht.“131 Die faktische Reaktion der Jünger (V. 22) dient bis heute den Leserinnen und Lesern zur Lehre: Und sie wurden aufs Tiefste betrübt (λυπούμενοι σφόδρα [lypoumenoi sphodra]) und begannen ihn zu fragen, jeder Einzelne: Ich bins doch nicht etwa, Herr? Die deutsche Sprache drückt eher die 126 127 128 129 130 131

Vgl. France 366; Riesner 407. Fiedler 387,21. BGS fügt ebenso pedantisch in Mt 26,17ff stets „die Jüngerinnen“ ein. Gegen BGS; Fiedler a.a.O. So die Überschrift der Perikope Mt 26,21-25 in der Alandschen Synopse. Zahn 692. Maier II 364.

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Tiefe des Schmerzes aus (zutiefst betrübt), die biblische Sprache die Stärke der Erschütterung (σφόδρα [sphodra]). Problematisch bleibt es, sich den Vorgang in der Realität vorzustellen. Wie soll jeder Einzelne während des Mahls (V. 21) an Jesus herangetreten sein? Vielleicht darf man sich den Vorgang so denken, dass sie sich zuerst kurz untereinander befragten (vgl. Joh 13,22) und dann bei Jesus eine Antwort suchten. Vorausgesetzt ist ein gemeinsamer Tisch.132 εἷς ἕκαστος [heis hekastos] bedeutet ein verstärktes „jeder“: jeder Einzelne.133 Die griech. Frageformulierung μήτι ἐγώ εἰμι [mēti egō eimi] erwartet eine verneinende Antwort: Ich bins doch nicht etwa?134 Die Jünger wollen von Jesus getröstet werden, dass sie keine Verräter sind. Und doch lautet die Frage eben nicht: „Ist es der oder der?“, sondern: Bin ichs? Trotz des erwarteten Nein lebte in ihnen eine tiefe Furcht, sie könnten es ja doch sein. Jesu Lehre, dass aus dem Herzen jedes Menschen „böse Gedanken“ (Mt 15,19) kommen, hatte sie geprägt. Die heutige atlantische Gesellschaft will jeden Gedanken an die eigene Bosheit und eigene Schuld aus den Herzen reißen. Aber sie bereitet damit nur dem Bösen den Weg. Für Leserinnen und Leser des Evangeliums behält Mt 26,22 seinen Vorbildcharakter: Wir alle sind zum Schlimmsten fähig und deshalb auf Gottes bewahrende Gnade angewiesen. Jesus beantwortet die gestellte Frage (V. 23). Er hätte auch geheimnisvoll schweigen können. Aber offenbar soll über seine letzte Wegstrecke bei den Jüngern völlige Klarheit herrschen: Der mit mir die Hand in die Schüssel tauchte, der wird mich ausliefern. Im Geist hat ihm der Vater ein untrügliches prophetisches Bewusstsein geschenkt. Das griech. ὁ ἐμβάψας [ho embapsas] steht als Partizip des Aorist in der Textüberlieferung fest: derjenige, der eingetaucht hat.135 Dennoch bedeutet diese Aussage nicht zwingend, dass der Betreffende gerade in diesem Augenblick seine Hand in die Schüssel tauchte. Als eine Art gnomischer Aorist136 kann ἐμβάψας [embapsas] lediglich die Tatsache ausdrücken, das der Betreffende aktiver Teilnehmer der Tischgemeinschaft ist. Strack-Billerbeck werden aber mit der Vermutung recht haben, „daß … eine gemeinsame Schüssel benützt wurde“.137 Von einer gemeinsamen Schüssel und der Reihenfolge des Eintauchens handelt zum Beispiel b Ber 47a. Ereignete sich das in V. 23 Geschilderte „während des 132 133 134 135 136 137

France 367; Strack-Billerbeck I 989. BDR § 305,1. BDR § 407,2. Vgl. Tasker 246. Vgl. BDR § 333. Strack-Billerbeck I 989.

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Essens des Vorgerichts“?138 Der Akzent liegt jedoch nicht auf den Einzelheiten des Ablaufs der Mahlzeit, sondern auf der kaum zu glaubenden Tatsache, dass Jesus von einem seiner Nächsten verraten wird.139 Einerseits drücken die Worte μετ᾿ ἐμοῦ [met emou] (mit mir) noch einmal diese Nähe aus, die ja durch das Eintauchen in die gemeinsame Schüssel bereits konstatiert wurde. Andererseits erinnern Handlung und Schilderung unmittelbar an Ps 41,10: „mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen.“ Auch wenn Matthäus im Unterschied zu Joh 13,18 den Psalm nicht direkt zitiert, so ist Ps 41,10 doch indirekt präsent.140 Alles, was geschieht, entspricht der Schrift. In V. 24 erinnert Jesus die Jünger an die heilsgeschichtliche Bedeutung des Vorgangs. Eine solche heilsgeschichtliche Einordnung141 lag umso näher, als ja die Passazeit gerade mit der Heilsgeschichte zu tun hatte (Ex 12,1ff.25ff ). Seine Erinnerung beginnt mit dem Hinweis auf die Schrift: Zwar geht der Menschensohn dahin, wie es von ihm geschrieben steht. Hier ist ganz klar, dass der Menschensohn mit Jesus identisch ist. Aber das haben wir ja seit Mt 8,20 beobachtet. In ὑπάγει [hypagei], das der johanneischen Sprache nahesteht,142 kommen zwei Bedeutungen zusammen: „er geht fort aus dieser Welt = er stirbt“ und „er geht hin zum Vater“. Neunmal enthält das Matthäusevangelium den Ausdruck γέγραπται [gegraptai] = es steht geschrieben. Damit wird stets gesagt, dass Gott der eigentliche Urheber der Schriftstelle ist und dass deshalb unverbrüchlich eintritt, was er dort ankündigt. Wo ist das Sterben des Menschensohnes = Messias angekündigt? Jesus selbst nannte fünf Stellen: a) Jona 2,1 (Mt 12,40); b) Dan 7,13 (Joh 3,13); c) Num 21,8f (Joh 3,14f ); d) Ps 22 (Mt 27,46); e) Jes 53,10ff (Mt 20,28). Siehe auch Lk 24,44ff. Die heilsgeschichtliche Erinnerung setzt sich fort mit dem Blick auf das Gericht über den Verräter: Weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird. Es ist ein prophetisches Wehe, das mit der Realität des Gerichts rechnet. Dieses Gericht ist so schwer, dass es für den betreffenden Menschen besser wäre, wenn er nicht geboren wäre. Mt 18,6.7; Lk 17,1f enthalten ähnliche Aussagen. Jesus teilte diese Erkenntnis von der Schwere des Gerichts mit den frühen jüdischen Lehrern, wie sowohl aus den Pseudepigraphen (äthHen 38,2) als auch aus Mischna und Gemara hervorgeht (Chag II, 1; b Ber

138 139 140 141 142

So die weitere Vermutung von Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. Carson 534. Vgl. noch Sir 37,2ff. Unglücklich ist die Bezeichnung als „Drohwort“ bei Sand 525. Bauer-Aland 1667f.

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17a).143 Wer heute das Gericht leugnet, widerspricht sowohl dem AT wie dem NT, sowohl den Rabbinen des Talmuds wie den frühjüdischen Lehrern in den Apokryphen und Pseudepigraphen. Zum Gesichtspunkt des Verräters aus dem engsten Kreis der Vertrauten notieren wir noch aus b Ber 17b: „es sei unsere Gesellschaft nicht wie die Gesellschaft Davids, aus der Ahitophel hervorging“. Der Abschnitt über die Bezeichnung des Verräters endet mit einem Vorgang, der bis heute nicht völlig erklärbar ist144 (V. 25): Da nahm Judas das Wort, der ihn auslieferte, und sagte: Ich bins doch nicht etwa, Rabbi? Er sagt zu ihm: Du hast es selbst gesagt. Es handelt sich um die „response“ des Judas auf all das, was sich in V. 21-24 ereignet hatte (ἀποκριθεὶς … εἶπεν [apokritheis … eipen]). Wie in 10,4 nennt ihn Matthäus Judas, der ihn auslieferte (verriet). Seine Tat macht ihn zu dem, was er ist. Dieser Zusammenhang von Tat und Person wird im heutigen Protestantismus geradezu obsessiv geleugnet, und lebt fast nur in den öffentlichen Entschuldigungsriten weiter. Judas hätte schweigen können. Er tats nicht und ging Jesus offensiv an: Ich bins doch nicht etwa, Rabbi? Er formuliert seine Frage ebenso wie die übrigen Jünger (V. 22). Mit einer Ausnahme: Er gebraucht für Jesus den Titel Rabbi statt „Herr“. Hat das zu bedeuten, dass er Jesus in diesem Moment schon nicht mehr als seinen Herrn betrachtet, sondern eben als einen Lehrer, der Israel verführt?145 Möglicherweise hat Judas als letzter der Zwölf die Frage Ich bins doch nicht etwa? an Jesus gerichtet. Ist diese Frage „frech“?146 Oder „dreist“?147 Es könnte etwas anderes dahinterstecken, nämlich der Druck, wissen zu müssen, wie viel Jesus wirklich wusste. Bisher hatte Jesus ja seine Prophezeiung an alle Zwölf gerichtet und nicht näher konkretisiert. Aber jetzt kommt die Antwort klar und deutlich: σὺ εἶπας [sy eipas], Du hast es selbst gesagt. Vom jüdischen Sprachhintergrund her ist das eine „Bejahungsformel“.148 Sie bricht vom Ja nichts ab, enthält aber „etwas davon, daß man es nicht ungefragt gesagt haben würde“.149 „Ja, du bist es“: Damit weiß Judas, dass Jesus über das Abkommen zwischen ihm und dem Hohen Rat

143 Vgl. Strack-Billerbeck I 989; Davies-Allison III 463. 144 Vgl. Zahn 694: „Der … Leser fragt, ohne bei Mt Antwort zu finden“; Luz IV 89: der Vers wirke „fast gespenstisch“. 145 Vgl. Sand 525; Hengel-Schwemer 359; Luz IV 89f. 146 Zahn 693. 147 Fiedler 387. Vgl. Luz IV 90. 148 Strack-Billerbeck I 990; BDR§ 441,4. Von Cullmann 118f eher als „nein“ interpretiert. Aber vgl. Davies-Allison III 464. 149 BDR a.a.O.; Zahn 693f; France 367f; Luz IV 90.

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Gewissheit hat. Für den Prozessverlauf bedeutet das, dass es jetzt mit der Verhaftung ganz schnell gehen muss. Matthäus führt diese Szene vom Abschiedsabend nicht weiter fort. Aus den Versen 36ff ergibt sich jedoch, dass Judas bald darauf den Saal verließ. Joh 13,30f stellt dies ausdrücklich fest. Man kann die Frage stellen, weshalb die übrigen Apostel Judas gewähren, ja sogar gehen ließen. Joh 13,27ff beantwortet diese Frage so, dass sie den Vorgang nur teilweise mitbekamen und ihn nicht richtig verstanden.150 Dass Judas mittendrin aufstehen und Besorgungen machen konnte, ist übrigens ein Indiz dafür, dass dieses Mahl kein reguläres Passamahl darstellte. Wenn Fiedler V. 25 als „Einverständnis“ Jesu mit dem Handeln des Judas interpretiert,151 dann ist dies eine gravierende Fehlinterpretation, ja ein Widerspruch zu V. 24. In den Versen 26-30 wird ein zweiter, wohl noch wichtigerer Ausschnitt aus Jesu letztem Mahl berichtet, nämlich das Abendmahlsgeschehen. Dass sich hier seit Kirchenväterzeiten die Erklärungen und Theorien häufen,152 lässt sich leicht erahnen. Um alle Gesichtspunkte zu erörtern, wären mehrere Bände notwendig. Stattdessen versuchen wir, einige wichtige Punkte aus dem, was Jesus sagte und tat, aufzunehmen, so wie es ja Matthäus selbst praktiziert hat. Die Einleitung in V. 26 Während sie aßen (Ἐσθιόντων δὲ αὐτῶν [Esthiontōn de autōn]) entspricht V. 21 und zeigt damit an, dass Matthäus jetzt ein zweites bedeutendes Geschehen aus jenem Abend berichten will. Es herrscht immer noch die Atmosphäre des gemeinsamen festlichen Mahles. Da Matthäus bisher noch nichts über einen Weggang des Judas gesagt hat und Lk 22,14ff das Dabeisein des Judas beim Abendmahl voraussetzt, nehmen wir an, dass Judas tatsächlich das in Mt 26,26-29 Berichtete miterlebt hat. Als Ergebnis seiner Nachprüfungen hält Luz fest, dass von den Kirchenvätern an die Anwesenheit des Judas „im allgemeinen positiv“ vertreten wurde.153 Judas hätte also genügend Zeit zur inneren Einkehr und zur Buße gehabt. Es ist nicht falsch, im Verhalten Jesu ein solches Angebot zur Buße zu sehen. Jesus hat ja auf jede Bloßstellung (Du sagst es), jede Gegenmaßnahme, erst recht auf jedes Herabkanzeln oder gar einen Ausschluss des Judas verzichtet. Als einen ersten Akt schildert Matthäus die Austeilung des Brotes durch Jesus: nahm (λαβών [labōn]) Jesus Brot (ἄρτον [arton]), und sprach den Segen (εὐλογήσας [eulogēsas]), und brach es (ἔκλασεν [eklasen]) und gab 150 France 367: „a private conversation“. Schniewind 259 spielt diesen Sachverhalt herunter. Vgl. Beare 508. 151 Fiedler 388. 152 Vgl. die Überblicke bei Luz IV 93ff. 153 Luz IV 90. Jedenfalls Irenäus AdvHaer V, 33,1.

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es (δούς [dous]) den Jüngern. Wir beobachten zuerst, dass der Vorgang bis dahin völlig dem Geschehen der Speisung der Fünftausend nach Mt 14,19 entspricht, wo wir lesen: λαβών [labōn] – ἄρτους [artous] – εὐλόγησεν [eulogēsen] – κλάσας [klasas] – ἔδωκεν [edōken] – τοῖς μαθηταῖς [tois mathētais]. Stünde Mt 26,26 nicht in einem Zusammenhang mit der Passionszeit und dem Passafest, würde man den Vorgang von Mt 26,26 nicht als Teil einer Passaliturgie auffassen. Luz schreibt sogar: Mt 26,26 erinnere an das, „was der jüdische Hausvater oder Gastgeber zu Beginn einer Mahlzeit tut“.154 Siehe auch noch Mt 15,36. Vergegenwärtigt man sich den gewöhnlichen Verlauf eines Passamahls: Lobspruch des Hausvaters – Festtagslobspruch (Kiddusch) – Erster Becher – Vorspeise (Grünkräuter, Bitterkäuter, Fruchtmus) – Passahaggada (Kinderfrage, Antwort) – Erster Teil des Hallel (Ps 113–114) – Zweiter Becher (Haggadabecher) – Tischgebet über dem Brot – Austeilung des ungesäuerten Brotes – Hauptmahlzeit mit Passalamm, ungesäuerten Broten, Bitterkäutern, Fruchtmus – Dankgebet über dem Dritten Becher (Segensbecher) – Dritter Becher – Zweiter Teil des Hallel (Ps 115–118) – Lobspruch – Vierter Becher (Hallelbecher),155 dann wären wir mit der Austeilung des Brotes durch Jesus etwa in der Mitte dieser Liturgie. Die Bemerkung εὐλογήσας [eulogēsas], er sprach den Segen, lässt sich als Tischgebet über dem Brot verstehen.156 Allerdings hat dieses Tischgebet und die Brotausteilung im Rahmen der Passafeier keine besonders hervorgehobene Position. Von daher überrascht es, dass Jesus bei seinem letzten Mahl dem Brot einen so hohen Stellenwert gibt, dass er es mit einer aus- und eindrücklichen Deutung versieht:157 Nehmet (λάβετε [labete])! Esset (φάγετε [ phagete])! Das ist mein Leib (τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου [touto estin to sōma mou]). Dieses Deutewort wird von allen drei Synoptikern überliefert (vgl. Mk 14,22; Lk 22,19). Lukas fügt ihm die Aufforderung zur Wiederholung an. Eine enge Beziehung besteht ferner zu Joh 6,51-59, wo die Begriffe ἄρτος [artos] und φαγεῖν [ phagein] zusammen mit ἡ σάρξ [hē sarx] eine zentrale Rolle spielen. Paulus gestaltet die Übernahme dieser Tradition in 1Kor 11,23f weitgehend in Parallele zu Lukas. So kann kein Zweifel daran sein, dass Jesus das Brot auf seinen Leib gedeutet hat. In welchem Sinn? Doch wohl so, dass das Brot 154 Luz IV 106. 155 Vgl. Umwelt I 202f; Mischna Pes X; J. Behm, Art. κλάω usw., ThWNT, III, 1938, 732f. 156 Gerichtet an Gott mit Dank für seine Gabe. Die Frage, worauf sich εὐλογήσας beziehe, auf „Gott oder auf das Brot“ (Luz IV 105), ist falsch gestellt. Vgl. Carson 536. 157 Carson 536: Diese Worte „had no place in the Passover ritual“; ähnlich Konradt 405: die Deuteworte nur „formal“ an die Passaliturgie erinnernd.

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seinsmäßig seinen Leib darstellt.158 Die späteren christlichen Dogmatiken erfassen alle etwas von dieser Bedeutung, sind aber jeweils gegenüber den ursprünglichen Jesusworten und deren Kontext defizitär.159 Die Kirche war deshalb gut beraten, wenn sie den Bericht des Neuen Testaments selbst zu Wort kommen ließ und in ihre jeweilige Liturgie einbaute. Unübersehbar besitzen die Worte Das ist mein Leib eine prophetische Dimension. Sie deuten also das Sterben Jesu am Kreuz an. Das geschieht sogar doppelt: Sein Leib wird bei der Hinrichtung „gebrochen“160 gemäß Ps 22: „Alle meine Gebeine haben sich zertrennt“ (V. 15) – „Alle meine Gebeine könnte ich zählen“ (V. 18), und zweitens wird sein Leib zur Speise, zum geistlichen Brot, das die Glaubenden zum ewigen Leben führt (vgl. Joh 6,51ff ). Durchs Kreuz zum Leben: Das war seit der Bergpredigt der immer wieder aufscheinende Zielpunkt der Botschaft Jesu.161 Vers 27f schildert den zweiten Akt aus dem Geschehen der Verse 26-30: Und er nahm einen Becher und dankte und gab ihn den Jüngern … Überraschend viele Handschriften fügen vor Becher den Artikel ein.162 Eine solche Einfügung kann viele Gründe haben. Aber beide Fassungen, einen Becher und „den Becher“, kommen darin überein, dass es sich um den Becher des folgenden Deuteworts handelt. Üblicherweise geht man davon aus, dass dies der dritte Becher der Passaliturgie ist, der „Segensbecher“.163 Man kann sich dabei auf Lk 22,20; 1Kor 10,16; 11,25 stützen. Vorausgesetzt wird dann allerdings, dass Jesus dem Gang der Passaliturgie folgte. Was aber ist mit dem Passalamm? Nach der oben skizzierten Passaliturgie müsste der Austeilung des ungesäuerten Brotes die Hauptmahlzeit mit dem Passalamm folgen. Aber keine einzige Tradition (Mt/Mk/Lk/Joh/1Kor) erwähnt ein Lamm. Zwar hat der berühmte Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb in der Mitte des Tisches ein gebratenes Lamm – wie so viele andere Bilder164 –, aber unser Text sagt davon nichts. Vor allem jedoch existiert kein Deutewort zum Lamm, das doch der wichtigste Bestandteil des Passamahles war. Zurück zum Becher: Trinkt alle daraus! lautet Jesu Anweisung. Sie erinnert uns zunächst an die Mischna Pesachim X, 1, wo es heißt: „Selbst der Ärmste in Israel esse nicht anders als angelehnt [= zu Tische liegend]; auch 158 Ähnlich Zahn 699. Bengel, Gnomon, 183 deutet: „Hier habt ihr mich selbst“; DaviesAllison III 571: ἐστίν „a verb of identification“. 159 Carson 536: „Much of the debate … is anachronistic.“ 160 Anders Zahn 697. Wie wir France 368f; Schniewind 260; Carson 536. 161 Vgl. Schlatter 387; Carson 536. 162 Vgl. Carson 536. 163 Umwelt I 203; Carson 536. 164 Vgl. Luz IV 96ff.

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reiche man ihm nicht weniger als vier Becher Wein, selbst aus der Armenschüssel.“ Vorausgesetzt wird dort in der Mischna, dass jeder Mahlteilnehmer seinen eigenen Becher hat, nicht etwa ein Gemeinschaftskelch. Man trinkt Wein. In der Aufforderung Jesu, dass „alle daraus trinken sollen, steckt der Hinweis, dass sie alle eine Gemeinschaft darstellen. Was er anschließend verheißt, soll für alle zutreffen. Nach der Wortfolge in Mt 26,27 müssen wir ferner annehmen, dass Jesus nur einen einzigen, nämlich seinen eigenen Becher den Jüngern anbot (er gab ihn den Jüngern).165 De facto war dies also ein Gemeinschaftskelch. Luz nennt das eine „Besonderheit“, die „deutungsbedürftig“ ist.166 Das Deutewort zum Kelch ist umfangreicher als das Deutewort zum Brot. Sowohl diese Tatsache als auch das Stil-Gesetz des Achtergewichts führen zu dem Schluss, dass hier für Jesus der Höhepunkt des Mahles lag. Zum Wein stellt er zuerst fest: Das ist mein Blut (V. 28). Als blut-rote Flüssigkeit und Farbe legt er realistisch-bildhaft eine solche Deutung nahe.167 Aber während die Verbindung „Fleisch und Blut“, ‫שׂר ָוָדם‬ ָ ‫[ ָבּ‬bāśār wādām], σάρξ καὶ αἷμα [sarx kai haima], „fester jüd … Begriff für den Menschen“ ist,168 ist die Verbindung „Leib und Blut“, σῶμα καὶ αἷμα [sōma kai haima], etwas Auffälliges. Offenbar kam sie erst durch Jesus in die Sprache des NT und der frühen Christen hinein (vgl. 1Kor 11,27). Von „Fleisch und Blut“ zu sprechen, wäre allerdings im Kontext des letzten Mahles fast unmöglich gewesen. Denn „Fleisch und Blut“ kennzeichnen den Menschen „als schwaches Erdenwesen“,169 ja in „seinem Abstand von Gott“.170 Jesus aber will sein Sterben als einen Hingang zu Gott und als eine göttliche Gabe zur Erlösung verstanden wissen (vgl. Mt 12,15ff; 20,28). Die Fortsetzung verdeutlicht dies. Es handelt sich um sein Blut des Bundes (τῆς διαθήκης [tēs diathēkēs]), sinngemäß „zur Begründung des neuen Bundes“.171 Auch wenn nur Lukas in 22,20 den Begriff „neuer Bund“ verwendet, so ist doch klar, dass es hier nur um den neuen Bund gemäß Jer 31,31ff gehen 165 Fiedler 389f: Jesus hat „selbst … aus dem Becher getrunken“; so auch Stuhlmacher I 136; schon Irenäus AdvHaer V, 33,1; vgl. Davies-Allison III 475. 166 Luz IV 114. 167 Vgl. dazu J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, 175. Richtig Davies-Allison III 473: „wine associated wih blood“; Gen 49,11; Jes 63,3; 63,6; Sir 39,26. 168 Behm a.a.O. 172. 169 Behm a.a.O. 171. 170 Behm a.a.O. 172. 171 BasisBibel hier unglücklich: „Es steht für den Bund“. Schwierig auch Gute Nachricht: „Mit ihm wird der Bund in Kraft gesetzt“. Anders Behm a.a.O. 173: „Kraft meines Blutes“, es „begründet und sichert“ den neuen Bund.

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kann. Denn der alte Bund ist ja längst geschlossen, das Blut des Bundes (von Opfertieren), ‫[ ַדּם־ַה ְבִּרית‬dam-habbᵉrīt], längst vergossen. Aber gerade die Aufnahme von Ex 24,8172 im Deutewort Jesu zeigt, dass der neue Bund mindestens so gewichtig ist wie der alte, ja ihn als die Erfüllung endzeitlicher Verheißungen (Jer 31,31ff ) übertrifft. Siehe auch Hebr 9,20ff. Wie Strack-Billerbeck notieren, war Blut des Bundes nach damaligem jüdischen Sprachgebrauch gewöhnlich das Beschneidungsblut.173 Eine solche Bedeutung kommt jedoch für Mt 26,28 nicht infrage. Die Jünger von damals und die Leser/Leserinnen von heute stehen also vor einer ungewöhnlichen Herausforderung: Der das Kreuz erwartende Jesus sagt ohne Umschweife, dass sein am Kreuz vergossenes Blut den neuen Bund Gottes mit den Glaubenden begründet. Eine Mitwirkung der Jünger, etwa in Parallele zum früheren Handeln des Mose (Ex 24), ist ausgeschlossen. Einzig und allein Jesus Christus selbst (mein Blut) begründet den neuen Bund. Gerade deshalb ist er felsenfest und unzerstörbar. Die Erklärung Jesu setzt sich fort mit den Worten das für viele vergossen wird (τὸ περὶ πολλῶν174 ἐκχυννόμενον [to peri pollōn ekchynnomenon]). Erneut betreten wir ein von der Literatur ungezählte Male gepflügtes Diskussionsfeld. Hauptsächlich geht es um das Verständnis der Worte für viele (περὶ πολλῶν [ peri pollōn]). Inkludierende und exkludierde Deutung stehen einander gegenüber: Heißt „für viele“ so viel wie „für alle“? Oder heißt es: „für viele, aber nicht für alle“? Beispielsweise hat sich Joachim Jeremias für die inkludierende („einschließende“) Bedeutung eingesetzt, vor allem in seinem grundlegenden Artikel im ThWNT.175 Hier hat er sich von Anfang an „auf die Frage ausgerichtet: was bedeutet die Aussage, daß Jesus für viele stirbt?“176 Eins steht auch nach Jeremias fest: πολλοί [ polloi] hat im Griechischen ausschließenden (exkludierenden) Sinn („viele, aber nicht alle“).177 Schon an dieser Stelle wird man stutzig. Wenn πολλοί [ polloi] im Griechischen so eindeutig definiert ist, warum haben dann Matthäus und Markus mit diesem Begriff gearbeitet, wenn sie doch das Gegenteil sagen wollten („alle“)? Hätten sie nicht πάντες [ pantes] o.Ä. gebrauchen können? Vollends haben Lukas und Paulus mit der Formel ὑπὲρ ὑμῶν [hyper hymōn] (Lk 22,20; 1Kor 11,24) einen inkludierenden Sinn ausgeschlossen. Stutzig wird man ferner, weil bei περὶ πολλῶν [ peri pollōn] Mt 26,28 / Mk 14,24 der Artikel fehlt und weil Jeremias 172 173 174 175 176 177

So auch Strack-Billerbeck I 991; Behm a.a.O. 174. A.a.O. BDR § 229,4: „περί geradezu statt ὑπέρ“. Art. πολλοί, ThWNT, VI, 1959, 536ff. A.a.O. 536. A.a.O.

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zur substantivisch gebrauchten Form „ohne Artikel“ im Spätjudentum bemerkt: die werde „gelegentlich inkludierend gebraucht“.178 „Gelegentlich“ ist aber etwas anderes als „üblich“ oder gar „immer“. Beim Nachprüfen der Stellen, auf die sich Jeremias stützt, wird man noch einmal stutzig. So hat 1 QH IV, 27 bestimmt keinen inkludierenden Sinn,179 wenn es dort heißt: „durch mich hast du das Angesicht vieler (‫ [ ְפֵּני ַר ִבּים‬pᵉnē rabbīm]) erleuchtet“ – die Essener wissen sich ja als Minderheit. Auch versteht man in 4Esr 8,1 die „vielen“ besser als Summe vieler Einzelner statt als Angabe der Gesamtheit (propter multos).180 Eine wichtige Rolle spielen bei diesem Thema die Texte aus Jes 52 und 53. Wir stoßen auf eine „auffällige fünfmalige Wiederkehr von ‫[ ָהַר ִבּים‬hārabbīm] in Js 52,13–53,12“.181 Jeremias deutet auch diese Stellen alle „einschließend“.182 Helmer Ringgren folgt ihm darin im ThWAT.183 Anders aber erklärt Franz Delitzsch in seinem großen Jesaja-Kommentar. Er fasst ‫[ ָהַר ִבּים‬hārabbīm] in Jes 53,11 als „große Menge“ auf (unter Verweis auf Dan 9,27; 11,33.39; 12,3) und spricht auch in Jes 53,12 von der „Sünde Vieler“.184 Schließlich ist zu bedenken, dass die LXX in keiner der fünf Jesaja-Stellen mit πάντες [ pantes] o.Ä. übersetzt, sondern stets mit artikellosem πολλοί [ polloi] oder πολλά [ polla]. Was nun den Sprachgebrauch des Matthäus betrifft, so beobachtet auch Jeremias, dass Mt 24,12 exkludierenden Charakter hat,185 wir fügen hinzu: auch Mt 8,11. Fazit: Es sprechen mehr Argumente für die exkludierende Bedeutung („viele, aber nicht alle“) als für die inkludierende („alle“). Uns scheint, dass Jesus hier bewusst offen formuliert hat. Offensichtlich hat er auch bewusst den Anschluss an Jes 52 und 53 gesucht.186 Die Worte τὸ περὶ πολλῶν ἐκχυννόμενον (αἷμα) [to peri pollōn ekchynnomenon (haima)] fordern noch einmal besondere Aufmerksamkeit, und zwar bei dem Begriff ἐκχυννόμενον [ekchynnomenon] (vergossen). In ihm kommen zwei Bedeutungen zusammen: a) der Hinweis auf das durch Gewalt veranlasste Blutvergießen der Märtyrer (Mt 23,35; Röm 3,15; Apg 22,20), b) der 178 179 180 181 182 183 184 185 186

A.a.O. 539. Gegen Jeremias a.a.O. Gegen Jeremias a.a.O. Jeremias a.a.O. 537. A.a.O. 538. Art. ‫ַרב‬, ThWAT, VII, 1993, 315. Delitzsch 556.558. Jeremias a.a.O. 540. „Für viele“ vertreten auch durch Cullmann 63; Carson 538; Luz IV 115f. „Alle“ dagegen bei Schniewind 260; Wilckens I/4 84. Bengel, Gnomon, 183: „Nicht nur für Israel“, sondern auch die Heiden. Ebenso Konradt 406.

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Hinweis auf das Ausgießen eines Opfers (vgl. 1Sam 7,6; 2Sam 23,16; Jes 57,6 sowie Num 28 passim und Sukka IV, 9).187 Der Opfergedanke wird ja auch mit dem Gottesknecht verbunden (Jes 53,7.10). Es ist bedauerlich, dass Johannes Behm den Gedanken an ein Opfer rigoros ausschalten wollte.188 In Wirklichkeit will Jesus sagen: Ich sterbe den gewaltsamen Tod eines Märtyrers, weil ich mein Leben (Blut = Leben, Lev 17,11.14, vgl. Mt 20,28) für viele zum Opfer bringe. Die letzte Aussage im Deutewort V. 28 lautet: zur Vergebung von Sünden (εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν [eis aphesin hamartiōn]). Das griech. εἰς [eis] dient der „Angabe d. Zwecks“.189 Sündenvergebung ist also das Ziel der bewussten Lebenshingabe Jesu. Der von uns bisher berührte alttestamentliche Hintergrund spricht auffallend oft von dieser Sündenvergebung. So schon Lev 17,11ff: das Blut ist gegeben, „damit ihr entsühnt werdet“. Dann betont beim Gottesknecht: Er gibt „sein Leben zum Schuldopfer“ (‫שׁם‬ ָ ‫[ ָא‬ʾāschām]), Jes 53,10, er „trägt“ (‫ [ ִיְס ֹבּל‬jisbol]) die Sünden der vielen, Jes 53,11, ebenso V. 12 (‫שׂא‬ ָ ‫[ ָנ‬nāśāʾ]). Zu den eschatologischen Verheißungen von Dan 9,24 gehört auch, dass „die Sünde abgetan und die Schuld gesühnt wird“. Der neue Bund von Jer 31,31ff läuft gerade auf das Ziel der Sündenvergebung zu (V. 34). Dementsprechend hat Jesus die Sündenvergebung praktiziert (Mt 9,2ff; Lk 7,36ff; Joh 5,14; 8,11). Jetzt wird der Zugang zur Vergebung von Sünden zu einer der großen Gaben des Neuen Bundes. Das ganze NT feiert diese große Gabe (vgl. Joh 1,29.36; Apg 2,38; Röm 5,1; Eph 1,7; Kol 1,14; 1Petr 1,18f; 1Joh 1,9f; 2,2; Hebr 9,15.22; Offb 1,5; 5,9).190 Opfertod und Sühnetod Jesu sind in Mt 26,28 fest verankert.191 Das gilt umso mehr, als die Worte εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν [eis aphesin hamartiōn] nur bei Matthäus aufbewahrt sind. Sachlich werden sie durch Joh 6,51ff und das ὑπὲρ ὑμῶν [hyper hymōn] bei Lukas (22,20) und Paulus (1Kor 11,24) unterstützt. Wenn Polycarp Lyser192 schon bei Jes 53 von einem „goldenen Passional“ sprechen konnte, dann dürfte diese Kennzeichnung erst recht auf Mt 26,28 zutreffen. Vers 29 lenkt die Blicke auf die Zukunft: Ich sage euch aber. Von jetzt an werde ich nicht mehr trinken von diesem Gewächs des Weinstocks bis zu jenem Tage, an dem ich es mit euch neu trinke im Reich meines Vaters. Vgl. J. Behm, Art. ἐκχέω usw., ThWNT, II, 1935, 465. Behm a.a.O. 466. Bauer-Aland 499. Fiedler 389 weist mit Recht auf Mt 1,21 hin (auch Carson 538; Luz IV 116). Vgl. wieder Cullmann 63. France 369: „sacrificial death“. Schniewind 260: „Anschauung vom Opfer“. Sie schließt Stellvertretung und Sühnung ein. Auch Carson 537 „sacrificial death“; sogar Luz IV 114. Für Wilckens I/4 59 ein „Schlüsseltext“. 192 Zitiert bei Delitzsch 534.

187 188 189 190 191

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Seit Mt 23,34ff hat dieser eschatologische Blick eine erstaunliche Kraft bekommen. Angesichts des Kreuzes war Jesus weder mit der Aufarbeitung der Vergangenheit noch mit den Einzelheiten der Prozesslage beschäftigt, sondern mit der Zukunft, die sich durch sein Sterben eröffnet, und mit der Vollendung der Wege Gottes. Was er in Mt 26,29 sagt, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1) Er nimmt Abschied; 2) er blickt voraus auf die eschatologische Gemeinschaft mit den Seinen; 3) er geht bewusst der Vollendung des Gottesreiches entgegen.193 Ad 1): Es war wirklich das letzte Mahl mit seinen Jüngern. Einen Wein bei einem festlichen Mahl wird er nicht mehr trinken. Den Betäubungswein für die Gekreuzigten wollte er nicht trinken (Mt 27,34). Der Weinessig von Joh 19,28ff gehört in eine andere Kategorie. Eins fällt jedoch auf: Der Terminus für „Wein“, οἶνος [oinos], taucht nirgends in den Abendmahlsberichten auf,194 auch nicht bei Paulus in 1Kor 10,16 oder 11,25. In Mt 26,29 und Mk 14,25 spricht Jesus stattdessen vom Gewächs des Weinstocks.195 Die Folge davon ist, dass in den Evangelien und bei Paulus die Gedanken auf den Becher konzentriert werden, nicht auf das Element des Weines.196 Angesichts solcher Erfahrungen wie der von Apg 2,13 wird die Christenheit auch kaum Lust verspürt haben, zu viel vom „Wein“ beim Abendmahl zu reden. Hier erweist sich der Sprachgebrauch Jesu als klar genug und gleichzeitig als wohltuend. Ad 2): Jesus hat die Gewissheit, dass ein Tag = eine Zeit kommen wird, an dem er es neu mit euch trinken wird. Das bedeutet zunächst: Er hat die völlige Gewissheit seiner Auferstehung (vgl. Mt 12,38ff; 16,4; 16,21; 17,22; 20,19). Das bedeutet ferner: Er erwartet, dass auch die Apostel alle (mit Ausnahme des Judas) mit ihm im Reich Gottes leben werden. Offb 21,14 bestätigt diese Erwartung, die in Lk 22,29ff ebenfalls zu finden ist. Das Gewächs des Weinstocks wird dann allerdings ein neues sein (so die genauere Übersetzung). Das heißt, es gehört dann nicht mehr unserer materiellen, vergänglichen Welt an, sondern der immateriellen, doch durchaus realistischen der Neuschöpfung, die ja Pflanzen besitzt (Offb 21,2; 22,3). Jesus hat also eine sehr realistische Zukunftserwartung gehabt.197 Dies ist der Punkt, an dem nun auch die mündliche Überlieferung der klein193 Dagegen handelt es sich in Mt 26,29 nicht um ein Gelöbnis der Abstinenz: DaviesAllison III 477. 194 Vgl. Fiedler 389. 195 Vgl. Num 6,4; Jes 32,12; Hab 3,17. 196 Insofern hat Luz IV 116 recht. Man wird von daher auch die Möglichkeit annehmen dürfen, statt Wein Traubensaft o.Ä. zu verwenden. Vgl. Fiedler 389. 197 Wie übrigens auch die Rabbinen, vgl. b Sanh 99a; b Ber 34b; Strack-Billerbeck I 992 (speziell vom künftigen Wein). Vgl. Hengel-Schwemer 415. Auch Bengel, Gnomon, 184 erwartet einen „ganz himmlischen Trank“.

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asiatischen Presbyter ins Spiel kommt. Irenäus hat sie um 180 n.Chr. bei der Beschreibung des Tausendjährigen Reiches kurz dargestellt.198 Unter anderem habe Jesus gelehrt, dass es dann Weinstöcke mit wunderbarer Frucht geben werde.199 Neben die Presbyter stellt Irenäus das Zeugnis des Papias, der „ein Hörer des Johannes“ gewesen sei. Ihm zufolge „glaubte der Verräter Judas (dem Herrn) nicht und fragte: Wie werden solche Erzeugnisse von dem Herrn zustandegebracht werden?“, worauf ihm Jesus antwortete: „Sehen werden es, die dazu kommen.“200 Lässt man die Einzelheiten weg, dann bestätigt diese Überlieferung aus der Zeit etwa 100–150 n.Chr., die sich selbst auf Johannes zurückführt, die realistische Erwartung Jesu. Sie bestätigt außerdem, dass Judas bis zum Zeitpunkt von Mt 26,29 noch beim letzten Mahl anwesend war. Sie spricht zudem aus, dass Judas in den Tagen der Vollendung nicht mehr bei Jesus und den übrigen Aposteln sein wird (in „Sehen werden es“ usw. ist angedeutet, dass Judas es nicht „sehen“ wird). Für unsere Deutung ergibt sich schließlich, dass wir die Frage, ob der Tag von Mt 26,29 auf das Tausendjährige Reich oder auf die Neuschöpfung geht, offenlassen müssen.201 Ad 3): Das Reich meines Vaters wird gewiss kommen. Und Gott im Himmel bleibt sein Vater, was auch immer in den nächsten Stunden und Tagen geschieht. Kurz, fast abrupt, schließt der Matthäus-Bericht mit V. 30: Und sie sangen den Lobgesang und gingen hinaus an den Ölberg. Der Lobgesang (ὑμνήσαντες [hymnēsantes]) ist vermutlich der Zweite Teil des Hallel (Ps 115– 118).202 Trifft dies zu, dann sangen Jesus und die Jünger auch Ps 118,25f, was schon beim Einzug in Jerusalem gesungen wurde: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt (‫[ ַה ָבּא‬habbāʾ]) im Namen des Herrn!“203 Ein- und Auszug in Jerusalem werden also von dem messianischen Psalm 118 gerahmt. Mt 26,30 und Mk 14,26 stimmen wörtlich überein, Lk 22,39 und Joh 18,1 formulieren ähnlich, bemerken aber nichts über das Singen. Der Gang an den Ölberg war in der Passionswoche der übliche für Jesus und seine Jünger (vgl. Lk 21,37; 22,39). Doch wollte Jesus in dieser letzten Nacht nicht mehr bis nach Betanien (vgl. Mt 21,17; 26,6) an den Ostabhang, sondern blieb am Westabhang in einem Grundstück namens Gethsemane. Sehr wahrscheinlich war es 198 199 200 201

AdvHaer V, 33; 36,3. A.a.O., V, 33,3. A.a.O., V. 33.4. Vgl. Lk 22,29f sowie Mt 8,11; 22,1ff, Offb 19,9. Auf das Hochzeitsmahl des Lammes (Offb 19,9) deuten Davies-Allison III 476. 202 Vgl. aber Fiedler 391.44; Luz IV 124 (unsicher). Als Hallel aufgefasst bei Strack-Billerbeck I 992. 203 Vgl. Carson 539.

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dieser ungewöhnliche Aufenthaltsort, den Judas den Hohenpriestern verriet.204

IV Zusammenfassung Wir versuchen, noch einmal wichtige Punkte aus Mt 26,17-30 zusammenzufassen: 1. Mit einiger Bestimmtheit kann man sagen, dass das letzte Mahl Jesu kein Passamahl war, jedenfalls kein reguläres. Dagegen spricht schon der Zeitpunkt am Donnerstagabend christlicher Rechnung.205 Denn die Passalämmer wurden erst am Freitagnachmittag geschlachtet, als Jesus schon am Kreuz hing. Dagegen spricht ferner, dass nirgends speziell ein Lamm erwähnt wird, dass es folglich auch kein Deutewort zum Lamm gibt. Andererseits schließt Jesus ein anderes zentrales Deutewort an das Brot an, das sonst als solches im Passamahl nicht besonders betont wird. Stärker wird beim Passamahl das Ungesäuerte am Brot hervorgehoben. Schließlich ist die Sündenvergebung kein Hauptziel der Passafeier. Gleichzeitig finden sich jedoch im Geschehensablauf von Mt 26,17ff Züge, die auch zu einem Passamahl passen, so der Becher, die Elemente Brot und Wein, der Lobgesang. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass Brot und Wein zugleich auf ein anderes wichtiges Geschehen der Heilsgeschichte deuten, nämlich den Priesterkönig Melchisedek, der Abraham mit Brot und Wein segnete (Gen 14,17ff ) und den das NT mehrfach als Typus des Christus schildert (Mt 22,43; Apg 2,34; Hebr 5,8.10; 6,20; 7,1.10.11.15.17). Insgesamt begreift man das letzte Mahl Jesu am besten als ein Mahl eigener Prägung. Es ist eine Art Stiftungsmahl des Neuen Bundes. Bezeichnungen wie „Herrenmahl“,206 „Abschiedsmahl“207 oder „Abendmahl“208 treffen deshalb seinen Sinn besser als die Bezeichnung „Passamahl“.209 Das muss man so festhalten, auch wenn so ausgezeichnete Historiker wie Hengel davon ausgehen, dass es „wirklich ein Passamahl“ gewesen sei.210 204 Nach einer Passafeier sollte man rasch Schluss machen und keine weiteren Veranstaltungen besuchen (Mischna Pesachim X, 8). „Das Hinausgehen an den Ölberg in der Passahnacht war kein Verstoß gegen die Halakha“ (Strack-Billerbeck a.a.O.). 205 Ebenso E.J. Schnabel, Art. Abendmahl, GBL 1, 4. Nach dem offiziellen jüdischen Kalender ist es die Nacht vom 13. zum 14. Nisan. 206 Revidierte Elberfelder Bibel; Stuhlmacher I 130ff. 207 Gute Nachricht. 208 Lutherbibel. Wilckens I/4 59 sogar „eucharistisches Mahl“. 209 BasisBibel. 210 Hengel-Schwemer 583 unter Berufung auf Jeremias Abendsmahlworte. Ebenso Riesner 255; Stuhlmacher I 133ff; Dalman 252; Davies-Allison III 456. Ähnlich wie wir Luz IV 93ff (Sonderpassa); Zahn 697; O. Betz im Art. Jesus Christus, GBL 2, 688; Konradt 405: unsicher.

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2. Matthäus hebt besonders hervor, dass der Neue Bund zur Sündenvergebung gestiftet wird. Diese wird von Jesus mit der Hingabe seines Leibes und Blutes verbunden. Für den Neuen Bund ist also der Sühnetod Jesu die Voraussetzung. Folglich ist auch die Sühnetheologie unverzichtbar.211 Paul Gerhardts (1653) Zeilen behalten ihre Berechtigung: „Er nimmt auf sich, was auf Erden / wir getan, gibt sich dran, / unser Lamm zu werden, / unser Lamm, das für uns stirbet / und bei Gott für den Tod / Gnad und Fried erwirbet“ (EG 36,4). 3. Der Verrat des Judas ist eine Tat, die er selbst zu verantworten hat. Sie kann nicht mit einer Prädestinationslehre entschuldigt werden.212 4. Unübersehbar ist der eschatologische Bezug des letzten Mahles Jesu. Die der Passaliturgie entsprechenden Elemente und die endgültige Vergebung von Sünden weisen voraus auf das ewige Leben und das ewige Gottesreich. Erst recht tut dies V. 29. Die Bemerkung bei Paulus „Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1Kor 11,26) wurzelt also in den Abendmahlsworten Jesu. 5. Wie so vieles im NT ist auch die Historizität dieses Geschehens umstritten. Teilweise wird es als „christliche Legende“ oder „Kulturlegende“ verstanden.213 Andere sprechen von „historischem Urgestein“.214 In unserem Kommentar hat sich kein Anhaltspunkt ergeben, von dem aus man die Historizität bestreiten könnte. Im Ganzen muss man sehen, dass die frühe Kirche nicht versucht hat, die oft spannungsvollen Einzelangaben zu eliminieren oder zu retuschieren. Auch diese Beobachtung spricht für die Historizität des Berichts in Mt 26,17-30.

1.6 Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus, 26,31-35

I Übersetzung 31 Darauf sagt Jesus zu ihnen: Ihr alle werdet in dieser Nacht an mir Anstoß nehmen. Denn es steht geschrieben: Ich werde den Hirten erschlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden. 32 Aber nach meiner Auferweckung werde ich vor euch her nach Galiläa gehen. 33 Aber Petrus gab ihm zur Antwort: Wenn auch alle an dir Anstoß nehmen werden – ich werde niemals Anstoß nehmen! 34 Jesus sagte zu ihm: 211 Ebenso Stuhlmacher I 137ff; Zahn 697; Dalman 254f; Wilckens I/4 82ff. Schon Irenäus AdvHaer IV, 22,1. 212 Richtig Luz IV 89; France 367. Vgl. Maier II 365. 213 Bultmann, Gesch, 284; 285. Auch Fiedler 387,25 gegen die Historizität. 214 Hengel-Schwemer 585. Für die Historizität auch Stuhlmacher I 130.

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Amen, ich sage dir: Noch in dieser Nacht, bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. 35 Petrus sagt zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müsste, ich werde dich niemals verleugnen. Das Gleiche sagten auch alle anderen Jünger.

II Struktur So klein der Abschnitt ist, so interessant sind doch die Linien, die sich hier treffen. Mt 26,31-35 bietet einen Ausschnitt aus den Abschiedsgesprächen, die sich um Jesu letztes Mahl ranken.215 Andere Evangelisten sind ausführlicher. So Lukas in 22,24-38, der dort „einen Eindruck von solchen Abschiedsgesprächen vermitteln“ will.216 Es ist nur natürlich, dass sich diese letzten Gespräche im Jüngerkreis der Erinnerung besonders eingeprägt haben. Wenn Bultmann hier einen „legendarisch gefärbten Geschichtsbericht“ finden will,217 dann geht das sowohl an den Texten als auch an der Lebenswirklichkeit vorbei. Noch ausführlicher sind die Abschiedsgespräche bei Johannes (Kap. 13–17). Hier tritt deutlich zutage, dass Johannes ergänzend zu den Synoptikern schreiben will. Nur Markus ist ähnlich karg wie Matthäus. Schaut man genauer hin, dann erweist sich Mt 26,31-35 (und Mk 14,27-31) als ein Doppelbericht. Die ersten beiden Verse sind an alle Jünger (Apostel) gerichtet. Sie enthalten die beiden Prophezeiungen vom Ärgernisnehmen und von der Begegnung mit dem Auferstandenen in Galiläa. Die folgenden drei Verse enthalten ein Gespräch zwischen Petrus und Jesus (V. 33ff ) mit der Ankündigung der Verleugnung des Petrus sowie eine Bekenntnisaussage aller Apostel (V. 35b). Hier sind also vier Ereignisse zusammengebunden, und unsere Überschrift „Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus“ ist nur fragmentarisch. Auffällig ist, dass alle vier Evangelisten die Verleugnung des Petrus schon dadurch stark thematisieren, dass sie sie von Jesus vorausgesagt sein lassen (Mt 26,34; Mk 14,30; Lk 22,34; Joh 13,38). Der leitende Apostel der Urgemeinde hat es offenbar selbst bejaht, dass auch für ihn belastende Überlieferungen weitergegeben wurden.

215 Vgl. zu diesem Thema auch Stuhlmacher I 136. 216 Stuhlmacher a.a.O. 217 Bultmann, Gesch, 287.

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III Einzelexegese Das einleitende τότε [tote] (V. 31) erlaubt keine genauere Zeitbestimmung. Die Parallele Mk 14,27 erweckt den Eindruck, das wir uns auf dem Weg nach Gethsemane befinden. Lk 22,34 hingegen scheint noch in den Abendmahlssaal zu gehören. Das τότε [tote] in Mt 26,31 lässt beide Möglichkeiten offen. Unsere Übersetzung darauf zeigt, dass wir die erstgenannte Möglichkeit leicht favorisieren.218 Jesus ergreift hier die Initiative. Beim Essen sprach er vom Verrat des einen, des Judas. Jetzt spricht er vom Versagen aller. Keiner darf sich besser dünken als der andere: In dieser Nacht werdet ihr alle (πάντες ὑμεῖς [ pantes hymeis]) an mir Anstoß nehmen (σκανδαλισθήσεσθε [skandalisthēsesthe]). In dieser Nacht: Das sind nur noch wenige Stunden.219 Anstoß nehmen bedeutet hier zugleich: „im Glauben irre werden“, „abfallen“. Jesus entnimmt seine Prophezeiung einer Schriftstelle (es steht geschrieben), und zwar Sach 13,7, die sowohl bei Matthäus als auch bei Markus zitiert wird und auf die auch Joh 16,32 anspielt. Zwar spricht die LXX von „den Hirten“ in der Mehrzahl. Aber der hebr. Text und das NT haben die Einzahl:220 Ich werde den Hirten erschlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden. Es ist hochinteressant, dass Jesus gerade diesen Text zitiert. Denn er verbindet dadurch den letzten Abend mit dem Einzug in Jerusalem, bei dem ebenfalls Sacharja zitiert wurde (Sach 9,9 in Mt 21,4f ). So rahmt nicht nur Ps 118, sondern auch der Prophet Sacharja den Einzug in und den Auszug Jesu aus Jerusalem ein. Im Verlauf der Passionsgeschichte wurde Sacharja immer wichtiger (vgl. Mt 21,4f; 26,15.28.31; 27,7ff ). Halten wir als Inhalt der Prophezeiung fest: 1) Jesus wird getötet, 2) die Jünger werden irre und werden zerstreut. – Neben vielen anderen Aussagen zeigt auch Mt 26,31, dass sich Jesus als Messias (Hirte) wusste. Vers 32 bietet eine zweite Prophezeiung, die in überraschender Weise auf V. 31 folgt. Nach V. 31 könnte man einen Tadel, eine Mahnung o.Ä. an die Jünger erwarten. Aber V. 32 hat einen ganz anderen Charakter. Er ist seinem Inhalt nach eine Siegesbotschaft, das δέ [de] hat einen echt adversativen Sinn. Sprach Jesus in V. 31 von seinem Tod, so spricht er jetzt von seiner Auferweckung (ἐγερθῆναί [egerthēnai]). Darin spiegeln sich die früheren Leidensund Auferstehungsweissagungen (Mt 16,21; 17,22f; 20,17ff ). Nach meiner Auferweckung (μετὰ δὲ τὸ ἐγερθῆναί με [meta de to egerthēnai me]) – das 218 Ähnlich Maier II 374f. Auch Luz IV 124: „Vermutlich unterwegs“. 219 „Nacht“ sollte hier nicht als Metapher behandelt werden (ebenso Luz IV 125). 220 Im Übrigen gibt Sach 13,7 manche exegetischen Probleme auf. Carson 540: „The textual questions … are complex.“

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klingt wie die größte Selbstverständlichkeit. Es folgen nun zwei Überraschungen: 1) Der Auferstandene will nach Galiläa gehen. Das bedeutet nicht, dass es zuvor nicht noch Begegnungen und Ereignisse in und um Jerusalem geben wird. Das bedeutet auch nicht, dass er danach nicht nach Jerusalem zurückkehren will.221 Nach Galiläa heißt: „Das Land Sebulon und das Land Naftali und der Weg am Meer, das Galiläa der Heiden“, soll das Licht der Herrlichkeit des Auferstandenen sehen, wie es in den Verheißungen von Jes 8,23f enthalten ist (vgl. Mt 4,13ff ). 2) Der Auferstandene will vor euch [= den Jüngern] her gehen. Das heißt nicht nur, dass sie ihn in Galiläa treffen werden.222 Das heißt vielmehr auch: Die Jünger werden sich nach der in V. 31 angekündigten Zerstreuung wieder sammeln. Vor euch (προάξω ὑμᾶς [ proaxō hymas], auch Mk 14,28) sieht die Jünger als Gemeinschaft fortleben. Diese Prophetie entspricht den Leidenspsalmen 22,24ff und 69,31ff. Es ist, als hätte Petrus die Prophezeiung von V. 32 überhört. Er greift sofort die erste Aussage von V. 31 auf: Wenn auch alle an dir Anstoß nehmen werden – ich werde niemals Anstoß nehmen! Dass sich Petrus in der ganzen Passionsgeschichte als den besonders Treuen, als einen über das Niveau der übrigen elf Jünger Hinausragenden empfand, ist dem ganzen Matthäusevangelium abzuspüren (vgl. Mt 16,22f; 17,24ff; 18,21ff; 19,27ff; 26,33.69ff ).223 Es zeigt sich die alte Wahrheit: Wer besondere Verheißungen hat (so Petrus Mt 16,18f ), ist besonders gefährdet. Um der historischen Wahrheit willen muss man aber auch sagen, dass sich Petrus nach menschlichen Maßstäben bewundernswert für seinen Herrn eingesetzt hat (Mt 26,69ff; Lk 22,31ff; Joh 18,10f.15ff ). Dass Matthäus beide Seiten bei Petrus zum Zug kommen lässt, bei erkennbarer Hochachtung für Petrus, spricht für die historische Zuverlässigkeit dieses Evangelisten. In dem Moment, den V. 33 schildert, treten die negativen Züge bei Petrus hervor: seine Impulsivität, die Joh 13,6ff genauso schildert, sein Herabsehen auf alle anderen (Johannes und sein eigener Bruder Andreas eingeschlossen!), seine verhängnsivolle Blindheit für die eigene Schwäche. Das ἐγώ [egō] (ich) in V. 33 ist betont! Treffend die Beschreibung durch einen pietistischen Ausleger: Petrus „vertraut mehr auf die Kraft seiner Liebe als auf die Kraft Gottes“.224 221 Ebenso Zahn 699f. 222 Ein Bezug zur Hirtensprache ist möglich, aber nicht sicher. Vgl. Luz IV 125f; Carson 541; Beare 510. 223 Dass Petrus hier „als Jüngersprecher“ agieren soll (Luz IV 126) ist durch nichts angedeutet und durch den Inhalt von V. 32 ausgeschlossen. Richtig Beare 511. 224 Brüdersegen 400.

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Mit einem feierlichen Amen-Wort leitet Jesus seine Antwort ein (V. 34): Noch in dieser Nacht,225 bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Beachten wir zuerst die Hauptaussage: Petrus wird binnen Stunden zum Verleugner. Verleugnen, ἀπαρνεῖσθαι [aparneisthai], ist das Gegenteil von ὁμολογεῖν [homologein], „bekennen“. Das weiß Petrus spätestens seit Mt 10,32f. Von dort weiß er auch, dass es nur konsequent wäre, wenn ihn Jesus dann auch vor seinem himmlischen Vater verleugnen würde. Scharf treten sich die Personalpronomina gegenüber: αὐτῷ [autō] (ihm) – σοι [soi] (dir) – με [me] (mich). Zerbricht darüber das persönliche Verhältnis? Gerade der Petrus, der sich als besonders treu und zuverlässig einschätzte, fällt besonders tief. Nur Judas fiel tiefer. Jesu Prophezeiung ist präzise: Noch in dieser Nacht, bevor der Hahn kräht (πρὶν ἀλέκτορα φωνῆσαι [ prin alektora phonēsai]). Doch steckt in dieser Aussage ein geschichtliches Problem. Bei Markus heißt es (14,30): „bevor der Hahn zweimal (δίς [dis]) kräht“. Wir können nicht mehr ganz sicher sagen, ob Jesus von „zweimal“ gesprochen hat oder nicht. Es ist aber ohne Weiteres vorstellbar, dass Matthäus bewusst die Details beiseiteließ und deshalb nur ganz allgemein von der Zeit des Hahnenschreis schrieb.226 Nach Otto Betz erstreckte sich diese Zeit, in der die Hähne krähten, „von kurz nach Mitternacht an bis etwa 2.30 Uhr“,227 die entsprechende Nachtwache (die dritte) hieß ἀλεκτοφωνία [alektophōnia], „die Zeit des Hahnenschreis“. Markus auf der anderen Seite legte vermutlich Wert auf die Details und schrieb deshalb „zweimal kräht“. Beide kommen aber in dem viel wichtigeren Punkt zusammen, dass Jesus ein dreimaliges (τρίς [tris]) Verleugnen ankündigte. Das wird durch Lukas (22,34) und Johannes (13,38) ausdrücklich bestätigt. Die Zahl drei hat in der Bibel oft den Charakter des Endgültigen (vgl. Mt 26,36ff; 2Kor 12,8). So ist Jesu Prophezeiung mehr als hart: Bewusst, vorsätzlich, endgültig wird ihn Petrus verleugnen. Gibt es dann noch einen Rückweg? Die Mitternacht (Nacht, bevor der Hahn kräht), in der die Verleugnung geschieht, hat hier offenbar auch symbolisch-geistliche Bedeutung. Übrigens gab es auch in Jerusalem Hähne, weniger freilich als draußen im Land.228 Der Hahnenschrei wird auch im Talmud erwähnt. Die Rabbinen preisen Gott, weil er „dem Hahne Verstand verliehen, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden“.229

225 226 227 228 229

Matthäus stellt das ἐν ταύτῃ τῇ betont voran. Vgl. meinen Markus-Kommentar in der Edition C, 1995, 610. In Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, 296. Strack-Billerbeck I 992f. B Ber 60b.

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Erstaunlich, dass Petrus jetzt nicht betroffen schweigt, sondern noch einmal eine sehr steile Versicherung abgibt (V. 35): Und wenn ich mit dir sterben müsste, ich werde dich niemals (οὐ μή [ou mē]) verleugnen230 (ebenso Mk 14,30f ). Sein „Kraftgefühl“,231 seine „Selbstüberhebung“,232 sind bisher ungebrochen. Dasselbe gilt für seine impulsive Art, die doch das Beste für Jesus sucht. Mit dir sterben: Denkt er an die Märtyrer der makkabäischen Zeit? An die Treuen, die im galiläischen Aufstand vor Jahren dem möglichen Messias Hiskia folgten?233 Nach Rut 1,17 ist jedenfalls das „Wo du stirbst, da sterbe ich auch“ ein Ausdruck höchster Treue (vgl. Joh 11,16). Die anderen Apostel wollen nicht zurückstehen: Das Gleiche (ὁμοίως [homoiōs]) sagten auch alle anderen Jünger (καὶ πάντες οἱ μαθηταί [kai pantes hoi mathētai]). Also auch Matthäus selbst! Es liegt Matthäus offenbar daran festzustellen, dass keiner der Apostel Ursache hat, sich über andere zu erheben. Das ist schon das Ende des Abschnitts. Es fällt auf, dass Jesus im Unterschied zu Lk 22,24-38 am Schluss nichts mehr sagt.234 Bengel machte dazu die Bemerkung: „Der sanftmüthige Heiland lässt nun ohne weitere Einwendung die Sache auf sich beruhen.“235

IV Zusammenfassung 1. Die Verse 31-35 bilden einen kleinen Ausschnitt aus den Abschiedsgesprächen Jesu, die bei Lukas (22,24-38) und Johannes (Kap. 13–17) ausführlicher überliefert sind. 2. Sie enthalten Jesu Prophetie über das Verhalten der Jünger in den nächsten Stunden und Tagen. Alle, ohne Ausnahme, werden von ihm abfallen. 3. Petrus, bisher der Sprecher der Zwölf, der Empfänger der Verheißung von Mt 16,18f, wird darüber hinaus zum Verleugner. Nur Judas fällt tiefer als er. Die Wahrhaftigkeit der Evangelien bei aller Wertschätzung und Liebe zu Petrus überrascht. Petrus selbst muss es zugelassen haben und anders geworden sein – ein Argument für die Echtheit des Berichts in Joh 21,15ff. 4. Petrus ist weder ein „Negativtyp“236 noch jemand, dessen Bild verklärt werden muss. Er bleibt vielmehr ein Urtyp der apostolischen Kirche, deren 230 BDR § 365: οὐ μή ist „die bestimmteste Form der verneinenden Aussage über Zukünftiges“. 231 Schlatter 391. 232 Zahn 700. Petrus ist gegen Luz IV 127 nicht der „Jüngersprecher“. 233 Vgl. Mayer 47f. 234 Vgl. Davies-Allison III 482. 235 Bengel, Gnomon, 185. Maier II 377: „Jesus läßt die Tatsachen sprechen“. 236 Vgl. Luz IV 128f.

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Leiter bis heute immer wieder abfallen und sich neu bekehren müssen (vgl. Lk 22,31f ). 5. Es gibt keinen Grund, die Historizität von Mt 26,31-35 zu bestreiten.237

1.7 Gethsemane, 26,36-46

I Übersetzung 36 Danach kommt Jesus mit ihnen zu einem Grundstück namens Gethsemani und sagt zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, bis ich dorthin gegangen bin und gebetet habe. 37 Und er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich und begann zu trauern und sich zu ängsten. 38 Da sagt er zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod. Bleibt hier und wacht mit mir! 39 Und er ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht, betete und sagte: Mein Vater, ists möglich, dann gehe dieser Kelch an mir vorüber! Aber nicht, wie ich will, sondern wie du willst. 40 Und er kommt zu den Jüngern und findet sie schlafend. Und er sagt zu Petrus: So konntet ihr also nicht eine einzige Stunde mit mir wachen? 41 Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. 42 Wieder ging er weg, ein zweites Mal, betete und sagte: Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, es sei denn, dass ich ihn trinke, dann geschehe dein Wille. 43 Und er kam und fand sie wieder schlafend, denn ihre Augenlider waren schwer geworden. 44 Und er ließ sie und ging wieder weg und betete zum dritten Mal mit den gleichen Worten und sagte dasselbe noch einmal. 45 Danach kommt er zu den Jüngern und sagt zu ihnen: Schlaft und ruht ein andermal! Siehe, die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn in die Hände von Sündern ausgeliefert wird! 46 Steht auf! Lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich ausliefert.

II Struktur Der „Garten“ Gethsemane: Kaum etwas anderes kann das christliche Gemüt so berühren wie dieser Name – kein „Garten Eden“, geschweige denn die Gärten der Semiramis. Das Geschehen dort kann man immer nur annäherungsweise deuten. Hier nähern wir uns wieder von der Struktur her. Für diese Struktur ist die Dreizahl bestimmend. Dreimal betet Jesus, dreimal sucht er die Jünger auf, dreimal mahnt er sie, drei Jünger nimmt er mit in 237 Gegen Bultmann, Gesch, 287. Vgl. Hengel-Schwemer 464; Davies-Allison III 469.

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seine Nähe. Neben dem realen Geschehen stellt sich die Frage: Was bedeutet die Dreizahl in diesem Zusammenhang? Gethsemane offenbart Entscheidendes über das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Hier ist eine achtungsvolle Exegese besonders gefragt. In allem stoßen wir auf das Geheimnis Jesu. Unter den Evangelisten entsprechen sich Matthäus und Markus am stärksten. Es zeigt sich wieder die Nähe von petrinischer und matthäischer Überlieferung. Lukas hat seine eigenen Ziele, läuft aber ein gut Teil parallel. Vermutlich steht die Kurzform seines Berichts in Zusammenhang mit anderen Kurzformen bei Lukas, so beim Vaterunser. Johannes übergeht das Gethsemane-Gebet, vermutlich, weil er ergänzend zu den Synoptikern schreibt und hier nichts ergänzen wollte. Es ist offen, ob der Hebräerbrief eine eigene Gethsemane-Überlieferung kennt oder in 5,7-8 auf der Evangelientradition aufbaut.238

III Einzelexegese Sachlich und ohne Umschweife beginnt Matthäus seinen Bericht: Danach kommt Jesus mit ihnen zu einem Grundstück namens Gethsemani (V. 36). Τότε [Tote] muss nach V. 35ff wohl im Sinne eines zeitlichen Ablaufs, als danach, verstanden werden. Das Praesens historicum ἔρχεται [erchetai] erhöht die Spannung. χωρίον [chōrion] übersetzt man besser mit dem allgemeineren Ausdruck Grundstück als mit „Landgut“.239 Matthäus nennt ebenso wie Markus (14,32) ausdrücklich dessen Namen. Gethsemani lässt sich ׁ ְ ‫[ ַג ּת‬gat schᵉmānī ]240 = „Ölkelter“ oder auch ‫[ ַג ּת ְ ׁשָמִנים‬gat auf hebr. ‫שָמִני‬ schᵉmānīm] = „Kelter der Öle“ zurückführen.241 Davies-Allison schreiben über Gethsemane/Gethsemani: „the precise location remains unknown“.242 Das trifft in seiner Allgemeinheit nicht zu. Wir können die Stätten von Mt 26,36ff zwar nicht mehr auf jeden Quadratmeter nachmessen, sind aber über die Lokalität im Ganzen recht gut informiert. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist das historische Gethsemane im Bereich der heutigen Stätten Mariengrab / Garten Gethsemane / Kirche der Nationen zu suchen. Dafür sprechen u.a. folgende Argumente: 1) Die biblischen Angaben: a) Jesus sei Richtung Ölberg gegangen (Mt 26,30; Mk 14,26; Lk 22,30; b) er habe den Winterbach Kidron überschritten, was man sich am ehesten an der 238 239 240 241 242

Vgl. Luz IV 132. Vgl. Bauer-Aland 1775. Vgl. Bauer-Aland 307. So Dalman 257; R. Riesner, Art. Gethsemane, GBL 1, 460; Arch BL 156. Davies-Allison III 493. Ähnlich Beare 513.

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Brücke im oberen Kidrontal vorstellen kam (Joh 18,1); c) er sei auf ein „Grundstück“ (χωρίον [chōrion] Mt 26,36; Mk 14,32) oder in einen „Garten“ (κῆπος [kēpos] Joh 18,1) gegangen, den man sich leichter am Fuß des Ölbergs als auf seiner Höhe vorstellen kann; d) der Name des Grundstücks laute „Gethsemani“ (Mt 26,36; Mk 14,32), auf Deutsch „Ölkelter“. Nun benutzte man gerne Höhlen, um eine solche Kelter anzulegen, und zwar „wegen ihrer Wärme“.243 Das spricht für die Höhle oder Grotte in der Nähe des Mariengrabes. e) Wenn von einer Ölkelter die Rede ist, dann liegt der Gedanke an eine Olivenpflanzung nahe.244 In der Tat „füllten Ölgärten … den Talgrund“ im oberen Kidrontal.245 2) Die frühen kirchengeschichtlichen Nachrichten und die archäologischen Spuren: a) Um 330 n.Chr. berichtet Eusebius in seinem Onomastikon,246 dass sich die Christen „am Ölberg“ versammeln, um des Gethsemane-Geschehens zu gedenken. b) Der Pilger von Bordeaux geht 333 n.Chr. aus einem östlichen Stadttor südöstlich hinab ins Kidrontal, wo er u.a. einen Felsen und das Absalom- und Jakobusgrab erwähnt.247 c) Cyrill (348 n.Chr.), Aetheria (385 n.Chr.), das armenische Lektionar (450/500 n.Chr.) und Petrus der Iberer (gest. 485 n.Chr.) weisen ebenfalls auf das Gebiet im oberen Kidrontal hin, in dem sich die heutigen Gedenkstätten befinden. Kopp urteilt: „Die Tradition, daß Jesus an der Grotte [in der Nähe des Mariengrabes] in die Hände der Häscher fiel, ist so lückenlos fest, daß auch die Kreuzfahrer sie einmütig übernehmen.“248 d) Der Bau der Ecclesia Elegans aus dem Ende des 4. Jh.s n.Chr., deren Reste unter der heutigen Kirche der Nationen liegen, kann sehr wohl auf eine Jerusalemer Lokaltradition zurückgehen.249 e) Die ca. 100 m nördlich davon liegende Felsgrotte scheint eine Ölkelter enthalten zu haben. Schon im 4. Jh. n.Chr. wurde sie in eine Kapelle umgewandelt. Riesner zufolge hätte sie „der Jüngerschar einen geschützten Unterschlupf geboten“.250 Alles in allem kann man also mit guten Gründen annehmen, dass unser biblisches Gethsemane im Areal Kirche der Nationen / Garten Gethsemane / Mariengrab lag.251 Der Besitzer dieses Grundstücks bzw. Gartens muss mit 243 244 245 246 247 248 249 250 251

Dalman 257; Riesner a.a.O. Bauer-Aland 307. Dalman a.a.O. Onomastikon 74. Kopp 389f. Kopp 392. Riesner a.a.O. A.a.O. Ebenso Riesner a.a.O. 460f; Dalman 255ff; Kopp 387ff; Kroll 425ff. Selbst Luz IV 134,18: „historisch nicht unwahrscheinlich“.

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Jesus bekannt gewesen sein … auch das ein Hinweis auf frühere JerusalemAufenthalte Jesu.252 Der Gang Jesu an den Ölberg und nach Gethsemane erinnert schließlich an Davids Weg hinaus aus Jerusalem (2Sam 15,23ff )253 – mit dem Unterschied, dass David auf der Flucht war, während Jesus gerade nicht flüchten wollte. Auf dem Grundstück sagt Jesus zu [all] seinen Jüngern: Setzt euch hierher, bis ich dorthin gegangen bin und gebetet habe254 (V. 36). Zweierlei geht daraus hervor: a) Er will hier zuerst beten, und b) er will dies grundsätzlich allein tun. Zum einsamen Gebet Jesu vgl. Mt 14,23; Mk 1,35; Lk 6,12; Joh 6,15. Im Leben Abrahams und Moses gibt es ähnliche Vorgänge (Gen 22,5; Ex 24,14). Nun kommt es zu einer Aufteilung der Jüngerschaft: Und er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich (V. 37). Es sind dieselben drei, die Jesus auf den Berg der Verklärung mitnahm (Mt 17,1), und dieselben drei, die das Wunder der Totenerweckung in Mk 5,37ff miterlebten, eben: Petrus, Jakobus und Johannes. Wer seine Herrlichkeit sah, sollte auch die Tiefe seines Leidens sehen.255 Daneben muss man vermuten, dass Jesus bewusst entsprechend dem alttestamentlichen Zeugenrecht drei Zeugen ausgewählt hat (vgl. Num 35,30; Deut 17,6; 19,15).256 Erstaunlich, dass Petrus, dessen Verleugnung soeben angekündigt war, hier nicht ausgegliedert wurde. Bemerkenswert auch, dass sich innerhalb des Zwölferkreises schon ganz bestimmte Gliederungen herausgebildet hatten: die drei genannten Jünger als innerer Kreis (Carson:257 „the inner three“), Petrus als Sprecher der Zwölf (Mt 16,16), Judas als Verantwortlicher für die Finanzen (Joh 12,6; 13,29), die übrigen acht als weiterer Kreis.258 Mit der zweiten Hälfte von V. 37 treten wir in das zentrale GethsemaneGeschehen ein: er begann zu trauern und sich zu ängsten (ἤρξατο λυπεῖσθαι καὶ ἀδημονεῖν [ērxato lypeisthai kai adēmonein]). Den Exegeten fällt vor allem das griech. ἀδημονεῖν [adēmonein] auf. Nach Bauer-Aland hat es

252 253 254 255 256

Vgl. wieder Riesner a.a.O. 460. Davies-Allison III 484; Dalman 256. Zur Grammatik vgl. BDR § 103,3; 455,5. Vgl. Davies-Allison III 496. Schlatter 392: Er machte sie zu „Zeugen seiner Angst“; Zahn 700: „zu Zeugen seiner Schwachheit“. 257 Carson 543. 258 Ob es eine Rolle spielte, dass die drei von Mt 26,37 zuvor erklärt hatten, Jesu Passion zu teilen (Mt 20,22; 26,35) – so France 372 – muss offenbleiben.

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zwei Grundbedeutungen: a) „in Angst sein“, b) „in Unruhe sein“.259 Jesus erlebt also die volle menschliche Angst vor seiner grausamen Hinrichtung und verliert zugleich die Gelassenheit, die Ruhe des Glaubens. Zur Last des eigenen Schicksals kommen bei ihm zwei Dimensionen hinzu. Die erste besteht in der wohlüberlegten Absicht, in Jerusalem sein Leben zu opfern. Insofern war er „selbst schuld“ an seinem Leiden. Die zweite besteht darin, dass er sich die Schuld aller Menschen aufladen lässt, um für sie nach Lev 16; Jes 53 zu sühnen.260 Jesus leidet nicht nur sichtbar, sondern er spricht auch darüber. Es fällt auf, dass er den Zwölfen gegenüber nicht darauf bedacht war, Fassung zu bewahren, oder eine heroische Maske trug. Nein, er redet mit einer beeindruckenden Ehrlichkeit. Besonders Zahn261 und Schlatter262 ist das aufgefallen. Meine Seele ist betrübt bis an den Tod (περίλυπός ἐστιν ἡ ψυχή μου ἕως θανάτου [ perilypos estin hē psychē mou heōs thanatou]) V. 38: Es ist hier die Sprache der Psalmen, in der er sich ausdrückt.263 Schon in den Seligpreisungen, dann auch später, z.B. Mt 22,41ff, war uns die intensive Benutzung der Psalmen durch Jesus begegnet. Hier, in Mt 26,38 bzw. Mk 14,34, ist es Ps 42,6.12; 43,5 (LXX: 41,6.12; 42,5), was Jesus zitiert. Siehe auch die LXX-Fassung: τί περίλυπος εἶ, ψυχή [ti perilypos ei, psychē]. Das ἕως θανάτου [heōs thanatou] kann aus der prophetischen Klage in Jona 4,9 hinzugekommen sein. In den Psalmstellen lebt eine brennende Sehnsucht nach Gott zusammen mit der Erfahrung hilflosen menschlichen Schmerzes („meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht“, Ps 42,4) aber auch der Angst, von Gott vergessen zu sein („Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?“, Ps 42,10). Jesus hat in Gethsemane all dies gekostet. Man könnte sagen: in einem vorweggenommenen Kreuzesleiden. Siehe auch Ps 22,13ff; 31,10; Joh 12,27 sowie 1Kön 19,4ff. Dieses Bild von Jesus ist allen Evangelien gemeinsam (vgl. Mt 26,37ff; Mk 14,33ff; Lk 22,37ff; Joh 12,27). Es prägt aber auch die Jesusüberlieferung des Hebräerbriefes (4,15; 5,7f; 12,2; 13,12f ). Ja, es verbindet sich für die ganze Christenheit unvergesslich mit der Botschaft Jesu. Unter unzähligen Beispielen wählen wir nur die Strophe von Sigmund von

259 Bauer-Aland 30. Evtl. enthält es auch den Sinn von „depressiv sein“ (Luz IV 134,22); France 372: „an anguish of wretchedness“; Carson 543: „deep distress“. 260 Vgl. Schniewind 262; Schlatter 392f. 261 Zahn 700: „Während so die Jünger über ihr Unvermögen sich täuschen, scheut Jesus sich nicht, seine Schwachheit … zu bekennen.“ 262 Schlatter 391f. 263 Vgl. Davies-Allison III 496.

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Birken (1663): „Meine Seele sehen mach deine Angst und Bande, deine Schläge, deine Schmach, deine Kreuzesschande“ (EG 88,2). Kurz ist die folgende Anweisung: Bleibt hier und wacht mit mir! (V. 38). Sie zeigt, dass sich Jesus und die drei räumlich von den übrigen acht entfernt haben. Nun lässt Jesus aber auch die drei an einer bestimmten Stelle zurück. Wachen ist oft mit Beten verknüpft (vgl. V. 41).264 Jesus fordert also die drei engsten Jünger zum Gebet in dieser Nacht auf, was wir nur als Fürbittegebet für ihn verstehen können. Auch das ist ein eindrucksvoller Zug dieser Passionsgeschichte: Jesus bittet geradezu andere, für ihn zu beten. Ein weiteres Zeichen der erschreckenden Tiefe, in die er hinabgeführt wird! Zu beachten ist das μετ᾿ ἐμοῦ [met’ emou] = mit mir. Ein Wort, das der Vater nicht sprechen könnte, und das alle Patripassianer widerlegt. μετ᾿ ἐμοῦ [met’ emou] heißt: a) gleichzeitig mit mir, b) in Gemeinschaft mit mir, c) dieselben Anliegen mit mir teilend, d) in unterstützender Fürbitte. Luz überhöht aber diese Aussage, wenn er sie auf eine Stufe mit dem μεθ᾿ ὑμῶν [meth’ hymōn] von Mt 28,20 und dem „Immanuel“ stellt.265 Vers 39 verdichtet das folgende Geschehen auf einige wenige Punkte. Er ging ein wenig weiter: Obwohl προσελθών [ proselthōn] eine breitere Bezeugung aufweist, muss προελθών [ proelthōn] als lectio difficilior und vom Kontext her vorgezogen werden (vgl. Lk 22,41). Das ein wenig weiter ermöglicht ein Doppeltes. Erstens ist Jesus jetzt für sich und kann sich ganz in sein Gebet versenken. Zweitens hören Petrus, Jakobus und Johannes sein Gebet – damals betete man in der Regel laut – und können später bezeugen, was er gebetet hat. Und Zeugen sollten sie sein (s. oben). Es ist gut möglich, dass Jesus auf jener Felsplatte betete, die die um 380 n.Chr. errichtete byzantinische Kirche einschloss, deren Grundstück 1682 n.Chr. von den Franziskanern gekauft wurde.266 Sicherheit gibt es in diesen Dingen aber kaum. Tatsache ist, dass er betete: er fiel auf sein Angesicht, betete und sagte … Entscheidend ist nun, was er sagte. Mein Vater ist das Erste, aram. „Abba“ (Mk 14,36). Ob μου [mou] sekundär ist,267 ist praktisch bedeutungslos. Vater bleibt die Anrede, wie sie es in Mt 6,9; 11,25; 16,17; 24,36; 25,34; 26,29 gewesen ist. Niemals ist Jesus aus diesem Vater-Sohn-Verhältnis herausgefallen, nicht einmal in den dunkelsten Stunden (vgl. Lk 23,46). Er ringt nicht mit einem „Gott der Philosophen“ (Blaise Pascal). Er ringt mit dem Vater um den Weg, den sie beide gehen wollen. Welcher Weg ist es? 264 265 266 267

Es erinnert nach Davies-Allison III 496 auch an Mt 24,36–25,30. Luz IV 135. Vgl. Dalman 259f. Die ganz überwiegende Bezeugung ist für μου; auch Zahn 701,63.

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Ists möglich, dann gehe dieser Kelch an mir vorüber! Es besteht Einverständnis, dass dieser Kelch Leiden und Kreuzigung meint (vgl. Jes 51,17.22; Jer 25,15; 49,12; Ps 75,9; Mt 20,22; Joh 18,11). παρελθάτω [ parelthatō] ist ein Imperativ. Das heißt: Jesus will nicht sterben. Er ist nicht der Todesmutige, der sich auf seinen letzten Weg macht. Er ist der in tiefster Angst Betende (vgl. Joh 16,33), der menschlich alle Tiefen Durchkostende. Denn „er musste in allen Dingen“ den Menschen „gleich werden“ (Hebr 2,17). Seinen klaren Willen, nicht sterben zu wollen,268 hat er damit ausgedrückt. Aber nun bekommt das Gebet seinen endgültigen Charakter durch das εἰ δυνατόν ἐστιν [ei dynaton estin] (ists möglich). Was heißt das? Auf den Punkt gebracht, heißt es: „Falls es einen anderen Weg der Erlösung gibt.“ Die ganze, oft elend zermürbende Debatte, ob „Gott Blut brauchte“, ob „Jesus einen Sühnetod sterben musste“, „ob es nicht einen anderen Weg der Erlösung gäbe“, wird an diesem εἰ δυνατόν [ei dynaton] zunichte. Es gab keinen anderen Weg. Und für Jesus ist klar: Der Vater und ich sind völlig eins im Willen und Plan zur Erlösung. Das ist es, was am Ende durchschlägt. Nur wenn es anderes gegeben hätte, dann gehe dieser Kelch an mir vorüber! Und ein zweites Mal unterstreicht Jesus: Aber nicht, wie ich will, sondern wie du willst (πλὴν οὐχ ὡς ἐγὼ θέλω ἀλλ᾿ ὡς σύ [ plēn ouch hōs egō thelō all’ hōs sy]). Durch alle Evangelien hindurch gibt es keinen Zweifel: Jesus schließt sich ganz und gar und gerne dem Willen des Vaters an. Solange er auf Erden ist, gibt es ein Ringen um den gemeinsamen Weg. Aber es ist ein Ringen der Liebe und der grenzenlosen Hingabe des Sohnes an den Vater, nicht ein Ringen zweier unabhängiger Individuen (vgl. Joh 10,30). Mit diesem einen Satz Jesu: Aber nicht, wie ich will (betontes ἐγώ [egō]), sondern wie du (betontes σύ [sy]!) willst ist allen christlichen Gebeten ihre Grundlage gegeben. So hat es Paulus (2Kor 12,7ff ), so hat es Therese von Avila praktiziert. Jedes unserer Gebete – wenn es christlich ist! – schließt diese Bitte ein: „nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Sonst würde sich der Abstand zwischen dem Betenden und Leidenden einerseits und Gott andererseits, niemals schließen. Siehe auch Joh 4,34; 6,38; 12,27f, vor allem aber das Vaterunser (Mt 6,10). Vers 40 berichtet die erste Unterbrechung des Gebets in jener Nacht: Und er kommt zu den Jüngern und findet sie schlafend. Immer noch herrscht das Praesens historicum: kommt – findet – sagt. Ein rabbinischer Lehrer konnte kommen, um das Gebet seiner Schüler zu kontrollieren. Aber warum 268 Von der Martyriums-„Sehnsucht“, die unsinnigerweise sogar christliche Theologen den Christen unterstellen, ganz zu schweigen.

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kommt Jesus? Er sucht die drei – um sie geht es – auf, um sich durch ihre Fürbitte stärken zu lassen. Doch er machte die Erfahrung seiner Leidenspsalmen: „es ist hier kein Helfer“ (Ps 22,12) – „Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine“ (Ps 69,21). Er findet sie schlafend: physisch und spirituell,269 wie die schlafenden Jungfrauen im Gleichnis Mt 25,5.270 Dass man menschlich manches entschuldigen kann, zum Beispiel wegen der Fülle der Ereignisse jenes Tages oder wegen der andauernden Belastungssituation (vgl. Lk 22,45), ändert nichts an jenem Grundtatbestand. Der helfende Messias bleibt ohne Beistand. Es ist nur natürlich, dass Jesus den Petrus anspricht. Petrus war ja der Wortführer der Zwölf und hatte soeben (V. 33.35) seinen Beistand unter allen Umständen versprochen. So (οὕτως [houtōs]) konntet (ἰσχύσατε [ischysate]) ihr also nicht eine einzige Stunde mit mir wachen? (V. 40): Die Lebenshingabe hatten sie alle versprochen (V. 35). Kurze Zeit später hatten sie nicht einmal die Kraft (ἰσχύσατε [ischysate]271), eine Stunde lang für Jesus zu beten. Mit mir: Es war ein Privileg, dass sie der Messias in seine engste Gemeinschaft aufnahm. Aber sie verließen diese Gemeinschaft. Es wäre nun leicht, ein Bild des schwachen Menschen zu malen, der alles andere ist als jener stolze Nordatlantiker, der sagt „We can“. Besser ist es, dem Lied zu folgen, das mit den Worten beginnt: „Sieh nicht an, was du selber bist“ (EG 539,1), und den Blick auf den Erlöser zu richten. Nach dem Talmud bestrafte man die Wachen am Tempel, die eingeschlafen waren (b Tamid 28a). Hier, im Messias Jesus, „ist Größeres als der Tempel“ (Mt 12,6). Wie viel Grund hätte Jesus gehabt, die ausgewählten Drei zu tadeln! Stattdessen ermahnt er sie seelsorgerlich und liebevoll: Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach (V. 41). Dass wachen und beten zusammengehören, begegnet uns durch das ganze NT hindurch (Siehe auch Kol 4,2; 1Petr 4,7; 5,8; Eph 6,18). Dennoch hat jeder der beiden Begriffe sein eigenes Profil. Wachen umfasst auch in Mt 26,41 / Mk 14,38 die Überwindung des Schlafbedürfnisses, zugleich aber die helle Wahrnehmung der sich anbahnenden Ereignisse und das Wachbleiben der auf Gott gesetzten Hoffnung. Beten ist

269 Vgl. Davies-Allison III 496. 270 Schlatter 394: „sie taten, was sie in früheren Nächten schon oft in Gethsemane getan hatten, und suchten den Schlaf.“ 271 Vgl. Bauer-Aland 778. Zu jüdischen Parallelen vgl. Strack-Billerbeck I 994: Man bestraft „auch bei einer Überwältigung durch den Schlaf “ (b Tamid 28a).

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das „Reden des Herzens mit Gott“,272 der lebendige Kontakt, in dem der Mensch alles ihn Bewegende ausspricht und sich öffnet für den Willen und die Führungen Gottes. All dies hat jetzt in Gethsemane höchste Dringlichkeit. Sonst droht das Erliegen im πειρασμός [ peirasmos], vor dem gerade das Vaterunser bewahren will: „und bringe uns nicht in Versuchung hinein“ (Mt 6,13). Unzweifelhaft weckt hier Jesus die Erinnerung an das Vaterunser. Die Versuchung, vor der er die Jünger bewahren will, ist ihr Abirren vom Glauben an ihn (vgl. V. 30ff ). Bis heute gibt das beigefügte Wort Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach manche Fragen auf. Ist der Heilige Geist gemeint, der dem schwachen Menschen zu Hilfe kommen will und der „Paraklet“ (Johannesevangelium passim) genannt werden kann? Eine solche Interpretation gäbe einen guten Sinn. K. H. Rengstorf neigt offensichtlich zu dieser Auffassung, wenn auch seine Ausführugen im ThWNT nicht ganz eindeutig sind.273 Deutlicher kommt dies zum Ausdruck im πνεῦμα-Artikel von E. Schweizer im selben Band des ThWNT.274 Schweizer geht zurück auf Ps 51,14. Er meint, dass in Mk 14,38 / Mt 26,41 „der dem Menschen verliehene Geist Gottes gemeint ist, der gegen die menschliche Schwachheit kämpft“.275 Zur Unterstützung könnte man Josephus in Ant IV, 213 zitieren: τὸ περὶ αὐτοὺς πρόθυμον τοῦ θεοῦ [to peri autous prothymon tou theou].276 Oder ist in Mt 26,41 der Geist des Menschen gemeint, der im Widerspruch zum schwachen Fleisch das Gute und Gott Wohlgefällige will? Wir hätten es dann mit der jüdischen Erfahrung des gespaltenen Menschen zu tun. Sie begegnet uns bei Paulus („Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“, Röm 7,18) wie in Qumran („ich gehöre zur ruchlosen Menschheit, zur Menge des frevelnden Fleisches“, 1QS XI, 9) und im guten und bösen Trieb der Rabbinen. Auch eine solche Deutung gibt einen guten Sinn. – In unseren Augen gibt den Ausschlag, dass das Gebet der Jünger ja erst dem Kommen des Heiligen Geistes Gottes gelten soll. Sie haben ihn noch nicht. Aber sie sollen um seine Hilfe für sich selbst und für Jesus bitten. Sie befinden sich also auf der Ebene des bittenden David von Ps 51,13ff. Deshalb neigen wir der zweiten

272 Konfirmationsbuch der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart, 12. Aufl., 1967, 33. 273 Im Art. πρόθυμος usw., ThWNT, VI, 1959, 695ff. 274 Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, 394. 275 A.a.O. Ebenso Fiedler 393. 276 So deutete unser früherer Kommentar Maier II 384f. Auf den Geist Gottes deutet auch Irenäus AdvHaer V, 9,2.

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der oben angeführten Deutungen zu.277 Dabei ist zu beachten, dass nach den Gesetzen der Grammatik der zweite Teil des Satzes betont ist, also: „obgleich der Geist willig ist, ist das Fleisch schwach“.278 Gerade die Betonung der Fleisches-Schwachheit soll die Jünger zum Gebet anspornen – ein Gedanke, der wiederum gut zu der Deutung auf den menschlichen Geist passt. Letzten Endes muss man aber beide Deutungen nebeneinander stehen lassen. Eins sei noch hervorgehoben: In Mt 26,41 zeigt sich, dass Jesus sogar während des schwersten Gebetskampfs seines Lebens immer noch voll Liebe an die ihm anvertrauten Jünger denkt (vgl. Joh 17,12). Schlatter nannte dies „die unnachahmliche Art seiner Freundlichkeit“.279 In V. 42 betet Jesus ein zweites und in V. 44 ein drittes Mal. Diese Dreimaligkeit des Gebets kann kein Zufall sein. Sie entspricht dem dreimaligen Gang der Versuchung in Mt 4,1-11. Demnach wäre Gethsemane nicht nur der schwerste Gebetskampf seines Lebens, sondern auch seine schwerste Versuchung gewesen. Jesus hätte die Möglichkeit gehabt, auf kurzem Weg die Ölbergkuppe zu erreichen und von dort in die Wüste zu entfliehen.280 Mehr noch: Er hätte den Kreuzestod ablehnen und den Vater um „mehr als zwölf Legionen Engel“ (V. 53) bitten können, um alle Verfolger in die Flucht zu schlagen. Er tat es nicht. Wieder ging er weg, ein zweites Mal (V. 42): Wohl an denselben Platz wie beim ersten Mal. Lukas sagt, das sei „etwa ein Steinwurf weit“ von den drei Jüngern entfernt gewesen (Lk 22,41). Es steht außer Zweifel, dass die drei, solange sie noch nicht eingeschlafen waren (vgl. Mt 25,5), die Worte des lauten Gebets Jesu hören und später bezeugen konnten. Diesmal betete Jesus: Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, es sei denn, dass ich ihn trinke, dann geschehe dein Wille. Fast alle Exegeten bemerken, dass dieses Gebet anders ist als das erste in V. 39. Worin liegt der Unterschied? In V. 39 war der einzige und bestimmte Imperativ παρελθάτω [ parelthatō] („er gehe vorüber“). In V. 42 ist der einzige und bestimmende Imperativ γενηθήτω [genēthētō] = (es geschehe). Jesus hat deutlicher als beim ersten Gebetsgang erkannt, dass es ohne seinen Kreuzestod keine Erlösung gibt. „Eins mit dem Vater“ (Joh 10,30) bittet er jetzt konzentriert: der Wille (τὸ θέλημα [to thelēma]) des Vaters soll geschehen. Dieser Wille ist besser und wohltätiger als alle Weigerung. Er rettet Ungezählte (Offb 7,9) für das 277 Ebenso Bauer-Aland 1357; Schlatter 395; Luz IV 137; Zahn 702; Carson 54; France 373. 278 BDR § 447,11. 279 Schlatter a.a.O.; Zahn 702: „das Seelenheil der Jünger im Auge“. 280 Auf diese Möglichkeit macht Riesner a.a.O. aufmerksam.

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ewige Leben. Es ist nur lächerlich, wenn eines der modernen Glaubensbekenntnisse281 unserer Zeit formuliert, dass „Jesus Christus … genau wie wir … zugrunde ging“. Das historische Gethsemane-Geschehen wird dabei auf den Kopf gestellt. Jesus soll nach dem Willen des Vaters den Kelch trinken und er will ihn bewusst trinken. Wertvoll ist der Hinweis von StrackBillerbeck auf b Ber 32b.282 Dort wird überliefert: „Die früheren Frommen pflegten eine Stunde [im Gebet] zu verweilen.“ Aus V. 40 könnte man entnehmen, dass Jesus im ersten Gebetsgang eine Stunde gebetet hat. Auch jetzt wieder in V. 42? Es ist gut möglich, dass er von seinen Lehrern in der Synagoge von Nazaret eine solche Empfehlung erhalten hat. Aber das bleibt eine Vermutung. Für ihn war es in erster Linie eine Herzenssache, lang und gründlich in dieser so ganz zugespitzten Situation zu beten. Und er kam und fand sie wieder schlafend, denn ihre Augenlider waren schwer geworden (V. 43). Die Wendung von den „beschwerten“ Augenlidern taugt nicht, um eine literarische Verbindung zu Lk 9,32 herzustellen. Sie stammt aus der Alltagserfahrung. Im Unterschied zu V. 40f spricht Jesus nicht mehr mit den dreien. Nach Mk 14,40 konnten sie ihm nicht mehr antworten. Die innere Verlassenheit Jesu tritt jetzt umso schärfer hervor. Über allem bleibt das γενηθήτω τὸ θέλημά σου [genēthētō to thelēma sou] – im Übrigen ein direktes Zitat aus dem Vaterunser (Mt 6,10). Interessant ist, dass Irenäus Mt 26,43f auf die Geduld deutet, die Gott mit uns hat.283 Und er ließ sie und ging wieder weg und betete (V. 44): Die Worte πάλιν ἀπελθὼν προσηύξατο [ palin apelthōn prosēyxato] stimmen überein mit dem Anfang von V. 42. Auch auf diese Weise macht Matthäus deutlich, dass es sich in Gethsemane um ein einziges zusammenhängendes Gebet handelt. Jetzt liegt auf ἐκ τρίτου [ek tritou] (zum dritten Mal) ein besonderer Akzent (vgl. ἐκ δευτέρου [ek deuterou] V. 42). Was zum dritten Mal geschieht, trägt den Charakter des Endgültigen (vgl. 2Kor 12,8 sowie Hi 33,29f ). Die Aussage er ließ sie bedeutet mehr als „er ließ sie weiterschlafen“ oder „er ließ sie an ihrem Platz zurück“. Sie schließt ein gewisses Abschiednehmen, ja eine Art von Aufgeben ein.284 Die Gemeinschaft in der schwersten Stunde, die Jesus mit dem μετ᾿ ἐμοῦ [met’ emou] (V. 38.40) angestrebt hatte, war nicht möglich. Ganz allein musste er jene Nacht durchkämpfen. Auf ihm allein, und nicht auf der Mithilfe von Menschen, beruht der Neue Bund. Über den Inhalt des 281 Abgedruckt bei G. Ruhbach, Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, Gütersloh, 1971, unter Nr. 61. 282 Strack-Billerbeck I 994. 283 AdvHaer IV, 22,1. 284 Vgl. Bauer-Aland 252f.

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dritten Gebetsteils berichtet Matthäus im Unterschied zum ersten und zweiten Gebetsteil keine Einzelheiten mehr. Er begnügt sich mit der allgemeinen Feststellung, Jesus habe mit den gleichen Worten dasselbe noch einmal gebetet. Markus und Lukas lassen hier jede Bemerkung weg. Sagte Jesus noch einmal dasselbe, dann bleibt es also endgültig bei jenem es geschehe dein Wille von V. 42 und Mt 6,10. In V. 45 und 46 ist die Entscheidung gefallen. Danach (τότε [tote] ist zeitlich zu verstehen) kommt er zu den Jüngern und sagt zu ihnen (V. 45): Gemeint sind auch hier vermutlich die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes (V. 37.40.43). Ob und inwieweit die anderen acht die Vorgänge mitbekommen haben, können wir nicht mehr sagen: Die Worte Schlaft und ruht ein andermal! stehen auch bei Markus (14,41). Aber was bedeuten sie?285 Manche Ausleger verstehen sie als ironisch.286 Aber im Zusammenhang mit dem Gebetskampf von Gethsemane passt eine ironische Bemerkung einfach nicht in die Situation. Manche verstehen sie als Worte des Mitgefühls und seelsorgerlicher Hilfe für die Jünger:287 „Bald dürft ihr wieder schlafen!“ Aber von solch seelsorgerlicher Bemühung gerade in der ernsten Herausforderung dieser Situation zu sprechen, fällt wiederum schwer. Wir verstehen diese Worte deshalb als realistische Deutung der Situation: „Zum Schlafen ist ein andermal Zeit – jetzt nicht.“ Man hat fast den Eindruck, dass sich hier Welten gegenübertreten: die Normalwelt, in die die Jünger bald wieder zurückkehren (vgl. Mt 9,14f; Joh 21,3), und die ganz andere Welt einer göttlichen Erlösung, die in diesen Augenblicken anhebt. Deshalb die folgenden Worte: Siehe, die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn in die Hände von Sündern ausgeliefert wird. Die Sprache ist hier ganz johanneisch (vgl. Joh 7,30; 8,20; 12,23.27; 13,1; 17,1).288 Gemeint ist der heilsgeschichtliche Zeitpunkt (Stunde) der Übergabe Jesu an diejenigen, die ihn töten. Es sind Sünder (nicht „die“ Sünder!), die den Sündlosen hinrichten. Der Abschluss in V. 46 erinnert uns erneut an das Johannesevangelium (vgl. Joh 14,31): Steht auf! Lasst uns gehen! Siehe, er ist da,289 der mich ausliefert.290 Gerichtet ist diese Aufforderung sicherlich an alle elf. Sie atmet 285 τὸ λοιπόν ist schwierig zu übersetzen. Es kann auch sehr wohl bedeuten: „wollt ihr noch weiter schlafen?“, also mahnend oder aufrüttelnd gemeint sein. Vgl. Bauer-Aland 974; BDR § 129,3. 286 So Fiedler 394. Vgl. France 374; Carson 545; Luz IV 138. 287 So Zahn 703. Oder ist es ein „Jüngertadel“ (Sand 534)? 288 Vgl. aber auch Lk 22,53. 289 Statt „ist da“ kann mann auch übersetzen „ist ganz nahe“, vgl. Hengel-Schwemer 408; Luz IV 130; Schniewind 262. 290 Bauer-Aland übersetzen „Auf! Vorwärts!“ (Sp. 433).

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völlige Entschlossenheit. Jesus will nicht in einer Höhle oder an einem Ort, wo er sich verkriechen kann, überrascht werden, sondern frei dem Gegner entgegengehen. Er muss die Nähe des Judas und des Verhaftungskommandos wahrgenommen haben.

IV Zusammenfassung 1. In Gethsemane vollzieht sich das letzte und endgültige Einswerden Jesu mit dem Vater. Das Einssein von Vater und Sohn ist kein statischer Befund, sondern ein lebendiger und bis ins Letzte wahrhaftiger Prozess. 2. Der Weg zum Einssein ist das Gebet. Das bleibt auch für uns Christen maßgebend. 3. Kein Wunder, dass Gethsemane zum Muster aller christlichen Gebete wurde. Das Aussprechen dessen, was uns im Innersten bewegt, gehört ebenso dazu wie die stille oder ausdrückliche Voraussetzung: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ 4. Die niemals endende Diskussion, ob der Kreuzestod notwendig war, um uns Menschen zu erlösen oder ob es nicht einen anderen Weg gegeben hätte, findet in Gethsemane ihre Antwort: Der Kreuzestod Jesu war und ist der einzige Weg der Erlösung. Von daher ist alle Multikulturalität und alle Multireligiosität relativ. Jesus ist in der Tat der einzige Weg zum Heil (Mt 27,54; Lk 19,10; Joh 14,6). 5. Die Diskussion, ob uns Mt 26,36ff parr. einen „starken“ oder einen „schwachen“ Jesus zeigt,291 fängt nur Partikel der Wirklichkeit ein. Jesus hat als wahrer Mensch alle Tiefen unserer Existenz – Ängste, Trauer, Sehnsucht, dem Leiden auszuweichen – erfahren. Aber er hat seinen Willen mit dem Willen des Vaters so verbunden, dass er in der Gewissheit ans Kreuz ging, darin mit dem Vater eins zu sein. Gerade so hat er seinen Tod bejaht. Flucht und Verstecken hat er verweigert. 6. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Ausleger ganz unterschiedlich mit Gethsemane umgingen. Das beginnt bei der Frage der Historizität. Für Bultmann war Mk 14,32-42 parr. eine „Einzelgeschichte ganz legendarischen Charakters“.292 Für Hengel-Schwemer ist sie „sicher keine spätere Erfindung der Gemeinde“, sondern als geschichtliche „schmerzvolle Erinnerung“ zu verstehen.293 Während für David Friedrich Strauß die synoptische Gethsemanegeschichte, wenn sie denn wahr wäre, „ein sehr demüthigender Rückfall“ der 291 Vgl. Luz IV 139ff. 292 Bultmann, Gesch, 288. 293 Hengel-Schwemer 587.

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sieghaften Stimmung Jesu gewesen wäre, den „Jesus nicht vorausgesehen haben könnte“,294 staunte Johann Albrecht Bengel über das heilsgeschichtliche Wunder: „Im Garten Eden nahm die Sünde ihren Anfang, in einem Garten [= Gethsemane] fängt an die Erlösung.“295 Das Gebet Jesu in Gethsemane bleibt ein Ereignis, das die Kirche im Ganzen und jeden Einzelnen immer wieder herausfordert, den eigenen Weg mit Gott, vor allem den Weg zur Erlösung, neu zu bedenken (vgl. EG 91).

2. Der Prozess, 26,47–27,30 2.1 Die Gefangennahme Jesu, 26,47-56

I Übersetzung 47 Und während er noch redete, siehe, da kam Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Menge mit Schwertern und Knüppeln, die von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes gesandt worden war. 48 Der aber, der ihn auslieferte, hatte ihnen ein Erkennungszeichen gegeben und gesagt: Wen ich küsse, der ist es.1 Nehmt ihn fest! 49 Und sofort ging er auf Jesus zu und sagte: Sei gegrüßt, Rabbi!, und gab ihm einen Kuss. 50 Jesus aber sagte zu ihm: Mein Freund, dazu also bist du gekommen. Darauf kamen sie herbei, legten die Hände an Jesus und nahmen ihn fest. 51 Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, streckte die Hand aus, zog sein Schwert und versetzte dem Knecht des Hohenpriesters einen Hieb und schlug ihm das Ohr ab. 52 Da sagt Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert wieder an seinen Platz! Denn alle, die ein Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen. 53 Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater um Hilfe bitten kann, sodass2 er mir auf der Stelle mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellt? 54 Wie sollen denn die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss? 55 In jener Stunde sagte Jesus zu der Menge: Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgerückt, um mich gefangen zu nehmen. Täglich saß ich im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht festgenommen. 56 Das aber ist alles geschehen, damit die Schriften der 294 295 1 2

Abgedruckt bei Kümmel 154. Abgedruckt Brüdersegen 399. Vgl. BDR § 277,3. Vgl. BDR § 442,9.

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Propheten erfüllt werden. Da verließen ihn die Jünger samt und sonders und flohen.

II Struktur Auch ohne Praesentia historica (einzige Ausnahme V. 52) ist die Geschichte äußerst dramatisch erzählt. Es geht bei diesem Gefangennahmebericht zunächst um die historische Darstellung: So war es, als man Jesus verhaftete. Jeder Evangelist, der die Passion erzählte, musste am Historischen interessiert sein. Auf den zweiten Blick zeichnen sich dann aber auch zwei theologische Schwerpunkte ab. Der erste ist das Bestehen auf der Erfüllung der heiligen Schriften (V. 54.56). Der zweite liegt auf dem Vergleich zwischen dem Verhalten des Messias Jesus und dem Verhalten der Jünger. Verrat, tapferer Einsatz für Jesus, Verlassen des Messias und Flucht: All das ist bei den Jüngern vorhanden. Hier gehen alle Evangelien parallel: Mt 26,47-56; Mk 14,43-52; Lk 22,4753 und Joh 18,2-12. Bei der Auslegung sind dann die Verhältnisse näher ins Auge zu fassen. Der Aufbau von Mt 26,47-56 lässt sich gut erfassen: 1) Das Verhaftungskommando erscheint (V. 47), 2) die Begegnung Jesus-Judas (V. 48-50), 3) der Versuch des Eingreifens seitens der Jünger (V. 51-54), 4) Worte des gefangenen Jesus an das Verhaftungskommando (V. 55-56a), 5) die Flucht der Jünger (V. 56b).

III Einzelexegese Noch während Jesus mit den Jüngern redete, erschien das Verhaftungskommando (V. 47). Die Art, wie Matthäus dieses Geschehen darstellt, gibt zu denken. Er spricht nämlich zuerst von Judas: da kam Judas. Sofort fügt er an: einer von den Zwölfen. Er erinnert damit an Mt 10,4; 26,14.25. Für Matthäus ist es wichtig, dass einer von den zwölf Aposteln dazu fähig war, Jesus ans Kreuz zu liefern. Die Kirche darf niemals aus dem Gedächtnis verlieren, wozu ihre berühmtesten Exponenten fähig sind. Auch Mt 27,3ff dokumentiert das hohe Interesse des Matthäus an der Gestalt des Judas. Erst nach Judas erwähnt er das übrige Verhaftungskommando. Er beschreibt es als eine große Menge mit Schwertern und Knüppeln, die von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes gesandt worden war. Die Nennung der Hohenpriester und Ältesten des Volkes stellt die Verbindung mit Mt 21,23 und 26,3 her. Die Behörde, die seit 21,23 die Untersuchungen führte und den Prozess einleitete, kommt jetzt zum Handeln. Für große Menge würden wir heute sagen: ein „großer Haufen“. Das deutet nicht gerade auf eine streng disziplinierte Militär-

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einheit, etwa der Römer. Es sind also jüdische Polizeikräfte, vermutlich Tempelpolizei.3 Darauf deutet auch die Erwähnung von Knüppeln. Zwar schreiben Strack-Billerbeck, Schwerter und Stangen seien am Sabbat verboten gewesen. Sie berufen sich dabei auf Schab VI, 4.4 Aber erstens bleibt dies gerade in Schab VI, 4 / b Schab 63 a umstritten, zweitens geht es dort um einen Einzelnen, der mit den betreffenden Waffen ausgehen will, nicht aber um den Einsatz der Tempelpolizei o.Ä. Zum Gebrauch von Schwertern bei den Juden jener Tage vgl. Lk 22,38 und sogleich V. 51. Es sind also nur Juden bei der Verhaftung Jesu tätig gewesen. Judas aber war es, der ihnen den Weg nach Gethsemane zeigte, wo sich Jesus befand. Joh 18,2f und Mk 14,43; Lk 22,47 bestätigen den Bericht des Matthäus. Vers 48 informiert uns, dass Judas dem Verhaftungskommando ein Erkennungszeichen (σημεῖον [sēmeion]5) genannt hatte, das auch in Dunkelheit und Wirrwarr einen raschen Zugriff ermöglichte (Nehmt ihn fest!). Es bestand in einem Kuss, den er Jesus geben wollte. „Der Kuß als Ehrenbezeugung war unter den Rabbinen gang u. gäbe.“6 Man küsste Kopf, Hand oder Fuß.7 Aus V. 48 kann man schließen, dass Jesus ebenso einfach und üblich gekleidet war, wie seine Jünger. Auch seine Gestalt war demnach nicht auffällig (vgl. Jes 53,2). Vers 49 ist kurz und das Geschehen im Großen und Ganzen klar: Judas verrät Jesus mit dem Kuss. Über die Eindrücklichkeit dieses Vorgangs braucht man kaum viele Worte zu verlieren. Es genügt, an die sprichwörtlichen Wendungen von einem „Judas“, einem „Judaskuss“, einem „Judaslohn“ oder an das „Der Verräter schläft nicht“ zu erinnern.8 Zum Einzelnen: Die Bemerkung sofort verrät, dass die Verhaftung ohne großes Getümmel erfolgen konnte. Auch Joh 18,3ff gibt keinen Anlass, an ein allgemeines Getümmel zu denken. Zu χαῖρε [chaire] vgl. Mt 27,29; 28,9. Auffällig ist die Anrede Rabbi für Jesus. Sie begegnete uns im Munde des Judas schon beim letzten Mahl (26,25). Sonst vermeidet Matthäus im Zwölferkreis das jüdische Rabbi. Vermutlich kommt hier die innere Distanz des Judas zu Jesus zum Ausdruck.9

3 Vgl. Lk 22,52. Anders Zahn 703, der auch mit „römischen Soldaten“ rechnet. Aber sollten diese unter dem Befehl der jüdischen Tempelpolizei gestanden haben? Wie Zahn Fiedler 395; Carson 546. Wie wir France 374f; Hengel-Schwemer 588; Beare 516. 4 Strack-Billerbeck I 995. 5 Mk 14,44: σύσσημον. 6 Strack-Billerbeck I 995. 7 A.a.O. 8 G. Büchmann, Geflügelte Worte und Zitatenschatz, Neuausgabe, Zürich, o. J., 39. 9 Es gibt keinen Grund, sie als „ironisch“ zu verstehen. Gegen France 375.

2. Der Prozess, 26,47–27,30

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Jedenfalls verweigert er ihm in dieser letzten Zeit den Titel „Herr“ (κύριος [kyrios]). Die rührseligen Erzählungen von einem Judas, der gespalten gewesen sei und Jesus teils liebte, teils ablehnte,10 haben also keine Verankerung in den biblischen Texten. Für gab ihm einen Kuss steht in V. 49 κατεφίλησεν [katephilēsen]. Hier kommen mehrere Deutungen infrage. Entweder liegt eine lediglich „stilistisch begründete Abwechslung“ gegenüber dem φιλεῖν [ philein] von V. 48 vor.11 Oder es handelt sich um eine Intensivform, die einen „innigen u brennenden Kuß (Lk 7,38) bezeichnet“.12 In letzterem Fall könnte man in zweierlei Richtung weiterdenken: 1) Das κατεφίλησεν [katephilēsen] steigert die Verwerflichkeit des Verrats durch einen so intenisven Kuss, 2) der langanhaltende Kuss soll Jesus länger an seinem Standort festhalten und dadurch die Verhaftung erleichtern.13 Die Möglichkeiten 1) und 2) schließen sich gegenseitig keineswegs aus, und wir neigen dazu, beides zu vermuten. Im Übrigen bleibt die Frage offen, ob die Jünger wie die Rabbinenschüler ihren Meister gelegentlich mit einem Kuss verehrten.14 Fest steht jedoch, dass der unehrliche oder verräterische Kuss im AT eine lange Tradition hat. Man denke an den Kuss Jakobs in Gen 27,26f, oder an Gen 33,4, wo die Rabbinen einen Kuss der Falschheit vermuteten,15 oder an Joabs Kuss bei der Ermordung Amasas in 2Sam 20,9, oder auch an 2Sam 15,5f; Spr 7,13; 27,6; Sir 29,5; 37,1ff. In der ganzen Menschheitsgeschichte bewertet man den Missbrauch eines Liebes- oder Verehrungszeichens mit Abscheu und Empörung.16 Ob Judas mit dem Kuss „seine Tat bis zum letzten Augenblick“ bedecken wollte, wie Schlatter17 meint? „Er hat“ – so Schlatter – „bei der ganzen Sache nichts getan, als daß er Jesus grüßte, wie es dem Jünger ziemt“.18 Eine solche Erklärung bleibt möglich. Aber nach den Vorgängen beim letzten Mahl (Mt 26,20ff; Joh 13,21ff ) ist sie nicht sehr naheliegend. Man sollte in die Berichte nicht zu viel hineininterpretieren. Am besten bleibt man bei der pragmatischen Bedeutung des Kusses als „Erkennungszeichen“ (Mt 26,48).19 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Dazu Luz IV 157ff. So G. Stählin, Art. φιλέω usw., ThWNT, IX, 1973, 138,240. So E. Lohmeyer in seinem Mk-Kommentar, referiert bei Stählin a.a.O. Vgl. Maier II 392. Vgl. Stählin a.a.O. 139f. Strack-Billerbeck I 995. Vgl. auch Brüdersegen 402. Schlatter 396. A.a.O. So auch Stählin 138ff; Fiedler 394. Ob im „küssen“ von Mt 24,48f auch ein Kontrast zum „küssen“ von Ps 2,11 liegen soll, kann man überlegen.

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Der erste Satz in V. 50 lässt sich bis heute nur schwer verstehen. Luz erklärt entwaffnend ehrlich, er könne für das kurze Sätzchen „keinen wirklich plausiblen Deutungsvorschlag machen“.20 Carson stellt angelsächsisch-nüchtern fest, diese Worte seien „notoriously ambiguous“.21 Selbst der stets hartnäckig um Lösungen bemühte Zahn gesteht, sie seien „schwer zu erklären“.22 Grammatik und Wörterbuch bleiben unsicher.23 G. Stählin listet fünf Übersetzungmöglichkeiten auf:24 1) „Freund, wozu bist du gekommen?“; 2) „Freund, dazu bist du gekommen?“; 3) „Freund, tue, wozu du hier bist!“; 4) „Freund, es geschehe, wozu du gekommen bist!“; 5) „Freund, wozu du gekommen bist, weiß ich“. Ein wichtiges Kriterium wird die Einordnung in den Kontext sein. Zunächst halten wir fest, dass sowohl nach Matthäus (26,50) als auch nach Lukas (22,48) Jesus die Initiative zu einer Anrede ergreift (Markus lässt die Szene ebenso wie Johannes aus). Wir erinnern uns dabei, dass in der Bibel jedes Gesprächsangebot auch die Chance zur Umkehr eröffnet. So vermutlich auch hier. Doch Jesus bleibt ohne Antwort. (Mein) Freund, ἑταῖρε [hetaire], findet sich noch in Mt 20,13 und 22,12, jedes Mal als Ausdruck von Distanz. Es gibt zu denken, dass Jesus weder den Namen des Judas gebraucht noch eine Jüngeranrede wie etwa τέκνον [teknon] („Kind“, vgl. Mk 10,24). Der Distanziertheit des Rabbi entspricht die Distanziertheit des Freund.25 Die Deutung von Freund als „ironisch“26 passt nicht in die Situation. Aber was bedeutet das griech. ἐφ᾿ ὃ πάρει [eph’ ho parei]? Oben erwähnten wir die fünf von Stählin aufgelisteten Übersetzungsmöglichkeiten. Luz entscheidet sich für eine Variante von Nr. 227 und übersetzt „dazu bist du hergekommen“.28 Jesu Worte seien „vorwurfsvoll“.29 In der Tat wird man in dieser Richtung deuten müssen. Denn eine Frage „wozu bist du gekommen?“ (Nr. 1) erscheint, auch wenn sie von der Vulgata vertreten wird, nach der Voraussage des Judasverrats beim letzten Mahl weniger einleuchtend und gibt auch das Relativpronomen „kaum zutreffend“30 wieder. Nr. 5 in der Liste Stählins („wozu du gekommen bist, weiß ich“) passt mit der Prophetie 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Luz IV 164. Carson 547. Zahn 703,68. Vgl. BDR § 293,12; 300,3; Bauer-Aland 1181f; 1261. Stählin a.a.O. 139,241. Vgl. Schlatter 396; France 375. Luz IV 164. Vgl. Stählin a.a.O. Luz IV 154. Luz IV 165. So Stählin a.a.O. Anders mein Kommentar Maier I 392f.

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beim letzten Mahl schlecht zusammen. Nr. 3 und 4 („tue, wozu du hier bist!“ / „es geschehe, wozu du gekommen bist!“) sind dagegen eher diskutabel. Sie legen aber ein Einverständnis zwischen Jesus und Judas nahe, das doch nach Mt 26,24; Joh 13,21 gerade nicht anzunehmen ist.31 So bleibt Nr. 2 als die nächstliegende Möglichkeit. Wie Luz und andere32 gehen wir also nicht von einer Frage, sondern von einer Feststellung aus und übersetzen deshalb dazu also bist du gekommen. Diese Übersetzung rückt die Versündigung des Judas vor Augen. Während die anderen Apostel zum Gebet nach Gethsemane gekommen sind, kam er, um Jesus auszuliefern. Jesu Worte erinnern an Gottes häufige Anreden, mit denen er die sündigenden Menschen zur Verantwortung ruft. Siehe auch Gen 3,9ff; 4,9ff; Jona 4,4ff. Die Einschätzung als „vorwurfsvoll“ in Mt 26,5033 genügt nicht und erreicht nicht die Tiefe der Sünde. Sehr kurz schildert Matthäus die Gefangennahme. Sie ist aber die Grundlage des gesamten anschließenden Prozesses: Darauf kamen sie herbei, legten die Hände an Jesus und nahmen ihn fest. Von einer Fesselung ist direkt nicht die Rede, anders in Joh 18,12. Die Verse 51-54 berichten davon, dass von Jüngerseite in das Geschehen eingegriffen wurde: Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, streckte die Hand aus, zog sein Schwert und versetzte dem Knecht des Hohenpriesters einen Hieb und schlug ihm das Ohr ab (V. 51). Die Namen der Betreffenden nennt Matthäus nicht. Sie fehlen auch bei Markus und Lukas. Erst Johannes gibt uns die Namen. Man sollte diese Namen aber nicht auf das Konto christlicher Legendenbildung setzen.34 Matthäus kann wie Markus und Lukas seine Gründe gehabt haben, die Namen zu verschweigen. Johannes jedenfalls gefährdete niemand mehr, wenn er später die Namen niederschrieb (Joh 18,10). Es war also Petrus, der dem Malchus das Ohr abschlug. Auch hier bleiben die Einzelheiten interessant. Da ist zunächst die Tatsache, dass die Jünger ihren Herrn unter Einsatz ihres eigenen Lebens verteidigen wollten. Sie waren bis dahin wirklich mit Jesus. Siehe auch Lk 22,49. Zum Schwert, das Petrus zog, bemerken Strack-Billerbeck: „Das Tragen von Waffen war nicht gerade selten“.35 Die Mischna bestätigt dies (Schab VI, 4). Auch Luz räumt ein, Waffentragen sei „damals … nichts Außerordentliches“ gewesen.36 Dass die Jünger sich mit Schwertern auf Gethsemane vorbereiteten, geht aus Lk 31 32 33 34 35 36

So aber z.B. Fiedler 396; Beare 516. Vgl. wieder Stählin a.a.O. So Luz IV 165. So leider auch Hengel-Schwemer 235.589; Beare 518. Vgl. dagegen Carson 547. Strack-Billerbeck I 996. Luz IV 165.

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22,36.38 hervor. Matthäus spricht von dem (Artikel!) Knecht des Hohenpriesters, ebenso alle anderen Evangelisten. Bis heute bleibt der Artikel von Carsten Peter Thiede über Malchus instruktiv.37 Sein Name, griech. Μάλχος [Malchos], abgeleitet vom semitischen ‫[ ֶמֶלְך‬mäläk], „König“, war demnach „ein verbreiteter nabatäischer Eigenname, den auch Könige trugen (Malchus I., 50–28 v.Chr.; Malchus II., 40–71 n.Chr.)“.38 Des Weiteren findet sich dieser Name bei den Arabern. So erwähnt Josephus einen Μάλχον τὸν Ἄραβα [Malchon ton Araba].39 Vermutlich war also Malchus nabatäischer oder arabischer Herkunft.40 Die Redewendung der Knecht des Hohenpriesters deutet darauf hin, dass er eine wichtige Stellung im Haushalt des Hohenpriesters einnahm und sein Vertrauen besaß. Als gebürtiger Nabatäer oder Araber hatte er wohl kaum Hemmungen, gegen einen umstrittenen jüdischen Messias vorzugehen. Dass Petrus bei seiner Gegenwehr zuerst auf Malchus stieß, lässt außerdem vermuten, dass er sich an der Spitze des Verhaftungskommandos befand. Petrus hat ihn ernsthaft verwundet. Das Abhauen eines Ohres war keine Kleinigkeit. Im 1. Jh. v.Chr. machte Antigonus den Hyrcanus dadurch zum Hohenpriester untauglich, dass er ihm die Ohren abschnitt (vgl. dazu Lev 21,17ff ) oder – nach anderer Überlieferung – abbiss.41 Eine rabbinische Parallele dazu findet sich in der Tosefta Para III, 8.42 Aus der Bemerkung, dass Petrus eine μάχαιρα [machaira] benutzte (V. 51), also vermutlich ein Kurzschwert, hat man geschlossen, „daß es sich nicht um einen Zufallstreffer handelte“.43 Jesus hat aber den Malchus wieder geheilt (Lk 22,51). Jesus schreitet sofort ein: Da sagt Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert wieder an seinen Platz! Denn alle, die ein Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen (V. 52). Dem Kontext zufolge hat Petrus gehorcht. Die Autorität des Meisters steht weiter fest. Den Hörern und Hörerinnen des Evangeliums bleibt es erstaunlich, dass Jesus noch während seiner Gefangennahme so reden konnte. Aber im jüdischen Prozess behielt der Beschuldigte seine Menschenwürde, jedenfalls solange das Verfahren lief. Was bedeuten nun die Worte alle, die ein Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen? Es gibt sicherlich eine Affinität zu anderen alttestamentlichen Worten wie Jer 47,6 oder Hes 21,33ff, was die Formulierung an37 38 39 40

GBL 2, 916. Thiede a.a.O. Ant XIII, 131. Thiede a.a.O. Man muss jedoch ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, dass Malchus ein fanatischer Proselyt war. Vgl. Maier II 394. 41 Josephus Ant XIV, 366. 42 Vgl. Ralph Marcus in der Loeb Classical Library zu Ant IV, 366; Thiede a.a.O. 43 Thiede a.a.O.

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belangt. Es gibt ferner eine Affinität zum Ius talionis: Der Mensch wird gerechterweise so bestraft, wie er gefrevelt hat. Schließlich gibt es eine Affinität zu Gen 9,6 mit dem Schutz des menschlichen Lebens. Alle diese Bezüge erklären aber Mt 26,52 nicht. Warum darf Petrus nicht einmal den Messias und Heiland der Welt verteidigen? Für die Antwort gibt V. 53 den entscheidenden Hinweis: Weil er sich sonst in Gottes Zuständigkeit und Herrschaft einmengt. Es ist Gottes Sache, seinen Sohn und Messias zu verteidigen – oder auch nicht! Man kann den Grundsatz noch weiter erstrecken und mit Recht aus Mt 26,52 die Folgerung ziehen: Die Gemeinde Jesu, das heißt die Kirche, darf für sich selbst nicht zu den Waffen greifen, nicht einmal zur Verteidigung. Siehe auch Röm 12,19. Die Gemeindeglieder dürfen nur als Glieder ihres Staates zu den Waffen greifen. Sonst müssen sie auf Gottes Schutz und Fürsorge vertrauen. Der Satz „Wer ein Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen“ ist also kein pazifistischer Satz.44 Er gilt nicht für den gerechtfertigten Krieg, nicht für die Strafjustiz, nicht für die Polizei, auch nicht für den asymmetrischen Krieg. Wer diesen Satz missachtet, wird durchs Schwert umkommen, das heißt im Verlauf der Geschichte Gottes gerechte Strafe erleiden.45 Siehe auch noch Offb 13,10. Auffällig sind die beiden Verse 53 und 54. Sie fehlen bei Markus und Lukas, sind also Matthäus-Sondergut. Sie haben jedoch eine inhaltliche Parallele in Joh 18,11, wie überhaupt Matthäus und Johannes in ihren Passionsberichten eng nebeneinanderstehen. Oder meinst du, – angeredet ist Petrus – dass ich nicht meinen Vater um Hilfe bitten kann, sodass er mir auf der Stelle mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellt? (V. 53): Mit Zahn halten wir zunächst fest, dass Jesus trotz Gethsemane von „dem unbedingten Glauben an die sofortige Erhörung seines Gebets“ erfüllt war.46 Keine Enttäuschung, kein Misstrauen, keine Verzweiflung, sondern das ganze Einverständnis mit dem Kreuzesweg. Ich und der Vater sind eins (Joh 10,30): Das zeigt schon die Rede von meinem Vater. Meinst du (δοκεῖς [dokeis]) ist ähnlich wie in Mt 17,25; 18,12; 21,28 ein Ausdruck dafür, dass Petrus durchaus zu dieser Überzeugung kommen kann. Jesus kann also tatsächlich (δύναμαι [dynamai]) den Vater um Hilfe bitten, und er wird dann tatsächlich auf der Stelle mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellen. Das ist hyperbolisch gesprochen, zur Erleich44 France 375f. Anders Luz IV 166: bei Jesus ein „radikaler, kompromißloser Pazifismus“ (und das angesichts Mt 21,44; 22,7?). Wie wir auch Schniewind 264. 45 Vgl. Schlatter 397. Hengel-Schwemer 589,16: „Das Wort richtet sich auch gegen den jüdischen Zelotismus.“ Jüdische Stellen bei Strack-Billerbeck I 444ff. 46 Zahn 704.

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terung menschlichen Verstehens. Oft genügte ein einziger Engel Gottes, um die Menschheitsgeschichte zu verändern (Ex 14,19ff; Num 22,21ff; Dan 10,11ff.20ff; 2Kön 19,35). Andererseits sind es in Dan 7,10 ‫ֶאֶלף ַאְלִפים‬ [ʾäläph ʾalphīm], „Tausendmal Tausende“, ja ‫[ ִרבּוֹ ִרְבָון‬ribbō ribwān], „zehntausendmal Zehntausende“ von Engeln, die Gott dienen. Was sind da zwölf47 Legionen? Man berechnet eine römische Legion auf ca. 6000 Mann.48 Augustus besaß 25 Legionen als Kern des römischen Heeres. Das griech. ἄρτι [arti] bedeutet „im selben Augenblick“, auf der Stelle.49 Warum hat Jesus keine solche Bitte ausgesprochen? Vers 54 gibt die Antwort: Wie sollen denn die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss (ὅτι οὕτως δεῖ γενέσθαι [hoti houtōs dei genesthai])? Auf der ersten Ebene erinnern wir uns, dass Matthäus ein ausgesprochener Schrift-Theologe ist, der ständig auf die Erfüllung der Heiligen Schrift hinweist (1,22f; 2,5f.15.17f.23; 4,10.14ff; 8,16f; 12,15ff; 21,7ff ). So auch hier. Auf der zweiten Ebene wird uns erneut bewusst, dass Jesus selbst Schriftgelehrter war und sich immer neu an der Schrift als dem Wort seines Vaters orientierte. Die Schriften (αἱ γραφαί [hai graphai]) bedeuten die Zusammenfassung aller heiligen Schriften Israels: der Tora, der Propheten (Nebiim) und der übrigen Schriften (Ketubim). Sie müssen sich erfüllen, und zwar bis zum letzten Buchstaben, ja bis zum kleinsten Häkchen (Mt 5,18). Mt 26,54 nimmt Mt 5,18 wieder auf.50 Nach Lk 24,44ff hat auch der Auferstandene aus dem „Gesetz des Mose, den Propheten und den Psalmen“ nachgewiesen, „dass Christus leiden wird und auferstehen“. Das ist also der Grund, weshalb Jesus auf die Bitte um Engel-Hilfe verzichtet: Der in der Schrift zum Ausdruck gekommene Wille des Vaters soll geschehen. So hat er es in Gethsemane im Gespräch mit dem Vater bestätigt (vgl. V. 39). Interessant ist die Wendung dass es so geschehen muss, griech. ὅτι οὕτως δεῖ γενέσθαι [hoti houtōs dei genesthai]. Offensichtlich ist sie aus Dan 2,28 abgeleitet, wo Daniel verkündet, „was geschehen muss (ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai]) am Ende der Zeiten“. Das muss ist ein göttliches „muss“, das uns auch in Offb 1,1 begegnet. Jesus sieht sich also als eschatologische ErlöserGestalt, eben als Messias. Siehe auch Joh 18,36. Schon einmal hat der Teufel auf die Engel hingewiesen, die Jesus beschützen sollten und sich dabei auf Ps 47 Bezieht sich die „zwölf “-Zahl auf die zwölf Stämme Israels, die sich in Jesus verkörpern (Maier II 395)? 48 R.P. Gordon, Art. Legion, GBL 2, 876. 49 Bauer-Aland 221. 50 Als „Erzählerbemerkung“ versteht Luz IV 168 unseren V. 56a, was aber schon durch Zahn 704,69 widerlegt wurde.

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91,11f gestützt (Mt 4,5ff ). Jesus hat aber auch dort eine solche Engelhilfe abgelehnt, weil sie mit seinem Leidens- und Erlösungsweg nicht vereinbar war. An anderen Stellen haben die Engel Jesus durchaus gedient (Mt 4,11; Lk 22,43f ). Siehe auch noch 2Kön 6,15ff; Joh 18,36. Fazit: Jesus ist kein hilfloses Opfer der Vorgänge,51 sondern wählt bewusst den Weg ans Kreuz.52 In den beiden letzten Versen unseres Abschnittes richtet Jesus Worte an das Verhaftungskommando (dieses ist mit der Menge gemeint): Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgerückt, um mich gefangen zu nehmen (V. 55). Der Begriff λῃστής [lēstēs], Räuber, hat einen doppelten Sinn. Er bezeichnet a) den Straßenräuber, etwa an der gefährlichen Straße von Jerusalem nach Jericho (Lk 10,30ff ), b) den Zeloten, der im Aufstand gegen Rom und dessen Kollaborateure kämpft. Vermutlich spielt Jesus hier auf die Zeloten an. Jedenfalls ist λῃστής [lēstēs] bei Josephus „die ständige Bezeichnung der Zeloten“.53 Die Fügung der Geschichte und so etwas wie eine göttliche Ironie (Ps 2,4) wollte es, dass Jesus dann tatsächlich zwischen zwei Zeloten gekreuzigt wurde, und zwar anstelle eines zelotischen Offiziers, der stattdessen freigelassen wurde (vgl. Mt 27,15ff; Mk 15,27; Lk 23,1ff; Joh 18,40; 19,12). Jesu Wort Wie gegen einen Räuber … enthüllt ein Doppeltes: 1) Er weiß, dass sie ihn als zelotischen Aufrührer gegen den Kaiser bei den Römern anklagen werden; 2) er weiß, dass sie aus Angst vor dem Volk heimlich in der Nacht kommen. Im Kern aber geht es um seine Messianität.54 Jesus hält seinen Gegnern ihr widersprüchliches Verhalten vor: Täglich saß ich im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht festgenommen. Das täglich wird verstärkt durch das durative Imperfekt55 ἐκαθεζόμην [ekathezomēn] („täglich lehrte ich dauernd im Tempel“). Seine Tempel-Lehrtätigkeit wird bestätigt durch Lk 19,47; 21,37; 22,53. Interessant ist hier, dass Jesus seine gesamte Tätigkeit im Tempel während der Passionswoche als lehrte (διδάσκων [didaskōn]) bezeichnet. Darum also ging es: um ein Lehren und nicht um einen zelotischen Aufstand. Da habt ihr mich nicht festgenommen: aus Angst vor dem Volk, das einen tieferen Wahrheitssinn hatte als seine Führer, und auch deshalb, weil man ihn nicht einer einzigen Irrlehre überführen konnte (vgl. Joh 8,46). Schließlich sagt Jesus auch zu den Abgesandten der Hohen51 Gegen Dorothee Sölle in: Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, hrsg. von G. Ruhbach, Gütersloh, 1971, Nr. 61. 52 France 376. Dass Matthäus dafür kein passendes Bibelzitat gefunden habe, ist eine Behauptung, die ein professorales Wissen um die Psyche des Matthäus in Anspruch nimmt (gegen Fiedler 397). 53 K. H. Rengstorf, Art. λῃστής, ThWNT, IV, 1942, 263. 54 Rengstorf a.a.O. 287; Fiedler 397. 55 Bei BDR § 325,2 als iteratives Imperfekt verstanden.

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priester und Ältesten: Das aber ist alles geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt werden (V. 56). Kein Selbstmitleid, kein Zurückschlagen, keine Raffinesse der Verteidigung bestimmt die Aussagen Jesu, sondern ein geradezu lobpreisender Hinweis auf die Erfüllung der Heiligen Schrift (zweimaliges πληρωθῶσιν [ plērōthōsin], V. 54.56). Hier spricht er speziell von den Schriften der Propheten. Es ist also alles prophezeit, was in dieser Nacht geschieht. Prophezeit ist es zum Beispiel in Jes 53,4ff, aber auch in Jer 37,11ff; Jona 2,1ff (vgl. Mt 12,38ff; 16,1ff ); Sach 12,9ff. Nimmt man die Psalmen hinzu, die für Jesus einen prophetischen Charakter besaßen (Mt 22,43; Lk 24,44), dann müssen wir außerdem an Ps 22,2ff; 31,10ff; 41,8ff; 69,2ff denken.56 Übrigens setzt der Hinweis auf die Schriften der Propheten voraus, dass das Verhaftungskommando aus Juden bestand. Unsere Deutung von V. 47 wird also bestätigt. Aus dem letzten Satz von V. 56 hätten andere Schriftsteller einen ganzen Roman gemacht: Da verließen ihn die Jünger samt und sonders und flohen. Die betonte Stellung von πάντες [ pantes]57 versuchten wir durch die Übersetzung samt und sonders wiederzugeben. Jesus wurde also völlig allein gelassen. Was hätten die Jünger denn tun können? Vielleicht von Weitem folgen, wie es Mt 14,51f von dem jungen Mann in einer autobiografischen Skizze berichtet. Oder sich ostentativ ebenfalls verhaften lassen? Sie hätten den Gang der Ereignisse jedenfalls nicht mehr umbiegen können. Nach Joh 18,8 hatte Jesus selbst das Verhaftungskommando gebeten: „Lasst diese [= die Jünger] gehen!“ Und doch bleibt der Ruch des Versprechens von Mt 26,35. Und sie flohen: Petrus, Andreas, Johannes, Jakobus, Matthäus – sie alle. Die Jünger behielten unrecht (Mt 26,31ff ). Sacharja behielt recht (13,7).58

IV Zusammenfassung 1. Das Verhaftungskommando erreicht in Zusammenarbeit mit Judas sein Ziel, nämlich die unauffällige Gefangennahme Jesu. Auch das Böse hat auf dieser Erde Erfolg. 2. Jesus bleibt bis zum Schluss der prophetische Mahner seines Volkes. Seine Prophetie erfüllt sich. 3. Aus Mt 26,52 hat man gelegentlich den Schluss auf einen den Christen gebotenen „radikalen, kompromißlosen Pazifismus“ ziehen wollen.59 Schon 56 Vgl. Schniewind 264. 57 Vgl. BDR § 275,5. 58 Das Wort von R. Papa b Schab 32a, auf das Strack-Billerbeck hinweisen (I 997), passt als eher triviales Sprichwort nicht zu Mt 26,56. 59 So Luz IV 166.169. Auch der Ev Erw Kat 302.380 neigt in diese Richtung.

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das Schleitheimer Bekenntnis der Täufer von 1527 hielt es – ohne Mt 26,52 zu zitieren – für unmöglich, dass Christen eine Obrigkeit sein und das Schwert gebrauchen könnten.60 Aber Christus bejaht den Schwertgebrauch des Staates (Mt 22,21; Joh 19,11), und Paulus hat ihn in Röm 13,1ff richtig interpretiert. Dagegen untersagt Mt 26,52 den Gewaltgebrauch in Dingen des Glaubens oder von Seiten der Kirche. „Selbstmordattentäter“ wie im gegenwärtigen Islam sind durch Mt 26,52 ausgeschlossen. 4. Mt 26,47-56 zeigt erneut die innere Einheit von Gott dem Vater und Gott dem Sohn. 5. Zweimal wird durch Jesus betont, dass sich in seinem Leiden die Schrift erfüllt. Für die Christen gibt es keinen Messias ohne Passion. 6. Die gelegentlichen historischen Zweifel am Bericht des Matthäus61 lassen sich nicht begründen.

2.2 Jesus vor dem Hohen Rat, 26,57-68

I Übersetzung 57 Diejenigen, die Jesus festgenommen hatten, führten ihn ab zu Kajaphas, dem Hohenpriester, wo die Schriftgelehrten und die Ältesten sich versammelt hatten. 58 Petrus aber folgte ihm von Weitem bis zum Palast des Hohenpriesters und ging hinein und setzte sich unter die Diener, um zu sehen, wie es ausginge. 59 Aber die Hohenpriester und der ganze Hohe Rat suchten ein falsches Zeugnis gegen Jesus, damit sie ihn zum Tode verurteilen könnten. 60 Aber sie fanden es nicht, obwohl viele falsche Zeugen auftraten. Doch zuletzt traten zwei auf. 61 Sie sagten: Dieser da hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und binnen drei Tagen62 wieder aufbauen. 62 Und der Hohepriester stand auf und sagte zu ihm: Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich aussagen? 63 Jesus aber schwieg. Und der Hohepriester sagte zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes. 64 Jesus sagt zu ihm: Du hast es gesagt. Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Kraft sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen. 65 Da zeriss der Hohepriester seine Kleider mit den Worten: Er hat gelästert! Was brauchen wir noch weiter Zeugen? Siehe, jetzt habt ihr die Lästerung gehört! 60 Im sechsten Punkt, vgl. Bekenntnisse der Kirche, hrsg. von Hans Steubing, Wuppertal, 1985, 265. 61 So bei Bultmann, Gesch, 289; Hengel-Schwemer 235.571.589; Luz IV 162. 62 Vgl. BDR § 223,5.

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66 Was meint ihr? Sie gaben zur Antwort. Er ist des Todes schuldig. 67 Darauf spuckten sie ihm ins Gesicht und ohrfeigten ihn. Manche aber schlugen ihn 68 und sagten: Weissage uns, Messias: Wer ists, der dich geschlagen hat?

II Struktur Der Aufbau lässt sich wie meist bei Matthäus leicht erfassen. Mt 26,57-68 beginnt 1) mit einer Situationsangabe (V. 57-58), bringt dann 2) eine Art Protokoll über die Kernpunkte der Verhandlung bis zum Bekenntnis Jesu (V. 5964), und zeigt 3) das Ergebnis der Verhandlung samt den Reaktionen der Anwesenden (V. 65-68). Mit Mt 26,57ff treten wir also in den Prozessverlauf im engeren Sinne ein. Das führt uns in eine nicht gerade einfache Forschungssituation. Diskussionen und Auseinandersetzungen kreisen immer um fundamentale Fragen: Wer war schuld am Tod Jesu, Juden oder Römer? Oder evtl. nur eine bestimmte Religionspartei wie die Sadduzäer? Wie steht es mit der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien bzw. der Evangelisten? Haben sie die Ereignisse „frisiert“? So führt Fiedler Mt 26,57ff auf bestimmte Absichten des Matthäus zurück, für den der Hohe Rat „eine kriminelle Bande“ gewesen sei, deren Vorgehen „jeder Rechtsordnung Hohn“ spreche.63 Ist die Verhandlung gegen Jesus überhaupt ein legaler Rechtsprozess gewesen? Welche Zeugen standen den Evangelisten zur Verfügung? usw. Das Ziel dieses Kommentars ist es nicht, die vielen Hypothesen um eine weitere zu bereichern. Wir werden, wie auch sonst, möglichst eng dem Text des Matthäus folgen und herauszuarbeiten versuchen, was er zur Geschichte Jesu beizutragen hat. Im Blick auf die Seitenreferenten ergibt sich zunächst, dass Markus weitgehend mit Matthäus parallel geht. Erstaunlicherweise bringt er aber mehr Stoff als Matthäus. Geht dies auf Petrus als den Gewährsmann des Markus zurück?64 Lukas hat in 22,54-71 eine andere Art zu berichten.65 Auch für ihn sind aber die Petrusverleugnung und die Verhandlung vor dem Hohen Rat jeweils eigene Abschnitte. Was Johannes betrifft, so berichtet er von zwei Verhandlungen, einer vor Hannas und einer vor Kajaphas (Joh 18,12-27), wobei die Verleugnung des Petrus mit hineinverwoben ist. Es fällt schwer, nicht zu vermuten, dass Johannes eine Art Ergänzung beabsichtigte. 63 Fiedler 398,67. 64 Vgl. Eusebius HistEccl III, 39, 14f. 65 Vgl. Hengel-Schwemer 595; Zahn 704f.

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III Einzelexegese Man führte also Jesus ab zu Kajaphas, dem Hohenpriester (V. 57). Dass römische Soldaten zuerst den Hohenpriester aufgesucht hätten, ist wenig wahrscheinlich. Wir befinden uns also mit V. 57 im ersten Prozessteil, dem jüdischen. Markus und Lukas nennen den Namen des Hohenpriesters nicht, wohl aber Matthäus und Johannes (18,13). Er lautet hier Καϊάφας [Kaïaphas] (Nebenform Καϊαφᾶς).66 Auch Josephus erwähnt ihn.67 Vermutlich begegnet er uns in der Mischna Para III, 5 als Hakajaph. Sein eigentlicher Name war Josef. Als Schwiegersohn des Hannas (Joh 18,13) hatte er von 18 bis 36 n.Chr. das Hohepriesteramt inne. Hier sind die Angaben des Matthäus auf jeden Fall richtig. Siehe zu Kajaphas das oben bei V. 3 Bemerkte.68 Dort, bei Kajaphas, seien die Schriftgelehrten und die Ältesten versammelt gewesen (συνήχθησαν [synēchthēsan]). Mit den Schriftgelehrten und Ältesten erwähnt Matthäus genau diejenigen, die seit 21,23 die Verhöre und Prozessvorbereitungen durchführten. Siehe auch V. 47. Gemeint ist der Hohe Rat, der Sanhedrin.69 Markus spricht deshalb vollständiger von den Hohenpriestern, Ältesten und Schriftgelehrten (14,53). Um das griech. συνήχθησαν [synēchthēsan] wird eine Diskussion geführt:70 Waren die Sanhedrin-Mitglieder schon versammelt, als man Jesus herbeibrachte, oder wurden sie erst nach vollzogener Gefangennahme versammelt? Unserer Meinung nach ist nicht allein die Verbform entscheidend (Pass. Aor. 1). Es scheint, dass alles für eine Verhandlung bei Kajaphas vorbereitet war. Darauf deutet die versammelte Dienerschaft (V. 58), die Anwesenheit von Zeugen (V. 59ff ), das konzentrierte und evtl. nur kurze71 Verhör. Demnach muss mindestens ein Teil der Sanhedrin-Mitglieder auf den gefangenen Jesus gewartet haben, ein anderer Teil mag schon auf dem Weg gewesen sein.72 Eine schwierige Frage ist das Verhältnis der Synoptiker zu Johannes. Johannes setzt in 18,22ff voraus, dass Jesus zuerst bei Hannas, dann bei Kajaphas verhört wurde. Die Synoptiker berichten nur das Verhör bei Kajaphas. Vorweg: Hier „muß man bekennen, daß uns viele Einzelheiten unbekannt sind“.73 So viel immerhin lässt sich erkennen: 1) Das Bekenntnis Jesu ist vor 66 Vgl. BDR § 37,2. 67 Ant XVIII, 35.95. 68 Vgl. weiter Hengel-Schwemer 79f.576; D.R. Hall, Art. Kaiphas, GBL 2, 747; BauerAland 799; E. Lohse, Art. συνέδριον, ThWNT, VII, 1964, 865ff. 69 Lohse a.a.O. 865. 70 Vgl. Luz IV 171,10. 71 So Lohse a.a.O. 868. 72 Ähnlich France 378; Beare 519. 73 Maier, Joh II, 247.

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Kajaphas als dem amtierenden Hohenpriester gesprochen, Johannes berichtet dieses Bekenntnis nicht. 2) Die offizielle Verurteilung Jesu fand ebenfalls bei Kajaphas statt, Johannes berichtet sie wieder nicht. – Dass der mächtige Hannas mitmischte, kann man ohne Weiteres annehmen. Dass Jesus zu einer Art Vor-Verhör zuerst zu Hannas geführt wurde, ist auch nicht unwahrscheinlich. Wohnten Hannas und Kajaphas nahe beieinander? Vers 58 lenkt den Blick auf Petrus: Petrus aber folgte ihm von Weitem bis zum Palast des Hohenpriesters … Das ist überraschend. Waren nicht alle Jünger geflohen (V. 56)? Das Imperfekt ἠκολούθει [ēkolouthei] besagt, dass Petrus einen längeren Weg mit dem Verhaftungskommando machte. Wohin? Bis zum Palast des Hohenpriesters. Es ist derselbe wie in V. 3. αὐλή [aulē] bedeutet eine umfriedete Palastanlage.74 Vermutlich befand sich dieser Palast des Hohenpriesters am südwestlichen Rand des christlichen Zion in der Oberstadt des damaligen Jerusalem.75 Jedenfalls kann es nicht die Quaderhalle des Tempels (in der Mischna Versammlungsort des Sanhedrin)76 und überhaupt kein Gebäude im Tempelbezirk gewesen sein, weil die Tore des Tempels in der Nacht geschlossen waren.77 Von Weitem (μακρόθεν [makrothen]): So blieb er in der Nacht unbeobachtet. Er ging hinein: Das ist mutig. Nach Joh 18,15 war noch ein anderer Jünger dabei (Johannes selbst? Oder ein Sonstiger?).78 Er setzte sich unter die Diener (μετὰ τῶν ὑπηρετῶν [meta tōn hypēretōn]), um zu sehen, wie es ausginge (ἰδεῖν τὸ τέλος [idein to telos]): Joh 18,15ff unterstützt diesen Bericht. Es zeugt von Unverständnis, wenn man Petrus vorwirft, er habe nicht nach Mt 10,22; 24,13 gehandelt. Fiedler schreibt sogar: „Mit echter Nachfolge hat das nichts (mehr) zu tun.“79 Wären seine Kritiker tapferer gewesen? Immerhin riskierte Petrus seine eigene Verhaftung und die Auslieferung an die Römer, die ihn jederzeit als Zeloten hinrichten konnten. Die kleine Bemerkung um zu sehen, wie es ausginge drückt mehr aus als das allgemeine Interesse, das in Lk 19,3 mit den Worten formuliert wird: ἰδεῖν τὸν Ἰησοῦν τίς ἐστιν [idein ton Iēsoun tis estin]. Unseres Erachtens schließt das ἰδεῖν [idein] in Mt 26,58 die Absicht ein, die Vorgänge möglichst genau zu

74 75 76 77 78 79

Bauer-Aland 243. Vgl. oben zu V. 3. Strack-Billerbeck I 1001. Vgl. wieder Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. dazu Maier, Joh II, 249f. S. 398.

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verfolgen und in Erfahrung zu bringen. Mit anderen Worten: Petrus wollte Augen- und Ohrenzeuge jener Vorgänge sein.80 Mit V. 59 beginnt die Verhandlung selbst (V. 59-64). Sie wird außerordentlich kurz, teils sogar summarisch erzählt. Aber der Hohepriester und der ganze Hohe Rat suchten ein falsches Zeugnis gegen Jesus, damit sie ihn zum Tode verurteilen könnten: Jetzt ist es klar, dass Matthäus schon bei V. 57 an den ganzen Hohen Rat dachte. Von ihrem eigenen Veständnis her suchten natürlich die Sanhedrin-Mitglieder kein falsches Zeugnis gegen Jesus, sondern ein stimmiges und brauchbares. Ein falsches Zeugnis ist es aber für Matthäus, weil man Jesus zu Unrecht beschuldigte. Dass Matthäus hier die Zeugen so stark hervorhebt, beruht auf der Funktion, die sie im alttestamentlichen Prozessrecht hatten. Ohne Staatsanwaltschaft und Polizei in unserem Sinne konnte eine Übertretung des Gesetzes nur durch Zeugen nachgewiesen werden. Alles musste „auf zweier oder dreier Zeugen Mund“ bestehen (Num 35,30; Deut 17,6; 19,15). Sie suchten ist Imperfekt, signalisiert also eine längere, intensive Suche. Vers 60 berichtet von vielen Zeugen, die auftraten: Aber sie fanden es nicht, obwohl viele falsche Zeugen auftraten. Woher kamen die vielen Zeugen? Bultmann ist überzeugt von der „Unwahrscheinlichkeit der Beschaffung der Zeugen“.81 Aber die Anwesenheit der Zeugen ist nicht weniger oder auch nicht mehr wahrscheinlich als die Anwesenheit des „ganzen Hohen Rats“, als der lange Marsch des Verhaftungskommandos, als die Vorbereitung der Dienerschaft usw. Man müsste schon die gesamten Vorgänge jener Nacht für unwahrscheinlich erklären, um sich Bultmanns These anschließen zu können.82 Speziell bei der „Beschaffung der Zeugen“ ist zu bedenken, dass schon lange vor dem Passafest Zeugen gegen Jesus aufgerufen worden waren. Hierin stimmen Talmud und Johannesevangelium überein. Letzteres berichtet im Anschluss an die Auferweckung des Lazarus: „Die Hohenpriester aber und die Pharisäer hatten Anweisung gegeben, dass, wenn jemand seinen Aufenthaltsort wüsste, er es zur Anzeige bringe“ (Joh 11,57). Noch deutlicher ist der Talmud: „Und ein Herold ging vierzig Tage vor ihm aus … Jeder, der etwas zu seiner Entlastung weiß, soll kommen und es vorbringen.“83 Die Einbestellung von Zeugen in der wohlvorbereiteten Sitzung beim Hohenpriester war also kein Problem. Es hat Jesus so wenig an Hassern gefehlt wie seiner späte80 Von Fiedler 398 unverständlicherweise bestritten. 81 Bultmann, Gesch, 291. 82 Überhaupt fällt auf, wie Bultmann, Gesch, 282-293 den gesamten Passionsbericht in Mk 14 par. für legendarisch erklärt. 83 B Sanh 43a. Vgl. Sanh VI, 2; Schäfer 130ff.

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ren Kirche (vgl. Mt 10,22ff; Joh 15,18ff ). Nach der Voraussage der Psalmen (27,12; 109,2ff ) war Jesus darauf eingestellt. Dann kippt die Situation beinahe: Doch zuletzt traten zwei auf. Matthäus spricht von zwei. Markus erwähnt einige (τινές [tines]). Zwei sind jedenfalls das Minimum, um eine Verurteilung zu erreichen (s. oben zu V. 59). Die beiden, die Matthäus hier hervorhebt, müssen für Jesus bedrohlich gewesen sein. Der nächste Vers deckt auf, warum. Sie sagten: Dieser da hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und binnen drei Tagen wieder aufbauen (V. 61). Zuerst die Einzelheiten: Hier geht es nicht um die Taten Jesu, sondern um seine Worte (er hat gesagt), also um seine Lehre. Manche landläufigen Erklärungen, zum Beispiel: Der Sabbatbruch sei Ursache seiner Verurteilung gewesen, erweisen sich von daher als gegenstandslos. Genauer gesagt: Es geht um seine Person, ja um seine Selbsteinschätzung. Das ist die Brücke zum späteren Bekenntnis. Ich kann, δύναμαι [dynamai], drückt seine Macht, seine gottgegebene Kraft aus. Dieser muss hier nicht verächtlich gemeint sein. Die Zeugen können auf den angeklagten Jesus gezeigt haben: „Dieser da“, der Angeklagte. Tempel Gottes kann eine Formulierung der Zeugen sein, mit der sie ihren Respekt in Gegenwart der Hohenpriester bekunden wollten. καταλῦσαι [katalysai] heißt „auflösen“, „zerstören“, abbrechen.84 Auffällig ist das binnen drei Tagen (διὰ τριῶν ἡμερῶν [dia triōn hēmerōn]) wieder aufbauen. Es erinnert an die Auferstehungsweissagungen (Mt 16,21; 17,23; 20,19), stärker noch an sein Tempel-Wort in Joh 2,19: λύσατε τὸν ναὸν τοῦτον καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις ἐγερῶ αὐτόν [lysate ton naon touton kai en trisin hēmerais egerō auton]. Damit stehen wir vor der Frage: Ist es ein echtes Jesuswort, was die Zeugen hier zitieren? Eine breite Front von Exegeten bejaht diese Frage, so etwa Beare 520f, Fiedler 399, Luz IV 175f und Sand 540f.85 Sie stützt sich auf mehrere Argumente: 1) Matthäus bezeichne dieses Zeugnis nicht mehr als Falschzeugnis und hätte die diesbezügliche Bemerkung in Mk 14,59 getilgt;86 2) die Aussage δύναμαι [dynamai] usw. erinnere an Mt 26,53 und sei deshalb gut vorstellbar;87 3) Johannes interpretiere das Jesuswort erst nachträglich als auf die Person Jesu bezogen, es gehe aber ursprünglich nur um den „Tempel in Jerusalem“.88 Dagegen stehen andere Erwägungen, die die Echtheit des von den beiden Zeugen zitierten Jesuswortes verneinen lassen: 1) Markus nennt in 84 85 86 87 88

Bauer-Aland 842. Auch Theißen-Merz 381.396. So Fiedler a.a.O.; Luz IV 176. Luz a.a.O. Luz a.a.O.

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14,57ff diese Zeugenaussage ausdrücklich ein „falsches Zeugnis“; 2) Johannes überliefert in 2,19 tatsächlich ein anderes Wort: „Brecht (ihr) diesen Tempel ab und ich werde ihn in drei Tagen wieder errichten!“ Wir müssten also beiden Evangelisten eine falsche Berichterstattung vorwerfen, wenn wir den zwei Zeugen von Mt 26,61 recht geben wollten. 3) Dass der Hohepriester in V. 62 das Verhör fortsetzt, ist eventuell doch ein Hinweis darauf, dass er von der Aussage der zwei Zeugen nicht ganz überzeugt war. Eine Erklärung dafür bietet Mk 14,59. Aufgrund dieser Erwägungen halten wir Mt 26,61 für die Verdrehung oder doch das Missverständnis eines solchen Jesuswortes, wie es uns in Joh 2,19 überliefert ist. Die Spuren dieses Jesuswortes lassen sich bis Mt 27,40; Mk 15,39, ja bis hinein in die Apostelgeschichte (6,14) verfolgen.89 Wie die Apostelgeschichte zeigt (6,11ff; 21,27ff ), galt eine Verächtlichmachung des Jerusalemer Tempels in Wort oder Tat als ein Delikt gegen Gott selbst und konnte deshalb ohne Weiteres die Todesstrafe nach sich ziehen.90 Daher die Gefährlichkeit der Zeugenaussage von V. 61 für Jesus. Und der Hohepriester stand auf und sagte zu ihm: Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich aussagen?91 (V. 62): Der Hohepriester hat offenbar den Eindruck, an der Aussage der zuletzt erwähnten zwei Zeugen könnte etwas dran sein. Darum erhebt er sich und will Auskunft vom Angeklagten selbst. Vorher hat er das nicht getan. Andererseits sind die erwähnten Zeugenaussagen noch mangelhaft, weil sie sich, wie Mk 14,59 sagt, nicht decken. So ist die Frage des Hohenpriesters wohl motiviert, und nicht, wie Bultmann meinte, „unmotiviert“.92 Rasch steuern die Notizen des Matthäus dem Höhepunkt zu. Zuerst notiert er etwas Überraschendes: Jesus schwieg (V. 63). Jesus stellte die Verdrehung seines Tempelwortes nicht richtig. Er bat nicht darum, sich erklären zu dürfen. Er konnte das Falsche – einfach stehen lassen. Aber gerade für sein Schweigen gibt es beeindruckende alttestamentliche Vorbilder. Mose schwieg auf die Vorwürfe Mirjams und Aarons (Num 12,1ff ). Der Prophet Jeremia ging nach den Vorwürfen Hananjas schweigend seines Weges (Jer 28,11). Der Psalmbeter will schweigend tragen, was Gott ihm auflädt (Ps 38,14ff; 39,10). Der Kluge muss – so sagt es Amos (5,13) – „zu dieser Zeit schweigen, denn es ist eine böse Zeit“. Mit seinem Schweigen reiht sich Jesus als der zweite Mose in die Linie der Propheten und Beter Israels ein. Und nicht zuletzt zeigt er durch sein

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Unentschieden bleiben O. Michel, Art. ναός, ThWNT IV, 1942, 887ff; France 378f. Vgl. France 378f; Carson 554; besonders b Roschhaschana 17a. Zum Interpunktionsproblem vgl. BDR § 16,2; 298,8; 299,1. Bultmann, Gesch, 291.

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Schweigen, dass er der Gottesknecht von Jes 53,7 ist.93 Siehe auch Mt 27,12.14; Mk 15,5; Lk 23,9; Joh 19,9; 1Petr 2,23. Und der Hohepriester sagte zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes.94 Es ist also der amtierende Hohepriester selbst, der die entscheidende Aussage des Prozesses einleitet. ἐξορκίζω [exorkizō] bedeutet beschwören im Sinne von „unter Eid stellen“.95 In der Form des Zeugniseides, den Strack-Billerbeck für Mt 26,63 annehmen,96 besagt dies, dass Jesus seine Aussage unter Eid macht. Zwar hat er den Eid für seine Gemeinde untersagt (Mt 5,33ff; Jak 5,12). Aber der Staat hat das Recht, zu vereidigen und einen Schwur zu verlangen.97 Das geschieht jetzt durch die Behörde des Hohen Rats. Der Schwur ist dabei besonders feierlich, weil er bei dem lebendigen Gott erfolgt.98 Der Hohepriester verzichtet auf alle quälenden Einzeldiskussionen. Beispielsweise sind es nicht die Wunder, die Dämonenaustreibungen, das Essen mit Zöllnern und Sündern, der Umgang Jesu mit dem Sabbat, oder mit den „Aufsätzen der Ältesten“, was er anspricht. Es ist hier allein die Aussage über die Person Jesu selbst, die für ihn zentrale Bedeutung hat: dass du uns sagst, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes. Ganz ähnlich Mk 1,461; Lk 22,67. Nur lässt Lukas den „Sohn Gottes“ weg. Dafür finden wir den „Sohn Gottes“ auch in Joh 19,7. Messias (χριστός [christos]): Das ist die Erfüllung der reichen Reihe messianischer Weissagungen (Gen 3,15; 49,8ff; Jes 7,14; 9,4f; 11,1ff; 42–53; 60– 66; Dan 7,13f; Hag 2,20ff; Sach 9,9ff; 12,9ff; 14; Mal 3,22ff; Mi 5,1ff; Am 9,11ff; Ps 2; 22; 69; 110; 118),99 die Israel sehnlich erwartete. Sohn Gottes: Auch er ist im AT wiederholt angekündigt (2Sam 7,14; Jes 7,14; 9,5; Ps 2,7ff; Ps 89,27ff ). Wenn der Hohepriester auf diese Weise mit Jesus spricht, dann macht er zwei Voraussetzungen: 1) Messias und Gottessohn sind tatsächlich die von

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France 379; Carson 554. Die Erweiterung zu „des lebendigen Gottes“ ist schwach bezeugt und kaum ursprünglich. Bauer-Aland 561; Joh. Schneider, Art. ὄρκος usw., ThWNT, V, 1954, 465f. Strack-Billerbeck I 1005f. Strack-Billerbeck I 1006; Schniewind 265. Vgl. BDR § 149,3. Die Ausleger bestreiten zum Teil, dass Jesus einen Eid ablegt, so Schneider a.a.O. 466; Luz IV 179. 99 Aufgenommen von den frühjüdischen Lehrern in PsSal 17f; äthHen 46ff; 1QSa; 4QFlor usw.

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Israel erwarteten Heilsbringer, 2) Jesus selbst muss sich so genannt haben. Es läuft alles auf den einen Punkt zu: Ist es Jesus wirklich?100 Jesus sagt zu ihm: Du hast es gesagt (V. 64): Das ist „ein bestimmtes Ja“.101 vgl. Mt 27,11; Mk 15,2. Es ist „das gute Bekenntnis“ (ἡ καλὴ ὁμολογία [hē kalē homologia]), auf das später Paulus zurückblicken kann (1Tim 6,13). In der Literatur hat man schon versucht, die Worte σὺ εἶπας [sy eipas] als „eine ausweichende Antwort“ aufzufassen,102 in dem Sinn von: „Nur du sagst es.“ Oder „Jesus überlasse die Antwort … dem Gewissen des Hohenpriesters“.103 Doch solche die Aussage zurücknehmenden Auffassungen scheitern schon aus zwei Gründen: 1) Die Fortsetzung der Verhandlung in V. 65-68 beweist, dass der Sanhedrin die Aussage Jesu tatsächlich als ein Ja verstanden hat,104 2) die Evangelisten wären mit einer bloß ausweichenden Antwort ganz anders umgegangen. Doch nun fügt Jesus noch eine weitere Aussage an, die genau genommen hier nicht verlangt war. Dass er es tat, zeigt seine Souveränität. Sie lautet: Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Kraft sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen (V. 64). Der kurze Satz fasst wie in einem Prisma zusammen, was Jesus nach seinem Selbstverständnis war und was er für die Zukunft erwartete. Für ihn ist der Messias und Gottessohn zugleich der Menschensohn. Menschensohn ist also eindeutig ein Hoheitstitel und nicht nur Bezeichnung eines Menschen. Siehe auch Mt 13,37ff; 16,27; 17,22; 19,28f; 20,18.28; 24,29ff; 25,31ff; 26,24.25. Nach Ausweis der eben genannten Stellen kann es sich auch nicht um einen anderen handeln. Infrage kommt nur er selbst. Siehe auch noch einmal äthHen Kap. 46ff. Die Bezeichnung geht auf Dan 7,13 zurück, wo der Menschensohn der Einzige ist, der mit Gott den Thron teilt. Damit verwandt ist Ps 110,1, wo „mein Herr“ ebenfalls Jahwes Thron teilt. Und gerade auf Psalm 110 beziehen sich die Worte ihr werdet ihn zur Rechten der Kraft sitzen sehen, vgl. Ps 110,1: „Setze dich zu meiner Rechten.“ Schon in Mt 22,41ff hat Jesus seine Christologie mit dem göttlich inspirierten Psalm 110

100 In Mt 16,16 wurde er von der Jüngerschaft so bekannt. Für Lohse a.a.O. 867 ist die Frage nach dem Gottessohn „im Munde eines Juden undenkbar“. Anders Cullmann 281ff. 101 Schneider a.a.O.; Zahn 706; Strack-Billerbeck I 1006; BDR § 441,4; Mk 14,62; Lohse a.a.O. 865; Hengel-Schwemer 604,17; Schlatter 400; France 386; Carson 555; Fiedler 400; Schniewind 265f. 102 Vgl. wieder Schneider a.a.O. 103 So A. Merx nach Schneider a.a.O. Wie Merx auch Cullmann 118ff. 104 So mit Recht Zahn 705.

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begründet. Wer auf Gottes Thron sitzt, ist göttlich. Kraft, δύναμις [dynamis], hebr. ‫[ ְגּבוָּרה‬gᵉbūrāh], ist „Ersatz für den Gottesnamen“.105 Mit anderen Worten: Jesus sagt hier, dass man ihn hinrichten wird, dass er danach aber auf Gottes Thron gelangen wird. Mehr noch: Ihr werdet mich, den Menschensohn, auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Er wiederholt also, was er bereits in Mt 23,39; 24,30 gesagt hatte. Mit anderen Worten: Er kündigt seine Wiederkunft an. Es ist die Wiederkunft zur Sammlung der Seinen und zum Gericht über alle Menschen (Mt 16,27; 19,28; 25,31ff; vor allem 24,29ff ). Ihr werdet sehen (ὄψεσθε [opsesthe]) bedeutet zuerst ein „erleben“ (vgl. Joh 3,3),106 dann aber ein tatsächliches sehen (Mt 24,30; Offb 1,7). Die Aussage Jesu im Prozess wird nicht nur in Mt 26,64 berichtet, sondern auch in Mk 14,62. Vom sitzen zur Rechten der Kraft spricht außerdem Lk 22,69. Cullmann, der sich in seiner Christologie des Neuen Testaments ausführlich mit Mt 26,63f beschäftigt hat, stellt mit Recht fest: „Die Aussage, Jesus habe sich … ‚zur Rechten Gottes gesetzt‘, ist nur ein anderer Ausdruck für das Urbekenntnis ‚Kyrios Christos‘.“107 Wie wichtig sie der frühen Christenheit war, sieht man an Apg 7,56; 1Petr 3,22; 1Tim 3,16; Eph 1,20; 1Klem 36,5; Barn 12,10, und an ihrer Aufnahme ins Apostolische Glaubensbekenntnis und ins Nicaenum.108 Fazit: Jesus selbst bezeichnete sich im Prozess als den Messias, Gottessohn, Weltenrichter und als den künftig mit dem Vater auf dem göttlichen Thron Sitzenden. Schließlich ist hier auch auf das zu achten, was nicht da steht: Es fehlt jedes böse Wort oder gar eine Verfluchung bezüglich des Hohenpriesters und des Hohen Rats.109 Noch immer ist Jesus der Werbende, noch nicht der Richtende! Hierin liegt ein tiefer Unterschied zu Mohammed. Einst wird Israel in Jesus den Messias erkennen (Mt 23,39). Von daher sollte man Mt 26,64 besser nicht als ein „Gerichtswort“ bezeichnen.110 Da zeriss der Hohepriester seine Kleider … (V. 65): Das zerreißen der Kleider ist ein Ausdruck der Trauer und der Bestürzung (Gen 37,29; Num 14,6; 1Kön 21,27; 2Kön 18,37; 19,1; Esr 9,3; Jer 36,22; Est 4,1; Joel 2,13; Apg 14,14). Genauer gesagt, handelt es sich um ein „Einreißen“ des Ober-

105 106 107 108 109 110

Strack-Billerbeck I 1006 mit rabbinischen Nachweisen. Ebenso Carson 555. Cullmann 230. Vgl. wieder Cullmann 229ff. Vgl. 1Petr 2,23. Gegen Luz IV 180.

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gewands an irgendeiner Stelle,111 nicht um das buchstäbliche Zerreißen der gesamten Kleider.112 Die Rabbinen haben dies bis in die Einzelheiten hinein diskutiert.113 Wenn es nach Mt 26,65 mit den Worten geschah Er hat gelästert … usw., (ἐβλασφήμησεν [eblasphēmēsen]), dann fragt es sich, worin denn die Lästerung genau bestand. So überraschend diese Frage klingen mag, so schwer ist sie zu beantworten. Eine Gottes-„Lästerung“ (Mk 14,64) im klassischen Sinn lag jedenfalls nicht vor. Denn Jesus lästerte nicht „den Namen des HERRN“, wie es Lev 24,10ff voraussetzt. Später verlangten die Rabbinen sogar eine Lästerung des „wirklichen Gottesnamens“, eine Umschreibung desselben genügte nicht.114 Worin also konnte man eine Lästerung sehen? Man ist sich heute weithin einig, dass der Messiasanspruch Jesu nicht der Grund für die Verurteilung durch die jüdische Behörde gewesen ist. Denn ein Messiasbekenntnis „ist für das Judentum nicht anstößig“.115 Man denke an die zahlreichen Messiasse im NT (Joh 10,1ff; Apg 5,36f; 21,38) oder aus der Dynastie des Hiskia in Galiläa116 oder in den Aufständen gegen Rom.117 Strack-Billerbeck sehen deshalb das Vergehen Jesu darin, „daß Jesus … seinen Platz einnehmen will zur Rechten der Allmacht“.118 Hier geht der Blick in die richtige Richtung. Die Antwort stellt schließlich das Johannesevangelium bereit, dessen historischen Wert man lange unterschätzt hat. Nach Joh 10,33 besteht Jesu Gotteslästerung (βλασφημία [blasphēmia]) darin, dass er sich selbst zu Gott macht (ποιεῖς σεαυτὸν θεόν [ poieis seauton theon]), und in Joh 10,36 konkretisiert Jesus diesen Vorwurf so: „weil ich sagte: Ich bin Gottes Sohn.“ Im Prozess vor Pilatus kommt genau dieser Vorwurf wieder (Joh 19,7). Mt 9,3; Mk 2,7 stützen ihn von Seiten der Synoptiker. Jetzt wissen wir, weshalb der Hohepriester sagte: Er hat gelästert. Es war Jesu Bekenntnis, der Sohn Gottes zu sein (V. 63)!119 Sein Sitzen zur Rechten der Kraft und sein Wieder-Kommen auf den Wolken des Himmels sind nur die näheren Konkretionen. In gewisser Weise wurzelt also der ganze spätere Kampf um die Trinitätslehre im Prozess Jesu. Wie armselig muten demgegenüber die Ver111 112 113 114 115 116 117 118 119

Bauer-Aland 764; BDR § 141,11; Mk 14,63: τοὺς χιτῶνας. Sonst war dem Hohenpriester dieses Zerreißen verboten (Lev 10,6; 21,10). Vgl. b Sanh 6a; Strack-Billerbeck I 1007; Sanh VII, 5. Vgl. wieder b Sanh 60a; Strack-Billerbeck I 1009ff. Strack-Billerbeck I 1017. Mayer 45ff. Mayer 67ff.84ff. A.a.O. Im Ergebnis ebenso Schlatter 400f; Zahn 705f. Unsicher Carson 555f; France 381f. Auf „den messianischen Anspruch begrenzt“ Fiedler 400. Für Beare 522 ist der ganze V. 65 „incredible“.

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suche an, Jesus als bloßen Mitmenschen darzustellen, „der wie wir an der Veränderung aller Zustände arbeitete und darüber zugrunde ging“.120 Koran und Talmud verraten hier ein tieferes Verständnis. Der Talmud nennt als Gründe für seine Hinrichtung „Zauberei“ und „Verführung zum Götzendienst“.121 Er bezieht sich also auf die übermenschliche Wunderkraft Jesu, leitet sie aber von den Dämonen ab (vgl. Mt 9,34; 12,24ff ). Eine „Verführung zum Götzendienst“ liegt eben darin, dass sich Jesus als „Sohn Gottes“ bezeichnete, und damit in den Augen jüdischer Führer „sich selbst Gott gleich machte“ (ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ [ison heauton poiōn tō theō], Joh 5,18; vgl. Joh 10,33.36; 19,7). Dies konnte sehr gut als Gotteslästerung bezeichnet werden.122 Was brauchen wir noch weiter Zeugen? Siehe, jetzt habt ihr die Lästerung gehört! Alle Prozesserfordernisse für ein Urteil sind erfüllt: 1) Der Angeklagte hat selbst gestanden, Zeugen sind deshalb unnötig;123 2) alle anwesenden Sanhedristen sind selbst Zeugen dieser Aussage geworden, weitere Zeugen auch deshalb unnötig. Was Strack-Billerbeck über die Notwendigkeit von zwei Zeugen zusätzlich zum Sanhedrin schreiben,124 bezieht sich auf spätere Rechtsvorschriften und lässt die damalige spezielle Situation außer Acht. Jesus ist also aufgrund seiner eigenen Aussage verurteilt worden. Er hat sie unter Eid gemacht. Sie besitzt also höchste Aurtoriät. Was meint ihr (τί ὑμῖν δοκεῖ [ti hymin dokei])? (V. 66) kann übersetzt werden „Was beschließt ihr?“, oder: Was meint ihr?125 Vielleicht ist es besser, die vorsichtigere Formulierung (Was meint ihr?) zu wählen.126 Sie gaben zur Antwort: Er ist des Todes schuldig.127 Andere Stimmen wurden nicht gehört. Doch wissen wir, dass nicht alle Mitglieder des Hohen Rates den Schuldspruch billigten. So zum Beispiel Josef von Arimathäa (Lk 23,51). Vielleicht waren Vertreter dieser Minderheitsmeinung gar nicht erst zu dieser nächtlichen Sitzung gegangen.128 Es gibt eine zweite Auffälligkeit in V. 66. Hier fehlt ein typischer Terminus für eine Beschlussfassung. Auch Markus 120 So 1969 in: Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, hrsg. von Gerhard Ruhbach, Gütersloh, 1971, Nr. 61. Vgl. a.a.O. Nr. 62-64. 121 B Sanh 43a. Vgl. b Schab 104b; Sanh 67a; 107b. Vgl. Schäfer 129ff; Strack-Billerbeck I 1023; Justinus Martyr Dial c Tryph 69: μάγον … καὶ λαοπλάνον. 122 Schäfer 139ff. 123 Auch Sand 542. 124 Strack-Billerbeck I 1019. 125 Bauer-Aland 405f. 126 Vgl. Mt 17,25; 18,12; 21,28; 22,17.42; 26,53. 127 Vgl. Bauer-Aland 540. 128 Das kann man jedenfalls aus Mk 14,64 schließen.

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liefert einen solchen nicht unbedingt (κατέκριναν [katekrinan] = „sie fällten das Urteil, daß er des Todes schuldig sei“129). War also die endgültige Beschlussfassung doch erst am folgenden Morgen (Mt 27,1)?130 Des Todes schuldig: Das basiert offensichtlich auf Lev 24,16. Der Bericht endet hier mit der Misshandlung Jesu (V. 67-68). Mitglieder des Hohen Rats spuckten ihm ins Gesicht. Man kann ἐνέπτυσαν [eneptysan] auch als ingressiven Aorist auffassen: „Sie begannen, ihm ins Gesicht zu spucken.“ Bespuckt zu werden, beschämt und entehrt den Betreffenden131 (Num 12,14; Deut 25,9; Hi 17,6; 30,10). Es erfüllt sich Jes 50,6. Sie ohrfeigten ihn: Wieder erfüllt sich Jes 50,6; Mi 4,14. Manche aber schlugen ihn: Das betreffende griech. Wort bedeutet „mit dem Stock (oder der Rute) schlagen“ oder auch „mit der Hand schlagen“ (vgl. Mt 5,39).132 Auch hier geht Prophetie in Erfüllung: Jes 50,6 (LXX εἰς μάστιγας [eis mastigas] – εἰς ῥαπίσματα [eis rhapismata] – τὸ δὲ πρόσωπόν μου οὐκ ἀπέστρεψα ἀπὸ αἰσχύνης ἐμπτυσμάτων [to de prosōpon mou ouk apestrepsa apo aischynēs emptysmatōn]); Mi 4,14 (ἐν ῥάβδῳ πατάξουσιν [en rhabdō pataxousin]) und Jesu eigene Prophetie (Mk 10,34 / Mt 20,19: ἐμπαίξουσιν [empaixousin] – ἐμπτύσουσιν [emptysousin] – μαστιγώσουσιν [mastigōsousin]). Spöttische Worte begleiten die Handlungen. Weissage (προφήτευσον [ prophēteuson] auch Mk 14,65) uns, Messias: Wer ists, der dich geschlagen hat? (V. 68). Jesus wird gleich mehrfach verspottet: 1) als falscher Prophet, 2) als falscher Messias. Erst bekommt er sehenden Auges die Schläge, dann soll er weissagen, wer ihn geschlagen hat.133 Das Bekenntnis bei seinem Einzug „Das ist der Prophet aus Nazaret“ (Mt 21,11; vgl. Mt 21,46; Lk 7,16; Joh 6,14) war demnach falsch. Doch diese Feststellung ist noch relativ ungefährlich im Vergleich mit der anderen: „Er ist ein falscher Prophet.“ Denn auf Falschprophetie stand nach Deut 13,6 die Todesstrafe. So zeichnen sich jetzt zwei juristische Komplexe ab, die die Todesstrafe begründen können: Die Beschuldigung der Gotteslästerung wegen der Aussage, er sei Gottes Sohn, und die Beschuldigung der Falschprophetie. Der Blick auf jene Szene berührt Leserinnen und Leser bis heute. Fiedler spricht davon, „dass die Mitglieder in unglaublich schäbiger Weise tätlich

129 130 131 132 133

Bauer-Aland 837. So jedenfalls Zahn 706f; Luz IV 184. Anders Beare 523. Strack-Billerbeck I 1024. Bauer-Aland 1470. Markus berichtet, man habe vorher sein Angesicht verhüllt (14,65).

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werden“,134 schiebt allerdings die Schuld dafür Matthäus zu, der die Szene entsprechend seiner Polemik gegen die jüdischen Führer so getrimmt habe.135 Für Beare ist diese ganze Szene eine bloße Fiktion der frühen Christen („a fabrication“), und er bezweifelt, dass sie irgendeinen geschichtlichen Kern habe („any core of fact“).136 Ganz anders die Welt der pietistisch-erwecklichen Predigt, die klagt: „Nun wurde dies edle Angesicht aufs gröblichste beschimpft und durch die Spuren der Mißhandlung entstellt.“137 Ganz anders auch die Welt unseres Gesangbuches: „Du edles Angesichte, / davor sonst schrickt und scheut / das große Weltgewichte: / wie bist du so bespeit, / wie bist du so erbleichet! / Wer hat dein Augenlicht, / dem sonst kein Licht nicht gleichet, / so schändlich zugericht’?“138 Angenommen, die Szene ist historisch (was wir in der Tat annehmen): Welcher Widerstand, ja welcher Hass hat sich hier formiert? Wie unbarmherzig wurde der Messias der Barmherzigkeit behandelt? Kein „heiliger Zorn“, sondern unheilige Gefühle (vgl. Mt 27,18) führten zu einer Eruption, die Jesus in Schimpf und Schande enden ließ. Dass Gottes Sohn dies alles bereitwillig erduldete (vgl. Mt 5,39ff ), dass seine Liebe zu denen, die ihn misshandelten, nicht endete (vgl. Lk 23,34), ist ein fortgesetztes Wunder. Aber freilich sollte der Messias, den seine Gegner erwarteten (PsSal 17f ), nicht sich schlagen lassen, sondern andere schlagen, und das haben ja dann auch andere „Messiasse“ und Religionsstifter wirklich getan.

IV Zusammenfassung 1. Manche Einzelheiten aus der Verhandlung vor dem Hohen Rat sind uns verborgen. Einiges aber zeichnet sich deutlich ab: 2. Die in Mt 26,57-68 geschilderte Verhandlung brachte vermutlich noch nicht das formelle, endgültige Urteil. Sondern sie diente der grundlegenden Urteilsfindung: in re, non de iure. 3. Sie hat ihren Höhepunkt in der Aussage Jesu, nachdem alle sonst beigebrachten Zeugen gescheitert sind: Er ist der Messias, der Sohn Gottes, und zugleich als der Wiederkommende der Weltenrichter (Mt 26,64). Nichts aus dieser vereidigten Selbstaussage kann das Christentum zurücknehmen, ohne aufzuhören, Christentum zu sein. 134 135 136 137 138

Fiedler 402. A.a.O. Beare 523. Brüdersegen 408. EG 85,2 (Paul Gerhardt 1656 nach Salve caput cruentatum des Arnulf von Löwen vor 1250).

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4. Die Verurteilung Jesu als eines Gotteslästerers, der sich selbst zu Gottes Sohn machte, und als eines falschen Propheten geschah mit großer Mehrheit. Die Gründe für seinen Kreuzestod liegen also nicht im angeblichen Sabbatbruch, einer Auflehnung gegen die Führer seines Volkes oder Ähnlichem. 5. Öfter hat man versucht, einzelne Szenen aus dieser Verhandlung für unhistorisch zu erklären.139 Für uns ergab sich jedoch – trotz mancher Fragen im Detail – eine überzeugende Plausibiltät der Darstellung des Matthäus. 6. Liegt seitens der jüdischen Richter eine Rechtsbeugung vor? Christliche Ausleger haben eine solche „Rechtsbeugung seitens des Synedriums“140 immer wieder nachzuweisen versucht, u.a. mit folgenden Argumenten: a) Der Hohepriester habe Jesu messianischen Anspruch nicht objektiv geprüft.141 Dieser Vorwurf ist jedoch gegenstandslos, weil Jesus selbst in diesem Punkt eine klare Aussage gemacht hat. b) Es sei ungewiss, ob die für Todesstrafsachen notwendige Mindestzahl142 von 23 Richtern gegeben war.143 Ist dies aber ungewiss, so kann daraus kein Vorwurf der Rechtsbeugung gefolgert werden. c) Wir wüssten nicht, ob die vom Gesetz geforderten zwei Zeugen mitwirkten.144 Auch dieser Vorwurf ist haltlos, weil die Aussage des Angeklagten ausreichte und kein Rückgriff auf weitere Zeugen nötig war. d) Der Hohepriester hätte Jesus nicht per Eid zu seiner Aussage nötigen dürfen.145 Antwort: Jesus hätte die Vereidigung ablehnen können. Es lag aber in Jesu eigenem Interesse, nicht durch Zeugen überführt zu werden, sondern mit eigenen Worten ein klares Bekenntnis abzulegen. e) Eine Verhandlung zur Nachtzeit sei nach Sanh IV, 1 unzulässig gewesen.146 Hier aber greift ein solches Argument deshalb nicht, weil wir gar nicht mehr wissen, ob ein solches „Recht bereits zur Zeit Jesu gegolten hat“.147 f ) Dasselbe ist zu sagen im Blick auf den Vorwurf, das endgültige Urteil gegen Jesus hätte erst einen Tag später gefällt werden dürfen148 (vgl. Sanh IV, 1ff; V, 5). 139 So Bultmann, Gesch, 290ff; Beare 522 („incredible“); Fiedler 399ff; Lohse a.a.O. 867f. Anders die Urteile von Hengel-Schwemer (S. 599: „plausibel“). 140 Strack-Billerbeck I 1018. 141 Strack-Billerbeck I 1017f.1024. 142 Sanh I, 4. 143 Strack-Billerbeck I 1024. 144 Strack-Billerbeck a.a.O. 145 Strack-Billerbeck a.a.O. 146 Strack-Billerbeck a.a.O.; Lohse a.a.O. 866. 147 So Strack-Billerbeck selbst a.a.O.; Lohse a.a.O.; Luz IV 200f. 148 Strack-Billerbeck a.a.O.; Lohse a.a.O.

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g) Gotteslästerung sei gewöhnlich nicht mit dem Tode bestraft worden.149 Aber nach der Mischna gab es sehr wohl Fälle, die mit dem Tode bestraft wurden (Sanh VII, 5). Und evtl. war in den Tagen Jesu das Recht noch strenger. Der Vorwurf der Rechtsbeugung ist also unbegründet. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass der jüdische Prozess gegen Jesus gemäß der damaligen Rechtsordnung durchgeführt wurde. Sollten kleinere Rechtsfehler existiert haben, wären sie auch nach der heutigen Rechtsordnung durch die ungewöhnliche Herausforderung und Situation „geheilt“.

2.3 Verleugnung durch Petrus, 26,69-75

I Übersetzung 69 Petrus aber saß draußen im Hof. Und eine Magd trat auf ihn zu und sagte: Auch du warst mit Jesus, dem Galiläer. 70 Er aber leugnete vor allen und sagte: Ich weiß nicht, was du sagst. 71 Als er aber in den Torbau hinausging, sah ihn eine andere und sagt zu denen, die sich dort aufhielten: Der da war mit Jesus, dem Nazarener. 72 Und wieder leugnete er, wobei er schwor: Ich kenne den Menschen nicht. 73 Nach kurzer Zeit aber gingen die Umstehenden auf Petrus zu und sagten zu ihm: Wirklich, auch du bist einer von ihnen. Denn deine Sprache verrät dich ja! 74 Da fing er an, Verwünschungen auszustoßen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht. Und im selben Augenblick krähte ein Hahn. 75 Und Petrus erinnerte sich an das Wort Jesu, wie er gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.

II Struktur Die äußere Struktur des kleinen Abschnitts bereitet keine Probleme. Sie weist nur zwei Teile auf: 1) Die dreifache Verleugnung durch Petrus (V. 69-74); 2) die Reue und die Tränen des Petrus (V. 75). Alle vier Evangelien berichten von dieser Verleugnung, wobei die Synoptiker teilweise bis in die Wortwahl hinein übereinstimmen. Inhaltlich wird hier schon die Frage aufgeworfen: Weshalb wird in der Passionsgeschichte ein einzelner Mensch so wichtig? Die Frage verschärft sich, wenn wir bedenken, dass sich die Stichworte vom Jüngerverrat und von der Jüngerverleugnung durch die ganze Passionsgeschichte hindurchziehen (Mt 26,14ff.21ff.31ff. 149 Strack-Billerbeck a.a.O.; vgl. Lohse a.a.O.

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47ff.69ff; 27,3ff ). Beide sind für die christliche Passionsgeschichte konstitutiv. Deshalb passt es nicht, wenn Beare Mt 26,69-75 unter die Überschrift „Interlude“ stellt.150 Eine weitere Frage betrifft die Beteiligten. In Mt 26,69-75 sind es zwei Mägde und eine Gruppe, vor denen Petrus verleugnet, in Mk 14,66-72 zweimal dieselbe Magd und eine Gruppe, in Lk 22,54-62 eine Magd und zwei Männer, in Joh 18,15-27 eine Magd, eine Gruppe und ein Mann. Was trifft nun zu? Jenseits aller Differenzen steht fest: Die Verleugnung durch Petrus geschah dreimal, und: In allen Evangelien ist eine Magd beteiligt. Also eine Frau, deren Zeugnis schlechter bewertet wurde als das Zeugnis eines Mannes, und vor der zu leugnen noch übler war. Im Übrigen war die Bezeugung dessen, was in jener Nacht geschah, besonders schwierig wegen der allgemeinen Unruhe und Spannung in der Dunkelheit. Wir müssen also die Berichte nebeneinander stehen lassen.151

III Einzelexegese Petrus aber: Mit diesen Worten rückt jetzt die Person des Petrus in den Mittelpunkt (vgl. V. 33ff.37ff.51ff.58). Es sind drei Gestalten auf der Seite des Messias, die in der Passionserzählung zunächst im Vordergrund stehen: Der Messias selbst, sodann Petrus und Judas. Das Johannesevangelium fügt dann noch andere Namen hinzu: Thomas, Philippus, Judas Jacobi, Johannes, Josef von Arimathäa, Nikodemus (Joh 14,5–19,39). Er saß draußen im Hof. Nach V. 58 war Petrus dem Verhaftungskommando bis zum Palast des Hohenpriesters gefolgt. In V. 69 bedeutet αὐλή [aulē] aber vermutlich nicht „Palast“, sondern Hof.152 ἐκάθητο [ekathēto] ist Imperfekt, bedeutet also: er saß schon eine ganze Weile draußen (Impf. durativum). Bis dahin immer noch ein Vorbild der Treue! Unerwartet kommt die Probe. Eine153 (namenlose) Magd trat auf ihn zu und sagte: Auch du warst mit Jesus, dem Galiläer. Markus nennt sie „eine der Mägde des Hohenpriesters“ (14,66). Mit der Intervention der Magd beginnen alle vier Evangelienberichte (Mt 26,69; Mk 14,66; Lk 22,56; Joh 18,17). Ob sie Israelitin war oder Ausländerin, also Sklavin, vermögen wir nicht zu sagen. Immerhin ist es erstaunlich, dass sie meint, Petrus zu kennen. Hat sie ihn im Verlaufe des Verhörs (ab Mt 21,23) bei Jesus gesehen? Ihre Aussage ist zunächst ein Ruhmesblatt für

150 151 152 153

Beare 523. Vgl. Carson 557f. Bauer-Aland 243. μία = τις, BDR § 247,5; Lk 22,56.

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Petrus: Auch du (καὶ σύ [kai sy]) warst154 mit Jesus, dem Galiläer. Mit jemandem zu sein (εἶναι μετά [einai meta]) bedeutet „mit jemandem zusammen zu sein“, „verbündet zu sein“, „zusammengehören“.155 Petrus war also nicht nur Hörer, sondern Nachfolger. Jesus heißt hier der Galiläer.156 Als „Prophet aus … Galiläa“ wurde Jesus schon beim Einzug in Jerusalem bezeichnet (Mt 21,12). Gleich nachher (26,73) wird Galiläa noch einmal wichtig, ebenso Mt 26,32; 28,7.16. Man kann aus diesen häufigen Galiläa-Hinweisen (vgl. 2,22; 3,13; 4,12.15.23; 15,39) eigentlich nur den Schluss ziehen, dass Matthäus selbst Galiläer war.157 Der erste Gang der Verleugnung endet so: Er aber leugnete (ἠρνήσατο [ērnēsato]) vor allen und sagte: Ich weiß nicht, was du sagst (V. 70). Das Verb ἀρνέομαι [arneomai] hängt eng zusammen mit dem ἀπαρνέομαι [aparneomai]158 in V. 34f. Es kam also genau so, wie es Jesus vorausgesagt hatte. Aber auch Mt 10,32f gehört zum engeren Kontext. Petrus riskiert es also, im Endgericht selbst von Jesus verleugnet zu werden. Warum? Wegen einer Magd, einer Sklavin! R.T. France schreibt dazu: „the bold Peter quails before one single slip of a girl“.159 Allerdings darf man die gefährliche Umgebung nicht vergessen. Er leugnete vor allen (ἔμπροσθεν πάντων [emprosthen pantōn]): Das heißt, dass weitere Männer und Mägde in Sicht- und Hörweite waren (vgl. V. 58). Petrus drohte ganz real die Todesstrafe, wenn er mit Jesus zusammen den Römern überstellt wurde. Eine ganze Gruppe von Aufständischen: Das wäre den Römern gerade zupassgekommen. Ich weiß nicht, was du sagst: Das drückt noch keine Distanzierung von Jesus aus. Und doch ist es ein tiefer Sturz auf der Skala menschlicher Selbsteinschätzung: Von dem „ich werde niemals Anstoß nehmen“ in V. 33 binnen weniger Stunden zu dem er leugnete vor allen in V. 70. Vielleicht steckt in der Bezeichnung Galiläer (V. 69) sogar ein Hinweis auf die seit Jahrzehnten aufrührerischen Galiläer,160 denen Petrus dann zugerechnet würde und mit denen er von den Römern hingerichtet würde. Petrus verlässt den Hof, in dem er bisher saß, und geht hinaus in den Torbau (εἰς τὸν πυλῶνα [eis ton pylōna]), V. 71. Man kann auch übersetzen „Tor-

154 155 156 157 158

Vgl. BDR § 98,1. Bauer-Aland 454f. Gelegentlich ändern Handschriften in Ναζωραίου = Nazarener. Vgl. Mk 14,67. Vgl. Schniewind 266. Nicht „von ἀρνεῖσθαι unterschieden“, so H. Schlier, Art. ἀρνέομαι, ThWNT, I, 1933, 471. 159 France 383. 160 Skeptisch France a.a.O.

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gebäude“.161 Es handelt sich wohl um einen viereckigen, überdachten Raum, in dem sich mehrere Menschen in der kalten Winternacht aufhalten konnten, also eine Art Vorhalle162 der Palastanlage. In den Kommentaren kann man lesen, er habe sich entschlossen, „sich davon zu stehlen“.163 Richtig ist, dass ihm der Hof zu gefährlich wurde. Aber er will seinem Herrn immer noch treu bleiben. Deshalb verlässt er den Palast immer noch nicht. Dort sah ihn eine andere [Magd] und sagt zu denen, die sich dort aufhielten: Der da war mit Jesus, dem Nazarener. Diese Magd redet ihn also nicht direkt an. Deshalb kann es sehr gut sein, dass andere Evangelisten hier einen Mann mit Petrus reden lassen (Lk 22,58; auch Joh 18,26?). Der da (οὗτος [houtos]) ist vermutlich verächtlich gemeint. Das mit Jesus-Sein wiederholt sich hier (vgl. V. 69). Jesus wird jetzt allerdings nicht mehr der Galiläer (ὁ Γαλιλαῖος [ho Galilaios]) genannt, sondern der Nazarener (ὁ Ναζωραῖος [ho Nazōraios]) = „der aus Nazaret Stammende“. Siehe auch die Erklärung bei Mt 2,23. Und wieder (πάλιν [ palin]) leugnete er, wobei er schwor: Ich kenne den Menschen nicht (V. 72): Das wieder macht den Vorgang als die zweite Verleugnung kenntlich. Weil Matthäus nicht sagt, wer Petrus diesmal ansprach, müssen wir manche Details einfach voraussetzen: Einer von denen, die sich dort aufhielten (vom Wachpersonal?) muss Petrus beschuldigt haben. Oder Petrus bekam die Aussage der Magd mit und ergriff seinerseits das Wort. Man hat überhaupt in der ganzen Passionsgeschichte den Eindruck, dass die Evangelisten mehr wussten als sie erzählten (vgl. Joh 21,25). Neu ist jetzt, dass Petrus schwor (μετὰ ὅρκου [meta horkou]).164 Das bringt einen erschwerenden Umstand in die Verleugnung.165 Außerdem drückt die Aussage Ich kenne den Menschen (τὸν ἄνθρωπον [ton anthrōpon]) nicht eine größere Distanz zu Jesus aus. Mensch hat hier evtl. einen „verächtl. Ton“.166 Nun folgt die dritte Verleugnung: Nach kurzer Zeit aber gingen die Umstehenden auf Petrus zu und sagten zu ihm: Wirklich, auch du bist einer von ihnen. Denn deine Sprache verrät dich ja! (V. 73). Die Kommentare vermerken selten den ungewöhnlichen Umstand, dass Petrus immer noch im Palast des Hohenpriesters weilt. Nach zwei so demütigenden Begegnungen 161 162 163 164

Bauer-Aland 1459. Mk 14,68 προαύλιον. Fiedler 403. Ähnlich Luz IV 214. Auch deshalb interessant, weil die Jünger trotz Mt 5,33ff außerhalb der Gemeinde schworen! 165 Fiedler 403: ein „Meineid“. 166 Bauer-Aland 137; Luz IV 215.

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hätte er allen Grund gehabt, dieses gefährliche Gelände zu verlassen – aus Angst oder aus Scham. Wenn Ausleger so tapfer kritisieren, dass Petrus nicht die „Kreuzesnachfolge“ auf sich nehmen wollte,167 dann fragt man sich, wer dies denn in unserem aufgeklärt-europäischen Kulturraum tun wollte? Petrus hat unleugbar das Gute an sich, dass er immer noch in der Nähe seines Herrn bleiben will. Denn offensichtlich spielt V. 73f noch im selben Torbau wie V. 71f. Die Umstehenden (οἱ ἑστῶτες [hoi hestōtes]) gingen wohl aufgrund der Worte der Magd in V. 71 auf Petrus zu. Wirklich, ἀληθῶς [alēthōs] (auch Mk 14,70; in Lk 22,59 ἐπ᾿ ἀληθείας [ep’ alētheias]), bedeutet eine Feststellung mit großer Gewissheit. Auch du bist einer von ihnen wiederholt, was in V. 69 und 71 gesagt wurde: Auch Petrus ist ein Jünger Jesu. Doch nun kommt ein Sachargument: Deine Sprache verrät dich ja! Mk 14,70 bestätigt dies in der Sache („auch du bist ein Galiläer“), ebenso Lk 22,59. Wo hatten sie Petrus gehört? Bei seiner zweiten Verleugnung (V. 73). Dass Petrus in der Erregung noch stärker in den galiläischen Dialekt verfiel, leuchtet ein. Man sieht die Besonderheit des Galiläischen darin, dass man dort „die sonst für das Semitische typischen Kehllaute verschluckte“.168 Siehe auch Ri 12,5ff; Apg 2,7. Eigenartigerweise reden wir heute zwar von der „Sprache Kanaans“, aber nicht von der „Sprache Galiläas“. Mit Ausnahme von Judas Iskariot waren alle Apostel Galiläer. Deshalb konnte man den Apostelkreis ansprechen als „Ihr Männer von Galiläa“ (ἄνδρες Γαλιλαῖοι [andres Galilaioi], Apg 1,11).169 Die Jerusalemer und noch die Rabbinen des Talmud sahen auf das Galiläische herab.170 So lesen wir in b Erub 53a: „Den Judäern, die auf ihre Sprache achteten, blieb ihr Studium erhalten, den Galiläern, die auf ihre Sprache nicht achteten, blieb ihr Studium nicht erhalten.“171 Vielleicht haben Hengel-Schwemer nicht ganz unrecht mit ihrer Bemerkung, für manche sei die Jesusbewegung „ein galiläisches Phänomen“ gewesen.172 Auf dem Höhepunkt der Verleugnungen fing Petrus an, Verwünschungen auszustoßen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht (V. 74). Eine Besonderheit dieser dritten Verleugnung ist das griech. καταθεματίζειν [katathematizein]. Es ist Hapaxlegomenon im NT. Das zughörige Substantiv, ebenfalls Hapaxlegomenon, κατάθεμα [katathema], findet sich in Offb 22,3. 167 168 169 170 171 172

So Fiedler a.a.O. R. Riesner, Art. Galiläa, GBL 1, 407 (nach Dalman); Luz IV 215. Vgl. Zahn 707. Vgl. Hengel-Schwemer 220f; 385,41. Hengel-Schwemer 279; Strack-Billerbeck I 156f. Dort eine Reihe von Beispielen. Hengel-Schwemer 607.

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Letzteres bedeutet „unter dem Fluch Stehendes“, „Verfluchtes“.173 Dieses κατάθεμα [katathema] steht in Verbindung mit ἀνάθεμα [anathema] in Sach 14,11 LXX und ἐπικατάρατος [epikataratos] in der Paradiesesgeschichte (Gen 3,14.17 LXX). Jedes Mal ist ein Fluch gemeint, der von Gott ausgeht. Von daher werden wir auch für καταθεματίζειν [katathematizein] die Bedeutung „den Fluch Gottes herabrufen, wenn ich die Unwahrheit sage“ annehmen müssen. Siehe auch im Deutschen die Redewendung „Gott soll mich strafen, wenn …“. Um das Missverständnis zu vermeiden, Petrus wolle einen anderen verfluchen,174 übersetzten wir καταθεματίζειν [katathematizein] mit Verwünschungen ausstoßen. Für uns scheidet also die Erklärung von Luz aus, wonach Petrus „Christus verflucht“ oder die Umstehenden verflucht.175 Stattdessen ruft er auf sich selbst den Fluch Gottes herab, falls er lüge. Eine äußerst zugespitzte Form des Meineids! Im Übrigen sagt Petrus noch einmal, was er schon in V. 72 gesagt hatte: Ich kenne den Menschen nicht. Da greift Gott, auf den er sich soeben berufen hat, selbst ein. Gott redet durch die Geschichte, durch seine Geschöpfe, durch beauftragte Menschen, durch seine eigene, leise Stimme (1Kön 19,12f; Jes 42,2). Hier ist es, wie im Falle der Eselin Bileams (Num 22,28ff; 2Petr 2,16), ein Tier: der Hahn. Und im selben Augenblick krähte ein Hahn. Gustaf Dalman merkte dazu an: „Eigentlich sollten in Jerusalem keine Hühner gehalten … werden“,176 aber „Die Sadduzäer und das Volk kümmerten sich um solche Vorschriften schwerlich“.177 Für Matthäus genügt der Fakt: „… kräht ein Hahn“. Ebenso Mk 14,72; Lk 22,60; Joh 18,27. Der Hahn hat in gewissem Sinne die Weltgeschichte verändert: Und Petrus erinnerte sich an das Wort Jesu, wie er gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen (V. 75). Von der dreimaligen Verleugnung (τρὶς ἀπαρνήσῃ με [tris aparnēsē me]) war tatsächlich in Mt 26,34 wortwörtlich sowie in Mk 14,30; Lk 22,34 und Joh 13,38 die Rede. So genau erfüllt sich die Prophetie Jesu! Man vgl. mit unserem Vers die Rolle des ‫זכר‬ [zkr] (sich erinnern) im AT. Unter diesen Stellen steht Hes 6,9 Mt 26,75 parr. besonders nahe. Man wird aus jenem er erinnerte sich des Petrus auch unmittelbar den Schluss ziehen dürfen, dass jede Gemeinde darauf hinwirken 173 Vgl. meinen Kommentar „Die Offenbarung des Johannes“, Kapitel 12–22, HTA, 2. Aufl., 2014, 478. 174 So aber Luz IV 211: „(ihn) zu verfluchen“; Fiedler 403: „Er … verflucht … Jesus“. 175 Luz IV 216. 176 Dalman 265. Vgl. BQ VII, 7: „Man darf in Jerusalem keine Hühner züchten, wegen der heiligen Opfer.“ 177 A.a.O., Anm. 8.

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muss, dass das Gedenken an das Wort Jesu jederzeit möglich bleibt. Jede Verunsicherung dieses Wortes hat Mt 26,75 gegen sich. Bei Petrus bleibt die Erinnerung nicht auf den intellektuellen Bereich beschränkt. Die Selbsterkenntnis erschüttert seine ganze Persönlichkeit: Und er ging hinaus und weinte bitterlich. Für er ging hinaus setzt Matthäus nur ein Partizip: ἐξελθών [exelthōn]. Wie unwichtig werden da die Umstände, unter denen er aus dem Palast hinausgelangt! Nicht einmal die Bewahrung vor weiteren Ausforschungen, die er vermutlich erlebte, wird hier erwähnt. Petrus entrann. Sein äußeres Leben war gerettet. Aber er stand vor der Erkenntnis, dass er seinen Herrn verleugnet, ja ihm abgeschworen hatte. Wie oft wird sich dies alles in der Geschichte der Christen wiederholen! Und doch liegt schon die Wende vor: er weinte bitterlich (ἔκλαυσεν πικρῶς [eklausen pikrōs], auch Lk 22,62).178 Die Formulierung erinnert an Jes 22,4: „Lasst mich bitterlich weinen. Dringt nicht darauf, mich zu trösten“ (vgl. Jes 33,7).179 Im Hintergrund seht also das hebr. ‫[ מרר‬mrr]. Man kann sagen, dass in jenem Augenblick die Selbstgerechtigkeit des Petrus zerbrach. Es sind Tränen der Reue,180 und zugleich Tränen, die nach der Hilfe des Herrn rufen (Ps 39,13). Man hat bei den Berichten aller vier Evangelien den Eindruck, dass Petrus selbst ihre Quelle ist. Man meint noch die Bewegung zu spüren, in der dies alles erzählt ist.

IV Zusammenfassung 1. „Die Petrus-Geschichte … ist legendarisch“ behauptete Bultmann ohne nähere Begründung.181 Weshalb die frühen Christen eine solche Legende über ihren ersten Gemeindeleiter erfunden haben sollen, bleibt unerklärlich. Stattdessen meinten Hengel-Schwemer, dass Matthäus in Mt 26,73 eine gute „Kenntnis der palästinischen Verhältnisse“ verrate.182 Auch die übrigen Aussagen wurzeln erkennbar im jüdischen Milieu jener Zeit. Wir haben also keinen Grund, Mt 26,69-75 parr. für unhistorisch zu erklären. 2. Petrus und diejenigen, die nach ihm dieses Ereignis weitererzählten, wollten aufzeigen, in welchem Maße wir Menschen Sünder sind, die sich selbstgerecht überschätzen (vgl. Mt 26,31ff ). Mt 26,69ff bedeutet eine geistliche Mahnung an alle Gemeindeglieder. Auf diese Weise wurde auch verhin178 Mt 26,75; Lk 22,62 liegt eines der sog. minor agreements zwischen Matthäus und Lukas vor. Vgl. dazu Hengel-Schwemer 226. 179 Fiedler 403; Strack-Billerbeck I 1023. 180 Schlatter 402: ein Zeugnis vom „Ernst seiner Reue“. 181 Bultmann, Gesch, 290. 182 Hengel-Schwemer 279.

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dert, dass in der frühen Kirche ein Personenkult um bestimmte Jünger entstand. 3. Dass der „Fels“ Petrus zum Verleugner geworden war, blieb der Kirche unvergesslich. „Wir kennen unsere Sünden: abtrünnig sein und den HERRN verleugnen“ (Jes 59,12f ): Jesaja und Jesus behielten recht. An Petrus lernte die Kirche zweierlei: Jeder von uns kann zum Verleugner werden, aber jeder von uns kann auch den Rückweg zum Herrn finden.

2.4 Die Überstellung an Pilatus, 27,1-2

I Übersetzung 1 Am frühen Morgen aber wurde von allen Hohenpriestern und Ältesten des Volkes gegen Jesus das Urteil gefällt, dass er hinzurichten sei. 2 Und sie legten ihn in Fesseln und führten ihn ab und lieferten ihn dem Statthalter Pilatus aus.

II Struktur Die Meisterschaft des Matthäus zeigt sich darin, dass er mit nur zwei Versen vier Ereignisse berichtet: das endgültige Urteil über Jesus, seine Fesselung, seine Abführung und die Überstellung an Pilatus. Vergleichbar sind die Berichte bei Markus (15,1) und Lukas (23,1). Differenzierter ist die Erzählung des Johannes (Joh 18,28-32). Der summarische Charakter des Berichts warnt uns davor, zu sehr in Detailfragen zu gehen und eine Art Harmonie mit allen anderen Evangelien herstellen zu wollen.

III Einzelexegese πρωΐα [ prōïa], zu ergänzen ἡ πρωΐα ὥρα [hē prōïa hōra], bezeichnet den frühen Morgen zwischen 6 und 9 Uhr. συμβούλιον λαμβάνειν [symboulion lambanein] ist ein Latinismus und entspricht consilium capere.183 Die „offizielle“ Sprache in Mt 27,1 deutet schon auf einen „Zusammenhang mit römischen Behörden“184 (anders aber Mt 12,14; 22,15). Vers 1 nennt als Subjekt alle Hohenpriester und Ältesten des Volkes. Wie in Mt 21,23; 26,3.47 ist damit der Hohe Rat gemeint. Es fällt jedoch auch hier auf, dass Matthäus die „Schriftgelehrten“ und „Pharisäer“ nicht erwähnt (anders V. 57). Man hat tat-

183 BDR § 5,4. 184 A.a.O.

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sächlich den Eindruck, dass er die Pharisäer möglichst schonen will.185 Offenbar waren es in erster Linie die Priester, die den Prozess gegen Jesus vorantrieben. So schreibt es auch Johannes (11,46ff ). In συμβούλιον [symboulion] haben wir das endgültige, offizielle Urteil gegen Jesus zu sehen.186 Man war sich zwar schon in der Nacht über die Verurteilung einig geworden (V. 57ff ), aber von einem Urteil fällen in einem endgültigen Sinne lesen wir erst jetzt in Mt 27,1. Damit nähert sich das damalige juristische Verfahren dem an, was wir ca. 200 n.Chr. in der Mischna lesen. Nach Sanh IV, 1 kann nämlich ein Todesurteil nur am Tage gefällt werden. Außerdem soll das endgültige Urteil erst am zweiten Verhandlungstag ergehen. Interessanterweise wird im selben Zusammenhang (Sanh I, 5) gesagt, man wolle den Minäern (= Ketzern) keinen Anlass geben, ein Verfahren zu kritisieren. Es kann also sehr wohl sein, dass man auf christliche Kritik am Verfahren gegen Jesus mit Gesetzesverschärfungen reagierte. Umgekehrt gilt: Es waren offensichtlich zur Zeit Jesu die Verfahrensregeln noch nicht so streng wie ca. 200 n.Chr. Das Urteil lautet: dass er hinzurichten sei (ὥστε θανατῶσαι αὐτόν [hōste thanatōsai auton]). Zwangsläufig musste jetzt der Prozess bei den Römern fortgeführt werden. Denn nach unserer Kenntnis besaß die jüdische Behörde damals kein Recht zur Hinrichtung. Ein solches ius gladii lag allein bei den Römern.187 Deshalb ist auch nicht von einem „steinigen“ (λιθάζειν [lithazein] oder λιθοβολεῖν [lithobolein]) die Rede, was nach alttestamentlichem Recht (Lev 24,16; Deut 13,2ff ) vorgeschrieben wäre.188 Siehe auch Joh 10,31ff. Jesus wird nun (V. 2) in Fesseln gelegt, aus dem Hohepriester-Palast abgeführt und zu Pilatus gebracht. Erstmals erwähnt Matthäus hier den Namen Pilatus. Pilatus ist nur ein Beiname (cognomen), dazu ein sehr seltener. Sein Familienname (nomen gentile) „Pontius“ wird uns von Lukas (Lk 3,1; Apg 4,27) und Paulus (1Tim 6,13) überliefert. Der Vorname (praenomen) ist uns nicht bekannt. Matthäus gibt ihm den allgemeinen Titel Statthalter (ἡγεμών [hēgemōn]). Die 1961 in Cäsarea Maritima gefundene Inschrift bezeichnet ihn staatsrechtlich genauer als „Präfekten“ (praefectus).189 Seine Statthalterschaft

185 Vollkommen anders die Interpretationslinie in Fiedlers Kommentar, der Matthäus ständig mit Polemik gegen die Pharisäer beschäftigt sieht. 186 Zahn 707. Ganz anders Hengel-Schwemer 601: Der Beschluss sei nur gewesen, „Jesus an Pilatus auszuliefern“. 187 A. Momigliano, CAH, X, 339; Joh 18,31; Hengel-Schwemer 593; Mommsen 212. 188 Ebenso nach Mischna und Talmud: Sanh VI, 1f; b Sanh 43a. Vgl. Strack-Billerbeck I 1023. 189 Oft, auch bei Mommsen 210 und Stevenson 850, wird der Titel „Prokurator“ verwandt.

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in Judäa wird von 26 bis 36/37 n.Chr. angesetzt, also auf zehn Jahre.190 Der Kaiser Tiberius setzte ihn durch die Ernennung zum praefectus Iudaeae in ein schwieriges Amt ein.191 Judäa gehörte zwar zur Provinz Syrien (vgl. Lk 2,2), besaß aber einen Sonderstatus, der dem Präfekten eine große Verantwortung auflud.192 Die Judenschaft genoß seit Cäsars Zeiten gewisse Rechte, die in der Praxis eine Art Autonomie in inneren Angelegenheiten bewirkten. Der Leumund des Pilatus war nicht der beste. Der jüdische Gelehrte Philo erklärte ihn für fähig, jede Schlechtigkeit zu begehen.193 Das Charakterbild, das Josephus etwa in Bell II, 169-177 zeichnet, lässt aber auch erkennen, dass er jüdischem Druck gelegentlich nachgab. Härte, Diplomatie, überraschende Nachgiebigkeit und Angst um seine Karriere scheinen sich bei ihm verbunden zu haben.194 Im Jahr 30 n.Chr., als sehr wahrscheinlich der Prozess gegen Jesus geführt wurde, stand er etwa in der Mitte seiner Statthalterschaft. Er hatte damals schon einige Erfahrungen mit dem Judentum gesammelt. Unser Bericht spricht von einem ausliefern (παρέδωκαν [ paredōkan]) an Pilatus. Hier erfüllte sich also die Leidensweissagung Jesu in Mt 20,29. Ausliefern bedeutet, dass jetzt der Prozess ganz an Pilatus als den Gerichtsherrn überging. Da die Römer keine innerjüdischen religiösen Angelegenheiten behandelten, musste jetzt die Umwandlung von einem religiösen in einen politischen Prozess erfolgen. Die Konsequenzen werden wir in Kürze sehen.

IV Zusammenfassung 1. Der jüdische Prozess gegen Jesus endet mit zwei Ergebnissen: 1) der Verurteilung zum Tode; 2) der Auslieferung an die Römer. 2. Zwingend war dieser Prozess-Ausgang nicht. Man hätte zum Beispiel das Verfahren dilatorisch behandeln oder Jesus, den Nazarener, an seinen Landesherrn Herodes Antipas (vgl. Lk 23,6ff ) ausliefern können. Dass man ihn Pilatus auslieferte, zeigt, dass man auf raschen Vollzug der Todesstrafe drängte.

190 Josephus Ant XVIII, 89. Vgl. Eusebius HistEccl I, 9, 2; DNP 10, 141. 191 Vgl. dazu R. Riesner, Art. Pilatus, GBL 3, 1212-1214. 192 Umstritten ist, ob Judäa nicht doch „eine eigene prokuratorische Provinz“ war (so Mommsen 210,11) oder nur (so DNP 10, 141) einen „Teil der Prov. Syria bildete“. 193 Leg ad Gai 301. 194 Mommsen 214 sieht bei ihm lediglich „alle üblichen Beamtenfrevel“. Als „Aphlitos“ oder „Iplotam“ taucht er gelegentlich in rabbinischen Ahnentafeln des Haman auf (Strack-Billerbeck I 40).

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3. Gerade angesichts des „hatred of the conquered for their conquerers“195 bleibt diese Kooperation zwischen jüdischer und römischer Obrigkeit erstaunlich. Sie führte letzten Endes dazu, dass Juden und Römer in gleicher Weise für den Tod Jesu mitverantwortlich sind. 4. Aus dem religiösen Prozess wird jetzt ein politischer, aus dem jüdischen ein römischer.

2.5 Das Ende des Judas, 27,3-10

I Übersetzung 3 Darauf, als Judas, der ihn auslieferte, sah, dass er verurteilt war, packte ihn die Reue, und er brachte den Hohenpriestern und Ältesten die dreißig Silberstücke zurück 4 und sagte: Ich habe gesündigt, als ich unschuldiges Blut verriet. Sie aber sagten: Was geht das uns an? Da sieh du zu! 5 Und er warf die Silberstücke in den Tempel, verließ den Ort, ging weg und erhängte sich. 6 Die Hohenpriester aber nahmen die Silberstücke und sagten: Es ist nicht erlaubt, sie in den Tempelschatz zu tun, weil es sich um Geld handelt, das für eine Bluttat gezahlt wurde. 7 Sie beschlossen jedoch, davon den Töpferacker als Begräbnisplatz für die Fremden zu kaufen. 8 Deshalb heißt jener Acker bis heute Blutacker. 9 Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesprochen wurde: Und ich nahm die dreißig Silberstücke, das Geld für den abgeschätzten Acker, das die Söhne Israels festlegten, 10 und sie gaben sie für den Töpferacker, wie mir der Herr aufgetragen hat.

II Struktur Auch hier spürt man die Eile, mit der Matthäus auf den Prozess vor Pilatus zueilt. In die wenigen Verse fasst er die Reue des Judas, seine Geldrückgabe, die Reaktion des Hohen Rates, seinen Selbstmord, die Verwendung des Blutgeldes und die Erfüllung der diesbezüglichen alttestamentlichen Prophetie zusammen. Die chronologische Einordnung muss hier ein Stück weit offenbleiben. Grob gesprochen sind diese Ereignisse zwischen dem jüdischen Urteil gegen Jesus und dem darauf folgenden Pfingstfest (Apg 1–2) angesiedelt. Mt 27,3-10 lässt sich wie folgt gliedern: 1) Das Schicksal des Judas (V. 35); 2) das Verfahren der Hohenpriester (V. 6-8); 3) die Erfüllung der Schrift (V. 9-10). 195 So Stevenson 850.

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Mt 27,3-10 ist Sondergut des Matthäus. Man kann fragen, weshalb Matthäus dem Judas so viel Platz einräumt. Immerhin ist die Judas-Überlieferung auch sonst vertreten: So bei Lukas (Apg 1,15-20), in einem Papias-Fragment,196 bei den kleinasiatischen Presbytern197 und im HebrEv.198 Da auch Johannes den Judas häufig erwähnt, scheint es, als ob die Mitapostel Matthäus und Johannes noch besonders unter dem Eindruck des Verrats standen.

III Einzelexegese Vers 3 betont sofort durch die Wortstellung (Τότε ἰδὼν Ἰούδας [Tote idōn Ioudas]), dass es jetzt um Judas geht. Er heißt wieder wie in Mt 10,4; 26,25.47f Judas, der ihn auslieferte. Man musste ja auch jede Verwechslung mit dem anderen Apostel Judas (Joh 14,22) vermeiden. Judas erlebte und sah, dass Jesus verurteilt war. Es bestätigt sich also, dass an diesem Morgen ein endgültiges Urteil seitens des Sanhedrin gegen Jesus erging. Wo er das sah, berichtet Matthäus nicht. Zahn stellte sich das Geschehen recht lebhaft vor: Judas „wird in dem Augenblick, da die Richter den Verurteilten von ihrem Sitzungssaal zum Prätorium des Pilatus geleiteten (2.12), die Vorübergehenden angesprochen und versucht haben, ihnen … den von ihnen empfangenen Lohn wieder zuzustellen“.199 Matthäus fokussiert aber auf etwas anderes: da packte ihn die Reue (μεταμεληθείς [metamelētheis]). Bei μεταμεληθείς liegt wohl ein ingressiver Aorist vor.200 Das Verb μεταμέλομαι [metamelomai] bezeichnet die tätige Reue (vgl. Mt 21,29.32). Man darf aber nicht mit Fiedler dem Judas einfach eine „echte“ und „vollkommene“ Reue, dem Petrus dagegen eine „unvollkommene“ unterstellen, weil Letzterer sich „in Sicherheit“ bringt.201 Dazu noch später. Die dreißig Silberstücke (vermutlich Silberschekel) ist sein nach Mt 26,15 vereinbarter Lohn für die Auslieferung Jesu. Jetzt brennt ihm das Geld unter den Fingern. Wenn er es zurückbrachte, will er das Vertragsverhältnis mit dem Sanhedrin wieder lösen. Denn die Hohenpriester und Ältesten sind wie in Mt 21,23; 26,3.47 der Hohe Rat. Als Grund für die versuchte Rückgabe nennt Judas: Ich habe gesündigt, als ich unschuldiges Blut verriet (V. 4). Wer unschuldiges Blut vergießt, ist nach dem mosaischen Gesetz verflucht (Deut 27,25; vgl. 1Sam 19,5; Spr 6,16f; Jer 19,4; 1Makk 1,39). Durch die Auslieferung Jesu an den Hohen Rat 196 197 198 199 200 201

Abgedruckt bei Aland, Syn, 470. Irenäus AdvHaer V, 33,3f. Nach Hieronymus Comm in Matth 27,9 (s. Aland, Syn, 469). Zahn 707. Ähnlich Kroll 471; Kopp 408. BDR § 331. Fiedler 403.405,92. Ähnlich Luz IV 233f.

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(Mt 26,14ff.47ff ) hat Judas die Grundlage für das Todesurteil geschaffen. Zweierlei ist an seiner Aussage bemerkenswert: 1) Die Formulierung Ich verriet (oder: lieferte aus) unschuldiges Blut zeigt, dass Judas von allem Anfang an bewusst war, dass Jesus auch im Sinne des mosaischen Gesetzes unschuldig war. Warum verriet er ihn dann? 2) Er verschweigt seine Sünde nicht: Ich habe gesündigt. Es ist dieselbe Formulierung, wie sie der verlorene Sohn in Lk 15,18.21 benutzt (vgl. Lk 18,13). Und doch: In Lk 15 und 18 wird dieses Bekenntnis Gott gegenüber gesprochen, in Mt 27,4 spricht es Judas nur dem Hohen Rat gegenüber aus. Eines behält aber sein volles Gewicht: Das ist die Unschuldsfeststellung, die Judas für Jesus aussprach. Die Zeugen im Prozess konnten das „schuldig“ nicht begründen. Aber Judas, Pilatus (Mt 27,23), Herodes (Lk 23,15), der römische Centurio (Mt 27,54) sind sich völlig einig: Jesus ist unschuldig. Selbst der Koran bezeugt seine Unschuld.202 Zahn nannte die Reaktion der Hohenpriester und Ältesten eine „kühle Abweisung“.203 Das ist untertrieben. Die Antwort: Was geht das uns an? Da sieh du zu (σὺ ὄψῃ [sy opsē])! wirft den Judas völlig auf seine eigene Verantwortung zurück. Untergründig wird eine fundamentale Spannung spürbar: Während Jesus die Sünden einer ganzen Welt „tragen“ will (Joh 1,29.36; Mt 20,28), soll Judas die seinen alleine tragen. Letzteres ist zur Linie des Koran und der europäischen Aufklärung geworden. Was geht uns das an? bedeutet: Fortan sind unsere Wege geschieden, wir beide haben unseren Vertrag erfüllt. Da sieh du zu!:204 Du musst deine Angelegenheiten selbst regeln, für uns gibt es hier keine Solidarität der Schuld. Siehe auch Mt 26,24. Es bleibt die leise Frage: Hätten die Hohenpriester nicht auch als Seelsorger handeln können?205 Was tut Judas? Matthäus summiert es in wenigen Worten: Und er warf die Silberstücke in den Tempel, verließ den Ort, ging weg und erhängte sich (V. 5). Werfen, ῥίπτειν/ῥιπτεῖν [rhiptein], ist ein Verb, das eine entschiedene Distanzierung, fast ein „Entsorgen“, ausdrückt.206 Der Tempel, ναός [naos], ist das Haus der Priester. Es ist ihr Geld, deshalb wirft Judas die Silberstücke in den Tempel.207 ἀναχωρεῖν [anachōrein] bedeutet gleichzeitig „sich entfernen“ und „entweichen“. Judas zieht es nicht zum Tempel wie den Zöllner in Lk 18,9ff, sondern ihm graust es vor ihm, deshalb verließ er den Ort. Er ging 202 203 204 205

Sure 3,43ff; 4,157ff; 5,111ff; 43,58ff. Zahn 707. Nach BDR § 362,3 ein Latinismus. Vgl. Maier II 420. „Offene Ironie“ sollte man den Hohenpriestern aber nicht unterstellen (gegen Sand 548), ebenso wenig, „zynisch“ zu sein (Luz IV 235). 206 Vgl. Bauer-Aland 1474; Zahn 707,73. 207 Jedenfalls ist es keiner der Opferkästen. Wohin genau er sie warf, wird nicht gesagt.

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weg: vom Schauplatz all jener Vorgänge. Wohin? Auf sein eigenes Grundstück (χωρίον [chōrion]), von dem Apg 1,18 und das Papias-Fragment wissen?208 Auffallenderweise ist immer von Judas allein die Rede. Er scheint keine Familie, keine Freunde, keine Verbündeten, keine Zuflucht zu haben. Nur schriftstellerische Performance? Die letzte Bemerkung lautet: Er erhängte sich. Im Griechischen steht hier nur das eine Wort ἀπήγξατο [apēnxato]. Klar ist, dass das Rabbinat den Selbstmord verbot. Die biblische Grundlage für dieses Verbot sah man in Gen 9,5.209 B Baba Qamma 91b bestimmt, „man dürfe sich selbst nicht verletzen“. Eine Passage im Bellum Judaicum des Josephus beweist, dass schon im 1. Jh. n.Chr. der Selbstmord als große Sünde galt (III, 367ff ). Judas muss dies bewusst gewesen sein. Wieder stehen wir vor der Frage: Warum tat er das? Es wird gut sein, wenn man psychologische Spekulationen meidet. Nur zweierlei ist deutlich: Judas hat sein alttestamentliches Vorbild in Ahitofel, dem Verräter Davids (2Sam 17,23; vgl. 1Sam 31,4 Saul; 1Kön 16,18 Simri), und schlägt eben nicht den Weg zur Buße, sondern zu neuer Sünde ein. Dass sich damit gleichzeitig eine menschliche Tragödie ereignet, ist unbestritten. Die Verse 6-8 schildern das Verfahren der Hohenpriester. Die Eile, mit der Matthäus auf den Pilatus-Prozess zugeht, lässt sich auch daran ablesen, dass er über das Auffinden der Silberstücke nichts berichtet, auch nicht über ihre Identifikation als das Blutgeld des Judas. Er schreibt einfach: Die Hohenpriester aber nahmen die Silberstücke … (V. 6). Dass er hier nur die Priester erwähnt, ist sachgerecht. Denn der ganze Tempel stand unter ihrer Verwaltung. Die Feststellung „Es ist erlaubt“ / Es ist nicht erlaubt ist typisch für die Gesetzesauslegung (vgl. Mal 2,7; Mt 12,2.4.10.12; 14,4; 19,3; 20,15.17). Für Tempelschatz steht hier κορβανᾶς [korbanas], die griech. Form für hebr. ‫[ ָקְר ָ ּבן‬qorban], aram. ‫[ ָקְר ָ ּבָנא‬qorbanaʾ].210 Tempelschatz bezeichnet die gesamten Finanzmittel, die dem Tempel zur Verfügung standen,211 also nicht nur das Geld der Opferkästen (γαζοφυλάκιον [gazophylakion], Mk 12,41ff par.). Warum ist es nicht erlaubt, den Judaslohn in den Tempelschatz zu tun? Gelegentlich sagt das AT ausdrücklich, dass bestimmte Entlohnungen nicht in den Tempelschatz aufgenommen werden dürfen, so die Entlohnungen für männliche oder weibliche Prostitution (Deut 23,19). Die Rabbinen führten außerdem Diskussionen über erlaubte und nicht erlaubte Rückerstattungen.212 208 209 210 211 212

Vgl. Maier, JO, 40. Strack-Billerbeck I 1027. BDR § 58,1; Bauer-Aland 903; Josephus Bell II, 175; Strack-Billerbeck I 1028. Vgl. wieder Josephus a.a.O.; 2Makk 3,1ff. Vgl. Strack-Billerbeck I 1029.

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Beispielsweise lehrten die Rabbanan nach b BQ 94b: „Wenn Räuber oder Wucherer zurückerstatten wollen, so nehme man es von ihnen nicht an.“ Da Sexualdelikte und Tötungsdelikte in der Tora in engem Zusammenhang gesehen werden (z.B. Mt 15,19; 5,21-32; Apg 15,29), ist es gut möglich, dass man Deut 23,19 auch auf Fälle anwandte, in denen für eine Bluttat gezahlt wurde (τιμὴ αἵματος [timē haimatos]). Enthält dann Mt 27,6 auch das Zugeständnis der Hohenpriester, dass Jesus unschuldig sei (vgl. V. 3f )? Nicht unbedingt. Denn die nomistische Auslegung der Tora versuchte auch strittige Fälle zu erfassen. Die Hohenpriester hätten die Möglichkeit gehabt, das Geld unter die Bettler zu werfen oder an Arme zu geben (vgl. Tob 1,19; Lk 19,8). Stattdessen verwenden sie es zum Kauf eines Begräbnisplatzes213 (V. 7). Er sollte für die Fremden (τοῖς ξένοις [tois xenois]) bestimmt sein. Vermutlich sind damit auswärtige Festpilger gemeint, die während der Wallfahrtsfeste (Lev 23; Deut 16) oder aus sonstigem Anlass nach Jerusalem pilgerten und in dieser Zeit starben.214 Damit erfüllten die Hohenpriester eine moralische Pflicht, die ihnen überdies Sympathien im Volk eintrug. Sie zogen auf diese Weise aus den dreißig Silberstücken zum zweiten Mal einen Vorteil. Sie kauften den Töpferacker (τὸν ἀγρὸν τοῦ κεραμέως [ton agron tou kerameōs]). Über das blühende Töpferhandwerk in Jerusalem vgl. Jer 18,1ff; 19,1ff; jetzt noch sind die Funde im Burnt House in Jerusalem eindrucksvoll. Der Name Töpferacker kann von der Nähe des Grundstücks zu einer Töpferei oder sogar von einer Töpferwerkstatt, die dort stand, abgeleitet sein. Am besten sucht man dieses Grundstück am Ausgang des Hinnomtales in der Nähe des alten Scherbentores (Jer 19,1f ).215 Doch mit der Umwandlung in einen Begräbnisplatz216 wandelt sich jetzt auch der Name (V. 8): Deshalb heißt jener Acker bis heute Blutacker. Es erstaunt, dass Matthäus mitten im Passionsbericht Zeit findet für eine geografische Notiz. Man kann Mt 27,8 eigentlich nur so erklären, dass die ersten Leser des Matthäusevangeliums im Israelland zu Hause waren. Sie sollten durch bestimmte Orte und Verhältnisse (Mt 28,15) an die Realität der Geschichte Jesu erinnert werden. Den Namen Blutacker gibt Matthäus griechisch wieder: ἀγρὸς αἵματος [agros haimatos]. Wir haben in der Handschriftenüberlieferung keinen Anhaltspunkt, dass bei Matthäus je etwas anderes ge213 Bauer-Aland 1608. 214 So Schlatter 405; Fiedler 406; Kopp 411. Andere Deutungen bleiben möglich: Luz IV 239: „Juden oder Heiden“. Maier II 423 dachte an Nichtjuden; ebenso G. Stählin, Art. ξένος usw., ThWNT, V, 1954, 2. 215 Carson 562; R. Riesner, Art. Hakeldama, GBL 2, 508; Dalman 265f; Kroll 472. 216 Der Begräbnisplatz galt wie alle Friedhöfe als unrein. France 387.

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standen hätte als der griechische Name. Dagegen hat Lukas in Apg 1,19 den aramäischen Namen bewahrt: Ἁκελδαμάχ [Hakeldamach].217 Man ist sich einig, dass dies auf aram. ‫[ ֲחֵקל ְ ּדָמא‬chᵃqel dᵉmāʾ] zurückzuführen ist. Matthäus konnte es sich bei seiner zweisprachigen Leserschaft (aram./hebr. und griech.) wohl leisten, nur den griechischen Namen zu bringen. Lukas scheint Wert auf die Altertümlichkeit gelegt zu haben. Jedenfalls wird das bis heute sowohl von Matthäus als auch von Lukas vertreten.218 Wer so schreibt, will bewusst Geschichte, und zwar tatsächlich stattgefundene Geschichte, erzählen. Riesner219 bemerkt dazu: „Mt zeigt Ortskenntnis.“ Spätere Zeugnisse in der Literatur und Archäologie stimmen bezüglich der Ortslage im südlichen Hinnomtal „fast ohne Schwanken“ überein.220 Eine Marienkirche in der Kreuzfahrerzeit, ein großes Grabgewölbe aus der Kreuzfahrerzeit und Gräber aus der neutestamentlichen Zeit gehören zu diesen Spuren.221 An einer Stelle ist jedoch Vorsicht angebracht: Mt 27,3-10 muss vom zeitlichen Ansatz her offenbleiben. Namenswechsel, Errichtung des Begräbnisplatzes, Kauf des Grundstücks durch die Hohenpriester können sich unmöglich während der Passion Jesu abgespielt haben. Die letzte Bemerkung des Matthäus in unserem kleinen Abschnitt gilt dem Schriftbeweis (V. 9f ). Wir beobachten hier denselben Vorgang wie in Mt 1,18ff; 2,13ff.16ff.19ff; 4,13ff; 8,14ff; 12,15ff. Erneut erweist sich Matthäus als kenntnisreicher christlicher Schriftgelehrter.222 Aber das Verständnis bereitet uns in Mt 27,9f erhebliche Schwierigkeiten: Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesprochen wurde: Und ich nahm die dreißig Silberstücke, das Geld für den abgeschätzten Acker, das die Söhne Israels festlegten, und sie gaben sie für den Töpferacker, wie mir der Herr aufgetragen hat. Bis heute bleiben manche Details dunkel, die Annahmen der Exegeten vielfach hypothetisch.223 Vielleicht lässt sich Folgendes festhalten: 1) Das Thema des Acker-Kaufs stammt aus Jer 32,6-9 MT / 39,6-9 LXX. Da diese JeremiaStelle für Mt 27,6-8 die Grundlage bildet, hat Matthäus mit Recht geschrieben: Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesprochen wurde.224 2) Die Thematik der dreißig Silberstücke stammt aus Sach 11,12f. 217 218 219 220 221 222 223 224

Nebenformen: Αχελδαμαχ; Ακελδαιμαχ; Ακελδαμα; Ακελδαμακ. ἕως inkludierend. A.a.O. Riesner a.a.O.; Dalman 265f. Vgl. Dalman a.a.O.; Riesner a.a.O.; Kroll 471f; Kopp 408ff. France 388: „a careful theological study“. Carson 563 zu Letzteren: „Highly improbable ‚solutions‘ abound“. Dieselbe Wendung Mt 2,17.

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Matthäus musste aber den Propheten Sacharja nicht extra neben Jeremia erwähnen, sondern durfte beides, Jer 32,6ff und Sach 11,12f, als Kombinationszitat unter dem Namen des Jeremia zusammenfassen. 3) Daneben hat Matthäus einige Einzelheiten den biblischen Abschnitten Jer 32,6ff / Sach 11,12f entnommen: So καὶ ἔλαβον τὰ τριάκοντα ἀργύρια [kai elabon ta triakonta argyria] aus Sach 11,13 (dort τοὺς τριάκοντα ἀργυροῦς [tous triakonta argyrous] LXX), vorher schon V. 5 ῥίψας τὰ ἀργύρια εἰς τὸν ναόν [rhipsas ta argyria eis ton naon] aus Sach 11,13 (dort ἐνέβαλον αὐτοὺς εἰς τὸν οἶκον κυρίου [enebalon autous eis ton oikon kyriou] LXX; vgl. ἀπέρριψα [aperripsa] V. 14), und καθὰ συνέταξεν κύριος [katha synetaxen kyrios] aus Jer 32,6 (λόγος κυρίου ἐγενήθη [logos kyriou egenēthē] Jer 39,6 LXX).225 Eine solche Berufung auf biblische Prophetie ist sinnvoll nur unter der Voraussetzung, dass es sich um göttlich inspirierte Worte handelt, die sich einmal in der Geschichte erfüllen sollten. Diese Voraussetzung hat Matthäus allerdings gemacht.

IV Zusammenfassung 1. Am Ende diese Abschnitts stellen sich, neben der historischen Frage, vor allem zwei Fragen: Ist Judas für sein Handeln verantwortlich, wenn doch die Propheten es schon vor Jahrhunderten vorausgesagt haben? Und: Ist Judas im Himmel?, wie man heute vielfach liest. 2. Ein breiter Strom historisch-kritischer Exegese verneint die Historizität von Mt 27,3-10. Ohne jede Begründung reiht Bultmann unseren Abschnitt unter „rein legendarische Zusätze“ im Matthäusevangelium ein.226 Beare urteilt ebenfalls rein subjektiv: „The whole story is obviously fictional.“227 Auch Hengel-Schwemer und Theißen-Merz sind sich einig: Es handelt sich um einen Stoff „legendärer Art“.228 Aber das weitgespannte Interesse sowohl der frühen Christenheit als auch der frühen Häretiker (Judasevangelium229) beweist letzten Endes für die Historizität gar nichts. Es kann sowohl an historischen Fakten als auch an Legenden interessiert gewesen sein. Solange weder criteria externa noch criteria interna gegen die Historizität von Mt 27,3-10 sprechen, halten wir diesen Teil des Matthäusevangeliums für historisch begründet. 225 226 227 228

Ex 9,12 hat mit Mt 27,9f nichts zu tun (Carson 563). Bultmann, Gesch, 294. Beare 525. Hengel-Schwemer 571; Theißen-Merz 46. Sand 548 rechnet immerhin mit „historischen Reminiszenzen“. Luz IV 247 unentschieden. 229 Irenäus AdvHaer I, 31,1.

2. Der Prozess, 26,47–27,30

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3. Ist Judas für sein Handeln verantwortlich? Diese Frage ragt weit in das Gebiet der Dogmatik hinein. Im Grunde wurde sie schon durch Jesus beantwortet: „Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird“ (Mt 26,24). „Der Ausliefernde“ ist konstanter Name des Judas (Mt 10,4; 26,25; 26,47f ). Jesu Wehe hält seine Verantwortung fest. Es kündigt zugleich die eschatologische Strafe an. Die frühe Kirche hat beide biblischen Perspektiven vertreten. Im Anschluss an Deut 30,15ff; Hes 18; 33; Sir 15,11ff und in Gemeinschaft mit P. Abot III, 19 schrieb der bedeutende kleinasiatische Theologe Irenäus sein Kapitel vom freien Willen des Menschen (AdvHaer IV, 37). Danach kündigt die göttliche Prophetie zwar das Künftige an, aber die geschichtliche Verwirklichung geschieht durch die „Freiheit und Selbstentscheidung des Menschen“, die „Gott beachtet“.230 Erst die lutherische Lehre in De servo arbitrio hat mit dieser Dogmatik gebrochen. In der Folgezeit hat die Neologie und die anschließende historisch-kritische Exegese die überlieferte christliche Glaubenslehre infrage gestellt. 4. „Ist Judas im Himmel?“ war dieser Tage231 ein theologischer Artikel überschrieben. Seine Thematik hängt eng mit der vorausgehenden Frage zusammen. Für eine jahrhundertelange christliche Auslegungsgeschichte wäre die genannte Frage unmöglich gewesen.232 Die Postmoderne hat jedoch für den Protestantismus das Bild gewandelt. Eine präliminarische Diskussion betrifft die Reue des Judas. Überraschend häufig stoßen wir heute auf die Aussage, dass die Reue des Judas „echt und … vollkommen“ gewesen sei.233 Fiedler zieht daraus den Schluss, „dass Judas endgültige Vergebung gefunden hat“.234 Ja mehr noch: Mt 27,3-10 sei ein „Grund zur Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit, auch für andere Menschen in auswegloser Situation“.235 Nicht anders Luz. Judas’ Reue sei „tief und ernst“.236 „Warum“, so Luz weiter, erleiden dann „Petrus und Judas, die beide Jesus im Stich ließen und bereuten, ein so verschiedenes Schicksal?“237 Luz selbst löst die Frage so, dass er mit Karl Barth von der „Übermacht“ von Gottes Gnade ausgeht und die Judasgeschichte so endigen lässt, dass „jubelnde Engel“ die Seele des Judas „in den Himmel tragen“.238 Damit sind wir bei 230 231 232 233 234 235 236 237 238

AdvHaer IV, 37,5. idea Spektrum 12 (2016) 19. Vgl. den ausführlichen Exkurs bei Luz IV 241ff. Fiedler 405,92. Fiedler 405. A.a.O. Luz IV 239. Luz IV 241. Luz IV 244.

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Rolf Wischnaths Artikel239 aus der Osterzeit 2016. Auch er attestiert Judas echte „Reue“. Der Verräter spricht mit seinem Schuldbekenntnis „als Einziger die Wahrheit im Prozess aus“. Und weil Jesus auch für seine Schuld gestorben ist, gilt: Judas ist „gerechtfertigt und nicht in Ewigkeit verloren … wen dürften wir dann heute in unserer Lebenszeit verloren geben?“240 Man darf diese Äußerungen nicht als eine Art Randnotizen betrachten. Vielmehr geben sie die Eindrücke vieler Zeitgenossen wieder. Hier erwacht aufs Neue die Sehnsucht der Gnostiker, die in Judas einen Träger der Wahrheit sehen wollten.241 Hier meldet sich auch der Abscheu der Aufklärung vor dem Gericht und den ewigen Höllenstrafen, die Augustinus trotz seiner Prädestinationslehre so nachdrücklich verteidigt hat.242 Auch die Abneigung der postmodernen protestantischen Theologie, sich festzulegen, spielt hier eine Rolle. Typisch ist Otts wiederholte Aussage: Es seien „keine objektivierenden Aussagen … möglich … Es ist hier schlechterdings keine Auskunft möglich“.243 Von Mt 27,3-10 her ist zu sagen: Reue und Buße müssen in der Sicht der Bibel deutlich unterschieden werden.244 Reue, kann ein Anfang der Buße sein, muss es aber nicht (2Kor 7,10). Buße, ‫[ שׁוּב‬schūb], μετανοεῖν [metanoein], bedeutet biblisch eine Hinwendung zu Gott. Wo hat sich Judas zu Jesus oder Gott hingewandt? Wo hat er den Zwölferkreis neu aufgesucht? Michel, der von Luz gescholten wird,245 bemerkt mit Recht zu Mt 27,3ff: „hier redet der Text von Reue, nicht von Buße“.246 Luz sagt dazu: „Unsinn!“247 Ist er mit seiner Exegese sinnvoller? Er fragt: „Warum erleiden Petrus und Judas, die beide Jesus im Stich ließen und bereuten, ein so verschiedenes Schicksal?“248 Matthäus antwortet: Wer mit seinem Selbstmord dem Beispiel des Ahitofel folgt und neue Sünde zur alten häuft, ohne irgendeinen Kontakt zu Jesus oder dem Vater im Himmel zu suchen, der kann nicht mehr gerettet werden. Petrus aber, obwohl aufs Tiefste gedemütigt, bleibt bei den Aposteln (28,16), erlebt Jesu Missionsbefehl (28,18ff ) und gehört folglich zu den Sendboten Jesu. Mt

239 240 241 242 243 244 245 246 247 248

Vgl. wieder idea Spektrum 12 (2016) 19. A.a.O. Irenäus AdvHaer I, 31,1; Schneemelcher I 309f. DCD XXI. Ott 470f. O. Michel, Art. μεταμέλομαι usw., ThWNT, IV, 1942, 631. Auch Fruchtenbaum 99. Luz IV 234. Michel a.a.O. 632. A.a.O. 235. Luz IV 241.

2. Der Prozess, 26,47–27,30

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16,17ff wird nicht aufgehoben. Warum ist Judas diesen Weg nicht gegangen?249

2.6 Die Verhandlung vor Pilatus, 27,11-25

I Übersetzung 11 Jesus aber wurde vor den Statthalter gestellt. Und der Statthalter fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus sagte: Du sagst es. 12 Und als er von den Hohenpriestern und Ältesten angeklagt wurde, antwortete er nichts. 13 Darauf sagt Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, was für schwere Anklagen sie gegen dich vorbringen? 14 Und er antwortet ihm nicht ein einziges Wort, sodass der Statthalter mehr als verwundert war. 15 An jedem Fest250 aber hatte der Statthalter die Gepflogenheit, der Menge einen Gefangenen loszugeben, den sie frei bestimmen durften. 16 Sie hatten aber damals einen besonderen Gefangenen mit dem Namen Jesus Bar Abba. 17 Als sie nun versammelt waren, sagte Pilatus zu ihnen: Wen wollt ihr für euch freigelassen haben, Jesus, den Bar Abba, oder Jesus, der Messias genannt wird? 18 Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid ausgeliefert hatten. 19 Als er aber auf dem Richterstuhl saß, schickte ihm seine Frau eine Botschaft: Habe du mit jenem Gerechten nichts zu schaffen! Denn ich habe heute Nacht im Traum seinetwegen viel erlitten. 20 Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten die Menge, dass sie um Bar Abba bitten, Jesus aber zur Hinrichtung freigeben sollten. 21 Der Statthalter ergriff also das Wort und fragte sie: Wen von den beiden wollt ihr für euch freigelassen haben? Sie aber sagten: Bar Abba. 22 Pilatus sagt zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus machen, der Messias genannt wird? Sie sagen alle: Er soll gekreuzigt werden! 23 Er aber sagte: Was hat er denn251 Böses getan? Sie aber schrien immer noch lauter: Er soll gekreuzigt werden! 24 Als aber Pilatus sah, dass alles nichts nutzte, sondern der Tumult noch größer wurde, nahm er Wasser, wusch vor den Augen der Menge die Hände und sagte: Ich bin unschuldig an diesem Blut. Seht ihr zu! 25 Und das ganze Volk gab zur Antwort: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.

249 Aus den Neuerscheinungen zum Judas-Thema sei noch erwähnt: T. Lee, Iskariot, Gießen 2016. 250 BDR § 200,11. 251 Vgl. BDR § 452,1.

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II Struktur Dass die Struktur von Mt 27,11-25 nicht ganz einfach ist, merkt man schon daran, dass die Alandsche Synopse diesen Stoff unter drei verschiedene Überschriften eingruppiert – ganz zu schweigen davon, dass sich zwischen diese verschiedenen Teile noch einmal andere Texte einschieben.252 Der monumentale Kommentar von Luz hat ähnlich wie wir253 das Bestreben, den PilatusProzess in ein großes Ganzes zusammenzufassen, erweitert aber Letzteres noch durch V. 26.254 Wir gehen in unserem Kommentar davon aus, dass wir der cognitio des römischen Beamten folgen, und erst mit der Urteilssentenz in V. 26 einen neuen Abschnitt beginnen lassen. Dann aber bekommt Mt 27,11-25 eine durchsichtigere Struktur. Ersten Untersuchungen, ob Pilatus nicht a limine ablehnen sollte (V. 11-14), folgt der Versuch des Pilatus, den Prozess mithilfe seiner Passa-Amnestie loszuwerden (V. 15-21). In diesen Unterabschnitt hat Matthäus aus einem Sondergut die Warnung der Frau des Pilatus eingeschoben (V. 19). In einem dritten Unterabschnitt der cognitio droht Pilatus den Juden mit einem Freispruch, beugt sich dann aber ihrem Druck – nicht ohne die dramatische Geste des Händewaschens – und schreitet zur Annahme des Prozesses und zum Urteilsspruch (V. 22-25). Das Verhältnis der Evangelien untereinander ist paradox. Im Großverlauf fallen viele wörtliche Übereinstimmungen auf. Daneben gibt es weite Bereiche, in denen jeder Evangelist seinen speziellen Quellen folgt. Die Erklärung dieser Paradoxie dürfte darin liegen, dass es einerseits in der gesamten Urchristenheit ein einheitliches Erzählmuster für die Passionsgeschichte gab, andererseits die vielen „Augenzeugen und Diener des Worts“ jeweils aus ihrer Kenntnis schöpfen konnten. Jedenfalls bringt Matthäus bei der Frau des Pilatus (V. 19) und beim Händewaschen (V. 24-25) Sondergut.

III Einzelexegese In V. 11 scheint die Übersetzung er wurde gestellt sachgemäßer zu sein als „er stand“.255 Erneut haben wir ἡγεμών [hēgemōn] mit Statthalter übersetzt, weil sich diese Übersetzung eingebürgert hat, bleiben aber der Warnung im Neuen Pauly eingedenk, wonach diese Übersetzung im Grunde irrig sei.256

252 253 254 255 256

Aland, Syn, 470-479. Vgl. Maier II 426ff. Luz IV 264ff. Gegen Bauer-Aland 774. Vgl. BasisBibel; Luz IV 264. DNP 10, 141.

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Die erste Frage, die Pilatus an Jesus richtet, lautet: Bist du der König der Juden? In allen vier Evangelien ist dies die erste Frage an Jesus (vgl. Mk 15,2; Lk 23,3; Joh 18,33). Und in allen vier Evangelien lautet sie genau gleich. War es so, dann kann eine solche Frage nur davon kommen, dass die Anklage der Juden vor dem römischen Richter eben die war: Jesus wolle der König der Juden sein. Siehe auch Lk 23,2; Joh 18,30ff. Weil der „Messias“-Titel ganz selbstverständlich den Titel König einschloss (vgl. Mt 21,5), war diese Anklage nicht einmal falsch. Sie „frisierte“ aber die Messianität einseitig auf das Königtum hin, gab dem Ganzen außerdem einen politischen, nationalreligiösen Charakter, und trieb deshalb Pilatus in die falsche Richtung. Aus dem religiösen war jetzt ein politischer Prozess geworden. Die Überraschung steckt am Ende des 11. Verses, nämlich in Jesu Antwort. Du sagst es (σὺ λέγεις [sy legeis]). Auch diese Antwort ist in allen vier Evangelien gleich (Mt 27,11; Mk 15,2; Lk 23,3; Joh 18,37). Wie in Mt 26,25.64 stellt sie eine „Bejahungsformel“ dar.257 Rund, schlicht, ohne Einschränkung sagt also Jesus vor dem Römer: „Ja, ich bin der König der Juden.“ Die Evangelien lassen deutlich erkennen, wie verblüfft der erfahrene Präfekt Pilatus über einen solchen Angeklagten war, der weder überheblich noch durchtrieben vor ihm stand. Unzweifelhaft hatte Paulus die von Augenzeugen erzählte Passionsgeschichte vor Augen, als er an Timotheus über Christus Jesus schrieb: „der unter Pontius Pilatus bezeugt hat das gute Bekenntnis“ (1Tim 6,13). Am Beginn der Verhandlung vor Pilatus erwartet man eigentlich ein paar Angaben des Evangelisten zu den Rahmenbedingungen des Prozesses. Warum ist Pilatus gerade in Jerusalem und nicht am Hauptsitz der römischen Verwaltung in Cäsarea Maritima? An welchem Ort in Jerusalem fand das römische Gerichtsverfahren statt? Wer war der Wortführer des Hohen Rates? Weder über diese Punkte noch gar über Grundsätze des Römischen Rechts hat Matthäus berichtet. Er schreibt in äußerster Konzentration über das, was man Jesus angetan hat. Voraussetzen können wir allerdings das römische Provinzialrecht, das den römischen Machthabern gegenüber den einheimischen Provinzialen eine immense Machtfülle gab. Solange Rom und römische Bürger nicht berührt waren, genoss ein Präfekt wie Pilatus eine erstaunliche Freiheit im Verfahren und im Umgang mit den Menschen. Wie weit die Grenzen des Provinzialrechts gezogen waren, ergibt sich noch 80 Jahre später aus dem Schreiben des jüngeren Plinius an Kaiser Trajan: „Untersuchungen über die Christen habe ich niemals beigewohnt, daher weiß ich nicht, was und wieweit 257 Strack-Billerbeck I 990.1031; Hengel-Schwemer 604.

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man zu strafen oder zu untersuchen pflegt … ob der Name an sich, auch wenn kein Verbrechen vorliegt, oder die an dem Namen haftenden Verbrechen bestraft werden sollen … Um so mehr hielt ich es für notwendig, von zwei Mägden, welche Diakonissen genannt wurden, die Wahrheit selbst mittels der Folter zu erfahren. Ich habe nichts andres gefunden als einen verkehrten, maßlosen Aberglauben.“258 Fast zeitgleich mit dem Pliniusbrief referierte Cornelius Tacitus in seinen Annalen259 über den Prozess des Pilatus mit einem einzigen Satz: „Christus war unter der Regierung des Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden.“ Kein Tadel. Es scheint, dass Rom mit dem Prozess gegen Jesus zufrieden war. Pilatus lässt sich weiter von den Anklägern berichten (V. 12). Das konnte er fortsetzen, solange er es für richtig hielt. Aber Matthäus hebt auch hier auf das Verhalten Jesu ab: Und als er von den Hohenpriestern und Ältesten angeklagt wurde, antwortete er nichts. κατηγορέω [katēgoreō] ist juristischer terminus technicus, auch bei Josephus und als Fremdwort für κατήγωρ [katēgōr] bei den Rabbinen nachweisbar.260 Die Wendung ἐν τῷ κατηγορεῖσθαι [en tō katēgoreisthai] ist durativ zu verstehen,261 bedeutet also: „die ganze Zeit über, während er angeklagt wurde“. Pilatus muss ihm die Gelegenheit zur Gegenrede gegeben haben, doch Jesus nutzte sie nicht: er antwortete nichts. Dem apostolischen Zeitalter hat sich dieses Verhalten tief eingeprägt: „der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt“ (1Petr 2,23; vgl. 3,9). Jesus verwirklichte dabei die Bergpredigt (Mt 5,39). Zugleich hielt er sich an Jes 42,2; 53,7. Jetzt greift Pilatus zugunsten des Angeklagten ein: Hörst du nicht, was für schwere Anklagen sie gegen dich vorbringen? (V. 13). Es beginnt die Kette jener Interventionen,262 die dem Talmud Anlass geben zu der Bemerkung, dass Jesus „der Regierung nahe stand“.263 Für Pilatus war es unbegreiflich, dass Jesus schwieg. Siehe auch Mk 14,61; 15,5; Joh 19,9 und Ps 38,14ff; 39,9f; Jes 53,7. Er konnte sich damit um Kopf und Kragen bringen. Denn die Aussage der Ankläger (καταμαρτυροῦσιν [katamartyrousin], in Mk 15,4 κατηγοροῦσιν [katēgorousin]) war schwer (πόσα [ posa]), es handelte sich immerhin um einen Kapitalprozess. Angesichts der in der jüdischen Überliefe258 Rinn-Jüngst 8f. 259 Ann XV, 44. 260 Josephus Ant XIII, 104; Bauer-Aland 860f; F. Büchsel, Art. κατήγορος usw., ThWNT, III, 1938, 637f; BDR § 312,1. 261 BDR § 404,2. 262 Vgl. Zahn 710; Hengel-Schwemer 604ff. 263 B Sanh 43a; Schäfer 132.

2. Der Prozess, 26,47–27,30

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rung sehr wohl beachteten römischen Interventionen ist es nicht möglich, einfach nur Pilatus bzw. die Römer für Jesu Hinrichtung verantwortlich zu machen.264 Die Intervention bleibt fruchtlos (V. 14): Und er antwortet ihm nicht ein einziges Wort, sodass der Statthalter mehr als verwundert war.265 Man könnte allerdings auch übersetzen: „Und er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort“, sodass also Pilatus wiederholt das Wort an ihn gerichtet hätte.266 Im Endeffekt ist der Unterschied nicht allzu groß. Der römische Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars ließ sich an dieser Stelle des Prozesses nicht mehr durchführen.267 Aber man darf nun nicht in den Fehler von Luz verfallen und jeden Einzelschritt daraufhin prüfen wollen,268 ob hier „der ganze Prozeß juristisch als prozessural ordentliche ‚cognitio‘ zu verstehen sei“.269 Denn erstens gilt hier Mommsens Urteil über provinziale Verfahren, dass „Ihr Wesen … die legalisierte Formlosigkeit“ sei,270 und zweitens sollte man Trajans Bescheid an Plinius nicht vergessen: „Freilich läßt sich im allgemeinen nicht bestimmen, was, so zu sagen, eine feste Norm abgäbe.“271 Genug, dass Pilatus alles versucht hat. ὥστε θαυμάζειν τὸν ἡγεμόνα λίαν [hōste thaumazein ton hēgemona lian]: Er mag bisher anderes erlebt haben. Ein Angeklagter jedoch, der zuerst der Anklage recht gibt (Du sagst es) und dann auf jede Verteidigung verzichtet, ist ihm bisher vermutlich nicht untergekommen. „Von da an muß Pilatus klargewesen sein, daß er keinen Zeloten, sondern einen Unschuldigen vor sich hatte.“272 Allerdings wiederholte sich manches dreißig Jahre später (62 n.Chr.) bei dem zweiten Jesus, der Jerusalems Untergang ankündigte. Auch der antwortete dem römischen Statthalter Albinus „nicht das geringste“ (πρὸς ταῦτα μὲν οὐδ᾿ ὁτιοῦν ἀπεκρίνατο [ pros tauta men oud’ hotioun apekrinato]).273 Albinus ließ diesen zweiten Jesus jedoch frei.274 Pilatus hoffte ebenfalls, den Prozess loszuwerden, wählte jetzt aber den Umweg über seine Passa-Amnestie – ein Fehler, wie sich später herausstellte. 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274

Vgl. auch R. Riesner, Art. Pilatus, GBL 3, 1213. Zur Übersetzung vgl. Bauer-Aland 1472. Vgl. Tasker 262. Vgl. France 389. Luz IV 271 kommt zu Behauptungen, die sich gar nicht belegen lassen, z.B. habe er mit den jüdischen Führern „während des ganzen Prozesses nie direkt“ gesprochen! (IV 271). Luz IV 270. Von Luz selbst zitiert (IV 271,32). Nach Rinn-Jüngst 10. Maier II 427. Josephus Bell VI, 305. A.a.O.

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In der Literatur wird unter anderem die Frage erörtert, ob Pilatus „sich mit Jesus durch einen Dolmetscher unterhielt oder ob beide Griechisch sprachen“.275 Ein Sprachproblem mit Griechisch existierte jedoch für einen Galiläer, der aus dem „Galiläa der Heiden“ kam (Mt 4,15), nicht. Oder sollte Jesus bei seinen Gesprächen „in ganz Galiläa“ (Mt 4,23), mit Menschen aus Syrien (Mt 4,24), aus der Dekapolis (Mt 4,25; 8,28ff ), mit der „kanaanäischen Frau“ (Mt 15,21ff ), oder mit griechischen Festpilgern (Joh 12,20ff ) jeweils Dolmetscher benutzt haben? Jesus konnte wie Philippus genug Griechisch, um dem Prozess vor den Römern in der östlichen Reichssprache folgen zu können (vgl. Joh 19,20).276 Eine andere Frage, die gestellt wird, ist die nach der Augenzeugenschaft, auf die sich die Evangelisten bei der Passionsschilderung berufen könnten. Hans Conzelmann konstatierte, „daß die Gemeinde keinen Augenzeugenbericht darüber besaß“, sie „gestaltete den Hergang, wie sie sich ihn eben vorstellte“.277 Man fragt sich jedoch, wie Lukas dann ausdrücklich die „Augenzeugen“-schaft seiner Tradenten hervorheben konnte (Lk 1,2), und wie Martin Hengel eben diesen Lukas als „ersten theologischen ‚Historiker‘ des Christentums“ würdigen konnte.278 Um nur einiges konkret anzusprechen: Für die Rolle des Petrus, des Johannes, der Zwölf oder der Frauen standen die Betreffenden selbst als Augenzeugen zur Verfügung; die Verhandlungen des Hohen Rats betrafen so viele Sanhedristen, dass von dort genug Informationen zugänglich waren; soweit Pilatus den Prozess öffentlich führte, waren die Vorgänge für viele einsehbar; auch persönliche Verbindungen, wie etwa die des Josef von Arimathäa zu Pilatus (Joh 19,38), kommen als Quellen der Information infrage; schließlich zeigte sich der Auferstandene selbst einige Zeit im Kreis seiner Jünger und konnte deuten, was geschehen war.279 Vers 15 setzt neu an: An jedem Fest aber280 hatte der Statthalter die Gepflogenheit, der Menge einen Gefangenen loszugeben, den sie frei bestimmen durften. Gemeint ist das Passa-Fest. Üblicherweise hielt sich der Präfekt am Passafest in Jerusalem auf. Denn die unruhigen Pilgermassen, bewegt von messianischen Hoffnungen, ließen sich leicht zu politischen Aktionen verleiten. Da war es gut, römische Präsenz zu zeigen. „Anderweitige Be275 So Luz IV 270. 276 Vgl. Riesner 390: „mehr als wahrscheinlich, daß Jesus … das Griechische beherrschte“; sowie Hengel-Schwemer 295. 277 Conzelmann 646. 278 M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart, 1979, 61. 279 Zur Augenzeugenschaft vgl. auch Hengel-Schwemer 615f. 280 BDR § 200,11.

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lege für diese Sitte [= einer Passa-Amnestie] gibt es nicht“, schreiben StrackBillerbeck.281 Das ist aber kein Einwand gegen die Historizität.282 Denn unsere Quellen über jene Zeit sind zum Teil kärglich, und auch Josephus schreibt nicht allzu viel über die zehn Jahre des Pilatus 26–36/37 n.Chr. Eine solche Amnestie, bei der die jüdische Menge einen Gefangenen ihrer Wahl freibitten durfte (ὃν ἤθελον [hon ēthelon]), konnte Pilatus nur einen Sympathiegewinn eintragen. Denn das wusste er selbst, dass er beim Volk nicht gerade beliebt war.283 Die Verse 16-18 enthüllen uns einen besonders interessanten Teil des Prozesses. Für Augenblicke scheint die Gestalt des Barabbas sogar wichtiger zu werden als die Gestalt Jesu. Vers 16 informiert uns kurz über die Situation: Sie hatten aber damals einen besonderen Gefangenen mit dem Namen Jesus Bar Abba. Sie hatten ist eine ganz allgemeine Angabe, die sich weder auf Römer noch auf Juden eingrenzen lässt. Ihr Sinn ist: „Man hatte“, natürlich im Gewahrsam der Römer. Das durative Imperfekt εἶχον [eichon] deutet an, dass sich der Gefangene schon längere Zeit in römischer Haft befand (vgl. Lk 23,19). Das griech. ἐπίσημος [episēmos] kann man übersetzen „ausgezeichnet“, „hervorragend“ oder – in malam partem – „berüchtigt“.284 Man sollte sich gegen K. H. Rengstorf285 nicht zu früh auf die Bedeutung „berüchtigt“ festlegen. Denn 1) ist ἐπίσημος [episēmos] seinem Wortsinn nach jemand, der aus seiner Umgebung hervorragt (vgl. Röm 16,7); 2) weist die Tatsache, dass Barabbas in allen vier Evangelien namentlich erwähnt wird, auf eine gewisse Bedeutung hin; 3) lassen die Evangelien erkennen, dass er zumindest in einem Teil des Volkes Achtung genoss.286 Wir versuchten, diesen verschiedenen Aspekten durch die Übersetzung besonders Ausdruck zu verleihen. Vielleicht war dieser Barabbas doch so etwas wie ein zelotischer Offizier, jedenfalls ein zelotischer Anführer.287 Seine Figur hätte Anlass zu einem Roman geboten. Dass die Evangelisten in ihren Berichten ziemlich kurz verfuhren, spricht für ihre Zuverlässigkeit (vgl. Mk 15,7; Lk 23,19; Joh 18,40). 281 Strack-Billerbeck I 1031. Vgl. France 389; Carson 568. Fiedler 408 hält diese Amnestie für eine christliche Erfindung. Oder steckt in Mischna Pesadim VIII, 6 ein Hinweis auf eine solche Amnestie? 282 Hengel-Schwemer 606 bejahen „einen historischen Hintergrund“, rechnen sogar mit der Fortführung eines alten jüdischen Rechtsbrauches. 283 Vgl. wieder Josephus Bell II, 169ff. 284 Bauer-Aland 604; K. H. Rengstorf, Art. σημεῖον usw., ThWNT, VII, 1964, 267f. 285 A.a.O. 286 A.F. Walls, Art. Barabbas, GBL 1, 165: „eine Art Held“; France 389: „a Robin Hood“; Carson 569. Wie wir auch Luz IV 271. 287 Anders Rengstorf a.a.O.

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Interessant ist nicht zuletzt sein Name. Matthäus nennt ihn Ἰησοῦν Βαραββᾶν [Iēsoun Barabban], Markus nur Βαραββᾶς [Barabbas], auch Lukas und Johannes nur Βαραββᾶς [Barabbas]. Dabei fällt auf, dass Matthäus, Markus, Lukas und Johannes stets ὁ Βαραββᾶς [ho Barabbas] (also mit Artikel) oder (ὁ) λεγόμενος Βαραββᾶς [(ho) legomenos Barabbas] formulieren. Diese Formulierung deutet an, dass auch in der Namengebung eine Besonderheit steckt. In der Tat fehlt bei Barabas, griech. Βαραββᾶς, aram. ‫[ ַ ּבר ַא ָ ּבא‬bar ʾabbāʾ], der Eigenname. Bar Abba, wie Βαραββᾶς im Deutschen richtiger wiederzugeben ist, heißt „Sohn des Abba“. Abba hinwiederum ist ein nachgewiesener jüdischer Personenname.288 Aber wie lautete dann sein Eigenname? Eine kleine Gruppe von Handschriften berichtet in Mt 27,16f, er habe Jesus gelautet. Origenes289 unterstützt dieses Zeugnis. Hier gilt es textkritisch abzuwägen. Wie Zahn schon betont hat,290 kann man sich kaum vorstellen, dass der Name Jesus nachträglich von christlichen Abschreibern eingefügt wurde. Viel eher lässt sich vermuten, dass der Name Jesus aus Hochachtung vor Jesus dem Christus später aus der Überlieferung verschwand. Jesus verdient also in Mt 27,16f als die lectio difficilior den Vorzug vor dem bloßen Bar Abba. Für die heutige Exegese konstatiert denn auch Fiedler, dass die Ursprünglichkeit des Eigennamens Jesus „meistens akzeptiert wird“.291 Dann ergibt sich allerdings eine nachdenklich machende Parallele. Beide für die Amnestie in Betracht kommenden Personen tragen den Namen Jesus. Beide sind Bar Abba: Jesus Christus als Sohn des himmlischen Vaters, der ebenfalls Abba heißt (vgl. Röm 8,15), und Barabbas eben als Sohn eines jüdischen Mannes namens „Abba“. Der eine ist tatsächlich ein Aufrührer, mutmaßlich ein Zelot (Mk 15,7; Lk 23,19; Joh 18,40), der andere aber fälschlich als Aufrührer angeklagt. Welcher Jesu Bar Abba wird frei werden? Welcher sterben? Pilatus stellt die anwesenden Juden vor die Alternative: Wen wollt ihr für euch freigelassen haben, Jesus, den Bar Abba, oder Jesus, der Messias genannt wird? (V. 17). Die Alternative hat es in sich. Manches hängt zunächst vom Verständnis des συνηγμένων οὖν αὐτῶν [synēgmenōn oun autōn] (als sie nun versammelt waren) ab. Es kann ganz einfach meinen: „Im An288 G. Kittel, Art. ἀββᾶ, ThWNT, I, 1933, 4; Bauer-Aland 266; Zahn 711,77; Strack-Billerbeck I 1031. B Ber 18b: „Es gibt hier viele Abba“. 289 In Matth Comm ser. 121. 290 Zahn 710f. 291 Fiedler 409,107. Vgl. Walls a.a.O.; France 390; Beare 528f; Luz IV 265ff; Schniewind 269; Tasker 262. Zurückhaltend Carson 567ff. Anders etwa die Neue Jerusalemer Bibel 1427.

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gesicht der Versammelten“. Es kann aber auch bedeuten, dass die Vertreter des Hohen Rats oder die Unterstützer des Bar Abba oder sogar beide gleichzeitig darum bemüht waren, ihre Anhänger zu aktivieren und in die Nähe des Pilatus zu bringen. Der Prozessverlauf spielte sich ja „in aller Öffentlichkeit“292 ab. Walls hält es für möglich, dass „die Priester auf eine Forderung der Anhänger von Barabbas ein(-gingen) (vgl. Mk 15,8), als sie eine Bewegung für dessen Freilassung organisierten, um dadurch Pilatus’ Angebot, Jesus freizugeben, zu unterlaufen (Mt 27,20; Mk 15,11)“.293 Auf diese Weise könnte man auch die etwas befremdende Tatsache erklären, dass ausgerechnet die Hohenpriester und ihr Anhang mit solcher Wucht für den mutmaßlichen Zelotenführer Barabbas votierten. Jedoch fehlt uns ein zeitliches Display der einzelnen Vorgänge. Die genannte Alternative schien für Pilatus verschiedene Vorteile zu bringen: 1) Konnte er auf diese Weise testen, wie stark der Rückhalt in dieser causa für den Hohen Rat tatsächlich war; 2) war dieser Rückhalt schwächlich, konnte er den ungeliebten Hohen Rat leicht düpieren; 3) engagierte sich der Hohe Rat mit Eifer für Barabbas, dann musste er sich zelotische Neigungen vorwerfen lassen; 4) an den Äußerungen des Publikums konnte Pilatus leicht ablesen, welcher der beiden Angeklagten für Rom der gefährlichere war; 5) ein freigelassener Jesus, der Messias genannt wird (Ἰησοῦς ὁ λεγόμενος χριστός [Iēsous ho legomenos christos]), verdankte seine Fortexistenz Roms Gnade und war deshalb für die Römer weniger zu fürchten. Schlatter: „Einen Christus, dem die Gnade der Römer das Leben schenkte, begehrte es (= das jüdische Volk) nicht.“294 Wenn V. 18 im Bericht des Matthäus fehlen würde, würde dies niemand stören. Er ist in der Tat ein bloßer Kommentar – allerdings nicht nur des Matthäus, sondern auch des Markus (15,10). Er fehlt in keiner Handschrift. Man hat ihn also immer erzählt: Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid ausgeliefert hatten. Der kurze Satz enthält eine doppelte Aussage: 1) Jesus war in den Augen des Pilatus unschuldig, 2) Pilatus wusste außerdem, dass Jesus das Opfer innerjüdischer Querelen war. Neid (φθόνος [ phthonos]) darf hier nicht auf menschliche Engherzigkeit beschränkt werden. Vielmehr ist Neid ein weit gespannter Begriff: Nach Weish 2,24 die Ursache des Todes in der Welt und ein beherrschendes Motiv des Teufels, nach den Lasterkatalogen in Röm 1,29; Gal 5,21; 1Petr 2,1; Jak 4,5 eine schwere Sünde. Vielleicht versteht man Neid in Mt 27,18 am besten im Sinne von „Rivalität“. Dann muss man nicht nach 292 Hengel-Schwemer 606. 293 Walls a.a.O. 294 Schlatter 408.

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Einzelerklärungen („weil sie ihm seinen Erfolg beim Volk missgönnten“295) suchen. Siehe jedoch Joh 11,47f; 12,19. Sollte Pilatus sich zum Anwalt innerjüdischer Querelen machen? Das musste ihm aufs Äußerste widerstreben.296 Es gibt ein weiteres retardierendes Moment, bestehend im Eingreifen der Frau297 des Pilatus (V. 19). Als er aber auf dem Richterstuhl (ἐπὶ τοῦ βήματος [epi tou bēmatos]) saß, schickte ihm seine Frau eine Botschaft: Habe du mit jenem Gerechten nichts zu schaffen! Denn ich habe heute Nacht im Traum seinetwegen viel erlitten. Da uns eine strenge Zeitordnung fehlt, wissen wir nicht genau, wann sich dieser Vorfall ereignete. Den Platz auf dem Richterstuhl hat Pilatus wohl während der gesamten öffentlichen Verhandlung eingenommen – ausgenommen die Gespräche im Prätorium, von denen Joh 18,32ff berichten. βῆμα [bēma] ist eigentlich die „Tribüne“, in unserem konkreten Fall der erhöhte Platz des Richters (vgl. Joh 19,13; Apg 12,21; 18,12.16.17; 25,6.10.17).298 Mit dem Stichwort vom Traum ist ein für die damalige Geschichte wesentlicher Entscheidungshorizont angesprochen. Es sind ja nicht nur Roms Auguren und Haruspices, die wir auf der Ara Pacis beim Tiberufer erblicken, die sich mit Träumen beschäftigen. Nein, sie bestimmen in neutestamentlicher Zeit Niedere und Hohe, Politiker und Militärs, quer durch die Religionen. In b Ber 55b wird „im Namen R. Akibas“ überliefert: „Vierundzwanzig Traumdeuter waren in Jerusalem“. Nach Josephus träumte dem Herodessohn Archelaus vor seiner Absetzung durch den Kaiser (6 n.Chr.) ein rätselhaftes Geschehen. Er rief μάντεις [manteis] und „Chaldäer“ zu sich, die den Traum nicht deuten konnten, worauf der Essener Simon die zutreffende Deutung fand.299 Ja, Josephus sagt von sich selbst, dass er sich „auf die Deutung“ von Träumen verstünde, und von Gott durch Träume gelenkt wurde.300 Albrecht Oepke hat weitere Beispiele aus Josephus und dem rabbinischen Judentum zusammengestellt.301 Angesichts dieser Quellenlage sollte man nicht so rasch behaupten, Mt 27,19 sei „legendarisch“.302 Freilich gehört Mt 27,19 zum Sondergut des Matthäus und ist matthäisch geformt.303 295 Fiedler 409; Luz IV 272. 296 Zum Stichwort „wusste“ bemerkt Carson 569, dass Pilatus ein „network of spies and informers“ zur Verfügung stand. 297 Frauen durften nach Tacitus Ann III, 33f in die Provinzen mitgenommen werden. Bammel 384 nennt als ihren Namen „Procla“, andere „Claudia“. Vgl. Luz IV 275; Beare 530. 298 Bauer-Aland 280; Hengel-Schwemer 608. 299 Bell II, 111ff. 300 Bell III, 350ff. 301 Im Art. ὄναρ, ThWNT, V, 1954, 232ff. 302 Gegen Bultmann, Gesch, 305; Hengel-Schwemer 282,234; sogar Oepke a.a.O. 235. 303 Vgl. Mt 1,20; 2,12f.19.22.

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Aber das rechtfertigt noch nicht, diesem Vers den Informationswert und die Historizität abzusprechen. Habe du mit jenem Gerechten nichts zu schaffen heißt: Lass deine Finger von ihm!304 Später wäscht sich Pilatus nur die Hände (V. 24). Wenn die Frau des Pilatus sagt: Ich habe heute Nacht im Traum seinetwegen viel erlitten, dann bringt sie damit zum Ausdruck, dass ihr für den Fall der Verurteilung Jesu ein göttliches Gericht angedroht wurde. Sie nennt dabei den Namen „Jesus“ nicht. Aber sie spricht von jenem Gerechten305 und wird damit eine Zeugin der Unschuld Jesu. Unseres Erachtens setzt Mt 27,19 voraus, dass sowohl von Pilatus als auch dessen Frau in den damaligen Gemeinden erzählt wurde (vgl. 1Tim 6,13). Über den Einfluss von Frauen bei den Statthaltern Judäas vgl. Apg 24,24f; 25,13ff. Anschließend an Mt 27,19 wurde in der christlichen Auslegung über die Bedeutung des Traumes reflektiert.306 War er bei der Frau des Pilatus von Gott oder vom Teufel? Geht man im Einklang mit dem christlichen Glauben (vgl. 1Kor 8,6) davon aus, dass Gott alles Geschehen kontrolliert und zulassen muss, dann ist dieser Unterschied nicht mehr wichtig. Denn die Frau wird 1) zu einer Zeugin der Unschuld Jesu und 2) zu einer berechtigten Warnung an Pilatus.307 Und es sind diese beiden Punkte, auf die Matthäus offensichtlich Wert legt. Unbestreitbar ist ferner, dass Gott auch durch Träume führen kann – gerade auch Heiden. Bibel und Glaubensgeschichte blieben allerdings mit Recht auf Distanz zu den Träumen, da Gott in erster Linie durch sein Wort führt. Siehe auch schon Spr 5,6: „Wo Träume sich mehren und Nichtigkeiten und viele Worte, da fürchte Gott!“ und Luthers: „für dieses Leben begehre ich keine Träume“308 sowie Oepkes Distanz bei der Behandlung dieses Themas im ThWNT.309 Die Aussicht auf eine Freilassung Jesu verschlechtert sich durch die jüdische Antwort auf die Pilatusfrage von V. 17: Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten die Menge, dass sie um Bar Abba bitten, Jesus aber zur Hinrichtung freigeben sollten310 (V. 20). Wieder bleiben uns manche Details unbekannt. Die Hohenpriester und Ältesten sind wie in Mt 21,23ff der Hohe Rat bzw. dessen Vertreter. Aber nicht sie selbst bitten Pilatus. Sondern die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]). Damit wird die anwesende 304 Vgl. BDR § 127,4; 128,10; 263,1. 305 Weshalb sie ausgerechnet von einem „Gerechten“ spricht, lässt sich schwer aufhellen. Hat Matthäus hier selbst einen jüdischen Begriff eingesetzt? Oder heißt es einfach „unschuldig“? Für Letzteres Carson 569. 306 Vgl. Luz IV 275. 307 Schlatter 409: „daß ein heidnisches Weib … Pilatus warnt“. 308 WA 44, 249. 309 A.a.O. 235f. 310 Wörtlich: „ins Verderben stürzen“ (Bauer-Aland 190).

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jüdische Volksmenge ein wichtiges Sujet im weiteren Verhandlungsverlauf. Pars pro toto beansprucht sie, für das ganze jüdische Volk zu handeln. Von da aus wird noch einmal die Frage interessant: Wer ist das eigentlich, diese Menge? Es kann sich nicht einfach um Anhänger des Hohen Rates handeln, denn solche hätten von den Hohenpriestern und Ältesten nicht erst überredet werden müssen (ἔπεισαν [epeisan]).311 Vielleicht war dies die Lage: Einerseits warteten Bar-Abba-Anhänger auf die Gelegenheit der Amnestie, um ihren Kandidaten freizubitten. Andererseits suchte der Hohe Rat ebenfalls Unterstützer zu mobilisieren, die dann seinen Wünschen folgten. Solche überwiegend als Jerusalemer zu denkenden Sanhedrin-Anhänger sahen wohl keinen Grund, ausgerechnet einen galiläischen Wanderprediger zu erbitten. Dagegen fällt es schwer, eine größere Zahl von galiläischen Festpilgern in jener Menge zu vermuten.312 Der Statthalter ergriff also313 das Wort und fragte sie: Wen von den beiden wollt ihr für euch freigelassen haben? Sie aber sagten: Bar Abba (V. 21). Bei er fragte sie ist mit sie (αὐτοῖς [autois]) die Menge von V. 20 (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) gemeint. Die Mehrzahl antwortet: τὸν Βαραββᾶν [ton Barabban], Bar Abba. Jetzt ist dreierlei zu bedenken. Erstens: Die versammelten Juden sind nicht identisch mit der jubelnden Hosianna-Menge vom Einzug in Jerusalem (Mt 21,9: οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]).314 Zweitens: Dennoch ist ein Umschwung in der Meinung wahrzunehmen, was die jüdische Öffentlichkeit anbetrifft.315 Drittens: Wir müssen damit rechnen, dass die Äußerungen der Anwesenden (vox populi) bei den damaligen öffentlichen Prozessen einen starken Einfluss ausübten. Hengel-Schwemer kommen zu dem Urteil: „Überhaupt hatte in der Antike die vox populi auf den … Prozeßverlauf keinen geringen Einfluß.“316 Man fühlt sich an den Prozess Jesu erinnert, wenn Josephus über einen Jerusalembesuch des Pilatus bemerkt: „als Pilatus nach Jerusalem kam, drängte sich die Menge schreiend und schimpfend um seinen Richterstuhl“ (βῆμα [bēma] wie in Mt 27,19ff ).317 Belegstelle für diesen Einfluss ist u.a. der spätere Codex Iustinianus 9,47,12: Vanae voces populi non sunt audiendae.

311 312 313 314 315 316 317

France 391 schwächt ab. Vgl. Carson 570. δέ hier „als bloße Übergangspartikel“ (BDR § 447,1). Richtig France 391. France a.a.O.; Carson a.a.O.; Schniewind 269. Hengel-Schwemer 606. Bell II, 175. vgl. Ant XVIII, 269ff; Carson a.a.O.

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Die Schwäche der Pilatus-Position offenbart sich in V. 22. Pilatus sagt zu ihnen: Was soll ich318 dann (οὖν [oun]) mit Jesus machen, der Messias genannt wird? Er will der jüdischen Menge (ihnen) klarmachen, was die Freilassung des Bar Abba für Jesus bedeuten würde. Soll er wirklich denjenigen kreuzigen, der Messias genannt wird? Aber er demaskiert hier gleichzeitig sein eigenes Interesse, nämlich für Jesus Partei zu ergreifen. Die rabbinische Überlieferung des Talmud hat dies sehr gut festgehalten, wenn sie in b Sanh 43a sagt, dass Jesus „der Regierung nahestand“.319 Damit war Jesu Schicksal besiegelt. Denn dem römischen Statthalter einen Gefallen zu tun, war das Letzte, was die Menge beabsichtigte. Ob eventuell der eine oder andere schon daran gedacht hat, dass der sogenannte Messias sich ja selbst retten könnte, wenn er wirklich der Messias wäre (vgl. V. 39f.41ff.44)? Übrigens wird Mt 27,22 durch Mk 15,12 und Lk 23,20 gestützt. Jetzt kommt die eindeutige Antwort: Er soll gekreuzigt werden! Matthäus berichtet von einer überwältigenden Übereinstimmung unter den Anwesenden, denn er sagt alle.320 Mochte Pilatus damit gerechnet haben, dass die Juden einen Gesichtsverlust scheuten, wenn er ihren „König“ kreuzigte (vgl. Mk 15,12; Joh 19,15), so zog dieses Argument im gegenwärtigen Stadium des Prozesses nicht mehr. Für den christlichen Ausleger werden hier zwei Gesichtspunkte wichtig. Erstens müssen wir differenzieren zwischen den Äußerungen der Menge vor dem Richterstuhl und der persönlichen Schuld der damals lebenden Juden. Von Letzteren waren viele unschuldig am Tode Jesu. Doch dass die damalige Repräsentanz der Judenschaft in Gestalt des Hohen Rates die Hinrichtung Jesu betrieb321 und dafür genügend Unterstützer aus dem Volk aktivieren konnte, führte für das ganze Volk eine unbeschreibliche Tragödie herbei. Insofern stimmt die kurze Formel, aus dem „Hosianna“ sei ein „Kreuzige“ geworden.322 Zweitens darf man nicht vergessen, dass Jesus nicht nur Messias genannt (ὁ λεγόμενος χριστός [ho legomenos christos]) wurde, sondern tatsächlich der wahre Gottessohn und Messias war (ὄντως [ontōs] Lk 23,47; 1Kor 14,25; Joh 20,31). Er scheint ein Spielball der Menschen geworden zu sein (Mt 17,22). Aber sein Weg zum Kreuz ist der Weg unserer Erlösung. 318 ποιήσω ist besser bezeugt als das auch prozessrechtlich inadquate ποιήσωμεν. Gegen Zahn 711. 319 Vgl. Schäfer 131ff. 320 Vgl. Tasker 262. 321 Dieser Gesichtspunkt wird zu wenig beachtet, wenn Carson 570 schreibt: „now mob mentality begins to take over“, oder Luz IV 275: „der Mob entscheidet“. Bildeten die anwesenden Juden wirklich „den Mob“? 322 Schniewind 269; France 391.

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Noch einmal nimmt Pilatus einen Anlauf, um eine Entscheidung in seinem Sinne herbeizuführen: Was hat er denn Böses getan? (V. 23). Diese Frage war vermutlich besser überlegt, als es auf den ersten Blick scheint. Antwortet die Menge anders, als die Anklage des Hohen Rates lautete, dann hat Pilatus hier ein Argument, die geforderte Hinrichtung abzulehnen. Gibt sie verschiedene, vielleicht sogar widersprüchliche Antworten, dann kann er den Prozess erst recht platzen lassen. Aber alle Evangelien sind sich darin einig, dass die Menge nicht das Böse darlegen wollte, das Jesus getan haben sollte, sondern erneut in den stürmischen Ruf ausbrach – sogar noch lauter (περισσῶς [ perissōs]323): Er soll gekreuzigt werden! Es ist richtig: Das gekreuzigt klingt seltsam auf jüdischen Lippen.324 Die Kreuzigung, früh schon bei den Persern angewandt,325 war eine heidnische Strafe, dem AT unbekannt. Die Römer wandten sie im Übermaß an. So wurden einmal 6000 Spartakus-Anhänger zwischen Rom und Capua gekreuzigt.326 Die makkabäischen Könige führten dann diese grausamste aller Todesstrafen327 im Israelland ein. Josephus berichtet als πάντων ὠμότατον ἔργον [ pantōn hōmotaton ergon] des Alexander Jannaeus (103–76 v.Chr.), er habe einmal 800 Juden kreuzigen lassen.328 In seiner eigenen Vita erzählt er, wie es ihm gelang, drei Bekannte mitten im Jüdischen Krieg von den römischen Kreuzen zu retten.329 Wie konnten im Jahre 30 n.Chr. Juden rufen: Er soll gekreuzigt werden!? Aber France hat recht: Das war „das notwendige Ergebnis“ der sanhedrinischen Entscheidung, Jesus vor Pilatus zu bringen und ihm dort den politischen Prozess zu machen.330 Schniewind weist darauf hin (S. 269), dass Johann Sebastian Bach auf die Pilatusfrage von V. 23 die Arie folgen lässt: „Er hat uns allen wohlgetan.“ Halten wir noch fest: Mit der Frage Was hat er denn Böses getan? bezeugt Pilatus erneut die Unschuld Jesu. „Für alle Zeiten bezeugt der höchste römische Beamte in Palästina, daß Jesus unschuldig ist (vgl. Lk 23,4.15; Joh 18,38; 19,4.6).“331

323 324 325 326 327 328 329 330 331

Vgl. Bauer-Aland 1313; BDR § 60,5. France 391. Herodot Hist I, 128. Appian B.C. I, 120. Vgl. M. Hengel, Mors turpissima crucis, in: Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann, hrsg. von J. Friedrich, W. Pöhlmann und P. Stuhlmacher, Tübingen und Göttingen 1976, 125ff. Ant XIII, 380. Weiteres bei O. Betz, Art. Kreuz/Kreuzigung, GBL 2, 842ff; R. Riesner, Art. Kreuz/Kreuzigung, GBL 2, 840ff. Josephus Vita, 420. France a.a.O. Maier II 432.

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In seiner kargen Art fasst Matthäus das Scheitern der Bemühungen des Pilatus in einem Nebensatz zusammen: Als aber Pilatus sah, dass alles nichts nutzte … (V. 24). Damit ist nicht gesagt, dass Matthäus all die anderen Bemühungen, von denen Lukas und Johannes berichten,332 nicht kannte oder für unwichtig hielt. Er hat aus einem reichen Stoff eben nur das herausgegriffen, was seiner Meinung nach ein zureichendes Bild ergab. Pilatus beobachtet, dass der Tumult noch größer wird. Die Präsensform γίνεται [ginetai] deutet auf die Dramatik der Entwicklung hin. Nun kommt es zu einer überraschenden Handlung, die vielleicht noch einmal den Ruf nach der Kreuzigungsstrafe zum Schweigen bringen sollte: der Handwaschung. Wie in V. 19 bemerken wir, dass Matthäus Sondergut benutzen konnte. Und wie bei V. 19 ist davor zu warnen, dieses Sondergut einfach für „legendär“ zu erklären.333 Vielmehr war die Übernahme eines solchen jüdischen Brauches334 aus Deut 21,6ff (vgl. Ps 26,6; 73,13) durch einen römischen Statthalter etwas so Ungewöhnliches, dass man es ihm nicht ohne Grund anhängen konnte. Dass jüdische Tumulte (θόρυβοι [thoryboi]) zu fürchten waren, wusste Pilatus aus Erfahrung.335 Pilatus nahm also Wasser, wusch vor den Augen der Menge die Hände und sagte: Ich bin unschuldig an diesem Blut. Seht ihr zu! Vergleicht man sein Handeln mit dem jüdischen Verfahren nach Deut 21,6ff, wie es Josephus beschreibt,336 dann fällt auf, dass er keinen Gott um Gnade anruft. Pilatus scheint also bewusst an den jüdischen Brauch angeknüpft, ihn aber als allgemein-religiösen Akt vollzogen zu haben.337 Ferner fallen die Schlussworte Seht ihr zu! auf. Sie erinnern an das σὺ ὄψῃ [sy opsē] der Hohenpriester gegenüber Judas (Mt 27,4). Es vollzieht sich ein Mord an einem Unschuldigen, aber keiner will sich die Hände schmutzig machen. Doch Pilatus wird durch das Händewaschen weder in heidnischen, noch in jüdischen, noch in christlichen Augen von seiner Mitschuld frei. Siehe auch 2Sam 3,28; Sus 46; Apg 20,26; Ps 24,3f. Der kurze 25. Vers ist in sich schon schwer auszulegen. Aber in Anbetracht der christlich-jüdischen Geschichte ist es fast unmöglich geworden, zu einem nur dem Text verpflichteten Urteil zu kommen. Die Dinge verkomplizieren sich noch im Umkreis der deutschen Exegese nach dem Holocaust. Um nur Weniges aufzunehmen: Luz hat sich intensiv darum bemüht, dem Anliegen 332 333 334 335 336 337

Vgl. Carson 570. Gegen Hengel-Schwemer 235.571; Luz IV 276. Richtig Tasker 262. Ähnliches allerdings „auch bei den Griechen“ (Strack-Billerbeck I 1032). Vgl. Josephus Bell II, 169ff. Ant IV, 222. Vgl. Strack-Billerbeck I 1032.

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des Matthäus gerecht zu werden. Er geht so weit, sogar der Rede von der „bedingten Selbstverfluchung“ ein gewisses Recht einzuräumen.338 Aber auch er kann nicht „von üblen christlichen Kollaborateuren Gottes“ absehen, die mithilfe von Mt 27,25f Juden verfolgten.339 Für Fiedler ist die matthäische Darstellung des Pilatus-Prozesses, speziell Mt 27,25, so „absurd“,340 dass er stattdessen eine neue Geschichte schreibt. Mit dieser Umschreibung soll „der verheerenden Wirkungsgeschichte von 27,25 der Boden entzogen werden“.341 Für Beare braucht gar nicht erst gesagt zu werden, dass die Matthäus-Darstellung kein „objective reporting“ ist.342 Sie bildet nur den Teil eines christlichen Programms, das die ganze Schuld auf die Juden legen und die Römer absolvieren will („Christian programme of laying the whole guilt on the Jews, and absolving the Romans“).343 Mt 27,25 lautet: Und das ganze Volk (πᾶς ὁ λαός [ pas ho laos]) gab zur Antwort: Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder. Hier fällt zunächst der Wechsel vom bisherigen ὄχλος [ochlos] (Menge, V. 20,24) zu λαός [laos] (Volk) auf. Eine Menge kann eine Zufalls-Menge sein. Das Volk bedeutet in der Regel das gesamte Israel in seiner Geschichte. Die Frage ist nun: Will Matthäus hier das ganze Israel für schuldig erklären? Oder hat Matthäus nur seine Ausdrucksweise gewechselt, „ohne die theologische Konnotation des Gottesvolks Israels als Ganzheit“?344 Eine völlige Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen. Jedoch legt es der Kontext nahe, im Volk eine Größe zu sehen, die das ganze Israel darstellt.345 Konkret erblicken wir diesen Kontext in Mt 23,35-39.346 Dort spricht Jesus über Israels Zukunft. Sie enthält beides: die Schuldübernahme für „alles gerechte Blut“, aber auch das endzeitliche Heil (23,39). Matthäus hatte diese Worte Jesu wohl kaum vergessen, als er den Bericht in 27,25 niederschrieb. Mit anderen Worten: Die in 27,25 anwesenden Juden, die ja nicht einfach eine zufällige Ansammlung darstellen, setzen sich aus der Führung des Volkes (dem Hohen Rat) und ihren Unterstützern zusammen und repräsentieren insofern das ganze Volk Israel. Es geht jetzt um die Schuldübernahme im Prozess Jesu. Damit wird aber die künftige Erlösung

338 339 340 341 342 343 344 345 346

Luz IV 280. Luz IV 281. Fiedler 410-411. Fiedler 412. Beare 530. Beare 531. So Fiedler 411. So auch Tasker 263. Luz IV 281 erwähnt nur Mt 23,35f, nennt es aber zu Recht „Einen Schlüssel“.

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Israels keineswegs ausgeschlossen. Die Sorgen Fiedlers in diese Richtung347 sind völlig unbegründet. Was die „üblen christlichen Kollaborateure Gottes“ im Verlauf der Geschichte348 anbetrifft, so besteht ihr Fehler und ihr Verbrechen darin, dass sie nur in der Schuld-Dimension agierten, aber Israels Berufung zum künftigen Heil negierten. Die Wendung Sein Blut komme über uns ist sowohl biblisch (2Sam 1,16; 14,9; 1Kön 2,33; Jer 26,15; 51,35; Hes 33,5; Mt 23,35; Apg 5,28) als auch rabbinisch.349 Sie bedeutet: „Wir übernehmen die Verantwortung für seinen [= Jesu] Tod“. Man muss hier aufpassen, dass man nicht alle möglichen BlutTheorien einmengt. Es geht vielmehr um einen fundamentalen Sachverhalt: Wir (ἐφ᾿ ἡμᾶς [eph’ hēmas]!), nämlich das jetzt konkret geforderte Israel, stehen für die Hinrichtung Jesu aufgrund unserer Verantwortung ein. Peter Schäfer hat dies in der Exegese der relevanten Talmudstellen ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht: „Wir akzeptieren – so der Talmud – die Verantwortung für den Tod dieses Häretikers, aber es gibt keinen Grund für Scham oder Schuldgefühle.“350 Die Hinzufügung und über unsere Kinder verstärkt den Eindruck, dass in Mt 27,25 das gesamte Volk gemeint ist. Dabei steht wohl kaum der Gedanke vieler Generationen im Vordergrund, etwa in dem Sinne: Auch alle nachfolgenden Generationen sollen für dieses Blut verantwortlich sein. Viel näher liegt der Gedanke der Gesamtheit (vgl. Deut 4,40; Ps 115,14; Jes 8,18): „Wir und alle, die zu Israel gehören.“351 Es liegt eine tiefe Tragik darin, dass sie meinten, Gott einen Dienst zu erweisen, während sie doch den Messias Gottes töten wollten (vgl. Joh 16,2; Apg 26,9ff ). Manchmal spricht man von einer „Selbstverfluchung Israels“352 oder einer „bedingten Selbstverfluchung“.353 Es wäre aber besser, solche Formulierungen zu unterlassen. Denn erstens wird weder von Fluchformeln noch von einem Schwurvorgang berichtet. Zweitens gehen die bei Pilatus versammelten Juden nicht von einem Fluch aus, den sie auf sich nehmen wollen, sondern sie bekennen sich zu ihrer Verantwortung. Drittens denken sie überhaupt nicht daran, dass ihr Tun einen Fluch zur Folge haben könnte, sondern sie wollen

347 Fiedler 410ff. 348 Vgl. wieder Luz IV 281. 349 Sota IX, 6; 46b; Sanh IV, 5; b Pes 111a; b Nid 17a; b Joma 21a; b AZ 12b. Vgl. StrackBillerbeck I 1033. 350 Schäfer 151. Vgl. France 392. 351 Auch Fruchtenbaum 111 versteht Mt 27,25 als „begrenzt“, nämlich „auf sie und ihre Kinder“. 352 So Schniewind 269f; Sand 555. 353 So Luz IV 280; Theißen-Merz 396.

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einen falschen Messias, der sich in ihren Augen selbst zu Gott macht (Joh 10,33), beseitigen.354

IV Zusammenfassung 1. In der Verhandlung vor Pilatus wird deutlich, dass der römische Statthalter weder den Prozess übernehmen noch Jesus hinrichten wollte. Aber alle seine Versuche, beides zu vermeiden, scheitern. 2. Sowohl Pilatus als auch seine Frau reihen sich in die Kette der Zeugen ein, die Jesu Unschuld bezeugen. 3. Die Menge der versammelten Juden und die Führung des Volkes in Gestalt des Hohen Rates sind bereit, ihre Verantwortung für die Kreuzigung Jesu zu übernehmen. Man darf das „Blut“-Wort von V. 25 aber nicht in ein „Fluch“Wort umdeuten. 4. Hätte Pilatus anders handeln können? Man muss diese Frage bejahen.355 Er hätte den Prozess verweigern können, allerdings mit dem Risiko, dass sich die Juden dann beim Kaiser in Rom beklagt hätten. Er hätte beide, Jesus und Bar Abba, freigeben können. Er hätte sich mit der Geißelung Jesu begnügen können. Oder er hätte das Ganze auf die lange Bank schieben können, wie die späteren Statthalter den Paulus-Prozess (Apg 21,27–28,1ff ). Weil er all dies nicht getan, sondern Jesus verurteilt hat, bleibt seine Schuld. 5. Hätte der Hohe Rat anders handeln können? Wieder muss man die Frage bejahen. Er hätte es beim jüdischen Prozess belassen und Jesus unter dem Odium, ein Gotteslästerer zu sein, beim Volk unmöglich machen können. Er hätte nach den ersten Versuchen, Pilatus für die Hinrichtung zu gewinnen, von der Anklage vor dem Römer Abstand nehmen und den Dingen ihren Lauf lassen können. Er hätte nach Gamaliels Rat nach Apg 5,38f handeln können usw. Er hat nichts davon getan, und ist deshalb ebenfalls an der Kreuzigung schuld. 6. Ist das in Mt 27,11-25 Berichtete historisch oder nur legendär? Sowohl das Ganze des Berichts als auch einzelne Szenen stehen bei manchen Auslegern unter dem Verdikt, „dogmatisch“, „apologetisch“ oder „legendarisch“ zu sein:356 „this is Christian propaganda, not objective reporting“, „of course nothing but hostile invention“ (zu V. 25), „fictitious scene“.357 Andere beharren auf einem „historischen Hintergrund“358 oder plädieren für einen „histori354 355 356 357 358

Wie wir France 392f. Vgl. Luz IV 276. So Bultmann, Gesch, 304. Vgl. Luz IV 276. Beare 530f. Auch Luz IV 283: „Geschichtskonstruktion“. Dagegen Tasker 262. Hengel-Schwemer 606.

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schen(r) Kern“.359 Unseres Erachtens lässt sich die Historizität von Mt 27,1125 kaum bestreiten. Nichts von dem Berichteten ist in sich unglaubwürdig. Eine indirekte Bestärkung der Historizitätsannahme liegt in den Vorgängen um den Propheten Jesus bar Chananja in den Jahren ab 62 n.Chr., von denen Josephus berichtet.360 7. Die später entstandenen Legenden wie zum Beispiel in den Pilatus-Akten und im Martyrium Pilati liegen auf einer ganz anderen Ebene. Dort wird Pilatus als ein christlicher Märtyrer betrachtet. Die koptische Kirche feiert den 19. Juni als seinen Gedenktag.361 8. Angesichts der neueren Kommentierungen erhebt sich eine grundsätzliche Frage: Schrieben die Evangelisten mit der Absicht, irgendjemand die Schuld am Christustod zuzuschreiben? Haben wir in den Evangelien also Propagandaschriften des 1./2. Jh.s n.Chr. vor uns? Äußerungen in dieser Richtung sind sehr zahlreich geworden. Für Hengel-Schwemer beginnt der Versuch, „Pilatus weißzuwaschen“, bei Matthäus.362 Bultmann sieht unter Berufung auf Hans Lietzmann in allen Evangelien „Züge“, „die die Römer entlasten und den Juden alle Verantwortung zuschieben“.363 Nach Luz müssen wir die „Verharmlosung von möglicherweise antijudaistischen neutestamentlichen Grundtexten“ vermeiden,364 was zwar zeitlos gültig ist, aber nicht die Wahrnehmung aller möglichen Aspekte verhindern darf. Für Fiedler hat das Bild, das Matthäus von Pilatus zeichnet, „mit der Realität nichts zu tun“. Für ihn ist der Matthäus-Bericht voller Absurditäten.365 Für Beare vermitteln uns die Evangelisten ein „Christian programme of laying the whole guilt on the Jews, and absolving the Romans“.366 Hier kehrt sich der Dogmatik-Vorwurf gegen Matthäus um: Die Ausleger geraten selbst in Gefahr, wegen des Vorrangs ihrer Dogmatik ihre Exegese nach bestimmten Modellen auszurichten. Näherliegend ist doch die Annahme, dass die Evangelisten so schreiben, wie sie es selbst oder ihre Gewährsleute unter den ersten Jüngern erlebt haben.

359 360 361 362 363 364 365 366

Luz IV 273. Bell VI, 300-309. Vgl. DNP 10, 141f; Luz IV 275. Hengel-Schwemer 82,234. Bultmann, Gesch, 305. Luz IV 276. Fiedler 410.411. Beare 531.

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2.7 Verurteilung und Verspottung, 27,26-30

I Übersetzung 26 Da ließ er ihnen Bar Abba frei. Jesus aber ließ er geißeln und übergab ihn zur Kreuzigung. 27 Darauf führten die Soldaten des Statthalters Jesus ins Prätorium ab und versammelten die ganze Kohorte um ihn. 28 Und sie zogen ihn aus, hängten ihm einen scharlachroten Mantel um, 29 flochten einen Kranz aus Dornen, setzten ihn auf seinen Kopf und gaben ihm einen Rohrstock in die Rechte, und beugten vor ihm die Knie und verspotteten ihn mit den Worten: Sei gegrüßt, Judenkönig! 30 und spuckten ihn an, nahmen den Rohrstock und schlugen damit auf seinen Kopf.

II Struktur Wie früher schon bemerkt, kann man den Passionsbericht auf verschiedene Weise in Unterabschnitte gliedern.367 Insbesondere für Mt 27,26 wird die Zuordnung verschieden vorgenommen. Aber für die Exegese sind solche Untergliederungen von geringer Bedeutung. In unserem Abschnitt Mt 27,26-30 vereinigen sich drei Informationen: 1) Die Freilassung von Bar Abba (V. 26); 2) die Verurteilung Jesu (V. 26); 3) die Verspottung Jesu (V. 27-30). Dabei fällt die Länge auf, in der die Verspottung Jesu geschildert wird. Demgegenüber nehmen sich die beiden Urteilssprüche des Pilatus geradezu minimal aus. Das für die Christen zentrale Urteil über Jesus muss sich mit nur sieben Worten begnügen.368 Weiterhin fällt auf, dass wohl Matthäus, Markus und Johannes – übrigens in enger wörtlicher Berührung – die Verspottung Jesu schildern (vgl. Mk 15,16-20; Joh 19,2-3), nicht aber Lukas. Wollte Lukas seinen römisch-hellenistischen Lesern diese Szene ersparen?369 Wir wissen es nicht.

III Einzelexegese Matthäus drängt auf die Kreuzigung und Auferstehung zu. Er scheint jetzt, dicht davor, seinen Bericht gestrafft zu haben. Sehr knapp ist V. 26: da ließ er ihnen Bar Abba frei. Pilatus’ Amnestieversprechen für die Passazeit ist damit erfüllt. Aber alle Beteiligten wissen: Er hat dem jüdischen Druck und der jüdischen Entschlossenheit nachgegeben. Ein Musterbeispiel für dieses 367 Vgl. Aland Syn, Nr. 341ff. 368 So bei allen vier Evangelisten. 369 Vgl. Hengel-Schwemer 610,43.

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Nachgeben des Pilatus gegenüber der Entschlossenheit der Juden schildert auch Josephus in Bell II, 169ff. Er ließ ihnen Bar Abba frei: Es war unseres Wissens selten, dass sich der Hohe Rat in dieser Weise für einen mutmaßlich zelotischen Anführer einsetzte. Der Schachzug, die Freilassung von Bar Abba zu erbitten, barg ein hohes politisches Risiko: nämlich das Risiko, selbst unter den Verdacht der Unterstützung der Zeloten zu geraten. Das wollte man sonst vermeiden (Joh 11,48ff ). Aber im Prozess Jesu war fast alles verändert. Was aus Bar Abba wurde, wissen wir nicht. Jesus aber ließ er geißeln und übergab ihn zur Kreuzigung: Unzählige Male ist der „Christus an der Säule“ in der Kunstgeschichte dargestellt worden. Im Urtext des Matthäus steht hier nur ein einziges Wort im Partizip des Aorist: φραγελλώσας [ phragellōsas]. Doch mit diesem einzigen Wort war die Weissagung Jesu aus Mt 20,19 erfüllt. Im römischen Strafverfahren ging die Geißelung, verberatio oder flagellatio, in der Regel der Kreuzigung voraus.370 Ein „geißeln vor dem Richterstuhl“ (μαστιγῶσαί … πρὸ τοῦ βήματος [mastigōsai … pro tou bēmatos]) schildert Josephus,371 wobei sich die Kreuzigung anschloss. Die Geißelung war eine typische Strafe für Sklaven und Provinziale.372 Gegeißelt also wie ein Sklave, um den Sklavenpreis von dreißig Silberstücken verkauft: So erlebte Jesus das Leiden auf der untersten, schlimmsten Stufe. Nach Rainer Riesner war die Geißelung „dafür verantwortlich, daß Jesus sein K[reuz] nicht den ganzen Weg bis zur Hinrichtungsstätte tragen konnte“.373 Für die Geißelung benutzten die Römer „Lederpeitschen, in die Bleistücke oder scharfkantige Knochensplitter geflochten waren“.374 Der Blutverlust war stark, der Geschlagene nach der Geißelung oft kaum mehr erkennbar: „man geißelte solange, bis das Fleisch in blutigen Fetzen herabhing“.375 So erfüllten sich auch Jes 52,14–53,7 und Ps 22,13ff an Jesus. Und übergab ihn zur Kreuzigung (παρέδωκεν ἵνα σταυρωθῇ [ paredōken hina staurōthē]): Im Lateinischen sind es wohl nur drei Worte: Ibis in crucem! 376 „Es bedurfte dazu keines feierlichen Aktes.“377 Zeitlich folgte die Geißelung dem Urteilsspruch, und die Kreuzigung der Geißelung. Pilatus hat damit 370 Vgl. Josephus Bell V, 449f; II, 308; Strack-Billerbeck I 1033; C. Schneider, Art. μαστιγόω usw., ThWNT, IV, 521ff. 371 Bell II, 308. 372 Bauer-Aland 1725; Josephus a.a.O.; Apg 22,25ff. 373 Im Art. Kreuz/Kreuzigung, GBL 2, 841. 374 Riesner a.a.O. 840. Vgl. Fruchtenbaum 108f. 375 C. Schneider a.a.O. 523. Vgl. Carson 571f. 376 Hengel-Schwemer 608; Riesner a.a.O. 377 Hengel-Schwemer a.a.O.

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die Forderung in V. 22 und 23 „Er soll gekreuzigt werden!“ erfüllt. Das übergeben bedeutet die Beauftragung an die Truppe, vor allem das Exekutionskommando, den Verurteilten zu übernehmen und die Kreuzigung durchzuführen. Im Rückblick erstaunt, dass Matthäus von Jesus kein einziges Wort mehr berichtet. Das Letzte, was er sprach, war sein Bekenntnis vor Pilatus in Mt 27,11. Er scheint zum Spielball der Menschen geworden zu sein. Fragt man noch einmal nach der Schuld der Beteiligten, dann muss das Urteil lauten: Beide sind schuldig, Römer und Juden, Hoher Rat und Pilatus, Heiden und Israeliten. Für beide ist Jesus gestorben. Ein Hin- und Herschieben der Schuldanteile ist ein falscher Weg. Glücklich ist keiner der Beteiligten geworden. Pilatus war offenbar verletzt und verärgert, dass er den Juden wieder einmal nachgeben musste (Joh 19,22). Die Ungnade des Kaisers, die er vermeiden wollte (Joh 19,12f ), ereilte ihn 36/ 37 n.Chr. und entfernte ihn aus dem Amt des praefectus Judaeae. Schließlich endete er durch Selbstmord.378 Der Hohe Rat, der wie die upper classes insgesamt auf das Wohlwollen der Römer angewiesen war,379 hatte das Verhältnis zum Statthalter aufs Äußerste strapaziert. Man braucht sich als Einzelheit nur klarzumachen, dass sich damals das Festgewand des Hohenpriesters im Gewahrsam der Römer befand.380 Darüber hinaus plagten ihn Befürchtungen wegen der Auferstehungsweissagungen Jesu (Mt 27,62ff ). Wurde sogar der tote Jesus noch zu einer Bedrohung? Ab V. 27 schildert Matthäus die Verspottung Jesu: Darauf führten die Soldaten des Statthalters Jesus ins Prätorium ab und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Nach Theodor Mommsen wurden damals die römischen Truppen „meist aus Samaritanern und syrischen Griechen gebildet“.381 Es handelte sich also um Auxiliar-(Hilfs-)Truppen. Von ihnen war wenig Mitleid zu erwarten. Unter dem Prätorium (πραιτώριον [ praitōrion]) ist die Residenz des Statthalters, zugleich die römische Kaserne, zu verstehen, ursprünglich bezogen auf die kaiserliche Leibgarde in Rom (vgl. Phil 1,13 und das heutige Castro Pretorio). Doch wo lag das Jerusalemer Prätorium? Die Diskussion dreht sich vor allem um den Herodes-Palast im Westen der Stadt382 und um die Burg Antonia in der heutigen Via Dolorosa. R. Riesner 378 379 380 381 382

So Eusebius HistEccl II, 7. Vgl. Bammel 384; DNP 10, 142. Vgl. Stevenson 850. Mommsen 213. Mommsen 210f. Dafür z.B. Kroll 443ff; Kopp 410ff; Dalman 268ff; Luz IV 293; Carson 572; Schlatter 410; Tasker 263.

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hinwiederum beruft sich auf die älteste christliche Ortsüberlieferung und plädiert für eine dritte Lösung: „Das P. befand sich im ehemaligen hasmonäischen Königspalast gegenüber der S-W-Ecke des Tempels.“383 Dass in der Antonia eine römische Besatzung lag, lässt sich kaum leugnen (vgl. Apg 21,31ff ). Aber die römischen Statthalter zogen es in der Regel vor, in den bisherigen Fürstenresidenzen ihren Wohnsitz zu nehmen. Demnach scheidet die Burg Antonia aus; ob Herodespalast oder Hasmonäerpalast, lässt sich bisher nicht sicher entscheiden. Die Wendung παραλαβόντες … εἰς τὸ πραιτώριον [ paralabontes … eis to praitōrion] bedeutet vermutlich, dass Jesus von dem öffentlichen Platz, wo der Richtstuhl (βῆμα [bēma], sella curulis) stand, weggeführt und ins Innere der Kaserne verbracht wurde. Dort konnte sich auch der Judenhass der Syrer und Samaritaner frei austoben. Matthäus schreibt: Die Soldaten versammelten die ganze Kohorte um ihn. Der griech. Begriff σπεῖρα [speira] bezeichnet als militärischer terminus technicus entweder eine Kohorte oder eine Manipel.384 Da eine Manipel zu klein erscheint, übersetzt man in Mt 27,27 gewöhnlich mit Kohorte. Die aber erscheint für die Statthalter-Residenz doch ein wenig zu groß. Denn sie umfasst den zehnten Teil einer Legion, also circa 400–600 Mann.385 Hat Pilatus die prätorianische Kohorte von Cäsarea nach Jerusalem heraufgebracht, dann konnte er sie evtl. auf seine Residenz und die Antonia verteilen. Wir sind jedenfalls nicht gezwungen, anzunehmen, dass sich eine vollzählige Kohorte von 400–600 Mann um Jesus (ἐπ᾿ αὐτόν [ep’ auton]386) versammelte. Die ganze Kohorte kann auch hyperbolisch sein wie unser deutscher Ausdruck „der ganze Ort“ (vgl. V. 25).387 Zuerst zogen sie ihn aus (ἐκδύσαντες αὐτόν [ekdysantes auton], V. 28). Besonders für einen jüdischen Menschen war Nacktsein eine Schande. Wer nackt herumgeht, hat seine Ehre verloren und verfällt dem Gericht (Offb 16,15; 17,16) – sogar bei den Samaritanern.388 Dann hängten sie ihm einen scharlachroten Mantel um (χλαμύδα κοκκίνην [chlamyda kokkinēn]). Der Mantel entspricht dem „Kriegsmantel, wie ihn … die römischen Soldaten trugen“,389 dem sagum purpureum oder paludamentum.390 Er erinnert aber auch an die Scharlach-Farbe der Ausstattung der Stiftshütte (Ex 25,4; Josephus 383 384 385 386 387 388 389 390

Im Art. Prätorium, GBL 3, 1222. Bauer-Aland 1519f. R.P. Gordon, Art. Herr, GBL 2, 546. Nach Bauer-Aland „an Jesus heran“ (Sp. 584). Doch France 393: „no exaggeration“. Luz IV 293: „übertreibend“. Wie wir Carson 572. A. Oepke, Art. γυμνός usw., ThWNT, I, 1933, 774. Bauer-Aland 1760. Nach Schniewind 270 stammt er wahrscheinlich von einem Offizier. Bauer-Aland 895.

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Ant VIII, 72) und damit an die Dimension der Erlösung, die Jesus jetzt an Passa vollbringt. Schließlich darf eine dritte Dimension nicht vergessen werden. Das ist die Sicht der Apokalypse, in der die große Hure „auf einem scharlachroten Tier“ erscheint (Offb 17,3.4).391 Es ist also die Dimension des Aufruhrs gegen das Heilige. Otto Michel macht darauf aufmerksam, dass der „rote Mantel … das Zeichen des Feldherrn und Kaisers außerhalb Italiens“ ist.392 „Der König der Sanftmut und des Friedens (Mt 21,5) wird in die Kriegstracht des römischen Soldaten gekleidet.“393 So verspottet man den angeblichen Judenkönig.394 Die Tortur geht weiter: Sie flochten einen Kranz aus Dornen, setzten ihn auf seinen Kopf … (V. 29). Man darf sich diesen Dornenkranz (oft Dornenkrone genannt) nicht nur als einen welken Spottkranz vorstellen. Vielmehr deutet das griechische στέφανος ἐξ ἀκανθῶν [stephanos ex akanthōn] darauf hin, dass der Kranz aus stachligen Pflanzen bestand,395 die beim Setzen auf den Kopf weitere Schmerzen und weiteren Blutverlust verursachten.396 Eine genauere Bestimmung bleibt hypothetisch. Handelte es sich um den Christdorn?397 Oder um den Zwergstrauch Sarcopoterium spinosum?398 Oder die Hauhechel?399 Oder um einen „aus Phoenix dactylifera nachgemachten(r) Strahlenkranz“400? Der Gedanke mit dem Strahlenkranz ist wohl doch zu weit hergeholt. Wir müssen uns deshalb wie Zohary mit der Erkenntnis bescheiden, dass „mindestens ein Dutzend dorniger Pflanzenarten in Jerusalem“ infrage kommt.401 Nur so viel lässt sich sagen: Dieser Dornenkranz war „eine Parodie des goldenen Kranzes, den orientalische Könige … tragen“.402 Danach gaben sie ihm einen Rohrstock (κάλαμον [kalamon]) in die Rechte. Der κάλαμος [kalamos] ist zunächst ein Schilfrohr, im Winde wankend (Mt 11,7), dann ein Bildwort für Zerbrechlichkeit und Schwäche (2Kön 18,21; Mt 12,20; Josephus Ant X, 7). Hier, in Mt 27,29, soll er das herrscherliche Szepter darstellen – ein Hohn auf den schwachen Judenkönig, der hilflos der Soldateska 391 Vgl. meinen Kommentar Die Offenbarung des Johannes, Kapitel 12–22 in der HTA, 2. Aufl., 2014, 247ff. 392 Im Art. κόκκος usw., ThWNT, IV, 1942, 813. 393 Michel a.a.O. 813f. Vgl. Hengel-Schwemer 610. 394 In Lk 23,11 verspottet ihn Herodes mit einem weißen Gewand. 395 Vgl. Bauer-Aland 56. 396 Luz IV 296; Carson 573. 397 Vgl. Zohary 154f. 398 So Zohary 154. 399 So Bauer-Aland a.a.O. 400 Vgl. W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, 631; France 394. 401 Zohary a.a.O.; F.N. Hepper, Art. Pflanzen, GBL 3, 1175f; vgl. Grundmann a.a.O. 631f. 402 Hengel-Schwemer 610; Grundmann a.a.O. 631.

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ausgeliefert ist.403 Vor dieser zerschlagenen, blutigen Gestalt „ohne Hoheit“ (Jes 53,2) beugten sie die Knie und verspotteten ihn – nicht wissend, wie exakt sie Jes 53,2-5 erfüllten. Einen Höhepunkt erreicht die Verspottung mit den Worten: Sei gegrüßt, Judenkönig! Der griechische Gruß χαῖρε, βασιλεῦ τῶν Ἰουδαίων [chaire, basileu tōn Ioudaiōn] ist mit einer winzigen Änderung im Johannesevangelium allen drei Evangelisten-Berichterstattern gemeinsam (Mt 27,29; Mk 15,17; Joh 19,3). Auch dieser Vorgang hat mehrere Dimensionen: χαῖρε [chaire] sagte auch Judas beim Judaskuss (Mt 26,49), als König Israels wurde Jesus beim Einzug in Jerusalem begrüßt (Mt 21,5.9), und Jesus, der König der Juden stand auf der Kreuzesinschrift (Mt 27,37) – was er ja in Wahrheit ist. Wollten die Soldaten an das „Ave, Caesar!“ erinnern?404 Wir sollten außerdem Grundmanns Hinweis auf eine der frühesten Auslegungen unserer Geschichte in Hebr 2,9 beachten:405 „Wir sehen aber Jesus … wegen des Todesleidens mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“ Als Zeichen der Entehrung spuckten ihn die Soldaten schließlich an, nahmen den Rohrstock und schlugen406 damit auf seinen Kopf (V. 30). Jeder psychische und physische Widerstandswille sollte gebrochen werden. Dieser Jesus ist zugleich das Urbild der Verfolgung, die im Laufe der Jahrhunderte die Christen treffen wird. Siehe auch das Bespuckt- und Geschlagenwerden in Mt 26,67. Wieder erfüllt sich die biblische Prophetie (Ps 22,7ff; Jes 50,6) samt der Prophetie Jesu (Mt 20,19). Am Schluss sei noch auf zweierlei hingewiesen. Erstens ist der Umgang der Soldaten mit dem „berühmten“ Jesus, dem angeblichen König der Juden, ein Beweis für den damaligen Judenhass gerade im Orient. Der Antijudaismus (fälschlich oft Antisemitismus genannt) ist ein jahrtausendealtes Phänomen (vgl. Esterbuch, Dan 6). Zweitens wurde einiges an historischem Material gesammelt, das die Vorgänge der Passion verständlicher macht, so bei Philo Flacc 36-39; Josephus Ant XIX, 356ff; XX, 108.

IV Zusammenfassung 1. Mt 27,26-30 zeigt uns die Verurteilung Jesu und anschließend seine tiefe Erniedrigung. 2. Er selbst spricht nicht. Aber was die anderen sagen, bedeutet die Erfüllung des Planes Gottes und der biblischen und jesuanischen Prophetie. 403 Vgl. dagegen in Rückerts Adventslied: „O mächt’ger Herrscher ohne Heere, gewalt’ger Kämpfer ohne Speere …“ (EG 14,2). 404 So Carson 573; Luz IV 296. 405 Grundmann a.a.O. 632. 406 Impf. dur. = immer wieder.

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3. Die Bilder der Erniedrigung Jesu sind der Christenheit durch unzählige Kunstwerke bis hin zu Max Beckmanns Bildern und den Worten auf den einfachen Feldkreuzen Oberschwabens unauslöschlich eingebrannt. Im Kreis des Kirchenjahres stehen sie jährlich neu auf durch die Passionslieder. 4. Daneben verblassen die historischen Fragen. Seitens der historischen Kritik begegnen uns die gewohnten Urteile: „die Barabbas-Episode“ sei „eine legendarische Erweiterung“, „die Verspottungsszene … eine sekundäre Ausführung“407 usw. Anders dann die Revision dieser Thesen bei Hengel-Schwemer und anderen („im römischen Strafrecht üblich“ – „entsprach … römischen Brauch“).408 Wir greifen nur eine Einzelheit heraus. Hans Conzelmann hatte noch vehement in Abrede gestellt, dass die Gemeinde einen „Augenzeugenbericht“ über die Leidensgeschichte besaß.409 Nun gehen Hengel-Schwemer sogar bei den internen Geschehnissen davon aus, „daß die Vorgänge der Verspottung in der Kaserne in der Stadt bekannt wurden“.410 5. Was wir heute weit stärker bedenken sollten, ist die Typologie, die im Leiden Christi liegt: „Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen“ (Joh 15,20; vgl. Mt 10,22ff ). Die orientalischen Kirchen erleben das buchstäblich am Anfang dieses Jahrhunderts, und wir schauen weitgehend unbewegt ihrer Apokalypse zu. Aber die westlichen Kirchen werden dem nicht entrinnen. Welches kirchliche Projekt, welche kirchliche Erwachsenenbildung bereitet darauf vor?

3. Die Kreuzigung, 27,31-56 3.1 Der Weg zum Kreuz, 27,31-32

I Übersetzung 31 Und als sie ihn verspottet hatten,1 zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn ab zur Kreuzigung. 32 Als sie aber hinauszogen, fanden sie einen Mann aus Kyrene namens Simon. Den verpflichteten sie zu dem Frondienst, dass er Jesu Kreuz tragen musste. 407 408 409 410 1

Bultmann, Gesch, 293. Hengel-Schwemer 609. Conzelmann 646f. Hengel-Schwemer 611. Zur Grammatik vgl. Carson 573.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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II Struktur Wir kommen nun zum dritten Hauptabschnitt des Passionsberichtes, der Kreuzigung. Der Weg zum Kreuz wird von den Evangelien in unterschiedlicher Länge geschildert. Lukas hat den ausführlichsten Bericht (Lk 23,26-32), Matthäus und Johannes haben den kürzesten. Markus (15,20-21) fügt vor allem die Notiz über Alexander und Rufus ein, von denen uns Rufus offensichtlich in Röm 16,13 wieder begegnet. Eine römisch-petrinische Gemeinde konnte also an einer solchen Notiz interessiert sein.2 Simon von Kyrene hat bei den Synoptikern einen festen Platz. Johannes konzentriert sich auf andere Dinge.

III Einzelexegese Nach der Verspottung zogen die Soldaten Jesus den Mantel aus (V. 31). Das ablegen von Dornenkranz und Rohrstab wird nicht erwähnt. Offenbar wollten die Soldaten ihren roten römischen Soldaten-Mantel vor jedem Spott der Jerusalemer schützen. Sie zogen Jesus wieder seine eigenen Kleider an: Man vermutet, dass dies geschah, um auf das jüdische Schamgefühl Rücksicht zu nehmen.3 Später verteilten und verlosten sie seine Kleider (V.35). Jetzt geht alles rasch, schon mit Rücksicht auf die Passafeier: Sie führten ihn ab zur Kreuzigung. Abführen, ἀπάγειν [apagein], ist wieder ein terminus technicus der Rechtssprache.4 Wenn jetzt alles so schnell geht, müssen die meisten Vorbereitungen schon getroffen worden sein. Das ist in der Tat der Fall. Denn die Römer wollten ja eine dreifache Kreuzigung vollziehen: an Bar Abba und seinen beiden Mittätern. Auf diese dreifache Kreuzigung waren sie eingestellt. Nun trat Jesus an die Stelle Bar Abbas. Als sie aber hinauszogen (Ἐξερχόμενοι δὲ [Exerchomenoi de]), V. 32: Oft berichtet Matthäus wichtige Ereignisse der Passion lediglich im Partizipialstil:5 ἐξερχόμενοι [exerchomenoi] V. 32, ἐλθόντες [elthontes] V. 33, σταυρώσαντες [staurōsantes] V. 35, συσταυρωθέντες [systaurōthentes] V. 44. So auch hier. Leser und Exeget werden aber gerade an solchen Punkten herausgefordert. Hinaus bedeutet zunächst das Verlassen der ummauerten Stadt. Die Hinrichtung konnte nicht innerhalb der Stadtmauern Jerusalems vollzogen werden. Hinaus: Dieses Motiv hat vor allem der Hebräerbrief aufgenommen.6 In 2 Vgl. Zahn 712,80. 3 France 394; R. Riesner, Art. Kreuz/Kreuzigung, GBL 2, 841; Carson 573; Hengel-Schwemer 614. 4 Bauer-Aland 158. 5 Vgl. Luz IV 309. 6 In gewisser Weise ist der ganze Hebräerbrief eine Passionsexegese.

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13,12 sagt er von Jesus: ἔξω τῆς πύλης ἔπαθεν [exō tēs pylēs epathen]. In 13,13 nimmt er dieses Motiv in seine Paränese auf. Zentrale Bedeutung hat die Parallele zum Sündenbock in Lev 16. Nach biblischer Vorschrift muss dieser „alle ihre Missetat auf sich nehmen und in die Wüste tragen“ (Lev 16,21f ). Zweimal benutzt die LXX für das Fortschicken des Bockes ἐξαποστελεῖ [exapostelei]. In der Mischna Joma wird das Verfahren zur Zeit des Jerusalemer Tempels geschildert. Dort heißt es: „Von den Vornehmen Jerusalems begleiteten ihn manche bis zur ersten Hütte“ (VI, 4). Nach M. Joma VI, 6 wurde der Sündenbock dann bei der zehnten Hütte über einen steilen Felsen – ostwärts von Jerusalem Richtung Jericho – hinabgestürzt in den Tod. Lev 16 steht seinerseits in einem inneren Zusammenhang mit Jes 53. Dort „trägt“ der Gottesknecht „die Sünden vieler“ bzw. „unsere Sünden“ (V. 4: φέρει [ pherei], V. 12: ἀνήνεγκεν [anēnenken]). Johannes der Täufer hat Lev 16 und Jes 53 miteinander verbunden und auf Jesus angewandt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29.36) Wo zogen sie hinaus? Nach Rainer Riesner führte „Der Kreuzweg … zur Abschreckung oft über besonders belebte Straßen und Plätze“7 (vgl. 2Makk 6,10; Josephus Bell II, 246). Neuere Untersuchungen erhärteten die Annahme, dass Jesus zum GennathTor8 (vgl. πύλη [ pylē] Hebr 13,12) hinausgeführt wurde und dann auf Golgatha in der Nähe der nördlichen Ausfallstraße, die nach Cäsarea und Jaffa verlief, gekreuzigt wurde. Die benachbarte Stadtmauer und die Ausfallstraße boten genug Möglichkeiten, die Kreuzigung der drei mitzuerleben. Jedenfalls sind die Grabeskirche und Golgatha die Fixpunkte, an denen wir uns orientieren können.9 … fanden sie einen Mann aus Kyrene (εὗρον ἄνθρωπον Κυρηναῖον [heuron anthrōpon Kyrēnaion]) namens Simon. Den verpflichteten sie zu dem Frondienst, dass er Jesu Kreuz tragen musste: Wenn die Römer während des Zuges zur Kreuzigungsstätte einen solchen Mann fanden, dann muss Jesus bis dahin sein Kreuz selbst getragen haben. So sagt es Joh 19,17 ausdrücklich. Genauer gesagt: Er trug entsprechend der damaligen Verfahrensweise wohl das Querholz, das patibulum, seines Kreuzes.10 Aber nun war er infolge des Blutverlustes bei Geißelung11 und Verspottung nicht mehr in der Lage, auch nur das Querholz zu tragen. Rasch entschlossen griff der Kommandeur des Exekutionskommandos auf Simon zu. Mk 15,21 sagt, er sei gerade 7 8 9 10 11

Riesner a.a.O. Josephus Bell V, 146. So R. Riesner, Art. Golgatha, GBL 1, 480ff. Hengel-Schwemer 612; Riesner, Art. Kreuz/Kreuzigung, a.a.O., 841. Die ja manchmal tödlich verlief.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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„vom Feld gekommen“. Er hatte die letzte Zeit vor der Einnahme des Passamahles noch ausgenutzt. Mk 15,21 ist einer der stärksten Beweise dafür, dass Jesus vor dem regulären Passamahl, also am Freitagnachmittag, starb. Der Mann aus Kyrene war gerade das, was der römische Kommandeur brauchen konnte. Denn der hatte bestimmt nicht bei denen gestanden, die beim Prätorium „Kreuzige ihn!“ gerufen hatten. Ein Kyrenäer schien auch nicht in die typischen Jerusalemer Parteien verwickelt. Dass man ihn nach seinen Personalien fragte, bevor man ihm Jesu Kreuz auflud, ist selbstverständlich. So kurz die Notiz bei Matthäus ist, so interessant ist sie. Erstens nennt Matthäus den Namen: Simon. Wir erinnern uns, dass Matthäus noch nicht einmal den Namen der Frau in Betanien genannt hatte (26,6ff ), auch nicht den Namen des Malchus (26,51). Warum aber nennt er den Namen des Kyrenäers? Ein Vergleich mit Mk 15,20f zeigt, dass a) Simon einen festen Platz in den Passionserzählungen hatte, b) seine Söhne Alexander und Rufus in den frühen Christengemeinden bekannt waren (vgl. Röm 16,13). Der Schluss liegt nahe, dass Simon entweder an jenem Karfreitag schon ein Jünger Jesu war oder es durch den Gang nach Golgatha wurde.12 Zweitens spielt das Stichwort Kyrene/„Kyrenäer“ im NT eine bemerkenswerte Rolle. Menschen aus Kyrene hörten die Pfingstpredigt (Apg 2,10), Männer aus der Synagoge der Kyrenäer stritten mit Stephanus (Apg 6,9 – gehörte auch Simon zu dieser Synagoge?), Kyrenäer brachten zusammen mit Zyprioten das Evangelium nach Antiochia und schufen durch ihre Predigt bei den Heiden eine der Voraussetzungen dafür, dass man Jesu Gemeinde „Christianer/Christen“ (Χριστιανοί [Christianoi]) zu nennen begann (Apg 11,20ff ). Einer der bekannten Propheten und Lehrer in eben diesem Antiochien war „Lucius, der Kyrenäer“ (Apg 13,1). Dabei ist zu bedenken, dass Kyrene, die heutige Kyrenaika im östlichen Libyen, seit ca. 600 v.Chr. griechisch geprägt, seit 96 v.Chr. römisch und seit 74 v.Chr. eine römische Provinz war.13 Josephus berichtet (in einem Referat über Strabo), Kyrene habe einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil gehabt, der gesetzestreu gewesen sei (χρώμενα τοῖς πατρίοις τῶν Ἰουδαίων νόμοις [chrōmena tois patriois tōn Ioudaiōn nomois]).14 Die Verbindung mit dem Mutterland scheint eng gewesen zu sein. So wundert es nicht, dass Kyrenäer zurück nach Jerusalem zogen (Apg 6,9). Bei Simon mag hinzukommen, dass seine Familie noch Grundstücke (ἀγρός [agros], Mk 15,21) in oder bei Jerusalem besaß. 12 Vgl. France 395; Zahn 712; Hengel-Schwemer 614. 13 Vgl. J.H. Harrop, Art. Kyrene, GBL 2, 858. 14 Ant XIV, 114ff.

632

Jesu Passion, 26,1–27,66

Das Verb ἀγγαρεύειν [angareuein], persischer Herkunft, bedeutet eigentlich „zur Fron für den Beförderungsdienst heranziehen“, wird jedoch in der Regel durch „zwingen“ wiedergegeben.15 Nach römischem Recht waren die Provinzialen zu Transportleistungen für das römische Heer verpflichtet (vgl. Mt 5,41). Darunter subsummiert Mt 27,32 auch das Kreuztragen für Delinquenten. Auf diese Weise wurden Bewohner aller drei damals bekannten Erdteile an der Kreuzigung Jesu beteiligt: Europäer (Römer), Asiaten (Juden) und Afrikaner (Kyrenäer).16

IV Zusammenfassung Mt 27,31-32 schildert sehr kurz den Weg Jesu zum Kreuz. In den Vordergrund rückt Matthäus Jesu Leiden und Schwäche. Es braucht den Simon von Kyrene, damit der fehlende Kreuzesteil überhaupt nach Golgatha gebracht werden kann.

3.2 Die Kreuzigung, 27,33-56

I Übersetzung 33 Und als sie an den Ort gekommen waren, der Golgatha heißt, das bedeutet: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken, der mit Galle gemischt war. Aber als er ihn schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider unter sich, wobei sie das Los warfen, 36 und setzten sich nieder und bewachten ihn dort. 37 Und über seinem Kopf brachten sie eine Tafel an, auf der seine Schuld zu lesen stand: Das ist Jesus, der König der Juden. 38 Dann werden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten 40 und sagten: Der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen wieder aufbaust, rette dich selbst, wenn du Gottes Sohn bist. Steig herab vom Kreuz! 41 Ebenso spotteten auch die Hohenpriester mitsamt den Schriftgelehrten und Ältesten, indem sie sagten: 42 Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist doch der König von Israel! Er

15 BDR § 6; Bauer-Aland 11. 16 Bei verschiedenen Funden, die seit 1941 im Kidrontal gemacht wurden, stieß man auch auf Gräber von Kyrenäern, u.a. ein Ossuar von „Alexander, Sohn des Simon (des Kyrenäers?)“. Inwieweit sie mit der Passionsgeschichte in Verbindung stehen, ist unsicher. Vgl. Kroll 474; Luz IV 312,25; Carson 575.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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steige jetzt vom Kreuz herab, dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat auf Gott vertraut. Der rette ihn nun, wenn er ihn will. Denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Genauso schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Aber von der sechsten Stunde an breitete sich Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Aber um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme auf: Eli, Eli, lema sabachtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber von den dort Stehenden sagten, als sie das hörten: Der ruft den Elia. 48 Und sofort lief einer von ihnen los und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf einen Rohrstock und gab ihm zu trinken. 49 Die anderen aber sagten: Lass es! Wir wollen sehen, ob Elia kommt und ihn rettet. 50 Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme und gab den Geist auf. 51 Und siehe, der Vorhang der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten in zwei Teile, und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen, 52 und die Gräber wurden geöffnet und viele Leiber der entschlafenen Heiligen auferweckt. 53 Und sie kamen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54 Aber der Hauptmann und diejenigen, die mit ihm Jesus bewachten, erschraken heftig, als sie das Erdbeben und die Geschehnisse wahrnahmen, und sie sagten: Der war wahrhaftig Gottes Sohn. 55 Es waren aber viele Frauen dort, die von ferne zuschauten. Sie waren Jesus von Galiläa aus nachgefolgt und hatten ihm gedient. 56 Unter ihnen war Maria aus Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.

II Struktur Liest man Mt 27,33ff, dann fällt zweierlei auf: Erstens wird die Kreuzigung Jesu relativ kurz dargestellt (V. 33-34), zweitens werden relativ viele Vorgänge rings um sein Kreuz berichtet: Das Verhalten der Soldaten (V. 35-36), das Anbringen des Titulus (V. 37), die Kreuzigung zweier „Räuber“ (V. 38), die Reaktion der Vorübergehenden (V. 39-40), das Verhalten der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten (V. 41-43), das Verhalten der zwei „Räuber“ (V. 44), Vorgänge in der Schöpfung (V. 45), Jesu Sterben (V. 46-50), wieder Zeichen in der Umgebung (V. 51-53), die Reaktion des Exekutionskommandos (V. 54) und die Notiz über die Frauen aus Galiläa (V. 55-56). Die insgesamt zwölf Vorgänge bilden einen Kranz von Erzählungen eigener Prägung. Man kann fragen, ob Mt 27,33-56 nicht in mehrere Abschnitte aufgeteilt werden sollte. So macht es Alands Synopse, die Mt 27,33-56 in fünf Abschnitte gliedert. Aber an dieser Stelle hat Luz recht: Jede „Untergliederung des

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Jesu Passion, 26,1–27,66

Abschnittes ist schwierig und bleibt willkürlich“.17 Deshalb lassen wir den Kranz der Erzählungen in Mt 27,33-56 beieinander und legen Mt 27,33-56 als Einheit aus. Mit V. 57 beginnt dann aber eindeutig ein neuer Teil des Passionsberichtes, der Ereignisse nach dem Tod Jesu zum Gegenstand hat. Jedes der vier Evangelien benutzt Sondergut: So Markus in 15,25.41; so Lukas in 23,39ff.46.48; so Johannes in 19,20ff.25ff.28ff; auch Matthäus in 27,43.51ff. Erweitert man den Blick auf 1Petr 2,21ff und Irenäus (AdvHaer III, 16,9; 18,5; IV, 33,12ff ), dann zeichnet sich ab, dass die älteste Christenheit eine breite Tradition über die Passion Jesu besaß und jeder der Evangelisten nur eine Auswahl aus dieser Tradition bieten konnte (vgl. Joh 21,25).

III Einzelexegese Und als sie an den Ort (εἰς τόπον [eis topon]) gekommen waren, der Golgatha heißt (V. 33): Nach langen Diskussionen hat es sich inzwischen abgeklärt, dass für das biblische Golgatha „die traditionelle Lage im Gebiet der Grabeskirche gut begründet ist“. So der stets zur Kritik neigende Luz.18 Neutestamentlich heißt dieser Ort Γολγοθᾶ [Golgotha], abzuleiten von aram. ‫[ ֻגְּלֻגְּל ָ ּתא‬gulgultāʾ] und hebr. ‫[ ֻגְּלֹגֶּלת‬gulgolät].19 Das hebr. ‫[ ֻגְּלֹגֶּלת‬gulgolät] bedeutet „Schädel“ oder „Kopf “.20 So übersetzt es auch Matthäus: das bedeutet: Schädelstätte. Die Angabe Κρανίου Τόπος [Kraniou Topos] findet sich genau so bei Markus (15,22) und Johannes (19,17). Lukas modifiziert nur leicht: Er gibt als Ortsnamen Κρανίον [Kranion] = Schädel an (23,33). Es besteht also unter allen Evangelisten eine völlige Einigkeit darüber, dass dieses Golgatha (Golgotha) der Schauplatz der Kreuzigung war. Die matthäische Formulierung: als sie an den Ort gekommen waren schließt ein, dass dieser Ort schon für die Hinrichtung präpariert war. Sehr wahrscheinlich befanden sich dort die senkrechten Pfähle der drei Kreuze. Nur die Querhölzer mussten noch gebracht werden. Dann müssen auch die Löcher für die Pfähle ausgehoben worden sein, wohl auch Werkzeuge und Utensilien bereitgelegen haben. Das damalige Aussehen von Golgatha (Golgotha) lässt sich noch einigermaßen rekonstruieren. Es lag außerhalb der damaligen Stadtmauer, im Winkel zwischen der ersten und der zweiten Mauer. Die Ausfallstraße nach Jaffa (Joppe) und Cäsarea Maritima führte nahe daran vorbei. Der Name Schädel deutet

17 18 19 20

Luz IV 308. Luz IV 316. Bauer-Aland 329; BDR § 39,6. Gesenius 139.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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auf eine schädelförmige Geländeformation.21 Soweit wir es heute erkennen, ragte dort eine felsige Anhöhe von ca. 12 m Höhe empor,22 und zwar inmitten eines großen Steinbruchs. Vermutlich blieb dieses Gestein im Steinbruch „wegen der schlechten Gesteinsqualität stehen“.23 In die Steinbruchwand waren Gräber gehauen, die in die Zeit vor 70 n.Chr. datiert werden können. Heute erheben sich über dem ganzen Gelände die Baulichkeiten der Grabeskirche.24 Bis zum Ausbruch des zweiten Jüdischen Krieges 132 n.Chr. gab es beinahe permanent eine judenchristliche Gemeinde in Jerusalem. Wie Kroll schreibt, ist es „einfach unwahrscheinlich“, dass in dieser Stadt „die Erinnerung an den Ort, wo Golgata war, entschwunden sein sollte“.25 Kaiser Hadrian ließ ausgerechnet an diesem Platz einen Venustempel und nahebei ein Forum für das neue Aelia Capitolina errichten. Wenn er diesen Ort wählte, muss es dafür in der Geschichte Jerusalems einen Grund gegeben haben. Kaiser Konstantin und die Kaiserinmutter Helena waren sich über die Ortslage von Golgatha völlig sicher, als sie im Jahre 326 n.Chr. dort eine prächtige Basilika aufführen ließen. Seither ist sich die Christenheit mit wenigen Ausnahmen einig, dass Golgatha und das Grab Jesu dort im Gelände der Grabeskirche zu suchen sind.26 Jedenfalls sind die Ortsangaben der Evangelisten mit einer über alle Zweifel erhabenen Selbstverständlichkeit gemacht (Mt 26,33.55f.57ff. 62ff; Mk 15,22.40f.42ff; Lk 23,33.49.50ff; Joh 19,25ff.35.38ff; 20,1ff ). Trifft das zu V. 33 Bemerkte zu, dann haben weder das Gartengrab noch die Via Dolorosa Anspruch auf historische Begründung.27 Allerdings berührt die Via Dolorosa an ihrem Ende doch noch den Bereich des geschichtlichen Geschehens. Noch vor der Kreuzigung gaben die Soldaten Jesus Wein28 zu trinken, der mit Galle gemischt war (V. 34). Wein wurde gerne gemischt: mit Wasser, Essig, Myrrhe, hier mit Galle. In Mk 15,23 heißt es οἶνος ἐσμυρνισμένος [oinos esmyrnismenos] = „mit Myrrhen gewürzter Wein“. Ganz sicher ist es

21 Vgl. hier und im Folgenden R. Riesner, Art. Golgatha, GBL 1, 480ff. 22 Evtl. erinnerte ihr Aussehen an einen Schädel. Vgl. Luz IV 315,40. Oder, weil dort eine Hinrichtungsstätte war? Vgl. LSB 1647. 23 Riesner a.a.O. 481f. 24 France 395 vermutet, dass Golgatha eine reguläre Hinrichtungsstätte war. 25 Kroll 476. Deshalb scheidet auch das sog. Gartengrab als Stätte der Kreuzigung und Grablegung aus. 26 Weitere Einzelheiten bei Riesner a.a.O., Kroll 476ff; Kopp 422ff; Dalman 276ff. 27 Die Via Dolorosa wird erst seit dem Ende des 13. Jh.s n.Chr. (Ricoldus a Monte Crucis 1294) als Kreuzweg Jesu betrachtet. 28 οἶνον ist besser bezeugt als ὄξος. Zahn 712,81.

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nicht, was mit χολή [cholē] in Mt 27,34 gemeint ist.29 Denn in der griech. Bibel (LXX) findet sich χολή [cholē] für drei verschiedene hebr. Begriffe: Galle, Gift und Wermut. Daraus und im Hinblick auf die Parallele Mk 15,23 ergeben sich für Mt 27,34 zwei verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Entweder wollten die Soldaten mit dem bitteren, ekligen Trank das Leiden Jesu steigern,30 oder sie wollten ihm („nach jüd. Sitte“31) einen schmerzlindernden, leicht betäubenden Trank anbieten. Wir ziehen letztere Deutung vor. Denn 1) entspricht sie der Parallelstelle Mk 15,23; 2) „enthalten sich“ nach Zahns richtiger Beobachtung die Soldaten des Exekutionskommandos auch sonst „aller unnötigen Härte“;32 3) lehnt Jesus offenbar nur ab, was ihn betäuben soll.33 Er wollte ihn nicht trinken: Nicht weil er die Schmerzen voll auskosten wollte (eine unmenschliche, unrealistische Annahme!), „sondern weil er bei klarem Verstand sterben wollte“.34 Die Bemerkung Aber als er ihn schmeckte, wollte er nicht trinken steht nicht im Gegensatz zu Mk 15,23, wie manche behaupten.35 Denn beide, Matthäus und Markus, sind sich darin einig, dass Jesus das Angebot ablehnte. Dass ein Verschmachtender nach jedem Wassertropfen lechzt, ist klar. Wasser hätte Jesus vermutlich getrunken (vgl. V. 48). Aber eine Betäubung wollte er nicht, sobald er den betäubenden Trank geschmeckt (γευσάμενος [geusamenos]) hatte. Wie die Bezeichnungen „Myrrhe“ (Markus) und „Galle“ (Matthäus) sich zueinander verhalten, ist unklar. War „Myrrhe“ nur „die genauere Bezeichnung“?36 Matthäus denkt jedenfalls, dass sich hier Ps 69,22 erfüllt. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider unter sich, wobei sie das Los warfen, und setzten sich nieder und bewachten ihn dort (V. 35-36): Es bleibt für alle Zeiten eine Überraschung, dass Matthäus die Kreuzigung selbst mit lediglich drei Wörtern beschreibt, für die Kleiderverteilung und die Wache der Soldaten aber elf Wörter in Anspruch nimmt. Dabei geschieht die Erwähnung der Kreuzigung im Partizipialstil, also nur in einem Nebensatz: Σταυρώσαντες δὲ αὐτόν [Staurōsantes de auton]. 29 Strack-Billerbeck I 1037 übersetzen nur „Bitteres“. 30 So Fiedler 414; Luz IV 316. 31 So F.S. Fitzsimmonds, im Art. Wein/-Essig/-Stock/-Berg, GBL 3, 1676. Vgl. HengelSchwemer 614; Strack-Billerbeck I 1037. 32 Zahn 712. 33 Wie wir Fitzsimmonds a.a.O.; ferner Art. Galle, GBL 1, 407f (o. Namensnennung); Zahn 712. 34 So Fitzsimmonds a.a.O.; Zahn 713; Schlatter 411. 35 Fiedler 414. 36 So GBL 1, 408; Maier II 446.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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Forscher wie Hengel, Riesner oder Luz haben die Kreuzigung in allen entsetzlichen Einzelheiten beschrieben.37 Wir wiederholen sie hier nicht. Stattdessen führen wir einen kurzen Erlebnisbericht des Josephus aus dem Jahre 70 n.Chr. an. Titus hatte ihn zu einer Erkundung nach Thekoa gesandt. Er berichtet: „Auf dem Rückweg sah ich viele Gefangene, die man gekreuzigt hatte, und erkannte unter ihnen drei meiner Freunde. Ich war bis ins Herz getroffen und ging unter Tränen zu Titus und sagte es ihm. Er gab sofort Befehl, sie vom Kreuz herabzunehmen und aufs beste ärztlich zu versorgen. Und dennoch starben zwei von ihnen in den Händen der Ärzte, der dritte überlebte.“38 Der kleine Bericht gibt klar zu erkennen, dass oft schon die bloße Anheftung ans Kreuz tödlich war. Vermutlich wurde Jesus an ein †-förmiges Kreuz geheftet, an eine crux immissa. Denn über seinem Kopf musste ja noch die Tafel mit der causa poenae angebracht werden.39 Ein Fund aus dem Jahre 1968 macht das sehr anschaulich. Dort fand man in einem Gebeinkasten einen rechten Fersenknochen, durch den ein ca. 10 cm langer Nagel getrieben war.40 Ähnlich dürfte es bei Jesus gewesen sein. Aber was will uns das Matthäusevangelium sagen, wenn es die Kreuzigung Jesu so unwahrscheinlich kurz berichtet? Offenbar hatte Matthäus eine gewisse Scheu, die Erniedrigung seines Herrn allzusehr auszubreiten. Zweitens aber suchte er ebenso offenkundig Sinn und Herzen auf die Erlösungstat am Kreuz zu konzentrieren. Dahinter musste alles Übrige zurückstehen. Unsere Evangelisten waren keine Humanisten, die sich auf die Unmenschlichkeit dieser Welt konzentrierten, sondern Botschafter der Erlösung, die sündige Menschen aus dem Gericht Gottes retteten. Das Kreuz Jesu führt uns notwendig in die Auseinandersetzung mit dem Doketismus. Sie begann spätestens im 2. Jh. n.Chr.41 Irenäus42 berichtet von den Gnostikern Saturninus aus Antiochia und Basilides aus Alexandria als Häresie, sie hätten gelehrt: Jesus „hat nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Kyrene, den man zwang, für ihn das Kreuz zu tragen … Jesus aber nahm die Gestalt des Simon an und lachte sie aus, indem er dabeistand“. Runde vierhunderfünfzig Jahre später nahm Mohammed diese doketische Lehre auf und kam in Sure 4,158-159 zu der Kernaussage: „Sie haben ihn 37 Hengel Crucifixion passim; R. Riesner, Art. Kreuz/Kreuzigung, GBL 2, 840ff; Luz IV 316ff; auch Joh. Schneider, Art. σταυρός usw., ThWNT, VII, 1964, 572ff. 38 Vita 420f. 39 Bestätigt durch Irenäus AdvHaer II, 24,4. 40 Vgl. Riesner a.a.O. 840. 41 Vgl. Hengel, Crucifixion, 15ff. 42 AdvHaer I, 24,4.

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nicht getötet und nicht gekreuzigt, sondern einen anderen, der ihm ähnlich war.“43 Es lässt sich kein schärferer Gegensatz denken als der zwischen Saturninus Basilides und Mohammed einerseits und Paulus in 1Kor 2,2 andererseits: „nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“. Dass die Soldaten seine Kleider unter sich verteilten, entspricht römischem Recht, wonach die Kleider des Verurteilten dem Exekutionskommando gehörten. Demnach wurde Jesus nackt gekreuzigt. Es bleibt aber die Möglichkeit offen, dass die Römer ihm „aus Rücksicht auf jüd. Empfinden … einen Lendenschurz zugestanden haben“.44 Dass sie bei der Verteilung das Los warfen, bedeutet eine weitere Erfüllung von Ps 22,18f (vgl. V. 29). Siehe Ps 21,19 LXX: διεμερίσαντο τὰ ἱμάτιά μου ἑαυτοῖς καὶ … ἔβαλον κλῆρον [diemerisanto ta himatia mou heautois kai … ebalon klēron] sowie Joh 19,24. Und setzten sich nieder und bewachten ihn dort (V. 36): Es bleibt auffällig, wie viel Platz Matthäus den Soldaten einräumt. Erneut stellen wir fest, dass sie sich „aller unnötigen Härte“ enthalten.45 Das bewachen diente dazu, jedes Eingreifen von außen – ob dem Delinquenten hilfreich oder ihn noch mehr quälend – zu verhindern. Das durative Imperfekt ἐτήρουν [etēroun] zeigt an, dass dies während des ganzen Kreuzigungsverlaufs so geschah. Und über seinem Kopf brachten sie eine Tafel an, auf der seine Schuld zu lesen stand: Das ist Jesus, der König der Juden (V. 37): Es ist nichts Ungewöhnliches, dass eine Tafel die causa poenae angab. Hengel-Schwemer verweisen auf Eusebius, der in HistEccl V, 1,44 aus Lugdunum berichtet: „Attalus wurde im Amphitheater herumgeführt, wobei ihn eine Tafel mit der lateinischen Inschrift ankündigte: Dies ist Attalus, der Christ.“46 HengelSchwemer vermuten außerdem, dass die in Mt 26,37 erwähnte Tafel (Inschrift) „schon dem Zug der Wachsoldaten“ nach Golgatha „vorangetragen“ wurde.47 Die Inschrift am Kreuz wird von allen vier Evangelisten erwähnt (Mk 15,26; Lk 23,38; Joh 19,19f ), evtl. auch in Kol 2,14 vorausgesetzt.48 Der lateinische terminus technicus ist titulus, als τίτλος [titlos] in Joh 19,19 zitiert. Die Länge der Inschrift differiert allerdings in den Evangelien. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes haben gemeinsam die Worte ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων [ho basileus tōn Ioudaiōn] = der König der Juden. Es wieder43 Vgl. Sure 3,56. 44 Riesner a.a.O. 841 nach Blinzler. Jedenfalls schreibt Sanh VI, 3 einen solchen vor (vgl. Strack-Billerbeck I 1038). 45 Zahn 712. 46 Vgl. Hengel-Schwemer 614, die noch andere Beispiele erwähnen. 47 A.a.O. 48 Vgl. Luz IV 321,78.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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holt sich hier der Titel, den Pilatus in V. 11, die Soldaten in V. 29 und die Magier in 2,2 Jesus gegeben hatten. Hier liegt also eine römisch-hellenistische Terminologie vor. Matthäus und Lukas erläutern diesen Titel durch das Demonstrativpronomen οὗτος [houtos], das nicht unbedingt Teil der Kreuzesinschrift gewesen sein muss. Matthäus setzt außerdem den Namen Jesus hinzu. Vermutlich hat Johannes den vollständigen Titulus bewahrt: „Jesus von Nazaret, der König der Juden“ (Joh 19,19), griech. Ἰησοῦς ὁ Ναζωραῖος ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων [Iēsous ho Nazōraios ho basileus tōn Ioudaiōn]. Johannes zufolge war die Inschrift dreisprachig, nämlich hebräisch, lateinisch und griechisch (19,20). Die lateinische Fassung lautete sehr wahrscheinlich: Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Ihre Anfangsbuchstaben ergeben das INRI, das uns oft begegnet. Die Formulierung Ἑβραϊστί [Hebraïsti] (Joh 19,20) kann beides bedeuten: hebräisch oder aramäisch. Kroll geht vom Aramäischen aus und rekonstruiert dann als aramäische Inschrift ‫( ישוע נצריא מלכא דיהודאי‬Jeschua nazoraja malka dijehudaje).49 Jedenfalls verrät der Titulus den „politische(n) Charakter der Exekution“.50 Einen religiösen Prozess konnten und wollten ja die Römer nicht führen. Der Hohe Rat hat also sein Ziel erreicht, Jesus als einen politischen Aufrührer durch die Römer hinrichten zu lassen. Wenn Conzelmann schreibt: „Es steht fest, daß J. durch die Römer (und nicht durch die Juden) hingerichtet wurde“,51 dann spricht er etwas aus, was zu allen Zeiten selbstverständlich war. Hierin sind sich Tacitus,52 Talmud,53 die Evangelien, Paulus54 und die frühe Christenheit einig. Hinter Mt 27,37 steht allerdings eine zweite Wirklichkeit. Denn Jesus ist ja in Wahrheit „der König Israels“, was ins Lateinische übersetzt lautet „König der Juden“ (Joh 18,37). Es gibt keinen Messias, der nicht zugleich „der König Israels“ wäre. Für die jüdischen Menschen war diese Kreuzesinschrift sicherlich eine „öffentliche Verhöhnung“,55 für die Jünger aber ein „von Gott gewirktes Zeugnis“.56 Relativ spät erwähnt Matthäus die zwei Räuber, die mit ihm gekreuzigt werden57 (V. 38). Räuber (λῃσταί [lēstai]) kann ein Doppeltes bedeuten: a) Kriminelle wie die Straßenräuber bei Jericho (Lk 10,30), oder b) Zeloten, 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Kroll 479. Hengel-Schwemer 615.578. Conzelmann 647. Ann XV, 44. Schäfer 129ff. 1Tim 6,13. Hengel-Schwemer 615. Schlatter 411. Das Präsens ist nachholender Stil (Zahn 713: „rückgreifend“). Natürlich erfolgte auch diese Kreuzigung, bevor die Sodaten sich niederließen.

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Jesu Passion, 26,1–27,66

die im Aufstand gegen Rom kämpften. In Mt 27,38 liegt Letzteres näher. Denn Bar Abba, für den das Kreuz in der Mitte ursprünglich errichtet worden war, heißt in Mk 15,7 στασιαστής [stasiastēs] = Aufrührer, nach Lk 23,19-25 wegen Aufruhrs gefangengenommen, und in Joh 18,40 eben auch λῃστής [lēstēs] („Räuber“). Mt 27,16 kennzeichnet ihn ausdrücklich als ἐπίσημος [epismos], was doch eher einen führenden Zeloten als einen bekannten Straßenräuber meint. So kommen wir mit K. H. Rengstorf 58 und anderen59 zu dem Schluss, dass die zwei Räuber von Mt 27,38 als zwei Zeloten zu betrachten sind.60 Ist es so, dann sind die zwei Kreuze neben Jesus, eines zur Rechten und eines zur Linken, also für zwei Zeloten vorbereitet worden. Da solche Vorbereitungen einige Zeit in Anspruch nahmen, muss demnach das dritte Kreuz, das in der Mitte, für Bar Abba vorbereitet gewesen sein. Als zelotischer Anführer (Offizier) sollte er in der Mitte seiner Getreuen (Mk 15,7) hängen. Jetzt aber hing dort Jesus. Damit sind mehrere Dimensionen berührt. Erstens erfüllt sich hier die Prophezeiung über den Gottesknecht in Jes 53,12: „Er wurde unter die Übeltäter gerechnet“ (ἐν τοῖς ἀνόμοις ἐλογίσθη [en tois anomois elogisthē], LXX).61 Zweitens erfüllt sich hier Jes 53,12 noch einmal: „er hat die Sünden vieler getragen“ (αὐτὸς ἁμαρτίας πολλῶν ἀνήνεγκεν [autos hamartias pollōn anēnenken]). Jesus trug ja buchstäblich die Sünde Bar Abbas, indem er im wahrsten Sinne des Wortes dessen Schuld stellvertretend auf sich nahm. Wurde Bar Abba ein Zeuge der Kreuzigung, dann musste er denken: „Dieser hängt an meiner Stelle.“ Drittens bedeutete Jesu Kreuz eine gravierende Warnung für Israel: Wenn es sich den Zeloten anschloss, musste es so enden wie die drei Gekreuzigten. Eine vierte Dimension liegt in den Namen. Hieß Bar Abba wirklich Jesus Bar Abba,62 dann war der Mensch Jesus Bar Abba deshalb frei gekommen, weil „Jesus, der Sohn des Vaters“ als Gottessohn stellvertretend für ihn eintrat. Relativ viel Raum nimmt die Verspottung Jesu durch Vorübergehende, Hohepriester, Schriftgelehrte, Älteste und die Mitgekreuzigten ein (V. 39-44). Matthäus sagt nicht, warum er das so ausführlich macht. Man kann nur vermuten, dass die hier geäußerten Vorwürfe und Verhaltensweisen auch zur Zeit der Niederschrift des Evangeliums (ca. 60 n.Chr.) noch in Israel fortlebten.

58 59 60 61 62

Im Art. λῃστής, ThWNT, IV, 1942, 267. So Hengel-Schwemer 615; Fiedler 414; Carson 576. Dafür spricht auch der ständige Sprachgebrauch des Josephus, Hengel-Schwemer 615. Vgl. France 396. Dafür auch Rengstorf a.a.O.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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Nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 wäre manches davon weniger gut vorstellbar (vor allem V. 40). Die Vorübergehenden (οἱ παραπορευόμενοι [hoi paraporeuomenoi]) kann man sich auf der nahen Straße nach Jaffa, aber auch beim nahen Stadttor und schließlich auch als Schaulustige, ja sogar im Umkreis von Familie und Bekannten (vgl. Joh 19,25ff ) denken. Was Matthäus von ihnen sagt, beschreibt das Verhalten der Mehrheit – nicht jedes Einzelnen! –: sie lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten … (V. 39). Das Kopfschütteln erfüllt erneut die Weissagung von Ps 22,8. Es ist ein Ausdruck von Hohn und Spott und einem verletzenden Sarkasmus (vgl. Ps 109,25; Klgl 2,15).63 Was sagten sie? Noch immer geistert ein Tempelwort oder ein angebliches Tempelwort Jesu durch die Massen. Sie zitieren es in der Form: Der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen wieder aufbaust, rette dich selbst, wenn du Gottes Sohn bist (V. 40). Ähnlich hatten es die angeblichen Zeugen im Prozess zitiert (Mt 26,61). Das echte Jesuswort in Joh 2,19 hatte jedoch gelautet: „Reißt diesen Tempel ab, und ich will ihn in drei Tagen wieder aufrichten.“ Das ist etwas ganz anderes, denn 1) spricht Jesus vom Tempel seines Leibes (Joh 2,20), und 2) sollen sie, die jüdischen Führer, diesen seinen Leib zerstören. Aber die verdrehte Form hielt sich offenbar hartnäckig, wie nicht nur Mt 26,61, sondern auch Apg 6,14 beweist.64 Notieren wir aber noch etwas anderes: Selbst die verdrehte Form eines Jesuswortes zeigt, dass es im ganzen Umkreis der Hinrichtung nicht um seine Wunder ging (die waren unbestritten), auch nicht um irgendeine Revolution gegen damalige Obrigkeiten, sondern um seine Worte, seine Lehre, seine Vollmacht. Und nun die Anfforderung: Rette dich selbst (σῶσον σεαυτόν [sōson seauton])! Wer in drei Tagen einen Tempel aufrichten kann – so die Logik –, der kann auch vom Kreuz herabsteigen. Aber dieses Rette dich selbst! hat noch eine unheimliche Tiefendimension. Rette dich selbst! ist die Leitlinie der gesamten Menschheit nach dem Sündenfall. „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Ja, wenn Jesus Gottes Sohn ist, dann darf das Entkommen vom Kreuz kein Problem sein. Dann muss er das fertigbringen, was sie sagen: Steig herab vom Kreuz! Er hat sein Schicksal selbst in der Hand. Die Logik ist glasklar. Aber es ist bis in die Formulierung hinein eine Logik des Teufels, vgl. die Versuchungsgeschichte in Mt 4,3ff. Und noch einmal wird klar: Es geht bei der Kreuzigung um den Anspruch Jesu, Gottes Sohn zu sein. Darum wird der Kampf aller folgenden 63 Bauer-Aland 879; Joh. Schneider, Art. κινέω usw., ThWNT, III, 1938, 718; Strack-Billerbeck I 1039 unter Hinweis auf Sir 12,18; 13,7. 64 Hatten die, die so redeten, Kenntnis von der Sanhedrin-Verhandlung in Mt 26,61ff? Carson 576 vermutete es jedenfalls, auch France 396.

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Jahrhunderte gehen. Vergessen wir nicht die andere Seite: Für den blutig zerschlagenen, dürstenden Jesus, vielleicht wie andere mit „rasende(n) Kopfschmerzen, hohem(s) Fieber“,65 dem Erstickungstod nahe, war es eine unbeschreibliche Versuchung, der Aufforderung nachzukommen und vom Kreuz herabzusteigen. Er tat es nicht. Er blieb bei seinem Gethsemane-Beschluss: sein Leben zu einer Erlösung für viele zu geben (Mt 20,28). Bei den Spottreden gibt es kaum einen Unterschied zwischen den Volkshaufen und den führenden Köpfen: Ebenso spotteten auch die Hohenpriester mitsamt den Schriftgelehrten und Ältesten (V. 41). Folglich beobachteten Vertreter des Hohen Rates (vgl. Mt 21,23; 26,3.47.57.59; 27,1), und zwar aus allen drei wichtigen Fraktionen – Hohepriester, Schriftgelehrte, Älteste des Volkes – den Vollzug der Kreuzigung. Würde Pilatus zu seinem Wort stehen und Jesus wirklich kreuzigen? So sicher schien das nicht. Matthäus erwähnt wieder einige ihrer Aussagen: andere hat er gerettet (ἔσωσεν [esōsen]), sich selbst kann er nicht retten (οὐ δύναται σῶσαι [ou dynatai sōsai]), V. 42. Das klingt, als wäre die Kreuzigung eine Art Gottesurteil gewesen. Der wahre Messias hätte sich vor den Römern retten könne, hätte sie sogar besiegt. Im damaligen Hohen Rat gab es offensichtlich einen latenten Zelotismus. Wichtiger ist etwas anderes, nämlich die Feststellung Andere hat er gerettet. Diese Feststellung ist verwandt mit dem Urteil R. Jochanans in b Sanh 106a: „Anfangs war er Prophet, nachher wurde er Zauberer.“ Der Talmud bewahrt also auch eine Erinnerung daran, dass Jesus bewundernswerte Seiten hatte. Andere hat er gerettet: Das schließt die Anerkennung seiner Wunder ein. Erst in der Theologie der europäischen Aufklärung wurden die Wunder Jesu in Zweifel gezogen. Doch hat σῴζειν [sōzein] bekanntlich eine doppelte Bedeutung. Es heißt nicht nur äußerlich retten aus Not und Verderben, sondern auch geistlich retten aus dem Gericht Gottes.66 Und das war ja nun Jesu Auftrag von seiner Geburt an: „retten von ihren Sünden“ (Mt 1,21). Die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten bestätigen also nicht nur, dass Jesus ein Helfer gemäß Sach 9,9 war (vgl. Mt 21,5), sondern ungewollt auch, dass er ein Retter von Sünden ist. Wie aber sollte er anderen helfen, andere retten können, wenn er nicht selbst ein Gottesfürchtiger war? Das ist die Frage, die Joh 9,31ff Israel und uns allen mitgibt. Die zweite Aussage in V. 42 ist wie in V. 40 bitterer Spott: Er ist doch der König von Israel! In der jüdisch-messianischen Erwartung wird nicht vom „König der Juden“, sondern vom König von Israel gesprochen. Jesus hat deutlich gemacht, dass er der Messias und 65 Riesner im Artikel Kreuz/Kreuzigung, a.a.O. 841. 66 Bauer-Aland 1591ff.

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Sohn Gottes ist, folglich auch der König von Israel! Würde dies – so die Logik der Anwesenden – stimmen, dann müsste er sich selbst retten können. Deshalb ist die Aufforderung in ihren Augen nur konsequent: Er steige jetzt vom Kreuz herab! Der Gebrauch der 3. Pers. Sing. (er) bedeutet nicht, dass sie nur untereinander solche Reden führten. Es kann sich ebenso gut um Zurufe an den Gekreuzigten handeln.67 Erstaunlich die Hinzufügung dann wollen wir an ihn glauben. Mk 15,32 bestätigt sie. Hier kommt nicht nur das Allzumenschliche zum Ausdruck, dass wir eben als Menschen erst sehen und dann erst glauben wollen (Joh 20,24ff.29; anders Hebr 11,1). Vielmehr wäre das ganze Erlösungswerk Jesu gescheitert, wenn er diesen Stimmen Folge geleistet hätte. Alle Versuchungen Jesu, die des Teufels (Mt 4,1ff ), die des Petrus (Mt 16,22ff ) und die des Hohen Rates (Mt 27,41ff ), gipfeln in dem einen: Er darf den Kreuzesweg nicht gehen, er muss seine eigene Rettung und Größe suchen. Ob sie wirklich an ihn geglaubt hätten? Schwerlich. Sie haben auch dem Auferstandenen nicht geglaubt (Lk 16,31; Mt 28,11ff ). In alledem steht außer Frage, dass Jesus wirklich hätte vom Kreuz herabsteigen können, wenn er es gewollt hätte.68 Er hat auf Gott vertraut: Vermutlich wird hier ein Hauptakzent der Verkündigung Jesu zitiert (vgl. Mt 21,11f ). Zugleich wird ein Anklang an Ps 22,9 und Weisheit Salomos 2,13ff erkennbar. Das wird vollends klar durch die Fortsetzung: Der rette ihn nun, wenn er ihn will. Denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. In Ps 21,9 LXX lesen wir: Ἤλπισεν ἐπὶ κύριον, ῥυσάσθω αὐτόν· σωσάτω αὐτόν, ὅτι θέλει αὐτόν [ēlpisen epi kyrion, rhysasthō auton: sōsatō auton, hoti thelei auton]. Und in Weish 2,13.18 heißt es: παῖδα κυρίου ἑαυτὸν ὀνομάζει … εἰ γάρ ἐστιν ὁ δίκαιος υἱὸς θεοῦ, ἀντιλήμψεται αὐτοῦ καὶ ῥύσεται αὐτὸν ἐκ χειρὸς ἀνθεστηκότων [ paida kyriou heauton onomazei … ei gar estin ho dikaios hyios theou, antilēmpsetai autou kai rhysetai auton ek cheiros anthestēkotōn]. Wir können voraussetzen, dass den schmähenden Hohenpriestern zumindest Ps 22,9 gegenwärtig war. Sie schmähten Jesus mit ihren Worten, weil er für sie gerade kein Gerechter, geschweige denn der Sohn Gottes war. Für Matthäus jedoch erfüllte sich hier die Prophetie von Ps 22,9. Erneut lässt sich erkennen, dass der Anspruch Jesu, Gottes Sohn zu sein, der Dreh- und Angelpunkt des Prozesses war. Neben die Vorübergehenden und neben die Führer Israels treten die zwei Räuber: Genauso schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren (V. 44). Sie hingen also schon mit ihm am Kreuz. Das griech. Wort für „schmähen“, ὀνειδίζειν [oneidizein], enthält beides: „beschimpfen“ und „Vor67 Auch Mk 15,31 schließt dies nicht aus. 68 Auch Carson 577.

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würfe machen“.69 In der Kreuzesqual ist beides verständlich. Als Messias hätte er sie doch – als messianische Kämpfer – vom Kreuz holen müssen! Was den Inhalt ihrer Äußerungen betrifft, so hat Gundry recht:70 Sie sind „identical in context with the Jewish leader’s insults“ (genauso, τὸ δ᾿ αὐτο [to d’auto]71). Matthäus lässt weg, was sich nach Lk 23,39ff später72 ereignete, nämlich die Bekehrung des einen der beiden Räuber und Jesu Verheißung, die oft so genannte „Schächergnade“. Mit V. 45 verlässt Matthäus das Thema der Verspottung Jesu und erwähnt kurz, was in der Schöpfung ringsum geschah: Aber von der sechsten Stunde an breitete sich Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Die sechste Stunde am Tag ist ca. 12 Uhr, die neunte ca. 15 Uhr. Unter dem ganzen Land verstehen Strack-Billerbeck ganz Palästina.73 So weit braucht man aber nicht zu gehen. Es genügt, Mt 27,45 auf das Um-Land von Jerusalem zu beziehen.74 Als ungewöhnliche Erscheinung erwähnt Matthäus eine dreistündige Finsternis (σκότος [skotos]). Eine genauere Erklärung gibt es nicht. Wir sollten deshalb ebenfalls mit unseren Erklärungen vorsichtig bleiben.75 Immerhin lehrten die Rabbanan nach b Sukka 29a: „Die Sonnenfinsternis ist eine böse Vorbedeutung für die ganze Welt.“76 Josephus berichtet sogar von vielen Vorzeichen, die den Untergang Jerusalems und des Tempels ankündigten, darunter ein Gestirn, ein Komet, ein großes Licht in der Nacht und Lufterscheinungen.77 Man sollte das, was reale Erfahrungen der Menschen von damals waren, nicht vorschnell als Legenden oder Ähnliches abtun.78 Uns scheint jedoch, dass wir es nicht nur mit Vorzeichen für Gottes Gericht zu tun haben,79 sondern ebenso mit einer Art Trauer der Schöpfung. Über diese Schöpfung legt sich eine Finsternis, weil sie um den Herrn der Schöpfung, Jesus, den Sohn Gottes, trauert. Siehe auch Am 8,7ff; Jer 15,9.80 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Bauer-Aland 1155. Gundry z.St. Vgl. BDR § 17,3; 288,1. Schlatter 412 nimmt allerdings an, dass nur einer der beiden Räuber solche Schmähungen ausstieß. Wie Schlatter auch Augustinus. Wie wir Hieronymus. I 1041. Auch Tasker 269. Ebenso France 398; Zahn 713,85. Anders Beare 535: kosmisch; auch Luz IV 332: „über die ganze Erde“. Das gilt auch gegenüber Strack-Billerbeck I 1041; France 398. Wie wir Carson 578. Strack-Billerbeck I 1040 verweisen noch auf „Wundersame Geschehnisse beim Tode von Rabbinen“. In Bell VI, 288ff. Gegen Sand 564, der „ein historisches Naturereignis“ verneint. Woher will er das wissen? Bultmann, Gesch, 295: „christliche Legende“. So schon Irenäus AdvHaer IV, 33, 12. Ähnlich Luz I 334.; Schniewind 273.

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Aber um die neunte Stunde – d.h. ca. 15 Uhr – schrie Jesus mit lauter Stimme auf (V. 46): Zum ersten Mal seit dem Pilatus-Bekenntnis (V. 11) kommt Jesus im Matthäusevangelium wieder zu Wort. Das heißt nicht, dass er seither nichts gesprochen hätte. Matthäus konzentriert sich lediglich auf das in V. 46-50 Berichtete. Er kennzeichnet Jesu Äußerung wirlich als einen „Aufschrei“ (ἀνεβόησεν [aneboēsen]). Hier wird seine ganze körperliche Qual spürbar, aber mehr noch die innere, geistliche. Sonst hätte Jesus nicht angefangen, jetzt den 22. Psalm zu beten (auch nach Mk 15,34). Im Hebräischen beginnt dieser Psalm, der auf David zurückgeführt wird, so: ‫ֵאִלי ֵאִלי ָלָמה‬ ‫[ ֲעַזְב ָ ּתִני‬elī elī lāmāh ʿᵃzabtānī] (V. 2). In der LXX lauten die entsprechenden Worte Ὁ θεὸς ὁ θεός μου, πρόσχες μοι· ἵνα τί ἐγκατέλιπές με [Ho theos ho theos mou, prosches moi: hina ti enkatelipes me]. Matthäus hat zuerst ηλι ηλι81 λεμα σαβαχθανι [ēli ēli lema sabachthani], dann übersetzt er: θεέ μου θεέ μου, ἱνατί με ἐγκατέλιπες [thee mou thee mou, hinati me enkatelipes]. Wie man sieht, bleibt seine griechische Fassung ganz nahe an der LXX, und auch die semitische Form entfernt sich nur wenig vom hebräischen Text der Bibel. Manche Forscher nehmen an, Letztere gebe die Form wieder, die „dem damals in Palästina gesprochenen Aramäisch“ entsprach.82 Für uns bleibt es aber eine offene Frage, ob Matthäus nicht doch das biblische Hebräisch wiedergeben wollte, und vor allem auch Jesus in der ihm vertrauten biblischen, hebräischen Sprache gebetet hat.83 Der Sinn ändert sich durch alle diese Erwägungen jedenfalls nicht. Und dieser Sinn liegt in einer ins Tiefste reichenden Erschütterung Jesu darüber, dass ihn der Vater in die Hände der Menschen gegeben und ihm die Strafe für die Sünden aller Menschen auferlegt hat. Denn die Gottverlassenheit ist die Strafe für unsere Sünden. Einig sein mit diesem Plan des Vaters ist das eine. Eine solche Einigkeit wurde in Gethsemane befestigt und wird durch das Kreuz nicht aufgehoben. Denn Jesus litt ja nicht als ein Sünder, sondern „wurde für uns zur Sünde gemacht“ als einer, „der von keiner Sünde wusste“ (2Kor 5,21). Das tatsächliche Erleiden aber ist das andere. Und dieses andere traf jetzt Jesus, ohne dass der Vater einschritt. Doch wer Ps 22 zu beten beginnt, hat den ganzen Psalm im Kopf.84 So sieht Jesus in diesen Augenblicken auch voraus, was der Leidende erleben wird: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern … als er zu ihm schrie, hörte ers [vgl. Hebr 5,7] … Denn des HERRN ist das Reich … Sie werden kommen und seine Gerechtig81 In (B) ‫ א‬33 ἐλωι ἐλωι. 82 So Schlatter 413; BDR § 6. Luz IV 332: „ein korrekt transkribierter aramäischer Text“; auch Hengel-Schwemer 617. 83 Vgl. dazu France 399; Carson 578f; Schniewind 272; Hengel-Schwemer a.a.O. 84 Ähnlich Fiedler 416; Zahn 713f; Beare 535f. Gegen Luz IV 342f; Carson 578f.

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keit predigen“ (Ps 22,23-32). Vom Gottesknecht sagt Jes 53,10-12 weithin dasselbe. Gleichzeitig unter dem Gericht der Gottverlassenheit und dennoch ganz auf seinen Gott geworfen, so stirbt Jesus. Im Sterben ist er völlig frei von der Kritik an den Menschen, von Vorwürfen und Anklagen, von Drohen und Vergeltungsgedanken, und nur auf den Vater im Himmel ausgerichtet, der ihn nach Ps 22 und Jes 53 vom Tode erlösen und auferwecken wird.85 Der 1. Petrusbrief macht sein Leben und Sterben für uns zum Vorbild (2,21ff ). Wieder fällt auf, dass Matthäus auf weitere Einzelheiten aus dem letzten Todeskampf Jesu verzichtet und stattdessen drei Verse lang von den Umstehenden berichtet. Zunächst, dass einige von den dort Stehenden sagten: Der ruft den Elia (V. 47). ‫[ ֵאִלי‬ʾelī] (= „mein Gott“) und ‫[ ֵאִלָי ּה‬ʾelījāh] oder ‫ֵאִלָי ּהוּ‬ [ʾelījāhū] (= Elia) konnten bei einem Sterbenden leicht verwechselt werden.86 Elia spielte für das Judentum der Zeitenwende eine große Rolle, wie schon aus dem langen Abschnitt Sir 48,1-13 hervorgeht. Siehe auch Joh 1,21; Mt 11,14; 16,14; 17,1ff.10; Mk 6,15. Strack-Billerbeck weisen auf den „Volksglauben“ hin, dass Elia den Frommen Errettung bringt.87 Wer sind die dort Stehenden? Der Gedanke an Elia führt zu dem Schluss, dass es sich um Juden handelt.88 Sie müssen sich so nahe wie möglich an die Kreuze herangedrängt haben, so weit es die römischen Soldaten und ihre Hilfskräfte eben erlaubten. Interessanterweise zog Joachim Jeremias aus Mt 27,47 den Schluss, dass „die Mt-Überlieferung“ von V. 46 „ursprünglich ist gegenüber Mk“.89 Viele Ausleger verstehen V. 47 als „höhnisch“.90 Das ist aber zweifelhaft. Es kann auch neugierig gemeint sein. Und sofort lief einer von ihnen los und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf einen Rohrstock und gab ihm zu trinken (V. 48). Schwamm, Essig und Rohrstock sind als Utensilien spätestens seit Mt 27,34 an der Kreuzigungsstätte präsent. Offenbar duldeten die Soldaten eine solche Handlung. Wir mussten ja schon oben anmerken, dass das Exekutionskommando verhältnismäßig konziliant verfuhr. Lag das auch am Hauptmann als Kommandeur? Der Essig (ὄξος [oxos]) ist saurer Wein, das „Getränk

85 Ähnlich Stuhlmacher I 154. 86 Manche Ausleger denken, Matthäus habe das hebr. „Eli“ in V. 46 deshalb gesetzt, um die Verwechslung leicht zu machen. 87 I 1042; vgl. Luz IV 344; Hengel-Schwemer 617f; Fiedler 417; Carson 579; J. Jeremias, Art. Ἡλ(ε)ίας, ThWNT, II, 1935, 932f.937. 88 Auch Luz a.a.O.; Zahn 714. 89 Jeremias a.a.O. 937,62. 90 So Jeremias a.a.O., Schlatter 414; Luz a.a.O.; Fiedler 417; Zahn 714; Schniewind 272; Strack-Billerbeck a.a.O.

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der armen Leute und Soldaten“.91 Dieser Weinessig „war zum nachhaltigen Stillen starken Durstes geeigneter als Wasser“.92 Hans Wolfgang Heidland nennt ihn das „Volksgetränk der heißen Länder“, und eine „bewußte Wohltat“.93 Derjenige, der hier loslief und Jesus das ὄξος [oxos] (‫[ ֹחֶמץ‬chomäz]) zu trinken gab, wollte ihm evtl. in den fürchterlichen Qualen des letzten Todeskampfes helfen.94 Vielleicht wollte er aber auch nur Jesu Leben verlängern aus Neugierde, ob Elia wirklich käme.95 Siehe auch Joh 19,28-30. Es kann also keine Rede davon sein, dass Mt 27,48 eine „Quälerei“ darstelle, einen „bösartigen Spott“.96 Hengel-Schwemer schreiben, man hätte Jesus „zu tränken versucht“.97 Aber ἐπότιζεν [epotizen] heißt hier: „er tränkte ihn“ wirklich.98 Jesus hat also den Weinessig in seinem letzten Todesringen angenommen. Dasselbe ergibt sich aus Joh 19,28ff. Diese Annahme ist kein Widerspruch zur Ablehnung in V. 34. Denn dort ging es um eine Betäubung, die Jesus zurückwies. Aber den barmherzigen letzten Trank von V. 48 / Joh 19,28ff wünschte er sich und nahm ihn an. Damit erfüllt sich auch die Prophetie von Ps 69,22, die in der griech. Bibel so lautet: εἰς τὴν δίψαν99 μου ἐπότισάν με ὄξος [eis tēn dipsan mou epotisan me oxos] (Ps 68,22 LXX). Die anderen aber wollten die Tat der Barmherzigkeit unterbinden: Lass es! Wir wollen sehen,100 ob Elia kommt und ihn rettet (V. 49). Wir können heute nicht mehr sicher sein, wie viel Spott, wie viel gläubig-abergläubische Elia-Erwartung in jenen Menschen vorhanden war, die sich hier äußerten. Die Exegese ist ja immer wieder in der Versuchung, eine Vermutungswissenschaft zu werden. Doch erhellt sich durch Mt 27,47-49 immerhin ein äußeres Detail: Jesus hing an einem Hochkreuz, denn man brauchte einen Rohrstock, um ihn zu tränken.101 Vers 50 beschreibt nun kurz das Sterben Jesu im engeren Sinn: Jesus aber schrie (κράξας [kraxas]) noch einmal mit lauter Stimme und gab den Geist auf. Was Jesus schrie, bleibt bei Matthäus ungesagt. Wie in V. 46 (dort: ἀνε91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

Hengel-Schwemer 618. Bauer-Aland 1164. Im Art. ὄξος, ThWNT, V, 1954, 288. Heidland a.a.O.; France 399; Zahn 714 gegen Fiedler 417. Vgl. Maier II 457. Gegen Luz IV 344f. A.a.O. Duratives Imperfekt. Vgl. das διψῶ von Joh 19,28. Vgl. BDR § 364. Anders Fiedler 417.

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βόησεν … φωνῇ μεγάλῃ [aneboēsen … phōnē megalē]) waren es wohl Worte.102 Wenn Lk 23,46 und Joh 19,39 solche letzten Worte Jesu berichten, stimmt das mit Mt 27,50 durchaus zusammen. Er gab den Geist auf (ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα [aphēken to pneuma]) steht in einem engen Zusammenhang mit Gen 2,7, wo der Mensch durch Gottes „Anhauch“/„Einblasen“ (MT: ‫ַוִי ּ ַּפח‬ [wajjippach]; LXX: ἐνεφύσησεν … πνοὴν ζωῆς [enephysēsen … pnoēn zōēs]) das Leben empfängt. Dieses von Gott eingehauchte, „kreatürliche“ Leben gibt Jesus jetzt zurück an den Vater im Himmel.103 Das markinische und lukanische ἐξέπνευσεν [exepneusen] sagt dasselbe, auch das johanneische παρέδωκεν τὸ πνεῦμα [ paredōken to pneuma] drückt grundsätzlich denselben Vorgang aus. Jedoch betont παρέδωκεν [ paredōken] stärker die bewusste Übergabe des Lebens an den Vater.104 In diesem Sterben steht nicht der Abschied im Mittelpunkt, sondern der Hingang zum Vater mit all den Hoffnungen, die damit verbunden sind. Siehe auch die Auferstehungsweissagungen und 2Makk 7,6.23.36ff; Joh 20,17 sowie Ps 146,4. Mit Recht wird aus V. 50 geschlossen, dass Jesus bei vollem Bewusstsein starb.105 Es lohnt, hier noch einmal auf Schlatter zu hören: „Er starb … seiner selbst mächtig bis zum letzten Augenblick und nicht umnachtet von Bewußtlosigkeit; er hat das Sterben mit gesammelter Geistesgegenwart erfahren.“106 Matthäus fährt fort, Zeichen in der Umgebung des Kreuzes Jesu zu beschreiben (V. 51-53). Wenn er auf diese Weise das Kreuz in die Mitte schöpfungmäßiger Vorgänge stellt, will er vermutlich die kosmische Bedeutung der Erlösungstat Jesu zum Ausdruck bringen. Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten in zwei Teile (V. 51): Gemeint ist der Vorhang vor dem Allerheiligsten.107 Das Allerheiligste stand jetzt den Blicken offen. Was bedeutet das? Hengel-Schwemer zufolge hat damit der Tempel „seine Funktion als Sühnestätte für Israel verloren“.108 Sie stehen hier in einer Linie mit einem Hauptstrom pietistischer Auslegung. So schreibt Philipp Matthäus Hahn: „Das deutet an, daß der alte 102 Anders Luz IV 346: „wortloser Gebetsschrei“. Ähnlich wie wir France 399f; Fiedler 417; Zahn 715; Schniewind 272f; Sand 565. 103 Vgl. Bauer-Aland 252.1356; E. Schweizer im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, 394: „Rein anthropologisch“. 104 Vgl. meinen Joh-Kommentar II 318 sowie Bauer-Aland 1242. Schade, dass die Lutherbibel nur sagt: „er verschied“. Vgl. France 399f; Sand 565. 105 Carson 580; Zahn a.a.O.; Schniewind 273. 106 Schlatter 414. Vgl. zum Tod Jesu an einem Freitag noch Strack-Billerbeck I 1042f und b Ket 103b. 107 Strack-Billerbeck I 1043f; Ex 26,31ff; France 400; Schlatter 415; Carson 580f; Tasker 269; Beare 536. Anders Zahn 715. Luz IV 362f unentschieden. 108 Hengel-Schwemer 618.

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verdeckte Gottesdienst durch das letzte vollkommene Opfer Jesu aufgehoben sei.“109 In der jüdischen Überlieferung und Geschichtsschreibung ist das Zerreißen des Tempelvorhangs ein böses Zeichen. Unter den Vorzeichen, die Israels Verwüstung in den Jahren 66–73 n.Chr. ankündigten, nennt Josephus auch ungewöhnliche Vorgänge am Tempel während eines Passafestes und die selbsttätige Öffnung des Osttors des inneren Tempelbezirks. Außerdem erinnerten sich die Rabbinen daran, dass „vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels“, also im Todesjahr Jesu, das Los für Gott nicht „in die Rechte“ geriet, „der rotglänzende Wollstreifen“ zwischen den Hörnern des Sündenbocks (Lev 16) „nicht weiss wurde“, „die westliche Lampe nicht brannte“ und „sich die Tempeltüren von selbst öffneten“.110 Wieder sollte man solche Berichte nicht einfach in den Bereich der Fabel und Legende verweisen. Es muss damals Ungewöhnliches geschehen sein.111 Matthäus sagt jedoch nicht, was das Zerreißen des Tempelvorhangs veranlasst hat. Vermutlich haben wir es auch an dieser Stelle mit mehreren Dimensionen zu tun: 1) stirbt hier einer, dessen Bedeutung unsere gewöhnlichen Maßstäbe sprengt; 2) kündigt sich das Gericht über Israel an; 3) wird die künftige Gottesverehrung weder am Tempel noch auf dem Garizim geschehen, sondern im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,21ff ); 4) befallen Trauer und Entsetzen über den Tod Jesu die gesamte Schöpfung (vgl. V. 45); 5) kündigt sich schließlich das Ende des bisherigen Tempelgottesdienstes und der bisherigen Priesterschaft an. Ähnliches gilt für die zweite Hälfte von V. 51: und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen. Die ganze Völkerwelt kennt Erdbeben als Warnungsund Gerichtszeichen.112 Erst recht gilt das für die Bibel (Hes 38,19ff; Joel 2,10; 4,16; Am 8,8; Nah 1,5; Hab 3,6; Mt 24,7; Offb 6,12ff ). Wenn die Felsen zerrissen muss die Gewalt jenes Erdbeben groß gewesen sein. Allerdings hat in der biblischen Perspektive das Erdbeben noch eine andere Bedeutung. Es zeigt nämlich die Gegenwart Gottes an (Ex 19,18). Von da aus enthält V. 51 eine doppelte Botschaft: 1) eine Warnung an Israel, nicht mit dem Unglauben gegenüber dem Sohn Gottes fortzufahren, 2) eine Bestätigung, dass Jesus göttliche Würde und Vollmacht besitzt. Hinzu kommt ein weiteres Zeichen: und die Gräber wurden geöffnet (V. 52). Das Faktum ist nicht überraschend. Ein heftiges Erdbeben kann vor allem Fels-Gräber öffnen (vgl. V. 51). Das griech. μνημεῖον [mnēmeion] be-

109 110 111 112

Brüdersegen 432. B Joma 39b; vgl. b Gittin 56b. Vgl. noch Am 9,1. Klostermann 225 erwähnt Erdbeben beim Tode Cäsars (Vergilius georg. I, 475).

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zeichnet gerne Grabkammern, auch Höhlengräber.113 Wenn Matthäus – die Verse 51b-53 sind Sondergut – die Öffnung der Gräber erwähnt, dann sieht er darin sicherlich einen „Schatten“ der künftigen Auferstehung.114 Mehr noch: Das Sterben Jesu hat Bedeutung sogar für die Totenwelt und betrifft somit die gesamte Schöpfung. Gerade das betont nun die Fortsetzung: und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt. Da der Geist des Menschen beim Sterben an Gott zurückgegeben wird (Ps 31,6; 90,3; Mt 27,51; Lk 23,40), kann es sich hier nur um die Leiber (σώματα [sōmata]) handeln. Diese aber wurden von Gott wieder lebendig gemacht, auferweckt. Ein solcher Vorgang erinnert direkt an Hes 37,1ff.12f, im weiteren Sinn auch an Ps 16,10; Jes 26,19; Dan 12,2. Jedoch fällt zweierlei auf. Da ist zunächst der Sprachgebrauch des Matthäus, der die Toten Entschlafene (κεκοιμημένοι [kekoimēmenoi]) nennt. Er kommt vor allem mit Paulus überein (vgl. Apg 7,60; 1Kor 15,6.18.20.51; 1Thess 4,13f; 2Petr 3,4). Damit wird angezeigt, dass Existenz und Bewusstsein mit dem Tode nicht erlöschen, sondern auf anderer Ebene weitergehen. Zum Zweiten fällt auf, dass Matthäus nicht von „Leibern der Toten“, sondern von Leibern der Heiligen spricht. Offensichtlich will Matthäus verhindern, dass man eine Erscheinung aller Toten (V. 53) annimmt. Er beschränkt sich deshalb streng auf die Heiligen. Zahn deutet so: Matthäus wolle „nicht eine allgemeine Auferstehung der Frommen (Lc 14,14), sondern mancher, durch eine Sonderstellung als Propheten u. dgl. ausgezeichneter Personen berichten“.115 Wir neigen dieser Zahnschen Deutung zu. In V. 53 fährt Matthäus fort: Und sie kamen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Nach Carson ist dieser Bericht „extraordinarly difficult“.116 Für ihn bleiben hier viele Fragen: Was für einen Körper hatten diese Heiligen? Starben sie noch einmal? Wie viele sahen sie? Wie weit waren diese Erscheinungen öffentlich? Was taten sie zwischen Jesu Tod und Auferweckung? Sind diese Aussagen nur symbolisch zu nehmen? Wohin gingen die Heiligen nach den Ereignissen von Mt 27,51-53?117 Man kann diese Fragen nicht als bedeutungslos wegwischen. Andererseits mussten wir im Verlauf der Exegese schon manche offene Frage aushalten, und es gibt zu denken, wenn ein so kühl gestimmter Ausleger wie

113 114 115 116 117

Bauer-Aland 1061f; O. Michel, Art. μιμνῄσκομαι usw., ThWNT, IV, 1942, 684f. So Michel a.a.O. 685. Zahn 716,91. Vgl. Maier II 461f; Carson 582. Carson 581. Carson 581f.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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Klostermann mahnt, man solle bei den Toten nicht „tifteln“.118 Was lässt sich also feststellen? Der Satzteil ἐξελθόντες ἐκ τῶν μνημείων [exelthontes ek tōn mnēmeiōn] setzt unleugbar ein individuell-körperbezogenes Verlassen der jeweiligen Grabkammer voraus. Schlatter dachte sich die Existenz der auferweckten Heiligen „ähnlich wie das …, was auf Jesu eigene Auferstehung folgte“.119 Aber nun gibt Matthäus eine zeitliche Einordnung: nach seiner (d.h. Christi) Auferstehung.120 Alle drei in V. 53 genannten Vorgänge, das herauskommen, das gehen in die heilige Stadt und das erscheinen, ereignen sich also erst nach der Auferstehung Jesu. Jesus bleibt der erste, der im neuen Äon aufersteht, der „Erstling unter denen, die entschlafen sind“ (1Kor 15,20). Die Frage, was mit den Heiligen zwischen der Öffnung der Gräber in V. 52 und dem Herauskommen in V. 53 war, können wir nicht beantworten. Vielleicht ist sie falsch gestellt. Die heilige Stadt ist wie in Jes 52,1; Mt 4,5; Offb 11,2 Jerusalem. Sie gingen in (εἰσῆλθον [eisēlthon]) bedingt wieder so etwas wie eine körperhafte Existenz. Ohne Körperlichkeit ist ja eine Auferstehung für jüdische Menschen nicht vorstellbar. Die Wendung sie erschienen vielen klingt zurückhaltend. „Viele“ sind hier sicherlich etwas anderes als „alle“, und es genügt für den Ausdruck, wenn eben eine gewisse Anzahl von Menschen ein solches Erlebnis hatte. Das Passiv ἐμφανίζεσθαι [emphanizesthai] „sichtbar werden“, „offenbart werden“, „erscheinen“, kann sowohl einen rein inneren Vorgang als auch ein äußerliches Sichtbarwerden meinen.121 Angesichts des Kontextes – „herauskommen“, „hineingehen“, „auferweckt werden“ – neigen wir eher dem äußerlich Sichtbarwerden zu.122 Mehr wird man zur äußeren Beschreibung dieses merkwürdigen, nur bei Matthäus berichteten Vorgangs nicht sagen können. Dagegen zeichnet sich die inhaltliche Bedeutung, die er im Evangelium hat, sehr gut erkennbar ab: Hier starb kein gewöhnlicher Mensch, sondern einer, der im Heilsplan Gottes eine welt- und schöpfungsgeschichtliche Einmaligkeit besitzt. Hier ist der Anfang des neuen Äons in Gestalt der Auferstehung. Hier tritt der Neue Bund mit all seinen Segnungen in Kraft. Fügen wir hinzu, dass hier „Gottes Treue“ seiner geliebten, heiligen Stadt „in wunderbarer Weise neue Zeugen des Christus sen-

118 Klostermann 225. 119 Schlatter 415. 120 Luz IV 366 klammert diese vier Worte aus, weil er „sie nicht befriedigend deuten kann“. Dagegen Fiedler 319. 121 Bauer-Aland 519f. 122 Auch R. Bultmann / D. Lührmann im Art. φαίνω usw., ThWNT, IX, 1973, 7: „sichtbare Erscheinung“; Schlatter 415: „nicht nur ein figürliches Zeichen“.

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det“.123 Jedoch geht es über unsere Grenzen hinaus, wenn man „schon die Verkündigung von der Hadesfahrt Jesu“ für Mt 27,52f voraussetzen will.124 Unbeantwortet bleibt auch die Frage, wohin die auferstandenen Heiligen dann letztlich gingen.125 Matthäus fügt jetzt seinem Kreuzigungsbericht noch zwei Notizen an. Die erste betrifft das Echo, das Jesu Sterben beim Exekutionskommando fand: Aber der Hauptmann und diejenigen, die mit ihm Jesus bewachten, erschraken heftig, als sie das Erdbeben und die Geschehnisse wahrnahmen, und sie sagten: Der war wahrhaftig Gottes Sohn (V. 54). Offenbar war dies die erste Frucht des Kreuzes. Mk 15,39 und Lk 23,47 bestätigen Mt 27,54, Lukas mit einigen Modifikationen. Johannes will vermutlich wieder ergänzen und schreibt stattdessen ein Zeugnis des Lieblingsjüngers nieder (19,35ff ). Es fällt auf, dass Matthäus zuerst und betont vom Hauptmann spricht. Er sagt einfach ἑκατόνταρχος [hekatontarchos] und setzt voraus, dass wir wissen, dass es sich um den Leiter des Exekutionskommandos handelt. Markus hat ὁ κεντυρίων [ho kentyriōn] und damit das lat. centurio.126 Ein solcher centurio führte im römischen Heer gewöhnlich eine Hundertschaft. Sechs Hundertschaften bildeten eine Kohorte, zehn Kohorten eine Legion.127 Meist waren es erfahrene, in manchen Kämpfen bewährte Berufsoffiziere, die im Stand eines Hauptmanns anzutreffen waren. Im NT gibt es eine bemerkenswerte Reihe positiv geschilderter Offiziere: vom Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5ff ) über den Hauptmann beim Kreuz zu Cornelius (Apg 10,1ff ) und den Hauptmann Julius (Apg 27,1ff ) bis zu den Chiliarchen der Apostelgeschichte (Kap. 21ff ). Wollte man den Deutungsschlüssel vieler Kommentare anlegen, die fast alles auf die Gemeinde des Matthäus zurückführen, dann müsste man annehmen, dass zu dieser Gemeinde viele Offiziere gehörten. Zurück zu Matthäus: Er nennt keinen Namen, lässt aber seine Achtung vor diesem Hauptmann erkennen. Die spätere christliche Überlieferung nennt ihn Longinus und lässt ihn am Kreuz zum Glauben gekommen sein. Diejenigen, die mit ihm Jesus bewachten, sind die ihm untergebenen Soldaten des Exekutionskommandos (vgl. V. 36). Matthäus sagt, sie alle seien heftig erschrocken, als sie das Erdbeben und die Geschehnisse (τὰ γενόμενα [ta genomena]) wahrnahmen. Geschehnisse schließt hier alles ein, was sie vom Sterben Jesu er123 Schlatter 415. 124 Dies erwägt Schniewind 273. Ganz anders deutet Luz IV 366: Mt 27,53 sei „ein Zeichen des kommenden Gerichts“. Vgl. a.a.O. 370. 125 Carson 583. 126 BDR § 5,3. 127 Vgl. den Artikel „Hauptmann“ in GBL 2, 529.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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kennen konnten (ἰδόντες [idontes]).128 Mk 15,39 erwähnt speziell die Art seines Sterbens (ὅτι οὕτως ἐξέπνευσεν [hoti houtōs exepneusen]), Lukas ähnlich wie Matthäus τὸ γενόμενον [to genomenon] in einem allgemeinen Sinne (23,47). Nach Matthäus spricht nicht nur der Hauptmann, sondern das ganze Exekutionskommando das Urteil aus. Der war wahrhaftig Gottes Sohn. Gottes Sohn (θεοῦ υἱός [theou hyios]) findet sich auch in Mk 15,39. Lukas hat dafür „ein Gerechter (δίκαιος [dikaios])“, vermutlich im Sinne von „ohne Schuld“. Beide Aussagen sind gut denkbar und dürften historisch sein. Erwägen könnte man, ob υἱὸς θεοῦ [hyios theou] ohne Artikel „ein Sohn Gottes“ im Sinne der vielen Göttersöhne der Antike bedeuten soll. Aber eine solche Bedeutung ist im Kontext des Matthäus – und auch des Markus – unmöglich. Siehe auch Mt 4,3ff; 14,33; 16,16; 23,63; 27,40.43. Wir müssen davon ausgehen, dass das römische Kreuzigungskommando die jüdische Anklage, Jesus wolle der Sohn Gottes sein, aus dem Prozess (vgl. Joh 19,7) und aus den Zurufen am Kreuz (Mt 27,40.43), evtl. sogar schon früher, kannte. Sie bekannten sich also zur Einzigartigkeit Jesu. Das wird unterstrichen durch ἀληθῶς [alēthōs], „wahrhaftig“ (dreimalig: Mt 27,54; Mk 15,39; Lk 23,47: ὄντως [ontōs]). Sein Sinn ist ein doppelter: 1) Sie stimmen Jesu Anspruch, „der Sohn Gottes“ zu sein, zu; 2) sie sehen Gott in ihm präsent. Uns befremdet das war (ἦν [ēn]) in ihrer Aussage. Aber als Heiden ist ihnen die Überzeugung von der Auferstehung noch fremd, deshalb beschränken sie sich auf das bisherige Leben Jesu (er war Gottes Sohn). Eine zweite, letzte Notiz des Matthäus bei seinem Kreuzigungsbericht betrifft die anwesenden Frauen aus Galiläa (V. 55-56): Es waren aber viele Frauen dort, die von ferne zuschauten. Sie waren Jesus von Galiläa aus nachgefolgt und hatten ihm gedient129 (V. 55). Viele Frauen: Von vielen spricht auch Mk 15,41, Lk 23,49 (πάντες οἱ γνωστοί … καὶ γυναῖκες [ pantes hoi gnōstoi … kai gynaikes]) lässt dasselbe ahnen. Viele sind mehr als die drei in V. 56 erwähnten, aber weniger als eine unzählbare Menge. Dort ist am Ort der Kreuzigung, aber doch in einiger Entfernung (von ferne, auch Mk 15,40; Lk 23,49) vom Kreuz Jesu. Diese Frauen sind keine x-beliebigen Pilgerinnen, sondern solche, die mit Jesus in einer glaubensmäßigen Verbindung standen: a) Galiläerinnen, b) Nachfolgerinnen des Messias Jesus, c) Dienerinnen (διακονοῦσαι αὐτῷ [diakonousai autō]). Man wird das dienen im Sinne von Mt 8,15; Lk 8,1-3 aufschlüsseln müssen: Tischdienst, wenn Jesus und seine Jün128 Die Einschränkung bei Luz IV 368 auf „das, was nach dem Tod Jesu geschehen ist“, lässt sich nicht begründen. 129 Letzteres nach BDR § 418,5 ein Finalsatz.

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ger eingeladen waren (Lk 10,38ff; Joh 12,2), deren Versorgung mit Lebensmitteln und anderem (Lk 8,3), Hören auf die Verkündigung Jesu und Teilnahme an den messianischen Versammlungen (Lk 10,38ff ).130 Matthäus gewährt uns hier für einen Augenblick einen interessanten Einblick in die damalige Jüngerschaft. Sie umfasste auch zahlreiche Frauen, und dies nicht etwa nur am Rande, sondern mit tätigen, unterstützenden, tapferen Nachfolgerinnen. Allerdings spricht Matthäus seltener davon als Lukas. Hier aber, in Mt 27,55f, erfüllen die anwesenden Frauen eine wichtige Aufgabe: Sie sind Zeuginnen der Kreuzigung. Dabei wird ihr Zeugnis ebenso hoch gewertet wie das der Männer – im Unterschied zu Judentum und Islam. Wir erinnern uns wieder an die Skepsis in der historisch-kritischen Exegese, die auf breiter Ebene lediglich mit legendarischen Erzählungen rechnet, die historisch höchst unsicher bezeugt seien. Die Evangelisten weisen jedoch wie die apostolischen Briefe ständig auf Zeugen und Zeuginnen hin, die die berichteten Ereignisse bestätigen können. So auch hier die Frauen.131 Schlatter würdigt sie mit dem Satz, „daß die Treue der Frauen stärker war als die der Apostel“,132 sucht aber auch den Aposteln gerecht zu werden „mit ihrem Schmerz, ihrer Furcht und dem Schwanken und Zweifeln ihrer erschütterten Seele“.133 Man wird beides im Auge behalten müssen. Einige – also relativ wenige – erwähnt Matthäus in V. 56 namentlich. Das fällt deshalb auf, weil er sonst mit Namensnennungen außerordentlich sparsam ist (vgl. V. 54; V. 19; 26,6ff.51). Aber auch in Mk 15,40; Joh 19,25ff werden die Namen solcher Frauen genannt. Vermutlich sind solche Namensnennungen seit den frühesten Passionsberichten üblich gewesen, da man sich auf Zeugen stützte, sodass Matthäus dieser Übung folgte. Die drei Namen von Mt 27,56134 – vgl. das alttestamentliche Zeugenrecht in Deut 19,15! – sind: Zunächst Maria aus Magdala (Μαρία ἡ Μαγδαληνή [Maria hē Magdalēnē]). Die laufenden Ausgrabungen einer mexikanischen Universität haben Erstaunliches aus diesem alten Magdala zutage gefördert, u.a. eine Synagoge und große Wohnquartiere bis zum Hafen. Über Magdala besitzen wir eine ganze Reihe von Nachrichten aus Josephus, dem Talmud und römischen Schriftstellern.135 Der Name Magdala leitet sich ab von hebr.

130 131 132 133 134 135

Vgl. H. W. Beyer, Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, 83ff. Mit Recht betont von Hengel-Schwemer 336.616. Schlatter 416. A.a.O. Vgl. France 402. Nicht vier! Vgl. Zahn, Forsch, VI 339. R. Riesner, Art. Magdala, GBL 2, 909f.

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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migdal, „Turm“, oder vollständiger migdal nunaja, „Fischturm“.136 Griechisch hieß es Taricheai („Fischpökeleien“). Diese Namen verraten, dass Magdalas Reichtum auf dem Fischfang im See Genezareth basierte. Es lag ca. 5 km nordwestlich von Tiberias an einer Stelle, wo der Berg Arbel dicht an den See herantritt. Zu Jesu Zeiten war es nach Tiberias die wichtigste Stadt am See, und von da her häufig umkämpft (1Makk 9,2; Josephus Ant XIV, 120; im Jüdisch-Römischen Krieg Josephus Bell III, 445.462ff; Vita 188.403f ). Ob es wirklich 40 000 Einwohner hatte, wie Josephus Bell II, 608 schreibt, ist umstritten.137 Aus dieser Stadt also stammte die erste Maria von Mt 27,56, in manchen Handschriften näher am Hebr. Μαριάμ [Mariam] genannt. Ihr Name Maria, hebr. Miriam, im AT und Judentum seit Moses Schwester (Ex 2) ein äußerst beliebter Frauenname, deutet auf die Herkunft aus einer jüdischen Familie. Jesus hatte aus ihr sieben Dämonen ausgetrieben und sie geheilt (Lk 8,2f ). Von da an war sie eine treue Jüngerin gewesen (Mt 27,56; Mk 15,40f; Lk 8,2f ). Sie wurde die erste Zeugin der Auferstehung (Mk 16,9; Joh 20,1ff ). Die kurzen Notizen im NT reichten aus, um eine üppige Legendenbildung hervorzurufen.138 Im sexualisierten nordatlantischen Raum wird sie gerne als Geliebte Jesu gehandelt – ein Schicksal, das sie nicht verdient. In der Zeit der Byzantiner soll ihr eine Kirche errichtet worden sein. Was sich aus Mt 27,56 nun ernsthaft ablesen lässt, ist dies: Ihre Nennung an erster Stelle bezeugt ihre hohe Bedeutung für die Urgemeinde.139 Der zweite Name in Mt 27,56 lautet: Maria, die Mutter des Jakobus und Josef. Dass auch die zweite Frau Maria heißt, darf angesichts der Häufigkeit des Namens nicht verwundern. Um sie von anderen gleichen Namen zu unterscheiden, fügt Matthäus hinzu die Mutter des Jakobus und Josef. Allein auch diese Namen waren häufig. Deshalb ergänzt Markus bei Jakobus „des Kleinen“ (τοῦ μικροῦ [tou mikrou], 15,40). Wahrscheinlich sind ja die Mutter des Jakobus und Josef und „die Mutter des Jakobus des Kleinen und des Joses“ identisch. Das nehmen jedenfalls sehr viele alte Handschriften an, in denen Jose statt Josef zu lesen steht. Man wird jedoch für Mt 27,56 die Lesart Josef als die ursprüngliche betrachten müssen.140 In Mt 13,55 stehen ebenfalls 136 Vgl. b Pes 46a. 137 Riesner a.a.O. 909. Strack-Billerbeck I 1046f erwähnen jüdische Gelehrte, die in späterer Zeit aus Magdala stammten, z.B. R. Jizchak (ca. 300 n.Chr.), R. Judan (ca. 310 n.Chr.). 138 Einen Eindruck davon vermittelt „Das große Buch der Heiligen“, Cormoran, Münden 1996, 448ff: „Die unendliche Vielfalt ihrer Darstellungen kann … nur angedeutet werden“ (449). 139 Vgl. auch Apg 1,14. 140 Vgl. Zahn, Forsch, VI 340ff.

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Jakobus und Josef zusammen, und zwar als Brüder Jesu. Aber die zweite Maria von Mt 27,56 ist sicher nicht die Mutter Jesu, die Matthäus ganz anders gekennzeichnet hätte (vgl. Mt 1,16.18ff; 12,46ff; 13,55).141 So bleiben wir unsicher, wer mit der Mutter des Jakobus und Josef gemeint ist, während die frühe Gemeinde damit keine Schwierigkeiten gehabt haben dürfte. Möglich bleibt der Lösungsvorschlag von Theodor Zahn: dass nämlich die in Mk 15,40 / Mt 27,56 erwähnte zweite Maria mit der Maria von Röm 16,6 identisch ist.142 An dritter Stelle erscheint bei Matthäus kein Eigenname, sondern die Bezeichnung die Mutter der Söhne des Zebedäus Es handelt sich also um die Frau des Zebedäus, die Mutter von Jakobus und Johannes, und die Identifikation macht kein Problem (vgl. Mt 4,21; 10,2; 20,20ff; Mk 3,17).143 Markus nennt sie Salome (15,40; 16,1), ohne Zweifel mit Recht.144 Möglicherweise war sie doch die Schwester der Mutter Jesu (Joh 19,25).145 Was hier auf jeden Fall festzuhalten ist, ist die Glaubenskraft und die überragende Treue, die in dieser Salome lebten. Sie hat Jesus auf seinem ganzen Weg bis zum Kreuz und zum Grabe begleitet wie kaum ein anderer Mensch. Zum Schluss erinnern wir uns, dass Matthäus die drei Frauen von V. 56 nur als Beispiele nannte. Er schreibt ja: Unter ihnen (ἐν αἷς [en hais]) war usw. Man darf also nicht vergessen, dass viele Frauen = viele Jüngerinnen Jesu der Kreuzigung zuschauten (V. 55). Die Bemerkung, dass es so viele waren, hält uns davon ab, Matthäus, Markus und Joh 19,25ff als eine Art Synopse zu behandeln.

IV Zusammenfassung Wir versuchen, einige Ergebnisse aus diesem umfassenden Kreuzigungsbericht festzuhalten: 1. Jesus starb an einem Freitag, nachmittags ca. 15 Uhr.146 Es war die Stunde, in der man die Passalämmer schlachtete. Jesus ist daher das wahre Passalamm der Geschichte (Joh 19,36f; 1Kor 5,7; 1Petr 1,19). Es war die Stunde, in der man täglich das Tamidopfer nach Num 28,8 darbrachte, um 141 Ebenso Luz IV 374; France 402. 142 Zahn, Forsch, VI 348ff. 143 Andere Lösungsvorschläge: Maria war die Mutter von Jakobus Alphäi (Mk 3,18), so W. Haubeck im Art. Jakobus, GBL 2, 646; Carson 583: Die zweite Maria in Mt 27,56 ist Jesu Mutter. 144 Zahn a.a.O. 340. 145 Zahn a.a.O. 340ff. 146 Vgl. Jeremias, Abendmahlsworte, 9ff; Theißen-Merz 152ff. Auch nach Mk 15,42 ist es der Rüsttag vor dem Sabbat (παρασκευή, προσάββατον).

3. Die Kreuzigung, 27,31-56

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die Gemeinschaft mit dem HERRN herzustellen. Jesus ist auch das wahre Tamidopfer, das uns in die Gemeinschaft mit Gott bringt. Um 15 Uhr hatte sich eine der täglichen Gebetszeiten Israels herausgebildet (Dan 9,20f ). Als betender Erlöser, der für uns alle bittet, starb Jesus. Das wahrscheinliche Datum seines Todes bleibt der 7. April des Jahres 30 unserer Zeitrechnung, der 14. Nisan der jüdischen Zeitrechnung.147 2. Es handelt sich nicht um einen Scheintod, wie die Gnostiker148 und der Koran149 sagen. Der Auferstandene fasst es Offb 1,18 in die Worte: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig.“ 3. Im Prozess und am Kreuz geht es entscheidend um das eine: Ist Jesus der Gottessohn? Für die Kreuzigung spielen weder seine (nicht geleugneten) Wunder noch sein angeblicher Sabbatbruch noch sein angeblicher Kampf gegen die Obrigkeit eine Rolle. 4. Dass der Gottessohn als der Sündlose für uns stirbt, um uns von Sünde und Schuld zu erlösen, ist und bleibt das Grunddatum christlicher Verkündigung und Theologie (Mt 28,19f; Joh 20,31; 1Kor 2,2). Wo es um andere Dinge geht, ob im Gespräch mit (noch) Nichtglaubenden oder anderen Religionen, da sind wir auf Nebenwegen, wenn nicht auf Abwegen. 5. Die Historizität der einzelnen Begebenheiten wird immer umstritten sein.150 Es hat sich jedoch gezeigt, dass gerade der Prozess gegen Jesus und seine Kreuzigung außerordentlich gut bezeugt sind. Zu nennen sind unter anderem der Hohe Rat, in dem auch einige Anhänger Jesu saßen (vgl. Joh 19,38ff ) und der vermutlich eine der Quellen der talmudischen Überlieferung gewesen ist; das römische Exekutionskommando; viele Zeitzeugen, die die Verhandlung vor Pilatus und das Sterben Jesu am Kreuz mindestens teilweise mitverfolgen konnten; die Frauen am Kreuz; die Apostel und deren Bekannte in Jerusalem (vgl. Joh 18,15); auch Einzelne wie Simon der Kyrenäer. Wir stehen hier auch historisch auf einem tragfähigen Boden.

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Vgl. Theißen-Merz 154; Fruchtenbaum 136. Vgl. wieder Irenäus AdvHaer I, 24,4; III, 18,5. Sure 4,158f. Vgl. die verschiedenen Urteile bei Bultmann, Gesch, 295; Fiedler 415; Hengel-Schwemer 571.613.615; Michel a.a.O. 685,5; Sand 564.

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Jesu Passion, 26,1–27,66

4. Die Grablegung, 27,57-61 I Übersetzung 57 Als es Abend wurde, kam ein reicher Mann aus Arimathäa namens Josef, der ebenfalls ein Jünger Jesu geworden war.1 58 Der ging zu Pilatus und bat ihn um den Leichnam Jesu. Da befahl Pilatus, ihn herauszugeben. 59 Und Josef nahm den Leichnam und wickelte ihn in reine Leinwand 60 und legte ihn in sein neues Grab, das er im Felsen hatte aushauen lassen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging fort. 61 Es war aber dort Maria aus Magdala und die andere Maria, die sich dem Grab gegenüber niedergelassen hatten.

II Struktur Der Bericht ist wieder in dem einfachen, fast trockenen Erzählstil des Matthäus geschrieben. Typisch sind die relativ vielen Partizipien und die einfachen Satzanschlüsse. Markus erzählt hier viel lebhafter und bringt auch mehr Details (15,42-47), zum Beispiel über die παρασκευή [ paraskeuē] („Rüsttag“) V. 42, Angaben über Josef V. 43, sowie die Reaktion des Pilatus V. 44 und 45. Fragt man, worum es Matthäus bei diesem Bericht ging, dann heben sich zwei Zielpunkte ab: a) die Sorgfalt der Grablegung, b) die Bezeugung. Im Unterschied zu Johannes, bei dem in späterer Zeit der „Personenschutz“ keine Rolle mehr spielte, spricht Matthäus nur vom Handeln Josefs, erwähnt aber Nikodemus nicht.

III Einzelexegese Als es Abend wurde (V. 57 Ὀψίας δὲ γενομένης [Opsias de genomenēs]) kennzeichnet die Zeit zwischen 15 und 18 Uhr. Seit ca. 15 Uhr ist Jesus tot. Bis zum ersten Passa-Festtag, der zugleich Sabbat war, also bis zu dem „großen Sabbat“ von Joh 19,31, verblieben noch ca. drei Stunden. Ein Mann tritt aus dem Schatten der Geschichte und überrascht durch seine Entschlossenheit: Josef aus Arimathäa. Matthäus, Markus (15,42) und Johannes (19,38) benennen ihn genau gleich: Ἰωσὴφ ἀπὸ Ἁριμαθαίας [Iōsēph apo Harimathaias]. Lukas erwähnt, er sei ein βουλευτής [bouleutēs] gewesen (23,50), das heißt, ein Mitglied des Sanhedrin.2 Josef ist ein so häufiger Name, dass sich daraus 1 Vgl. Bauer-Aland 985; BDR § 148,5. 2 Vgl. den Sprachgebrauch des Josephus Bell II, 405 und Bauer-Aland 290.

4. Die Grablegung, 27,57-61

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keine genauere Identifizierung ableiten lässt. Ein Patronymium fehlt. Wo lag Arimathäa? Ἁριμαθαία [Harimathaia] war jedenfalls ein „vorwiegend jüd.Ort“3 (Lk 23,51). Es kann identisch sein mit dem Ramatajim von 1Makk 11,34, das im 2. Jh. v.Chr. aus samaritanischem Besitz in jüdisch-makkabäischen überging.4 Heute heißt dieser Ort Rentis, ca. 15 Kilometer nordöstlich von Lod. Vielleicht ist es sogar identisch mit dem Ramatajim-Zofim5 von 1Sam 1,1, also dem Geburtsort Samuels. Matthäus sagt, Josef sei ein reicher Mann gewesen, das heißt zugleich: ein einflussreicher. Weiter bemerkt er: Er sei ebenfalls ein Jünger Jesu geworden (ἐμαθητεύθη [emathēteuthē]). Das bedeutet mehr als eine mentale Zustimmung. Das heißt vielmehr: Ein echter μαθητής [mathētēs] („Jünger“) als Hörer von Jesu Verkündigung und als ein Überzeugter von dessen Anspruch, Gottes Sohn zu sein, zugleich ein Überzeugter von dessen Messianität. Wie man sieht, war damals der Sanhedrin über Jesus durchaus geteilter Meinung. Er kam heißt: „Er schaltete sich ein.“6 Es fällt nun auch im Matthäuseveangelium auf, wie viele Personen im jerusalemisch-judäischen Raum in einem Jüngerschaftsverhältnis zu Jesus standen. Dazu gehörten zwei „Häuser“ = Hausgemeinden in Betanien (Lazarus und seine Schwestern; Simon der Aussätzige), der Besitzer des Reittiers von Mt 21,1ff, der Besitzer des Grundstücks Gethsemane (Mt 26,36ff ) und eben Josef von Arimathäa. Anzunehmen, dass alle diese Verbindungen erst in der Passionswoche entstanden, ist unmöglich. Jesus muss schon bei früheren Gelegenheiten in Jerusalem gewesen sein. Es war unvernünftig, in Kreisen der kritischen Forschung unter Berufung auf Matthäus bzw. die Synoptiker zu behaupten, Jesus sei nur einmal in Jerusalem gewesen. Josef, so sagt es Matthäus in Übereinstimmung mit Markus (15,43), ging zu Pilatus und bat ihn um den Leichnam Jesu (V. 58). Die Beifügung von τολμήσας [tolmēsas] in Mk 15,43 zeigt, dass dieser Schritt ein echtes Wagnis bedeutete. Immerhin kann man vermuten, dass Josef dem Pilatus bekannt war. Bei einem reichen Mitglied des Hohen Rats liegt eine solche Annahme nahe. Zugute kam Josef sicherlich die Verärgerung des Pilatus über die jüdischen Führer, die ihm einen Prozess aufgenötigt hatten, den er nicht führen wollte (V. 15ff; vgl. Joh 19,22). Die Rechtslage war klar. Nach römischem Recht gehörte der Leichnam eines Hingerichteten der römischen Staatsmacht. Man wollte verhindern, dass einem Toten, der ein Feind des römischen Staates 3 4 5 6

R. Riesner, Art. Arimathäa, GBL 1, 114. Vgl. Josephus Ant XIII, 127 (dort Ramathain). In Josephus Ant V, 342 heißt es Ῥαμαθαίν. Vgl. Dalman 195. Er „kam“ nicht aus Arimathäa herbei, das nur sein Geburtsort war, weil er in Jerusalem wohnte.

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war, Verehrung (Märtyrer!) erwiesen wurde.7 „Die Freigabe stand allein im Ermessen der Behörde, die das Todesurteil verfügt hatte, das heißt im Falle Jesu bei Pilatus.“8 Und Pilatus befahl, ihn herauszugeben. Die näheren Umstände erwähnt Matthäus dabei nicht. Markus ist hier ausführlicher (15,4445). Es könnte sein, dass Pilatus bei diesem Vorgang gerne die Karte der Opposition spielte, um den Mehrheitsfraktionen im Hohen Rat die Grenzen ihres Einflusses bewusst zu machen (vgl. wieder Joh 19,22 und b Sanh 43a). Das offensichtlich gute Verhältnis zwischen Josef und Pilatus ist auch unter dem Blickwinkel zu betrachten, den G.H. Stevenson so beschreibt: „the upper classes found their natural protectors in the Romans“.9 Jüdischerseits konnte sich Josef auf Deut 21,22f berufen: Der Leichnam eines Hingerichteten „soll nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn am selben Tage begraben“. Diese Bestimmung wurde auch bei Gekreuzigten angewandt.10 Die Verse 59 und 60 schildern nun die eigentliche Grablegung. In seiner bekannten Kürze braucht Matthäus nur vier Worte, um die Kreuzabnahme zu beschreiben: Καὶ λαβὼν τὸ σῶμα [Kai labōn to sōma], V. 59. Aber Carson hat recht: „Josephus could not have acted alone.“11 Johannes ergänzt: Nikodemus half dabei (Joh 19,39ff ). Die Knechte beider halfen vermutlich mit.12 Wie farbig ist gegenüber den vier Worten des Matthäus das Bild, das uns die christliche Kunstgeschichte von der Kreuzabnahme vermittelt! Wenn Matthäus fortfährt: er wickelte ihn in reine Leinwand, dann lässt er erneut manche Einzelheiten weg, die bei Markus (15,46) und Johannes (19,38ff ) erzählt sind. Und legte ihn in sein neues Grab (V. 60): Hier kommt noch einmal Spannung in den Bericht. Wir stellen zunächst fest, dass wir uns in der Linie einer langen jüdischen Tradition bewegen, für die das Begraben von Toten eine vornehme religiöse Pflicht war: Siehe auch 1Kön 13,29ff; Jes 53,9; Tob 1,20ff; 2,2ff; Mt 8,21. Josef brachte Jesu Leichnam in sein neues Grab, das also für ihn selbst vorbereitet worden war. Es war auf seine Anordnung hin im Felsen ausgehauen worden. Man kann sich das am besten so vorstellen, dass dieses Grab in eine Felswand gehauen war. Neu bedeutet auch, dass in der gesamten Grabanlage Josefs noch keine andere Grabstelle besetzt war (vgl. Lk 23,53). Hier kommen nun verschiedene biblische Bezüge ins Spiel. Dem Gottessohn und Schöpfer der Welt steht gerade das zu, was neu ist, was noch 7 8 9 10 11 12

Vgl. hier und im Folgenden Hengel-Schwemer 619ff. Hengel-Schwemer 620. Stevenson 850. Josephus Bell IV, 317. Carson 584. Carson a.a.O.

4. Die Grablegung, 27,57-61

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von keinem Geschöpf benutzt wurde (vgl. Mt 21,1ff ). Ein Grab hat ferner einen besonderen Bezug zu der Person, der es gehört (vgl. nur Gen 23,1ff ). Insofern bringt also Josef ein sehr großes persönliches Opfer. Schließlich spricht Jes 53,9 speziell vom Begräbnis des Gottesknechtes, wobei eine Textrezension formuliert: „bei einem Reichen in seinem Tod“.13 Trifft diese Rezension zu, dann hätte sich Jes 53,9 durch Mt 27,60 erfüllt. Am Ende, wohl sehr kurz vor Ende des Rüsttags, wälzte Josef einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging fort. Der erste Festtag des Passa, der „große Sabbat“, kam herbei. Wieder kürzt die Ezählung ab. Josef wird den großen Stein nicht alleine vor die Tür des Grabes gewälzt haben. Ganze Teile der Beisetzungszeremonie, wie die Zugabe von Spezereien (Joh 19,39f ), sind entfallen. Wenn ein Verschluss-Stein vor die Tür des Grabes gewälzt wurde, können wir uns ein Bild von Jesu Grab machen. Es hatte in der aufrechten Felswand einen ausgehauenen Eingang (Tür). Davor befand sich eine Art Falz, in der der Roll-Stein lief. Nach den uns bekannten Verhältnissen muss sich hinter der Türe ein niederer Durchgang befunden haben, der in die eigentliche Grabkammer mündete. Bei teuren Gräbern gab es hinter dem Eingang noch eine Art Vorkammer, aus der dann der Durchgang weiterführte.14 So offensichtlich auch bei Jesus. Nach Schlatter war „An der Seite der Wand … eine niedrige Bank, auf die er in einer Leinwand hingelegt wurde“.15 Ähnlich Riesner: Das Grab Jesu „besaß eine Vorhalle …, einen Rollstein … sowie die Grablege auf der rechten Seite.“16 Wo lag dieses Grab? Weil der Passa-Festtag nahte, muss es nahe beim Kreuz gewesen sein. Genau dies sagt Joh 19,40f. Geschichtlich kommt für die Lage des Grabes im Grunde nur die Grabeskirche in Jerusalem infrage. Sogar das Grab, das man dort zeigt, „hat Anspruch auf Echtheit“.17 Zwar gibt es auf dem Gelände der Grabeskirche mehrere jüdische Grabanlagen aus der Zeit Jesu.18 Aber, wie schon Dalman schrieb, „nur das Grab mit einer Vorhalle, einer einzigen unfertigen Kammer und dem einzigen Leichenplatz in der Form eines Troges auf der rechten Seite“,19 das man heute in der Grabeskirche sehen kann, entspricht den Angaben der Evangelien. Riesner hat vermutet, dass man bei der Errichtung der konstantinischen Basilika die Lage des ursprünglichen Grabs „aufgrund judenchristl. Überlieferung und 13 Revidierte Elberfelder Bibel; LSB. 14 Vgl. Carson 584; Schlatter 417. Vgl. Dalman 276ff; R. Riesner, Art. Begräbnis- und Trauersitten, GBL 1, 173ff; Kroll 489ff; Kopp 436ff. 15 Schlatter a.a.O. 16 Riesner a.a.O. 178. 17 Riesner a.a.O. 18 Vgl. Kroll 490.497ff. 19 Dalman 298.

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vielleicht auch durch Pilgerinschriften“ kannte.20 Seiner Art nach handelte es sich wohl um ein Bankbogengrab oder ein Banktroggrab. Zur Historizität merkten Hengel-Schwemer an: „Die Zweifel am Grablegungsbericht sind unbegründet.“21 Der letzte Vers unseres Abschnitts mutet eigenartig an. Josef hat den Schauplatz verlassen. Aber es tritt nun nicht einfach eine Stille ein. An einem Punkt ist noch Leben: Es war aber dort Maria aus Magdala und die andere Maria, die sich dem Grab gegenüber niedergelassen hatten. Beide Frauen sind uns aus V. 56 bekannt. Die andere Maria (ἡ ἄλλη Μαρία [hē allē Maria]) neben der Magdalena muss die zweite Maria von V. 56 sein, also „die Mutter des Jakobus und Josef “. So auch Mk 15,47, während Lukas in 23,55 nur von einer unbestimmten Zahl von Frauen spricht.22 Immerhin: Alle drei Synoptiker benennen ausdrücklich mehrere Frauen als Zeuginnen der Grablegung. Auch Matthäus entspricht durch seine zwei Zeuginnen dem Zeugenrecht des AT (Deut 19,15). Denn dies scheint doch der Hauptzweck von Mt 17,61 zu sein: Zeuginnen der Grablegung namhaft zu machen. Gegenüber dem Grab in der Felswand hatten sie alles im Auge, konnten auch einen gewissen Schutz für das Grab bilden. Doch warum musste gerade die Grablegung Jesu so sehr durch Zeugen abgesichert werden? Das NT lässt uns bestimmte Gründe erkennen. Erstens hatte es die junge Gemeinde mit dem Gerücht zu tun, Jesu Leichnam sei gestohlen worden (Mt 28,13). Dann aber wäre auch die Verkündigung seiner Auferstehung fragwürdig geworden. Zweitens ging es um die Realität seines Todes und die Abwehr jeder Scheintod-These (vgl. 1Kor 15,3; Apg 13,29; Offb 1,18). Beide Gründe waren noch für das Apostolische Glaubensbekenntnis so wichtig, dass es ausdrücklich sagt: mortus et sepultus23 (Nicaeno-Constantinopolitanum: καὶ ταφέντα [kai taphenta]). Im Kampf mit den Gnostikern hat gerade Irenäus das „begraben worden“ betont.24 In moderner Zeit erweist sich die Tatsache der Grablegung noch aus einem dritten Grund als wichtig: Die Auferstehung wird von einem verkündigt, den man zuvor als wirklich Verstorbenen in einem geschichtlich bekannten Grab beigesetzt hatte. Anzunehmen, dass die Jerusalemer Gemeinde, die schon damals hundertzwanzig Mitglieder zählte (Apg 1,15), je den Ort des Begräbnisses Jesu vergessen hätte, ist eine historische Unmöglichkeit.25 20 21 22 23 24 25

Riesner a.a.O. Hengel-Schwemer 621; Luz IV 381 nimmt „einen historischen Kern“ an. Vermutlich haben also mehr als die genannten zwei Frauen die Grablegung beobachtet. Vgl. BELK 22f. AdvHaer III, 18,3. Vgl. Luz IV 382; Hengel-Schwemer 621.

5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66

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Dann aber erledigt sich im Grunde die ganze Diskussion über den „im Grabe vermoderten“ Leichnam Jesu, die seit einiger Zeit im nordatlantischen Raum stattfindet.

IV Zusammenfassung 1. Karl Barth leitete seine Überlegungen zum sepultus des Glaubensbekenntnisses mit den Worten ein, es handle sich um „den unscheinbarsten Teil unseres Symboltextes“.26 Aber „gerade in seiner Trivialität“ habe es „eine eminent kritische Bedeutung“.27 Denn es erinnert „an die wahre Menschheit Christi“.28 Damit hat Barth wesentliche Aspekte von Mt 27,57-61 hervorgehoben. 2. Es ist gerade auf der menschlichen Ebene der Mut, den wir bei einzelnen Gestalten der Jüngerschaft in jenen Tagen bewundern. Dazu zählen Josef aus Arimathäa, Nikodemus (Joh 19,39ff ), und die Frauen am Grabe. Aber wiederum fällt auf, dass Matthäus über die Apostel schweigt. Sie sind nicht bei den Mutigen, sondern an ihnen erfüllt sich die Prophetie Jesu aus Mt 26,31. Wie leicht wäre es gewesen, dies in den Evangelien zu retuschieren oder zu vertuschen! Dass dies kein Evangelium getan hat, bleibt ein Ruhmesblatt der ersten Christen. Wie klein nehmen sich daneben die historischen Zweifel und polemischen Unterstellungen aus, die die Evangelien in der modernen, kritischen Auslegung erdulden müssen! 3. Wir halten noch einmal die grundlegenden Vorgänge in Mt 27,57-61 fest: Jesus fand ein ehrendes Begräbnis im Grab eines reichen Jüngers – die Grabstätte in der Nähe des Hinrichtungsortes war als μνημεῖον [mnēmeion] öffentlich bekannt – sein Grab wurde verschlossen und von den Frauen bis zum Ende des Rüsttags beobachtet.

5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66 I Übersetzung 62 Aber am nächsten Tag, das ist nach dem Rüsttag, versammelten sich die Hohenpriester und die Pharisäer bei Pilatus 63 und sagten: Herr, wir erinnern uns, dass jener Verführer, als er noch lebte, sagte: Nach drei 26 Barth, Credo, 76. 27 A.a.O. 28 A.a.O.

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Tagen werde ich auferweckt. 64 Gib also den Befehl, dass das Grab bis zum dritten Tag sicher bewacht wird, dass nicht etwa seine Jünger kommen und ihn stehlen und dann dem Volk erklären: Er wurde auferweckt von den Toten, und der letzte Betrug noch schlimmer wird als der erste. 65 Pilatus entgegnete ihnen: Da habt ihr eine Wache! Geht hin! Sichert es, so gut ihrs könnt! 66 Sie aber gingen hin und sicherten das Grab, indem sie zusammen mit der Wache noch den Stein versiegelten.

II Struktur Mt 27,62-66 ist Sondergut. Ein Vergleich mit den anderen Evangelien ist deshalb bei diesem Abschnitt nicht möglich. Die Überlegungen zu den Quellen, die z.B. Luz anstellt,1 sind rein spekulativ. Es erstaunt immer wieder, dass man die nächstliegende Lösung, nämlich echte historische Quellen anzunehmen, gar nicht weiter verfolgt. Mt 27,62-66 ist durchsichtig und schnörkellos aufgebaut: 1) Die Bitte der jüdischen Führer an Pilatus, das Grab zu sichern (V. 62-64); 2) die Erfüllung der Bitte durch Pilatus (V. 65); 3) die Maßnahmen zur Sicherung des Grabes (V. 66).

III Einzelexegese Die Schnörkellosigkeit des Berichts zeigt sich schon daran, dass V. 62 wohl vom Vorgehen der Hohenpriester und Pharisäer spricht, aber keine Hintergründe offenlegt. Doch enthüllt der Vers interessante Details. Gegenüber den Geschehnissen von Mt 27,15-61 sind wir einen Tag weitergerückt. Folgerichtig spricht V. 62 vom nächsten Tag. Das ist der erste hohe Feiertag des Passafestes. Ergo war Jesus bei Festbeginn schon tot. Mt 27,62 benennt seinen Todestag noch genauer: Es ist der Rüsttag vor dem Passafest. Zusammen mit der παρασκευή-Notiz [ paraskeuē] von Mk 15,42 schließt Mt 27,62 jede Annahme aus, dass Jesus erst am Feiertag des Passa hingerichtet worden sei.2 Die Hohenpriester und die Pharisäer bezeichnen den Hohen Rat. Dass hier die „Ältesten des Volkes“ nicht aufgeführt werden, ändert nichts daran, dass wir es hier mit den Vertretern des Hohen Rates zu tun haben (vgl. Mt 21,45). Doch ist die besondere Erwähnung der Pharisäer sehr sinnvoll. Denn es geht im Folgenden um Lehrfragen. Sie versammelten sich bei Pilatus: wohl als eine nicht unbeträchtliche Delegation. Trotz des Festtages 1 Luz IV 389. 2 „Nach synoptischer Darstellung starb Jesus“ also gerade nicht „am ersten Tag des Passafestes“ (gegen Theißen-Merz 152).

5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66

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sind sie zur Stelle, und das zeigt, wie wichtig ihnen der Prozess gegen Jesus war und mit welcher Angst sie sich seiner Prophetien erinnerten. Pilatus aber bekommt immer noch keine Ruhe (vgl. Joh 19,21f ). Siehe auch Schlatter zur Stelle: „Die Nachricht von der Bestattung Jesu regte die Häupter Israels auf. Nach ihrem Urteil hatte Pilatus unvorsichtig gehandelt.“3 Verhältnismäßig ausführlich wird das Vorbringen des Hohen Rats geschildert: Herr, wir erinnern uns, dass jener Verführer, als er noch lebte, sagte … (V. 63). Herr, κύριε [kyrie], dürfte die Wiedergabe des lat. domine sein. Die Anrede ist ehrfürchtig, hat aber wie das aram. ‫[ ָמֵרא‬māreʾ] eine Allgemeinbedeutung und hier nichts mit religiösen Konnotationen zu tun.4 Seltsam klingt das wir erinnern uns. Wollen sie damit ihr verspätetes Aufkreuzen bei Pilatus entschuldigen?5 Uns scheint, dass die Sache tiefer geht. Das rabbinische Gedächtnis war eminent geschult. Mehrfach wurden Jesus seine Lehraussagen vorgehalten (Mt 26,59ff; 27,40ff; Joh 10,33). Es scheint schon zu Lebzeiten Jesu auch in rabbinischen Kreisen eine Lehrtradition von Jesus gegeben zu haben, die man zur Auseinandersetzung mit ihm nützte. Wie tief hat sich sein Gedächtnis eingegraben, wenn sie sagen können wir erinnern uns. Verächtlich allerdings ist die Formulierung jener Verführer. Sie lebt noch heute im Talmud fort.6 Viel wichtiger als die verächtliche Formulierung sind die inhaltlichen Gesichtspunkte. Wo ist eigentlich die politische Anklage (Jesus als König Israels und Aufrüher, Mt 27,11ff, Joh 18,18ff ) geblieben? Verführer ist ein religiöser Terminus. Nach Deut 13,2ff muss der falsche Prophet und Verführer getötet werden. Das ist im Zusammenwirken von Juden und Römern geschehen.7 Aber nun zeigt sich noch vor der Auferstehung,8 dass Jesus weiterwirkt. Genauer: Es sind seine Worte, die ewig sind (Mt 24,35). Denn Jesu Worte werden jetzt vor Pilatus zitiert: Nach drei Tagen werde ich auferweckt (μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἐγείρομαι [meta treis hēmeras egeiromai]). Zitiert wird das, was Jesus in Mt 12,30; 16,4 direkt den Pharisäern sagte und was dann in Mt 16,21; 17,23; 20,19 einen wichtigen Teil seiner Leidens- und Auferstehungsweissagungen bildete. Das griech. ἐγείρομαι [egeiromai] hat futurischen Charakter.9 Man wird es als Passivum divinum zu hören haben, also im 3 4 5 6 7

Schlatter 418. Gegen Fiedler 422; Luz IV 392f. Sand 571. B Sanh 43a. Vgl. Schäfer 139ff. Zum Verführungsvorwurf vgl. Joh 7,12.47; Mt 9,2f; 12,2ff.31ff; 15,1ff; 16,12; 19,3ff; 22,15ff; 26,59ff. 8 Vgl. die Formulierung ἔτι ζῶν. Also war Jesus auch nach Auffassung des Hohen Rates wirklich tot! 9 BDR § 323,3.

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Jesu Passion, 26,1–27,66

Sinne von „Gott wird mich auferwecken“. Wie ein Wetterleuchten leuchtet in die Todes- und Intrigenwelt die Auferstehungswirklichkeit hinein. Es ist falsch und ohne Begründung im Text, wenn Luz und Sand scheiben, die Auferweckungsaussage könne „sich nur auf 12,40 … beziehen“.10 Erstens werden hier Worte wie Mt 16,4; Joh 2,19ff übersehen, zweitens die Auferstehungsweissagungen völlig ausgeklammert. Gib also den Befehl (κέλευσον [keleuson]), V. 64: Hier wird brutal ihre Abhängigkeit von Pilatus dokumentiert. Er bleibt der Herr des Verfahrens. Die Leserschaft des Matthäus aber wird daran erinnert, welche Rolle die Befehle und Edikte der weltlichen Herrscher spielen (Hes 1,1f; Dan 1,3.5.18; 3,1ff.31ff; 5,2ff; 6,8ff; 2Chron 36,22f; Esr 6,1ff; Est 1,19ff; 2,1ff; 10,1ff; Lk 2,1ff; Apg 18,2). Die Geschichte des Volkes Gottes ist hineingebunden in die Verhältnisse und Strukturen dieser Welt (Joh 17,15), gedeutet allerdings durch das Wort Jesu in Joh 19,11. Die Bitte des Hohen Rates: dass das Grab bis zum dritten Tag sicher bewacht wird, dass nicht etwa seine Jünger kommen und ihn stehlen und dann dem Volk (τῷ λαῷ [tō laō]) erklären: Er wurde auferweckt von den Toten, und der letzte Betrug noch schlimmer wird als der erste. Der letzte Betrug in den Augen des Hohen Rats ist also die Verkündigung der Auferstehung Jesu. Mt 28,11-15 bestätigt diese Sicht. Halten wir fest: Es genügt, das Grab drei Tage lang sicher zu bewachen (ἀσφαλίζειν [asphalizein]). Danach können sich die Jünger nicht mehr auf die Prophetie Jesu berufen. Noch immer also muss der Hohe Rat mit einem Fortbestand der Jüngerschaft Jesu rechnen. Siehe auch die ähnlichen Verhältnisse nach dem Tod des Täufers Mt 14,1ff. Was kann die Jüngerschaft Gefährliches tun? Sie kann den Leichnam stehlen. Wer so redet, traut Jesu Jüngern allerhand zu. Die Worte in Mt 27,64 geben einen ausgezeichneten Eindruck von dem bewundernswerten Realitätsbezug der jüdischen Menschen (vgl. 1Kor 1,22). Eine Debatte über einen vermodernden Leichnam im Grab, den man dann der Welt als den Auferstandenen verkauft hätte, wäre in jenem Milieu unmöglich gewesen. „Entweder der Leichnam im Grab – oder die Auferstehung“ war die Alternative, das Stehlen des Leichnams der Weg zum Auferstehungs-Betrug. Letzeres hätte auch die ganze Jesusgeschichte als den ersten Betrug diskreditiert. Im Übrigen setzt V. 64 voraus, dass alle, Gegner wie Freunde Jesu, die Lage des Grabes genau kannten. Die Erfüllung der Bitte durch Pilatus in V. 65 wird kurz, aber spürbar ironisch beschrieben. Da habt ihr eine Wache! gibt nur zwei griech. Wörter wieder (ἔχετε κουστωδίαν [echete koustōdian]). κουστωδία [koustōdia] ist 10 Sand 571; Luz IV 392. Vgl. aber France 404; Carson 585; Schniewind 275.

5. Die Bewachung des Grabes, 27,62-66

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das lat. custodia, eben griech. geschrieben.11 Pilatus muss mit einem Wink und kurzen Worten eine kleine Wachabteilung aus den präsenten römischen Truppen ausgesondert haben.12 Geht hin! erinnert ein wenig an das häufige „Geh hin in Frieden“ o.Ä. (Mk 5,34; Lk 7,50). Der Klang scheint wirklich ironisch zu sein. Vielleicht war für Pilatus die jüdische Rede von einer Auferstehung etwas Abergläubisches. Ironische Töne sind ihm nicht fremd (vgl. Joh 18,38). Sichert es, so gut ihrs könnt!, „für alles Weitere seid ihr selbst verantwortlich“. So gut ihrs könnt (ὡς οἴδατε [hōs oidate]) klingt so, als ob er ihr Können im Gebiet von Staats- und Verwaltungsrecht als gering einschätzt. Für Matthäus ist wichtig, dass das Grab tatsächlich mit allen verfügbaren Mitteln gesichert wurde. Das enthüllt jetzt deutlich V. 66: Sie aber gingen hin und sicherten das Grab, indem sie zusammen mit der Wache noch den Stein versiegelten. Sie bedeutet natürlich nicht, dass sich der ganze Hohe Rat auf den Weg zum Grabe machte. Vielmehr schickt der Hohe Rat seine Beauftragten, evtl. eine kleine, repräsentative Delegation. Dass sie in diesem Fall bewusst und geplant zusammen (μετά [meta]!) mit der römischen Wache handelten, vermerkt Matthäus besonders. Es ist ja der erste und höchste Festtag des Passafestes! Eine merkwürdige Kooperation von Besatzern und Unterdrückten auf dem Hintergrund der Gefangenschaft in Ägypten! Die Sicherungsmaßnahmen sind dreifach: der schwere Stein (V. 60), offensichtlich doch ein Rollstein, wird vor dem Eingang des Grabes justiert; er wird zusätzlich versiegelt; die Wache aus römischen Soldaten bewacht die Grabanlage. Die jüdische Obrigkeit hat also selbst dafür gesorgt, dass der Leichnam nicht gestohlen werden konnte.13 Die Versiegelung des Steins erinnert an Dan 6,18. Schon dadurch ist Jesus in die Reihe der jüdischen Märtyrer eingefügt. Wie geschah die Versiegelung? Wohl durch ein Band oder eine „Schnur“14 mit angebrachtem Siegel, die den Stein mit der „Tür“ des Grabes verbanden, sodass jede Verschiebung des Steines das Siegel beschädigen musste. Nur autorisierte Personen konnten das Siegel rechtmäßig lösen.

IV Zusammenfassung 1. Auf breiter Front bezweifelt die kritische Exegese die Geschichtlichkeit des Berichts von der Bewachung des Grabes. Einige Beispiele: für Bultmann

11 BDR § 5,3. 12 Vgl. France 405; Luz IV 393; Sand 571; Zahn 718. Anders Carson 586, der ἔχετε als Indikativ und als Verweis auf die jüdische Tempelpolizei versteht. 13 Fiedler 423: dass der „Vorwurf des Leichen-Diebstahls lächerlich wird“. 14 Schlatter 418. Carson 586: „with cord and an official wax seal“.

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Jesu Passion, 26,1–27,66

eine „apologetisch motivierte Legende“15 – als ob man mit Legenden die von der Gegenseite vertretenen Realitäten bekämpfen könnte; für Beare „a Christian fabrication“ und „improbable“;16 für Hengel-Schwemer von „legendärer Art“;17 für Luz eine „fingierte polemische Legende“;18 für Schniewind „in sich unwahrscheinlich“.19 Andere argumentieren „in favor of the pericope’s historicity“.20 In der Regel erfolgt die Ablehnung der Historizität apodiktisch. Wenn man Gründe nennt, dann ist es immer wieder der „apologetische“ Charakter von Mt 27,62-66, der geltend gemacht wird: Die junge Christengemeinde habe der Diebstahlstheorie seitens der jüdischen Repräsentanten widersprechen wollen und dazu eben die „Legende von der Grabeswache“ gebildet.21 Wir schließen uns dieser kritischen Theorie nicht an, weil die Sicherung des Grabes in sich weder wahrscheinlicher noch unwahrscheinlicher ist als der ganze Prozess, der gegen Jesus geführt wurde. 2. Der kurze Bericht von der Bewachung des Grabes übermittelt eine doppelte Information: Es wurde von jüdischer und römischer Seite alles getan, um vermutete Manipulationen am Grab zu verhindern. Und zweitens: Die Stellung der jüdischen Autoritäten zu Jesus blieb gespalten. Einerseits galt er als „Verführer“ (vgl. Deut 13,2ff ), andererseits rechnete man mit der Weiterwirkung seiner Worte. Es ist ziemlich genau diejenige Position, die wir auch bei R. Jochanan ben Zakkai in b Sanh 106a finden: „Anfangs war er Prophet, nachher wurde er Zauberer.“

15 16 17 18 19 20 21

Bultmann, Gesch, 297. Auch Klostermann 226: eine „Glaubenslegende“. Beare 539. Hengel-Schwemer 571.235. Luz IV 392. Schniewind 275. So Carson 585. So Bultmann a.a.O.

Vorbemerkung

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V. Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

Vorbemerkung Der Teil des Evangeliums, der von der Auferstehung Jesu handelt, stellt jeden Ausleger in eine enorme Spannung. Einerseits ist hier das Ziel des Evangeliums erreicht. Andererseits sind gerade bei Matthäus die Nachrichten so kurz, dass man sich darüber wundert. Formal wäre es korrekt, Prozess, Kreuzigung und Auferstehung in einen einzigen Hauptteil zusammenzufassen. Aber gerade die Überlegung, dass Kap. 28 das Ziel des Matthäusevangeliums darstellt, und nicht weniger das Gewicht der Aussagen bringen uns dazu, Kap. 28 als einen eigenen, nämlich den fünften Hauptteil zu betrachten. Wir erreichen hier die Grenze dessen, was Menschen in ihrer Sprache ausdrücken können. Wir erkennen im Matthäusevangelium sieben Einzelereignisse: 1) Der Gang der Frauen zum Grab (28,1); 2) das vorausgegangene Wunder am Grab (28,2-4); 3) die Engelbotschaft an die Frauen (28,5-8); 4) die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus (28,9-10); 5) die Entstehung der Diebstahlslegende (28,11-15); 6) die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus in Galiläa (28,16-17); 7) die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl (28,18-20).

1. Der Gang der Frauen zum Grab, 28,1 I Übersetzung 1 Nach dem Sabbat, als der erste Tag der Woche aufleuchtete, kam Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.

II Struktur Matthäus formuliert hier umständlich, was Verstehensprobleme mit sich bringt. Was er sagen will, ist jedoch klar: Der hohe Festtag des Passa ist vorbei, der erste Tag der jüdischen Woche angebrochen. Da ergreifen Frauen die Initiative, und nicht etwa die Zwölf. Nichts wird hier dramatisiert.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

Jede Bearbeitungshypothese, die von der Bearbeitung eines anderen Evangeliums (Markus) durch den Evangelisten ausgeht, erweist sich als unangemessen.1 Wozu musste er dem einhelligen τῇ μιᾷ τῶν σαββάτων [tē mia tōn sabbatōn] (Mk 16,2; Lk 24,1; Joh 20,1) ein umständliches ὀψέ [opse] und εἰς μίαν σαββάτων [eis mian sabbatōn] entgegensetzen? Warum die Mehrzahl der Frauen in Mk 16,2 und Lk 24,1 auf zwei reduzieren? Warum nur das einfache θεωρῆσαι τὸν τάφον [theōrēsai ton taphon] setzen, statt von der Absicht der Salbung zu erzählen? Bearbeitungshypothesen führen hier nur auf Abwege.

III Einzelexegese Ὀψὲ δὲ σαββάτων [Opse de sabbatōn] lässt sich verschieden übersetzen: a) „spät am Sabbat“, b) nach dem Sabbat. Beides findet sich in den gegenwärtigen Bibeln wieder.2 Die folgenden Worte τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων [tē epiphōskousē eis mian sabbatōn] stellen jedoch klar, dass keine Abendzeit, sondern eine sehr morgendliche Zeit gemeint ist. Dasselbe sagen ganz eindeutig alle anderen Evangelien (Mk 16,2; Lk 24,1; Joh 20,1). Deshalb ist nur die Übersetzung nach dem Sabbat berechtigt.3 Wir befinden uns also am Morgen des Tages, den wir Christen Sonntag nennen (Offb 1,10; vgl. 1Kor 16,2; Apg 20,7). Es ist der dritte Tag nach der Hinrichtung, wie es Jesus in Mt 16,21; 17,23; 20,19 und 12,40; 16,4 vorausgesagt hatte, wie es auch der Hohe Rat befürchtet hatte (Mt 27,64): Der erste Tag war der Freitag, der Kreuzigungstag, der Rüsttag auf die Passafeier gewesen; der zweite Tag die Passafeier, der Samstag, der „große Sabbat“; der dritte Tag nun eben der erste Tag der Woche nach dem jüdischen Kalender.4 Das seltene Wort ἐπιφώσκειν [epiphōskein], aufleuchten, zeigt an, dass wir uns sehr früh am Tag befinden. Siehe auch das Deutsche: „mit dem ersten Licht“. Nun spricht Matthäus von zwei Frauen: Maria von Magdala und der anderen Maria. Beide kennen wir schon von Mt 26,56.61 her, und wissen deshalb „dass die andere Maria die Mutter des Jakobus und Josef ist. Siehe auch Mk 16,1. Kein menschlicher Auftraggeber hat sie gesandt. Was wollen sie? Matthäus schreibt: um nach dem Grab zu sehen (θεωρῆσαι τὸν τάφον [theōrēsai ton taphon]). Dieses sehen kann alles Mögliche einschließen. Es kann 1 Gegen Fiedler 423ff; Luz IV 397ff. 2 Ersteres z.B. Revidierte Elberfelder Bibel; Gute Nachricht; Luz IV 395ff; Fiedler 424; Beare 540; Sand 581. Das Zweite Lutherbibel; Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; BGS; BasisBibel; NGÜ. 3 So auch Zahn 718; Bauer-Aland 1216; BDR § 164,4; Schniewind 276; Tasker 272; France 406; Carson 587; Strack-Billerbeck I 1052. 4 Vgl. E. Lohse, Art. σάββατον usw., ThWNT, VII, 1964, 20.29.

2. Das vorausgegangene Wunder am Grab, 28,2-4

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heißen: Die allgemeine Lage am Grab erkennen, den Zustand des Grabes prüfen, auch den begrabenen Jesus aufsuchen. Dabei muss offenbleiben, wie viel die Frauen von der Bewachung des Grabes mitbekommen hatten. Hinter diesem θεωρεῖν [theōrein] steht vermutlich das weite Bedeutungsfeld des hebr. ‫[ ראה‬rʾh].5 Erneut (nach Mt 27,55f; 27,61) bewundern wir den Mut, die Treue, die Anhänglichkeit dieser Frauen noch an den toten Jesus. Wenn Matthäus nur zwei Frauen namentlich erwähnt, darf dies nicht als Ausschluss anderer Frauen verstanden werden. Es wäre eine Fehlinterpretation, anzunehmen, Matthäus habe die Anwesenheit anderer bestreiten wollen. So behalten auch Mk 16,1 (Salome) und Lk 24,10 (Johanna) ihr Recht. Offenbar wollte Matthäus nur die Minderheit von zwei Zeugen nach Deut 19,15 sicherstellen. Im Unterschied zu Mk 16,1 und Lk 23,56 sagt Matthäus nichts über die Vorbereitung einer Salbung durch die Frauen. Ein Bericht darüber lag offensichtlich nicht in seiner Absicht. Aber auch da wäre es ein Missverständnis, wenn wir annehmen wollten, Matthäus hätte die Erzählung von der Salbungsvorbereitung entweder nicht gekannt oder sie abgelehnt.6

IV Zusammenfassung 1. Frauen gehen zum Grab: So einfach beginnt die christliche Auferstehungserzählung (vgl. Lk 24,22f ). 2. Die Frauen haben keinen menschlichen Auftraggeber. Den jüdischen Autoritäten und der Macht des römischen Imperiums gegenüber findet sich keine christliche Organisation, keine machtvolle Kirche, kein irgendwie gleichwertiges Instrumentarium. Hier deutet sich eine Grundstruktur an, die zwar in „glücklichen“ Zeiten verborgen sein kann, aber mit jeder Zeit der Verfolgung wieder zutage tritt.

2. Das vorausgegangene Wunder am Grab, 28,2-4 I Übersetzung 2 Und siehe, es ereignete sich ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat heran, wälzte den Stein weg und setzte sich auf ihn. 3 Seine Erscheinung war wie ein Blitz und sein Ge5 Vgl. dazu H.-F. Fuchs, Art. ‫ָרָאה‬, ThWAT, VII, 1993, 225ff. 6 Gegen Schniewind 276; Beare 542.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

wand weiß wie Schnee. 4 Aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und wurden, als wären sie tot.

II Struktur Zahn hat recht: Das vorausgehende kam(en)… um zu sehen“ (V. 1) gibt deutlich genug zu erkennen, dass die Ereignisse von Mt 28,2-4 vor der Ankunft der Frauen stattgefunden haben.1 Man liebt es, von einem „Gattungstyp der Angelophanien“ zu sprechen.2 Doch damit ist gar nichts erklärt. Viel wichtiger ist es, die Zeichen der Gegenwart Gottes zu beachten. Insgesamt wird wieder knapp erzählt. Beachtlich ist die Zahl der Verben allein in V. 2: ἐγένετο [egeneto] – καταβάς [katabas] – προσελθών [ proselthōn] – ἀπεκύλισεν [apekylisen] – ἐκάθητο [ekathēto]. Moderne Übersetzungen versuchen, diese Kargheit auszugleichen durch farbige Auffüllungen, z.B. „sie fielen wie tot zu Boden“ statt „sie wurden, als wären sie tot“. Insgesamt sind die Berichte der Evangelien jeweils so eigenartig und spezifisch verschieden, dass es besser ist, mit Hengel-Schwemer von „punktuellen Übereinstimmungen“3 zu sprechen als von Parallelberichten. Auch hier bleiben die Bearbeitungshypothesen rein spekulativ.4

III Einzelexegese Und siehe, es ereignete sich ein großes Erdbeben: Es gibt dafür kein genaueres Datum (V. 2). Vermutlich geschah es gegen Morgen. Erdbeben sind Zeichen der Gegenwart Gottes (vgl. Ex 19,18; 1Kön 19,11). Auch beim Kreuzestod Jesu ereignete sich ein großes Erdbeben (Mt 27,51). Tod und Auferstehung Jesu sind Ereignisse, in denen Gott handelt. Zugleich haben sie universale, schöpfungsmäßige Bedeutung. Wenn vorher die Felsen zerrissen (Mt 27,51), ist es jetzt ein Kleines, wenn der Rollstein vor dem Grabe zur Seite gerückt wird. Die Bibel sieht hinter dem, was wir Naturereignisse nennen, Beauftragte Gottes, Engel, am Werk. So kam auch hier in Jerusalem ein Engel des Herrn vom Himmel herab. Sowohl die Angabe vom Himmel herab (ἐξ οὐρανοῦ [ex ouranou]) als auch die Begriffe Engel des Herrn und herabkommen machen dabei klar, dass hinter dem allein Gottes Befehl und Macht steht. Es geht insofern um eine Theophanie (Gotteserscheinung) und nicht um 1 Zahn 619. Anders Luz IV 402; Schniewind 276; Theißen-Merz 430. Wie Zahn auch Carson 588. 2 So Luz IV 396. 3 Hengel-Schwemer 641. 4 Gegen Luz IV 397ff; Fiedler 423ff; Beare 541.

2. Das vorausgegangene Wunder am Grab, 28,2-4

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eine Angelophanie (Engelerscheinung). Letzere ist nur vordergründig. Der Engel aus der Himmelswelt hat ein konkretes irdisches Ziel: er trat heran, wälzte den Stein weg und setzte sich auf ihn. Nachdem die Erzählung vorher den Aorist benutzte, fällt jetzt das Imperfekt ἐκάθητο [ekathēto] auf.5 Offensichtlich handelt es sich um ein duratives Imperfekt, und das bedeutet: Der Engel saß noch dort, als die Frauen eintrafen. Es ist „die Sachlage, welche die am Grabe ankommenden Weiber antrafen“.6 Das Eingreifen des Engels wird demnach als ein Erdbeben wahrgenommen, der Engel selbst begegnet jetzt den Frauen. Kurz beschreibt V. 3 seine Erscheinung. Diese Erscheinung (εἰδέα [eidea]) ist das, was menschliche Augen von ihm wahrnehmen können. Verglichen wird sie dem Blitz, das heißt, sie strahlt einen blendenden Glanz aus. Diese Beschreibung stimmt überein mit Dan 10,6. Daneben wird nur noch „sein Gewand“ erwähnt, es sei weiß wie Schnee gewesen. Auch dazu finden sich biblische Parallelen (Dan 7,9; Mt 17,2; Apg 1,10; 10,30; Offb 1,14). Dieses weiß ist ein Hinweis auf die Reinheit der himmlischen Welt, aber auch auf die Siegesmacht Gottes. Sowohl Matthäus als auch Markus und Lukas halten sich bei der Beschreibung der Engel spürbar zurück. Vers 4 lenkt von den Frauen weg und rückt für kurze Zeit wieder die Wächter in den Fokus. Es handelt sich um die römische Wache, von der Matthäus in 27,62-66 berichtete. Gerade diese Wächter bekommen die übernatürliche Erscheinung mit. Die Furcht vor dem Engel ergreift sie, lässt sie zittern (sie erbebten) und dann erstarren, als wären sie tot. Erneut werden wir an Dan 10,7ff, aber auch an Offb 1,17 erinnert. Der sündige Mensch kann die Berührung mit der himmlischen Lichtwelt kaum aushalten. Seit dem Sündenfall ist seine erste Reaktion die Furcht (Gen 3,10), wobei seine Religionszugehörigkeit keine Rolle spielt. Man sollte aber nicht noch weiter ausmalen, auch nicht von „zu Boden fallen“7 o.Ä. reden. Manche Fragen lassen sich einfach nicht mehr beantworten, zum Beispiel: Haben die Frauen die Wächter noch angetroffen?8 Im Blick auf V. 11-15 neigen wir dazu, diese Frage zu verneinen, weil es sonst die Diebstahlslegende viel schwerer gehabt hätte. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass jene Ereignisse die menschliche Vorstellungskraft sprengten. Wir besitzen nur Erinnerungsfetzen und keine Auferstehungschronik mit Tabellen und Querverweisen. Dafür sind diese „Erinnerungsfetzen“ echt und wahrhaftig. 5 6 7 8

Vgl. Zahn 719. Zahn a.a.O. BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ; BGS. So Zahn 719; Luz IV 403; Fiedler 424.

674

Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

Was die Evangelisten schreiben, stimmt. Es gehört zu den Großtaten der frühesten Kirche, dass sie ihre Auferstehungsbotschaft noch nicht legendarisch angereichert hat.

IV Zusammenfassung 1. Mt 28,2-4 schildert das, was Menschen an jenem Sonntagmorgen zuerst wahrnahmen. Durch ein Erdbeben, das mit dem Kommen eines Engels verbunden ist, wird der Verschlussstein vor dem Grab Jesu zur Seite gerückt. Das Grab ist jetzt offen. Der Engel bleibt, bis die Frauen seine Botschaft empfangen haben. 2. Die römischen Wachsoldaten erleben das Übernatürliche jenes Vorgangs. Aber weil sie aus Furcht erstarren und das Bewusstsein verlieren, können sie keine Einzelheiten wahrnehmen. Nur so viel steht für sie fest: Ein Wunder hat sich ereignet, das Grab ist offen und der Leichnam wohl weg.

3. Die Engelbotschaft an die Frauen, 28,5-8 I Übersetzung 5 Aber der Engel begann zu reden und sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Denn ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. 6 Er ist nicht hier. Denn er ist auferstanden, wie er es gesagt hat. Kommt her und seht die Stelle, wo er gelegen hat! 7 Und geht rasch und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er geht vor euch her nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. 8 Und sie gingen rasch weg vom Grab mit Furcht und großer Freude, und liefen, um seinen Jüngern die Botschaft zu verkünden.

II Struktur Die Engelbotschaft ist verhältnismäßig lang (V. 5-7). Aber auch im Danielbuch und bei Hesekiel (Kap. 40ff ) sind die Engelbotschaften lang, erst recht in der Johannesoffenbarung. In Mt 28,5-8 spielen die römischen Wachsoldaten keine Rolle mehr. Nur die Frauen und der Engel sind von Belang. Auch in Mk 16 und Lk 24 begegnen ähnliche Engelbotschaften. Am Wenigsten treten sie in Joh 20 in Erscheinung, doch vgl. Joh 20,12f. Man kann also nicht feststellen, dass in der frühesten Kirche die Rolle der Engel bei der Auferstehungsbotschaft zugenommen hat.

3. Die Engelbotschaft an die Frauen, 28,5-8

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Mehr und mehr drängt sich jetzt die Frage auf: Was ist denn mit dem Auferstehungsvorgang selbst? Wo wird die Auferstehung Jesu beschrieben? Antwort: Wir haben nur die Einschlagtrichter dieses Vorgangs und die späteren Konsequenzen. Die Details, wie, warum, wodurch Jesus aus dem Totenreich zurückkam und das Grab verließ, bleiben ungesagt.

III Einzelexegese Aber der Engel begann zu reden, V. 5: Es ist der in V. 2-4 erwähnte Engel. ἀποκρίνειν [apokrinein] muss hier mit „das Wort ergreifen“, zu reden beginnen übersetzt werden, weil ja zuvor noch kein Gespräch stattgefunden hat. Fürchtet euch nicht! hören wir häufig bei Offenbarungsbegegnungen (Gen 15,1; Dan 10,19; Mt 14,27; 17.7; Lk 1,13 usw.). Stutzig macht hier das betonte ὑμεῖς [hymeis]. Zahn zog daraus den Schluss, dass der Engel im Gegensatz zu den Wächtern nur den Frauen die Furcht nehmen wollte.1 Aber das ist wohl eine Überinterpretation. Unseres Erachtens sind die Wächter gar nicht mehr am Grab. Der Sinn ist dann vielmehr: „Gerade ihr furchtsamen, sorgenvollen Frauen sollt euch nicht mehr fürchten! Denn ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht: Längst vor Paulus (1Kor 2,2) spricht der Engel von Jesus, dem Gekreuzigten (Ἰησοῦς ἐσταυρωμένος [Iēsous estaurōmenos]). Im Unterschied zum Koran (Sure 2 und 4) kennen wir Jesus nur als den Gekreuzigten. Überraschend ist die Personalisierung, die der Engel vollzieht. In V. 1 war als Zweck des Ganges zum Grab ganz allgemein angegeben: „um nach dem Grab zu sehen“. Der Engel aber deckt die Motive in ihrer Wurzel auf: Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Das heißt zugleich: „Bis zu diesem Augenblick ist er für euch ein Toter.“ Übrigens wird er Jesus der Gekreuzigte bis in alle Ewigkeit bleiben (Offb 1,18; 5,6; 22,3). Das Folgende drückt der Engel in der nüchternsten Sprache aus, die man sich denken kann: Er ist nicht hier (V. 6). Bis zu diesem Punkt sind sich alle vier einig: Christen, Heiden, Juden, Muslime. Es blieb der „modernen Theologie“ des Westens vorbehalten, ein Grab in die Diskussion einzuführen, das angeblich mit einem vermodernden Leichnam gefüllt war. Für die gesamte damalige Welt ein Unsinn! Denn er ist auferstanden (ἠγέρθη γάρ [ēgerthē gar]): Hätte der Engel gesagt: „Er wird auferstehen“, dann wären wieder alle vier einig gewesen, Christen, Heiden, Juden, Muslime. Aber die Vergangenheitsform ἠγέρθη [ēgerthē], eigentlich „er wurde auferweckt“, ändert die Sachlage total. Mit jenem frühen Sonntagmorgen ist die Welt nicht mehr so, wie sie bisher war. Statt der Aufer1 Zahn 719; ähnlich Tasker 272.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

stehungshoffnung ist hier die Auferstehungswirklichkeit eingetreten. Das Passiv bei ἠγέρθη [ēgerthē] ist zweifellos ein Passivum divinum. Also: Gott hat ihn auferweckt. Zusammen mit dem offenen Grab, den zerbrochenen Siegeln, den geflüchteten Wächtern bedeuten die Worte des Engels: Das Grab ist leer, weil Jesus in ein neues Leben ging. Übrigens finden sich die entscheidenden Worte οὐκ ἔστιν ὧδε, ἠγέρθη [ouk estin hōde, ēgerthē] bei allen Synoptikern (Mt 28,6; Mk 16,6; Lk 24,6). Der Engel fügt hinzu: wie er es gesagt hat. Das ist ein ausdrücklicher Rückverweis auf die Auferstehungsweissagungen im Matthäusevangelium (16,21; 17,23; 20,19). Im Folgenden unterstreicht der Engel den leiblichen Aspekt der Auferstehung: Kommt her und seht die Stelle (τὸν τόπον [ton topon]), wo er gelegen hat! Die Auferstehung hat hier sogar so etwas wie eine „Topografie“. Dreierlei macht uns an diesem Punkt nachdenklich. Das Erste ist der unbeschreibliche Respekt, der in den zwei griech. Worten καθὼς εἶπεν [kathōs eipen] (wie er es gesagt hat) liegt. Was Jesus sagt, erfüllt sich mit völliger Gewissheit, so wie jedes andere Wort Gottes (Ps 33,4; Jes 40,8; Mt 5,17ff; Joh 17,17). Der schwankende Umgang der heutigen Theologie mit den Worten Jesu ist der absolute Gegensatz zum Engel. Das Zweite: Es gibt hier keinerlei Scheu vor der Leiblichkeit. Der alte Leib vergeht. Der Auferstandene empfängt einen neuen Leib. Offensichtlich entspricht dieser Vorgang dem, was Jesus nach Joh 5,28f sagte: „alle, die in den Gräbern sind, werden hervorgehen … (πάντες οἱ ἐν τοῖς μνημείοις … ἐκπορεύσονται [ pantes hoi en tois mnēmeiois … ekporeusontai]).“ Ganz realistisch hat es sich Luther gedacht: „Die Christen glauben, … dass unsere Leiber nach diesem Leben aus dem Tode, Grabe und Verwesung auffahren und schweben werden bei dem Herrn Christus.“2 Das Dritte ist die Überlegung: Was haben die Frauen nach der Aufforderung Kommt her und seht … usw. gemacht? Nach Mk 16,5; Lk 24,3 gingen sie tatsächlich in das Grab hinein. Matthäus schreibt darüber nichts. Sollen wir annehmen, dass er davon nichts wusste oder dass er den Bericht darüber für falsch hielt? Wie V. 16 zeigt, haben sie ihren Auftrag ausgerichtet (vgl. V. 7). Demnach haben sie auch die Aufforderung Kommt und seht befolgt. Insgesamt muss man aus der Art der Darstellung bei Matthäus den Schluss ziehen, dass er sehr vieles auslässt. Ein argumentum e silentio entfällt also praktisch in diesem Abschnitt. Matthäus fügt sofort den Auftrag an die Frauen hinzu: Und geht rasch und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten (V. 7). Rasch (ταχύ [tachy]) also soll es geschehen, das heißt, ohne weitere Diskussionen in

2 WA 41, 81,21ff.

3. Die Engelbotschaft an die Frauen, 28,5-8

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ihrem Kreis und ohne Aufsuchen jüdischer oder römischer Stellen. Es meldet sich hier schon ein Grundzug apostolischer Predigt: Ohne Zögern soll die Auferstehungsbotschaft weitergegeben werden (vgl. Gal 1.16f ). Die Ersten, die es erfahren sollen, sind seine Jünger.3 Mit größter Selbstverständlichkeit rechnet der Engel mit dem Fortbestehen der Jüngerschaft. Unsere oft so kläglichen Beschreibungen von der „vollständigen Zerstreuung“ der Jünger durch die Kreuzigung müssen von daher korrigiert werden. Wenn die Frauen das Geschehene den Jüngern mitteilen wollen, müssen sie auch ganz praktisch wissen, in welchem Hause sie sie antreffen (vgl. Joh 20,2.19.26; Apg 1,18; 12,12). Inhalt der Botschaft ist zunächst: Er ist auferstanden von den Toten (ἠγέρθη ἀπὸ τῶν νεκρῶν [ēgerthē apo tōn nekrōn]). Das wird das Zentrum der christlichen Predigt. Einzelheiten werden hier nicht erzählt, aber selbstverständlich das mit den eigenen Augen Geschaute: Der weggewälzte Verschlussstein, die zerbrochenen Siegel, das leere Grab, die Erscheinung des Engels, das Verschwundensein der Wächter. Aber die Frauen bringen nicht nur die Auferstehungsbotschaft mit. Der Engel kündigt zugleich an, was in unmittelbarer Zukunft geschehen soll: Siehe, er geht vor euch her nach Galiläa. Auch darin bestätigt sich ein Jesuswort (Mt 26,32). Er geht vor euch her: Erneut wird die Leiblichkeit des Auferstandenen vorausgesetzt. Offenbar erfüllt sich ein zweites Mal Jes 8,23–9,1 an Galiläa: „Das Galiläa der Heiden (der Völker) sieht ein großes Licht“ (vgl. Mt 4,1ff ).4 Denn: Dort werdet ihr ihn sehen. Sehen ist hier ein Sehen mit normalen Augen (ὄψεσθε [opsesthe]), keine Vision, kein Traum. Ihn sehen: Als den Auferstandenen, als die neue Person, die den Tod erlitten und hinter sich hat. Mit Siehe, ich habe es euch gesagt bekräftigt der Engel die Wahrheit und Wirklichkeit dessen, was er sagte. Man soll sich später an seine Worte erinnern können. Es ist in der Bibel ein seltener Vorgang, dass gerade Frauen einen solchen Auftrag erhalten. Allerdings fehlen frühere Beispiele nicht völlig, man denke an die Prophetin Hulda in 2Kön 22,14ff oder die Richterin Debora in Ri 4,6ff. Aber jetzt haben mehrere Frauen zusammen als Zeuginnen und Botschafterinnen einen prominenten Platz. Es erfüllt sich jetzt die endzeitliche Verheißung aus Joel 3,1ff, dass „Söhne und Töchter“, also Männer und Frauen, den heiligen Geist empfangen und predigen werden. Nicht umsonst zitiert Petrus in seiner Pfingstpredigt Joel 3 (Apg 2,16ff ).

3 Mk 16,7 erwähnt Petrus besonders. Dass Matthäus den Petrus noch nicht namentlich erwähnt, bedeutet nicht, dass Petrus von den „Jüngern“ ausgeschlossen wäre. 4 Vgl. France 407.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

Rasch (ταχύ [tachy]) gehorchen die Frauen (V. 8). Die Formulierung sie gingen weg vom Grab schließt nicht aus, dass sie vorher tatsächlich ins Innere des Grabes gegangen waren.5 Zwei Pole ihrer Rezeption der Ereignisse und ihres Denkens werden genannt: φόβος [ phobos] und χαρά [chara], Furcht und Freude. Man darf sich nicht wundern, dass Mk 16,8 zwei andere Formulierungen wählt: τρόμος [tromos] und ἔκστασις [ekstasis], „Zittern“ und „Außersichsein“. Markus ist auch sonst der lebhaftere Erzähler. Und wie soll man die Gefühle mehrerer Frauen angesichts der Geschehnisse überhaupt beschreiben? Alle menschlichen Worte sind hier nur Annäherungen an die Wirklichkeit. Die Furcht dominiert wohl immer noch. Doch die Freude über Jesu Auferstehung bricht sich immer mehr Bahn, bis man von großer Freude sprechen kann. Sie eilten. Ja, sie liefen (ἔδραμον [edramon]). Sie treffen tatsächlich seine Jünger und können die Botschaft verkünden (ἀπαγγεῖλαι [apangeilai]). Denn dass sie mit ihrem Vorhaben gescheitert seien, lässt sich aus Mt 28 nicht herauslesen.6 Allerdings begegnete ihnen auf dem Weg noch ein anderes, fundamentales Ereignis (V. 9-10).

IV Zusammenfassung 1. Die Engelbotschaft konzentriert sich auf zweierlei: a) die Aussage von der Auferstehung Jesu (V. 5-6), b) den Auftrag an die Frauen (V. 7). 2. Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass wir im Matthäusevangelium keine Beschreibung des eigentlichen Auferstehungsvorgangs finden. Hier behält Schlatter recht: „Wann und wie Jesus auferstanden ist, beschreibt uns Matthäus nicht; das hat kein Auge gesehen und darum auch keiner der Zeugen Jesu erzählt.“7 3. Stattdessen berichtet Matthäus in seiner nüchternen Sprache von den Spuren des Auferstehungswunders: dem Erdbeben, dem weggewälzten Verschlussstein, den zerbrochenen Siegeln, der Erscheinung des Engels, dem leeren Grab, der Bewusstlosigkeit und dem Verschwundensein der Wächter. Das sind erforschbare und bezeugte Sachverhalte. Die Deutung aber dieser Sachverhalte geschieht zunächst nur durch den Engel: Er ist auferstanden (auferweckt worden). 4. In der modernen historisch-kritischen Exegese führte das Auseinanderreißen von Faktum und Deutung zu einer Reihe von Fehlinterpretationen. Bekannt wurde Bultmanns Formel, Jesus sei „ins Kerygma auferstanden“.8 Was 5 6 7 8

Anders Luz IV 405. Anders Beare 542. Schlatter 120. Vgl. dazu Theißen-Merz 416ff.

4. Die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus, 28,9-10

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das sein sollte, blieb unklar. Weil nur das Kerygma, die Verkündigung, als tragfähig für den Glauben betrachtet wurde, ging man mit den Fakten sehr skeptisch um. Eine Spitze der Skepsis war erreicht, als man das leere Grab zur puren, apologetischen Legende erklärte (H. Graß; G. Lüdemann); Jesus sollte in einem unbekannten Grab verscharrt und vermodert sein.9 Damit verloren die Auferstehungsberichte der Evangelien ihren historischen Wert. Die daraus folgende Kerygma-Theologie hat eine seltsame Nähe zur islamischen Theologie (Sure 2 und 4). Eine solche Interpretation der Evangelien erscheint uns als unmöglich. 5. Religionsgeschichtlich ist heute klar, dass wir die Auferstehungsberichte der Evangelien in enger Verbindung mit dem alttestamentlichen und jüdischen Auferstehungsglauben verstehen müssen, dokumentiert etwa in den Propheten (Jes 26,19; Dan 12,2f ), den Psalmen (16,10; 73,24), den Apokryphen (2Makk 4; 7), der frühjüdischen Literatur (äthHen Kap. 60ff ), in Qumran (1QS III, 19ff ) und in der Mischna (Sanh XI, 1). Die früher beliebten hellenistischorientalischen Parallelen sind heute weithin in Abgang gekommen. 6. Gerade in diesem Rahmen ist wertzulegen auf die leibliche Realität der Auferstehung. „Für den palästinischen Juden pharisäischer Prägung … war die Auferstehung nicht anders vorstellbar als als leibliche Auferstehung aus dem Grabe.“10 Ein den Beteiligten bekanntes Grab in Jerusalem in dem noch der Leichnam lag, hätte jeden Auferstehungsglauben und jede Auferstehungsverkündigung verhindert. Deshalb halten wir es im Gegensatz zu Luz durchaus nicht für „sachgemäß, wenn moderne Ausleger betonen, daß die Verkündigung, d.h. das Wort des Engels, und nicht das ‚Faktum‘ des leeren Grabes der tragende Grund des Auferstehungsglaubens sei“.11 Hier wird zerrissen, was zusammengehört.

4. Die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus, 28,9-10 I Übersetzung 9 Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sagte: Seid gegrüßt! Sie aber traten auf ihn zu, umklammerten seine Füße und fielen vor ihm nieder. 9 Vgl. wieder Theißen-Merz a.a.O. sowie S. 423f. 10 Hengel-Schwemer 630. 11 Luz IV 405.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

10 Darauf sagt Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht, verkündet meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen sollen, und dort werden sie mich sehen.

II Struktur Mt 28,9-10 ist Sondergut. Es gibt zwar manche Berührungen mit Joh 20,1418, aber eine richtige Parallele ist das nicht. Mehr und mehr stehen wir vor der Erkenntnis, dass die Auferstehungsberichte der Evangelien selektiv sind. Nur kleine Teile einer reicheren Überlieferung wurden aufgenommen (Joh 21,25). Deshalb lässt sich keine Synopse der Auferstehungsberichte erstellen. Siehe auch 1Kor 15,1ff. Gerade in Mt 28,9-10 fällt die Kürze der Darstellung auf. Welche Fülle an Traditions- und Erzählmotiven steckt in diesen Versen, die sich für Legenden bis hin zu religiösen Romanen verwerten ließen! Doch Matthäus verwirft alle diese Möglichkeiten, um sich vor allem auf die Worte Jesu zu konzentrieren.

III Einzelexegese Der Anfang von Vers 9 Und siehe weist auf ein neues Ereignis hin. In der Schilderung dieses Ereignisses gebraucht Matthäus ganze drei Worte: Ἰησοῦς ὑπήντησεν αὐταῖς [Iēsous hypēntēsen autais], Jesus begegnete ihnen. Doch ist der Vorgang grundstürzend. Engelerscheinung, Engelbotschaft, Erdbebenreste – das alles wird nun abgelöst durch Jesus selbst. Der Stil der Erzählung ist so, als würde das alles irgendwo oben in Galiläa in den alten Tagen Jesu spielen. Alle Visionshypothesen, die objektiven wie die subjektiven, scheitern im Grunde an dieser einfachen Darstellung: Jesus begegnete ihnen und sagte. Luz traf die merkwürdige Feststellung: „Der Evangelist Matthäus hat noch keine Überlegungen über die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu angestellt.“1 Woher will er das wissen? Was man allerdings klar sagen kann: Matthäus hat die Begegnungen mit dem Auferstandenen als wirkliche Vorgänge in seiner und unserer Welt dargestellt. Gerade dann aber, wenn die Auferstehung Jesu für ihn real war, wenn sie Israels Auferstehungshoffnungen erfüllte und die Prophetie Jesu legitimierte, entsteht die Frage: Warum hat Matthäus das alles so schlicht, so knapp erzählt? Jesus gibt hier keinerlei Erklärungen. Er selbst ist die Erklärung. Sein Gruß (χαίρετε [chairete]) klingt eher alltäglich (vgl. Mt 26,49; 27,29; Lk 1,28; 2Joh 10f ).2 Das umklammern seiner Füße ist ein 1 Luz IV 414. 2 Weshalb Matthäus den Gruß auf Griechisch bringt, können wir nicht erklären. Einen „Friedens-Gruß“ hätte er wohl anders wiedergegeben (vgl. Joh 20,19). Sprach damals ein gro-

4. Die Begegnung der Frauen mit dem auferstandenen Jesus, 28,9-10

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Gestus der Huldigung und ein Ausdruck der Bitte, er möge bei ihnen bleiben. Erst recht drückt das προσκυνεῖν [ proskynein] „niederkniend huldigen“, „verehren“, „anbeten“, die Huldigung, ja sogar göttliche Verehrung, aus.3 Einen Wunsch der Frauen berichtet Matthäus nicht (vgl. auch Joh 20,16f ). Die schlichte Jerusalemer Erzählung sie umklammerten seine Füße unterscheidet die Auferstehungsbotschaft der Christen von aller sonstigen Spiritualität. Vers 10 berichtet uns die Worte, die Jesus nach der Erinnerung der Frauen an sie richtete: Fürchtet euch nicht! Noch immer lebt die Furcht vor dem Tremendum und Fascinosum der Offenbarung in den Frauen (vgl. V. 5). Es folgen zwei unverbundene Imperative: Geht! Verkündet! Der Auftrag zu verkünden (ἀπαγγέλειν [apangelein]) aus V. 7f wird also verstärkt durch die Wiederholung. Aber nun kommt eine Überraschung. Jesus will, dass sie die Botschaft seinen Brüdern überbringen. Die Brüder können hier niemand anderes sein als seine Jünger (meine Brüder). Jesu Brüder sind sie schon nach Mt 12,49f. Offenbar geht dieser Sprachgebrauch auf Ps 22 (V. 23ff ) zurück,4 einen der Leidenspsalmen, den Jesus am Kreuz laut gebetet hat. Es bestätigt sich also zweierlei: Unsere Deutung des Gleichnisses vom Weltgericht in Mt 25,31ff, wonach die „geringsten Brüder“ die Jünger Jesu bezeichnen, und die Auffassung, wonach Jesu Gebet am Kreuz den ganzen Ps 22 und nicht nur dessen 2. Vers meint. Die Tiefe der Bezeichnung Brüder wird dann in Hebr 2,11ff erkennbar, aber auch in Röm 8,29. Siehe auch noch Joh 20,17. Was sollen sie seinen Brüdern sagen? Dass sie nach Galiläa gehen sollen, und dort werden sie mich sehen. Wenn manche Ausleger enttäuscht feststellen, dass dies ja nur eine Wiederholung der Engelbotschaft von V. 7 sei,5 dann übersehen sie den entscheidenden Punkt: Es ist jetzt Jesu, des Auferstandenen, Auftrag, den sie überbringen, nicht „nur“ ein Engelwort. Jesus, der Herr, befiehlt, und seine Jünger gehorchen ihm: Das ist die bleibende Struktur der entstehenden Kirche. Die Spuren dieser Struktur führen bis zur ersten These der Barmer Erklärung: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Halten wir noch fest: Matthäus ist ganz stark interessiert an der Galiläa-Begegnung mit dem Auferstandenen (vgl. V. 7.16). Sodann ist es nach den Worten Jesu sicher, dass sie ihn dort sehen werden. Wieder gilt es zu beachten, dass man aus Mt 28,10 ßer Teil der Jesus-Jünger in Jerusalem griechisch (vgl. Offb 6,1ff; 6,9ff )? Strack-Billerbeck I 1054 weisen jedoch darauf hin, dass χαῖρε = ‫ ֵכֵּרא‬auch bei den Rabbinen begegnet. 3 Vgl. Gundry 591; Luz IV 418; Schniewind 277. 4 Ebenso Gundry 591. 5 So Beare 542; Sand 591.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

keinen exklusiven Sinn herauslesen darf. Matthäus will ja nicht sagen, dass man dem Auferstandenen ab jetzt nur noch in Galiläa begegnen kann. Er schließt andere Begegnungen, wie in Jerusalem oder Emmaus, ja nicht aus. Was er tut, ist nur dies: Er wählt wie alle anderen Evangelisten exemplarisch aus. Siehe auch 1Kor 15,4ff.6

IV Zusammenfassung 1. Selten einmal begegnet Glanz und Elend der kritischen Exegese in solcher Verdichtung wie bei den Auferstehungsberichten. Wobei klar zu sagen ist, dass hier das Elend überwiegt. Schon dass die These von Reimarus, die aus der jüdischen Erklärung von Mt 28,13 eine wahre Geschichte macht und den Diebstahl des Leichnams Jesu durch die Jünger annimmt,7 in die protestantische Theologie Eingang fand, ist erstaunlich. Sodann wimmelt es in der neueren kritischen Exegese von Annahmen, die Berichte der Evangelisten seien aus „apologetischem“ Bemühen zu erklären,8 sie seien „eine ganz sekundäre Bildung“,9 Legende, insbesondere bei Matthäus und Lukas sei „die Legende schon weiter fortgeschritten“.10 Speziell Mt 28,9f entstamme einem „traditionsgeschichtlich späten Bemühen“.11 Die Sprache des Matthäus ist aber eine völlig andere als in solchen kritischen Beurteilungen vorausgesetzt. Sie ist schlicht, eher zurückhaltend, an den wahrnehmbaren Tatsachen orientiert, weder visionär noch ekstatisch. 2. Die Frauen werden durch Jesus selbst als Zeuginnen und Botschafterinnen der Auferstehung eingesetzt. Das ist eine wesentliche Grundlage für die Ehrung der Frau in der christlichen Gemeinde, auch für ihre spätere Beteiligung an vielen Diensten in der Gemeinde. 3. Dass die Jünger hier Brüder Jesu genannt werden, zeigt ein Doppeltes: a) Seine Gemeinde besteht trotz Flucht und Verleugnung durch seine Jünger weiter; b) ihre endzeitliche Würde ist es, als „Brüder“ des Gottessohnes in das ewige Gottesreich einzugehen. 4. Letzte Klarheit über die Auferstehung bringt nur Jesus selbst. Die Begegnung mit dem Auferstandenen wird das Grunddatum der Gemeinde des Neuen Bundes.

6 7 8 9 10 11

Ebenso Carson 589f. Vgl. Hirsch IV 150f; Luz IV 411ff; Theißen-Merz 415. So Fiedler 426. Vgl. Theißen-Merz 418.422. So Bultmann, Gesch, 308. Bultmann, Gesch, 309. Theißen-Merz 435.

5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15

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5. Auffallend bei dieser ersten Begegnung mit Jesus in Mt 28,9f ist das völlige Fehlen einer Beschreibung des Auferstandenen. Das Umfassen der Füße lässt zwar seine Leiblichkeit ahnen, mehr aber nicht. Was für ein Unterschied etwa zur Beschreibung des Auferstandenen in Offb 1,10ff! Aber auch Apg 9,3ff; 22,6ff und 26,12ff sind reichhaltiger. Die Feststellung einer nüchternen Zurückhaltung in Mt 28,9f kann die Annahme der Historizität nur unterstützen.12

5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15 I Übersetzung 11 Während sie aber auf dem Wege waren, siehe, da kamen einige von der Wache in die Stadt und meldeten den Hohenpriestern alles, was geschehen war. 12 Und sie versammelten sich mit den Ältesten und fassten folgenden Beschluss: Sie gaben den Soldaten eine ausreichende Geldsumme, 13 und sagten: Sagt: Seine Jünger kamen in der Nacht und stahlen ihn, während wir schliefen. 14 Und wenn das dem Statthalter zu Ohren kommt, werden wir ihn beschwichtigen und dafür sorgen, dass ihr unbesorgt sein könnt. 15 Die aber nahmen das Geld und taten, wie sie instruiert worden waren. Und dieses Gerücht verbreitete sich bei den Juden bis auf den heutigen Tag.

II Struktur Der Abschnitt Mt 28,11-15 gehört zum Sondergut des Evangeliums. Vermutlich hat ihn Matthäus deshalb aufgenommen, weil er und seine Gemeinde noch im Israelland bzw. im Verband der Synagoge lebten. Aus schriftstellerischen Gründen war er nicht notwendig, denn V. 16 hätte bestens an V. 10 angeschlossen. Außerdem war es nicht notwendig, das weitere Schicksal der Wache zu schildern. Wieder erzählt Matthäus so knapp wie möglich. Beispielsweise erfahren wir nicht, was und wie viel von den Ereignissen am Grabe zur Kenntnis des Pilatus gelangte. Mt 28,11-15 hat drei Teile: 1) Die Wache informiert den Hohen Rat (V. 11), 2) der Hohe Rat trifft seine Maßnahmen (V. 12-14), 3) das Ergebnis dieser Maßnahmen (V. 15). 12 Vorsichtig plädieren auch Hengel-Schwemer 648 in diese Richtung.

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III Einzelexegese Während sie aber auf dem Wege waren (V. 11) bezieht sich auf die Frauen. Man muss diese Bemerkung wohl in einem weiteren Sinne verstehen: als Weg zur Gemeinschaft der Jünger (in einem Haus?), als Übermittlung des Auftrags von V. 7.10 usw. Matthäus kommt es offenbar nur darauf an, jetzt zu erzählen, was auf der „Gegenseite“ geschah. Als Erstes bemerkt er dazu, dass einige von der Wache in die Stadt kamen. Die Grabanlage war ja außerhalb der damaligen Stadtmauer. Deshalb mussten sie erst mal in die Stadt hinein. Dass er nur einige (τίνες [tines]) erwähnt, bedeutet, dass nicht die ganze Wache jetzt zum Hohen Rat marschiert. Das hätte nur unliebsames Aufsehen erregt. Vielmehr wurden zwei oder drei Soldaten abgeordnet, vielleicht der Kommandeur der kleinen Abteilung und ein weiterer Begleiter. Das Nächste: Sie meldeten den Hohenpriestern alles, was geschehen war. Die Hohenpriester stehen für den Hohen Rat. Wo sie die Hohenpriester trafen (Im Tempel? Im Kajaphas-Palast?), wird nicht gesagt. Da der Hohe Rat die Wache erbeten und erhalten hatte, war es legal, dass sie jetzt den Hohen Rat aufsuchten. Juristisch wäre auch Pilatus zuständig gewesen. Aber ihm mit einer Meldung zu kommen, dass das Grab leer sei, hätte sie das Leben kosten können (vgl. Apg 12,19; 16,27). Alles, was geschehen war (ἅπαντα τὰ γενόμενα [hapanta ta genomena]): Hier mussten die Karten auf den Tisch. Und eines war bei allen möglichen Erklärungsversuchen klar: Das Grab war leer. Das war das Faktum, von dem auch Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ausging. Das ist bis heute der Rocher de bronce für Christen wie für Atheisten. Aber nun ist auch die andere Seite zu bedenken: Der Hohe Rat hörte dies alles im Kontext der biblischen Prophetie und der Prophetie Jesu. Wie würde er reagieren? Nach V. 12 versammelten sich die Hohenpriester mit den Ältesten. Das heißt, der Hohe Rat trat zusammen. Vermutlich waren die sadduzäischen Priester der erste Anlaufpunkt für die römischen Soldaten, da deren Residenzen und Amtssitze bekannt waren. Aber Matthäus nennt keinerlei Details über Ort, Zeit oder einzelne Teilnehmer der Zusammenkunft. Wichtig ist ihm nur der Beschluss (συμβούλιον [symboulion]), den sie fassten.1 Gab es eine Minderheit, die dagegen stimmte? Den Beschluss führt er jetzt ausführlich auf: 1) Eine ausreichende Geldsumme (ἀργύρια ἱκανά [argyria hikana]) für die Soldaten. Wie viel oder auf welche Weise ausgehandelt, bleibt ungesagt. Siehe auch das Verfahren bei Judas Mt 26,14ff. Eine Aussage, die man mit Geld erkaufen muss, ist von vornherein fragwürdig. 2) Sagt: Seine Jünger kamen in der Nacht und stahlen ihn, während wir schliefen (V. 13). Das Körnchen 1 Wieder ein Latinismus (consilium capere) wie Mt 22,15; 27,1; 27,7. BDR § 5,3.18.

5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15

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Wahrheit in dieser Aussage ist, dass die Wachsoldaten nach V. 4 tatsächlich „wurden, als wären sie tot“, das heißt bewusstlos wurden. Aber von einem Kommen der Jünger und einem Leichendiebstahl hatten die Soldaten nun einmal nichts bemerkt, sondern nur ein Erdbeben und eine übernatürliche Engelerscheinung und infolgedessen die Öffnung des Grabes. Nach V. 13 müssen allerdings auch die römischen Soldaten festgestellt haben, dass das Grab leer war. Nun sollen sie nicht nur „glauben“, dass Jesu Jünger den Leichnam stahlen, sondern es ausdrücklich so sagen, wo immer es zur Sprache kommt. Man kann das drehen und wenden, wie man will: V. 13 bedeutet eine Verführung zur Lüge. Interessant ist, dass der Hohe Rat in Mt 27,64 mit einem Betrugsmanöver der Jünger gerechnet hatte. Jetzt macht er sich selbst eines solchen Betrugsmanövers schuldig. Wie es innerlich bei den Beteiligten aussah, lässt sich nur spekulativ erahnen. Glaubten tatsächlich manche Ratsmitglieder an einen solchen Leichendiebstahl? Hatten sich auch einige Soldaten nach den vorausgegangenen Turbulenzen selbst eine solche Erklärung zurechtgezimmert? Mischten sich wie so oft in dieser Welt die Motive? Wenn man die heutigen Wirkungen der Medien betrachtet, ist das damalige Verhalten der Beteiligten gut vorstellbar. Ein Punkt blieb für die Soldaten kritisch: der Statthalter, der Präfekt Pilatus. Sie hafteten persönlich für das verschlossene und versiegelte Grab und für den Leichnam, der darin war. Eine unerlaubte Entnahme des Leichnams konnte sie das Leben kosten (Apg 12,19; 16,27). Aber auch dieser Punkt war im Beschluss des Hohen Rats bedacht: Und wenn das dem Statthalter zu Ohren kommt, werden wir ihn beschwichtigen und dafür sorgen, dass ihr unbesorgt (ἀμερίμνους [amerimnous]) sein könnt (V. 14). Hat der Hohe Rat zu viel versprochen, wie Beare meint?2 Kaum. Denn ein Hoher Rat, der Pilatus einen Prozess aufzwingen konnte und ihm eine Grabeswache abrang, konnte auch in einer Sache, die römische Interessen nicht direkt berührte, eine Fürsprache für die Wache einlegen.3 Der Leichnam eines unschuldigen jüdischen Predigers, der wohl zu viel von sich hielt, war für Pilatus wenig interessant. Ob der Hohe Rat auch bei Pilatus mit einer Geldsumme nachhelfen wollte?4 Nach V. 15 hatte die Strategie des Hohen Rates Erfolg. Die Soldaten stimmten der Absprache zu, nahmen das Geld und taten, wie sie instruiert worden waren. ἐδιδάχθησαν [edidachthēsan] haben wir mit sie wurden in2 Beare 543. 3 Ob Pilatus von der Sache je erfuhr, ob er sich je darum kümmerte, bleibt offen. 4 Carson 591; France 410; Fiedler 427. Auch Fiedler weist auf die Bestechlichkeit des Pilatus nach Philo Leg 38.302 hin.

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struiert übersetzt, weil διδάσκειν [didaskein] hier unseres Erachtens nicht mit dem „lehren“ im biblisch-rabbinischen Sinne gleichgesetzt werden darf.5 Luz hat hier überinterpretiert, wenn er an die biblischen „Lehrer“ erinnert und den Hohen Rat zum „Lehrer der Lüge“6 macht. Allerdings setzt der Bericht des Matthäus voraus, dass zweierlei publik wurde: a) die Aussage vom Leichendiebstahl durch die Jünger, b) aber auch die Absprache, die zwischen dem Hohen Rat und der Wache getroffen wurde. Matthäus beendet dieses Geschehen mit dem Satz: Und dieses Gerücht (ὁ λόγος οὗτος [ho logos houtos]) verbreitete sich bei den Juden bis auf den heutigen Tag. Die Wendung ὁ λόγος οὗτος [ho logos houtos] ließe sich ebenso gut übersetzen „diese Sache“ (vgl. das hebr. ‫[ ָדָּבר‬dābār]).7 Zahn macht mit Recht darauf aufmerksam, dass bei Ἰουδαίοις [Ioudaiois] der Artikel fehlt, und Matthäus genau genommen nur sagt, das Gerücht habe sich „bei manchen Juden“ (nicht allen!) verbreitet.8 Die Verbreitung war ja durch innere Unwahrhaftigkeiten gehemmt: Wie konnten die Soldaten wissen, dass es die Jünger waren, die den Leichnam stahlen, wenn sie doch schliefen? Warum wurden die Jünger nicht verfolgt und bestraft? Warum ließ Pilatus die schlafende Wache frei ausgehen? Dennoch machte Matthäus dieses Gerücht bis auf den heutigen Tag zu schaffen.9 Eine ähnliche Bemerkung hat er in 27,8 gebracht. Zusammengenommen legen es diese Bemerkungen nahe, dass Matthäus als Judenchrist noch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft lebt, und dass der Abstand von den Ereignissen noch nicht groß ist. Es bleibt die Frage, weshalb der Hohe Rat nicht ernsthafter auf die Möglichkeit einer Auferstehung Jesu eingegangen ist. Die Frage stellt sich umso mehr, als ja die Pharisäer Verfechter der Auferstehungslehre waren (vgl. Apg 23,6ff ) und im Hohen Rat eine maßgebende Rolle spielten. Im Endeffekt erfüllte sich hier Jesu Prophetie aus Lk 16,31: „sie werden sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand aus den Toten auferstünde“. Im Übrigen bestätigt Justinus Martyr in Dial c Tryph 108,2, dass noch in der Mitte des 2. Jh.s die jüdische Propaganda mit dem Vorwurf arbeitete, Jesu Jünger hätten seinen Leichnam bei Nacht gestohlen (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ κλέψαντες αὐτὸν ἀπὸ τοῦ μνήματος νυκτός [hoi mathētai autou klepsantes auton apo tou mnēmatos nyktos]). 5 Vgl. Bauer-Aland 386 („angewiesen“). Wie wir auch K. H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 141. 6 Luz IV 423. 7 Bauer-Aland 968ff. 8 Zahn 721. Vgl. dazu BDR § 262,1. 9 Ob ἡμέρας ursprünglich ist, ist für den Sachverhalt nicht entscheidend.

5. Die Entstehung der Diebstahlslegende, 28,11-15

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IV Zusammenfassung 1. Matthäus berichtet als Judenchrist von der Entstehung des unter Juden kursierenden Gerüchts, Jesu Jünger hätten seinen Leichnam gestohlen. 2. Er macht dadurch auch kenntlich, was für Christen und Juden der gemeinsame Sachverhalt ist. Nämlich, dass das allseits bekannte Grab Jesu am dritten Tag leer war. 3. Der Umgang der kritischen Exegese mit diesem kurzen Bericht des Matthäus ist teilweise erschreckend. Hermann Samuel Reimarus hatte noch eine verhältnismäßig nachvollziehbare Position: Er hielt das jüdische Gerücht von Mt 28,11-15 für wahr. Es waren die Fakten, an denen er sich orientieren wollte. Deshalb war für Reimarus auch das leere Grab eine geschichtliche Tatsache.10 Heute ist es für die Auslegung weithin unerheblich, ob das Grab leer war. Ja, mithilfe der Visionshypothese entfernt man sich aus dem gesamten Gebiet des Faktischen. Für Gerd Lüdemann etwa ist die subjektive Visionshypothese die Grundlage der Erklärung: „nicht lange nach dem Todesfreitag sah Petrus in einer Vision Jesus lebendig, und dieses Geschehen führte zu einer Kettenreaktion ohnegleichen.“11 Nahe an dieser Erklärungslinie liegen die mancherlei Vorstellungen, die von einem Weiterleben der Ideen Jesu – bei vermoderndem Leichnam in irgendeinem Grab – ausgehen.12 Die Historizität von Mt 28,11-15 wird weithin negativ bewertet: als „apologetische Legende“13 oder „Apologetik“,14 als „Fiktion“,15 als „completely incredible as a whole“,16 mit „Unwahrscheinlichkeit im Einzelnen“17 usf. Manche gehen weiter. So macht Luz Matthäus den „Vorwurf der gewollten und gekonnten Böswilligkeit“.18 Fiedler stimmt ihm zu,19 und geht noch einmal einen Schritt weiter: Matthäus habe 28,11-15 „auf die Verdächtigung hin konzipiert“.20 Wie soll man aber einem Evangelisten glauben, der gegen die historischen Tatsachen Geschichten erfindet, um seinen Gegnern zu schaden? Sind die obigen Vorwürfe gegen Matthäus berechtigt, dann hat sein „Evangelium“ in der Botschaft des Neuen Testaments nichts zu suchen. Man müsste sonst der Anklage 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Hirsch IV, 150f. Lüdemann, Ketzer, 44. Vgl. Theißen-Merz 421f. Vgl. idea Spektrum, 13, 2016, 28. Bultmann, Gesch, 310; Hengel-Schwemer 234f.571. Hengel-Schwemer 642. Luz IV 420. Beare 543. Schniewind 278. Luz IV 426. Fiedler 428,183. Fiedler 427,179.

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des Koran zustimmen: Ein Teil der Christen habe wohl Gottes Wort vernommen, „dann aber mit Absicht verdreht, gegen besseres Wissen, in Kenntnis der Folgen“.21

6. Die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus, 28,16-17 I Übersetzung 16 Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa, zu dem Berg, wohin sie Jesus beschieden hatte.1 17 Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber zweifelten.

II Struktur Zu Mt 28,16-17 gibt es keine Parallele in den Evangelien. Es ist wie V. 11-15 Sondergut. Matthäus berichtet so kurz und unprätentiös, als handle es sich um eine Nebensache.

III Einzelexegese Nach den Berichten über die Erscheinung vor den Frauen und über das Entstehen der Diebstahlslegende kommt Matthäus hier auf einen neuen Kranz von Ereignissen zu sprechen. Mit großer Selbstverständlichkeit formuliert er die (Art.!) elf Jünger (V. 16). Als ob bis dahin nicht allein „die zwölf “ eine feste Größe gewesen wären!2 Aber jetzt ist Judas endgültig aus dem Apostelkreis ausgeschieden. Doch versteckt sich in der Formulierung die elf Jünger ein großes Wunder: Der Apostelkreis ist also bis auf Judas nahtlos zusammengeblieben! Die bis in die Kinderkirche hinein verbreiteten Romane vom „zersprengten“ Jüngerkreis müssen also von der Exegese korrigiert werden. Stattdessen war es so, dass die Elf in einem bestimmten Haus, evtl. auch zwei oder drei Häusern, anzutreffen waren und dort zusammenkamen (vgl. Mt 28,7f.10; Lk 24,9ff.31ff.36ff.52; Joh 20,2ff.18.19ff.24ff; Apg 1,6.12ff ). Als zweites Wunder zeigt sich in V. 16 die fast selbstverständliche Bereitschaft, dem auferstandenen Jesus ge21 Sure 2,76. 1 Vgl. Bauer-Aland 1193; BDR § 103,3; 316,3. 2 Vgl. Hengel-Schwemer 632f.

6. Die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus, 28,16-17

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nauso zu gehorchen wie dem irdischen vor der Kreuzigung. Wie es ihnen Jesus bestimmt hatte (ἐτάξατο αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς [etaxato autois ho Iēsous]), so handeln sie. Auf dem Boden einer Visionshypothese, wie sie etwa Lüdemann vertritt,3 wäre das alles kaum vorstellbar. Wer von einer Visionshypothese ausgeht, muss vielmehr alle Auferstehungsberichte neu erfinden. Das Ziel der elf Jünger ist Galiläa.4 Damit kommt die Galiläa-Thematik noch einmal ganz stark ins Matthäusevangelium. Ähnlich stark ist sie im Johannesevangelium (21,1ff ), nicht aber bei Lukas. Von Markus können wir nichts sagen, weil uns der ursprüngliche Markus-Schluss vermutlich fehlt. Aber bei Matthäus war Galiläa von Anfang an betont und durch ein langes Schriftzitat aus Jes 8,23f ausgezeichnet (vgl. Mt 2,22f; 3,13; 4,12ff.18ff.23.25; 11,20ff; 19,1; 26,12; 28,7.16ff ). Wir vermuteten sogar, dass Matthäus ein Galiläer war. Galiläa ist nicht das „Fluchtland“,5 sondern die Heimat Jesu – trotz der Geburt in Bethlehem. Es ist das Land, in dem er ca. 30 Jahre lebte, als Zimmermann arbeitete, predigte, heilte und seine Gemeinde baute. Es ist der historische Ausgangsort des Christentums. Dort lässt ihn Matthäus seine letzten Evangelien-Worte sprechen. Geheimnisvoll ist der Berg (ὄρος [oros]), wohin sie Jesus beschieden hatte.6 Von ihm war bisher nicht die Rede – ein neuer Beweis für die Knappheit des Matthäus, der mehr wusste als er niederschrieb.7 Aber auch bei der Bergpredigt (Mt 5,1), beim Versuchungsberg (Mt 4,8) und beim Verklärungsberg (Mt 17,1) hat Matthäus den Namen nicht genannt. Will er keine „Konkurrenz“ zum Zionsberg oder zum Garizim (vgl. Joh 4,20f ) begründen?8 Positiv ist klar: So bedeutsam, wie die Bergpredigt war, soll auch das letzte Vermächtnis Jesu in Galiläa, der Missionsbefehl, sein.9 Matthäus hat eine seltsame Art, Hauptsachen in Partizipial-Nebensätze zu verpacken (vgl. 27,35 Σταυρώσαντες δὲ αὐτόν … [Staurōsantes de auton …]). So auch jetzt wieder: καὶ ἰδόντες αὐτόν [kai idontes auton], V. 17. Welche Legenden, welche Romane hätten andere aus dem Und als sie ihn sahen gemacht! Halten wir nüchtern fest: Sehen (ἰδόντες [idontes]!) hat hier keinerlei visionären, sondern einen sehr nüchternen Sinn. Ihn: Jesus war also identifizierbar. Seine Erscheinung muss deutlich unterschieden werden von jener auf 3 4 5 6 7 8

Lüdemann a.a.O. Vgl. Hengel-Schwemer 645. So Luz IV 437. Vgl. dagegen Fiedler 429. Vgl. Luz IV 437f. Schlatter 422. Dalman 137f kann sich den Berg „am ehesten …. am See“ Genezareth vorstellen, erwägt 168 aber auch den Tabor. 9 Vgl. Fiedler 429.

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dem Verklärungsberg (17,2: μετεμορφώθη … ἔλαμψεν [metemorphōthē … elampsen]). Keinerlei Beschreibung erinnert an Mt 17,1ff; Apg 1,9f; 7,55f; Offb 1,10ff. Dennoch: sie fielen vor ihm nieder (προσεκύνησαν [ prosekynēsan]). Das ist die Huldigung vor seiner Gottheit. Ob nun hier ursprünglich nur προσεκύνησαν [ prosekynēsan] stand,10 oder ein προσεκύνησαν αὐτῷ [ prosekynēsan autō]: Die Huldigung gehört dem Auferstandenen. Jetzt, eher indirekt, geht es also um die Begegnung mit dem Auferstandenen selbst. Sparsam aber bleiben alle Beschreibungsmöglichkeiten. Ihn sehen – vor ihm niederfallen: Das ist alles, was Matthäus hier sagt. Der Auferstandene ist demnach leibhaft, im Aussehen identifizierbar, mit normalen Augen sichtbar, mit normalen Ohren hörbar. Einige11 aber zweifelten (οἱ δὲ ἐδίστασαν [hoi de edistasan]). Kein Evangelist, der über die Auferstehung unsicher gewesen wäre, hätte diesen Satz geschrieben. διστάζειν [distazein] ist ein typisch matthäisches Wort. Siehe auch die andere Formulierung bei Jak 1,6ff und Mk 11,23. Was ist der Inhalt dieser Aussage? In Mt 14,31 war Petrus der Zweifler. Diese Beobachtung verbietet es uns, in Mt 28,17 solche Zweifler zu sehen, die sich endgültig vom Glauben an den Auferstandenen getrennt haben. Besser ist es anzunehmen, dass damals auf dem Berg in Galiläa Offenheit herrschte, die Auferstehung Jesu wahrzunehmen oder nicht. So wie im Fall der römischen Wache, im Fall des Hohen Rats (vgl. Mt 12,38ff; 16,4ff ) eine solche Offenheit von Gott her gegeben war. Niemand „musste“ an die Auferstehung glauben. Gott gab die Offenheit, und die Evangelisten haben sie respektiert.12 Verfolgt man diese Linie weiter, dann stößt man auf ein breites Band von Zweifeln, Schwierigkeiten, an die Auferstehung zu glauben.13 Gerade dieser Sachverhalt zeigt, 1) wie die Jünger mit dem Wunder der Auferstehung umgingen, nämlich nicht im Wege einer Sakrosankt-Erklärung, sondern eines Glaubens ohne jeden Zwang, 2) wie die Überzeugung von der Auferstehung Jesu so tief war, dass sie noch alle Zweifel notieren konnte.14 Historisch liegt es nahe, die Begegnung des Auferstandenen mit ungezählten Jüngern in Galiläa gleichzusetzen mit der Erscheinung „vor mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal“ nach 1Kor 15,6.15 Jedenfalls lässt die ungefähre Angabe des Berges wie in Mt 10 11 12 13 14 15

So wohl mit Recht Nestle-Aland 28. Dass „alle“ zweifelten (so Fiedler 429), sagt Matthäus gerade nicht. Vgl. Fiedler 429. Mt 28,17; Mk 16,11.13; Lk 24,37.41; Joh 20,25. Vgl. Hengel-Schwemer 642. Vgl. Hengel-Schwemer 645; Schlatter 422. Falsch jedenfalls Luz IV 438: „Die Zweifelnden können nicht andere als die Elf sein.“ Warum nicht? Wie bei der Bergpredigt (Mt

7. Die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl, 28,18-20

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5,1ff die Möglichkeit offen, sich die Elf um weitere Personen ergänzt zu denken.

IV Zusammenfassung 1. Mt 28,16-17 ist der zweite Bericht, den uns Matthäus von einer Begegnung mit dem Auferstandenen gibt. Der erste stand in V. 9-10 und betraf die Frauen. Der zweite betrifft jetzt die Elf und evtl. weitere Personen. Mit den zwei Begegnungen ist dem Zeugenrecht des AT (Deut 19,15) Genüge getan. 2. Erneut frappiert die Zurückhaltung, mit der Matthäus das weltgeschichtliche Ereignis der Auferstehung beschreibt. Auch die anfänglichen Zweifel werden erwähnt. 3. An der Tatsache der leibhaftigen Auferstehung aber ist letzten Endes nicht mehr zu zweifeln. 4. Natürlich will Matthäus nicht sagen, dass es nur die beiden von ihm erwähnten Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus gegeben habe.16 Er hat, wie andere auch, lediglich eine Auswahl aus einer reichen Überlieferung getroffen.

7. Die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl, 28,18-20 I Übersetzung 18 Und Jesus trat heran, redete mit ihnen und sagte: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. 19 Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, 20 indem ihr sie lehrt zu halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Äons.

II Struktur Der Zusammenhang mit den beiden vorausgehenden Versen ist so eng, dass man Mt 28,16-20 berechtigterweise zu einem einzigen Abschnitt zusammennehmen kann. 5,1ff ) sind offensichtlich nicht nur die Apostel anwesend, sondern auch andere. Das ist beim Verständnis von „einige“ zu beachten. Vgl. Carson 593. 16 Richtig Zahn 721f.

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Die Auferstehung Jesu, 28,1-20

Ähnliche Evangelienschlüsse finden sich in allen Evangelien.1 Aber eine direkte Parallele zu Mt 28,18-20 gibt es wiederum nicht. Mt 28,18-20 hat eine feierliche Einleitung (V. 18a). Dann folgt eine Grundsatzerklärung Jesu (V. 18b), darauf der Große Missionsbefehl (V. 19-20a), und schließlich ein Verheißungswort (V. 20b). Weiteres bringt Matthäus nicht. Wie schon die Länge der Ausführungen zeigt, liegt das Schwergewicht auf dem Großen Missionsbefehl. Grundsatzerklärung und Verheißungswort flankieren ihn. Hier, beim Missionsbefehl, schlägt also das Herz des Matthäus in besonderer Weise.

III Einzelexegese Statt des erwarteten δέ [de] leitet ein καί [kai] den 18. Vers ein. Das verknüpft V. 17 aufs Engste mit V. 18. Wenn wir hier lesen καὶ προσελθὼν ὁ Ἰησοῦς [kai proselthōn ho Iēsous], spürt man förmlich, wie jetzt die Blicke und Gedanken aller auf Jesus konzentriert werden. Die Wendung er trat heran bezieht sich nicht auf ein Geistwesen, sondern auf eine leibhaftige, identifizierbare Gestalt, die sich jetzt den Jüngern noch mehr näherte. Erstaunlich bleibt, dass sein Aussehen, seine Art zu agieren, auch jetzt nicht beschrieben wird. Und ebenso erstaunlich bleibt, dass der auferstandene Jesus keinen Wert legt auf eine geheimnisvolle oder mystische Distanz. Die wiederholten Verba der Mitteilung – ἐλάλησεν αὐτοῖς λέγων [elalēsen autois legōn] – stellen jetzt seine Schlussworte in den Mittelpunkt. Auch hier ist auf jede besondere Note verzichtet. Man vgl. damit die viel umständlichere Einleitung der Bergpredigt in Mt 5,2: ἀνοίξας τὸ στόμα αὐτοῦ ἐδίδασκεν αὐτοὺς λέγων [anoixas to stoma autou edidasken autous legōn]. Jesus beginnt mit der Grundsatzerklärung: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Sie hat eine Parallele in Mt 11,27, aber auch in Joh 5,22.27; 13,3; 17,2. Dabei ist der Inhalt durch Dan 7,14 bestimmt,2 wo wir in der LXX-Fassung lesen: ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία … καὶ ἡ ἐξουσία αὐτοῦ ἐξουσία αἰώνιος [edothē autō exousia … kai hē exousia autou exousia aiōnios]. Jesus sagt also, dass diese endzeitliche Macht des Menschensohnes von Dan 7,13f durch den himmlischen Vater (ἐδόθη [edothē] = Passivum divinum!) jetzt auf ihn übertragen sei. Nichts anderes hat er vor der Kreuzigung gelehrt (Mt 11,27; 16,27; 19,28; 24,29ff; 25,31ff; 26,64; Joh 5,22ff ). Die „Reichweite“ von Dan 7 ist damit aber noch nicht erschöpft. Sie wird uns in V. 19 (πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē]) erneut begegnen. Hinter dem griech. 1 Vgl. Aland, Syn, 508ff. 2 Anders Fiedler 429. Wie wir France 413; Carson 595; Schniewind 279.

7. Die Schlussworte des Auferstandenen: der Missionsbefehl, 28,18-20

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ἐξουσία [exousia] steckt vermutlich das rabb. ‫[ ְרשׁוּת‬rᵉschūt]. Beides bedeutet „die Macht, die zu sagen hat“,3 und zwar sowohl die Wirkungsmacht als auch die Rechtsmacht, beides von Gott abgeleitet und gegeben. Im Himmel und auf Erden bedeutet analog Gen 1,1 die gesamte Schöpfung. Sowohl die irdischen als auch die himmlischen Dinge sind damit dem Gottessohn und Messias in höchster Machtvollkommenheit unterstellt (vgl. Ps 110).4 Diese unbeschränkte, höchste Macht des Christus ist die Grundlage aller folgenden Befehle und Aufträge.5 Zu Christus kann jeder Christ / jede Christin an jedem Ort und zu jeder Zeit mit jedem Anliegen beten, und er hat die Macht, alles zu tun (Phil 4,13).6 Damit ist ein neuer Äon angebrochen. Es fällt auf, dass der auferstandene Jesus kein Gespräch über den Zweifel beginnt,7 der sich nach Mt 28,17 gemeldet hat. Vielleicht darf man aber aus den Versen 19-20 auch (wirklich „auch“, und nicht in erster Linie!) ableiten, dass ein Handeln im Sinne des Missionsbefehls der beste Weg ist, um den Zweifel am Auferstandenen zu überwinden. Der Große Missionsbefehl erschließt sich am besten von den vier Verben πορευθέντες [ poreuthentes], μαθητεύσατε [mathēteusate], βαπτίζοντες [baptizontes], διδάσκοντες [didaskontes] her (V. 19-20). Die beiden anderen Verben in V. 20, τηρεῖν [tērein] und ἐνετειλάμην [enteilamēn], sind von διδάσκοντες [didaskontes] abhängig und erläutern Letzteres. πορεύεσθαι [ poreuesthai] ist ein typisches Wort der Missionssprache (vgl. Mt 10,6.7.11f ).8 Mit Geht hin! ist die Grundstruktur der Gemeinde des Neuen Bundes und aller Kirchen angegeben. Auch die pharisäischen Missionare sind gegangen (Mt 23,15) und wurden in manchem die Lehrmeister der Christen. Aber für die christliche Gemeinde ist es nicht eine Tätigkeit neben anderen, sondern, ausgerichtet am Grundmodell Jesu (Mt 4,18ff; 4,23; 9,35), eine zentrale Wesensbestimmtheit. Eine Kirche, die nicht mehr geht, ist verurteilt zur Erstarrung, vielleicht zum Tode. Das Urbild ist der menschensuchende Gott (Gen 3,8ff; Hes 34,11ff; Lk 19,10), der kommt, um Verirrte zu suchen und Verlorene zu erlösen. Man beachte das οὖν [oun] in V. 19. Es schafft eine „ursächliche … Verknüpfung“9 mit dem Vorausgehenden. Der Große Missionsbefehl folgt also

3 4 5 6 7 8 9

So W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 563. Vgl. Cullmann 234. Ebenso Luz IV 442. Vgl. Foerster a.a.O. 565; Eph 1,20ff. Anders Mt 14,31; 21,20ff. F. Hauck / S. Schulz, Art. πορεύομαι usw., ThWNT, VI, 1959, 574. BDR § 451,1.

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aus der Feststellung „Mir ist gegeben alle Macht“ … Man könnte hier das οὖν [oun] auch mit „also“, besser aber doch: deshalb übersetzen.10 Der tragende Imperativ des gesamten Missionsbefehls umgeben nur von Partizipien (πορευθέντες [ poreuthentes], βαπτίζοντες [baptizontes], διδάσκοντες [didaskontes]), ist μαθητεύσατε [mathēteusate]. Das im NT seltene griech. Wort μαθητεύειν [mathēteuein], nur bei Matthäus (13,52; 27,57; 28,19) und einmal in der Apg (14,21) gebraucht, gehört in das Wortfeld von μανθάνειν [manthanein], μαθητής [mathētēs] und letztlich des hebr. ‫[ ָלַמד‬lāmad].11 Es gewann erst später intransitive Bedeutung und bezeichnete dann das „zum Jünger machen“.12 μαθητεύειν [mathēteuein] drückt also aus, dass jemand in die Nachfolge eines Meisters und Herrn geführt wird (vgl. Jes 33,22).13 Macht zu Jüngern alle Völker: Zu wessen Jünger? Der Kontext erlaubt nur die Deutung: „zu meinen Jüngern“, also zu Jesu Jüngern. Nicht zu Jüngern einer Konfession, eines berühmten Theologen, einer Partei, Ideologie usw. Allerdings braucht es zum Leben in der Nachfolge eine Kirche, eine Gemeinde (s. das Folgende). Es wäre daher falsch, den Gegensatz aufzustellen: Jünger Jesu, aber nicht einer Kirche. Die Bestimmung alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē]) hat eine intensive Diskussion ausgelöst. Sie kreist hauptsächlich um die Frage: Sind nur die Heiden-Völker gemeint oder auch Israel?14 Die Intensität der Diskussion spiegelt sich unter anderem darin, dass der umfangreiche Kommentar von Ulrich Luz eine Konversion von der ersten zur zweiten Sichtweise vollzogen hat.15 Ein Schlüssel für die Auslegung liegt wieder in der alttestamentlichen Prophetie von Dan 7,14, das in der LXX-Fassung von den πάντα τὰ ἔθνη τῆς γῆς [ panta ta ethnē tēs gēs] spricht, die dem Menschensohn-Messias dienen werden. Hier wäre es schwierig, Israel aus der Wendung πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē] herauszunehmen. Im lukanischen Missionsbefehl Lk 24,47ff; Apg 1,8 ist Israel bestimmt mit eingeschlossen, ebenso im späteren MarkusSchluss (16,15). Die apostolische Mission sah sogar ihren ersten Schwerpunkt bei Israel, dann bei den Samaritanern und dann erst bei den Heiden (Apg 6–8; 9,20ff; 10,1ff; 11,1ff; 13,2ff; Röm 1,16; 1Kor 9,19ff ). Es war eine ihrer Grunderkenntnisse, dass Christus den „Zaun“ zwischen Israel und den Heidenvölkern „abgebrochen hat“ (Eph 2,14). Siehe auch 1Petr 2,9; Gal 2,7ff; 2,11ff. 10 11 12 13 14 15

BasisBibel: „nun“; nicht übersetzt in BGS; LSB: „therefore“. K. H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 392ff.401. BDR § 148,3; 309,1; Rengstorf a.a.O. 465. Vgl. Rengstorf a.a.O. Vgl. Luz IV 447ff. Luz IV 448ff.

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Alle diese Entwicklungen wären schwer denkbar, wenn die Apostel und die folgende Kirche das πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē] nur auf die Heiden bezogen hätten. Luz notiert denn auch mit Recht, dass die „Alte Kirche, die mittelalterliche Exegese und die Ausleger der frühen Neuzeit … fast einhellig“ das πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē] universal auf alle Völker einschließlich Israel gedeutet hätten.16 Wir können nicht anders deuten. So wie die Erlösung am Kreuz universal, und so wie Jesus ohne Einschränkung alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, muss die Formulierung alle Völker wirklich alle Völker betreffen und Israel einschließen.17 Ist damit die Beschränkung auf die Israel-Mission in Mt 10,5f aufgehoben?18 Die Frage ist falsch gestellt. Mt 10,5f gehört in eine andere Epoche der Heilsgeschichte als Mt 28,19. In Mt 10,5f ringt Jesus vor der Kreuzigung um sein Volk Israel, das den ersten Anspruch auf seinen Messias hat. In Mt 28,19 ist er nun eingesetzt zum Herrn über alle Dinge, das heißt auch über alle Menschen und Völker. So geht Mt 10,5f gewissermaßen in Mt 28,19 auf. Beides muss als heilsgeschichtliches Handeln Gottes stehen bleiben, beides widerspricht sich nicht, weil Gott die frühere Schranke im späteren Missionsbefehl aufhebt und der souverän Handelnde bleibt. Das zu Jüngern machen wird jetzt in einer doppelten Epexegese erläutert: 1) indem ihr sie tauft usw., 2) indem ihr sie lehrt. Wer aus dem späteren Markus-Schluss in Mk 16,16 eine verbindliche Reihenfolge ablesen will: Erst der Glaube, dann die Taufe, der muss auch sehen, dass Matthäus in 28,19f eine andere Reihenfolge aufweist: Erst die Taufe, dann das Leben. Aber die Frage ist ja, ob in beiden Fällen, Mk 16,16 und Mt 28,19f, wirklich eine zeitliche Reihenfolge angeordnet werden soll. Wir verstehen jedenfalls beides als die Nennung von Voraussetzungen, die zum Jünger-Sein, also zur Nachfolge führen, nicht aber als Aufstellung einer Reihenfolge. Tauft sie: Die Taufe ist notwendiger Teil der Nachfolge. Diese Anordnung überrascht. Denn Jesus hatte vor der Kreuzigung nicht getauft (Joh 4,2). Aber nun muss im Neuen Bund die in der Endzeitprophetie von Hes 36,25 angekündigte Taufe vollzogen werden. Die Taufe geschieht nach Mt 28,19 dreifach: 1) auf den Namen des Vaters, 2) auf den Namen des Sohnes, 3) auf den Namen des Heiligen Geistes. Auf den Namen: Mit βαπτίζειν [baptizein] wird sowohl εἰς τὸ ὄνομα [eis to onoma] als auch ἐν τῷ ὀνόματι [en tō onomati] (Mt 28,19; Apg 8,16; 19,5; 10,48) ohne Änderung der Bedeutung ver16 Luz IV 448. 17 Ebenso Wilckens I/4 79.84; France 413f; Carson 596. Ablehnend Fiedler 430. 18 Vgl. die Fragestellungen bei Luz IV 447f.

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bunden. Beides ist Hebraismus, beides geht auf ‫שׁם‬ ֵ ‫[ ְל‬lᵉschem]19 oder ‫ְבּ ֵשׁם‬ 20 [bᵉschem] zurück. Bei ‫שׁם‬ ֵ ‫[ ְל‬lᵉschem] = εἰς τὸ ὄνομα [eis to onoma] sehen Strack-Billerbeck Grund und Zweck der Taufe angegeben: 1) „daß der Täufling dem dreieinigen Gott zugeeignet werden soll“, 2) dass er verpflichtet wird „zum Bekenntnis des dreieinigen Gottes“. Oepke betont bei εἰς τὸ ὄνομα [eis to onoma] die entsprechende Formel „des hellenistischen Giroverkehrs“ mit der Bedeutung „auf das Konto“.21 Übereignung, Verantwortungsübernahme durch den dreieinigen Gott und das Bekenntnis zu ihm und die Abwaschung der Sünden (Hes 36,25) sind demnach die konstitutiven Momente des Taufgeschehens. Diese relativ kurze Anordnung ist ihrerseits eine Quelle der Diskussion geworden. Da ist zunächst die historische Frage. Für Bultmann rückte Mt 28,1620 unter die Kategorie „späte Bildungen des hellenistischen Christentums“.22 Die Religionsgeschichtliche Schule rang mit dem Problem, wie weit die Taufe rein magisch, ohne Beziehung zum genuin christlichen Glauben aufgefasst wurde.23 Otto Pfleiderer (1839–1908) überlegte, ob nicht die eleusinischen Mysterien für Paulus ein „Vorbild“ gewesen sind, als er Röm 6 schrieb.24 Da ist zum Zweiten die Frage der Trinität. Unleugbar werden ja in Mt 28,19 Gott der Vater (ὁ πατήρ [ho patēr]), Jesus der Sohn (ὁ υἱός [ho hyios]) und der heilige Geist (τὸ ἅγιον πνεῦμα [to hagion pneuma]) auf eine Ebene gestellt. Der Koran greift vor allem die „Zugesellung“ an, die den Sohn an die Seite des Vaters rückt, und lehnt die Trinität als Dreigötterlehre (Tritheismus) scharf ab.25 Doch auch auf christlicher Seite wurde das Trinitätsdogma immer wieder schwer erschüttert, was sich besonders in der Geschichte des Antitrinitarismus im 16./17. Jh. und in der liberalen protestantischen Theologie dokumentiert.26 Der dritte Fragenkomplex ist in der Reformation aufgebrochen. Er betrifft die Kindertaufe. Bis heute stehen sich zum Beispiel CA IX und eine Reihe von Freikirchen profiliert gegenüber. Wir versuchen, die hier angedeuteten Fragen im Blick zu behalten. Angesichts dessen aber, dass ein Exkurs auch nur zu einer einzigen dieser Fragen Buchform annehmen müsste, bleibt uns nur mit

19 20 21 22 23 24 25 26

Strack-Billerbeck I 1054f. BDR § 206 2.4. A. Oepke, Art. βάπτω usw., ThWNT, I, 1933, 537. Bultmann, Gesch, 313. Vgl. Kümmel, NT, 310f. Vgl. Kümmel a.a.O. 265. Sure 3,56ff; 4,172ff. Vgl. Handbuch DTG III 49ff; Trillhaas 107ff.

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Matthias Konradt die bescheidene „Konzentration auf die zentralen theologischen Aspekte und die theologischen Hauptlinien“.27 Keine Schwierigkeit bereitet die Taufe auf den Namen des Vaters. Sie hat ja in der Proselytentaufe (‫[ ְטִביָלה‬thᵉbīlāh]) und in der Johannestaufe bekannte Vorbilder.28 Auch die Taufe auf den Namen des heiligen Geistes ist vom AT ֹ ‫[ רוַּח ֱא‬rūach her gut erklärbar. Von Anfang der Schöpfung an wirkt die ‫לִהים‬ ʾᵆlohīm], Gottes Geist, in eigener Gestalt, aber doch in völliger Einheit mit dem einen Gott, dem sie zugehört, in Schöpfung und Geschichte (Gen 1,2). Dass der Auferstandene aber Gottes Geist als heiligen Geist besonders erwähnt, weist vor allem auf die eschatologische Rolle des heiligen Geistes hin. Denn gerade er wird als grundlegende Heilsgabe für die Endzeit verheißen (Jes 44,3; 59,21; Hes 36,26f; Joel 3,1ff ). Ja, zur Charakteristik des Messias gehört in hervorragendem Maße die Ausrüstung mit dem siebenfachen Gottesgeist (Jes 11,1ff; 61,1ff, Joh 3,34). Die Eröffnung eines neuen Lebens in und durch den Geist Gottes gewinnt in der Taufe einen unauslöschlichen Ausdruck. Man darf die Taufe deshalb nicht einfach vergeistigen, sondern muss sie als sichtbaren Reinigungs- und Erneuerungsakt durchführen. Unter den drei Namensnennungen fällt diejenige auf den Namen des Sohnes am meisten auf. Sie steht in der Mitte, hat also im Wortsinn „zentrale“ Bedeutung. Von Anfang der Gemeinde des Neuen Bundes an war sie so wichtig, dass manchmal nur die Taufe auf den Namen Jesu Christi erwähnt wird (so Apg 2,38), die selbstverständlich nicht als Gegensatz zu einer trinitarischen Taufe gesehen werden darf. Der Sohn, Jesus Christus, kann ebensowenig wie der heilige Geist vom Vater getrennt werden. Er ist mehrfach im AT als Erlöser prophezeit, bestimmt zum endzeitlichen, ewigen König Israels und aller Völker (2Sam 7,12-14; Ps 89,27ff; 9,5f; 2,1ff ). Er wird vom Vater direkt angeredet: „Du bist mein Sohn“ (Ps 2,7). Er kommt vom ewigen Thron Gottes, wirkt auf Erden und teilt dann auf ewig den Thron des Vaters als einer, der „wie eines Menschen Sohn“ erscheint (Dan 7,13f; Joh 3,13; Ps 110,1ff ). Mit Recht hat Jesus den „Sohn Gottes“ und den „Menschensohn“ als ein und dieselbe Erlösergestalt gesehen. Der Sohn ist mit dem Vater so eng verbunden, dass Jesus sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Somit kommt ihm göttliche Würde und Macht zu (Mt 28,18) und die Taufe geschieht mit Recht auf den Namen des Sohnes. Nach diesen, notwendigerweise gestrafften, Erwägungen entspricht die trinitarische Taufe der Botschaft des AT und der Lehre Jesu. Die Trinität selbst 27 Konradt, XV. 28 Vgl. wieder Oepke a.a.O. 532ff.

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ist ein notwendiger Ausdruck der biblischen Offenbarung. Sie ist deshalb in den apostolischen Briefen aufgenommen (1Kor 8,6; 12,4-6; 2Kor 13,13; Eph 4,4-6; Offb 1,4f ) und war überall in der Alten Kirche, wo man an der Gottheit Christi festhielt, unstrittig. Sie liegt den christlichen Glaubensbekenntnissen zugrunde (Symbolum Apostolicum; Symbolum Nicaenum; Symbolum Athanasianum). Dazu soll noch ein Doppeltes bemerkt werden: 1) Die Trinität hat es wie die gesamte biblische Gotteslehre mit einem Geheimnis zu tun. Sie wird sich nie ohne Spannungen in die Logik des gefallenen Menschen einpassen. Im Gegenteil: Je logischer eine Gotteslehre erscheint, desto größer ist die Gefahr, dass sie Gott verfehlt.29 2) Wenn nicht alles täuscht, wird die Trinität und speziell die Taufe auf den Namen Jesu, des Sohnes, einer der Hauptstreitpunkte im Interreligiösen Dialog sein. Auf eine zweigliedrige Taufe, die den Namen des Sohnes Jesus auslässt, könnten sich alle Religionen verständigen. Die Problematik einer Kindertaufe ist unseres Wissens erst mit dem Zürcher Bibelkreis 1524 aufgebrochen, wo sich Blaurock (Cajakob) am 21.1.1524 durch Grebel taufen ließ.30 Eine direkte Anordnung in Bezug auf Kinder findet sich im NT nicht. So sind wir auf einzelne Angaben aus der Apostelgeschichte und den Briefen angewiesen. Albrecht Oepke schreibt: „Daß Kinder übertretender Familien mitgetauft worden sind, läßt sich weder exakt beweisen noch widerlegen, wohl aber aus zeitgeschichtlichen Analogien wahrscheinlich machen.“31 Unseres Erachtens handelt es sich nicht bloß um „Analogien“, sondern um sachliche Hinweise. So ist es bei der Haustaufe, die ja auch Paulus geübt hat (1Kor 1,16; Apg 16,33), ebenso Petrus nach Apg 11,14, schwierig anzunehmen, man habe die Kinder ausgespart. Siehe auch Apg 16,15. Allerdings lässt sich auch das Alter solcher Kinder nicht angeben. Unzweifelhaft sprechen die apostolischen Briefe auch die Kinder (τέκνα [tekna]) in den Gemeinden direkt an (Eph 6,1; Kol 3,20), die demnach als Gemeindeglieder betrachtet wurden. Aber wieder wird nichts über ihr Alter und direkt auch nichts über ihre Taufe gesagt. Eines der wichtigsten Argumente ist das kirchengeschichtliche, wonach in der Alten Kirche, die über so vieles stritt, unseres Wissens über die Kindertaufe nicht gestritten wurde, sie also seit den apostolischen Zeiten in der Kirche praktiziert wurde. Das Recht zur Kindertaufe, auch in den römischen-katholischen, orthodoxen und orientalischen Kirchen vertreten, lässt sich also unseres Erachtens nicht bestreiten. Anderer29 Vgl. Trillhaas 107. 30 Maier, JO, 240. 31 Oepke a.a.O. 541.

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seits sollten Kirchen, die nur die Erwachsenentaufe praktizieren, nicht mit den Schwabacher Artikeln als „Taufslästerer“32 bezeichnet werden, sondern in ihren biblischen Gründen und ihrer Gewissensbindung geachtet werden. – Zur historischen Frage s. später. Lehrt sie (διδάσκοντες αὐτούς [didaskontes autous]) zu halten alles, was ich euch befohlen habe (V. 20a): Das ist die zweite Voraussetzung für das Jüngersein, die Nachfolge (V. 19). Zielpunkt des lehrens ist das halten (τηρεῖν [tērein], ‫שַׁמר‬ ָ [schāmar]) der Worte Jesu. Damit schließt der Auferstandene sich direkt an die mosaische Mahnung, Gottes Worte zu halten, an: „Ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte …, dass ihr danach tun sollt … So haltet sie nun und tut sie“ (Deut 4,5f ), und: „du sollst alles tun, was ich dir heute gebiete“ (Deut 12,14 LXX: ποιήσεις πάντα, ὅσα ἐγὼ ἐντέλλομαί σοι σήμερον [ poiēseis panta, hosa egō entellomai soi sēmeron]). Dabei kommt Jesus nicht nur die Rolle eines menschlichen Offenbarungsmittlers zu. Vielmehr ist er die originäre Quelle all der zu haltenden Gebote und Rechte, und es ist seine göttliche Würde (vgl. das folgende ἐγὼ μεθ᾿ ὑμῶν εἰμι [egō meth’ hymōn eimi]), die sie gebietet. Sie, die Jünger auf dem Berg in Galiläa, insbesondere die Apostel, haben also den missionarischen Auftrag zu lehren. Sie setzen damit das Lehren Jesu fort (vgl. Mt 4,23; 9,33, 13,54; 21,23).33 Lehren, griech. διδάσκειν [didaskein], hebr. ‫[ ִל ֵמּד‬limmed], verschafft die Kenntnis des Willens Gottes und seiner Wege. Es beruht grundsätzlich auf Offenbarung, hier des AT (vgl. Mt 5,17ff ) und der Lehre Jesu (vgl. Mt 5–7; 26,55; Lk 21,37; Joh 3,2).34 Die Anordnung in V. 20a macht uns dreierlei sichtbar. 1) Die Taufe allein genügt nicht für einen Freispruch im Gericht Gottes und für eine Teilnahme am ewigen Leben. Wer allein aufgrund einer „Taufgnade“ bei Gott angenommen sein will, erliegt einer Illusion (ebenso Mk 16,16; Joh 15,1ff ). 2) Wer die Formulierung gebraucht alles, was ich euch befohlen habe, muss die Lehre Jesu mindestens in ihren Umrissen kennen (alles!). So auch Matthäus. Dass neben den Evangelien mündliche Tradition weiterläuft, wird dadurch nicht ausgeschlossen (vgl. Lk 24,45; Apg 1,3; Joh 21,25). 3) Ein Hören des Evangeliums genügt nicht. Vielmehr schließt das Halten seiner Worte die geistgewirkte praktische Nachfolge ein (vgl. Joh 8,51ff; 13,34f; 14,15ff ). Dies aber bedeutet auch das Vertrauen, den Glauben, von dem im letzten Satz des Matthäusevan32 Vgl. BELK 63. Insgesamt ist aber CA IX respektabel formuliert. 33 K. H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 147. 34 Wenn Luz IV 454 schreibt: „In der Verkündigung der Jünger geht es darum, daß die Sache Jesu weitergeht“, ist das eine äußerst nebulöse Aussage, nur erklärbar aus dem westlichen Subjektivismus.

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geliums die Rede ist. Im Durchgang durch Mt 28,20 zeigt sich, dass Hans Schlaffer, einer der frühen Täufer, bei der Definition des „Christen“ näher an der Bibel ist als manche berühmte Formulierung Martin Luthers. Luther definierte in den Schmalkaldischen Artikeln die Kirche als „die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören“.35 Schlaffer aber definierte: „Ein nachvolger Christi, der ist ein Christ.“36 Die evangelischen Kirchen sind trotz Kierkegaard oder Bonhoeffer nur selten von der Grundthese weggekommen, dass wir als Christen eben zuerst und zuvörderst „Hörer des Evangeliums“ seien. Der Abstand zu Mt 28,19f ist dabei offensichtlich. Das Matthäusevangelium schließt mit den Worten des auferstandenen Jesus: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Äons (V. 20). Er selbst, Jesus Christus, ist die Mitte des Evangeliums, das ein „Reden-Evangelium“ ist, wie auch der Schlussverheißung. Dass man urchristliche Propheten für die „Produktion“ solcher „Ich-Worte“ verantwortlich macht,37 ist ein fürchterlicher Missgriff. Mit ἐγὼ μεθ᾿ ὑμῶν εἰμι [egō meth’ hymōn eimi] wird das Immanuel von Mt 1,23 wieder aufgenommen. Matthäus hat es dort selbst übersetzt: μεθ᾿ ἡμῶν ὁ θεός [meth’ hēmōn ho theos]. An die Stelle von θεός [theos] tritt in Mt 28,20 das Ich Jesu. Ebenso deutlich wie in V. 19 wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Jesus als Gottessohn göttliche Würde besitzt.38 Das ich bin bei euch setzt ein Geheimnis voraus, das Menschen nur erfahrungsmäßig, aber niemals intellektuell umfassend, wahrnehmen können: Die Allgegenwart des Auferstandenen in der Menscheitsgeschichte. Mit dem ich bin (ἐγώ εἰμι [egō eimi]) ist ferner klargestellt, dass die sog. Ich-bin-Worte nicht nur johanneischer Sprachstil sind, sondern eine Ausdrucksweise, in der Jesus nach allen Evangelien von sich spricht (vgl. Mk 14,62). Der Blick richtet sich hier weit in die Zukunft. Seine Verheißung gilt nicht nur für alle Tage einer fortschreitenden Heilsgeschichte, und zugleich unseres persönlichen Lebens39 (bei euch!), sondern sogar bis zur Vollendung des Äons. Von dieser Vollendung des Äons (συντελείας τοῦ αἰῶνος [synteleias tou aiōnos]) ist im Matthäusevangelium mehrfach die Rede (vgl. 13,39.40.49; 24,3). Sie meint den Abschluss der irdischen Geschichte. Es hat ein eminentes Gewicht, wenn Matthäus diese Worte Jesu als letzte zitiert. Denn damit wird die ganze Gemeinde Jesu eschatologisch auf diesen Abschluss der Geschichte und gleichzeitig auf Jesu Wiederkunft (vgl. Kap. 24–25) ausgerichtet. Eine missionie35 36 37 38 39

BELK 459. Vgl. Maier, JO, 206. Bultmann, Gesch, 176.169; Theißen-Merz 114. Vgl. Hag 1,13 sowie Gen 28,15; Ri 6,12. Vgl. Apg 18,10.

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rende Kirche mit dem Ausblick auf die Wiederkunft Jesu: Das ist es, was nach dem Evangelium des Matthäus entstehen soll. Im Vertrauen auf die Verheißung von Mt 28,10 kann Jesu Gemeinde getrost ihren ganzen Weg gehen.40 Aber noch einmal: Im Zentrum des Evangeliums steht nicht die Kirche/Gemeinde, sondern Jesus.

IV Zusammenfassung 1. Es liegt eine schwer zu überschätzende Programmatik in der Tatsache, dass Matthäus sein Evangelium mit Jesus-Worten schließt (28,18-20). Das letzte Wort hat nicht der Evangelist. Vielmehr mussten die „Worte des Messias … festgehalten und als festgeformte, verbindliche Lehre weitergegeben werden“.41 2. Aber es ist nun doch nicht das Lehr-Thema an sich, das den Schluss des Evangeliums bildet, sondern die Verheißung von V. 20, die der auferstandende Jesus, „als Gottes Sohn in Kraft eingesetzt“ (Röm 1,4 = Mt 28,18), ausspricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Äons. Bis zum Abschluss der Geschichte wird es seine Gemeinde geben (Mt 16,18), bis zum Abschluss wirkt er selbst in höchster Macht und Kraft. 3. Es ist die praktische Nachfolge, auf die das Matthäusevangelium zielt.42 Wir haben die Schwierigkeiten berührt, die die protestantischen Großkirchen mit dieser Nachfolge Jesu haben, und wollen sie jetzt nicht noch einmal vertiefen. 4. Ebenso schwerwiegend ist die Herausforderung an alle Kirchen, alles zu halten, was ich euch befohlen habe. Ein solcher Weg setzt voraus, dass den überlieferten Worten Jesu in allem die Priorität zukommt. Eine kritische Exegese, bei der die Menschen das entscheidende Urteil über die Offenbarung sprechen, ist mit Mt 28,20 unvereinbar. 5. Kernauftrag des Auferstanden bleibt der Missionsbefehl. „Missionarische Kirche“ ist von daher eine Tautologie. Denn entweder missioniert die Kirche taufend und lehrend alle Völker, oder sie ist überhaupt nicht Kirche. Damit ist der Weg für Kirchen und Gemeinden auch in der Gegenwart vorgezeichnet.

40 Vgl. Mt 18,20. 41 Hengel-Schwemer 229. Matthäus hat diese letzten Worte Jesu als tatsächliche Worte des Auferstandenen aufgefasst. Sie als „spätere Bildungen“ zu erklären, läuft dem Matthäusevangelium diametral entgegen. Gegen Hengel-Schwemer 234; Bultmann, Gesch, 313; Luz IV 454; Theißen-Merz 114. 42 Vgl. Luz IV 455.

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6. Zum Schluss wird alles durch die Christologie entschieden: Das Ich des Jesus, der als Gottessohn für uns ans Kreuz ging und als Erlöser aus dem Gericht rettet.

Ausgewählte Literatur

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Verzeichnisse Ausgewählte Literatur Aharoni, Yohanan, Das Land der Bibel, Neukirchen-Vluyn, 1984 [Aharoni] Aland, Kurt (Hrsg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, 11. Aufl., Stuttgart, 1978 [Aland Syn] Aland, Kurt und Barbara, Der Text des Neuen Testaments, 1. Aufl., Stuttgart, 1982 [K. und B. Aland] Aland, Kurt, Hrsg., Lutherlexikon, Göttingen, 1983 [Aland Lutherlexikon] Albright, W.F. / Mann, C.S., Matthew, Anc B, 26, 1971 [Albright-Mann] Allen, Willoughby C., A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to S. Matthew, ICC, 3. Aufl., 1912 [Allen] Archäologisches Bibellexikon, hrsg. von Avraham Negev, dt. Ausgabe, Neuhausen-Stuttgart, 1991 [Arch BL] Aurelii Augustini Opera, Pars VII, 2, De sermone in monte, CChr.SL, XXXV, 1967 [Augustinus in monte] Aurelii Augustini Opera, Pars XI, 2, Sermones in Matthaeum, I, CChr. SL, XLI, Aa, 2008 [Augustinus Mt] Barclay, William, Matthäusevangelium, I, Wuppertal, 1971 [Barclay I] Barth, Karl, Credo, München, 1935 [Barth Credo] Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, 1. Bd., 1. Halbband, 6. Aufl., Zollikon/ Zürich, 1952; 2. Halbband, Zollikon, 1938 [Barth KD I/1 und KD I/2] BasisBibel, Das Neue Testament, Stuttgart, 2010 [BasisBibel] Beare, Francis Wright, The Gospel according to Matthew, Oxford, 1981 [Beare] Bengel, Johann Albrecht, Gnomon Novi Testamenti, Tubingae, 1742 [Bengel Gnomon] Berger, Klaus, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT, 40, 1972 [Berger WMANT] Bibel in gerechter Sprache, 2. Aufl., Gütersloh, 2006 [BGS] Blomberg, Craig L., Matthew, The New American Commentary, 22, 1992 [Blomberg] Bonnard, Pierre, L’Evangile selon Saint Matthieu, CNT (N), I, 1963 [Bonnard] Bornhäuser, Karl, Die Bergpredigt, 2. Aufl., Gütersloh, 1927 (1. Aufl., 1922), BFChTh 2,7 [Bornhäuser]

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Ausgewählte Literatur

Bornkamm, Günther / Barth, Gerhard / Held, Heinz Joachim, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, 2. Aufl., 1961 (1. Aufl., 1959), Neukirchen, WMANT 1 [Bornkamm/Barth/Held] Bornkamm, Günther. Art.: Evangelien, synoptische, RGG, 3. Aufl., II, 1986, Sp. 753-769 [Bornkamm] Bösen, Willibald, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg im Breisgau, 1985 [Bösen] Buchegger-Müller, Jürg, Rezension: Karl Jaroš, Das Neue Testament und seine Autoren, in: Jahrbuch für evangelikale Theologie, 23, 2009, 279-282 [Buchegger-Müller] Bultmann, Rudolf, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 6. Aufl., Göttingen, 1964 [Bultmann Gesch] Bultmann, Rudolf, Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. von Hans Werner Bartsch, ThF, 1, 2. Aufl., 1951 [Bultmann NuM] Bultmann, Rudolf, Theologie des Neuen Testaments, 5. Aufl., Tübingen, 1965 [Bultmann Theol] Carson, Don A., Matthew, EBC, 8, 1984, 1-599 [Carson] Cullmann, Oscar, Die Christologie des Neuen Testaments, 3. Aufl., Tübingen, 1963 [Cullmann] Davies, W.D., The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge, 1964 [Davies Setting] Davies, W.D., and Allison, Dale C., Jr., The Gospel According to Saint Matthew, ICC, Three Volumes, Vol I, 1988; II, 1989 [Davies-Allison I bzw. II] Deines, Roland, Vorbild und Fundament, in: Zeitzeichen, Ev. Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 13, 2012, Nr. 9, 30-32 [Deines] Delitzsch, Franz, Jesaja, 5. Aufl., Gießen/Basel, 1984 (Nachdruck der 3. Aufl., Leipzig, 1879) [Delitzsch] Der Babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, 4. Aufl., Frankfurt am Main, 1996 [Talmud Goldschmidt] Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 5. Aufl., Göttingen, 1963 [BELK] Die Benedikt-Bibel, Freiburg im Breisgau, 2005 [Benedikt-Bibel] Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart, [Lutherbibel] Dobschütz, Ernst von, Matthäus als Rabbi und Katechet, ZNW, 27, 1928, S. 338-348 [Dobschütz] Drewermann, Eugen, Das Matthäusevangelium, Erster Teil, Olten/Freiburg im Breisgau, 1992 [Drewermann]

Ausgewählte Literatur

705

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart, 1980 [Einheitsübersetzung] Fiedler, Peter, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 1, 2006 [Fiedler] Filson, Floyd Vivian, A Commentary on the Gospel According to St. Matthew, London, 1960 [Filson] Flusser, David, Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, 1. Teil, Bern / Frankfurt am Main / Las Vegas, 1981 [Flusser] France, R.T., The Gospel According to Matthew, TNTC, 1985 [France] Gaechter, Paul, Das Matthäus-Evangelium, Innsbruck/Wien/München, 1963 [Gaechter] Gesenius, Wilhelm, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearbeitet von Frants Buhl, 17. Aufl. (Neudruck), Berlin/ Göttingen/Heidelberg, 1962 [Gesenius] Gibbs, Jeffrey A., Matthew 1:1–11:1, ConCom, 1, 2006 [Gibbs] Gnilka, Joachim, Das Matthäusevangelium, I. Teil, HThK, 1986 [Gnilka] Goppelt, Leonhard, Theologie des Neuen Testaments, Zweiter Teil, hrsg. von Jürgen Roloff, Göttingen, 1976 [Goppelt] Green, Michael, The Message of Matthew, The kingdom of heaven, Leicester, 2000 [Green] Grundmann, Walter, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK, I, 1972 [Grundmann] Gundry, Robert H., Matthew, Grand Rapids, 1982 [Gundry] Gute Nachricht Bibel, Stuttgart, 1997 [Gute Nachricht] Guthrie, Donald, New Testament Introduction, Leicester, 1970 [Guthrie] Hagner, Donald A., Matthew 1–13; Matthew 14–28; WBC, 33A/33B, 1993/ 1995 [Hagner I und II] Hahn, Ferdinand, Theologie des Neuen Testaments, I, Tübingen, 2002 [Hahn I] Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, hrsg. von Carl Andresen, 1. – 3. Band, 1. Aufl., UTB für Wissenschaft, Große Reihe, 1988 [Handbuch DTG I, II, und III] Hase, Karl von, Geschichte Jesu, 2. Aufl., Leipzig, 1891 [Hase] Hendriksen, William, Exposition of the Gospel According to Matthew, New Testament Commentary, 15. Aufl., 2007 [Hendriksen] Hengel, Martin, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus, WUNT, 224, Studienausgabe, 2011 [Hengel Evglien] Hengel, Martin, Die johanneische Frage, WUNT, 67, 1993 [Hengel Joh Frage] Hengel, Martin, Der Sohn Gottes, 2. Aufl., Tübingen, 1977 [Hengel Sohn]

706

Ausgewählte Literatur

Hengel, Martin, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart, 1979 [Hengel Gesch] Hengel, Martin / Schwemer, Maria, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums, 1, Tübingen, 2007 [Hengel-Schwemer] Hennecke, Edgar, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, II, 3. Aufl., Tübingen, 1964 [HenneckeSchneemelcher] Herodot, Historien, 4. Aufl., Stuttgart, 1971 [Herodot Hist] Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bände, 5. Aufl., Gütersloh, 1949–1951 [Hirsch I, II usw.] Holm-Nielsen, Svend, Die Psalmen Salomos, JSHRZ, IV, 2, 1977 [HolmNielsen] Hörster, Gerhard, Theologie des Neuen Testaments, Wuppertal, 2004 [Hörster] Jaroš, Karl, Das Neue Testament und seine Autoren, UTB, 3087, Köln/Weimar/Wien, 2008 [Jaroš] Jeremias, Joachim, Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl., Göttingen, 1962 [Jeremias Gleichnisse] Jerusalemer Bibellexikon, hrsg. von Kurt Hennig, Neuhausen-Stuttgart, 1990 [Jer Bibellexikon] Josephus, Flavius, De Bello Judaico, Der Jüdische Krieg, hrsg. von Otto Michel und Otto Bauernfeind, I, 1959; II/1, 1963; II/2, 1969, Darmstadt [Michel-Bauernfeind I bzw. II/1 und II/2] Keener, Craig S., Matthew, The IVP New Testament Commentary Series, 1, 1997 [Keener] Keil, Carl Friedrich, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, BC, 3. Aufl., 1987 (Nachdruck der 2. Aufl., 1870 [Keil] Klostermann, Erich, Das Matthäusevangelium, HNT, 4, 4. Aufl., 1971 [Klostermann] Kopp, Clemens, Die heiligen Stätten der Evangelien, 2. Aufl., Regensburg, 1964 [Kopp] Kümmel, Werner Georg, Das Neue Testament, Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 2. Aufl., Freiburg/München, 1970 [Kümmel NT] Kümmel, Werner Georg, Einleitung in das Neue Testament, 21. Aufl., Heidelberg, 1983 [Kümmel Einl] Lexikon der katholischen Dogmatik, hrsg. von Wolfgang Beinert, Freiburg/ Basel/Wien, 1987 [Lkath Dogm] Lloyd-Jones, D. Martyn, Studies in the Sermon on the Mount, Grand Rapids, 1982 [Lloyd-Jones]

Ausgewählte Literatur

707

Lohmeyer, Ernst, Das Evangelium des Matthäus, hrsg. von Werner Schmauch, 4. Aufl., KEK, Sonderband, 1967 [Lohmeyer] Lohse, Eduard, Hrsg., Die Texte aus Qumran, München, 1964 [Lohse Qumran] Luck, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK. NT, 1, 1993 [Luck] Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. von Heinrich Bornkamm, Hamburg, 1967 [Luther Vorreden] Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, 4 Teilbände, EKK, 1985–2002 [Luz I/II/III/IV] Maier, Gerhard, Der Brief des Jakobus, Historisch-Theologische Auslegung, 2. Aufl., Witten-Gießen, 2009 [Maier Jak] Maier, Gerhard, Der Prophet Daniel, WStB, 1. Aufl., 1982 [Maier Daniel] Maier, Gerhard, Der Prophet Haggai und der Prophet Maleachi, WStB, 1985 [Maier Haggai/Maleachi] Maier, Gerhard, Die Johannesoffenbarung und die Kirche, WUNT, 25, 1981 [Maier JO] Maier, Gerhard, Matthäus-Evangelium, 2 Teile, Edition C-Bibel-Kommentar zum Neuen Testament, Neuhausen-Stuttgart, 1979 und 1980 [Maier I bzw. II] Maier, Gerhard, Mensch und freier Wille, Nach den jüdischen Religionsparteien zwischen Ben Sira und Paulus, WUNT, 12, 1971 [Maier Mensch und freier Wille] Maier, Johann, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, 3 Bände, UTB. W., 1862; 1863; 1916, 1995–1996 [Maier Texte I, II, III] Maier, Johann, Die Texte vom Toten Meer, 2 Bde, München/Basel, 1960 [J. Maier I bzw. II] Mauerhofer, Erich, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, 1, 3. Aufl., Nürnberg/Hamburg, 2004 [Mauerhofer] Mayer, Reinhold, War Jesus der Messias?, Tübingen, 1998 [Mayer] Mello, Alberto, Evangile selon Saint Matthieu, LeDiv, 179, Paris, 1999 [Mello] Metzger, Bruce M., Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz, 1966 [Metzger Text] Metzger, Bruce M., Names for the Nameless in the New Testament, in: Kyriakon, Festschrift Johannes Quasten in Two Volumes, I, Münster/Westfalen, 1970, S. 79-99 [Metzger] Neudorfer, Heinz-Werner, und Schnabel, Eckhard J. (Hrsg.), Studium des Neuen Testaments, Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal/ Gießen, 2006 [Neudorfer/Schnabel]

708

Ausgewählte Literatur

Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg/Basel/Wien, 1985 [Neue Jerusalemer Bibel] Neues Testament, Neue Genfer Übersetzung, 1. Aufl., 2009 [NGÜ] Nolland, John, The Gospel of Matthew, Grand Rapids/Cambridge, 2005 [Nolland] Novum Testamentum Graece, begründet von Eberhard und Erwin Nestle, herausgegeben von Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, 28. revidierte Auflage, Stuttgart, 2012 [Nestle-Aland28] Novum Testamentum Graece, post Eberhard et Erwin Nestle communiter ediderunt Barbara et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, 27. Aufl., Stuttgart, 1993 [Nestle-Aland] Nun, Mendel, Der See Genesaret und seine Fischer im Neuen Testament, Kibbutz Ein Gev, 1990 [Nun] Ott, Heinrich, Die Antwort des Glaubens, Stuttgart/Berlin, 1972 [Ott] Pokorny, Petr / Heckel, Ulrich, Einleitung in das Neue Testament, UTB, 2798, Tübingen, 2007 [Pokorny-Heckel] Pricop, Cosmin Daniel, From Espoo to Paphos, Basilica Publishing House, Bucharest, 2013 [Pricop] Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde, München, 1962/ 1965 [Rad I bzw. II] Revidierte Elberfelder Bibel, Die Heilige Schrift, Aus dem Grundtext übersetzt, Wuppertal, 1985 [Revidierte Elberfelder Bibel] Rieger, Carl Heinrich, Betrachtungen über das Neue Testament, Erster Teil, 2. unveränderte Ausgabe, Stuttgart, 1833 [Rieger] Rienecker, Fritz, Das Evangelium des Matthäus, Wuppertaler Studienbibel, Wuppertal, 1953 [Rienecker] Riesner, Rainer, Jesus als Lehrer, WUNT, II, 7, 1981 [Riesner] Rist, John M., On the independence of Matthew and Mark, Cambridge, 1978 [Rist] Robert, A. / Feuillet, A., Einleitung in die Heilige Schrift, II, Wien/Freiburg/ Basel, 1964 [Robert/Feuillet] Robinson, John Arthur Thomas, Redating the New Testament, Philadelphia, 1976 [Robinson] Robinson, Theodore H., The Gospel of Matthew, MNTC, 8. Aufl., 1951 [Robinson MNTC] Sand, Alexander, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, 1986 [Sand] Sandmel, Samuel, Herodes, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968 [Sandmel] Sauer, Georg, Jesus Sirach, JSHRZ, III, 5, 1981 [Sauer] Schäfer, Peter, Jesus im Talmud, Tübingen, 2007 [Schäfer]

Ausgewählte Literatur

709

Schlatter, Adolf, Das christliche Dogma, 2. Aufl., Stuttgart, 1923 [Schlatter Dogma] Schlatter, Adolf, Das Evangelium nach Matthäus, Erläuterungen zum Neuen Testament, 1. Teil, 7. Aufl., Stuttgart, 1936 [Schlatter] Schlatter, Adolf, Der Evangelist Matthäus, 3. Aufl., Stuttgart, 1948 [Schlatter Ev] Schmid, Josef, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, 1, 1948 [Schmid] Schmid, Josef, Art. Matthäus, Apostel, LThK, 7, 2. Aufl., 1962, 172 [Schmid Ap] Schmithals, Walter, Art.: Evangelien, Synoptische, TRE, 10, 1982 [Schmithals] Schnackenburg, Rudolf, Matthäusevangelium, 2 Bde, Die Neue Echter Bibel, 1985/1987 [Schnackenburg I bzw. II] Schneemelcher, Wilhelm, Neutestamentliche Apokryphen, I, Evangelien, 6. Aufl., Tübingen, 1990 [Schneemelcher I] Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, 5. Aufl., 2005 [Schnelle] Schniewind, Julius, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, 2, 4. Aufl., 1950 [Schniewind] Schröder, Heinz, Jesus und das Geld, 3. Aufl., Verlag der Gesellschaft für Kulturhistorische Dokumentation e.V., Karlsruhe, 1981 [Schröder] Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, 2, 16. Aufl., 1986 [Schweizer NTD] Senior, Donald, Matthew, Abingdon New Testament Commentaries, Nashville, 1998 [Senior] Stendahl, Krister, The School of Matthew and Its Use of the Old Testament, 2. Aufl., Lund, o. J. [Stendahl] Strack, Hermann L. / Billerbeck, Paul, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, I, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Aufl., München, 1956 [Strack-Billerbeck] Strobel, August, Moderne Jesusforschung im Umbruch der Zeit, Fürth, 1994 [Strobel] Stuhlmacher, Peter, Biblische Theologie des Neuen Testaments, I, Göttingen, 1992; II, Göttingen, 1999 [Stuhlmacher I bzw. II] Tacitus, Cornelius, Sämtliche erhaltene Werke, Phaidon-Verlag, Essen, o. J. (dort Annalen 295ff [Tacitus Ann]; Historien 93ff [Tacitus Hist]) Tasker, R.V.G., The Gospel According to St. Matthew, TNTC, 8. Aufl., 1979 [Tasker] Texte der Kirchenväter, 5 Bände, München, 1963–1966, [Texte KV I usw.,]

710

Ausgewählte Literatur

The Lutheran Study Bible, English Standard Version, Saint Louis, 2009 [LSB] Theißen, Gerd / Merz, Annette, Der historische Jesus, 4. Aufl., Göttingen, 2011 [Theißen-Merz] Tholuck, August, Philologisch-theologische Auslegung der Bergpredigt Christi nach Matthäus, Hamburg, 1833 [Tholuck] Trillhaas, Wolfgang, Dogmatik, Berlin, 1962 [Trillhaas] Turner, David L., Matthew, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, 2008 [Turner] Uhlig, Siegbert, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ, V, 6, 1984 [Uhlig] Vogt, Hermann Josef, Origenes als Exeget, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1999 [Vogt] Weber, Otto, Grundlagen der Dogmatik, II, Neukirchen-Moers, 1962; I, 2. Aufl., 1959 [Weber II bzw. I] Weber, Stuart K., Matthew, Holman New Testament Commentary, 2000 [Weber Holm] Weiss, Bernhard, Das Matthäus-Evangelium, KEK, 1. Abt., 1. Hälfte, 9. Aufl., 1898 [B. Weiss] Weiß, Johannes, Die drei älteren Evangelien, SNT, I, 2. Aufl., 1907, 31-525 [J. Weiß] Wettstein, Jacobus, Novum Testamentum Graece, I, Graz, 1962 (Unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1752) [Wettstein] Wiefel, Wolfgang, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK, 1, 1998 [Wiefel] Wilckens, Ulrich, Theologie des Neuen Testaments, Band I/1 und I/4, Neukirchen-Vluyn, 2002 und 2005 [Wilckens I/1 und I/4] Zahn, Theodor, Das Evangelium des Matthäus, KNT, 1, 4. Aufl., Wuppertal, 1984 (Nachdruck der 4. Aufl. von 1922) [Zahn] Zahn, Theodor, Einleitung in das Neue Testament, 2. Band, Leipzig, 1899 [Zahn Einl] Zahn, Theodor, Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons, VI. Teil, Leipzig, 1900 [Zahn Forsch VI] Zeilinger, Franz, Zwischen Himmel und Erde, Ein Kommentar zur „Bergpredigt“ Matthäus 5–7, Stuttgart, 2002 [Zeilinger]

Ergänzende Literatur in Auswahl

711

Ergänzende Literatur in Auswahl Bammel, Ernst, Art. Pilatus, RGG, 3. Aufl., 5. Bd. UTB, Tübingen, 1986, 385-386 [Bammel] Barth, Karl, Credo, München, 1935 [Barth, Credo] Bengel, Johann Albrecht, Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi, 2. Aufl., Stuttgart, 1773 [Bengel, Erkl Off] Bengel, Johann Albrecht, Gnomon, Deutsch von C. F. Werner, 8. Aufl., nach der 3. Aufl. von 1773, I, Stuttgart, 1970 [Bengel, Gnomon] Bensel, Klaus, Die Melchisedek-Typologie in Hebräer 7, 1-28, 2008 (Dissertation in der ETF Leuven-Heverlee) [Bensel] Bornkamm, Günter, Art. Verdienst III., Im NT, RGG, 3. Aufl., 6. Bd., 1986, 1263-1266 [Bornkamm] Brüdersegen, Zeugnisse zum Evangelium des Matthäus aus Predigten und Schrifterläuterungen unserer Väter und Brüder, Stuttgart, 1955 [Brüdersegen] Conzelmann, Hans, Art. Jesus Christus, RGG, 3. Aufl., 3. Bd., UTB, Tübingen, 1986, 385-386 [Conzelmann] Dalman, Gustaf, Orte und Wege Jesu, 2. Aufl., Gütersloh, 1921 [Dalman] Davies, W.D., and Allison, Dale C., Jr., The Gospel According to Saint Matthew, ICC, 3 Bände, Bd. 3, 1997 [Davies-Allison III] Delitzsch, Franz, Der Hebräerbrief, Nachdruck der 1. Auflage von 1857, Gießen, 1989 [Delitzsch, Hebr] Delitzsch, Franz, Die Psalmen, Nachdruck der 5. Aufl. im BC (1894), Gießen/ Basel, 1984 [Delitzsch, Ps] Der Neue Pauly, Art. P. Pilatus (Pontius II 7), Bd. 10, Sp. 141f [DNP 10] Eusebius von Caeserea, Kirchengeschichte, hrsg. von Heinrich Kraft, München, 1967 [Eusebius] Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 4. Aufl., Gütersloh, 1982 [Ev Erw Kat] Fruchtenbaum, Arnold, Das Leben des Messias, 1. Aufl., Hünfeld, 2007 [Fruchtenbaum] Gäbel, Georg, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes, WUNT, II, 212, 2006 [Gäbel] Grundmann, Walter, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK, I, 1972 [Grundmann, ThHK] Hengel, Martin, Crucifixion, London, 1977 [Hengel, Crucifixion] Jeremias, Joachim, Die Abendmahlsworte Jesu, 4. Aufl., Göttingen, 1967 [Jeremias Abendmahlsworte]

712

Ergänzende Literatur in Auswahl

Kahlefeld, Heinrich, Gleichnisse und Lehrstücke im Evangelium, 1. Aufl., Frankfurt/M., 1981 (urspr. 1963, unveränd. Neuaufl.) [Kahlefeld] Konradt, Matthias, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, I, 2015 [Konradt] Krimmer, Heiko, Ich habe dich erwählt, Holzgerlingen, 2010 [Krimmer] Kroll, Gerhard, Auf den Spuren Jesu, 8. Aufl., Leipzig, 1980 [Kroll] Lüdemann, Gerd, Ketzer, Stuttgart, 1996 [Lüdemann, Ketzer] Maier, Gerhard, Johannes-Evangelium, 1. Teil, Neuhausen-Stuttgart, 1984; 2. Teil, Neuhausen-Stuttgart, 1986 [Maier, Joh I bzw. II] Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, VII, 2. Aufl., München, 1976 (Nachdruck der 5. Aufl., 1904) [Mommsen] Ringshausen, Gerhard, Das Rätsel der Ἡρῳδιανοί im Markusevangelium, ZNW, 106, 2015, 115-125 [Ringshausen] Rinn, H., und Jüngst, J., Hrsg., Kirchengeschichtliches Lesebuch, 3. Aufl., Tübingen, 1915 [Rinn-Jüngst] Schreiner, Josef, Das 4. Buch Esra, JSHRZ, V, 4, 1981 [Schreiner] Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, 2, 14. Aufl., 1976 [Schweizer NTD 1976] Stevenson, G.H., The Administration of the Provinces, in: CAH, X, Reprinted 1976, 850ff [Stevenson] Umwelt des Urchristentums, hrsg. von Johannes Leipoldt und Walter Grundmann, 2 Bände; I, 4. Aufl., Berlin, 1975; II, 3. Aufl., Berlin, 1972 [Umwelt I bzw. II] Zahn, Theodor, Brüder und Vettern Jesu, in: Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur, VI. Teil, 225ff, Leipzig, 1900 [Zahn, Forschgn. VI] Zimmerli, Walther, Ezechiel, 2 Bände, BK, I, 2. Aufl., 1979; II, 2. Aufl., 1979 [Zimmerli I bzw. II]

Autorenverzeichnis

713

Autorenverzeichnis Mit den Werken folgender Autoren (siehe Literaturverzeichnis) hat sich der Autor durchgängig auseinandergesetzt, ohne dass sie hier einzeln nachgewiesen werden: Beare, Francis Wright Bultmann, Rudolf Carson, Donald A. Davies, W.D. (und Allison, Dale C.) Fiedler, Peter France, R.T. Luz, Ulrich Schlatter, Adolf Schniewind, Julius Zahn, Theodor

B Barth, Karl 33, 35, 62, 64-65, 70, 103, 130, 150, 189, 228, 250, 266, 329, 433, 601, 663, 711 Bengel, Johann Albrecht 27, 31-32, 35, 174, 250, 368, 439, 468, 531, 534, 536, 544, 558, 711 Bensel, Klaus 711 Blass, Friedrich 265, 340 Bonnard, Pierre 30, 51, 57, 61, 101103, 105, 233, 477 Bornkamm, Günther 209, 272-273, 460, 484, 711 Bösen, Willibald 200-201, 204, 286, 288, 325-328 C Cullmann, Oscar 61, 64, 66-67, 71, 76, 81, 105, 107, 149, 226-227, 233, 249, 267, 350, 428, 484, 492, 528, 534-535, 577-578, 693

D Dalman, Gustav 30, 44, 57-58, 94, 119, 122, 138, 163, 210, 214, 230, 236-238, 242, 252-253, 261, 264, 266, 366, 386, 389, 400, 403, 435, 481, 538-539, 546-548, 550, 588589, 598-599, 624, 635, 659, 661, 689, 711 Davies, W.D. 711 Debrunner, Albert 265, 340 Delitzsch, Franz 225, 350-351, 445, 534-535, 711 F Flusser, David 16, 20, 24, 26, 65, 140, 153, 156, 160-161, 200-203, 208, 279, 282, 284, 286, 288-290, 294-295, 298, 301-302, 304, 306308, 314, 318, 436, 438, 442-443, 447-450, 455, 458-460, 463, 467468, 480-481, 505

714

Autorenverzeichnis

Fruchtenbaum, Arnold 602, 619, 623, 657, 711 G Gäbel, Georg 711 Gaechter, Paul 52, 54-55, 57-58, 98, 189, 191-192, 194, 229-230, 343344, 346-351, 458-461, 463-467 Gesenius, Wilhelm 82, 143, 168, 224-225, 323, 371, 474-475, 634 Gibbs, Jeffrey A. 56, 60, 76 Goppelt, Leonhard 253, 478 Grundmann, Walter 68, 79, 127129, 133, 181-182, 188, 216, 232, 234, 296, 308, 334, 340-341, 345, 366, 471, 487, 626-627, 711-712 Gundry, Robert H. 54, 61, 187, 465468, 644, 681 H Hagner, Donald A. 101, 103-105, 107 Hahn, Ferdinand 484 Hendriksen, William 66, 71, 74, 76, 229-230, 232 Hengel, Martin 21, 23, 25, 29, 32, 39, 46-47, 52, 54, 57, 59, 64, 69, 72-73, 92, 97, 102, 108, 111, 113114, 123-124, 126, 129, 131, 134135, 154-155, 161, 169, 175, 180, 188-189, 194-195, 198, 200, 206, 208-209, 211, 215, 229, 231-232, 250, 253-254, 256-258, 261, 264265, 267, 274, 280, 282, 287-288, 294-295, 302, 304, 306, 311, 319, 323, 325-328, 335, 337-339, 346, 349, 359, 364, 389, 393, 414, 431, 439, 447, 449, 452, 458, 483-484,

491, 500, 504-505, 512, 515-516, 522, 528, 536, 538-539, 545, 556557, 560, 563, 565, 569-571, 577, 583, 588, 590, 592, 600, 605-606, 608-609, 611-612, 614, 616-617, 620-623, 626, 628-631, 636-640, 645-648, 654, 657, 660, 662, 668, 672, 679, 683, 687-690, 701, 711 Hirsch, Emanuel 88, 134, 682, 687 Holm-Nielsen, Svend 293 J Jeremias, Joachim 60-61, 65, 68-69, 71-72, 75-76, 86, 96-97, 105, 107, 127-128, 131-132, 135, 137-139, 153-158, 160-161, 195, 197-198, 200-203, 206, 208, 217, 224-226, 240, 252, 265, 269, 277, 280-282, 286, 288-292, 294-297, 300-301, 304-305, 307, 310-311, 313-315, 318-320, 354-356, 366, 375, 383, 386, 398, 434-435, 437, 442, 444448, 450-451, 454-455, 459-463, 465-467, 470-471, 475, 477, 479480, 483, 486, 489, 492, 497, 503, 520, 522, 533-534, 538, 646, 656, 711 K Kahlefeld, Heinrich 318, 320, 712 Klostermann, Erich 65, 72, 195, 649, 651, 668 Konradt, Matthias 522, 530, 534, 538, 697, 712 Kopp, Clemens 230, 236-237, 260, 408, 502, 547, 595, 598-599, 624, 635, 661 Krimmer, Heiko 516, 712

Autorenverzeichnis

715

Kroll, Gerhard 236-238, 260, 355, 386, 408, 502, 547, 595, 598-599, 624, 632, 635, 639, 661, 712 Kümmel, Werner Georg 77, 102, 213, 289, 300, 311, 351, 370, 379380, 558, 696

Mommsen, Theodor 592-593, 607, 624, 712

L Leipoldt/Grundmann 341, 346, 373, 530-531, 712 Lohmeyer, Ernst 30, 460, 561 Lohse, Eduard 30, 246, 249, 273, 349-350, 491, 571, 577, 583-584, 670 Luck, Ulrich 229, 234 Lüdemann, Gerd 679, 687, 689, 712

O Ott, Heinrich 150, 602

M Maier, Gerhard 31, 44, 61, 78, 93, 105, 114, 129, 138, 142, 165, 174, 179, 190, 208, 213, 217, 229-230, 240, 246-247, 251-252, 271, 305, 321, 331, 333, 340, 348, 355, 364, 367-368, 374, 402, 427, 432, 434, 438-439, 442, 455, 476, 481, 500, 525, 539, 541, 544, 553, 561-562, 564, 566, 571-572, 596-598, 604, 607, 616, 636, 647, 650, 698, 700, 712 Mayer, Reinhold 75, 248, 258, 325, 409, 544, 579 Merz, Annette 121, 123-124, 128, 161, 163, 173, 195, 200, 204, 243, 282-283, 291, 304, 306, 311, 365, 447, 459, 484, 574, 600, 619, 656657, 664, 672, 678-679, 682, 687, 700-701 Metzger, Bruce M. 181, 232

N Nolland, John 212 Nun, Mendel 122

R Rehkopf, Friedrich 265, 340 Riesner, Rainer 15, 29, 44, 47, 5758, 64, 85, 87, 93, 107, 130, 198, 227, 229-231, 237-238, 260-261, 288, 300, 302, 308, 311, 320, 349, 365-367, 385, 398, 408, 432, 448, 457, 461, 472, 483, 506, 511, 523, 525, 538, 546-548, 554, 588, 593, 598-599, 607-608, 616, 623-624, 629-630, 635, 637-638, 642, 654655, 659, 661-662 Ringshausen, Gerhard 322-323, 712 Rinn/Jüngst 606-607, 712 S Sand, Alexander 31, 47, 49, 52, 7172, 82, 98, 124-125, 129, 137, 153-155, 158, 161, 220, 229, 240, 247, 261, 294, 297, 311, 316, 319320, 339-340, 345, 349, 352, 357, 364, 367, 372, 377, 390, 394, 397, 413, 428, 436-438, 444-445, 463, 465-466, 473, 480-481, 486, 492493, 499, 506, 518, 524, 527-528, 556, 574, 580, 596, 600, 619, 644, 648, 657, 665-667, 670, 681

716

Autorenverzeichnis

Schäfer, Peter 521, 573, 580, 606, 615, 619, 639, 665 Schneemelcher, Wilhelm 515, 602 Schreiner, Josef 317, 712 Schröder, Heinz 120, 122, 155, 202203, 206, 326, 471 Schweizer, Eduard 87-88, 224, 320, 322, 553, 648, 712 Stevenson, G.H. 592, 594, 624, 660, 712 Stuhlmacher, Peter 94, 114, 209, 223, 226-227, 342, 483-484, 532, 538-540, 616, 646 T Tasker, R.V.G. 29, 31, 33, 35, 38, 40, 48, 76, 91, 94, 99, 101, 112, 115, 119, 127, 129, 137, 141-142, 154155, 157, 167, 170, 173, 176, 178179, 191, 204, 211-212, 215, 231, 233-234, 240, 243-244, 246, 250, 265-266, 271, 274, 281-282, 287, 297, 320, 328, 339-340, 346, 348, 352, 357, 374, 376, 379, 383, 385, 388, 390, 394, 419-420, 426, 437,

459, 465, 467, 470, 474, 479, 486, 500, 506, 517, 526, 607, 610, 615, 617-618, 620, 624, 644, 648, 670, 675 Theißen, Gerd 121, 123-124, 128, 161, 163, 173, 195, 200, 204, 243, 282-283, 291, 304, 306, 311, 365, 447, 459, 484, 574, 600, 619, 656657, 664, 672, 678-679, 682, 687, 700-701 Trillhaas, Wolfgang 134, 150, 427, 432-433, 696, 698 U Uhlig, Siegbert 316, 331 W Weiß, Johannes 144 Wiefel, Wolfgang 234 Wilckens, Ulrich 65, 68, 73, 208, 357, 392, 492, 497, 534-535, 538539, 695 Z Zimmerli, Walther 486, 712

Stichwortverzeichnis

717

Stichwortverzeichnis A Abendmahl 43, 277, 305, 519, 521, 529, 536, 538, 712 Abraham 67, 294, 336, 365, 422, 538 Adam 167 Ägypten 97, 245, 354, 667 Albertus Magnus 438 Almosen 509-510, 513 Altar 369, 377, 390, 393, 419, 531 Amen 85, 90, 125-126, 135, 138, 141, 179, 186, 191, 194, 262, 277, 280, 282, 390, 395, 402, 404, 434, 438, 451, 454, 458, 466, 482, 489, 491, 494, 505, 511, 518, 525, 540 Andreas 93, 192, 542, 568 Anstoß 13, 22, 118, 122, 130-131, 133, 207, 298, 310, 539, 541-542, 586 Äon 95, 195, 651, 693 Apostel 21, 53, 63-64, 70, 75, 77, 86, 93, 106, 144, 153, 188, 194196, 198, 219-220, 238, 244, 313, 368, 439, 457, 495-496, 508, 510, 514, 524-525, 529, 536, 540, 544, 563, 588, 595, 657, 663, 691, 695, 699 Apostelkonzil 76 Aramäisch 18 Archelaus 155, 231, 325, 612 Armut 189, 510, 513 Arzt 150, 389 Asche 416 Auferstehung 49-50, 59, 71, 81, 90, 101, 117, 144, 148, 163, 173, 197, 210, 212-213, 302, 330-331, 333337, 339, 452, 498-499, 520-521,

536, 622, 633, 650-651, 653, 655, 662, 665-667, 669, 672, 675-676, 678-680, 682, 686, 690-691 Auge 15, 131, 189, 199, 207, 209, 220, 342, 369, 383, 491, 511, 519, 559, 654, 662, 678 Augustin 346 Auslegungsgeschichte 130, 161, 234, 295, 601 Aussätzige 659 Autorität 17, 66, 99, 128, 240, 339, 357, 411, 419, 439, 564 B Barmherzigkeit 31, 34-36, 43, 45, 61, 89, 110, 159, 163, 193, 233, 370, 379, 381, 383, 422, 490-491, 582, 601, 647 Barnabasbrief 346 Baum 265 Bekehrung 62, 126, 318, 389, 400, 525, 644 Bekenntnis 39, 56, 59, 61, 63-64, 67, 77, 99, 118, 207, 247, 249, 476, 569-572, 574, 579, 581, 583, 596, 624, 645, 696 Berg 37, 92, 100-101, 109, 237-238, 262, 548, 636, 655, 688-690, 699 Bergpredigt 27, 76, 101, 124, 133, 135, 146, 169, 181-183, 185-186, 188, 256, 283, 336, 353, 358, 360, 365, 371, 376-377, 401, 414, 424, 453, 487, 499, 531, 606, 689-690, 692 Besessene 30 Besessenheit 109-110 Bethlehem 254, 689

718

Stichwortverzeichnis

Betsaida 41 Blinde 37-38, 48, 228, 231, 233, 251, 257, 369-370, 375-376, 382 Blut 56, 64, 111, 176, 315, 370, 386, 390, 393-394, 518, 532-533, 551, 594-595, 603, 617-619 Boot 40, 51 Böse 82, 304, 312, 326, 525, 568 Bote 466 Braut 314, 459-460 Bräutigam 314, 458-460, 462, 464466 Brot 27, 33, 40-41, 51-52, 411, 446, 518, 525, 527, 530-532, 538-539 Brüder 75, 92, 141-143, 152-153, 159, 191, 196, 214, 217-218, 330, 332, 363, 373, 381, 525, 542, 656, 712 Buch 17, 102, 150, 193, 325, 393, 423, 516, 655 Bund 27, 119, 121, 146, 169, 172, 255, 400, 519, 532-533, 535, 539, 555, 651, 695 Buße 105, 276, 280, 282, 529, 597, 602 C Cäsarea 56-60, 76-78, 83, 93-94, 99, 112, 117-119, 124, 420, 625, 634 Chorazin 355 Christologie 218-219, 227, 299, 302, 408, 429, 431, 476, 496, 509, 577-578, 702 Christusnachfolge 299 Chrysostomus 70, 140, 149-150, 174, 358-359, 389, 428, 433, 497, 510, 513

Clemens Alexandrinus 174, 190, 227 D Dämon 27, 30, 108, 110, 112 David 230, 237, 294, 296, 347, 349350, 420, 525, 548, 553, 645 Dekalog 17, 25, 182, 358 Dekapolis 38-39, 608 Demut 127 Didache 162, 190, 250, 346, 449 E Ehe 164-165, 168, 170-171, 173175, 332-333, 335, 345, 584, 589 Ehebruch 13, 25, 164, 170 Eid 576, 580, 583 Ekklesia 75 Elia 43, 56, 59-61, 92, 95-101, 103107, 334, 633, 646-647 Elisa 40, 42-43, 229, 334 Eltern 18-20, 192 Endgericht 89, 132-133, 145, 195, 298, 314, 317, 320, 368, 374, 395, 398, 401, 417, 457, 461, 466, 475, 478, 487-488, 493, 496, 586 Endzeit 48, 169, 195, 237, 249, 306, 311, 386, 409, 420, 423-425, 697 Endzeitrede 407, 426, 431 Engel 94, 97, 100, 135, 137, 140141, 247, 330, 335, 406, 429-430, 434, 439-440, 446, 451, 482, 484485, 558, 565-567, 671-678 Engel des Herrn 671-672 Erbarmen 30, 152, 156-157, 181, 208, 228, 494 Erfüllung 31-32, 35, 118, 184-185, 395, 405, 407, 419, 426, 434, 487,

Stichwortverzeichnis

533, 559, 566, 568, 576, 581, 594, 627, 638, 664, 666 Erlöser 58, 63, 97, 241, 249, 425, 428, 507, 552, 566, 657, 697, 702 Erlösung 43, 45, 84, 97-98, 103, 114, 134, 178, 188, 225, 245-246, 261, 276, 429, 431, 532, 551, 554, 556-558, 615, 618, 626, 637, 642, 695 Ernte 201-203, 287, 360, 436 Erwählung 193, 491 Eschatologie 68, 73, 263, 337, 358, 431, 457, 488 Essener 95, 326, 356, 378, 520, 524, 534, 612 Eusebius von Cäsarea 28, 44, 58, 231, 352, 420, 547, 570, 593, 624, 638, 711 Evangelist 131, 241, 386, 435, 559, 604, 680, 690, 701 Evangelium 36, 48, 80, 86, 90, 103, 115, 151, 194, 213, 268, 311, 343, 346, 405, 414, 417-418, 431, 441, 481, 500, 505, 510-512, 515, 631, 651, 663, 701 Exegese 20, 36, 40, 43, 45, 63, 106, 161, 174, 213, 234, 256, 266, 296, 301, 329, 332, 346-348, 372, 388, 393, 407, 432-433, 460-461, 479, 546, 600-602, 610, 617, 619, 621622, 647, 650, 654, 667, 678, 682, 687-688, 695, 701 Exodus 182 F Falschpropheten 415, 426 Familie 18, 105, 120, 187, 192, 261, 365, 409, 447, 506, 597, 631, 641, 655

719

Fasten 109, 115, 521 Feind 324, 659 Feuer 108, 110, 130, 133, 274, 482, 493 Finsternis 304, 316-317, 469, 480, 633, 644 Fisch 42, 118, 122 Fischer 122, 421 Forschung 92, 301, 373, 419, 441, 659 Friede 105, 140, 241, 265, 340, 381 Frondienst 628, 630 Frucht 262, 265, 537, 652 Früchte 264-265, 284, 287, 292, 296 Führung 273, 296, 618, 620 Furcht 92, 99, 298, 311, 416, 477478, 526, 654, 672-675, 681 Fürsprecher 398 G Galiläa 15, 28-29, 51-52, 112, 116, 119, 124, 162-163, 229, 235, 289, 325, 348, 418, 505, 539-540, 542, 586, 588, 608, 633, 653, 669, 674, 677, 680-682, 688-690, 699 Gebet 23, 115, 129, 146-147, 151, 160, 176, 213, 262, 268, 451, 546, 548, 550-551, 553-555, 557-558, 563, 681 Gebot 13, 17-18, 25, 92, 168, 170, 182-183, 185-186, 197, 321, 337, 340, 342-346, 396, 453, 479, 509 Geburt 412, 642, 689 Gefängnis 152, 482 Geheimnis 89, 188, 324, 348, 350, 422, 515, 525, 546, 698, 700

720

Stichwortverzeichnis

Gehorsam 32, 105, 185, 221, 227, 319, 341, 345, 357, 369, 440, 453, 474, 478 Geist 53, 59-60, 76, 107, 146, 197, 213, 238, 242, 269, 274, 324, 326, 347, 349, 383, 395, 415, 419, 471, 526, 545, 552-554, 633, 647-650, 677, 697 Gemeinderegel 183 Generation 32, 90, 168, 173, 358, 368, 387, 391, 395, 410, 420, 438, 441 Gerechter 281, 385, 443, 643, 653 Gerechtigkeit 89, 183, 198, 206, 225, 253, 277, 281, 292, 314-315, 317, 319, 349, 487, 646 Gericht 22-23, 29, 85, 89, 136, 161, 188-189, 197, 252, 260-263, 265266, 268-269, 292, 302, 308, 313, 328, 374, 390, 395-396, 398, 429, 431, 445-447, 452, 456, 470, 473474, 485, 490, 527-528, 578, 602, 613, 625, 637, 642, 644, 646, 649, 699, 702 Gesetz 27, 55, 97, 119, 121-122, 185, 212, 282, 300, 324, 332, 337, 340-343, 346, 351, 358, 370, 374, 379-380, 383, 415-416, 452, 456, 490, 532, 566, 583, 595 Gesetzestreue 344 Gesetzlosigkeit 370, 386, 405, 413, 416-417, 433, 441 Gesicht 92, 94, 570, 581 Gewalt 62, 221, 256, 276, 305, 326, 534, 649 Glaube 28, 34-35, 64, 67, 113-116, 132, 233, 267, 269, 373, 390, 432, 495, 695

Glaubensbekenntnis 69, 341, 344, 365, 476, 578, 662 Gleichnis 13, 50, 74, 135, 137, 139, 152-154, 158, 160-161, 198-201, 203, 205, 208, 231, 266, 277-280, 283-287, 289-293, 295-296, 300307, 309-311, 313-315, 318-319, 434-435, 440, 442, 447-451, 454455, 458-459, 463, 465, 467-471, 475, 479, 481-483, 485-486, 495, 552, 712 Gnade 65, 127, 208, 368, 473, 486, 496, 526, 601, 611, 617 Gold 369, 375-377, 472 Götter 155 Gottesdienst 151, 182, 255, 343, 649 Gottesherrschaft 71, 283, 318 Gottesknecht 39, 81, 99, 225, 485, 511, 535, 576, 630, 640, 646 Gottesreich 121, 214, 217, 296, 306, 328-330, 369, 372, 374, 436, 483, 496, 539, 682 Gottlosigkeit 311 Grab 94, 159, 260, 386, 635, 658, 660-664, 666-671, 674-679, 684685, 687 Griechisch 202, 472, 608, 655 H Halacha 20, 322, 324, 375 Hand 57, 80, 90, 94, 128, 130, 133134, 165, 178, 291, 344, 425, 460, 503, 517-518, 526, 558, 560, 563, 581, 641 Hass 413-415, 582 Hauptmann 31, 35, 259, 633, 646, 652-653

Stichwortverzeichnis

Haus 15, 22, 32, 67, 75, 112, 118, 120, 126, 172, 201, 229, 237, 251, 254, 260, 291, 305, 313, 343, 396, 399, 418, 447, 449, 453, 463, 465, 505-507, 596, 684, 688 Hausherr 206, 447, 450 Hebräisch 645 Hebraismus 696 Heiden 16, 31-33, 35, 38-40, 43, 57, 210-211, 225, 252, 254, 257, 283, 296-297, 303, 327, 491, 534, 613, 624, 631, 653, 675, 677, 694-695 Heil 39, 71, 177-178, 297, 309, 320, 324, 468, 487, 495-496, 557, 618619 Heilandsruf 487 Heilige Schrift 17, 140, 241, 293294, 357, 378, 392, 510 Heiligkeitsgesetz 454 Heilsgeschichte 96, 297, 436, 527, 538, 695, 700 Heilung 31, 38-39, 100, 108-109, 112-113, 116, 150, 210, 228-229, 233-234, 261-262, 415 Hermas 130, 168, 173, 190, 497 Hermon 57, 59, 94, 115, 429 Herodes 29, 44, 46, 52, 57-59, 155, 163, 166, 218, 230-231, 248, 253, 293, 322, 325, 404, 593, 596, 624, 626 Herr 27, 32-34, 67, 79, 92, 108-111, 152, 155-156, 158-160, 204, 207, 228, 232, 235, 239-240, 252, 267, 277, 280, 284, 291-292, 347, 349, 447-448, 451, 453-456, 458, 466, 469, 472-477, 482, 488, 504, 507, 518, 525, 594, 599, 625, 663, 665666, 681

721

Herrlichkeit 81, 84-85, 89-90, 97, 116, 191, 194, 217, 228, 260, 351, 406, 408, 428-429, 431, 433, 482, 484-485, 542, 548, 627 Herz 13, 19, 25, 27, 134, 140, 177, 207, 209, 250, 490, 504, 509, 637, 692 Hesekiel 334, 349, 674, 712 Heuchler 13, 19, 321, 326, 369-372, 379, 383-384 Hieronymus 269, 428, 438, 595, 644 Himmel 45-46, 48, 56, 64, 70, 72, 84, 96, 99-100, 121, 135-137, 141, 146, 179, 184, 219, 270, 274275, 282, 315, 330, 356, 363, 369, 378, 382, 406, 426-428, 430, 434, 439, 451, 487, 537, 600-602, 646, 648, 671-672, 691-693, 695 Hirte 112, 139, 482, 485 Historizität 73, 76, 140, 149, 175, 198, 213, 227, 234, 261, 302, 431, 457, 497, 501, 539, 545, 557, 600, 609, 613, 621, 657, 662, 668, 683, 687 Hochzeit 277, 304-305, 312, 316, 459, 461, 465, 487 Hohepriester 211, 272-273, 569, 573, 575-576, 578-579, 583, 592, 640 Hölle 369-370, 372, 388, 493 Hören 129, 214, 654, 699 Hunger 43, 45, 262, 264, 411, 433, 441 I Ignatius 222 Immanuel 468, 700 Irenäus 64, 128, 140, 303, 318, 320, 329, 346, 358, 399, 401, 449, 497,

722

Stichwortverzeichnis

515, 529, 532, 537, 539, 553, 555, 595, 600-602, 634, 637, 644, 657, 662 Irrlehre 567 Israel 22, 27, 29-30, 32-36, 46, 50, 64, 77, 79, 97, 106, 123-124, 148, 166, 201, 207-208, 211, 241, 245, 249, 254-255, 259, 263, 265-266, 268-269, 272, 277, 279-280, 283, 290, 293, 296-297, 299, 303, 307, 310, 313, 334, 341, 347, 354, 374, 391, 394-397, 399-401, 404, 418, 422, 430, 436, 439, 441, 446, 457, 478, 486, 503, 520, 528, 531, 576578, 618-619, 632, 640, 642-643, 648-649, 694-695 J Jahwe 246, 291, 460 Jakob 239, 330, 336, 365 Jakobus 75-76, 92, 101, 109, 114, 138, 143, 147, 192, 214-216, 218219, 248, 267, 318, 364, 368, 376, 381, 392-393, 548, 550, 556, 568, 633, 655-656, 662, 670 Jeremia 56, 59-61, 255, 349, 419420, 575, 594, 599-600 Jerusalem 13-14, 19-22, 29-30, 46, 59, 75, 78, 96, 116-117, 140, 162164, 176, 178, 210-211, 214-215, 217, 229, 231-232, 235-237, 241242, 246-250, 253, 257, 260-261, 263, 265, 269-270, 273, 276, 291, 293, 297, 300, 305, 311, 320, 325, 331, 337-339, 351, 353, 363, 370371, 374, 384, 386, 396-400, 403, 419, 421, 426, 428-429, 452, 470, 491, 497, 502, 504, 506, 516, 522524, 537, 541-543, 548-549, 567,

572, 586, 589, 598, 605, 608, 614, 625, 627, 630-631, 635, 644, 651, 657, 659, 661, 672, 679, 681-682 Jesaja 13, 19-20, 81, 103, 225-226, 291, 349, 419, 427, 439, 534, 591 Jesus 13-56, 58-67, 70-109, 111123, 125-129, 131-139, 143-149, 151-155, 157-173, 175-189, 191192, 194-201, 203, 205, 207-236, 238-277, 279-286, 288-300, 302303, 305-311, 313-317, 319-351, 353-359, 361-366, 368, 370-405, 407-419, 421-430, 433-450, 452457, 459, 461-462, 465-468, 470473, 475-481, 484-490, 492-496, 499-513, 515, 517-541, 543-587, 591-596, 598, 601-603, 605-611, 613, 615-616, 618, 620-627, 629633, 635-649, 651-653, 655-659, 661, 663-665, 667-671, 674-676, 678-683, 687-689, 691-693, 695702 Jesuslogien 70 Jesusworte 227, 397, 474, 484 Joch 168, 341, 360, 372 Johannes 25, 28, 37, 45, 56, 59, 61, 63-64, 92, 101-102, 104-107, 109, 172, 185, 192, 214-216, 218-219, 221, 236, 244, 246, 249, 251, 255, 260, 263, 270-271, 274-275, 277, 280-282, 300, 329, 362-363, 398, 407, 427, 483, 495, 499, 504-505, 507-509, 515, 519-523, 525, 537, 540, 542-544, 546, 548, 550, 556, 562-563, 565, 568, 570-572, 574575, 585, 591-592, 595, 608, 610, 617, 626, 629-630, 634, 638-639, 652, 656, 658, 660

Stichwortverzeichnis

Johannesoffenbarung 134, 195, 423, 439, 444, 449, 674, 711 Jona 45, 49-50, 65, 79, 117, 207, 212, 268-269, 394, 527, 549, 563, 568 Jordan 57, 162, 210, 229, 282 Josef 189, 231, 385, 453-454, 502, 571, 580, 585, 608, 633, 655, 658663, 670 Josephus 17, 26, 57-58, 71, 75, 98, 155, 163, 167, 229, 237-238, 248, 264, 272, 308-309, 325, 331, 336, 354, 371-374, 378, 385-386, 394, 398, 403, 409, 419, 443-445, 461, 471, 494, 502-503, 507, 522, 553, 564, 567, 571, 593, 597, 606-607, 609, 612, 614, 616-617, 621, 623, 625-627, 630-631, 637, 640, 644, 649, 654-655, 658-660 Josua 93, 230, 354 Judas 75, 86-87, 90, 143, 211, 248, 261, 276, 325, 409, 508-509, 513519, 524-525, 528-529, 536-539, 541, 543-544, 548, 557-563, 568, 585, 588, 594-597, 600-603, 617, 627, 684, 688 Judenchrist 686-687 Judentum 15-16, 18, 61, 69, 94, 96, 102, 111, 172, 176, 195, 309, 346, 354, 373, 393, 419, 460, 487, 579, 593, 612, 646, 654-655 Jungfrau 452 K Kapernaum 29, 31, 35, 118-120, 122, 125, 229, 652 Kelch 212, 214, 217-218, 532, 539, 545, 551, 554-555

723

Kinder 33, 75, 121, 125-126, 128129, 139, 152, 155-156, 160, 172173, 175-178, 191, 196, 251, 259, 261, 341, 396, 398, 603, 698 Kleidung 95, 315 Kluge 575 Kommunikation 415 König 75, 152, 155, 157, 160, 235, 241, 244-246, 249, 303-305, 307312, 314-316, 319, 349-350, 373, 482-483, 603, 605, 626-627, 632, 638-639, 642-643, 665, 697 Kopf 61, 242, 264, 291, 325, 335, 352, 401, 555, 560, 606, 622, 632, 634, 637-638, 645 Koran 100, 167, 213, 276, 399, 443, 499, 580, 596, 675, 688, 696 Kranke 41 Krankheit 37, 112, 266 Kreuz 27, 83, 85-86, 102, 134, 181, 188, 217, 219, 225, 235, 240, 245, 428, 531, 533, 538, 557, 559, 567, 615-616, 623, 628-630, 632-633, 637-638, 640-645, 648, 652-653, 656-657, 661, 681, 695, 702, 712 Kreuzesnachfolge 211 Kunstgeschichte 623, 660 L Lahme 37-38, 251, 257 Lästerung 13, 25, 569, 579-580 Lehre 19, 27, 36, 46, 49-50, 52, 5455, 62, 64, 72, 81-82, 91, 117, 133, 139-141, 146, 161, 168, 171, 223, 262, 276, 318, 322-324, 329330, 333, 335, 337, 357, 375-376, 379-380, 383, 392, 401, 412, 433, 485, 495-496, 525-526, 574, 601, 637, 641, 697, 699, 701

724

Stichwortverzeichnis

Lehrer 16, 20, 30, 52, 81, 95, 119, 125, 136, 177, 238, 258, 319, 322323, 325, 335-337, 354-355, 358, 363-364, 367-369, 399, 439, 443, 474, 485, 518, 523, 528, 551, 631, 686 Leib 413, 468, 496, 505, 508, 511, 518, 531-532, 641, 676 Leid 335 Leidensweissagung 78, 80, 85, 116117, 210, 212, 290, 593 Leser 31, 41, 159, 208, 244, 268269, 363, 407, 419, 430-431, 433, 441, 449, 454, 466, 480, 494, 526, 528, 533, 581, 598, 629 Leviratsehe 332 Licht 23, 39, 44, 49, 75, 92, 94, 155, 208, 219, 224, 399, 406, 426, 444, 467, 486, 542, 582, 644 Liebe 62, 82, 116, 139, 151, 153, 158-159, 166, 194, 198, 228, 269, 279, 288, 313, 319, 335, 341, 343, 345-347, 359-360, 376, 383, 389, 396, 399, 405, 416, 423, 439, 444, 446, 467, 481, 489, 491, 508-509, 511, 523, 542, 544, 551, 554, 582 Lohn 64, 89, 128, 191, 193-194, 196-201, 203-204, 208-209, 222, 361, 474, 492, 595 Lukas 28, 37, 45, 57, 62-63, 73-74, 76, 78, 80, 85, 87, 90, 93-94, 97, 99-100, 104, 108-110, 112, 116, 131, 135, 165, 175-176, 180-182, 186, 210, 228, 230-231, 233, 242244, 246, 251-252, 255-256, 260, 263, 270-271, 275, 277, 282, 285, 292-293, 297-298, 304-305, 321, 329, 331, 339-340, 347, 349-350, 352-354, 371, 391-392, 397, 407,

435, 448, 452, 458, 475, 483, 499501, 515, 522-523, 530, 532-533, 535, 540, 543-544, 546, 554, 556, 562-563, 565, 570-571, 576, 590592, 595, 599, 608, 610, 617, 622, 629, 634, 638-639, 652-654, 658, 662, 673, 682, 689 Luther 32-36, 147, 174, 209, 221, 329, 408, 513, 524, 676, 700 LXX 14, 18-19, 46, 81, 89, 94-95, 98-101, 138, 143-144, 154, 158, 172, 183, 188, 224, 226, 239, 241244, 246-247, 252, 254-255, 258260, 281, 286, 289, 291-292, 294, 298, 306, 309, 330, 332, 339, 341, 349-350, 365, 371, 381, 394, 410, 419, 423, 453, 493, 511, 534, 541, 549, 581, 589, 599-600, 630, 636, 638, 640, 643, 645, 647-648, 692, 694, 699 M Macht 30, 68, 80, 84, 86, 90, 111, 214, 217, 220, 256, 291, 351, 391, 400, 408, 418, 428-429, 456, 468, 574, 671-672, 691-695, 697, 701 Magier 639 Mammon 186 Maria 81, 254, 260, 505, 507, 633, 654-656, 658, 662, 669-670 Märtyrer 534, 544, 621, 660, 667 Maschal/Meschalim 21, 121, 137, 205, 286, 319, 434, 483 Matthäus 14-15, 20, 26, 28-30, 35, 37-42, 51-54, 57, 60, 62-63, 7374, 80, 85, 87, 90, 93-94, 99-102, 106, 108-110, 112-114, 116, 118119, 123-125, 129, 138, 140, 142, 146, 153, 161-165, 170, 173, 175-

Stichwortverzeichnis

176, 180-182, 185, 187-188, 191192, 195-196, 199, 208, 210, 215, 219, 226, 228, 230-231, 233-234, 236, 238-243, 246-247, 249-252, 254-259, 264-265, 270, 273, 279, 285, 288-289, 292, 298-299, 301306, 311, 313, 317, 319-322, 329, 331, 337-340, 342-344, 347, 350, 352-354, 357, 359, 362-363, 365, 370, 375, 379, 383, 386, 388-389, 391, 393-395, 397, 400, 402-403, 427, 433-434, 436, 441, 443, 450, 452, 461-462, 480, 483, 494-495, 499-503, 505-506, 508, 512-516, 521-522, 524-525, 527-529, 533535, 537, 539-544, 546, 555-556, 559-560, 562-567, 570-571, 573575, 582-583, 586-587, 589-592, 594-600, 602, 604-606, 610-613, 615, 617-618, 621-625, 629, 631632, 634, 636-656, 658-660, 662663, 666-667, 669-671, 673, 676678, 680-684, 686-692, 694-695, 699-701 Meer 37, 118, 238, 262, 267-268, 369, 372-373, 542 Menschensohn 56, 58, 75, 85, 8992, 101, 104, 116-117, 135, 137, 191, 194, 210-211, 214, 223, 349, 406, 427-429, 447, 451, 471, 482486, 499-500, 518, 527, 545, 556, 569, 577-578, 601, 694 Messianität 36, 54-55, 99, 102, 107, 241, 245, 252, 258, 261, 275, 344, 567, 605, 659 Messias 17, 22, 29-30, 33-36, 3839, 43, 45-46, 48-49, 53, 55-56, 61-63, 65-66, 71, 75-78, 81, 8487, 96, 99, 102, 104-107, 109,

725

117, 131, 147, 163-164, 178, 195196, 204, 211, 216, 218, 227, 233234, 241-242, 244-245, 247-249, 251, 254, 257-259, 261-262, 266, 269-270, 274-275, 286, 289-290, 293-295, 297-298, 303, 306, 313314, 320, 325, 328, 337, 347-351, 357, 363-364, 372, 376, 379, 382, 389, 391, 400-401, 409, 424-425, 428, 437, 448, 463, 466, 485-486, 507-508, 511, 516, 527, 541, 544, 552, 559, 564-566, 569-570, 576578, 582, 585, 603, 610-611, 615, 619-620, 639, 642, 644, 653, 693695, 697, 711 Mission 31, 160, 366, 372-373, 413, 434, 441, 446, 482, 694-695 Missionsbefehl 312, 602, 669, 689, 692-695, 701 Mittelalter 64, 132, 457 Mönchtum 171, 174 Mose 16, 42-43, 45, 55, 59, 81, 92101, 103, 132, 164, 168-169, 182183, 224, 241, 248-249, 256, 269, 272-273, 296, 319, 330, 332, 334, 336, 340, 343, 354, 357-358, 376, 382, 387, 422, 453, 533, 566, 575 Mutter 13, 17-19, 164, 167, 179, 196, 213-218, 220, 254, 326, 348, 373, 447, 633, 655-656, 662, 670 N Nazarener 584, 586, 593 Nazareth 248 O Offenbarung 96, 98, 485, 589, 626, 681, 698-699, 701 Ohr 56, 391, 558, 563

726

Stichwortverzeichnis

Opfer 13, 18, 84, 196-197, 253-255, 285, 369, 377, 419, 438, 535, 567, 589, 611, 649, 661 Origenes 43, 68, 269, 427, 497 Ostjordanland 59, 163, 229 P Palästina 57, 158, 393, 616, 644645 Papias 352, 537, 595, 597 Passion 24, 50, 77, 81, 84, 86-87, 91-92, 95, 102-103, 111, 116, 149, 210, 212-213, 235, 283, 302, 324, 331, 370, 402, 431, 452, 498499, 521, 548, 559, 569, 599, 627, 629, 634 Paulus 23-25, 32, 75, 89, 114, 121122, 136, 143-144, 166, 172, 180, 182-183, 188, 195, 197, 207, 222, 267, 291, 297, 299, 329, 351, 361, 375, 388, 393, 395, 400, 424, 427, 430, 438, 445, 449, 454, 462, 474, 493, 521, 530, 533, 535-536, 539, 551, 553, 569, 577, 592, 605, 620, 638, 650, 675, 696, 698 Perle 74 Petrus 13, 21, 23, 25, 27, 56, 59, 6273, 75-86, 92-93, 97-99, 101-103, 109, 118-124, 126, 152-154, 161, 185, 188-189, 191-192, 194, 197, 208, 221, 231, 265, 299, 329, 400, 438, 443, 449, 521-523, 539-540, 542-545, 547-548, 550, 552, 556, 563-565, 568-570, 572-573, 584591, 595, 601-602, 608, 643, 677, 687, 690, 698 Pharisäer 13-23, 26, 45-46, 48-52, 54-55, 71, 77, 79, 81-82, 164-166, 168-170, 180, 182, 223, 257-258,

271, 282, 284-285, 291, 293, 298299, 302-303, 320, 322-325, 328, 331, 337-339, 343, 345, 347-348, 352-353, 356-358, 360, 362, 369373, 375, 379-380, 383-385, 393, 396, 457, 502, 505, 573, 592, 663, 686 Philippus 57-58, 155, 585, 608 Philo 195, 372, 593, 627, 685 Philosophie 227 Pietismus 171, 190, 228, 366, 462 Plage 205 Polemik 21, 291, 360, 362, 371, 373, 376, 582, 592 Polykarp 130, 227, 250 Prädestination 133, 189, 218, 307, 319, 398, 455, 487, 493, 519 Predigt 33, 72, 128, 145, 209, 223, 281, 299, 582, 631, 677 Priester 16, 95, 120-121, 258, 326, 361, 507, 592, 596-597, 611, 684 Prophet 47, 60, 99, 235, 237, 243, 248, 274, 281-282, 289, 371, 391, 405, 418, 541, 575, 581, 586, 642, 665, 668 Prophetie 76, 85, 117, 132, 211212, 269, 291, 311, 318, 349, 352, 362, 391, 395-396, 400, 404-406, 414, 416, 419-420, 434, 439, 454, 511-512, 519, 525, 542, 544, 562, 568, 581, 589, 594, 600-601, 627, 643, 647, 663, 666, 680, 684, 686, 694 Prophezeiung 76, 117, 211, 213, 396, 407, 409, 426, 504, 517, 528, 541-543, 640 Proselytentaufe 697 Protestantismus 68, 70, 89, 145, 283, 345, 467, 496, 528, 601

Stichwortverzeichnis

Prozess 67, 126, 255, 257, 273, 276, 298, 331, 351, 414, 498, 557, 559, 564, 578-579, 584, 592-594, 596597, 602, 604-608, 614, 616, 618, 620, 623, 639, 641, 653, 657, 659, 665, 668-669, 685 Psalm(en) 33, 81, 109, 181, 183, 236, 249, 258-259, 290, 293, 350, 378, 387, 487, 525, 527, 537, 549, 568, 574, 577, 645, 679, 711 Q Qumran 49, 68, 82, 138, 181, 349, 358, 367, 389, 520, 553, 679 R Rabbi 37, 115, 118-119, 156, 172, 176, 179-180, 193, 258, 321, 323, 330, 337, 340, 356, 363, 392, 439, 486, 518, 528, 558, 560 Rabbinat 132, 137, 322, 597 Rabbinen 19-20, 22, 48, 62-63, 72, 79, 88, 98, 105, 117, 121, 133, 137-138, 143-144, 146, 148, 167, 176, 182, 185-186, 193, 196, 212, 217, 221, 247, 249, 259, 286, 297, 307, 323, 325, 333-334, 340, 346, 349, 355, 358, 360, 364, 368, 376378, 388, 392, 403, 412, 415, 443445, 457, 472, 507, 509, 512, 522, 528, 536, 543, 553, 560-561, 579, 588, 597, 606, 644, 649, 681 Redekomplex 124, 351, 499 Reflexionszitat 240 Regierung 606, 615 Reich Gottes 49, 56, 70-71, 90, 125128, 130, 133, 144, 149, 151-152, 154, 173, 175, 178-179, 186-188, 190, 198, 200, 216, 227, 276-277,

727

280-281, 284, 296-297, 303, 306, 359, 378, 437, 454, 458-459, 462, 464, 487, 516, 536 Reichtum 34, 186, 188-189, 655 Reinigung 252, 383-384 Reise 117, 176, 360 Retter 401, 408, 415, 642 Rettung 89, 141, 188, 192, 194, 246, 318, 423, 491, 643 Richter 89, 161, 408, 428, 450, 484, 583, 595, 605 Rom 15, 67, 70, 76-77, 220, 286, 323, 325, 327, 330, 410, 507, 567, 579, 605-606, 611, 616, 620, 624, 640 Römer 87, 211, 256, 259, 261, 275, 291, 293, 302-303, 319, 325-326, 328-329, 404, 419-420, 504, 516, 560, 570, 572, 593-594, 605, 607, 609, 611, 616, 618, 620-621, 623624, 629-630, 632, 638-639 Ruhe 321, 328, 511, 549, 665 S Sabbat 305, 406, 421, 448, 521, 560, 576, 656, 658, 669 Sadduzäer 16-17, 45-46, 48, 50-52, 54, 82, 257-258, 282, 330-339, 356, 570, 589 Salome 215, 656, 671 Salomo 216, 237, 404 Samaritaner 625 Sanftmut 241, 626 Sauerteig 50-52, 54 Schaf 137, 139, 141 Schafe 135, 137-138, 253, 482, 485486, 490, 539, 541 Schatz 74, 179, 184-185 Scheidebrief 168

728

Stichwortverzeichnis

Scheidung 166-170, 173, 320, 445, 447-448, 483 Schlange 344 Schlangenbrut 370, 388 Schma Jisrael 182, 341, 344 Schöpfung 167, 195, 197, 218, 239240, 266-267, 308, 412, 427, 430, 439, 454-456, 475, 487, 519, 633, 644, 649-650, 693, 697 Schrift 7-8, 14, 17, 20, 26, 143, 167, 169, 240, 254, 259, 324, 328, 330, 332, 334-337, 343, 350-351, 361, 391-393, 410, 510, 518, 527, 566, 568-569, 594, 681 Schriftgelehrte 13-14, 55, 138, 259, 272, 322, 334, 339, 352, 358, 362, 369-374, 379, 383-384, 390, 392, 457, 640 Schriftzitat 167, 240-241, 351, 689 Schuld 127, 142-143, 152, 155-157, 159, 224, 276, 291, 302-303, 315, 379, 384, 394, 396, 493, 526, 535, 549, 582, 596, 602, 615, 618-621, 624, 632, 638, 640, 657 Schulden 156-157 Schuldopfer 99, 225 Schweigegebot 92, 102, 104 Schwester 151, 215, 505, 507, 655656 Schwur 376-378, 576 See 28, 57, 122, 163, 192, 264, 655 See Genezareth 57, 122, 163, 264, 655 Seligpreisung 65, 73, 384, 452, 454 Senfkorn 108, 113-114 Silber 326, 472 Simon bar Giora 75, 374, 409 Sklave 280, 365, 455, 623 Sodom 311, 421

Sohn 22, 27, 30, 56, 61-65, 71, 74, 77, 84, 92, 95, 98-99, 108, 110, 112, 121, 177, 197, 216, 218-219, 228, 231-233, 235, 238, 246, 248, 251, 258, 274, 278-281, 283-284, 289-290, 295, 302-303, 315, 325, 347-351, 369, 371-372, 374, 394, 429, 433-434, 439, 476, 487, 509, 514-516, 550, 557, 565, 569, 576, 579-583, 596, 610, 632-633, 640641, 643-644, 649, 653, 659, 696697, 701 Sohn Davids 27, 228, 232, 235, 246, 251, 258, 351, 371 Sohn Gottes 65, 95, 219, 274, 509, 516, 569, 576, 582, 643-644, 649 Sondergut 74, 99, 118, 124, 142, 153, 162, 165, 199, 277, 279, 338, 344, 347, 352-353, 378, 483, 499, 565, 595, 604, 612, 617, 634, 664, 680, 683, 688 Sonne 92, 94-95, 205, 406, 426 Sorge 53, 141, 290, 457 Speisung 40-45, 530 Stab 366 Statthalter 393, 414, 502, 591, 603, 607-608, 614-615, 617, 620, 624625, 683, 685 Stil 23, 87, 371, 404, 432, 491, 532, 639, 680 Sturm 266 Sünde 21, 24-25, 29, 102, 119, 142143, 149, 151, 153, 161, 205, 255, 416, 534-535, 558, 563, 596-597, 602, 611, 630, 640, 645, 657 Sündenfall 169, 641, 673 Synagoge 40, 142, 148, 180, 355, 385, 495, 555, 631, 654, 683

Stichwortverzeichnis

Synoptiker 124, 126, 176, 210, 407, 504, 515, 519-520, 523, 571, 579, 584, 659, 662 Syrien 62, 421, 593, 608 T Tacitus, Cornelius 373, 414, 489, 606, 612, 639 Talmud 16, 19-20, 26, 60, 113, 182, 193, 354, 380, 440, 502-503, 543, 552, 573, 580, 588, 592, 606, 615, 639, 642, 654, 665 Targum 237 Taufe 63, 79, 92, 99, 178-179, 224, 270, 274, 318, 695-699 Täufer 22, 56, 58-59, 93, 104-107, 172, 176, 190, 222, 248, 274-275, 280, 282, 296, 310, 358, 362, 388389, 472, 569, 630, 700 Tempel 57, 120, 250-253, 255-261, 263, 270-272, 275-276, 296, 305, 341, 362, 369, 375-378, 390, 393394, 399, 402-405, 408, 414, 419420, 478, 552, 558, 567, 569, 574575, 594, 596-597, 632, 641, 648649, 684 Tempelsteuer 119-123, 253 Tempelzerstörung 352, 375, 405, 408, 438, 641 Tertullian 160, 189-190 Teufel 82, 482, 493, 566, 613 Thomas 585 Thron 191, 194, 326-327, 370, 378, 482, 485, 577-578, 697 Titulus 633, 639 Tochter 27-28, 30-31, 34-35, 235, 241, 358, 447 Tod 71, 79, 81, 85, 89-90, 106, 117, 142, 144, 210-211, 213, 266, 290-

729

292, 299, 302-303, 325, 335, 393, 415, 493, 511-512, 516, 535, 539, 541, 545, 557, 570, 594, 619, 630, 634, 648-650, 653, 666, 672, 677 Tor 419 Tora 16, 18, 168, 182-183, 283, 292, 296, 309, 319, 333-334, 336337, 341, 343, 354, 357-358, 360, 372, 375, 377-378, 382, 392, 566, 598 Tote 27 Totenreich 69, 675 Totenwelt 23, 68-69, 650 Traum 121, 603, 612-613, 677 Trinität 219, 696-698 Trübsal 413, 422 Tuch 421, 472 U Umkehr 143, 255, 261, 265, 269, 283, 298, 362, 371, 379, 388-389, 391, 395-396, 399, 493, 562 Unglaube 112 Unkraut 22, 74 Unzucht 164, 166, 169-170, 173 Urchristentum 19 Urgemeinde 67, 76-77, 93, 315, 385, 540, 655 V Vater 13, 17-19, 22, 32, 42, 53, 56, 58, 64-65, 89, 92, 95, 99, 103, 109-111, 117, 137, 141, 146, 152, 160, 164, 167, 173, 179, 196-197, 212, 214, 218-219, 223, 278-280, 282-283, 302, 306, 327, 348, 350351, 363, 365, 374, 385, 434, 439, 476, 487, 492-493, 515, 522, 526, 543, 545-546, 550-551, 554, 557-

730

Stichwortverzeichnis

558, 565-566, 569, 578, 602, 645646, 648, 692, 697 Vaterunser 64, 153, 546, 551, 553, 555 Verachtung 136, 290 Verbot 19, 63, 221, 367, 597 Verdammnis 132-133, 480, 483, 493 Verfolgung 91, 134, 148, 386, 409, 414-415, 417, 423, 489, 492, 627, 671 Verführung 134, 148, 283, 406-407, 409-410, 423, 580, 685 Verheißung 64, 66-68, 70-71, 76-77, 128, 146, 172, 193-194, 197-198, 239, 307, 353, 396-397, 400-401, 487, 512, 544, 644, 677, 700-701 Verkündigung 7, 14, 38, 49, 121, 168, 178, 209, 255, 280, 291, 297, 315, 335, 364-365, 368, 370, 392, 417-418, 433, 436, 446, 448, 480, 482, 491, 514, 643, 652, 654, 657, 659, 662, 666, 679, 699 Versöhnung 228 Versuchung 83, 212, 290, 468, 498, 545, 552-554, 642, 647 Versuchungsgeschichte 47, 50, 83, 121, 220, 641 Verzehntung 380, 382 Volk 13-14, 19, 26, 33, 46, 48, 75, 77, 118-119, 123, 164, 166, 249, 258, 270, 277, 280-281, 283-284, 288, 290, 296, 298, 302-303, 323, 359, 362, 371, 389, 396, 398-399, 405, 409, 418, 439, 485-486, 501, 503-504, 567, 589, 598, 603, 609, 611-612, 614-615, 619-620, 664, 695

Völker 32, 39, 64, 214, 220, 245, 405-406, 410, 428, 482, 485, 677, 691, 695, 697 Vollendung 109, 149, 296, 405, 408, 436, 536-537, 691, 700-701 Vollmacht 37, 39, 45, 72, 112, 115, 266, 270, 273-274, 276, 347, 439, 641, 649 W Wasser 27, 108, 603, 617, 635-636 Wehe 130, 132, 174, 261, 352, 369372, 379, 383, 386 Weheruf 374 Wein 75, 201, 287, 383, 519, 532, 536, 538, 632, 636, 646 Weise 105, 166, 223, 352, 361, 390, 392-393 Weisheit 19, 309, 327, 331, 392, 453, 467, 474, 476, 479, 643 Weisung 8, 91, 122, 185, 384 Wiederkunft 77, 89-90, 103, 250, 303, 351, 400, 405-408, 417, 425431, 434-435, 437, 439-440, 442447, 449, 451, 454, 456-457, 462, 467-468, 470, 472-473, 481, 485486, 578, 700-701 Wind 324, 430 Wirkungsgeschichte 8, 64, 121, 190, 250, 362, 449, 497, 513, 518, 618 Wunder 36, 38, 41-43, 45, 47-50, 53-55, 93-94, 103, 122-123, 189, 220, 234, 250-251, 260, 266-267, 269, 284, 293-295, 334, 406, 424, 432, 500, 522, 548, 557-558, 576, 582, 641-642, 657, 669, 674, 688, 690 Wüste 138, 212, 406, 425-426, 429, 554, 630

Stichwortverzeichnis

Z Zauberer 642, 668 Zelotismus 565, 642 Zoll 192 Zöllner 32, 141, 277-278, 280-282, 596 Zorn 152, 159, 220, 310-311, 393

731

Zwei-Quellen-Theorie 15, 28, 37, 109, 123, 338 Zwölf 23, 43, 56, 63, 65, 77, 83, 90, 93, 192, 195-196, 205, 210-211, 222, 414, 528, 544, 548, 552, 608, 669 Zwölferkreis 97, 191, 214, 560, 602